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Full text of "Vierteljahrsschrift Für Gerichtliche Medizin Und Öffentliches Sanitätswesen ( 2. F.= N. F.) 44.1886"

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UMIVERSITY OF IOWA 



gerichtliche Medicin 

und 

öffentliches Sanitätswesen. 


Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation 
für das Medicinalwesen im Ministerium der geistlichen, 
Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten 

hcrausgegeben 


Dr. Hermann Enleuberg, 

Geh. Ober-Medici nal- and Vortragendem Rath im Ministerium der geistlichen. 
Unterricht«- and Medicinal-Angelegenheiten. 


Neue Folge. XLIV. Band. 


Mit 3 lithogr. Tafeln. 


BERLIN, 1886 . 

VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD. 

NW. 68. UNTER DEN LINDEN. 


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UNIVERSITÄT OF IOWA 






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Inhalt 



8eite 

I. Qeriohtliohe Medioln. 1—119. 249—343 


1. Superarbitrium der K. wissenschaftl. Deputation für das Medicinal- 

wesen in der Yoruntersuchungssache gegen den Bureaudiener R. B. 
und den Polizeisergeanten J. U. wegen Körperverletzung mit tät¬ 
lichem Erfolge. (Erster Referent: Westphal.) . 1 

2. Ein Entmündigungsfall. Yon Dr. von Ludwiger zu Plagwitz. . . 19 


3. Ob Dementia paralytica oder geistige Gesundheit? Leidensgeschichte 
eines für unheilbar geisteskrank gehaltenen Mannes, dargestellt vom 
Sanitätsrath Dr. Beckmann, Kreisphysikus in Harburg. (Fortsetzung.) 34 

4. Raubmord. Simulation von Geistesstörung. Gerichtsärztliches Gut¬ 


achten. Mitgetheilt von Prof. v. Krafft-Ebing . 41 

5. Beiträge zur gerichtlichen Toxicologie. Yon Dr. Julius Kratter, 
Docent und Assistent am Institut für Staatsarzneikunde in Graz. 

I. Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 

(Mit 2 Tafeln.). 52 

6. Zum Erstickungstode auf mechanische Weise. Von Dr. Anton Heiden¬ 
hain, Kreiswundarzt in Cöslin. 96 

7 Auffallend verschiedene Verwesungserscheinungen bei zwei Leichen von 
Personen, die unter vollkommen gleichen Verhältnissen und zu der¬ 
selben Zeit gestorben waren. Mittheilung des Kreis - Physikus Dr. 
Mayer in Heilsberg.101 

8. Beischlafsfähig, nicht zeugungsfähig. Mitgetheilt vom Kreis-Physikus 

Dr. Brem me zu Soest ..104 

9. Der ärztliche Sachverständige und der Ausschluss der freien Willens¬ 
bestimmung des §. 51 des Deutschen Strafgesetzbuches. Von Prof. 

Dr. E. Mendel. Nach einem Vortrage im Verein der deutschen 
Irren-Aerzte in Baden-Baden am 17. September 1885 . 108 

• 10. Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. Von Professor 

Dr. T. Zaaijer in Leiden.249 

11. Zum Tod des Neugeborenen durch Abschneiden des Halses und durch 

fragliche Sturzgeburt. Erörterung bemerkenswerther Leichenbefunde 
unter Zugrundelegung zweier gerichtsärztlioher Fälle. Von Dr. Moritz 
Frey er, Kreisphysikus in Darkehmen.278 

12. Erstickung des neugeborenen Kindes durch Einhüllen in einen Rock 

und Vergraben im Sande. Von Dr. Chlumsky, Kreisphysikus in 
Zielenzig.297 

13. Drei Fälle von Verletzung des Herzens, resp. des Bulbus aortae. Mit¬ 
getheilt von Kreiswundarzt Dr. Schulte in Hörde.308 


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IV 


Inhalt. 


Seite 


14. Ob Dementia paralytica oder geistige Gesundheit? Leidensgeschichte 
eines für unheilbar geisteskrank gehaltenen Mannes, dargestellt vom 
Sanitätsrath Dr. Beckmann, Kreisphysikus zu Harburg. (Fortsetzung.) 311 

15. Beitrag zur Casuistik der Blödsinns-Simulation. Von Dr. Hugo Wie- 

demann in Praust.321 

16. Sind Draak und Beckmann geisteskrank? Offener Brief an Herrn 

Dr. Mendel in Berlin von Dr. Wallichs in Altona.327 

17. Offene Antwort auf den offenen Brief des Herrn Dr. Wallichs in Altona 

von Dr. E. Mendel in Berlin.338 


II. OeffentHohes Sanitfitswesen . 120—167. 344-411 

1. Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf (geliefert von 
Firma Walz & Windscheidt) durch Dr. Fleischhauer in Düsseldorf 

und Dr. Mittenzweig, Kreisphysikus in Duisburg.120 

2. Bemerkungen über den für die Stadt Düsseldorf bestimmten Desin- 

fections*Apparat von H. Merke, Verwaltungs-Director des städtischen 
Krankenhauses Moabit.145 

3. Die Ergebnisse der neueren Untersuchungen des Schweinefleisches. 

Von Dr. Herrmann Eulenberg.150 

4. Ueber einige gesundheitliche und landwirtschaftliche Missstände der 


Bade-Insel Norderney. Von Prof. Dr. Alexander Müller. 1G2 

5. Gutachtliche Aeusserung der Kgl. wissenschaftlichen Deputation für 

das Medicinalwesen über die prophylaktische Behandlung der Augen* 
entzündung Neugeborener. (Erster Referent: Schröder.).344 

6. Zur animalen Vaccination. Von Sanitätsrath Dr. Risel, Vorsteher des 

Königl. Provinzial-Impfinstituts zu Halle a/S.348 

7. Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Heilquellen. Von 

Dr. Ernst Lehmann in Oeynhausen (Rehme).. . 366 


8. Die artesischen, Fluss-, Quell- und Pump-Wässer von Hamburg und 
Umgegend. (II. Abhandlung.) Von Dr. Niederstadt in Hamburg. 379 

9. Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname, vom An¬ 
fänge der Geschichte bis heute. Von Medicinalrath Dr. Friedrich 


Küchenmeister. (Fortsetzung.).388 

III. Verschiedene Mittheilungen . 168—179. 411—437 

IV. Literatur. . 180—181. 438-441 


Erwiederung von Dr. G. Veit — Dr. Win ekel. Schlusswort von Dr. 
Birnbaum, Director der Provinzial-Hebammen-Anstalt in Köln, a. D. 1S2 
V. Preussischer Medicinalbeamten-Verein. (Mit 1 Tafel.) .... 188 

Zweiter offener Brief an Herrn Dr. Mendel in Berlin von Dr. Wallichs. 442 
Offene Antwort von Dr. Mendel.‘. . . 444 


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I. Gerichtliche Medicin. 


1 . 

Superarbitrium 

der K. wissenschaftl. Deputation für das Medicinalwesen 

ii der VerMtersachnagssaehe gegen den Bareaadiener R. B. 
aad den Polizeisergeanten J. 0. wegen Körperverletzung Mit 

tödtliehem Erfolge. 

(Erster Referent: Westphal.) 


Behufs Aufklärung der Vorgänge gestatten wir uns, zunächst das 
in der Sache erstattete Gutachten des Rheinischen Medicinal-Collegiums 
vorauszuschicken. 

Geschichtserzählung. 

Die Ehefrau des Gastwirths Carl Artz, Josephine zu Altenessen fand am 
20. Aug. d. J., Abends 7'/ 2 Uhr, in dem Hausflur ihres Hauses einen unbe¬ 
kannten Mann — wie sich später ergab — den Schmied Carl Plang aus Scbossow 
hinter der offenen Hausthüre eingezwängt stehend, mit dem Rücken nach dem 
Flur, mit dem Gesicht der Ecke zugekehrt. Da sie glaubte, der Mann wolle dort 
seine Nothdurft verrichten, sprach sie ihn an, erhielt jedoch keine Antwort. Der 
Mann drehte sich um, sah die Frau mit ganz verwilderten Blicken an und ging 
auf sie los. Die erschrockene Frau rief nun den in der Gaststube anwesenden 
Büreaudiener Brand zu Hülfe, welcher ebenfalls keine Antwort erhielt, den Mann 
darauf anfasste und denselben unter Sträuben aus dem Hause entfernte. 

Zeuge Koch sah dies mit an und bemerkt, dass Plang, nachdem er ge¬ 
waltsam von Brand zur Hausthür hinausgedrückt worden war, allein die Treppe 
hinunter bis an den gegenüber gelegenen Garten ging und sich auf die dort be¬ 
findliche Mauer setzte. Darauf sah Koch ihn neben Brand frei nach der Woh¬ 
nung des Polizeisergeanten Ufer zu gehend. In der Nähe dieser Wohnung sah 
Zeuge den Plang sich auf die Erde hinwerfen; er wurde wieder aufgenommen 
und in die Wohnung des Ufer, wo sich das Polizeigefängniss befand, geführt. 
Der Plang machte auf den Zeugen den Eindruck eines nicht ganz zurechnungs¬ 
fähigen Menschen. Zeuge sah auch, dass Brand nach dem Manne, als er ihn 
aus der Arlz’schen Hausthür transportirte, schlug und ihn auch traf. 

Zeuge Korth sah den Plang an der Mauer sitzen, mit einem Finger unter 
einen dort liegenden 3 Ctr. schweren Stein fassen, denselben aufzuheben ver¬ 
suchen und hörte die Aeusserung von Plang, seine Bierflasche befinde sich 
darunter, er habe dieselbe dort hingelegt und hätten die Kinder den Stein darauf 


Vl.rt.ljabn.chr. f. gel*. M.d. N. F. XUV. 1. 

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Superarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation, 


gelegt. Ebenso habe er in die Tasche gegriffen und gesagt, er habe sein ganzes 
Geld verloren, darauf habe er einige Steine aufgehoben, welche er in die Tasche 
steckte und geäussert, jetzt habe er sein Geld wieder. Zeuge half sodann dem 
Brand, den Plang nach der Wohnung des Ufer bringen. Auf diesem Gange ver¬ 
langte derselbe wiederholt in’s Wirthshaus einzutreten, um Bier zu trinken, wurde 
mit Mühe weiter gebracht und legte sich schliesslich auf den Boden und sagte, 
„jetzt gehe ich aber nicht mehr weiter, ich bekomme doch kein Bier.“ Plang 
zitterte furchtbar an allen Gliedern, so dass er nicht allein gehen konnnte, son¬ 
dern geführt werden musste. In der Wohnung des Ufer wurde ihm in einer Tasse 
Wasser gereicht und sagte er, „das ist gutes Bier, davon trinke ich noch mehr.“ 
In eine Arrestzelle geführt, sank er auf einen Strohsack und sagte, „so liege 
ich gut.“ Zeuge äussert sich über das Befinden des Plang: „Meiner Ansicht 
nach war der Mann entweder betrunken oder geisteskrank oder delirirte in hohem 
Grade, denn er zitterte am ganzen Körper, so dass wir ihn vollständig halten 
mussten und er nicht im Stande war, allein gehen zu können.“ Zeuge sagte 
beim Verlassen der Zelle zu Brand, „ich glaube, dass der Mann morgen nicht 
mehr lebt.“ 

Zeuge Briefträger Bültemann sah den Plang etwa 7 Uhr 40 Min. in seinem 
eigenen Hausflur, hielt denselben anfangs für betrunken und frug ihn, was er 
wolle, worauf dieser antwortete, „er sei krank und könne nicht leben und nicht 
sterben, er wolle zum Doctor.“ Später, 5—10 Minuten vor 8 Uhr sah Zeuge 
den Plang geführt von Brand und Korth. Nach Ansicht des Zeugen delirirte 
Plang im höchsten Grade, zitterte an allen Gliedern und zeigte einen sehr ver¬ 
wirrten Blick, auch war die Sprache nicht sehr geläufig. 

Die Ehefrau dieses Zeugen Dina, geborene Holte, hatte den ihr bis dahin 
unbekannten Plang bereits gegen 6 Uhr auf der nach Essen führenden Chaussee¬ 
strasse gesehen, wie er mehrmals kleine Kieselsteine aufhob, in die Tasche 
steckte und mit der Hand verschiedentlich auf die Tasche schlug. 

Zeuge Metzger Bernhard Bauer hat den Plang ebenfalls an der Gartenmauer 
sitzen sehen, nachdem er aus dem Artz’schen Hause entfernt worden war, und 
schildert die Vorgänge daselbst genau wie der Zeuge Koch. Er half den Plang 
in die Ufer’sche Wohnung bringen und hörte, dass derselbe von Brand und Koch 
um seinen Namen befragt antwortete, das ginge sie nichts an, und auf die 
weitere Frage, wo er denn her sei, entgegnete, das brächte er heute nicht mehr 
heraus, das wolle er morgen früh sagen, nachdem er vergeblich versucht gehabt, 
einen Namen zu nennen. Auch dieser Zeuge bestätigt das Zittern an allen 
Gliedern, und hatte den Eindruck, als ob er krank sei. 

Auf den Zeugen Heinrich Knie, welcher den Plang auf dem Transport sah, 
machte dieser nicht den Eindruck, als ob er betranken sei, er sei ganz ruhig 
und verständig gegangen. 

Nachdem Plang in dem Arrestlocale untergebracht war, ging Bureaudiener 
Brand zu dem Bürgermeister Peau zu Altenessen, meldete nach seiner Aussage, 
dass er einen Mann, welcher betrunken sei und anscheinend delirirte, eingesperrt 
habe, worauf der Bürgermeister gesagt habe, dass der Mann, wenn er krank sei, 
nicht eingesperrt werden dürfe, sondern in’s Kloster nach Essen gehöre; der 
Bürgermeister habe ihn sodann beauftragt, den PJang unter Zuhülfenahme des 
Polizcisergeaiiten Ufer nach Essen zu bringen und dort milzulheilen, dass der- 


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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge. 


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selbe die diesseitige Grenze überschritten habe. Bürgermeister Peau bestätigt 
in einem Randschreiben zu den Auslassungen des Brand, dass er den Brand 
beauftragt habe, den betrunkenen irrsinnigen Mann unter Zuziehung des Ufer 
in das Barmherzige Kloster zu Essen überzuführen und dass er demselben, da 
aus einer ihm mitgetheilten Aeusserung des Mannes hervorzugehen schien, dass 
er möglicherweise aus Essen sei, aufgetragen, vorher dort auf der Wachtstube 
vorzusprechen. 

Plang wurde demgemäss aus der Arrestzelle herausgeholt und von Brand 
und Ufer auf den Weg nach Essen gebracht. Auf diesem Wege war er von Seiten 
dieser seiner Begleiter mannigfachen Misshandlungen ausgesetzt, bis er schliess¬ 
lich jenseits der Grenze des Weichbildes Altenessen auf Essener Gebiet wahr¬ 
scheinlich in den Chausseegraben geworfen, dort mit dem Kopfe nach unten, mit 
den Beinen nach oben liegen blieb und von seinen Begleitern verlassen wurde. 

Die Zeugen bekunden hierüber Folgendes: 

Die Zeugen Wilh. Anton an der Brüggen und Hermann Joseph Woettgen 
sahen, dass der Brand mit einigen Sätzen auf den ungefähr fünf Schritte vor 
seinen Transporteuren hergellenden Plang lossprang und ihm einen derartigen 
Stoss gab, dass er in den Chausseegraben stürzte. Der Mann sei dann einige 
Secunden im Graben liegen geblieben, dann aber wieder herausgekrochen, sei 
aber, als er auf der Strasse einige Schritte weiter gegangen, von Brand ergriffen 
nochmals in den Strassengraben geworfen und dann obendrein mit einem Fuss- 
tritte tractirt worden. Der Mann soi ruhig seines Weges gegangen, es habe aber 
den Anschein gehabt, als wenn derselbe müde oder krank sei, betrunken sei er 
ihrer Meinung nach nicht gewesen; derselbe habe keine Silbe gesagt, auch nichts 
auf die ihm zu Theil werdende Misshandlung erwiedert. 

Bei einem spätem Verhöre modificirt an der Brüggen seine Aussage dahin, 
dass er allerdings gesehen, dass Brand den Mann zweimal angefasst und dass 
dieser dann jedesmal in den Graben gefallen sei, ob dies aber die Wirkung des 
Stosses gewesen, könne er nicht sagen, ebenso verhalte es sich mit dem Fuss- 
tritt, er habe nur gesehen, dass Brand eine solche Bewegung mit dem Bein ge¬ 
macht habe. Zeuge Woettgen dagegen sagt mit Bestimmtheit aus, dass Brand 
den Plang zweimal in den Graben gestossen und als er dalag, mit dem Fuss ge¬ 
treten habe. 

Die Ehefrau Hermann Woettgen, Antonie, geb. an der Brüggen, sagt, dass 
Brand von Ufer fort- auf den 5 Schritt vor ihnen gehenden Mann lossprang, den¬ 
selben anfasste und ihn in den Graben warf. Der Mann blieb kaum eine Minute 
in dem Graben liegen, stand dann allein wieder auf und ging weiter: als die¬ 
selben dann ziemlich bis an den Rand der Chausseestrasse gekommen waren, sah 
Zeugin, dass der Mann abermals aus dem Chausseegraben aufstand, hatte aber 
nicht gesehen, dass er diesmal von den Beamten in den Graben geworfen worden 
war. Zeugin wiederholt, dass sie sich nicht geirrt, sondern deutlich gesehen, 
dass der Mann das erste Mal in den Graben geworfen worden war. 

Zeugin Frau Otto sah, dass Plang entweder von dem einen oder dem 
anderen der Begleiter stets mit der Faust in den Rücken gestossen wurde, so 
dass derselbe stets zu Boden gefallen war. Diese Aussage bestätigt Bergmann 
Ratle und setzt hinzu: „Nachdem der Mann zu Boden und auf die Seite gefallen 
und wieder aufgestanden war, wurde er von den Beamten immer wieder von 

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Superarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation, 


Neuem vorangestossen. Bei dem Fallen hat der Mann laut geschrieen und 
äusserte, als er wieder vorangestossen wurde, dass er nicht mehr könne, man 
solle ihn doch in Buhe lassen.“ Zeuge rief den Beamten zu, mit dem Manne 
doch gelinder und langsamer zu verfahren. 

Frau Ellerman sah ebenfalls den Transport des Mannes. Derselbe ging in 
gebückter Haltung und wenn er den Körper wieder gerade richtete, wurde er 
durch einen Stoss, welcher von beiden Transporteuren applicirt wurde, voran¬ 
bewegt. 

Zeuge Heinrich Tubbesing sah, dass Plang kein Bein mehr ansetzte, viel¬ 
mehr von den beiden Beamten getragen und geschleppt wurde; dann legten sie 
ihn hin, worauf er mit den Händen um sich schlug, als wenn er Krämpfe hätte, 
und hörte Zeuge den Brand sagen, das Schwein macht Einem noch die ganzen 
Kleider schmutzig; und hörte Zeuge auch, dass es hierauf einige Mal klatschte, 
als ob Brand dem Manne in’s Gesicht geschlagen hätte. Zeuge vermag aber 
nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob Brand ihn wirklich in’s Gesicht geschlagen 
hat. Zeuge giebt nur, weiter an: Als sie nun den Mann nicht weiter bringen 
konnten, sagte Brand, sie wollten ihn dort in den Graben werfen. Ufer sagte 
hierauf zu einem anwesenden Knaben, er solle mal sehen, ob der Graben trocken 
sei. worauf dieser sagte, der Graben sei etwas feucht, worauf einer der beiden 
Beamten erwiederte, das schadet nichts, wenn er auch etwas nass wird, dann 
wird er auch rasch nüchtern. Darauf fassten sie den Mann, Jeder an einem Arm 
und warfen ihn sodann in den Graben, dass er mit dem Kopfe in eine auf der 
anderen Seite des Grabens vorhandene Dornhecke flog. — Brand entfernte sich 
hierauf, Ufer blieb noch etwa zwei Minuten stehen, entfernte sich dann ebenfalls. 
Nach einer Viertelstunde ging Zeuge nochmals hin und war der Betreffende als¬ 
dann gestorben. 

Der Fuhrkneeht Jacob Ludwig sah den ihm unbekannten Plang im Graben 
liegen und zwar mit dem Kopfe nach unten in einem Strauche und mit den 
Beinen nach oben. Zeuge sprang in den Graben, um ihn aus dieser Lage zu 
befreien, fasste und redete ihn an, worauf der Mann ihn bat, ihn doch mit dem 
Kopfe hoch zu legen. Zeuge that dieses, der Mann zitterte an allen Gliedern, so 
dass man glauben konnte, er liege in Krämpfen, wobei er jammerte und stöhnte. 
Nach ungefähr fünf Minuten wurde er ruhig, da dieses auffällig erschien, wurde 
Licht gemacht und gefunden, dass der Mann eine Leiche war. — 

Die Wegestrecke von der Wohnung des Ufer bis zu der Stelle, wo Plang 
den Tod gefunden, beträgt nach einer Mittheilung der Königl. Staatsanwaltschaft 
zu Essen vom 30. November 1 ‘/ 2 Kilometer. — 

In Bezug auf das Vorleben des Plang erfahren wir aus den Acten Folgendes: 

Karl Albert Ulrich Friedrich Plang, am 22. Juli 1845 zu Schlossow ge¬ 
boren, war vom Jahre 1874 an in der Borsig’schen Fabrik zu Moabit als 
Schmied beschäftigt und wird als tüchtiger fleissiger Arbeiter, sowie als guter 
Familienvater, der in geordneten Verhältnissen lebte, geschildert. In den letzten 
drei Jahren habe er sich jedoch dem Trünke ergeben und wird das täglich 
genossene Quantum Schnaps bis zu einem Liter geschätzt. Wegen Trunkenheit 
wurde er sodann am 14. August aus der Fabrik entlassen. Zeuge Schmied David 
Zarwell, Mitarbeiter des Plang in der Borsig’sohen Fabrik, deponirt. dass er mit 
Plang aus genannter Fabrik gleichzeitig entlassen worden und um Arbeit zu 


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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge. 


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bekommen, sofort am 15. nach Essen gereist sei, woselbst sie am 16. Aug. an¬ 
gekommen seien. Während es nnn Zarwell gelang, am Freitag den 17. Aug. 
bereits in Arbeit treten zu können, fand Plang trotz seines Suchens keine Stelle. 
Plang schlief in der Nacht vom 16. zum 17. und vom 17. zum 18. in der 
Herberge bei Folke, in den Nächten vom 18. zum 19. und vom 19. zum 20. 
mit Erlaubniss des Menagenverwalters bei Zarwell in der Fabrikmenage, da er 
kein Geld hatte. — 

Dr. Gottschalk zu Essen constatirte den Tod des Plang und äusserte 
sich dahin, dass die Leiche nicht die geringste Spur eines Geruches geistiger 
Getränke von sich gegeben, dass er constatiren könne, dass der Verstorbene 
nicht betrunken gewesen sei. — 

Die am 22. August vorgenommene Obduction der Leiche des Plang hatte 
in den wesentlichen Punkten folgendes Resultat: 

A. Aeussere Besichtigung. 1) Die 170 Ctm. lange Leiche ist die 
eines kräftigen, wohlgenährten Mannes von etwa 30 Jahren und zeigt regel¬ 
mässigen Körperbau. — 6) Der Unterleib eingefallen; über dem obern vordem 
Dornfortsatz des hintern Darmbeines findet sich ein 5 Ctm. langer, 3 Ctm. breiter 
bräunlicher, sich hart anfühlender und schneidender, aber nirgends blutunter¬ 
laufener Flecken. 4 Ctm. oberhalb desselben findet sich ein rundlicher, 1 Ctm. 
im Durchmesser haltender, schwarzbräunlicher Flecken, der sich beim Ein- 
schneiden als Blutunterlaufung herausstellte. — 10) An den oberen, sonst regel¬ 
mässig beschaffenen Gliedmassen findet sich in der Mitte der vorderen Fläche 
des rechten und linken Oberarmes je ein 2 Ctm. langer, 1 Ctm. breiter, röth- 
licher Flecken, der sich als Blutunterlaufung bei dem Einschneiden herausstellt. 
— 11) An den sonst regelmässig beschaffenen unteren Gliedmassen findet sich 
a) auf der Vorderfläche des rechten Unterschenkels 3 Ctm. unterhalb der Knie¬ 
scheibe ein 6 Ctm. langer, 1 Ctm. breiter, schwarzbräunlicher Flecken, der sich 
als eine 1 */ 2 Ctm. dicke Blutunterlaufung herausstellt; b) 3 Ctm. unterhalb des 
inneren Randes der linken Kniescheibe eine 2 Ctm. lange, 1 '/ 2 Ctm. breite, 
schwarzbräunliche Verfärbung, die sich als eine 1 Ctm. dicke Blutunterlaufung 
herausstellt. 

B. Innere Besichtigung. I. Eröffnung der Kopfhöhle. 12) Nach 
Abtrennung der weichen Kopfbedeckungen zeigt sich deren Innenfläche unver¬ 
letzt und fällt das ungemein zahlreiche Vorkommen von Blutpunkten auf. Die 
äussere Fläche der knöchernen Schädeldecke ist unverletzt. — 14) Die harte 
Hirnhaut ist nicht verwachsen; der obere Längsblutleiter ist zur Rundung ange¬ 
füllt, wie auoh die venösen Gefässe der Aussenfläche. Zurückgeschlagen zeigt 
die harte Hirnhaut ein glänzendes Aussehen. Die weiche Hirnhaut ist glänzend, 
ihre venösen Gefässe bis zur Rundung gefüllt. — 15) Nach Herausnahme des 
Gehirns findet sich am Sohädelgrunde kein ungehöriger Inhalt; harte und weiche 
Hirnhaut zeigen gleiches Verhalten wie an der Oberfläche. Die grösseren Arterien 
sind fest und leer, die queren Blutleiter wie die des Zeltes und der Schädelgrund¬ 
fläche sind bis zur Rundung gefüllt. Bei dem Durchschneiden der weichen Hirn¬ 
haut an der Schädelgrundfläche ergossen sich vier Esslöffel voll wässeriger Flüssig¬ 
keit. — 16) Das Grosshirn füllt die Schädelhöhle aus, seine beiden Halbkugeln 
sind 22 Ctm. lang, 10 Ctm. breit, 8 Ctm. hoch, von fester Consistenz. Mark- und 


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Superarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation. 


Rindensubstanz sind deutlich getrennt. Auf der Schnittfläche zeigen sich ungemein 
viele Wasser- und Blutpunkte, so dass die Masse spiegelt. — 17) Die grossen 
Ganglien sind fest, auf der Schnittfläche viele Blutpunkte zeigend, sonst unver¬ 
ändert. — 18) Die obere Gefässplatte ist streifig, ihre Gefässe gefüllt; in den 
Seitenventrikeln je drei Esslöffel wässerige Blutflüssigkeit; die Adergeflechte bis 
zur Rundung gefüllt. — 19) Das kleine Hirn ist fest, auf der Schneidefläche sehr 
viele Blutpunkte zeigend. 

II. Eröffnung der Brust- und Bauchhöhle. 25) Die Milz ist sehr 
fettreich, ihre venösen Gefässe bis zur Rundung gefüllt. 

a) Brusthöhle. 26) Brustfell sacke leer und von blassem Aussehen. — 
27) Der Herzbeutel ist blass und leer. Das Herz ist 12 Ctm. lang. 10 Ctm. 
breit und 5 Ctm. dick, blassbraun und schlaff. Ueber dem Herzen findet sich 
eine durchschnittlich 2 Mm. dicke Fettauflagerung. Die Kammern und Ventrikel 
sind leer, die Vorhofsklappen mittels zweier Finger leicht zu durchdringen. Die 
Wandungen des linken Ventrikels waren durchschnittlich 2 Ctm., die des rechten 
1 Ctm. dick. Die Fettauflagerung betrug durchschnittlich 2 Mm. Die Muskulatur 
war aber glatt, unverändert und gleichmässig bräunlich. Nach dem Heraus¬ 
schneiden zeigen sich die arteriellen Mündungen gut schliessend und von glattem 
Aussehen. — 28) Die aufsteigenden grösseren Arterien sind leer und fest, die 
Venen enthalten eine geringe Menge Blut. 

b) Bauchhöhle. 40) Der Magen ist äusserlich blass und leer. Die 
Schleimhaut schiefergrau und runzlich. — 42) Die Leber ist 30 Ctm. lang. 
20 Ctm. breit, bräunlich, fest und glänzend. Die Schnittfläche war glatt, sehr 
glänzend; die Leberläppchen aber zu erkennen, Blutgehalt gering. Bei der mikro¬ 
skopischen Untersuchung fanden sich die einzelnen Leberzellen mit Fetttröpfchen 
stark gefüllt. Die Gallenblase ist stark gefüllt. — 

Die Obducenten gaben ihr vorläufiges Gutachten dahin ab, dass der 
Tod an Gehirnschlagfluss erfolgt sei, und gaben auf Befragen zu, dass es mög¬ 
lich sei, dass der Schlagfluss durch Misshandlungen, die weiter keine Verletzung 
des Schädels bewirkt hätten, hervorgerufen sein könne. 

In einem motivirten Gutachten vom 20. Sept. a. c. gaben dieselben 
ihr Schlussgutachten in folgenden Sätzen ab: 

1) Plang ist an Gehirnschlag gestorben in Folge von Säuferwahnsinn (Deli¬ 
rium tremens) und war während der Dauer seiner Krankheit hülflos. 

2) Wenn Plang auch 1 x / 2 bis 2 Stunden vor seinem Tode eine seinem Zu¬ 
stande geeignete Pflege gefunden hätte, so kann nicht behauptet werden, 
dass der tödtliche Ausgang dadurch wäre abgewendet worden. 

3) Plang bat Misshandlungen erlitten, welche geeignet waren, den tödtlichen 
Ausgang der Krankheit des p. Plang zu beschleunigen, aber denselben 
nicht bewirkt haben. — 

Von Seiten der Staatsanwaltschaft zu Essen ist nunmehr das Rheinische 
Medicinal-Collegium ersucht worden, sich gutachtlich darüber äussern zu wollen, 
ob dasselbe annimmt: 

1) dass die Todesursache richtig von den Kreis-Medicinalbeamten angegeben 
ist, oder 

2) ob der Tod des Plang nicht vielmehr durch die gegen ihn begangene 


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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge. 


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Aussetzung im Sinne des §. 221 des R -Str.-Gesetzbuches. event. der 
ihm applicirten Misshandlungen verursacht ist? 

3) Ob der Tod nicht — entgegenstehend der Annahme der Medicinal- 
beamten — doch hatte abgewendet werden können dadurch, dass die 
Polizeibehörde sofort bei ihrer ersten Kenntnisserlangung von dem Zu¬ 
stande des Plang geeignete Massregeln zu sanitärer Behandlung er¬ 
griffen hätte? 

Falls letzteres bejaht wird, ersucht die Staatsanwaltschaft namentlich auch 
darüber um gefällige Aeusserung: 

ob die Abwendung des letalen Ausganges dann hätte erfolgen können, 
wenn Bürgermeister Peau bei seiner Kenntnisserlangung sorgfältige An¬ 
ordnungen getroffen hätte, d. h. mit anderen Worten, ob Königl. Medicinal- 
Collegium die Todesursache in dem Verhalten der Polizeibehörde, in Fahr¬ 
lässigkeit des Bürgermeister Pöau, des Ufer oder des Brand findet? 

Gutachten. 

Der etc. Plang litt, als er am Abend des 20. August d. J. im Hausflur der 
Artz’schen Wirtschaft betroffen wurde, an allgemeiner Schwäche und Kraftlosig¬ 
keit, an starkem Zittern der Hände und des ganzen Körpers, hatte das Gefüh 1 
schweren Krankseins, sprach irre, zeigte Sinnestäuschungen und hatte ein ver¬ 
störtes, verwildertes Aussehen. 

Diese Zustände müssen wir nach ihrem Charakter, nach dem Ergebniss der 
Erhebungen über das Vorleben und das Verhalten des Plang in seinen letzten 
Lebenstagen, sowie auf Grund des Obductions-Protokolls. als die Folgen der Ent¬ 
ziehung von Alkohol und mangelhafter Ernährung bei einem seit langer Zeit an 
übermässigen Branntweingenuss gewöhnten Menschen ansehen und als Säufer¬ 
wahnsinn, Delirium tremens, bezeichnen. 

Es werden zweierlei Arten von Säuferwahnsinn unterschieden, welche 
wesentlich durch die Art der Entstehung, der Heftigkeit der Krankheitserschei¬ 
nungen und durch ihre Ausgänge verschieden sind. 

Beiden Formen sind drei Hauptmerkmale gemeinsam: das Zittern der 
Glieder, die Delirien und die Schlaflosigkeit, welche je nach der Heftigkeit des 
einzelnen Falles stärker oder schwächer hervortreten. 

Die erste Form entsteht durch direkten fortgesetzten Missbrauch von Alkohol 
und zeigt in ihren ausgeprägten Fällen meist die heftigsten Erscheinungen, 
Zittern aller Glieder bis zu krampfförmigen Bewegungen, Tag und Nacht an¬ 
dauernde körperliche und geistige Unruhe, Irresein und Sinnestäuschungen. 
Dabei besteht Schlaflosigkeit und fehlt bei den aufgeregten Kranken das Gefühl 
des Krankseins. 

Die andere Form tritt dagegen bei Individuen, welche lange Zeit an Alkohol¬ 
missbrauch gelitten haben, durch plötzliche Entziehung desselben ein, nament¬ 
lich wenn ungünstige äussere Momente hinzutreten, wie schlechte Ernährungs¬ 
verhältnisse oder schwere Verletzungen. 

Scheiden wir letztere Complication als nicht hierher gehörig aus, so stellt 
diese Art der Entstehung des Delirium tremens eine mildere Form der {Krankheit 
dar und unterscheidet sich wesentlich von der erstgenannten durch den meist 
günstigen Ausgang. Während bei dem Delirium potatorum durch direkten 


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Superarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation, 


Alkoholmissbrancb eine grössere Zahl der Fälle tödtlioh endet, tritt bei der 
durch Entziehung von Alkohol entstandenen Krankheit unter guter Pflege, Ruhe 
und Nahrung meist Heilung ein. 

Die Symptome dieser Form sind im Ganzen dieselben wie bei der erst¬ 
erwähnten. sie erreichen meist jedoch nicht die Stärke und einzelne Merkmale 
treten in den Hintergrund. 

Dass Plang überhaupt an chronischem Alcoholismus gelitten hat, beweist 
in erster Linie das Obductions-Protokoll. Das Herz ist von einer 2 Mm. dicken 
Fettschicht umgeben und stellt dio Leber eine sog. Fettleber dar, beides Befunde, 
die dem chronischen Alcoholismus zukommen; aber auch das Gehirn zeigt einen 
Befund, wie er ganz charakteristisch für diesen Zustand ist. Das ist der reich¬ 
liche Wassererguss an der Oberfläche und in den Ventrikeln des Gehirns und das 
Oedem der Hirnsubstanz. Unterstützt wird diese Ansicht durch das Ergebniss 
der Acten. Werkführer Baltzer der Borsig’schen Fabrik giebt an. dass Plang in 
den letzten drei Jahren sich dem Trunk ergeben und täglich bis zu einem Liter 
Schnaps getrunken habe, weshalb er am 15. Aug. d. J. aus der Borsig’schen 
Fabrik entlassen worden sei. 

Dass die Krankheitserscheinungen bei Plang durch Entziehung des ge¬ 
wohnten Alkohol entstanden sind, folgt aus den Aussagen seines Mitarbeiters 
Zarwell. Hiernach waren Beide am 15. Aug. aus der Moabiter Fabrik entlassen 
worden, reisten sofort, um Arbeit zu bekommen, nach Essen, wo sie am 16. 
Morgens ankamen. Während Zarwell bereits am 17. in Arbeit treten konnte, 
sab Plang sich vergeblich nach Arbeit um. Plang schlief vom 16. auf den 17. 
und 17. auf den 18. August in der Herberge, da er aber kein Geld hatte, vom 
18. auf den 19. und vom 19. auf den 20. Aug. bei Zarwell in dem Menagen¬ 
hause der Fabrik, wo dieser Unterkommen gefunden hatte und ass auch bei 
diesem. Am 20. Morgens ging Plang, nachdem er gefrühstückt und zwei Butter- 
brode erhalten hatte, wieder auf Arbeitssuche aus, kehrte jedoch nicht wieder 
zurück. Es kann hieraus wol mit Sicherheit geschlossen werden, dass Plang in 
den letzten Tagen, ven allen Mitteln entblösst, keinen Alkohol zu sich genommen 
hat. Dr. Gottschalk constatirte bei der Leichenbesichtigung denn auch die 
Abwesenheit von Alkoholgeruch. 

Die Erscheinungen, welche Plang in dem Momente, wo er in dem Hausflur 
der Artz’schen Wirthschaft betroffen und in das Arrestlocal abgeliefert wurde, 
darbot, sind nicht von jener Intensität, wie man sie bei schwereren, tödtlich 
endenden Formen von Säuferwahnsinn beobachtot. Plang sprach irre, hatte 
Sinnestäuschungen — suchte seine Bierflasche unter einem schweren Stein — 
und zitterte heftig an allen Gliedern, aber er hatte ein ausgeprägtes Krankheits¬ 
gefühl, als ob er nicht leben und nicht sterben könne, er suchte und bat um 
Ruhe, er bekundete grosse körperliche Schwäche, knickte mit den Beinen ein, 
liess sich fallen, und als er sich auf den Strohsack im Gefängniss fallen Hess, 
sagte er: „so liege ich gut.“ Dieses Bild ist ein wesentlich verschiedenes von 
jenen schwereren Formen, bei denen der tödtliche Ausgang beobachtet wird. 

Erfahrungsgemäss geht denn auch diese Art der Erkrankung durch passende 
Pflege. Ruhe, Eintritt von Schlaf und passende Ernährung meist in Genesung über. 

Den Grund, dass die Genesung in unserem Falle nicht erfolgt ist. erblicken 
wir 1) in dem gewaltsamen Transport des höchst erschöpften Mannes, 2) in den 


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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge. 


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schwächenden Misshandlungen, denen der Mann auf dem Transport ausgesetzt 
gewesen ist, und 3) vor Allem in dem Umstand, dass die Begleiter den in den 
Chausseegraben geworfenen Mann mit dem Kopfe nach unten haben liegen lassen 
und bülflos verlassen haben. 

Für die Wiederherstellung des Plang war sofortige Ruhe und Pflege er¬ 
forderlich, um den gewöhnlich in Genesung überfübrenden Schlaf zu ermöglichen. 
Statt dessen wurde er aus dem Gefängniss wieder herausgeholt und 1 V 2 Kilo¬ 
meter weiter tbeils geschleppt, theils gestossen. wol auch in’s Gesicht geschlagen 
und getreten. Wenn auch einzelne Zeugen in dieser Beziehung sich vorsichtiger 
als andere äussern, an der Leiche sind doch eine Anzahl Blutunterlaufungen con- 
statirt worden, welche wol auf diese Entstehungsart zuriickzuführen sind. Unter 
diesen Verhältnissen musste die bereits vorhandene Erschöpfung schon wesentlich 
gesteigert werden. Schliesslich aber wird der Mann, wie wir gegenüber der posi¬ 
tiven Aussage des Tubbesin nicht anders annehmen können, mit dem Kopfe nach 
unten, mit den Beinen nach oben in den Chausseegraben geworfen und dort 
hülflos, im Unvermögen seine Lage zu ändern, liegen gelassen. In diesem 
letzteren Umstand liegt nun unseres Erachtens hervorragend die unmittelbare 
Todesursache des Plang. 

Durch die ungünstige tiefe Lage des Kopfes mussten Circulationsstörungen 
herbeigeführt werden, welche bei der grossen Hirnerschöpfung im Momente einer 
anderen Lagerung, einer Aufrichtung des Kopfes, kritisch werden mussten. Als 
daher der Fuhrmann Jakob Ludwig den mit dem Kopfe nach unten liegenden 
Plang nach etwa einer Viertelstunde gefunden und den jammernden, stöhnenden 
Mann, der so zitterte, dass man glaubte, er liege in Krämpfen, auf seine Bitte 
anders gelagert, wurde derselbe plötzlich ruhig und wurde nach 5 Minuten der 
Tod festgestellt. Eine solche plötzlich eintretende Todesart wird erfahrungs- 
gemäss bei grossen Erschöpfungszuständen nach Lage Veränderungen häufig beob¬ 
achtet und lässt sich in unserem Falle leicht durch die in Folge der Lageverände¬ 
rung eintretende arterielle Blutleere des höchst erschöpften Gehirns erklären, und 
bezeichnen wir diese Todesart als „Gehirnlähmung“. 

In dem motivirten Gutachten haben die ersten Sachverständigen ihr Urtheil 
dahin abgegeben: „Der Plang ist gestorben an Gehirnsohlagfluss in Folge von 
Säuferwahnsinn.“ Was die Obducenten hier unter Gehirnschlagfluss verstanden 
wissen wollen, erklären dieselben im Text des Gutachtens, nachdem sie den 
Gehirubefund des Obductions-Protokolls mitgetheilt haben: „Diese ungemein 
hochgradige Blutüberfüllung hat den Tod durch Lähmung des Gehirns herbei¬ 
geführt und bezeichnet man dieselbe als Gehirnschlagfluss.“ 

Mit der Ansicht der Sachverständigen, der Tod sei „durch Gehirnsohlag¬ 
fluss in Folge von Säuferwahnsinn“ entstanden, können wir uns in zweifacher 
Beziehung nicht einverstanden erklären. Der Tod ist weder durch Gehirn¬ 
schlagfluss, das ist, wie die Sachverständigen verstehen, durch venöse Blut¬ 
überfüllung des Gehirns entstanden, welche das Obductions-Protokoll be¬ 
schreibt, noch ist diese venöse Blutüberfüllung direkt durch den Säuferwahnsinn 
herbeigeführt worden. Die venöse Blutüberfüllung des Gehirns ist wesentlich 
veranlasst durch die Lage des Körpers mit nach unten gerichtetem Kopfe. Der 
Tod ist aber erfolgt bei venöser Blutüberfüllung in Folge der durch das Auf- 


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Superarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation. 


richten des Kopfes eintretenden arteriellen Blutleere des Gehirns, und hat diese 
arterielle Blutleere die tödtliche Gehirnlähmung hervorgebracht. 

Wenn die Sachverständigen sich weiterhin dahin aussprechen, es könne 
nicht behauptet werden, dass der tödtliche Ausgang abgewendet worden wäre, 
wenn Plang 1 2 bis 2 Stunden vor seinem Tode eine seinem Zustand geeignete 
Pflege gefunden, so können wir auch hierin denselben nicht beipflichten, sind 
im Gegentheil der Ansicht, dass der tödtliche Ausgang dann hätte abgewendet 
werden können, wenn die angeführten für die Genesung erforderlichen Bedin¬ 
gungen erfüllt worden wären. 

Wir geben demnach unser Gutachten in Bezug auf die von der Königlichen 
Staatsanwaltschaft gestellten Fragen dahin ab: 

1) Die Todesursache des Plang ist insofern nicht richtig von den Kreis- 
Medicinalbeatnten angegeben, als das Gutachten derselben einen Tod an 
Gehirnschlag in Folge von Säuferwahnsinn, der durch ungemein hoch¬ 
gradige Blutüberfüllung des Gehirns herbeigeführt sei, annimmt. Wir 
finden vielmehr die Todesursache in einer Gehirnlähmung, welche bei 
bestehendem, die Widerstandsfähigkeit des Gehirns beeinträchtigendem 
Alcoholismus in Folge verschiedener schädlicher Einflüsse, wozu wir in 
erster Linie das Liegenlassen mit nach unten gekehrtem Kopfe rechnen, 
durch arterielle Blutleere herbeigeführt ist. 

2) Der Tod des Plang ist nach vorstehender Auffassung durch die gegen ihn 
begangene Aussetzung im Sinne des §.221 des R.-Str.-G.-B., beziehungs¬ 
weise durch die ihm applicirten Misshandlungen, wozu wir in erster Linie 
die Lagerung des Plang mit dem Kopfe nach unten rechnen, und durch 
Verlassen in dieser hülflosen Lage verursacht worden. 

3) Der Tod hätte nach unserer Ansicht, entgegengesetzt der Annahme der 
Kreis-Medicinalbeamten. abgewendet werden können dadurch, dass die 
Polizeibehörde bei ihrer ersten Kenntnisserlangung von dem Zustande des 
Plang geeignete Massregeln zu sanitärer Behandlung ergriffen hätte. 

Auf die uns gestellte eventuelle Frage: ob das Medicinal-Collegium die 
Todesursache in dem Verhalten der Polizeibehörde, in Fahrlässigkeit des Bürger¬ 
meister Peau, des Ufer oder des Brand findet, antworten wir: 

Wir sind der Ansicht, dass die Todesursache allerdings wesentlich in 
der Art und der Ausführung des Transportes des Plang gefunden werden 
muss, glauben aber uns einer näheren Beurtheilung des Verhaltens der 
Polizeibehörde als nicht zu unserer Competenz gehörig enthalten zu 
dürfen. 

Coblenz, den 10. December 1883. 

Königl. Rheinisches Medicinal-Collegium. 


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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge. 


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Wir verfehlen nunmehr nicht, das in der Voruntersuchungssache 
gegen den Bureaudiener Robert Brand und den Polizeisergeanten Johann 
Ufer wegen Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge von uns erforderte 
Gutachten nachstehend ganz gehorsamst zu erstatten. 

Gutachten. 

ln Betreff der Geschichte des vorliegenden Falles dürfen wir uns 
auf die Darstellung des Königlichen Medicinal-Collegiums zu Coblenz 
in seinem Gutachten vom 10. December v. J. beziehen, welche alle 
wesentlichen Thatsachen wiedergiebt. Es geht aus derselben zunächst 
mit Sicherheit hervor, dass der p. Plang an dem Tage, an welchem 
er nach Essen transportirt werden sollte, den 20. August 1883, an 
Delirium tremens litt. Denn es ist nicht nur festgestellt, dass er 
sich seit 3 Jahren dem Trünke ergeben hatte (täglich bis zu einem 
Liter Schnaps trank) und deshalb aus der Borsig’schen Fabrik am 
15. August 1883 entlassen war, sondern es stimmen auch die von 
den Zeugen geschilderten an dem Plang beobachteten Krankheits¬ 
erscheinungen vollkommen mit denen überein, welche für das Deli¬ 
rium tremens charakteristisch sind; dieselben bestanden einmal in 
starkem Zittern der Glieder, das, wie es scheint, zeitweise so stark 
war, dass es die Beobachter als „Krämpfe“ beschrieben, sodann in 
Delirien, welche ihrem Inhalte nach und in Verbindung mit den sich 
daran knüpfenden sinnlosen Handlungen etwas sehr Charakteristisches 
haben. So machte Plang Anstrengungen, einen mehrere Centner 
schweren Stein fortzuwälzen, von dem er glaubte, dass Kinder ihn 
auf seine Bierflasche gerollt hätten, griff in die Taschen, sagte: er 
habe sein Geld verloren, und sammelte dann kleine Kieselsteine in 
den Taschen unter der Aeusserung, jetzt habe er sein Geld wieder; 
später verlangte er dringend nach Bier, liess sich aber durch ihm 
gereichtes Wasser täuschen. Die starke Trübung des Bewusstseins, 
die sich in diesen Handlungen zu erkennen giebt, stellt in Verbindung 
mit dem Inhalte der Delirien, sowie mit dem allgemeinen Zittern ein 
so charakteristisches Krankheitsbild dar, dass es, auch wenn nicht 
festgestellt wäre, dass Plang ein starker Schnapstrinker gewesen, als 
Delirium tremens mit grosser Wahrscheinlichkeit hätte gedeutet werden 
müssen; durch die Berichte aus der Borsig’schen Fabrik wird diese 
Wahrscheinlichkeit zur Gewissheit. Von blosser sinnloser Trunkenheit 
unterschied sich der Zustand wesentlich durch das starke Gliederzittern 
und das Fehlen eines eigentlich taumelnden Ganges, denn wenn Denatus 


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Superarbitriuiu der K. wissenschaftlichen Deputation, 


auch unsicher auf den Beinen und, wie es scheint, leicht zum Fallen 
zu bringen war, so wird doch von den Zeugen ein eigenthümlich 
taumelnder Gang nicht beschrieben. 

Wie weit der Beginn dieses Deliriums zurückreicht, ist mit Sicher¬ 
heit nicht zu bestimmen; allerdings wäre nach der Aussage seines 
Mitarbeiters und Freundes Zarwell der p. Plang am Morgen des 
20. August, nachdem er die Nacht in dem Menagehause der Fabrik 
mit Zarwell geschlafen und gefrühstückt, ausgegangen um Arbeit zu 
suchen, ohne dass Zarwell etwas Auffallendes über sein Benehmen zu 
dieser Zeit berichtet; indess muss es zweifelhaft bleiben, inwieweit 
die Beobachtungen des Zarwell auf Genauigkeit Anspruch machen 
können, da dieser auch den übermässigen Schnapsgenuss Plang’s be¬ 
streitet und im Widerspruch mit den Berichten aus der Borsig’schen 
Fabrik erklärt, dass Plang von dort wegen Arbeitsmangels entlassen 
sei. Wenn aber in der That am Morgen des 20. August besondere 
Erscheinungen bei Plang noch nicht zu beobachten waren, so würde 
anzunehmen sein, dass die Entwicklung des Delirium tremens im 
Laufe des Tages stattgefunden habe. Welche Umstände für diese 
Entwicklung massgebend waren, lässt sich nicht feststellen; erwägt 
man aber, dass Mangel an genügender Ernährung, Mangel des ge¬ 
wohnten Quantums von Schnaps, Sorgen und Gemüthsbewegungen 
häufig als veranlassende Ursachen zum Ausbruch des Delirium tremens 
bei Gewohnheitstrinkern nachzuweisen sind, so wird mindestens die 
Annahme sehr wahrscheinlich, dass auch in dem vorliegenden Falle 
diese Momente, welche nachweisbar vorhanden waren, zusammen¬ 
gewirkt haben. Wenn indess das Königliche Medicinal-Collegium bei 
Untersuchung der möglicherweise wirksam gewesenen Ursachen die 
Ansicht ausspricht, dass es zwei Formen des Säuferwahnsinns gebe, 
von denen die eine durch fortgesetzten Missbrauch von Alkohol, die 
andere durch plötzliche Entziehung desselben, namentlich beim Hinzu¬ 
treten ungünstiger äusserer Momente, wie schlechte Ernährungsverhält¬ 
nisse oder schwere Verletzungen, entstehe, und dass letztere Form 
sich durch ihre geringere Intensität von ersterer unterscheide, so 
können wir diese Ansicht als in der Erfahrung begründet nicht er¬ 
achten; es hängt vielmehr in dieser Beziehung Vieles von individuellen 
Umständen ab und zum Theil von solchen, welche sich der direkten 
Beobachtung und Würdigung entziehen. Demgemäss können wir auch 
dem Schlüsse, welchen das Königliche Medicinal-Collegium auf Grund 
der von ihm gemachten Unterscheidung ziehen zu können glaubt, dass 


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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge. 


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diese zweite Art der Erkrankung „durch passende Pflege, Ruhe, Ein¬ 
tritt von Schlaf und passende Ernährung meist in Genesung übergehe“, 
nicht beitreten. Wir müssen sogar noch weiter gehen und erklären, 
dass die Beobachtung des äusseren Verhaltens eines an Delirium 
tremens Erkrankten niemals ein. Urtheil darüber gestattet, ob die 
Krankheit einen guten, d. h. zur Genesung führenden oder einen tödt- 
lichen Ausgang nehmen wird, denn es sind denjenigen, welche Ge¬ 
legenheit haben, diese Krankheit häufig zu beobachten, Fälle genug 
bekannt, welche, unter scheinbar leichten Symptomen verlaufend, zur 
Ueberraschung nicht nur der Umgebung, sondern auch des Arztes selbst, 
plötzlich tödtlich enden. Es ist demgemäss nicht zutreffend, wenn 
das Königl. Medicinal-Collogiura aus der ohne zureichende Begründung 
gemachten Annahme einer milden Form des Delirium tremens bei dem 
Plang folgert, „dass der Grund, aus welchem die Genesung in dem 
vorliegenden Falle nicht erfolgte“, in den Umständen zu erblicken sei, 
unter denen der Transport stattfand, resp. beendet wurde, und „dass 
der tödtliche Ausgang dann hätte abgewendet werden können, wenn 
die angeführten für die Genesung erforderlichen Bedingungen erfüllt 
worden wären.“ — 

Bei der Untersuchung der Frage nach der Todesursache des Plang 
wird es sich empfehlen, zunächst die Schlüsse zu ziehen, die sich aus 
dem Obductionsprotokoll ergeben. Sowohl von den Obducenten, als 
auch von dem Königl. Medicinal-Collegium wird in dieser Beziehung 
die Blutüberfüllung des Gehirns und seiner Häute betont, nur dass 
Erstere den Tod an „Gehirnschlagfluss in Folge von Säuferwahnsinn“ 
(also direkt durch die Blutüberfüllung) erfolgen lassen, während das 
Königl. Medicinal-Collegium annimmt, dass die Blutüberfüllung wesent¬ 
lich veranlasst wurde durch die Lage des Körpers mit nach unten ge¬ 
richtetem Kopfe, und der Tod bei venöser Blutüberfüllung in Folge 
der durch das Aufrichten des Kopfes eintretenden arteriellen Blutleere 
des Gehirns erfolgte, welche letztere die tödtliche Gehirnlähmung zur 
Folge hatte. Indess weder die eine, noch die andere Anschauung 
kann aus dem Obductionsprotokoll allein genügend begründet werden. 
Befunde, wie sie unter No. 12 bis 19 des Obductionsprotokolls ver¬ 
zeichnet sind, trifft man häufig genug in den Leichen von Personen, 
deren Todesart eine ganz verschiedene war, und ist es namentlich 
nicht festzustellen, welchen Antheil an der grossen Blutüberfüllung 
der venösen Gefässe und der Ausscheidung von' wässriger Flüssigkeit 
die Senkung des Blutes nach dem Tode gehabt hat. Es ist deshalb 


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Superarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation. 


unstatthaft, aus einem sulchen Befunde ohne Weiteres den Schluss zu 
ziehen, dass der Tod durch Schlagfluss oder Gehirnlähmung erfolgt 
sei. Für die Ansicht des Königl. Medicinal-Collegiums aber, dass 
eine Gehirnlähmung bei venöser Blutüberfüllung durch plötzliche ar¬ 
terielle Blutleere des Gehirns beim Acte des Aufrichtens des Körpers 
erfolgt sei, finden sich in dem Obductionsprotokoll selbst keinerlei 
thatsächliche Anhaltspunkte, es ist diese Behauptung vielmehr nur eine 
Schlussfolgerung, welche aus der Gesehichtserzählung gezogen wird. 

Ebensowenig wie über die Todesursache giebt das Obductions¬ 
protokoll Aufschluss über die Krankheit, an welcher Denatus gelitten 
hatte; denn selbst angenommen, die Blutüberfüllung des Gehirns und 
seiner Häute wäre bereits bei Lebzeiten vorhauden gewesen, so würde 
niemals auch nur mit Wahrscheinlichkeit daraus ein Schluss auf ein 
vorhanden gewesenes Delirium tremens gerechtfertigt sein, da weder 
venöse, noch arterielle Blutüberfüllung als ein häufiger Befund bei 
dieser Krankheit angesehen werden kann. 

Da demnach aus den Leichenbefunden als solchen weder ent¬ 
nommen werden kann, dass ein Verstorbener an Delirium tremens 
gelitten, noch dass der Tod an dieser Krankheit erfolgt ist, so muss 
der Nachweis dafür wesentlich aus den während des Lebens beob¬ 
achteten Erscheinungen geführt werden. 

Dass nun Denatus in der That von Delirium tremens befallen 
war, ist bereits oben gesagt worden, und es erübrigt die Frage, ob 
sich aus den während des Lebens beobachteten Thatsachen feststellen 
lässt, dass er an dieser Krankheit gestorben, oder dass andere Um¬ 
stände den Tod bewirkten, welche eventuell auf die Schuld eines 
Dritten zurückzuführen sind. 

Die Ursache des oft plötzlichen Todes der an Delirium tremens 
Erkrankten ist nicht ganz aufgeklärt; in einem grossen Theil der 
Fälle bestand indess, wie sich aus der Beschaffenheit des Pulses, 
kühlen Extremitäten, veränderter Farbe der Haut und der Schleim¬ 
häute u. s. w. folgern lässt, eine grosse Schwäche der Herzthätigkeit, 
und wahrscheinlich ist es die plötzliche Lähmung der letzteren in 
Folge der Gehirnerkrankung, welche den Tod zur Folge hat. Alle 
Ursachen, welche geeignet sind, eine besondere Anstrengung der Herz¬ 
thätigkeit hervorzurufen, sind daher als schädliche Momente zu be¬ 
trachten und werden um so leichter als solche wirken, je mehr die 
Kraft des Herzens bereits herabgesetzt ist. Unstatthaft ist es jedoch, 
aus den mehr oder weniger kräftigen Bewegungsäusserungen des 


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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge. 


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Kranken einen Schluss auf die mehr oder weniger grosse Energie der 
Herzthätigkeit zu ziehen, da beide keineswegs Hand in Hand gehen, 
und ein plötzlicher Tod durch Lähmung der geschwächten Herzthätig¬ 
keit sogar mitten in der heftigsten tobsüchtigen Aufregung erfolgen 
kann. Es beruht diese auffallende Erscheinung höchstwahrscheinlich 
darauf, dass das Krankheitsgefühl durch die Delirien getrübt oder 
aufgehoben ist, weshalb die in Wirklichkeit vorhandene Erschöpfung 
von dem Kranken nicht wahrgenommen wird. 

Von dem Denatus wird berichtet, dass er noch kurz vor seinem 
Transport versuchte, einen schweren Stein aufzuheben, dann heisst es 
wieder, dass er so stark zitterte, dass er gehalten werden musste, 
und nicht im Stande war, allein zu gehen, ein anderes Mal, dass er 
ruhig und anständig ging; jedenfalls steht fest, dass er noch zu gehen 
und, hingefallen oder hingestossen, wieder aufzustehen vermochte, 
wenngleich er Neigung hatte, sich zu ruhen und auch einmal äusserte, 
dass er nicht mehr könne, man solle ihn doch in Ruhe lassen. Es 
ist, wie gesagt, aus diesem Verhalten kein Schluss auf die grössere 
oder geringere Intensität des krankhaften Zustandes, in welchem sich 
Plang auf dem Transport befand, zu ziehen; aber der Zwang zu gehen, 
das Wiederaufstehen nach dem Hinstürzen, die Stösse, die er angeb¬ 
lich erhalten haben soll, waren jedenfalls geeignet, eine grössere 
Anstrengung der Herzthätigkeit und dadurch schnellere Erschöpfung 
zu bewirken, wenngleich der Grad dieser Wirkung sich nicht ab¬ 
messen lässt. 

Ausser dem durch Hinfallen, resp. Hinstossen und Wiederauf¬ 
stehen unterbrochenen Marsche wirkte noch ein Umstand ein, welchen 
auch die vorhergehenden Gutachten specieller berücksichtigt haben: 
es ist die Lage mit dem Kopfe nach abwärts, in welcher Denatus auf¬ 
gefunden wurde. Nach der Aussage des Ludwig lag er im Chaussee¬ 
graben mit dem Kopfe nach unten in einem Strauche und mit den 
Beinen nach oben; nach dem Zeugen Tubbesin fassten ihn Brand 
und Ufer Jeder an einen Arm und warfen ihn sodann in den Graben, 
so dass er mit dem Kopfe in einen auf der anderen Seite des Grabens 
wachsenden Dornstrauch flog. Aus keiner dieser Aussagen ist jedoch 
zu entnehmen, welchen Winkel die Längsaxe des Körpers dos Denatus 
mit der Horizontalen bildete; wenn man sich die Wände des Chaussee¬ 
grabens abgeschrägt denkt und den Kopf an der Grundlinie der 
gegenüberliegenden Wand liegend, so würden die Füsse auf der der 
Chaussee zunächst liegenden Wand des Grabens zu liegen gekommen 


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Snperarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation, 


sein und der Winkel würde etwa 45 0 betragen haben; dass die Lage 
eine vollständig vertikale, mit dem Kopfe nach unten, gewesen sei, 
ist nach der Beschreibung jedenfalls sehr unwahrscheinlich. Die Zeit, 
welche Plang in dieser Lage zugebracht hat, lässt sich nur annähernd 
bestimmen. Der Zeuge Tubbesin, welcher zugegen war, als Plang in 
den Graben geworfen wurde, und sich sodann entfernt hatte, kehrte 
nach etwa l / 4 Stunde an den Ort der That zurück und fand den Plang 
bereits todt; als der Zeuge Ludwig in den Graben sprang, um den 
Plang aus seiner Lage zu befreien, lebte dieser noch, redete ihn an, 
zitterte aber an allen Gliedern, so dass man glauben konnte, er läge 
in Krämpfen, wobei er jammerte und stöhnte; nach ungelähr 5 Mi¬ 
nuten wurde er ruhig und, als nun Licht gemacht wurde, fand man, 
dass er eine Leiche war. Vergleicht man diese beiden Zeitangaben, 
so folgt daraus, ihre Richtigkeit vorausgesetzt, dass Plang etwa 
10 Minuten mit dem Kopfe nach abwärts im Graben zugebracht hat. 
Eine solche Lage und von der genannten Dauer ist nun nicht ohne 
Weiteres mit Gefahren für das Leben verknüpft, zumal wenn man 
berücksichtigt, dass es sich sicherlich nicht um eine vollständig 
vertikale Position des Körpers gehandelt hat; aber selbst ein voll¬ 
kommen vertikales Herabhängen des Kopfes kann erfahrungsgemäss 
während sehr viel längerer Zeit ohne Nachtheil vertragen werdeD. 
Als Beweis dafür können u. a. die Fälle von chirurgischen Operationen 
gelten, welche bei herabhängendem Kopfe ausgeführt werden, und bei 
denen derselbe zuweilen stundenlang in dieser Position verbleibt; 
es tritt dabei allerdings eine starke Schwellung der äusseren Be¬ 
deckungen des Kopfes auf und die Augen bekommen das Aussehen 
von Glotzaugen, indess verschwinden diese Erscheinungen bald wieder 
nach dem Wiederaufrichten am Ende der Operation und sind von 
keinen Nachtheilen für den Operirten begleitet. Allerdings handelt 
es sich hier nicht um Delirium-tremens-Kranke, überhaupt nicht um 
Kranke, welche an einer Störung der Hirnthätigheit leiden, so dass 
aus der Unschädlichkeit der geschilderten Methode in den genannten 
Fällen noch nicht folgt, dass auch bei Deliriura-tremens-Kranken das 
längere Tieferstehen des Kopfes ohne Nachtheil ist. Indess ist auf 
der anderen Seite zu erwägen, dass bei den genannten Operationen 
die Chloroformnarkose, und zwar auch zuweilen stundenlang, ange¬ 
wendet wird und zwar gleichfalls ohne Nachtheile; man sieht also, 
dass selbst dann, wenn durch eine eingeführte fremde Substanz eine 
so erhebliche Modification der Gehirnthätigkeit erzeugt wird, wie sie 


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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge. 


17 


bei der Chloroformnarkose statthat, und zwar durch eine Substanz, 
welche die Herzthätigkeit nachtheilig zu beeinflussen vermag, die 
Gehirnfunctionen dennoch durch das Herabhängen des Kopfes in keiner 
Weise geschädigt, geschweige denn gelähmt werden. Aus diesen That- 
sachen ergiebt sich, dass man keineswegs von vornherein annehmen 
darf, dass bei einem Deliriura-tremens-Kranken die Lage mit dem 
Kopfe nach abwärts schädlich wirken oder gar den Tod zur Folge 
haben müsse. Der Kopf des p. Plang lag aber, wie wir ausgeführt 
haben, nicht einmal vertikal nach abwärts, sondern höchst wahrschein¬ 
lich in einer schrägen Stellung und nur während relativ sehr kurzer 
Zeit, so dass noch viel weniger Grund vorhanden ist, dieser Lage 
einen besonders schädlichen Einfluss zuzuschreiben; auch liegt uns — 
da es beim Aufrichten des Mannes dunkel war — keine Schilderung 
des Aussehens seines Gesichts vor, aus der man schliessen könnte, 
dass die Erscheinungen, wie man sie bei vertikal nach abwärts ge¬ 
richtetem Kopfe wahrnimmt, vorhanden gewesen seien. Endlich ist 
noch hervorzuheben, dass der Tod des Denatus gar nicht in dieser 
Lage erfolgte, er auch nicht einmal das Bewusstsein während der¬ 
selben verloren hatte, da er an den Zeugen Ludwig die Bitte richtete, 
ihn mit dem Kopfe hochzulegen; erst etwa 5 Minuten später erfolgte 
der Tod. Hieraus ergiebt sich weiterhin, dass auch die Annahme des 
Königl. Medicinal-Collegiums, der Tod habe seinen Grund in der durch 
das Aufrichten des Kopfes eintretenden arteriellen Blutleere gehabt, 
welche letztere die tödtliche Gehirnlähraung hervorgebracht habe, nicht 
zutreffend ist, denn der Tod erfolgte nicht plötzlich beim Auf¬ 
richten, sondern Denatus zitterte nach demselben (wie schon vorher) 
an allen Gliedern, so dass man glauben konnte, er läge in Krämpfen, 
wobei er jammerte und stöhnte; erst nach 5 Minuten wurde er — 
beim Eintritt des Todes — ruhig. 

Wenn nun auch weder nachgewiesen werden kann, dass die Lage 
des Denatus im Chausseegraben, noch dass der Transport als solcher 
oder die dabei angeblich stattgehabten Misshandlungen den Tod des¬ 
selben bewirkt haben, so ist doch auf der anderen Seite hervorzu¬ 
heben, dass das Verfahren, welches bei dem Transport befolgt wurde, 
ein unzweckmässiges war. Es wäre erforderlich gewesen, einen Arzt 
zu requiriren und dessen Gutachten über die Zulässigkeit des Trans¬ 
ports, eventuell die Art desselben einzuholen. Der dem Plang auf¬ 
gezwungene Marsch, die offenbar versuchte Beschleunigung desselben 

VierteljabrsBchr. f. ger. Med. N. F. XLIV. I .) 


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1 8 Snperarbitriura der K. wissenschaftlichen Deputation. 

durch die Transporteure Brand und Ufer, die Anstrengungen, welche 
mit dem wiederholten Aufstehen nach dem Niederfallen für den 
Kranken verbunden waren, waren geeignet, seine Muskelkraft und 
namentlich die Kraft des Herzens in hohem Grade in Anspruch zu 
nehmen, und müssen jedenfalls als eine Schädlichkeit aufgefasst 
werden. Es ist daher die Möglichkeit nicht auszuschliessen, dass 
durch den Transport zu Fusse und die Behandlung bei demselben 
eine Schädlichkeit eingeführt wurde, die geeignet war, die Herzthätig- 
keit des Plang schneller zu erschöpfen, als es sonst der Fall gewesen 
sein würde. Aber diese Möglichkeit zugegeben, so liegen nichtsdesto¬ 
weniger keine Thatsachen vor, welche zu beweisen vermöchten, dass 
in der That durch den unzweckmässigen Transport und die dabei 
vorgekommenen Umstände der Tod des Denatus hervorgebracht wäre, 
denn es ist immer festzuhalten, dass der Tod in Fällen von Delirium 
tremens, analog dem vorliegenden, nicht selten bei der zweckmäßig¬ 
sten Pflege und unter den denkbar günstigsten Umständen unerwartet 
und plötzlich eintritt. 

Wir geben daher unser Gutachten dahin ab: 

1) Es lässt sich nicht erweisen, dass der Tod des p. Plang auf 
die Schuld eines Dritten bei der Einleitung des Transports 
von Altenessen nach Essen oder auf die Behandlung während 
des Transports und Aussetzung im Sinne des §. 221 Str.-G.-B. 
zurückzuführen ist. 

2) Der Tod ist wahrscheinlich in Folgo des Delirium tremens 
erfolgt. 

Berlin, den 5. März 1884. 


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2 . 


Ein Entmfindigungsfall. 

Von 

Dr. von Ludwiger zu Plagwitz. 


In der Häusler Joh. Fr. Jos. MenzePschen Entmündigungssache 
von Ober-Harpersdorf hatten sich die Unterzeichneten heute hier in 
die Provinzial-lrrenanstalt begeben, um in Folge Ersuchens des Königl. 
Amtsgerichts zu Goldberg vom 11. December d. J. den zu Entmün¬ 
digenden, sowie den Sachverständigen gemäss §. 598 der Civil-Prozess- 
Ordnung zu vernehmen. 

Die vorgeführte Mannesperson wurde als der Häusler Joh. Fr. 
Jos. M. aus Ober-Harpersdorf, Kreis Goldberg, recognoscirt. 

Mit dem etc. M. wurde nunmehr folgende Unterhaltung geführt: 


Wie heissen Sie? 

Wo sind Sie geboren? 

Wie heisst der Landrath des Gold¬ 
berger Kreises? 

Wer ist Amtsvorsteher in Harpers¬ 
dorf? 

Wissen Sie, weshalb Sie heute ver¬ 
nommen werden? 

Ist Ihnen der Ortsvorstand feindlich? 

Weswegen hat Sie der Ortsvorstand 
hierher gebracht? 

Sind Sie schon einmal ärztlich unter¬ 
sucht worden? 

Was ist dies für eine Anstalt hier? 

Sie sind doch aber ganz bei Ver¬ 
stände? 

Sie müssen aber doch früher krank 
gewesen sein? 

Sind Sie da ohnmächtig geworden ? 

Haben Sie gerast? 


Johann Franz Joseph Menzel. 

In Ober-Harpersdorf. Kr. Goldberg. 

Das kann ich nicht sagen, — ich 
weiss nicht, wie der jetzige Herr Land¬ 
rath heisst. 

Der Hauptmann von Kampts, Domi¬ 
nium Nieder-Harpersdorf. 

Ich weiss es nicht, es wird wol we¬ 
gen meines Leidens sein, wegen wel¬ 
chem ich von dem Ortsvorstande hier¬ 
hergebracht worden bin. 

Nein. 

Ich soll noch einmal ärztlich unter¬ 
sucht werden, hat er mir gesagt. 

Ich bin schon einmal hier gewesen, 
es sind 2 oder 3 Jahre her. 

Eine Irren-Anstalt. 

Ja wohl. 

Ich habe an Krämpfen gelitten. 

Ja. 

Meine Frau, welche stets um mich 
war, hat mir gesagt, dass ich gerast 
habe, nur in die Zunge habe ich mich 
gebissen. 

2 * 

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20 


Dr. v. Ludwiger, 


Haben Sie dabei etwas zerschlagen? Das müssen die wissen, welche in 

meiner Umgebung waren. 

Sind Sie jähzornig? Nein. 

Wie leben Sie mit Ihrer Frau? Ganz gut; sie hat mich schon 2 Mal 

besucht, während ich hier bin. 

Will Ihre Frau haben, dass Sie für Ich glaube es nicht, 
blödsinnig erklärt werden sollen? 

Man muss Sie doch in dem Dorfe Das glaube ich nicht, denn ich bin 
für blödsinnig gehalten haben? den ganzen Sommer auf Arbeit ge¬ 

gangen und dann müsste mich doch 
der Gutsbesitzer, bei welchem ich ge¬ 
arbeitet habe, fortgeschickt haben. 

Wann hatten Sie denn den letzten Das kann ich nicht sagen. Das muss 
Krampfanfall? meine Umgebung wissen. 

Haben Sie sich nicht nach den Bisweilen habe ich im Bett liegen 
Krampfanfällen krank gefühlt? müssen, bin aber grösstentheils den 

andern Tag auf Arbeit gegangen. 

Trinken Sie Schnaps? Ja, bei der Arbeit oder in der Gesell¬ 

schaft, aus Gewohnheit aber nicht. 

Können Sie lesen? Ja. (Es wurden ihm einige, nicht 

leicht verständliche Stellen zum Lesen 
vorgelegt. Er las dieselben sehr fliessend, desgleichen die in denselben vorkom¬ 
menden zahlreichen Fremdwörter; über den Sinn des Gelesenen befragt, konnte 
er denselben, wie sich das nicht besser von seinem Bildungsgrad erwarten liess, 
wiedergeben.) 

Es wurde hierauf mit dem Fragen seitens des Richters abge¬ 
brochen und dem Herrn Dr. von Ludwiger das Wort ertheilt. 

Sind Sie überhaupt einmal geistes- Das war damals, als ich einen An- 
gestört gewesen? fall von Tobsucht batte. 

Nun, wann war das? Die Zeit kann ich nicht mehr an¬ 

geben, das müssen die wissen, welche 
in meiner Umgebung gewesen sind. 

WissenSie noch, an welchem Tage Sie Ja wohl, es war am vergangenen 
Ihre Frau zum letzton Mal besucht hat? Sonnabend, am 27. d. Mts. 

Es wird darauf hingewiesen auf die Mittheilungen, welche seine Frau bei 
ihrem Besuche über seine Krankheit hier gemacht hat, insbesondere dass er im 
Herbst 1883, nachdem er sich vorher betrunken, in Tobsucht gerathen, und dass 
diese Tobsucht mit zeitweiligen Nachlässen bis zum Frühjahr 1884 gedauert. 
Auf die Frage, ob er dies noch wisse, erwidert er: 

Es ist mir noch dunkel in der Erinnerung, aber etwas Sicheres kann 
ich darüber nicht sagen. Ich kann mich auf die ganze Zeit nicht be¬ 
sinnen und weiss nur, dass ich den ganzen Winter über zu Hause ge¬ 
blieben bin. 

Könnte die Frau in dieser Beziehung Das glaube ich nicht, dass sie wird 
wol etwas Falsches angegeben haben? mit der Unwahrheit umgegangen sein. 

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Ein Entmündigungsfall. 


21 


Sie sollen damals sich ganz nackt 
ausgekleidet und gesagt haben, sie 
seien nackt auf die Welt gekommen 
und wollten auch jetzt so gehen ? 

Haben Sie damals Wärter gehabt? 

Haben Sie damals Stimmen gehört 
oder Gestalten gesehen? 

Ist Ihnen denn jetzt so etwas vor¬ 
gekommen? 

Hat das Schnapstrinken bei Ihnen 
Einfluss auf die Krämpfe gehabt? 

In welcher Provinz leben Sie hier? 

Zu welchem Staate gehört Schlesien? 

Seit welchem Jahre besteht denn das 
Deutsche Reich? 

Was hat Preussen in jüngster Zeit 
für Kriege geführt? 

Und was kam dann für ein Krieg? 

Und zuletzt? 

Wie viel Erdtheile giebt es? 

Wo sind Sie in die Schule ge¬ 
gangen ? 

Können Sie noch gut rechnen? 

Wie viel ist 15 -J- 12 ? 

Wenn Sie von 30 vierzehn abziehen, 
wie viel bleibt? 

Wie viel ist 5X12? 

Wie viel ist 7X13? 

Wozu sind die Gerichte im preussi- 
schen Staate? Was haben wir für Ge¬ 
richte? 

Wie heissen sie jetzt? 

Wozu sind die Gerichte? 

Was hat denn der Herr Staatsanwalt 
zu thun? 

Und der Rechtsanwalt? 

Wozu sind die Schulen? 

Welcher Roligion gehören Sie an? 

Wie viel Gebote giebt es? 


Das kann ich auch nicht so genau 
sagen, es ist mir so dunkel. 

Das weiss ich auch nicht mehr genau 
anzugeben. 

Das kann ich auch nicht genau sa¬ 
gen, das müssen die wissen, welche da¬ 
mals in meiner Umgebung gewesen sind. 

Nein. 

Das glaube ich nicht, weil ich nie 
so viel Schnaps getrunken habe. 

In der Provinz Schlesien. 

Zum preussischen Staat und Deut¬ 
schen Reiche. 

Seit dem Jahre 1871; seit dem 
letzten Feldzuge. 

1864; war es nicht gegen Schles¬ 
wig-Holstein? 

1866 gegen den Kaiser von Oestreich. 

Gegen Frankreich. 

Fünf: Europa, Asien, Afrika, Ame¬ 
rika und Australien oder Neuholland. 

In Harpersdorf beim Cantor Kügler, 
dann noch bei einem zweiten Lehrer nach 
dem Tode des Kügler, dessen Namen 
ich jedoch nicht mehr angeben kann. 

Ja wohl. 

27. 

16. 

60. 

91. 

Königliche Kreis-Gerichte. 

Amts-Gerichte. 

Zur Verhandlung von Streitigkeiten. 

Die Klagen nach dem Gesetz zu ver¬ 
handeln. 

Zur Vertretung des Klägors oder des 
Verklagten. 

’ -UrA den"Kindern das Lesen. Schrei¬ 
ben , urtd:R?'chnen 'ziT t ei neiig ° 

Der katholischon. ’ • 

Zehn. ■ \ 


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22 


Dr. v. Ludwiger. 


Hierauf erklärte Herr Dr. von Ludwiger Folgendes: 

„Der Tagarbeiter Franz Menzel aus Ober-Harpersdorf, katholisch. 37 Jahro 
alt, seit dem 11. November 1884 der hiesigen Anstalt anvertraut, ist zwar auch 
hier wiederholt von epileptischen Krampfanfällen und Zuständen leichter Benom¬ 
menheit heimgesucht worden. Indessen hat er sich gern bei den hiesigen wirt¬ 
schaftlichen Arbeiten betheiligt, keinerlei Störungen verursacht und auffälligere 
Zeichen von Geistesstörung nicht dargeboten. Auch im heutigen Termin zeigte 
er ein durchaus angemessenes Verhalten, beantwortete die an ihn gerichteten 
Fragen im Allgemeinen zutreffend und erschien hauptsächlich nur insofern auf¬ 
fällig, als er von der ganzen Zeit seiner tobsüchtigen Erregtheit eine nur sehr 
dunkele Erinnerung besass, und insofern er andererseits, wie auch bei andern 
Gelegenheiten schon, der Wahrheit entgegen behauptete. dass er schon früher 
einmal hier gewesen sei. 

Der vorliegende Fall macht demnach bezüglich seiner forensischen Beur- 
theilung besondere Schwierigkeiten, so dass ich davon Abstand nehme, schon 
heute ein motivirtes Gutachten abzugeben. 

Ich bin indessen bereit, ein solches später zu erstatten, und bitte für den 
Fall um Zustellung der Acten.“ 

Plagwitz, den 29. December 1884. 

M .... G .. .. 


Aerztliches Gutachten 

über den Geisteszustand des am 29. December v. J. gerichtlich 
explorirten Häuslers Franz Menzel aus Ober-Harpersdorf. 


Der Häusler und Tagearbeiter Franz Menzel aus Ober-Harpersdorf im Kreise 
Goldberg, seit dem 11. November v. J. der Pflege der hiesigen Anstalt anver¬ 
traut, ist ein 38 Jahre alter Mann von hoher und breiter Statur, von kräftiger 
Musculatur und gutem Ernährungszustände. An der weissen Haut zeigen sich 
hie und da einige weisse Narben, über deren Herkunft Nichts zu ermitteln ist. 
Puls und Hauttemperatur verhalten sich normal. Das Körpergewicht, welohes 
bei der Aufnahme 128 Pfd. betrug, war bis zum 31. v. Mts. bis auf 140 Pfd. 
gestiegen. 

Der etwas kleine Kopf hat, wie das volle Gesicht, eine mehr rundliche Form 
und ist mit dunkelblonden Haaren dicht besetzt. Das Gesicht ist stark geröthet, 
nicht selten ebenso wie die grossen Ohrmuscheln etwas bläulich verfärbt und hat 
derbe Züge, aber einen geweckten Ausdruck und ein lebhaftes Mienenspiel. Die 
blauen Augen reagiren ziemlich gut auf Lichtreiz; die Bindehäute sind lebhaft 
geröthet, und das ganze Gesicht hat oft ein leicht gedunsenes Aussehen, so 
dass der Blutumlauf am Kopfe nicht ganz regelmässig von Statten geht. Die 
Zunge zittert ziemlich^ sta&.und lässt.an ihren Rändern einige tiefere Narben 
.*erkeijtfeh!l *.D»e*t5ftitzähne*«ipd.*£Bli jfefect. die vorderen Zähne dagegen noch 

V : galten-/ . 

I)$r, Hal3;ts£etwa§*ffuke und voll, aber frei von Kropfbildung. Der Brust- 


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Ein Enlmündiguogsfall. 


23 


kästen ist gut gewölbt, und an den Organen der Brnst und des Leibes sind auf¬ 
fälligere Abnormitäten nicht nachweisbar. Die Geschlechtsorgane sind im Ver- 
hältniss zu dem athletischen Körper nur massig entwickelt. Die Hände sind 
gross und ist die Haut daselbst ebenfalls meist bläulich verfärbt. 

Das subjective Befinden ist vollkommen befriedigend, und die Körper¬ 
functionen laufen, abgesehen von den auch jetzt noch mitunter aufgetretenen 
Krämpfen, allem Anschein nach im Allgemeinen regelmässig ab. — 

Johann Joseph Franz Menzel, am 26. Januar 1847 zu Ober-Harpersdorf 
geboren, katholischer Religion, gehört einer Familie an, für welche eine Dispo¬ 
sition zu Geistes- und Nervenkrankheiten nicht nachweisbar ist. Sein Vater, ein 
Tagearbeiter, soll im Herbst 1872 an den Pocken, die Mutter im Frühjahr 1874 
an Lungen- und Rippenfellentzündung gestorben sein. Ein Bruder soll todt ge¬ 
boren, zwei andere Geschwister sollen in den ersten Lebensjahren dem Tode 
verfallen sein, so dass Franz, das drittgeborene, als einziges Kind der Eltern 
aufwuchs. 

Seine körperliche und geistige Entwickelung ist allem Anschein nach gut 
von Statten gegangen, und will er von grösseren Krankheiten verschont geblieben 
sein. Nach der Confirmation hat er zuerst in Harpersdorf und dann auf verschie¬ 
denen Bauergütern als Hütejunge, als Kuhhirt, als Kleinknecht nnd als Knecht, 
meist an jeder Stelle ein Jahr lang und zur Zufriedenheit seines jedesmaligen 
Lohnherrn, gedient. Im December 1869 wurde er bei dem Königs-Grenadier- 
Regiment in Liegnitz eingestellt, hat mit demselben im französisch-deutschen 
Kriege an den Schlachten bei Weissenburg, bei Wörth und bei Sedan, wie an 
der Belagerung von Paris und an dem Siegeseinzuge in Berlin theilgenommen, 
und darauf bis zum Tode seines Vaters im Herbst 1872 wieder als Knecht ge¬ 
dient. Seitdem lebte er bei der Mutter in Harpersdorf, wie der Vater von Tage¬ 
arbeit sich ernährend, heirathete, nachdem die Mutter im Frühjahr gestorben, 
am 1. September 1874 seine jetzige Frau und hat auch in diesem Stande durch 
Tagearbeit für sich und die Seinen den nöthigen Unterhalt erworben, was ihm 
niobt schwer wurde, da seiner Ehe nur eine, 1876 geborene Tochter entsprossen 
ist. Mit seiner Frau soll er zwar mitunter in Streit gerathen, im Allgemeinen 
aber doch ganz gut ausgekommen sein. Nach deren Angaben hat er immer gern 
Schnaps getrunken und sich auch zuweilen berauscht, ist aber doch kein eigent¬ 
licher Säufer und überhaupt keiner Leidenschaft in höherem Grade ergeben 
gewesen. 

Einige Wochen nach der Verheirathung, im October 1874, nachdem er 
wieder einmal sinnlos betrunken und sehr aufgeregt gewesen, seien in der Nacht 
zum ersten Male epileptische Krämpfe bei ihm ausgebrochen, so dass die An¬ 
nahme seiner Frau, wonaoh lediglich in dem übermässigen Genüsse von Brannt¬ 
wein die Ursache für deren Entstehung gegeben sein dürfte, allerdings wohl 
hegrÜDdet erscheint. Die folgenden 3 Monate sei er, wie vordem, ganz gesund 
gewesen, alsdann hätten sich aber die Krämpfe wiederholt und seitdem seien sio 
etwa alle 3—4 Wochen, und zwar meist nur in der Nacht und jedesmal in etwa 
einstündlichen Pausen 3—4 mal hintereinander, wiedergekehrt. Auch hierbei 
habe der üble Einfluss des Branntweins sich deutlich zu erkennen gegeben, in¬ 
sofern jeder stärkere Rausch von epileplisohen Krämpfen gefolgt gewesen sei und 


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24 


Dr. v. Ludwiger. 


insofern letztere jedesmal häufiger und stärker in den Zeiten grösseren Brannt¬ 
weingenusses aufgetreten seien. Seine Arbeiten hätte er trotzdem wahrgenommen 
und sie nur selten einmal, wenn er von den Krämpfen sehr mitgenommen worden, 
auf kurze Zeit ausgesetzt. Manchmal nämlich seien die Anfälle mit nur sehr 
gelinden und kaum bemerkbaren, zu anderen Zeiten dagegen mit sehr stürmi¬ 
schen Erscheinungen, mit dem Ausslossen eines lauten Schreies, mit heftigen 
allgemeinen Gonvulsionen, mit dem Hervorsprudeln reichlichen, oft blutigen 
Schaumes vor dem Munde und mit lautem Schnarchen am Ende eines Anfalles 
verlaufen. Er selbst habe weder von alledem, noch auch von den etwaigen 
sonstigen Vorgängen in seiner Umgebung Bewusstsein gehabt; oft habe er nach 
einer so mehrfach gestörten Nacht am anderen Morgen nur aus der Anschwellung 
und den Verletzungen der Zunge, die er sehr häufig im Krampfe sich zerbeisse, 
aus den Kopf- und Gliederschmerzen und aus dem Gefühle allgemeiner Mattigkeit 
und Zerschlagenheit geschlossen, dass er wol wieder von Krämpfen müsse heim¬ 
gesucht worden sein. 

Die ersten Zeichen von Geistesstörung seien erst am 8. October 1883, und 
zwar wieder in engem Anschlüsse an einen starken Alkoholexcess, an ihm beob¬ 
achtet worden. Menzel hatte die Arbeitsstätte verlassen und in Gesellschaft des 
Dorfbarbiers an Branntwein sich vollständig betrunken. Die suchende Frau fand 
ihn gegen Abend halb erstarrt im Mühlengraben liegend, und nur mit grosser 
Mühe gelang es ihr, ihn aus dem Wasser, das sich in seinen grossen Ueberrock 
hineingesogen hatte, heraus- und auf die Beine zu bringen. Kurz vor seiner 
Wohnung war ein schmaler Steg über einen ziemlich breiten und tiefen Graben 
zu passiren, und dort fiel er, ausgleitend und die Frau mitreissend, von Neuem 
in’s Wasser, aus welchem er sich jedoch schnell herausmachte. Er sah nun sehr 
verstört aus, sprach viel durcheinander und die Verwirrtheit und Erregtheit 
nahm, als sie nach Hause gekommen waren, mehr und mehr überhand. Obwohl 
er wahrscheinlich längere Zeit im Wasser gelegen hatte und dort sehr abgekühlt 
worden war, so mochte er doch weder eine ihm gebotene warme Suppe gemessen, 
noch auch das Bett aufsuchen. Die nassen Kleidungsstücke legte er zwar endlich 
ab, blieb aber völlig nackend und lief anch nackend im Hause und zu anderen 
dort wohnenden Frauenzimmern herum, äussernd, dass er nackend auf die Welt 
gekommen sei und fortan keiner Kleider mehr bedürfe. Auch die Frau sollte 
sich nackend ausziehen, und riss er ihr die meisten Kleidungsstücke vom Leibe. 
Darauf erging er sich in vielen Schimpf- und Drohreden, sprach viel mit dem 
Tode und Teufel, deren Gestalten er hinter und neben sich zu sehen und deren 
Stimmen er zu hören meinte, wiederholte mehrmals, dass er genau um 12 Uhr 
in der Nacht sterben oder sich umbringen müsse, traf Anstalten dazu, genau die 
Uhr beobachtend, brüllte allerhand verkehrtes Zeug zum Kammerfenster in die 
Nacht hinaus, stimmte zwischendurch religiöse Lieder an und war die ganze 
Nacht hindurch in fortwährender Bewegung und Erregtheit. Da er auoh am 
folgenden Tage so fortwirtbschaftete, so wurden ihm 2 Wächter von der Gemeinde 
gestellt, und da auch dann keine Ruhe eintrat, sein Verhalten vielmehr von da 
ab den ganzen Winter hindurch bis tief in den Frühling hinein ein mehr oder 
minder verwirrtes und tobsüchtiges blieb, so ist er die ganze Zeit hindurch über¬ 
wacht und zeitweilig, wenn er zu ungestüm und rücksichtslos gegen die Frau 


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Ein Entmündigungsfall. 


25 


und die Wärter losbracb, mit der Zwangsjacke belegt worden. Es wechselten so 
fortwährend mehr oder minder erregte Perioden miteinander ab, dazwischen auf¬ 
tretende Krämpfe hatten auf das Gesammtverhalten keinen nachhaltigeren Einfluss 
und erst im Juni 1884 kehrte etwas mehr Ruhe und Sammlung zurück, so dass 
er seitdem auch wieder an Feldarbeiten theilnehmen konnte; indessen war er 
häufig dabei doch so zerstreut und benommen, dass er einer speciellen Ueber- 
wachung bedurfte, weil er sonst leicht unbeabsichtigte oder unzweckmässige 
Arbeiten ausgeführt hätte. Die Krämpfe wiederholten sich noch ebenso wie vor¬ 
dem, alle 3—4 Wochen und zwar meist Nachts, ja mehrere Male hintereinander. 

So ging es bis zum 11. November v. J., an welchem Tage endlich die schon 
lange vorher vorbereitete Aufnahme in die hiesige Anstalt ausgeführt werden 
konnte. Man hatte ihm gesagt, dass er seiner Krämpfe wegen noch einmal eine 
gründliche Kur gebrauchen müsse, und war er mit seiner Aufnahme ganz ein¬ 
verstanden. Er verhielt sich ruhig und angemessen, schlief die erste Nacht ganz 
ungestört und wurde schon am nächsten Tage zu einigen Arbeiten zugelassen. 
Da er sich auch bei der Arbeit verständig benahm und sich auch in der Folge 
immer gern beschäftigen mochte, so konnte er seitdem zu mancherlei Thätig- 
keiten im Hause und im Garten verwandt werden und hat sich dabei meist eifrig 
und geschickt erwiesen. Nur hin und wieder einmal, wenn er Nachts von 
Krämpfen ergriffen worden, Morgens mehr wie sonst benommen war und dann 
auoh über Kopfschmerzen und Müdigkeit klagte, blieb er davon fern oder be¬ 
schäftigte sich nur mit Federnreissen. Seine Körperpflege besorgte er selbständig 
und hielt sich in seinem Aeussern und in seiner Kleidung sauber und ordentlich. 
Gegen die Wärter und seine Umgebung beobachtete er fortgesetzt ein ange¬ 
messenes und freundliches Benehmen. Sehr bald stellten sich auch hier seine 
Krämpfe ein; indessen wurden ihm, um zunächst seine Krankheit zu studiren, 
im November und December noch keine Krampfmittel verabreicht. 

In der Naoht vom 15./16. November kamen die ersten beiden Krampf¬ 
anfälle zur Beobachtung und sind denselben bis zum Ende des Monats noch 7 
und ebenso viele im December nachgefolgt. Sämmtliche Anfälle traten in der 
Nacht, nicht selten kurz nachdem er sich niedergelegt hatte, auf, und zwar: 


in der Naoht 

vom 

15. 

zum 

16. 

November: 

2 Anfälle, 

- 

- 

- 

16. 

- 

17. 

- 

1 Anfall, 

- 

- 

- 

22. 

- 

23. 

- 

1 - 

- 

- 

- 

24. 

- 

25. 

- 

1 

- 

- 

- 

25. 

- 

26. 

- 

1 - 

- 

- 

- 

26. 

- 

27. 

- 

1 - 

- 

- 

• 

27. 

- 

28. 

- 

2 Anfälle, 






im 

November: 

9 Anfälle; 

in 

der Nacht 

vom 

5. 

zum 

6. 

December: 

1 Anfall, 

- 

- 

- 

16. 

- 

17. 

- 

2 Anfälle, 

- 

- 

- 

17. 

- 

18. 

- 

1 Anfall, 

- 

- 

- 

19. 

- 

20. 

- 

1 

- 

- 

- 

26. 

- 

27. 

- 

1 

- 

- 

- 

29. 

- 

30. 

- 

1 






im ! 

December: 

7 Anfälle. 


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I)r. v. Ludwiger, 


2 ß 


Diese Anfälle sollen nach Schilderung der in demselben Saale schlafenden 
Wärter, denen nach Lage der Umstände übrigens einzelne leicht entgangen sein 
können, meist unter ganz gleichen Erscheinungen abgelaufen sein: nachdem der 
Kranke schnell einige unverständliche Worte vor sich hin gesprochen, pflege sich 
der Körper zu strecken, die Gliedor würden ganz steif und erst, nachdem die 
Starrheit einige Minuten angehalten, kehre die natürliche Spannung der Muskeln 
zurück. Hierauf folge gewöhnlich ein Husten oder Singen und Pfeifen, das nur 
kurze Zeit dauere, und werde dann, nachdem auf diese Weise der Anfall beendet, 
der unterbrochene Schlaf, häufig zunächst unter schnarchender Respiration, fort¬ 
gesetzt. Ein lautes Aufschreien beim Beginn des Anfalles oder ein wildes Umher¬ 
schlagen mit Armen und Beinen, wie meistens bei Epileptischen, ist bei ihm hier 
nicht beobachtet worden; der Krampf trat bei ihm also als tonischer auf, während 
derselbe bei der Mehrzahl der Epileptischen zuerst einen clonischen Charakter 
besitzt und erst gegen das Ende mehr tonisch wird. Dagegen wurde auch bei 
ihm häufig das Hervorsprudeln von Schaum aus dem Munde, ein Zerbeissen der 
Zunge, eine Behinderung der Respiration und die charakteristische Aufhebung 
des Bewusstseins, resp. eine dementsprechende Lücke des Gedächtnisses für die 
ganze Zeit des Anfalles beobachtet. Auch Hessen sich hier weiterhin die gewöhn¬ 
lichen und auch schon von der Frau wahrgenommenen Nachwirkungen stärkerer 
oder in gehäufter Zahl erschienener Anfälle constatiren. So hat der Oberwärter 
hiesiger Anstalt wiederholt hervorgehoben, dass Menzel in den frühen Morgen¬ 
stunden oft mehr oder minder benommen, zerstreut und vergesslich, gleich wie 
Jemand, der eben erst aus festem Schlafe aufgeweckt worden, ihm erschienen sei, 
und diese Dämmerzustände waren um so stärker ausgeprägt, je mehr die Nächte 
gestört gewesen. Am 26. November früh klagte der Kranke selbst zuerst über 
heftige Kopfschmerzen und am 27. früh, nachdem die Nacht wieder durch einen 
Anfall unterbrochen worden, fühlte er sich so angegriffen, dass er auf sein Bitten 
von der Arbeit auf der Krankenabtheilung zurückgelassen wurde. In diesen Zu¬ 
ständen sprach er langsamer, antwortete oft nach wiederholtem Befragen und 
konnte sich nur schwer und unvollständig auf Dinge besinnen, die ihm sonst 
ganz geläufig waren. Im Laufe des Tages klärte sich sein Bewusstsein zunehmend 
auf, und erschien er alsdann weit theilnehmender, geistesfrischer und gedächtniss- 
kräftiger. Seit Januar d. J. gebraucht er regelmässig das jetzt am meisten gegen 
Epilepsie empfohlene Mittel (Natr. brornat.) und ist seitdem bis heute (den 
22. Februar 1885) nur noch 2 Male, nämlich in der Nacht vom 1. zum 2. und 
vom 11. zum 12. Januar, von je einem Anfalle ergriffen worden; auch schien 
sein Bewusstsein seitdem im Ganzen etwas freier zu sein, wenngleich dasselbe 
auch jetzt noch immer in den frühen Morgenstunden leicht umwölkt zu sein 
scheint. — Dreimal hatte er Besuch von seiner Frau, am 23. November, am 
27. December und am 9. d. Mts. (Februar). Jedesmal brachte die Frau ihm 
mancherlei Erfrischungen mit und zeigte rege Theilnahme für sein Ergehen, 
während er bei diesen Besuchon sich auffallend kalt und interessenlos benahm. 
Er fragte nur ganz oberflächlich nach dem Befinden seiner Tochter, äusserte, dass 
er es hier sehr gut hätte und gern für immer hier bleiben möchte, wenn er nur 
etwas Lohn erhielte; wandte sich von der Frau immer bald mit allerhand gleich¬ 
gültigen Bemerkungen an den Oberwärter, schien mit Ungeduld ihre Ver- 


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Ein Entmündigungsfall. 


27 


abschiedung za erwarten und meinte, als letztere unter vielen Thränen sieb ent¬ 
fernte, unter Hinweis auf die von ihr mitgebrachten Esswaaren und Erfrischungen 
heiter lachend zum Oberwärter, dass man hier ja nicht verderben könne, — in 
einer Weise, als ob die Thränen der Frau nicht den geringsten Eindruck auf ihn 
gemacht hätten, als ob deren Traurigkeit ihm ganz unerklärlich oder gleich¬ 
gültig wäre. — Uebrigens hat er die der Frau gegenüber gemachte Aeusserung, 
wonach er auch mit einem dauernden Aufenthalte in der Anstalt ganz zufrieden 
wäre, falls er nur Lohn erhalten möchte, auch sonst oft genug wiederholt und 
deutlich zu erkennen gegeben, dass er sich in der Anstalt hier sehr wohl fühle. 
Nur einmal, nämlich am 7. December, sprach er dem Wärter llemp gegenüber 
mit einer gewissen unwilligen Erregtheit über seine Zurückhaltung hierselbst, 
behauptete, dass es geradezu keine Gerechtigkeit mehr geben würde, wenn man 
ihn nicht bald entliesse, und dass seine Entlassung sofort würde herbeigeführt 
werden, wenn er nur einmal mit Sr. Majestät, dem Kaiser, persönlich sprechen 
könnte. Dieser Unrnuth ging indessen bald vorüber und am nächsten Tage 
schien er kaum mehr eine Rückerinnerung davon zu besitzen. 

Am 29. December pr. wurde er, nachdem aus diesem Anlass allerdings 
schon vorher fast über dieselben Gegenstände wiederholte und eingehende Unter¬ 
haltungen mit ihm geführt worden waren, gerichtlich explorirt. Er nahm an. 
dass in diesem Termine über seine Entlassung oder über seinen Verbleib in der 
Anstalt entschieden werden würde, und wollte beweisen, dass er zur Zeit geistig 
ganz gesund sei. Seine Aufmerksamkeit war demnach eine recht gespannte, und 
es machte ihm sichtlich grosses Vergnügen, wenn er die einzelnen Fragen mög¬ 
lichst schnell und zutreffend beantworten konnte, wie auch aus der freudigen 
Zufriedenheit hervorgeht, die er nach Beendigung des Colloquiums seinen Wärtern 
und verschiedenen Personen seiner Krankenabtheilung gegenüber in Bezug auf 
den glücklichen Ausfall des überstandenen Examens bekundete. Und hiermit 
stimmte ja auch die Wirklichkeit im Grossen und Ganzen überein und wesentlich 
nur nach zwei Richtungen hin gaben sich auffallende geistige Abnormitäten, die 
übrigens schon vielfach hier beobachtet worden waren, an ihm zu erkennen: 
einmal seine gänzliche Unfähigkeit, nicht blos über seine Krämpfe, sondern auch 
über jene lange, 8 Monate währende Zeit tobsüchtiger Erregtheit und Verwirrtheit 
Bericht zu erstatten, und andererseits seine, auch schon vor dem Termine wieder¬ 
holt gemachte und fortwährend festgehaltene, der Wahrheit widerstreitende Be¬ 
hauptung, wonach er schon einmal vor 2 bis 3 Jahren in hiesiger Anstalt seiner 
Krämpfe wegen längere Zeit hindurch ärztlich behandelt sein will, obwohl er 
selbst einräumt, dass er über diesen behaupteten Aufenthalt fast nichts mehr 
anzageben vermöge. Wie ihm über jene tobsüchtige Zeit nur eine ganz dunkele 
Erinnerung verblieben, wie er bezüglich derselben allein nur wisse, dass er da¬ 
mals krank gewesen und deswegen den ganzen Winter hätte zu Hause bleiben 
müssen, so wisse er auch von dem mehrerwähnten früheren Aufenthalte in 
hiesiger Anstalt eben nur zu erinnern, dass er hier schon einmal ärztlich be¬ 
handelt worden und dass seine Wärter wahrscheinlich auch damals um ihn be¬ 
schäftigt gewesen, da sie ihm ganz bekannt vorgekommen seien. Und in ähn¬ 
licher Weise sollte auch der Richter ihm bereits bekannt gewesen sein, da er 
auch während jenes ersten Aufenthaltes hierselbst einen gerichtlichen Termin 


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Dr. v. Lud w iger, 


gehabt, den derselbe Richter abgehalten hätte. Einwendungen dagegen nahm er 
seinem im Ganzen bescheidenen Benehmen entsprechend schliesslich schweigend, 
mitunter verschmitzt lächelnd hin. gab aber dadurch, dass er auf gegebene Ver¬ 
anlassung genau in derselben Weise darauf zurückkam, deutlich zu erkennen, 
dass dieselben keinen Eindruck auf ihn gemacht hätten. — 

Nachdem nun aber Alles übersichtlich zusammengestellt, was über 
seine Vergangenheit berichtet und hier an ihm beobachtet worden, 
bleibt jetzt noch die Hauptfrage, ob Menzel für dispositionsfähig zu 
erachten sei oder nicht, zu erörtern. 

Liesse man vor der Hand seine Vergangenheit ausser Betracht 
und hielte man sich nur an sein gegenwärtiges Verhalten, so könnte 
man nicht abgeneigt sein, die Frage der Dispositionsfähigkeit für ihn 
zu bejahen, zumal man wol zugeben mag, dass die forensische Beur- 
theilung eines so wechselvollen Krankheitszustandes mit Schwierig¬ 
keiten zu kämpfen hat, die vielleicht überhaupt nicht zu voller 
Befriedigung überwunden werden können. 

Menzel leidet, wie dies nun auch hier sicher constatirt worden 
ist, an epileptischen Anfällen, aber diese Anfälle sind bisher aus¬ 
nahmslos nur in der Nacht und unter milden Erscheinungen aufge¬ 
treten und sie haben sich höchst wahrscheinlich, weil der Kranke hier 
vor Schädlichkeiten, insbesondere vor dem übermässigen Genüsse von 
Spirituosen, bewahrt ist und weil und seitdem er zugleich ein die 
Erregbarkeit des centralen Nervensystems thatsächlich stark herab¬ 
setzendes, dadurch allgemeine Beruhigung und Schlaf erzielendes, 
gegen Epilepsie günstig wirkendes Mittel gebraucht, nur noch selten 
wiederholt oder sind ganz ausgeblieben. — Es sind ferner auch jetzt 
noch gewisse nervöse, mit der Epilepsie gewöhnlich mehr oder minder 
eng verbundene Zustände, Kopf- und Gliederschmerzen, Gefühle allge¬ 
meiner Ermüdung und Abgeschlagenheit und sodann jene mehr er¬ 
wähnten Zustände von Umwölkung des Bewusstseins, die dann grössere 
Langsamkeit im Ablaufe der Vorstellungen und eine gewisse Hemmung 
in deren wahrheitsgetreuer Reproduction, eine gewisse Schwerfälligkeit, 
Theilnahmlosigkeit und Abschwächung des Gedächtnisses wie sonst 
auch eine gewisse Abschwächung der natürlichen Interessen, Gefühle 
und Aflfecte an ihm beobachtet worden. Indessen auch diesen nervösen 
Zuständen würde wol kaum eine solche Bedeutung beigelegt werden 
können, dass ihm deswegen die freie Dispositionsfähigkeit aberkannt 
werden müsste. Was aber die zuletzt erwähnte Abstumpfung der 
Intelligenz und dos Gemüths anlangt, so wissen wir allerdings, dass 


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Ein Entmündigungsf&U. 


29 


er nicht nur ohne alle Schwierigkeiten zu einem längeren Aufenthalte 
in hiesiger Anstalt und zum Gebrauche einer gründlichen Kur gegen 
seine Krämpfe, mithin auch zu längerer Trennung von Weib und Kind 
und einer erheblichen Beschränkung seiner Freiheit, sich bestimmen 
liess, sondern wir sehen auch, dass er sofort hier heimisch ist, sich 
hier ganz zufrieden fühlt, um das Ergehen von Weib und Kind sich 
in keiner Weise mehr kümmert, das etwaige Vorhandensein einer 
Sehnsucht nach den Seinen ausdrücklich in Abrede stellt und über¬ 
haupt eine vollständige Sorglosigkeit für die eigene und der Seinigen 
Zukunft bekundet. Eine solche Gleichgültigkeit und Interessenlosig- 
keit könnte, wenn sie in der beobachteten Weise wirklich vorhanden 
wäre, allerdings nur als Ausdruck einer krankhaften Geistes- oder 
Gemüthsbeschaffenheit erscheinen und müsste freilich Anlass zu man¬ 
chen Bedenken geben. Kann denn bei einem Manne, der sich so leicht 
von Frau und Kind zu trennen und ohne dieselben zu leben vermag, 
ein so warmes Sorgepflichtgefühl vorausgesetzt werden, wie es bei 
Gesunden seinesgleichen vorhanden ist und vorhanden sein muss, wenn 
Jemand als Mann und Vater seine Pflicht erfüllen will und soll? Viel¬ 
leicht hat er sich aber nur deshalb so gutwillig in die hiesige Lage 
gefügt, weil er erkannte, dass ein Widerstand zwecklos sei; vielleicht 
hegt er in seinem Innern Hass und Groll gegen die Frau und den 
Schwager, weil er vermuthlich nur durch ihre Ueberlistung hierher 
gebracht worden, und vielleicht rührt nur daher seine äussere Kälte 
und Interesselosigkeit. Die freie Art seines Auftretens, die that- 
sächlich bei ihm nachweisbare Beeinträchtigung seiner Geistesthätig- 
keit durch die epileptischen Insulte und die bekannte Thatsache, dass 
das lange Bestehen dieser, das Nervensystem so mächtig in Anspruch 
nehmenden Krankheit nahezu ausnahmslos zu einer vorschreitenden 
Abstumpfung der intellectuelleu und affectiven Thätigkeiten führt, 
geben dieser Annahme zwar nur geringe Wahrscheinlichkeit. Gleich¬ 
wohl bleibt aber eine entfernte Möglichkeit dafür bestehen und könnte 
deshalb auch die supponirte geistige Abstumpfung vorläufig noch be¬ 
zweifelt werden. 

Und blickt man noch auf sein sonstiges Verhalten, zieht man in 
Betracht, dass er sich von je an in die Ordnung des Hauses gefügt, 
dass er sich gegen Jedermann hier freundlich und angemessen be¬ 
tragen, gern an mancherlei Beschäftigungen theilgenommen und die 
Mehrzahl der an ihn gerichteten Fragen richtig, manche sogar mit 
aussergewöhnlicher Geläufigkeit beantwortet hat, so könnte man aller- 


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Dr. v. Ludwiger. 


:to 

dings, wie gesagt, geneigt sein, ihm, wenn auch mit einigem Bedenken, 
die legale Dispositionsfähigkeit eher zuzuerkennen, als abzusprechen. 

Indessen — stösst man schon so, bei mehr oberflächlicher Be¬ 
trachtung, auf Bedenken, so wird dies um so mehr der Fall sein, je 
genauer man zusieht und kritisirt. 

Und da muss denn doch zunächst betont werden, dass Menzel 
an einer schweren, das geistige Leben immer mehr oder minder beein¬ 
trächtigenden Nervenkrankheit, an Epilepsie, leidet, dass diese Krank¬ 
heit schon seit dem Jahre 1874, also seit mehr als 10 Jahren, bei 
ihm ununterbrochen angedauert und, wie häufig, so auch bei ihm 
endlich, hier allerdings erst unter Hinzukoramen anderweitiger, äusserer 
Schädlichkeiten, zu einer deutlich ausgesprochenen Geisteskrankheit 
geführt hat. 

Wir wissen, dass er am 8. October 1883, nachdem er vorher 
stark gezecht und dann längere Zeit im Wasser gelegen hatte, wo¬ 
durch bei ihm, dem überhaupt zu Störungen der Circulation am Kopfe 
Disponirten, derartige Congestionen höchst wahrscheinlich in hohem 
Grade und dauernd hervorgerufen wurden, in einen Zustand tobsüch¬ 
tiger Erregtheit und Verwirrtheit gerieth, dass er während desselben 
auch von Gesichts- und Gehörstäuschungen und mancherlei krank¬ 
haften Vorstellungen beherrscht wurde und viele verkehrte Hand¬ 
lungen ausführte, sowie dass er in einem solchen, hochgradig geistes¬ 
gestörten Zustande, welcher permanente Ueberwachung und mitunter 
sogar Anlegung der Zwangsjacke erforderte, bis zum Juni v. J., d. h. 
etwa 8 Monate hindurch, verblieben ist. 

Seitdem hat er sich zwar rnhiger und angemessener verhalten 
und auch wieder manche Handarbeiten geleistet, gleichwohl ist er 
doch zu einer unbehinderten Geistesfreiheit, die bei ihm allerdings 
vielleicht schon lange nicht mehr bestanden haben mag, — zu einem 
Zustande wie der, in welchem Leute seiner Bildung und seines Standes 
bei ungestörter Geistesthätigkeit sich befinden, — zweifelsohne nicht 
mehr gelangt. Denn einmal bedurfte er, wiewohl er gern thätig sein 
wollte, bei seinen Arbeiten, wie dies nicht blos seitens der Frau be¬ 
richtet, sondern auch hier beobachtet worden ist, immer einer speciellen 
Ueberwachung, damit die Arbeiten in der gerade gewünschten Weise 
vollfuhrt und Nichts dabei übersehen würde, und andererseits können 
doch bei genauerer Prüfung mancherlei geistige Abnormitäten an ihm 
wahrgenommen werden: nicht blos jene s<*hon erwähnte auffällige 


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Ein Entmiindignngsfall. 


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Kälte und Interessenlosigkeit in Bezug auf Weib, Kind und auf seine 
eigene gegenwärtige und zukünftige Lage, jene vorübergehenden, bald 
mehr, bald minder ausgesprochenen Dämmerzustände und auffälligeren 
Stimmungsalterationen, wie sie sich beispielsweise einmal in Bezug auf 
seine Entlassung hier kundgegeben, sondern wir können es uns von 
ihm wiederholt bestätigen lassen, dass nicht blos für die Vorgänge 
der epileptischen Insulte, sondern auch für die 8 monatliche Zeit der 
überstandenen tobsüchtigen Exaltation und für alle in derselben aus¬ 
geführten Verkehrtheiten eine fast leere Lücke in seinem Bewusstsein 
vorhanden ist, während umgekehrt einzelne Vorstellungen in demselben 
feste Wurzeln geschlagen haben, für welche irgend ein nachweisbarer 
Anlass nicht aufgefunden werden kann, und welche demnach den auf¬ 
fälligsten Wahnideen an die Seite zu stellen sind. 

So behauptet derselbe Menzel, welcher sonst so verständig er¬ 
scheint, mit aller Bestimmtheit, dass er schon vor 2 oder 3 Jahren 
ebenfalls seiner Krämpfe wegen hier ärztlich behandelt worden sei, 
er will auch schon einen ganz ähnlichen gerichtlichen Terrain damals 
durchgemacht und demnach in den hiesigen Verhältnissen die früheren, 
in den Wärtern uud in dem Richter bereits ihm bekannt gewordene 
Personen wiedererkannt haben. Und dementsprechend vernehmen wir 
zuweilen, wenn auch nur selten, Aeusserungen von ihm, welche ähn¬ 
lich phantastisch begründet zu sein scheinen: so will er vor 2—3 
Jahren vom Ortsvorsteher deshalb in die Zwangsjacke gesteckt worden 
sein, weil er 3 Mal geschworen hätte, nämlich das erste Mal wegen 
einer Wegestreitigkeit, das zweite Mal bei seiner Einstellung beim 
Militär und das dritte Mal bei seiner Verheirathung vor dem Altar. 
Er erblicke darin einen Gewaltact und habe deswegen 50 Pfennige 
pro Sekunde, d. h. auf die Zeit hin, während welcher er die Jacke 
getragen, verlangt. Uebrigens beabsichtigt er, den Gemeinde-Vorsteher 
auch deswegen zu verklagen, weil er ihn angeblich ohne vorhergegangene 
ärztliche Untersuchung habe hierher bringen lassen. — Gegen die An¬ 
gaben der Frau hegt er kein Misstrauen, wiewohl dieselbe während 
der Zeit der Tobsucht und auch noch später ihm mitunter ganz fern- 
hleiben musste, weil er wähnte, dass sie ihn vergiftet habe oder dies 
noch beabsichtige. — 

Menzel ist schon früher von zwei verschiedenen Aerzten wegen 
seiner Krämpfe behandelt, und ist ihm ärztlicherseits stets strengstens 
der Schnaps verboten worden. Er hat jedoch dieses Verbot nicht 


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Dr. v. Ludwiger, 


beachtet, und die Kur hat keinen nachhaltigeren Erfolg gehabt. Hätte 
er diesen Winter zu Hause bleiben müssen, so würde er demnach mit 
dem Nachlass der Arbeiten wieder mehr dem Branntwein zugesprochen 
und dann denselben wol ähnlich verbracht haben, wie den vorigen. 
Es würden die Krämpfe wol wieder häufiger sich eingestellt haben 
und die bei ihm auf Alkoholgenuss schnell eintretende Umnebelung 
seiner Sinne würde wol wieder — wahrscheinlich in Folge der da¬ 
durch herbeigeführten Lähmungen der Gehirngefässe und damit zu¬ 
sammenhängender Ernährungsstörungen im Gehirn — in Zustände 
dauernder Bewusstseinsstörungen, in Tobsucht und Verwirrtheit, über¬ 
gegangen sein. 

Dr. Jensen hat als Director der ostpreussischen Irren-Anstalt Allen¬ 
berg schon vor Jahren auf einen, auch bei Geistesgesunden mitunter vor¬ 
kommenden, interessanten Geisteszustand aufmerksam gemacht, welcher 
darin bestehe, dass Personen in einer ihnen offenbar neuen Situation 
zuweilen doch das lebhafte Bewusstsein haben, als ob sie genau die¬ 
selbe Situation schon einmal erlebt hätten, als ob die etwa vorhan¬ 
denen Gegenstände und Personen auch damals schon an derselben 
Stelle gewesen und ebenso gesprochen und gehandelt hätten, wie im 
derzeitigen Augenblicke, und dass die Betreffenden alsdann leicht zu 
der Täuschung verführt wurden, als ob die neuen Verhältnisse ihnen 
schon von früher her bekannt seien. Ich selbst habe dieses Phänomen, 
welches Jensen unter dem Namen „Doppelwahrnehmungen“ beschrieb 
und durch eine Incongruenz der Thätigkeit der sonst gleichzeitig in 
Action gerathenden beiden Gehirnhemisphären zu erklären suchte, mit 
ihm zusammen beobachtet, habe wie viele Andere, welche dasselbe 
freilich lieber als Erinnerungstäuschung oder anders bezeichnen wollten, 
von seiner Existenz mich hinreichend überzeugt und möchte glauben, 
dass auch in dem vorliegenden Falle die ihrer Entstehung nach sonst 
ganz räthselhaften Wahnideen Menzel’s, seinen angeblichen früheren 
Aufenthalt hierselbst betreffend, in der geschilderten Weise als durch 
Doppelwahrnehmungen hervorgerufen anzusehen seien, zumal der ge¬ 
nannte Bewusstseinszustand auch in Allenberg bei Epileptikern relativ 
häufig und besonders deutlich ausgeprägt gefunden wurde. 

Wie dem aber auch sein mag, jedenfalls lassen sich also in 
Menzel’s geistigem Verhalten bei genauerer Prüfung mancherlei Ab¬ 
normitäten nachweisen, welche offenbar auch auf sein Urtheils- und 
Sehlussvcrmögen von bedeutendem Einflüsse sein müssen. Wenn er 


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Ein Entmündigungsfall. 


33 


beispielsweise unwillig über die Behandlungsweise ist, die man ihm 
während seiner Krankheit habe zu Theil werden lassen, wenn er wegen 
des Gebrauches der Zwangsjacke und seiner Unterbringung hierher 
Entschädigungsansprüche erheben will, wenn er wirklich vornehmlich 
deswegen einen geheimen Groll gegen die Frau und deren Anverwandte 
hegen sollte u. dgl., so wird doch mit Rücksicht auf den vorliegenden 
Krankheitszustand zunächst der Zweifel entstehen müssen, ob denn 
auch wirklich die Dinge sich so verhalten haben mögen, wie Menzel 
es angiebt und glaubt? Und ähnlich wird man auch sonst sich 
stets zu fragen haben, wie viel Gewicht denn den Worten und 
Behauptungen eines Mannes beizumessen sei, dessen Bewusstseins¬ 
zustand so viele und so weite krankhafte Lücken hat und in dem 
wiederum unter dem Einflüsse seiner Krankheit, vielleicht in Folgo 
der incongruenten Thätigkeit seiner Gehirnhälften, in jedem Augen¬ 
blicke Vorstellungen entstehen können, welche mit der Wirklichkeit 
nicht übereinstimmen, ohne dass diese Differenz von ihm, wie von 
einem Gesunden, berücksichtigt wird? Wie weit sollte man bei 
etwaigen gerichtlichen Verhandlungen, bei vorkommenden Verkäufen, 
bei verantwortlichen Vernehmungen, bei Errichtung von Testamenten 
u. dergl. seinen Aeusserungen Vertrauen schenken, wenn man doch 
weiss, dass seine Geistesthätigkeit zu Zeiten mehr wie sonst obnubilirt 
ist, dass zu Zeiten ihn Stimmungen beeinflussen, die seinen sonstigen 
direkt widersprechen, ja dass seine Krankheit zu jeder Zeit sein 
Bewusstsein wie mit einem Schlage ganz verfinstern kann. 

Berücksichtigt man endlich noch, dass die Epilepsie nur aus¬ 
nahmsweise vollständig geheilt wird, dass Heilungen um so seltener 
werden, je länger die Krankheit besteht, je glatter sich die Krarapf- 
bahnen ausgeschliffen haben, und dass in diesem Falle, in welchem 
die Krämpfe nun schon seit 10 Jahren etwa alle 3—4 Wochen sich 
wiederholt haben, in dem es thatsächlich zu einem Zustande aus¬ 
gesprochener Tobsucht mit anscheinend vollständiger Amnesie für 
diese ganze Zeit gekommen ist, und in welchem eine anscheinend 
unbezwingliche oder doch niemals energisch bekämpfte Neigung zum 
Branntwein als der hauptsächlichsten Ursache der Epilepsie und der 
epileptischen Geistesstörung besteht, — dass in diesem Falle die 
Aussichten für eine vollständige Heilung als ganz ungünstig be¬ 
zeichnet werden müssen — wenigstens dann, wenn Menzel durch 
möglichst baldige Entlassung wieder genügende Freiheit zum Handeln 

Vierteljthrsschr. f. ger. Med. N. F. XLIV, 1. 3 


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Dr. v. Ludwig er. 


erhielte, — so komme ich nach allen diesen Erwägungen doch zu 
der Ueberzeugung und gebe demnach auch mein Gutachten schliess¬ 
lich dahin ab: 

„dass Menzel, obwohl derselbe seit seinem Aufenthalte in 
„hiesiger Anstalt bei oberflächlicher Betrachtung nur wenig 
„auffallende Zeichen von Geistesstörung dargeboten hat, den- 
„noch in einem so weit abnormen Geisteszustände sich be¬ 
endet, dass er nicht im Stande ist, die Folgen seiner Hand¬ 
lungen überall verständig, der Sachlage entsprechend, zu 
„überlegen, und erachte ich ihn daher im Sinne des Allg. 
„Landrechts für blödsinnig.“ 

Die Richtigkeit dieses Gutachtens versichere ich unter Berufung 
auf den ein für alle Mal geleisteten Sachverständigen-Eid. 

Plagwitz, den 24. Februar 1885. 


3. 

Ob Dementia paralytica «der geistige Gesundheit! 

Leidensgeschichte eines für anheilbar geisteskrank gehaltenen 

Mannes, 

dargestellt vom 

Sanitätsrath Dr. HeckmaJin, 

Kreisphysikus *u Harburg. 


(Fortsetiung.) 

Obwohl ich die früheren über Herrn R. abgegebenen officiellen 
Gutachten nicht gelesen hatte, weil sie erst später in meine Hände 
gelangten, so hielt ich es doch unter den bewandten Umständen für 
meine Pflicht, über dessen Zustand folgendes Gutachten privatim 
abzugeben: 

Harburg, den 9. April 1875. 

J. C. R., geboren zu A. in Ostfriesland den 31. März 1827, Sohn des noch 
lebenden J. F. R. daselbst, lutherischer Confession, rerheirathet und Vater von 
3 Kindern, Uhrmacher, wohnhaft und wohnberechtigt zu H., gegenwärtig in 
Hbg. sich aufhaUend, ist auf sein Ersuchen seit dem 26. Januar d. J. von mir 
mehrfach beobachtet und ärztlich untersucht worden. Auf Grund dieser Beob¬ 
achtung und des anliegenden Briefes des Herrn Dr. med. W. zu A. habe ich über 
dessen Gesundheits- und Gemüthszustand folgendes Gutachten abzugeben: 


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Dr. Beckmann. 


35 

Herr R. ist von kräftigem und gesundem Körperbau, besitzt ein lebhaftes 
Temperament und ist. die Kurzsichtigkeit seiner Augen abgerechnet, vollständig 
gesund. Lähmungssymptome sind an keinem Körpertheile wahrzunehmen, viel¬ 
mehr verräth sein rascher Gang, seine deutlich vernehmbare Sprache und der 
regelrechte Vorgang aller Körperfunctionen bei gesunder Gesichtsfarbe, dass der¬ 
selbe sich einer besonders guten Gesundheit zu erfreuen hat. 

In psychischer Beziehung ist zu bemerken, dass derselbe zu der Klasse der 
sogenannten Gemüthsmenschen gehört, und dass bei guten Anlagen seine Schul¬ 
bildung etwas vernachlässigt ist, daher auch seine Briefe, von denen mir einige 
vorgelegt wurden, verrathen, dass er nicht im Stande ist, seine Gedanken in 
einem einigermassen correcten Stile zu Papier zu bringen. 

Bei seinem ersten Erscheinen machte er auf mich den Eindruck eines 
exaltirten, leicht erregbaren, nicht mit gehöriger Ueberlegung sprechenden und 
bandelnden Menschen. Wie ich von seinen Freunden vernommen, so soll auch 
' sein Vater ein gleich lebhaftes Temperament besitzen und soll auch dieser, in 
seinem hohen Alter von einigen 70 Jahren, in seinem Benehmen manche Sonder¬ 
barkeit durchblicken lassen. Es kann nicht in Abrede gestellt werden, dass 
Herr R. im Jahre 1873 an Melancholie mit der fixen Idee, den Tod seiner 
Mutter betreffend, gelitten hat. Wie lange diese Seelenstörung gedauert, darüber 
wage ich nicht zu entscheiden, daher ich mich auch jeglichen Urtheils enthalte, 
ob Herr R. in der Anstalt F. bei U. länger, als absolut nöthig gewesen, zurück¬ 
gehalten wurde. Was seinen jetzigen Zustand anbetrifft, so darf ich nach 
längerer Beobachtung offen erklären, dass ich bislang keine Spuren von Geistes¬ 
störung an ihm wahrnehmen konnte. Sein Gedächtniss sowohl, als auch seine 
Urtheilskraft erscheinen völlig intact. Er ist durchaus fähig, über sein früheres 
Leben zusammenhängend Bericht zu erstatten, nur ist er genöthigt, in seinem 
Berichte eine Lücke zu lassen über die kurze Zeit, in welcher die Geistes- 
alienation gedauert und welche die Veranlassung zu seiner Aufnahme in die 
Irrenanstalt F. gegeben hat. Ich habe mich gleichfalls bemüht, seinen Zustand 
verschiedenen Geistesstörungen juizupassen, und wenn es mir manchmal vorkam, 
einzelnen Symptomen, z. B. Ideenflucht, Verfolgungswahn, Grössenwahn u. s. w. 
auf der Spur zu seiu, so musste ich mir doch bald sagen, dass ich meinen Ver¬ 
dacht durchaus nicht begründen könne. 

Mit welcher unendlichen Geduld hat der Mann bislang sein trauriges 
Schicksal ertragen! 

Wenn in seinem Charakter manchmal allzugrosses Misstrauen, selbst gegen 
Personen, die es gut mit ihm meinen, Eifersucht und sogar eine Verzweiflung 
an der Rechtlichkeit der Behörden zu H. auftauchen, so darf solches Niemanden 
befremden, der in die Verhältnisse näher eingeweiht ist. 

Wie Herr Oberarzt Dr. R. über Herrn R. das harte Urtheil hat fällen können, 
dass er zu der Klasse der unheilbaren Irren gehöre, ist mir wahrlich unbegreiflich. 
Nur zu oft habe ich als Physikus in meinem Berufe zu bemerken Gelegenheit ge¬ 
habt, dass die Herren Irrenärzte mit solchem hartem Urtheile sehr leicht bereit 
sind. Ich bin indessen weit entfernt, den Herren solches zum Vorwurf zu machen, 
da ja die Diagnose der Geistesstörungen eine so enorm schwierige ist. 

Rückfälle sind bei Geistesalienation fast immer zu befürchten. Dieses be- 

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36 


Dr. Beckmann, 


rechiigt die Irrenärzte aber nicht, die Kranken weit über die Dauer der Seelen¬ 
störung in den Irrenanstalten zurück zu behalten. 

Schliesslich gebe ich mein Gutachten über den Zustand des Herrn R. dabin 
ab. dass er gegenwärtig frei von jeglicher Geistesstörung ist. dass die über ihn 
verfügte Cura perpetua ohne Bedenken aufgehoben und ihm die freie Disposition 
über sein Vermögen wieder überlassen werden kann. 

Dass das vorstehende Gutachten von mir der Wahrheit gemäss abgefasst 
worden, versichere ich hiermit auf den von mir geleisteten Diensteid. 

Der Kreisphysikus. 

gez. Dr. med. Beckmann, Sanitätsrath. 

Auf Grund dieses Gutachtens, welchem der Brief des Dr. W. und 
die Laien-Zeugnisse beigefügt wurden, hoffte nun Herr R. die Auf¬ 
hebung der über ihn verhängten Curatel zu erreichen. Alle seine 
Bemühungen blieben jedoch ohne Erfolg. 

Da die Summe, welche ihm sein Curator monatlich auszuzahlen 
batte, nicht hinreichte, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sah 
er sich genöthigt, für die Wintermonate bei einem hiesigen Uhrmacher 
als Gehülfe in Arbeit zu treten und während der Sommermonate im 
Seebade zu N. sein Geschäft selbständig zu betreiben. 

Nach der ersten dort verlebten Badesaison brachte er folgendes 
Zcugniss des K. Bade-Commissars Freiherrn v. V. mit: 

N., den 27. September 1875. 

Es wird hiermit bescheinigt, dass der Uhrmacher Herr R. aus A. sich wäh¬ 
rend der diesjährigen Badesaison hier aufgehalten, das Uhrmachergeschäft be¬ 
trieben und in jeder Hinsicht sich ordentlich betragen hat. gez. v. V. 

Um seinen wiederholten Gesuchen bei den Behörden zu H. immer 
mehr Nachdruck zu verleihen, hielt Herr R. es für angemessen, sich 
auch noch ein ärztliches Gutachten von dem Medicinalreferenten bei der 
K. Landdrostei zu A., Herrn Sanitätsrath Dr. Sch., zu verschaffen. 

Dieser gab ihm bereitwilligst folgende gutachtliche Aeusserung: 

A., den 8. October 1875. 

Herr J. C. R., von hier gebürtig, zu H. domicilirt, ist im Laufe des Sommers 
von mir beobachtet worden. Er gehört zu den leicht erregbaren Naturen, welche 
vorsichtig beurtheilt werden müssen. So oft ich mich mit ihm unterhalten, nie¬ 
mals habe ich Symptome irgend einer Geistesstörung bei ihm bemerkt, nie Er¬ 
scheinungon an ihm wahrgenommon, welche auf eine primäre Erkrankung des 
Gehirns hätten zurückschliessen lassen. Ich schliesse mich deshalb dem gutacht¬ 
lichen Berichte des Herrn Collegen Beckmann zu Hbg. und des Dr. W. hier 
in allen Theilen an, und halte ebenfalls Herrn R. jetzt für zurechnungs- und 
dispositionsfähig. Einen jener nebelhaften Flecke, welche den letzten Abschnitt 
der Leidensgeschichte des p.R. verdunkeln, kann ich hier nicht unerwähnt lassen. 
Der Oberarzt R. schreibt den 29. Jan. d. J. an einen Collegen (Dr. Beckmann): 


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Dementia paralytica oder geistige Gesundheit? 


37 


Da dieser Schluss (nämlich des Gutachtens des Obergerichtsphysikus Dr. L. zu A.) 
an einem inneren Widerspruch leidet, ward nunmehr das Gutachten des Physikus 
(Dr. H.) eingebolt, welches darlegte, „dass die Geistesstörung des Herrn R. noch 
unverändert fortbestehe.“ Wie konnte Dr. H als beamteter Arzt ein solches Gut¬ 
achten abgeben, da er den p. R., seit dieser aus der Anstalt entflohen war, gar 
nicht wieder gesehen hatte? Das Gutachten befindet sich bei der Vormundschafts- 
Deputation. Sapienti sat! gez. D r . Sch., San.-Rath u. Referent bei der 

K. Landdrostei zu A. für Medicinalsachen. 

Ein Jahr später, nachdem seine Angelegenheiten in H. still ge¬ 
legen, erhielt Herr R. von dem Bade-Arzte zu N., dem Medicinalrath 
Dr. G., ausserdem folgendes günstig lautendes Zeugniss: 

N., 20. August 1876. 

Herr J. C. R. aus H., seit ein Paar Jahren während der Sommerzeit in N. 
thätig, ist mir in der Zeit seines Aufenthalts hierselbst bekannt geworden. Ich 
habe ihn täglich gesehen und häufig gesprochen und bescheinige hierdurch, dass 
ich an dem Genannten weder ein aufgeregtes melancholisches Wesen, noch andere, 
eine geistige Schwäche oder Verkehrtheit verdächtigende Symptome jemals be¬ 
merkt habe. Ausserdem habe ich mich bemüht. Zeugnisse von anderen Personen, 
von seinen Hausgenossen, von Gastwirthen, bei denen Herr R. verkehrte, von 
seinen Tischgenossen, die ihn täglich sehen und sprechen, zu erhalten, — und 
bezeuge hierdurch, nur Beruhigendes und Günstiges über den Vorbenannten 
gehört zu haben. Alle befragte Personen stimmen mit der auch von mir ge¬ 
wonnenen Ansicht überein, dass Herr R. ein friedfertiger und vollkommen geistes¬ 
gesunder und geisteskräftiger Mann ist. gez. Dr. G., Medicinalrath. 

Bade-Arzt. 

Sämmtliche beigebrachte, zu Gunsten des Herrn R. lautende Gut¬ 
achten und Zeugnisse vermochten die Vormundschafts-Behörde zu H. 
nicht zu bewegen, die über ihn verhängte Cura perpetua wieder auf¬ 
zuheben. Sie verblieb vielmehr bei ihrem Beschlüsse vom 10. März, 
die Niedersetzung einer Commission zur Ertheilung eines Superarbitrium 
betreffend. Nachdem diese sich constituirt hatte, erstattete sie fol¬ 
gendes Gutachten: 

H., den 13. März 1877. 

Gutachten. In Verfolg des Beschlusses der hochlöblichen Vormundschafts- 
Behörde vom 22. Januar 1877 hat der Präses des Medicinal-Collegiums in Ge- 
mässheit des §. 11 des Gesetzes vom 26. October 1870 die Unterzeichneten 
beauftragt, in Sachen des Curanden J. C. R. sich darüber zu äussern, ob die 
Commission auch jetzt noch, ungeachtet des seit März 1875 zur Acte gekom¬ 
menen Materials, die vorherige Sistirung und längere Zeit fortgesetzte Beobach¬ 
tung des Curanden für die unerlässliche Voraussetzung des abzugebenden Super¬ 
arbitriums erachte, und im Bejahungsfälle, was die Commission unter den in 
dem früheren Schreiben vom 7. April 1875 vorkommenden Ausdrücken: unter 
angemessenen Verhältnissen und in geeigneter Umgebung, verstehe, da der 


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Dr. Beckmann, 


Curande aus denselben entnehme, dass die Commission seine abermalige Inter- 
nirnng in P. als die zweckmässigste Art and Weise ihn zu beobachten in’s Auge 
gefasst habe, und seine Weigerung, sich hier zu sistiren, möglicherweise in der 
Befürchtung, dass er zunächst hier wieder internirt werden würde, ihren Ur¬ 
sprung habe. 

Die Acte hat bei den Mitgliedern der Commission circulirt und sind die¬ 
selben übereinstimmend zu der Ansicht gelangt, dass auch das seit März 1875 
zur Acte gekommene Material zur Abgabe eines Gutachters nicht genüge, dass 
vielmehr die Begutachtung des Geisteszustandes des R. die persönliche Unter¬ 
suchung desselben erfordere. 

Zu dem Ende muss der p. R. sich bei seiner Sistirung in H. so einrichten, 
dass wiederholte längere Unterredungen zwischen ihm und den einzelnen Com¬ 
missions-Mitgliedern, sei es in deren Privatwohnungen, sei es in R.’s Logis, 
resp. mit der vereinten Commission auf dem Medicinalbureau stattfinden können, 
während eine neue Internirung des Curanden in F. zur Beobachtung nicht 
nöthig erscheint. 

Die Commission 

zur Ertheilung eines Superarbitrium in Curatelsachen des J. C. R. 

gez. Dr. R., Referent. 

Dass Herr R. sich nicht dazu entschliessen konnte, sich einer 
aus in H. ansässigen Aerzten bestehenden Commission zu sistiren, ist 
leicht begreiflich. Mit so vielen zu seinem Gunsten lautenden Gut¬ 
achten und Zeugnissen ausgerüstet, glaubte er im Wege Rechtens die 
Aufhebung der über ihn verhängten Cura erwirken zu können. 

Zu dem Zwecke wandte er sich an einen sehr gescheuten Rechts- 
Anwalt, Dr. Rle. zu H., dessen Bemühungen jedoch durchaus keinen 
Erfolg hatten. Das Obergericht erkannte der Verfügung der Vormund¬ 
schafts-Behörde gemäss, dass R. sich der Commission zu stellen habe; 
eine Appellation an das Ober-Appellationsgericht zu L. blieb deshalb 
erfolglos, weil die gesetzliche Frist nicht innegehalten wurde. 

Der Schluss des Urtheils des höchsten Gerichtshofs lautete: 

.... Dass die wider das Decret des Obergerichts ergriffene Appallation, 
wie hiermit geschieht, als desert zu verwerfen sei und sollen nunmehr die Vor¬ 
acten an das Obergericht zurückgesandt werden. 

V. R. W. 

L., den 20. October 1877. 

Wenige Monate nach Empfang dieses Urtheils starb plötzlich der 
Rechtsanwalt Dr. Rle., mit ihm wurde ein grosser Gönner des Herrn R. 
zu Grabe getragen. Der Dr. jur. St., welcher die juristische Praxis 
des Dr. Rle. übernahm, hatte nicht das rege Interesse für die Sache, 
welches sein Vorgänger stets bewahrt hatte. Da Herr R. ausser 
Stande war, die Mühewaltungen des Dr. Rle. sofort zu honoriren, wie 


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Dementia paralytica oder geistige Gesundheit? 


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Dr. St. verlangte, wurden ihm weder die Acten, welche er dem Dr. Rle. 
übergeben hatte, ausgeliefert, noch auch sein Prozess gefördert. Die 
Sache musste daher vorläufig auf sich beruhen bleiben. 

Ich wusste Herrn R. keinen besseren Rath zu ertheilen, als sich 
in das Unvermeidliche zu fügen und sich der Commission zu sistiren, 
welchem Folge zu geben er sich indessen mit grosser Entschiedenheit 
weigerte. 

Im Mai 1878 wandte er sich in seiner trostlosen Lage nochmals 
an den früheren Ober-Geriohtsphysikus, jetzigen Kreisphysikus Dr. L. 
zu A., welcher bekanntlich das von der Vormundschafts-Behörde 
beanstandete officielle Gutachten über seine psychische Beschaffenheit 
abgegeben hatte. Von diesem erhielt ich folgenden Brief: 


_ _ __ _ „ . A., 24. Mai 1878. 

Geehrter Herr College! 

Auf Ersuchen des Herrn Uhrmacher R. erlaube ich mir, Sie mit einer Bitte 
zu behelligen. Herr R. sagt mir, dass Sie sich für ihn interessiren und gewiss 
nicht versageu werden, Ihren Rath und etwaige Mitwirkung in seiner Sache 
zu 


In welcher Lage derselbe nun seit 4 Jahren sich befindet, und wie alle 
seine Bemühungen, heraus zu kommen, vergeblich gewesen, wissen Sie, daher 
übergehe ich das. 

Als er vor einigen Monaten wieder hierhergekommen war, ersuchte er mich, 
nochmals für ihn Schritte zu thun, um seine Angelegenheit zu Ende zu bringen. 
Ich stellte mich bereit, wusste jedoch vor der Hand nichts zu thun, als seinem 
nach Herrn Dr. Rle.’s Tode mit seiner Angelegenheit betrauten Herrn Dr. St in H. 
in einem artigen Schreiben zu befragen, was etwa nach dessen Urtheil von hier 
aus geschehen könne, wobei ich mich ganz rücksichtslos dahin aussprach, dass 
von einem geisteskranken Zustande bei Herrn R. längst keine Rede mehr sein 
könne, und dass ich — der vor 4 Jahren auf Ersuchen der Behörde zu H. nach 
längerer Beobachtung ein Gutachten über seinen damaligen Geisteszustand ab¬ 
gegeben, und auch im vorigen Jahre unaufgefordert in einem Privat-Gutachten 
bezeugt, dass im Verlaufe der langen Zeit, während welcher Herr R. zu wieder¬ 
holten Malen länger dauernden Aufenthalt hier genommen, derselbe nicht allein 
als völlig Geistesgesunder von mir und Allen, die mit ihm in Berührung ge¬ 
kommen, erkannt sei, sondern auch in seinem Geschäft mit Erfolg und allgemeiner 
Anerkennung hier und im Seebade N. gewirkt habe — gern bereit sei, ihm das 
in bündiger Weise abermals zu bezeugen, wenn ich nur wüsste, in welcher Form 
und auf welchem Wege das geschehen könne, was ich eben von Dr. St. erfahren 
zu können hoffe. 

Das Schreiben ist unbeantwortet geblieben und ebenso ein jüngst nochmals 
an den Herrn gerichtetes, in welchem ich geradeheraus ihm eröffnete, dass die 
Sache des Herrn R. nachgerade zum öffentlichen Scandal geworden sei u. s. w. 

Herr R. geht am 6. n. M. wieder nach N. und bleibt die ganze Badezeit 
daselbst in Thätigkeit. Dass er inzwischen gern seine Angelegenheit gefördert 


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40 


Dr. Beckmann. 


sehen möchte, ist ja ganz natürlich. Aus einer diesen Morgen stattgehabten 
Berathung ist der Beschluss hervorgegangen. Sie als mit den Verhältnissen Be¬ 
kannten und dafür sich Interessirenden zu befragen, ob Sie einen Weg angeben 
können, wie die Sache zu fördern wäre. 

Herr R. war der Meinung, Sie pflegten mitunter nach H. zu kommen, und 
würden ihm die Gefälligkeit nicht-abschlagen, von Herrn Dr. St. auf mündlichem 
Wege mehr zu erfahren, als es mir schriftlich bisher geglückt ist. 

Es ist doch ganz selbstverständlich, dass ein vor 4 Jahren gemachter 
Ausspruch des Irrenarztes der Anstalt, Herr R. sei unheilbar, nicht als ewiges 
Evangelium betrachtet werden kann, welches für dessen ganze Lebensdauer 
unumstössliche Beweiskraft behielte. Ebenso unzweifelhaft erscheint es mir, dass 
über einen solchen Ausspruch zur Tagesordnung gegangen werden kann und 
muss, wenn Zeit und Umstände das Gegentheil zur Anerkennung gebracht haben, 
und dass zur Beurtheilung des gegenwärtigen Zustandes auch andere Leute be 
fähigt sind, als allein jener erste Arzt. 

Ich schlug bei seiner Ankunft im Frühling d. J. Herrn R. vor, auf Ihre 
und auf meine Begutachtung sich zu stützen, da er als von H. seit 4 Jahren 
Abwesender Ihnen und auch mir regelmässig vor Augen gekommen. Das würde 
er auch mit gutem Vertrauen thun, wenn nur der Weg ausfindig zu machen 
wäre, wie die Behörde zu H. diesem Gesuche zugängig zu machen wäre. — 
Ich habe die Absicht, darüber die Ansicht eines hiesigen anerkannt tüchtigen 
Anwalts zu erfragen. 

Bitte recht freundlich um des Herrn R.’s willen durch einige Zeilen mir 
Ihre Ansicht gütigst mittheilen zu wollen und empfehle mich 

mit collegialischer Hochachtung 

' Dr. L. 

Den vorstehenden Brief konnte ich leider nur dahin beantworten, 
dass kein anderer Ausweg übrig bleibe als der, sich der zu H. ein¬ 
gesetzten Commission zur nochmaligen Untersuchung zu stellen, mehrere 
von mir befragte Rechtsgelehrte seien derselben Ansicht, welches ich 
Herrn R. schon längst mitgetheilt hatte. Dieser hege indessen einen 
solchen Hass gegen die Aerzte in H., dass er zu diesem Schritte sich 
unter keiner Bedingung verstehen wolle. Es bliebe daher die Sache 
auf sich beruhen. 

(Fortsetzung folgt) 


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4. 


Raubmord. Simulation von Geistesstörung. 

Gerichtsärztliches Gutachten. 

Mitgetheilt von 

Prof. T. HraflTt-Eblng. 


Species facti. 

Am 20. Februar 1885 Abends gegen 9 Uhr wurde in einem vereinzelt an 
der Strasse gelegenen Hause in der Steiermark die Bäuerin Clara R. ermordet 
und ihr Pflegesohn Alois derart verwundet, dass er am 14. März seinen Wun¬ 
den erlag. 

Ausser den Verletzten wohnte in dem einstöckigen, dem Johann R. gehöri¬ 
gen, in sämmtlichen Parterrelokalitäten vergitterten, nur durch die Hausthüre 
von der Strasse aus zugänglichen Wohnhause an jenem Abend der Sohn der 
Clara R , der 20jährige Lorenz H., welcher im 1. Stock über dem Wohnzimmer 
schlief. Dieser berichtet, dass er am 20. Abends nach 8 Uhr über gellendem Ge¬ 
schrei des Knaben Alois erwachte und sofort sich dachte, dass es sich um einen 
räuberischen Ueberfall handle. Da er sich allein zu schwach fühlte Hülfe zu 
bringen, sei er sofort durch das Fenster auf das Dach geklettert und von diesem 
heruntergesprungen, um die Nachbarschaft zu alarmiren. Die Spuren dieser Flucht 
des Lorenz fanden sich beim Lokalaugenschein im Schnee. Lorenz weckte die näch¬ 
sten Nachbarn, kehrte mit diesen im Laufschritt zurück und fand die Hausthüre des 
R.’schen Hauses verschlossen. Niemand gab anfangs Antwort. Nach einer Weile 
erschien der Knabe Alois blutüberströmt am Fenster und theilte mit, die Mutter 
sei erschlagen. Aus dem Vorraum des Hauses hörte man das Röcheln der Ster¬ 
benden. Man holte Verstärkung, hielt indessen die Hausthüre besetzt. Endlich 
gelang es. diese zu erbrechen. Nachdem man eingedrungen war, fand man die 
Clara R. sterbend im Vorderraum in einer grossen Blutlache. Im Thürschloss 
steckte der Schlüssel. Am Schlüsselloch und unterhalb desselben fanden sich 
Blutspuren. Auf dem Boden neben der Ermordeten fanden sich Trümmer einer 
Petroleumlampe. In der Nähe fand sich ein ziemlich grosser Stein vor, wie man 
deren draussen auf der Strasse findet. An der Mauer neben der Thür zur „Werk¬ 
statt“ , die an das Wohnzimmer anstiess, waren Blutspuren, wie wenn Jemand 
dort etwas abgewischt hätte. Am Fenster des Vorderhauses bei der Kellerstiege 
lag das Mordinstrument, eine zum Hause gehörige Hacke, mit Blut besudelt. In 
der Werkstatt traf man in einem Bette, bis auf’s Hemd ausgekleidet, anscheinend 
schlafend, einen fremden Menschen, der aufgerüttelt dergleichen that, als ob er 
gerade aus dem Schlafe erwache. Er that verwundert, behauptete von albm Vor¬ 
gefallenen nichts zu wissen, obwohl beim Einschlagen der Thüre, durch das 
Hülfegeschrei des Alois und das Schreien der herbeigeeilten Nachbarn ein grosser 


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42 


Dr. v. Krafft-Ebing, 


Lärm gewesen war und die Lagerstätte des Fremden nur 8 Schritte von der 
Hausthüre entfernt sich befanden hatte. 

Der aus 6 Kopfwunden blutende 6 jährige Knabe Alois deponirt bei klarem 
Bewusstsein und mit dem Eindruck der Wahrhaftigkeit noch am Abend des 20. 
sowie bei seiner Vernehmung am 22. Folgendes: Am 20. Abends begehrte der 
„Italiener“ Einlass. Die Matter verweigerte ihn lange, liess sich endlich erbitten, 
ging mit der Petroleumlampe hinaus und öffnete die Hausthüre. Als der Mann 
hereinkam, sperrte er gleich die Hausthüre hinter sich zu und fing an mit einem 
Stein, den er in der Hand hatte, auf die Mutter loszuschlagen. Da schrie ich so 
laut ich konnte. Er raufte lange mit der Mutter, ging dann in die Werkstatt, 
brachte von da eine Hacke mit. Nun hackte er die Mutter nieder. Die Lampe 
fiel dieser aus der Hand und erlosch. Ich flüchtete in das Wohnzimmer unter’s 
Bett, aber der Italiener erwischte mich und hackte auf mich los. (Im Wohnzimmer 
fanden sich mehrere Blutlachen.) Es war dunkel im Zimmer. Es gelang mir 
nochmals zu entwischen und mich im Bett zu verkriechen. Darauf ging der Mann 
aus dem Zimmer. Nach einer Weile hörte ich den Lorenz rufen „aufmachen“. 
Ich hörte zugleich wie der Mann in die Werkstatt ging. 

Bei der Confrontation mit dem Fremden am 20. Abends bezeichnet ihn 
Alois bestimmt als den Thäter und lässt sich durch den Blick verwegener Bos¬ 
heit. mit der dieser den Knaben einschüchtern will, nicht beirren. Der Fremde 
sagt „ich habe es nicht gethan, du kannst sagen, was da willst“. 

Gensdarm Bäck fand bei dem Manne an Händen und Rock Blutflecken. 
Die Blutspuren am Rock waren theils horizontal verlaufende Blutspritzer, theils 
ausgedehnte Blutflecke an den Aermeln. 

Die Section der Leiche der Clara R. ergab 9 Wunden der Weich- 
theile des Schädels, Zersplitterung des Hinterhaupts-, rechten Seiten- 
und Schläfenbeins mit Austritt von Gehirnmasse, keine sonstigen 
Verletzungen am Körper, keine Spuren von Gegenwehr, keine auf ein 
versuchtes unsittliches Attentat hindeutende Zeichen. 

Die Verletzungen des Alois bestanden in 5 Schädelwunden, davon 
eine mit Knochenimpression am Stirnbein. 

Die Persönlichkeit des Unbekannten und muthmasslichen Thäters ist Ema- 
nuel Oberosler, 30 Jahre alt, ledig, Keuschlerssohn, katholisch, aus Südtirol. 
Derselbe wird von seiner Bezirkshauptmannschaft als ein Individuum bezeichnet, 
das von früher Jugend an Hang zu Betrügereien, Diebstählen, Schlechtigkeiten 
aller Art gezeigt habe. 1874 war er wegen Diebstahls zu 14 Tagen, 1876 zu 
3, 1877 zu 12 Tagen, 1878 zu 2 Wochen, 1882 zu 2 Jahren, jedesmal wegen 
des gleichen Deliktes verurtheilt worden. Die letzte Strafe verbüsste Oberosler 
in der Strafanstalt Gradisca vom 15. Febr. 1883 bis 6. Decbr. 1884. Er be¬ 
trug sich dort gut, bot nie etwas geistig Abnormes, litt vom Januar bis Februar 
1884 an Herzentzündung (Endocarditis). Nach abgebüsster Strafzeit war er nach 
Hause abgesohoben worden , von wo er sich nach kurzer Zeit auf Reisen be¬ 
geben hatte. 

Aus den Depositionen des Gemeindevorstehers und des Schullehrers geht 
hervor, dass in Oberosler’s Familie niemals geistige Schwäche oder Krankheit 


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Raubmord. Simulation von Geistesstörung. 


43 


vorkaraen, ebenso wenig bei ihm selbst jemals etwas geistig Abnormes beob¬ 
achtet wurde. 

Im ersten Verhör vom 23. Februar giebt 0. seine Generalien richtig an. 
Er habe 8 Jahre die Schule besucht. Vor etwa 25 Tagen sei er nach Wien ge¬ 
reist, um dort ein Bittgesuch bei Sr. Majestät um Unterstützung seiner durch 
Elementarereignisse schwer geschädigten Familie zu übergeben (thatsächlich). 
Am 12. Februar habe er. nur noch im Besitz von einigen Kreuzern, zu Fuss die 
Heimreise angetreten. Am 18. Febr. sei er in die Gegend von St. Michael ge¬ 
kommen. habe vergebens da und dort um Unterkunft gebeten, bis ihm eine solche 
im R.’schen Hause gewährt worden sei. Die Clara R. habe ihm Abendbrot ge¬ 
geben, sich freundlich mit ihm unterhalten, ihm im Wohnzimmer, das sie mit 
dem Knaben Alois bewohnte, ein Strohlager hergerichtet, auf dem er bis zum 
Morgen des 19. geschlafen habe. Dass 0. schon am 18. im R/schen Hause über¬ 
nachtete. ist erwiesen. Am 19. Früh habe er noch Suppe bekommen, sei dann 
fort, habe sich nach einigen Stunden Wanderschaft krank gefühlt, nach einem 
Spital gefragt, sei an das Leobener-Spital gewiesen worden, habe zu diesem Zweck 
den Weg zurück gemacht und sei am 20. Abends wieder zum K.’schen Hause 
gelangt. „Auf mein Klopfen öffnete Frau R. die Hausthür, gab mir Abendessen, 
wies mir mein Nachtlager in der Kammer (Werkstatt) an. Ich schlief gleich ein, 
schlief bis ich vom Gensdarm und den Männern geweckt wurde. Von allem Vor¬ 
gefallenen weiss ich nichts, denn ich habe die ganze Zeit geschlafen und bin 
unschuldig.“ 

Am Schluss dieses Verhörs weigert sich 0. das Protokoll zu unterschreiben, 
da er die fremde Sprache nicht kenne. Wenn man den Math habe, ihn unschul¬ 
dig einzusperren, so habe man auch wohl den Muth. etwas Anderes niederzu¬ 
schreiben, um ihn an den Galgen zu bringen. Im Verhör vom 26. Februar bleibt 
er dabei, unschuldig zu sein, geschlafen und nichts gehört zu haben, ausser we¬ 
nige Momente vor dem Erwecktwerden, im Halbschlaf, ein Gemurmel von Stimmen. 

Für alle Vorkommnisse vom Zeitpunkte des Erwecktwerdens an hat er ge¬ 
naue Erinnerung. 

Die Blutflecken an seinen Kleidern motivirt er damit, dass im Vorhause ihn 
einer der Männer misshandelte und neben der dortigen Blutlache zu Boden ge¬ 
worfen habe (thatsächlich). Gensdarm B. hat diese Blutspuren aber schon an 0. 
wahrgenommen, als er ihn aus dem Bette aufstehen hiess. 

Seine Reisedocumente behauptet 0. auf der Rückreise von Wien in Wiener 
Neustadt verloren zu haben. 

Am 5. März meldet jedoch die Gensdarmerie, dass bei Durchsuchung einer 
offenen Truhe in der Werkstatt des R.’schen Hauses der in kleine Stücke zer¬ 
rissene Reisepass des 0., sowie ein auf dessen Namen lautender, ebenfalls zer¬ 
rissener Grundbesitzbogen gefunden wurde. In dieser einem gewissen H. gehö¬ 
rigen Truhe fanden sich 3 frisch gewaschene Hemden desselben vor, an deren 
einem Blutspuren ersichtlich waren. 

Im Verlauf des Verhörs vom 26. Februar fragt 0. plötzlich, ob man ihn für 
den Mörder halte, und als dies bejaht wird, wirft er sich mit dem Ausruf „Ihr 
werdet mich nicht lebendig haben“ zu Boden. Von diesem Moment an erscheint 
0. geistig als eine ganz andere Persönlichkeit. 


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44 


Dr. v. Krafft-Ebing, 


Die Persönlichkeit des Oberrosler vom 26. Februar bis zum 

22. März. 

Dr. W. in L. berichtet, dass der am 21. Februar ins Gefangenhaus einge¬ 
lieferte, mit schwerem Herzfehler behaftete 0. bis zum 26. sich ganz ruhig und 
vernünftig benahm. „Von da an geberdet er sich närrisch, macht alle möglichen 
sinnlosen Geberden und Handlungen. Er liegt häufig am Boden, lacht ironisch, 
zupft am Hemd oder am Strohsack, verzehrt die herausgezupften Fäden, ver¬ 
richtet seinen Stuhl in die Mütze, lehnt stundenlang beim Ofen, lacht oft auf, 
rollt die Augen hin und her. verschmäht manchmal die Speisen, redet mit Nie¬ 
mand ein Wort. Dem Arzt machen seine Handlungen, Geberden, Mienen den 
Eindruck des absichtlich Gemachten, ganz speciell seine durch Nichts motivirte 
Stummheit. Nachts schläft er ruhig und tief.“ 

Die Gefangenaufseher theilen mit, dass 0. in den ersten Tagen der Haft 
(vom 21. — 26. Febr.) nicht die geringste geistige Abnormität bot. 

Nach dem 2. Verhör änderte er sein ganzes Benehmen. Er lag den ganzen 
Tag stumm, theilnahmslos am Strohsack, beantwortete Fragen mit Aechzen und 
Stöhnen, verrichtete seine Noth auf den Strohsack, lüllte seinen Koth in die 
Mütze, beschmutzte sich im Gesicht damit, beschmierte sein Brod mit dem Koth 
und ass dasselbe. Er war bis zu den letzten Tagen sehr gefrässig. verschlang 
Brod und Menage, indem er die Hände statt des Löffels benutzte. Die Menage 
schüttete er in die Wasserpilsche und verzehrte sie daraus mit den Händen. Ein 
andermal spielte er mit zwei Knödeln seiner Menage Ball. Einem Mitgefangenen, 
der ihm einen Löffel zum Essen anbot, schleuderte er eine Handvoll Brei ins Ge¬ 
sicht. Er blieb stumm, liess sich durch die Mithäftlinge an- und auskleiden und 
waschen. Cigarrenstummel und Schnupftabak, die ihm unterkamen, ass er. 

Am 3. Tage vor seiner Abführung nach Graz (17. März) versuchte er Selbst¬ 
mord durch Anrennen des Kopfes an die Wand, nach angelegter Zwangsjacke 
durch Aufschlagen des Kopfes auf den Boden, wurde jedoch bald wieder ruhig, 
so dass die Jacke entfernt werden konnte. Darauf ass er 2 Tage nichts. In der 
3. Nacht zehrte er 1 Kilo Brod und die Menageportionen, die sich in der Zelle 
vorfanden, heimlich auf. An manchen Tagen war 0. sehr lebhaft, zupfte Fäden 
aus Hemd und Strohsack, ass sie, that als wenn er Staub oder Insekten vom Bo¬ 
den auflese und führte dann die Hand zum Mund. Dann hielt er wieder plötz¬ 
lich inne. stierte gegen die Wand, machte dabei Lippenbewegungen, wie wenn 
er still bete, dann stand er wieder stundenlang ruhig da 

Die Mithäftlinge deponiren gleich den Gefangenwärtern; nur habe 0. seiner 
Zeit 4 Stunden lang versucht, den Kopf anzustossen. Einmal habe 0. aus Bett- 
und Kleidungsstücken die Puppe eines Weibes gefertigt, diese äuf den Strohsack 
und sich daneben gelegt, bis (nach l'/ 2 Stunden) ihm diese Puppe entfernt wurde. 
Unter Tags habe er öfter ganz entkleidet sich unter die Pritsche gelegt. Manch¬ 
mal habe er plötzlich auf einen Punkt gestiert, längere Zeit in dieser Stellung 
verharrt, wie wenn er eine Vision hätte, sich dann erschreckt gezeigt und con- 
fuse Dinge gemacht, z. B. sein Bett in ein Bündel gepackt, auf den Rücken ge¬ 
nommen und sei damit auf die Thüre zugegangen, wie wenn er sich entfernen 
wollte. Zu Zeiten lag er stundenlang auf dem Strohsack und bewegte den Kopf 
hin und her. In den Zwischenzeiten habe sein Benehmen jedoch ganz vernünftig 
geschienen. 


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Raubmord. Simulation von Geistesstörung. 


45 


Das Verhalten vom 18. März bis zum 25. Abends. 

Am 17. März wurde 0. anstandslos dem Landesgericht in Graz überstellt. 
Er verzehrt gierig seine Menage, nachdem er sie in einen Topf geleert hat, mit 
den Händen; darauf verzehrt er Pappe aus einem in der Nähe befindlichen Papp¬ 
topf Von der Umgebung nimmt er keine Notiz. Auf Fragen bleibt er stumm. 
Die Nothdurft verrichtet er ordentlich. Abends legt er sich angekleidet auf den 
Stroh sack. 

18. März. Die Nacht hat 0. ruhig schlafend zugebracht. Er rührt sich 
Morgens nicht, giebt keine Auskunft. Er bietet eine schmerzlich verzerrte, starre, 
blöde Miene, stier glotzende Augen. Gegen passive Bewegung leistet er Wider¬ 
sland und wenn man ihn aufrichten will, fällt er sofort auf sein Lager zurück. 
Bei Berührung der Herzgegend und der rechten Halsgegend zuckt er zusammen 
und verzieht schmerzlich das Gesicht unter Stöhnen. 

Er thut, wie wenn er von den Vorgängen in der Aussenwelt nichts wahr¬ 
nähme, sobald aber ein Geräusch von der Thüre entsteht, schaut er nach dieser 
Richtung. Auffällig ist, dass, wenn man sich mit ihm zu thun macht, der Puls 
rasch in die Höhe geht und die Halsschlagadern heftig pulsiren. Diese offenbar 
emotionelle Wirkung auf das Herz verliert sich erst nach einer Weile. 

Er weicht dem prüfenden Blick des Beobachters sichtlich aus und wenn 
man ihn zwingt, dem Blick Stand zu halten, nimmt er eine ganz blöde, gleich¬ 
gültige Miene an. 

Sein Essen verschlingt er mit Gier und verzehrt ausserdem Stroh, Fäden, 
Holz, Pappendeckel, kurz was ihm in die Hände fällt. 

Beim Erscheinen des Arztes erschrickt er einen Moment, nimmt aber dann 
anscheinend von demselben keine Notiz. Allein gelassen geht er schlaffen, nach¬ 
lässigen Ganges in der Zelle herum oder lehnt in einer Ecke. 

19. März. Gute Nacht. Das gleiche Verhalten wie am Vortag. Wo immer 
er Staub und Schmutz findet, steckt er ihn in den Mund. Den Manipulationen 
des Waschens, Reinigens u. s. w. setzt er keinen Widerstand entgegen. Wenn 
man ihm einen Löffel in die Hand giebt, bedient er sich desselben zum Essen, 
aber höchst ungeschickt, so dass er die Speisen verschüttet. Diese Speisontheile 
hebt er aber sorgfältig vom Boden auf und verzehrt sie. Es ist kein Zweifel, 
dass er die Vorgänge um ihn versteht, auch bringt man ihn auf nachdrückliche 
Aufforderung dazu, aufgetragene Bewegungen auszuführen. 

20. März. Gleiches Verhalten. 

21. März. Am Nachmittag wollte er unvermerkt ein Brod sich aneignen, 
als aber der Eigentümer hinschaute, zog er die Hand zurück. Einen ihm ge¬ 
reichten Holzlöffel zerbricht er. 

22. März. Verzehrte heute ein grosses Stück seines Hemdes. Nachdem der 
Hausarzt die Bemerkung hatte fallen lassen, dass solche Leute gewöhnlich auf 
den Boden uriniren, urinirt 0. in der Nacht auf den Boden, obwohl er kurz vor¬ 
her auf den Leibstuhl gesetzt worden war. Von da an ist er unrein. 

23. März. Der Gang ist von heute an ein auffällig täppischer, schlotternder, 
wie bei Idioten, ganz besonders, wenn 0. sich beobachtet weiss. 

24. März. Von heute an wird 0. auf schmale Kost gesetzt. Er sitzt wie 
blöd da, lässt sich zu Allem nöthigen. Er lispelt oft vor sich hin, schneidet 


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46 


Dr. v. Krafft-Ebing, 


bald eine lächelnde, bald eine verzweifelte Grimasse. So w r enig wie am Vortag 
beanlwortet er die Fragen der Gerichtsärzte. Er thut. wie wenn er keine Notiz 
nehme; gelegentlich ertappt man ihn auf einem forschenden Blick. Von der Be¬ 
obachtung, der er ausgesetzt ist, ist er sichtlich unangenehm berührt. Man sieht 
ihm an, wie peinlich ihm die Situation ist. Den Blick der Aerzte meidet er, 
schaut stier ins Leere. Ab und zu bietet er ein gezwungenes Vorsichhinlachen. 

25. März. Gleiches Verhalten. Hartnäckige Stummheit. Er macht ein recht 
einfältiges Gesicht, aber seine Miene verräth geistige Vorgänge. Auf Berührung 
der rechten Halsseite zuckt er ostentativ schmerzlich zusammen. Prüfung der 
Empfindlichkeit der Haut durch Nadelstiche bleibt unbeantwortet so lange die 
Augen offen sind. Bei verbundenen Augen zuckt er aber zusammen. Berührung 
der Augen, der Nasenhöhlen löst Reflexbewegungen aus und verzieht sich dabei 
sein Gesicht unwillig. Ein ihm gereichtes Brod ergreift er und isst es gierig. 
Als man ihm den Rest nimmt, sieht er dem Brod wehmüthig nach. Milch trinkt 
er mit Hast und klaubt dann die noch anhaftenden Reste in der Schüssel heraus. 
Eine gereichte Cigarre beisst er zur Hälfte ab und verschlingt sie. Darauf trinkt 
er gierig aus dem Lavoir. Beim Umhergehen bietet er auffallend plumpen, täp¬ 
pischen Gang. 

Dem 0. wird bedeutet, dass man seine Simulation durchschaue und gera- 
then, er möge die Maske fallen lassen. Er blickt womöglich noch dümmer drein, 
schneidet Grimassen, wälzt die Augen hin und her. aber es ist kein Zweifel, dass 
er den Sinn und die Tragweite der an ihn gerichteten Worte versteht, einen 
schweren inneren Kampf kämpft. Gleichwohl bleibt er sich gleich und wird wie¬ 
der nach der Zelle abgeführt. 

Das Verhalten vom 25. März Abends an. 

Eine Weile ging 0. noch in der Zelle auf und ab. Darauf rief er nach dem 
Krankenmeister, verlangte Essen, er halte es vor Hunger nicht mehr aus. Wenn 
er zu essen habe, sage er Alles. — 

Der herbeigerufene Hausarzt fand einen mimisch ganz anderen Menschen 
vor. 0. war nun ganz klar, sprach vernünftig und fing an in einem Buche zu 
lesen. Derselbe Befund wird in einer langen Exploration des 0. am 26. von den 
Gerichtsärzten erhoben. Er giobt prompt und willig Antwort, beklagt sich, dass 
man ihm die letzten Tage so wenig zu essen gegeben. Das habe ihn zur Ver¬ 
zweiflung und zum Reden gebracht. Auf die Frage, warum er stumm gewesen, 
antwortet er, weil er ungerecht des Mordes beschuldigt wurde. Bezüglich der 
Species facti verweist er auf die Verhöre in Leoben. Er habe dort Alles gesagt 
und seinen Aussagen nichts mehr hinzuzufügen. Er giebt seine Personalien rich¬ 
tig an. berichtet, dass er als Knabe von 11 Jahren von einem anderen einen 
Steinwurf an den Kopf bekam. Er sei damals 3 Tage in ärztlicher Behandlung 
gestanden, habe in der Folge keine Beschwerden von dieser Kopfverletzung ver¬ 
spürt. Ausser einem fieberhaften Gelenkrheumatismus im 13. Jahr und der Herz¬ 
entzündung in Gradisca will er nie krank gewesen sein. Er habe leicht gelernt, 
könne gut lesen und schreiben. Dem Trünke sei er nie ergeben gewesen, die 
Sommerhitze habe er gut vertragen. An geistiger Störung, sowie an Epilepsie 
habe er nie gelitten. 


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Raubmord. Simulation von Geistesstörung. 


47 


Explorat benimmt sieb von nun an ganz verständig und geordnet. Er isst 
mit grossem Appetit, schläft gut. 

Am 27. März findet nochmals eine längere Exploration statt. Bezüglich der 
Species facti verweist er wieder auf seine Verhöre in Leoben, stellt sich als die 
gekränkte Unschuld hin und behauptet von allen Vorfällen am 20. Februar 
Abends nichts zu wissen, da er fest geschlafen habe und erst durch die Gens- 
darmen erweckt worden sei.* Er behauptet, an jenem Abend zwischen 6 und 7 
Uhr ins Haus eingelassen worden und bald zu Bett gegangen zu sein. 

Die verfängliche Frage, ob hinter ihm die Hansthüre geschlossen worden 
sei, beantwortet er dahin, dass er sich dieses Umstandes nicht erinnern könne. 
Eine andere Person als die Frau und den Knaben habe er an jenem Abend im 
Hause nicht bemerkt. Der Vorkommnisse nach seinem angeblichen Erwecktwerden 
erinnert er sich mit allen Details und kommt wiederholt darauf zurück, dass man 
ihn im Vorhause zu Boden geworfen und auf die Nase geschlagen habe. Sein 
närrisches Benehmen vom 26. Febr. ab entschuldigt er 1. mit Dummheit, 2. mit 
Aerger darüber, dass man ihn für einen Mörder hielt, 3. weil er bei der schmalen 
Kost in Leoben nicht habe bestehen können. Er erinnert sich an Alles aus dieser 
Episode, ausgenommen, dass er mit Koth geschmiert und als er am 26. Februar 
sich za Boden fallen liess, den Ausruf that: „Ihr werdet mich nicht lebendig 
haben“. Er sei übrigens damals einfach zu Boden geglitten vor Krankheit, Hun¬ 
ger und Müdigkeit. Das Stossen des Kopfes an die Wand sei aus Desperation 
über seine Lage geschehen. Wenn man ihn verurtheile, so müsse er es sich ge¬ 
fallen lassen, Christus sei ja auch verurtheilt worden. 

Seit der Erkrankung in Gradisca habe er öfter Beklemmung, Athemnoth, 
Herzklopfen. Als er am 20. Abends bei R. Einlass begehrte, habe er seine ge¬ 
wöhnlichen Herzbeschwerden verspürt, im Uebrigen sich jedoch wohl gefühlt, 
kein Fieber, keine Angst gehabt. — 

Eine nochmalige Durchforschung seinesVorlebens auf Epilepsie fallt negativ 
aus. Die sorgfältigste Beobachtung ergiebt nach keiner Richtung bei 0. Spuren 
geistiger Krankheit oder geistiger Schwäche. Seine Intelligenz lässt nichts zu 
wünschen übrig. Er fasst leicht auf, antwortet fliessend und hüllt sich in Schwei¬ 
gen da, wo ihm inopportune Fragen gestellt werden. 

Der Schädel ist regelmässig in seinem Bau. Narben oder empfindliche 
Stellen sind an demselben nicht auffindbar. Die Pupillen sind mittelweit, reagi- 
ren normal. 

Explorat ist ein kräftig gebauter, in seiner Ernährung reducirter Mensch. 

Die Untersuchung des Herzens ergiebt die Erscheinungen eines bisher leid¬ 
lich compensirten Klappenleidens. Die Herzdämpfung reicht von dem rechten 
Sternalrand bis 2 Centimeter über die Brustwarzenlinie hinaus. An allen Ostien 
des Herzens sind Geräusche zu vernehmen. Die Halsschlagadern zeigen starke 
Pulsation und beim Auflegen der Hand heftiges Schwirren. Der Puls ist hüpfend 
durch Hypertrophie des linken Ventrikels. 


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Dr. v. Kraf ft- Ebing, 


Gutachten. 

Im Sinne der richterlichen Fragestellung kommen zu entscheiden: 

1) der Geisteszustand des Angeschuldigten seit dem 2. Verhör 
am 26. Februar; 

2) der Geisteszustand zur Zeit der Abgabe des Gutachtens; 

3) der Geisteszustand zur Zeit der Oberosler zur Last gelegten 
That, 

ad 1. Vom 2. Verhör ab ist mit einem Schlage der bisher ge¬ 
ordnete, vernünftige Angeschuldigte ein geistig ganz Anderer. Das 
Bild, welches er bietet, passt in keines der der Wissenschaft bekann¬ 
ten vollkommen hinein. Im Grossen und Ganzen verhält er sich wie 
ein Blödsinniger. Manches an ihm, wie z. B. die täppische plumpe 
Geh weise, erinnert an die Erscheinung des Idioten. Dass 0. kein 
solcher war und ist, bedarf keiner Erörterung. Erworbene Zustände 
von Blödsinn sind die Folge schwerer Gehirninsulte, wie z. B. Kopf¬ 
verletzung, Schlagfluss, oder sie sind Ausgänge lange bestandener 
Geisteskrankheit. Diese Momente sind bei 0. ebenfalls ausgeschlossen. 
Dies eigenartige Bild von Blödsinn, welches 0. zur Schau trägt, ist 
somit ursächlich nicht motivirt; auch widerspricht seine Entstehungs¬ 
weise — plötzlicher Beginn — der Entwicklung eines Blödsinns aus 
innerer organischer Hirnveränderung. Es giebt Zustände tiefer geisti¬ 
ger Erschöpfung des Gehirns, sogenannte Stupidität, die bei besonders 
Disponirten, körperlich herabgekommenen Individuen allerdings plötz¬ 
lich, z. B. in Folge einer heftigen Gemüthsbewegung, eintreten und 
nach einigen Monaten sich wieder ausgleichen können. 

0. war vom 26. Februar bis zum 25. März nicht stupid — er lieferte 
Beweise, dass er appercipirte, dachte, handelte; er hatte Hunger, be¬ 
friedigte ihn; seine Sensibilität, seine Reflexerregbarkeit war nicht ge¬ 
schädigt; sein Schlaf, seine vegetativen Functionen waren intact. Eine 
Stupidität wäre aber auch ursächlich nicht begründet, da er nicht 
erblich oder sonstwie zu solcher Krankheit disponirt, körperlich nicht 
erschöpft und nicht einer plötzlichen heftigen Gemüthsbewegung aus¬ 
gesetzt war. Eine solche war z. B. im Moment der Ergreifung und 
Erweckung aus dem „Schlaf“ da, nicht aber am 26. Februar, wo die 
Situation so zu sagen vom Zaun gebrochen wurde, der spätere Zustand 
mit einem theatralischen Eclat anhob und der durch Verhöre in die 
Enge getriebene 0. dadurch und durch Stummheit sich vor weiteren 
verfänglichen Fragen wohl salvircn wollte. Damit ist schon angc- 


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Raubmord. Simulation von Geistesstörung. 


49 


deutet, dass der ganze Zustand vom 26. Februar bis zura 25. März 
ein künstlich angenommener, eine Maske war. 

Aber auch bezüglich der Symptome bot der an 0. beobachtete 
Zustand ein Zerrbild wirklich vorkommender Krankheitsbilder. Noch 
am meisten näherte er sich dem Bilde eines Idioten, deren manchen 
0. auf seinen Reisen durch die Alpen gesehen haben mochte, aber 
abgesehen davon, dass Jemand nicht im Handumdrehen Idiot werden 
kann, war der tölpische Gang kein gleichmässiger, die Stummheit 
nicht motivirt. Auch bot 0. neben sinnlosen, läppischen, mitunter 
säuischen Handlungen solche, die seine hinter der Maske bestehende 
affectvolle, der Situation klar bewusste Gemüthsverfassung bekundeten 
— z. B. die Selbstmordversuche, mit denen er gründlich aus der Rolle 
fiel und die jedenfalls mit der sonst zur Schau getragenen Apathie 
contrastirten. 

Ebenso standen im Widerspruch seine ostensible Schmerzhaftig¬ 
keit an Herzgegend und rechter Halsseite mit der sonst am Körper 
(so lange er hinsehen konnte) bekundeten Unempfindlichkeit, seine 
Gefrässigkeit mit seiner sonstigen Bedürfnisslosigkeit und Indifferenz 
gegen die Aussenwelt. Dass er heftig durch die ärztliche Beobach¬ 
tung jeweils beeinflusst wurde, somit Person und Zweck der Unter¬ 
suchung erkannte, beweist die Steigerung der Herzaction und Puls¬ 
frequenz, sobald die Aerzte sich mit ihm zu schaffen machten. 

Dass er willkürlich das von ihm gebotene Bild ändern konnte, 
beweist der Umstand, dass er auf den Boden urinirte, nachdem man 
ihn, in eine Falle lockend, auf dieses Symptom aufmerksam gemacht 
hatte; endlich das Aufgeben der ganzen Rolle mit sofortiger Wieder¬ 
kehr der früheren mimischen und geistigen Persönlichkeit, nachdem 
die Aerzte ihn bedeutet hatten, dass er ein Schauspieler und noch 
dazu ein schlechter sei, dass er sich nur irrsinnig stelle. Mit Be¬ 
stimmtheit lässt sich erklären, dass 0. die Erscheinung eines 
Blödsinnigen vom 26. Februar bis 25. März simulirt hat. 

ad 2. Simulation schliesst geistige gleichzeitige Störung nicht 
aus. Von irgendwelchen Symptomen geistiger Krankheit, während 0. 
die Maske der Simulation trug, war nichts zu bemerken und lässt sich 
sein ganzes Thun und Lassen auf seine Simulation zurückführen. 
0. ist laut Zeugniss der Gemeindevorstehung, Gensdarmerie und des 
Lehrers aus geistesgesunder Familie, nie geisteskrank gewesen. 

Während einer Haftzeit von 2 Jahren in Gradisca, die bis zum 
December 1884 sich erstreckte, hat man nie etwas geistig Abnormes 

Vierteljahrsachr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 1. 4 

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Dr. v. Krafft-Ebing, 


an ihm wahrgenommen. Gegen Geistesstörung in der Folge spricht 
seine Reise nach Wien, auf welcher er unbeanstandet bis ins Kaiser¬ 
liche Schloss gelangte, die Wahrnehmungen der Leute, die ihn im 
R.’schen Hause am 20. Februar ergriffen, die Wahrnehmungen des 
Untersuchungsrichters, der Gefangenwärter und Mitgefangenen. 

Ebenso wenig liess sich am 25. März Abends, *ra 26. und 27. 
nach eingehender Exploration irgend ein Zeichen abnormer geistiger 
Function an 0. entdecken, der wiederholt selbst darum befragt, aus 
keiner Zeit seines Lebens von Erscheinungen von geistiger Störung zu 
berichten wusste. 

Mit Bestimmtheit lässt sich somit erklären, dass 0. weder in 
früherer Lebenszeit noch gegenwärtig geistig gestört war 
oder ist. Er bietet im Gegentheil die Zeichen eines intelligenten, 
besonnenen, seiner Lage klar bewussten Menschen. 

ad 3. Ueber das geistige Verhalten des 0. zur Zeit der ihm 
imputirten That, finden sich 2 Versionen vor, die des Inculpaten, der 
während der ganzen Species facti geschlafen und die Ereignisse erst 
nach seiner Erweckung aus dem Schlaf erfahren haben will, anderer¬ 
seits die Version, welche dem unbefangenen Leser der Acten aus den 
Thatumständen, Zeugenaussagen u. s. w. sich nothwendig ergeben muss. 

Die Version des 0. wäre nur annehmbar unter der Voraussetzung, 
dass sein Schlaf ein krankhaft tiefer gewesen wäre. Ein solcher wäre 
denkbar durch eine volle Berauschung oder eine anderweitige Intoxi- 
cation oder im Sinne eines epileptischen Sopor. Eine Berauschung 
oder Vergiftung, etwa durch Narcotica, ist ausgeschlossen und wird von 
0. selbst in Abrede gestellt. Die Möglichkeit eines epileptischen An¬ 
falles mit folgendem Sopor wäre so zu denken, dass 0. im Bette von 
einem epileptischen Anfall überrascht worden und im Sopor oder Coma 
längere Zeit darnach gelegen wäre. Aber auch diese äusserste Mög¬ 
lichkeit an der Version des 0. eine Wahrheit zu finden, ist nicht halt¬ 
bar. Es fehlt ihr erstens der Nachweis der Epilepsie und zweitens 
erfolgte das „Erwecktwerden“ mühelos und sofort. Jedenfalls befand 
sich 0. in diesem Moment nicht in einem Coma oder Status epi- 
lepticus. 

Es lässt sich kein Grund für einen pathologischen Schlafzustand 
am Abend des 20. Februar ermitteln und seine Angabe, dass er da¬ 
mals den Schlaf des Gerechten schlief, muss als unannehmbar be¬ 
zeichnet werden. Dass ein 30jähriger Mensch, der nicht gänzlich er¬ 
schöpft oder unter anderweitigen krankhaften Bedingungen schläft, 


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Raubmord. Simulation von Geistesstörung. 


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zudem wie 0. gut hörte, durch den fürchterlichen Lärm, wie er mit 
dem Einhauen der massiven Thüre nur 8 Schritte von seiner Lager¬ 
stätte verbunden war, nicht erweckt worden sei und erweckt werden 
musste, ist medicinisch nicht denkbar. 

Die zweite Version geht dahin, dass 0. der Mörder der Clara R. 
und des Knaben ist. Sie legt psychiatrisch die Erwägung nahe, ob 0. 
zur Zeit der That nicht in einem Zustand von transitorischer Geistes¬ 
störung, einer sogenannten Sinnesverwirrung sich befunden habe. 

Die Möglichkeit eines pathologischen Alkohol-, eines Intoxica- 
tions-, eines Affect- oder Angstzustandes lässt sich vorweg aus- 
schliessen. Möglich blieben Mania transitoria und eine epileptische 
Sinnesverwirrung. 

Von ersterer kann Jeder befallen werden. Sie endigt mit einem 
tiefen Schlaf. Die Gewaltthaten in solchem Zustand pflegen so grau¬ 
sam zu sein wie 0. verfuhr. 0. ist jedoch sicher am 20. Abends 
nicht von Mania transitoria befallen gewesen. Diese setzt einen be¬ 
wusstlosen Zustand voraus, in dem Praemeditation, combinirtes Han¬ 
deln unmöglich sind. 0. handelte aber praemeditirt und combinirt. 
Er kam schon mit einem Stein bewaffnet in das Haus, welches ihm 
Gastfreundschaft bot. Er holte eine Hacke, als er sah, dass ihm der 
Stein nicht genügte, verfolgte den Knaben, um den Augenzeugen der 
That zu beseitigen, ging dann weg, vermuthlich um zu rauben, war 
durch das schnelle Erscheinen der alarmirten Nachbarn an der Flucht 
gehindert, legte sich nun zu Bett und spielte den Schlafenden, um 
eine Ausrede gegenüber der zu gewärtigenden Beschuldigung des Mor¬ 
des zu finden, nachdem er noch seine Documente zerrissen und ver¬ 
borgen hatte, um Unklarheit über seine Person zu verbreiten. 

Wer so vorgeht, kann nicht an Sinnesverwirrung, speciell an 
Mania transitoria leiden. Hätte er die Bäuerin zusammengehauen, in 
blindem Wüthen Das und Jenes zerstört und wäre er dann in tiefem 
Schlaf an der Stelle des Mordes gefunden worden, dann wäre diese 
Vermuthung statthaft. Da wo die Mania transitoria in den kritischen 
Schlaf übergeht, ist der Kranke nach wie vor bewusstlos, vermag 
nicht zu sehen, dass irgendwo ein Bett steht, geschweige, dass er sich 
auszieht und hübsch ins Bett legt. 

Die gleichen Einwände müssen erhoben werden, falls Jemand eine 
epileptische Sinnesverwirrung an 0. zur Zeit der That finden wollte. 
Abgesehen davon, dass Epilepsie weder je früher noch jetzt bei ihm 

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Dr. v. Krafft-Ebing. 


nachweisbar ist, müsste im Sinne obiger Annahme ebenfalls ein be¬ 
wusstloses, sinnloses Handeln gefordert werden. 

Die 3. Frage beantwortet sich somit dahin, dass am 20. Februar 
Abends 0. nicht an einer irgendwie gearteten Sinnesverwirrung ge¬ 
litten hat. _ 

Am 8. und 9. Mai stand 0. vor dem Schwurgericht. Der Beweis 
seiner Schuld wurde erbracht. Die Zeugen erklärten es für unmög¬ 
lich, dass er während des Einhauens der Thür nicht hätte erweckt 
werden müsson. 0. blieb bei seinem Vertheidigungssystem. Seit der 
Aufgabe der Simulation hat er keinen bezüglichen Versuch mehr ge¬ 
macht. Er wurde zum Tode verurtheilt und am 14. Juli hingerichtet. 


5. 

Beiträge zur gerichtlichen Toxicologie. 

Von 

Dr. Julius Kratter, 

Doceut und Assistent am Institut für Staatsarzneikundc in Graz. 

I. 

Beobachtungen und Untersuchungen über die 
Atropin-Vergiftung. 

Mit 2 Tafeln. 


Während meiner zehnjährigen Thätigkeit als Assistent an der 
Lehrkanzel für Staatsarzneikunde hatte ich Gelegenheit, mehrere Fälle 
von Vergiftung durch Belladonna und das Alkaloid derselben, durch 
Atropin, zu beobachten und zwar theils selbständig, theils in Ver¬ 
bindung mit anderen Collegen, indem ich mich an der Untersuchung 
durch Ausführung des chemischen Nachweises betheiligte. Diese Fälle 
bieten an und für sich schon einiges Interesse dar, und gaben mir 
überdies Veranlassung, umfänglichere Studien über die Atropinvergif¬ 
tung im Allgemeinen anzustellen, und insbesondere Erfahrungen über 
den forensischen Nachweis zu sammeln. Wenn auch die Zahl 
der bisher beobachteten und beschriebenen Vergiftungsfälle gerade keine 
geringe ist, so glaube ich doch, für meine Untersuchungen und Beob¬ 
achtungen deswegen einiges Interesse erwecken zu können, weil bisher 


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Dr. J. Kratter. 


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noch niemals von einem einzelnen Beobachter ein gleich umfängliches 
Material von Beobachtungen am Menschen wissenschaftlich verwerthet 
werden konnte. 

Die nöthigen literarischen Studien, die ich anzustellen mich ver¬ 
anlasst sah, umfassen so ziemlich das ganze Gebiet der insbesondere 
für den forensischen Zweck nothwendigen Materialen. 

I. Allgemeines. 

Die Tollkirsche, Atropa Belladonna L. der Familie der Solan een 
angehörig, ist, wie Mathiolus 1 ) nachgewiesen hat, erst seit etwas 
über 3 Jahrhunderten in Europa bekannt. Sie ist eine der wichtig¬ 
sten unter den europäischen Giftpflanzen. 

Von den giftigen Solaneen kannten die Alten nur folgende vier Arten: 
1) Solanum hortense = Srpö^og xyxacog, 2) Solanum Halicaoabum = St puyvog 
XaAtxdxaßog; ferner 3) Solanum somniferum = Srpu^vog bitv(ort%6e, und endlich 
4) Solanum furiosum = Srpu^vog ßavc%6g, auch Solanum Persicum genannt. Das 
sind die von Dioskorides aufgeführten und beschriebenen Solaneenarten. 

Unsere Pflanze wird zuerst von Mathiolus 2 ) im Jahre 1570 unter dem 
Namen Solanum maius sive herba Belladonna beschrieben. Er nennt sie Somnifici 
Solani alterum genus und sagt darüber Folgendes: 

„Nascitur in agro Goritiensi salvatino monte inter saxa unde aliquot no- 
biscum tulimus plantas. Ceterum errant mea quidem sententia, qui eam plantam, 
quam herbariorum vulgus Solatrum maius nominat, Veneti vero vulgo herba Bella¬ 
donna Solanum somniücum Dioskoridis esse existimant. “ 

Dass Mathiolus thatsächlich die wahre Atropa Belladonna kannte und be¬ 
schrieb, geht sowohl aus der genauen Schilderung der Pflanze selbst hervor, 
sowie aus der Abbildung, die dem Texte beigegeben ist, und namentlich auch 
aus dem, was er über die Wirkung derselben sagt. Die diesbezügliche Stelle 
lautet: 

„Nam baccae ipsae devoratae sumentes dementant et in furorem agunt 
adeo, ut demoniaci facti videantur. Inducunt tarnen sumentes qnandoque in ve- 
ternum (Collaps). Nam et pueros quosdam ex harum baccarum esu mortuos sci- 
mus, qui discriminis ignari eas uvae vice devorarunt. “ 3 ) 

Auch die Heilwirkuug und zwar in der Anwendung für Augenkrankheiten 
war diesem Forscher bereits bekannt. „Contusa folia oculorum palpebrarumque 
phlegmonas leniunt.“ 

Wir theilen beute die Familie der Solanaceen, welche eine Reihe ein¬ 
heimischer und ausländischer Giftpflanzen in sich schliesst, in vier Unterfamilien 
ein und zwar: 


*) Petri Andreac Mathioli, Senensis medici Comraentarii in sex libros Pe- 
dacii Dioscoridis Anazarbei de medica materia, jam denuo ab ipso autore recog- 
niti et locis plus mille aucti. Venetiis ex officina Valgrisiana. MDLXX. 

*) a. a. 0. S. 678. 

*) a. a. 0. S. 680. 


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54 


Dr. J. Kratter, 


1) Die Solan een, deren wichtigste Repräsentanten Solanum Dulcamara L., 
Solanum tuberosum L., Capsicum (spanischer Pfeffer, Paprika) und Physalis 
Alkekengi L., die Schlutte oder Judenkirsche sind. 

2) Die Atropeen mit der Atropa Belladonna L., dem Lycium barbarum L. 
(Teufelszwirn) und der Mandragora Juss., von welcher Pflanze die Wurzel früher 
officinell und wegen ihrer eigenthümlichen Form unter dem Namen Alraun, 
Alraunmännchen, Alruniken ein bekanntes Zaubermittel im ganzen Mittel- 
alter war. 

3) Die Hyoscyameen mit der Datura Stramonium L., dem Stechapfel, 
und Hyoscyamus niger, dem Bilsenkraut, und endlich 

4) Die Cestrineen mit Nicotiana tabacum L. und Nicotiana rustioa L., 
welche beide, die letztere besonders im Orient cultivirt, den bekannten und un¬ 
entbehrlichen Tabak liefern •). 

Dazu kommt noch die zu den Solaneen gerechnete Gattung Duboisia, die 
in Australien einheimisch ist und erst in allerjüngster Zeit in Europa bekannt 
wurde und von welcher die von Holmes 2 ) und Lanessan 3 ) beschriebene Du¬ 
boisia myoporoides R. Brown ein von Gerrard und Petit dargestelltes Alca- 
loid das sog. Duboisin enthält, das in seinen chemischen Eigenschaften sowohl, 
wie auch in Bezug auf die physiologische Wirkung dem Alcaloid der Belladonna, 
dem Atropin ganz ähnlich ist, jedoch viel energisoher als dieses wirkt. 

In der ganzen Gruppe der Solanaceen hat die Belladonna weitaus die 
grösste Bedeutung. 

Vergiftungen mit dieser Pflanze, welche in allen ihren Theilen gifthaltig 
ist, sind, seitdem wir die Pflanze überhaupt genauer kennen, zahlreich vorge¬ 
kommen und beschrieben worden. Wie schon oben erwähnt, hat Mathiolus 4 ) 
selbst Beispiele von zufälligen Vergiftungen durch die Beeren der Tollkirsche 
kennen gelernt. Nicht selten mögen auch Vergiftungen vorgekommen sein durch 
den bei den Venetianern üblichen Gebrauch der Belladonna für kosmetische 
Zwecke. Stammt ja doch der Name Belladonna von dieser Anwendung her. Ma¬ 
thiolus erwähnt auch einer die etwas eigenthümlichen Sitten seiner Zeit oha- 
rakterisirende Anwendung der Belladonna zu absichtlichen Vergiftungen leich¬ 
terer Art. Er erzählt nämlich und zwar nach einer Mittheilung von Francisous 
Calceolarius Veronensis, dass man Wein mit Belladonna versetzte zu dem 
Zwecke, um gefrässigen Gästen bei einem reichen Gastmahle das Mahl zu ver¬ 
leiden. Es stellten sich nämlich die bekannten Schlingbeschwerden ein, so dass 
die Leute, welche von dem Weine tranken, nicht mehr weiter essen konnten. 
Diese von unserem Zeitalter wohl nur als barbarische Sitte zu bezeichnende Art 
der Anwendung einer Giftpflanze bezeichnet er als einen grossen Spass, indem 
er sagt: 

„ Jocus est magnus, ubi quis gulosis parasitis hoc apposuerit vinum cum 
mensis optimis cibis refertis assidentes nihil prorsus cibi ingerere queant.“ 


') Luerssen, Medicinisch-pharmaceut. Botanik. Leipzig 1882. II. Band. 
S. 973 u. ff. 

*) Pharm, journ. et transact. Bd. 8. 

*) Bull. gön. d. thörap. 1878. 

4 ) a. a. 0. S. 680. 


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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 55 

Von Gaulthier de Clanbry wird ein Fall berichtet, wo ein Detaohement 
französischer Soldaten, 160 Mann, im Jahre 1813 in der Umgebung von Pirna 
durch den Genuss von Tollkirschen in mehr oder weniger intensiverWeise vergiftet 
wurde. Im vorigen Jahrhundert müssen wol zahlreiche solche zufällige Vergif¬ 
tungen, meist aus Unkenntniss hervorgehend, vorgekommen sein; namentlich 
waren es nicht selten Kinder, welche auf diese Weise zu Schaden kamen, wol 
auch wiederholt zu Grunde gingen. So hat Frank ') Beobachtungen zusammen¬ 
gestellt, welche 11 Erwachsene und 37 Kinder betreffen, darunter 3 Todesfälle 
von 2 Erwachsenen und 1 Kinde; auch Gmelin berichtet solche Fälle. 

In neuerer Zeit haben Trapenard 2 ), Kürner 3 ) und Seaton 4 ) 
solche Fälle zusammengestellt, die 18 Individuen betreffen im Alter 
von 7—25 Jahren, von denen 2 Knaben starben; ferner F. A. Falck 5 ) 
112 Intoxicationen, die sich innerhalb von 12 Jahren ereigneten und 
jüngstens dessen Schüler Feddersen 6 ), der 103 Fälle von reinen 
Atropinvergiftungen in der Zeit von 1850—1884 in einer verdienst¬ 
vollen Arbeit gesammelt hat. 

Wie häufig namentlich zufällige Vergiftungen vorgekommen sind, das geht 
aus den zahlreichen Verordnungen hervor,[[welche die Regierungen verschiedener 
Staaten zu dem Zwecke erliessen, um theils durch Ausrottung der Tollkirsche in 
den Wäldern, theils durch Belehrung den Unglücksfällen dieser Art vorzubeugen. 
Wir kennen bezügliche Verordnungen für Böhmen von J. D. John 1 ) für Oester¬ 
reich von Ferro 8 ), für Preussen durch Liebeke 9 ) und Augustin 10 ), für die 
verschiedenen anderen deutschen Staaten und Freistädte wie Stettin, Cöslin, 
Würtemberg u. s. w. durch Berg 11 ) und Ehrhart 12 ). 

Dass auch heute noch Vergiftungen mit den Beeren der Tollkirsche zur 
Beobachtung kommen, beweist ein von mir weiter unten zu beschreibender Fall. 


‘) Frank’s Magazin. I. 202, 384, 694; II. 47, 349, 646; III. 115, 447,712; 
IV. 45, 466. 

*) L’Union. 1859. p. 147. 

*) Württemberg. Correspondenzbl. 1856. No. 35. 

4 ) Med. Times and Gaz. 1859. Dec. 3. 

*) F. A. Falck, Lehrb. der prakt. Toxicologie. Stuttgart 1880. S. 248. 

*) J. M. Feddersen, Beitrag zur Atropinvergiftung. Inaug.*Diss. Berlin 1884. 
T ) J. D. John, „Leiicon der k. k. Medicinalgesetze.“ Bd. I. S. 521. (Verordn, 
für Böhmen vom 18. April 1788.) 

®) P. J. von Ferro, „Sammlung aller Sanitätsverordnungen im Erzherzogth. 
unter der Enns.* I. S. 99 u. I. S. 236. 

*) Liebeke, „Auszüge aus den Königl. Preuss. Polizeigesetzen in Beziehung 
auf Gesundheit und Leben der Menschen.“ Magdeburg 1805. S. 47. 

,# ) F. L. Augustin, „Die Königl. Preuss. Medicinaiverfassung.“ Bd. I. S. 409. 
n ) Berg, „Handbuch des deutsch. Polizeirechts.“ Th. VI. Bd. I. S. 557. 
ll ) Ehrhardt, „Polizeigesetzbuch.“ Bd. III. S. 411. 


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56 


Dr. J. Kratter, 


Viel zahlreicher als die Vergiftungsfälle mit den Beeren der Toll¬ 
kirsche selbst sind die mit den in der Arzneikunde in Verwendung 
stehenden Präparaten derselben, die sog. Medicinalvergiftungen. 
Es vergeht kein Jahr, in welchem uns nicht einige derartige Fälle 
durch die Literatur bekannt gemacht werden. Und gewiss nicht ganz 
klein muss die Zahl der Fälle angenommen werden, welche nicht zu 
unserer Kenntniss gelangen. Mit allen üblichen Belladonnapräparaten 
und in jeder Anwendungsweise sind schon Vergiftungen bekannt ge¬ 
worden, theils durch Verwechslung in der Apotheke, theils durch die 
Schuld des Patienten, indem die verschriebenen Medicamente nicht in 
der richtigen Weise genommen wurden u. s. f. 

Ich führe hier nur einige Beispiele aus der neueren Literatur an: 

Raymond 1 ) berichtet über die Vergiftung eines siebenjährigen Kindes 
mit dem in Frankreich officinellen Belladonnasyrup; Meredith 2 ) über eine Ver¬ 
giftung durch Belladonnaliniment, wovon aus Versehen ein Esslöffel voll einge¬ 
nommen worden war; Schüler 3 ) über eine solche durch Anwendung von Suppo- 
sitorien, wie denn überhaupt keine nur denkbare Anwendung bekannt ist, welche 
nicht schon zu Vergiftungen geführt hätte, gar nicht zu gedenken der zahlreichen 
Fälle von unglücklichen Verwechslungen in Apotheken, sowie von leichtsinnigem 
Gebahren mit verordneten Medicamenten seitens des Publicums. Welche geradezu 
unglaublichen Zufälle hierbei Vorkommen können, dafür dient als ein klassischer 
Beleg der von Schauenstein 4 ) jüngst mitgetheilte Fall: Ein junger Mann er¬ 
krankte dadurch unter den Symptomen einer Atropinvergiftung nach dem Ge¬ 
nüsse von schwarzem Kaffee, dass von der Köchin zur Filtration des Kaffeeauf¬ 
gusses ein Leinwandlappen benutzt worden war, der vor längerer Zeit als Ueber- 
schlag aufs Auge für ein atropinhaltiges Collyrium gedient hatte und der dann 
als unnütz weggeworfen, von der Köchin aber als für besagten Zweck noch 
dienlich erachtet, aufbewahrt und ungewaschen in Anwendung gezogen wor¬ 
den war. 


') Bullet, de therapeut. T. 88. (Ann. 44.) p. 174. 

*) British med. Journ. Jahrg. 1876. No. 830. p. 533. 

*) Berl. klin. Wochenschr. Jahrg. 1880. S. 658. 

*) Sohauenstein in Maschka’s Handb. d. ger. Medicin. Tübingen 1882. 
II. Bd. S. 653. — Interessant ist auch ein anderer Fall, den Schauenstein 
berichtet (a. a. 0. S. 636), wo ein Pferd durch „Wolfswurzel“ (Belladonna) zu 
Grunde ging. Der Knecht, welcher dem Pferde täglich von der Wurzel ver¬ 
abreichte, um es „recht feurig und gut aussehend zu machen“, nahm selbst 

jedesmal ein wenig von der Wurzel, folgend dem landläufigen Aberglauben, ein 
Gift wirke nur auf ein Thier, wenn der Wärter desselben selbst etwas davon 

gleichzeitig geniesse. Deswegen auch sind unsere steierischen Arsenikesser 

meist Pferdeknechte oder Bauern, die Pferde halten. Den Pferden wird Arsenik 
gereicht, um sie schön und feurig zu machen und damit dieser wirkt, nascht der 
Knecht auch mit. 


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Beobachtangen and Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 57 


Die grössere Zahl der in neuerer Zeit zur Beobachtung kommen¬ 
den Vergiftungsfälle ereignet sich wol nicht mehr mit der Pflanze 
und deren galenischen Präparaten, sondern mit dem namentlich in 
der Augenheilkunde in so vielfacher Anwendung stehenden Alkaloide 
derselben, dem Atropin. 

Das Atropin wurde nach den Angaben der toxicologischen Lehrbücher, 
wie Husemann '), v. Ziemssen 2 ), F. A. Falck 3 ) und Anderen im Jahre 1831 
von Mein 4 ) und fast gleichzeitig 1833 von Geiger und Hesse 5 ) entdeckt. 
Ich kann nicht umhin, an dieser Stelle darauf aufmerksam zu machen, dass die 
erste Entdeckung des Alkaloides der Belladonna in eine frühere Zeit und zwar 
ins Jahr 1820 fällt. In diesem Jahre hatte Brandes 6 ) in den Blättern der 
Belladonna eine salzfähige Basis nachgewiesen, die er Atropin nannte. Später 
(1825) hat Runge 7 ) nach anderer Methode das Atropin erhalten, ohne von der 
Entdeckung Brandes’, die er vielleicht auch gar nicht kannte, etwas zu er¬ 
wähnen. Seit dieser Zeit, also viel vor dem Jahre 1831 beziehungsweise 1833, 
wird das Atropin wiederholt in der Literatur erwähnt 6 ), und glaube ich dem¬ 
nach wenigstens das Verdienst der Namengebung Brandes und Runge unbe¬ 
stritten zuerkennen zu müssen, und sollte es in Hinkunft wol gerechterweise nicht 
mehr schlechtweg heissen, das Atropin wurde 1833 von Geiger und Hesse 
entdeckt. Dass es vor dieser Zeit schon bekannt war, erhellt namentlich auch 
noch daraus, dass Marx 9 ) in seinem umfänglich angelegten, leider unvollendet 
gebliebenen Werke der Giftlebre, welches im Jahre 1829 in Göttingen erschien, 
das Atropin kennt und daselbst die Namen seiner Entdecker nennt. 

Immerhin aber bleibt den erstgenannten Forschern das Verdienst, das Alka¬ 
loid durch Anwendung eines exacten Verfahrens rein dargestellt zu haben. Sie 
haben nämlich zur Darstellung desselben sich der von Mein vorgeschlagenen, 
von ihnen selbst verbesserten Methode bedient, wonach der weingeistige Auszug 
der Belladonnawurzel mit Kalkhydrat versetzt wird, welches das primäre Atropin¬ 
salz zerlegt und einen grossen Theil der in Lösung befindlichen organischen 
Säuren und andere färbende Stoffe ausscheidet. 

Aus dem Filtrate, welches man nach dem Uebersättigen mit Schwefelsäure 
durch möglichst rasches Eindampfen bei niederer Temperatur vom Alkohol be- 


*) Husemann, Handb. der Toxicologie. Berlin 1S62. S. 468. 

*) v. Ziemssen, Handb. d. spec. Path. u. Ther. XV. Bd.: „Intoxicationen“ 
von Boehm, Naunyn und v. Boeck. Leipzig 1876. S. 351. 

*) F. A. Falck, Lehrb. der prakt. Toxicologie. Stuttgart 1880. S. 246. 

4 ) Annal. d. Pharmac. VI. Bd. S. 67. 

*) Geiger und Hesse, Darstellung des Atropins. Ann. d. Pharm. V. S. 43; 
VI. S. 44; VII. S. 269 u. 272. 

*) Schweigg. Journ. Bd. XXVIII. S. 9. 

7 ) Annales de Cbim. et de Phys. XXVII. p. 35. 

8 ) Vergl. Berzelius’ Jahresber. 1822. Bd. I. und 1826. Bd. V. S. 243 u. ff. 
*) Marx, „Die Lehre von den Giften in medicin.-gerichtl. und polizeilicher 

Hinsicht.“ I. Bd. „Geschichte der Giftbasen.“ II. Abth. Güttingen 1829. S. 371. 


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Dr. J. Kratter, 


freit, scheidet sich auf Zusatz einer concentrirten LösuDg von kohlensaurem Kalk 
im Verlauf von 12—24 Stunden das Atropin im unreinen Zustande aus, welches 
durch Behandlung mit Blutkohle und wiederholtes Umkrystallisiren gereinigt wird. 

Immerhin aber glaube ich, dass bei der Erwähnung der Entdeckung des 
Atropins jene ersten Forscher, welche sich mit der Darstellung und Isolirung des 
wirksamen Princips der Belladonna befasst haben, nicht vergessen werden dürfen; 
umso weniger als sie es waren, welche der neuen Substanz den auch von späte¬ 
ren Forschern beibehaltenen Namen Atropin gegeben haben. 

In neuerer Zeit wurden ziemlich eingehende Versuche über die mydriatisch 
wirkenden Alkaloide von einer Reihe von Forschern angestellt, und es ergiebt 
sich der gegenwärtige Stand der Dinge nach diesen Untersuchungen folgender- 
massen: 

Die mydriatisch wirkenden Alkaloide sind nach A. Ladenburg 1 ) unter ein¬ 
ander isomer. Sie haben sämmtlich die Formel: C n H 23 N0 3 . Das Atropin 
findet sich in Atropa Belladonna und Datura stramonium und spaltet sich in 
Tropasäure C 9 H 10 O 3 und Tropin C 8 H 15 NO. Das Hyoscyamin findet sich in 
Atropa Belladonna, Datura stramonium, Hyoscyamus niger und Duboisia myopo- 
rides und spaltet sich ebenfalls in Tropasäure und Tropin; das Hyoscin findet 
sich in Hyoscyamus niger und spaltet sich in Tropasäure und Pseudatropin 
C 8 H 15 NO. Ausserdem hat Ladenburg 2 ) aus mandelsaurem Tropin das Homa- 
tropin synthetisch dargestellt und wurde dasselbe experimentell und therapeu¬ 
tisch bei Thieren und Menschen geprüft von Volkers 3 ), Tweedy 4 ) und Rin¬ 
ger 5 ). Paulinsky 6 ), Bertheau 1 ), Fronmüller 8 ) und Anderen 9 ). Es besitzt 
im Ganzen dieselben Wirkungen, wie das Atropin, unterscheidet sic.h aber von 
ihm dadurch, dass eine giftige Wirkung erst nach grösseren Dosen eintritt und 
rascher vorübergeht. 

Nach Planta 10 ) sind Atropin und Daturin identisch, nach Subeiran 11 ) 
nur isomer; auch Ehrhardt 12 ) hat auf die Verschiedenheit der Krystallform der 
beiderseitigen Salze aufmerksam gemacht. Desgleichen spricht sich A. Poehl >s ) 


*) „Berichte der deutsch, ehern. Gesellschaft.“ 12. Jahrg. 1880. S. 131 und 
„Jahresber. über d. Fortschritte der Pharmacognosie, Pharmacie u. Toxicologie.“ 
N. F. 16. u. 17. Jahrg. II. Hälfte. 1884. S. 639. 

*) Ber. d. deutsch, ehern. Gesellsch. 1880. S. 131. 

*) Verhandl des physiol. Vereins in Kiel 23. Jan. 1880. 

4 ) Lancet. 1880. No. 21. 

5 ) Ebenda. 

*) Klin. Monatsblätter f. Augenheilkunde. XVIII. S. 343. 

7 ) Berl. klin. Wochenschr. 1880. No. 41. S. 582. 

8 ) Memorabilien. 1880. S. 298. 

*) Vergl. Jahresber. über die Fortschritte der Pharmacognosie, Pharmacie u. 
Toxicol. N. F. XV. Jahrg. 1880. S. 262 u. 263. 

,# ) Annal. ehern. Pharm. 74. S. 252. 

*•) Handwörterbuch der Chemie. I. S. 901. 

**) Neues Jahrb. der Pharmacie. 1866. 

**) Chem. Centralbl. 1878. S. 107. 


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I 



Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 59 


gegen die Identität beider Alcaloide aus. Schmidt *) spricht für die Identität 
derselben; Ladenburg und G. Meyer 2 ) behaupten die Identität von Daturin, 
Hyoscyamin und Duboisin und später weist Ladenburg nach, dass in Atropa 
Belladonna 2 Alkaloide, ein schweres und ein leichtes vorhanden seien; ersteres 
sei identisch mit dem von Mein, Geiger und Hesse entdeckten Atropin, letz¬ 
teres mit dem Hyoscyamin. Jetzt zeigt auch E. Schmidt 3 ) das Vorkommen vou 
Atropin und Hyoscyamin, resp. Daturin im käuflichen Atropin an. Regnault 
und Valmont 4 ) veröffentlichen eine pharmakologische Arbeit, in welcher sie zu 
nachfolgenden Schlussfolgerungen kommen: 

Das officinelle Atropin besteht in veränderlichen Verhältnissen aus zwei iso¬ 
meren krystallisirbaren Alkaloiden, welche mit den gleichen therapeutischen 
Eigenschaften ausgestattet sind. Das eine ist das Atropin a (Atropin Laden¬ 
burg), das andere sollte Atropin b oder noch besser Atropidin genannt wer¬ 
den; es ist das Hyoscyamin Ladenburg’s. 

Das Atropidin existirt in solchen Mengen in der Belladonna, dass es etwa 
zwei Drittel des krystallisirten Atropins der Pharmakopoe ausmacht. Das Atro 
pidin ist das gemeinschaftliche Alkaloid aller Pupillenerweiterung bewirkenden 
Solaneen. 

Mag sich die Frage nach der Wesenheit der mydriatisch wirken¬ 
den Alkaloide wie immer endgültig entscheiden, so haben wir doch in 
dem im Handel vorkommenden und als Medicament so viel gebrauchten 
Atropin einen Körper von bestimmter Zusammensetzung und ganz 
wohl charakterisirten physiologischen Eigenschaften vor uns, und wir 
werden bei der Betrachtung der durch dasselbe hervorgerufenen Ver¬ 
giftungserscheinungen von dieser hier angedeuteten chemischen Frage 
umso mehr Umgang nehmen können, als das Atropin in derjenigen 
Form, wie es bisher immer dargestellt wurde, auch zur therapeu¬ 
tischen und toxischen Verwendung gekommen ist und auch gegen¬ 
wärtig noch kommt. 

Die bis jetzt zur Beobachtung gekommenen Vergiftungsfalle mit 
dem reinen Alkaloid, dem Atropin und dessen Salzen sind in jüngster 
Zeit in einer dankenswerthen Arbeit von Meinhard Feddersen 8 ) 
gesammelt worden. 

Die Vergiftungsfälle mit Atropin beginnen mit dem Jahre 1850, 
kurze Zeit nachdem White Cooper im Jahre 1844 die Einführung 


*) Ber. der deutsch, chem. Gesellsch. 13. Jahrg. S. 370. 

*) Ebenda. S. 380. 

*) Journ. de Chem. et Pharm. 208. 1883. p. 196 
4 ) Journ. de Chem. et Pharm. Ser. 5. Tome IV. p. 5. 

*) Ingwer Meinhard Feddersen, «Beitrag zur Atropinvergiftung.“ Aus 
dem Laborat. der pharmacol. Sammlung in Kiel. Inaug.-Diss. Berlin 1884. 


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Dr. J. Kratter, 


desselben in die Therapie als Ersatz für die Belladonnapräparate em¬ 
pfohlen hatte. Der erste von Seils') beobachtete Fall wird von 
Taylor mitgetheilt und betrifft einen jungen Mann, welcher durch 
2 grains = 0,1296 Grm. Atropin einen Selbstmord ausführte. Nach 
der von Feddersen 2 ) zusaramengestellten Tabelle ist die Zahl der 
Vergiftungen mit Atropin bisher 103. Die aus diesen Fällen be¬ 
rechnete Mortalität beläuft sich auf 11,7 pCt., was im Vergleich mit 
derjenigen anderer Intoxicationen als eine sehr geringe bezeichnet 
werden muss. 

Was die Aetiologie der Atropinvergiftungen anbelangt, so ergiebt 
sich aus diesen Untersuchungen Folgendes: 


19 absichtliche 


84 zufällige 


t Giftmorde.9 

l Selbstmorde . . . .10, 

/ ökonomische.... 43 

1 medicinale.41, 


davon durch Schuld des Arztes ... 26 

* * „ des Apothekers 2 

* „ „ der Patienten . 13. 


In Bezug auf die Form, in welcher das Atropin genommen 
wurde, vertheilen sich diese 103 Vergiftungsfälle folgendermassen: 


ln Form von Pulver. 

„ „ von Pillen. 

„ „ des Suppositoriums. 

, „ der Salbe. 

„ „ des Linimentes. 

„ „ des Syrups. 

„ * der Lösung in Wasser. . . . 


5 mal, 
7 * 

1 * 

2 * 


86 „ 


und diese vertheilen sich weiter auf: 

Tropfen innerlich zu nehmen.3 * 

Lösung in den Gehörgang zu appliciren 1 „ 

„ zur subcutanen Injection . . . 4 „ 

Augentropfen.53 * 

Unbestimmt (wahrscheinlich Collyrien) 25 „ 

Diese sehr anschauliche und übersichtliche Zusammenstellung er¬ 
giebt mehr, als jede immerhin nicht vollständige Auswahl von Bei- 


*) Siehe Taylor, „Die Gifte.“ Bd. 3. S. 378. 
*) a. a. 0. S. 29. 


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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 


61 


spielen vermöchte, ein deutliches Bild von der Art und Weise, wie 
durch arzneiliche Anwendung des Atropins Vergiftungsfälle zu Stande 
kommen. Wir ersehen daraus vor Allem mit grosser Deutlichkeit, 
dass namentlich der unvorsichtige Gebrauch und die zu wenig sorg¬ 
fältige Hintangabe von Augenwässern an die Patienten Veranlassung 
zur Vergiftung giebt. 

Auch F. A. Falck 1 ) hat eine Zusammenstellung von Vergiftun¬ 
gen mit Belladonna, Hyoscyamus niger und Datura stramonium für. 
12 Jahre gemacht und während dieses Zeitraumes 112 Fälle dieser 
Art gesammelt. Dieselben vertheilen sich zu 38 auf das reine Alka¬ 
loid, 1 Fall auf das in der letzten Zeit ebenfalls therapeutisch be¬ 
nutzte Duboisin, 44 auf galenische Präparate der Atropa Belladonna, 
18 auf Datura stramonium und 11 auf Hyoscyamus niger. 

Nach der Zusammenstellung von Falck beläuft sich das Mor¬ 
talitäts-Percent fast ganz genau dem von Feddersen für die reine 
Atropinvergiftung berechneten auf 11,6. Unter diesen Fällen sind 
absichtliche Vergiftungen 10, und zwar ein Giftmord, 9 Selbst¬ 
vergiftungen. 

Von den zufälligen Vergiftungen werden 30 als ökonomische 
bezeichnet, 33 als solche, welche zwar auch den ökonomischen beizu¬ 
zählen sind, deren Entstehen aber nur ermöglicht ist durch die um¬ 
fangreiche medicinale Anwendung der fraglichen Präparate und endlich 
39 als rein medicinale Vergiftungen, so dass sich aus dieser Zusam¬ 
menstellung ergiebt, dass die weitaus überwiegende Zahl der 
durch giftige Solaneen bewirkten Intoxicationeu den me- 
dicinalen Vergiftungen angehört. 

Unter den von Feddersen und Falck zusammengestellten Fällen 
finden sich einige von hervorragend kriminalistischer Bedeutung; so 
der von Marie Jeanneret 2 ), einer Krankenwärterin, welche, wie es 
scheint, in geistesgestörtem Zustande 8 Personen durch innerliche Dar¬ 
reichung von Atropinaugenwässern vergiftete, von denen 5 Personen 
auch thatsächlich zu Grunde gegangen sind und der von Calvert 8 ) 
beschriebene Fall eines Giftmordes, in welchem eine Wärterin den 
Hospitalbeamten vergiftete, indem sie diesem Atropin in Milch bei¬ 
brachte. 

*) F. A. Falck, Lehrb. der prakt. Toxicologie. Stuttgart 1880. S. 248 u. 249. 

*) Proces criminel contre Marie Jeanneret. Huit empoisonnements. Lau¬ 
sanne 1869. 

*) F. C. Calvert, Pharmac. Joum. 1872. p. 596. 

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Dr. J. Kratter, 


Wenn wir die gesammte Casuistik der Vergiftungen durch Bella¬ 
donna und Atropin überblicken und das in denselben gebotene wissen¬ 
schaftliche Material einer eingehenden Sichtung unterziehen, wie ich 
dies zu thun bemüht war, so ergiebt sich, dass trotz der nicht gerin¬ 
gen Anzahl von bisher beobachteten Fällen, in mancher Richtung die 
volle wissenschaftliche Erkenntniss noch nicht erreicht ist, und dass 
manche, namentlich für die gerichtsärztliche Praxis — und eine nicht 
geringe Anzahl von Fällen hat ja ein praktisch staatsärztliches In¬ 
teresse — wichtige Frage noch immer einer endgültigen Lösung harrt. 

So ist namentlich die wissenschaftliche Ausbeute in Bezug auf 
den pathologischen Befund bei dieser Vergiftung eine sehr geringe, 
wol vorwiegend aus dem Grunde, weil, wie wir eben gezeigt haben, 
die Zahl der tödtlich verlaufenden Fälle an und für sich eine geringe 
ist und weil auch in diesen letzteren Fällen ausführliche Sections- 
berichte in der Regel mangeln. 

Auch in Bezug auf den chemischen Nachweis der geschehenen 
Vergiftung ist die Ausbeute eine geringe, und die Zahl deijenigen 
Fälle, wo Obductionsbefunde und Ergebnisse einer chemischen Unter¬ 
suchung vorliegen, ist eine ganz minimale. 

Aber selbst bezüglich des für die forensische Diagnostik einer ge¬ 
schehenen Vergiftung so wichtigen und zum Theil entscheidenden 
Krankheitsbildes dürften noch manche Einzelheiten sicher zu 
stellen sein. 

Ich glaubte daher, meine eigenen Beobachtungen und Unter¬ 
suchungen hauptsächlich nach diesen drei Richtungen hin führen zu 
sollen und werde versuchen, zu diesem Zwecke eine zum Theil auf 
eigene Beobachtungen gestützte Darstellung 1) der constanten und 
charakteristischen Krankheitserscheinungen, 2) der Leichenerscheinun¬ 
gen und 3) des forensischen Nachweises einer geschehenen Belladonna¬ 
oder Atropin Vergiftung zu geben; denn aus diesen drei Punkten zu¬ 
sammen wird ja in der Regel erst der vollgültige gerichtliche Nachweis 
einer stattgehabten Vergiftung erbracht. 

n. Pie KrankbeitserseheiaungeB der Atrapin-VergiflBBg. 

Die Krankheitserscheinungen bei Vergiftungen durch Belladonna¬ 
präparate und Atropin sind schon seit langer Zeit Gegenstand so¬ 
wohl sorgfältiger ärztlicher Beobachtungen am Krankenbette, als 
auch zahlreicher, theils an Menschen, theils an Thieren vorgenom¬ 
mener experimentellen Untersuchungen und Studien gewesen. Schon 


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Beobachtungen and Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 63 

Rossi 1 ) und F. A. G. Emmert 2 ) haben einflussreiche und entschei¬ 
dende Versuche in Betreff der Wirkungsart und chemischen Zusammen¬ 
setzung von Giften, darunter auch von Belladonna angestellt. 

Namentlich aber war es Orfila 3 ), dessen grosse Verdienste um 
die Begründung der experimentellen Toxikologie hoch anzuschlagen 
sind, der zahlreiche Versuche an lebenden Thieren, vorzüglich an Hun¬ 
den, angestellt hat, wobei es sich um die Ausmittlung der Fragen 
handelte, welche Organe sie ergreifen, welche Veränderungen sie in 
denselben hervorbringen, wie die Erfolge nach den Dosen verschieden 
sind und durch welche Heilmittel man die Wirkungen eines Giftes am 
sichersten zu bekämpfen oder dessen Eingriffe zu verhüten vermag. 
Später stellte E. L. Schubarth 4 ) eine Reihe von Versuchen mit Hun¬ 
den, Katzen, Pferden und Kaninchen an. 

Vor Allem haben auch die Untersuchungen von Hahnemann 5 ), 
welcher bekanntlich der Belladonna eine grosse Verbreitung in seinem 
homöopathischen System zu verschaffen wusste, nicht unwesentlich zur 
Kenntniss der Wirkung derselben beigetragen. 

In neuerer Zeit ist namentlich das reine Alkaloid vielfach und 
eingehend experimentell untersucht worden, und sind da insbesondere 
die aufopfernden Selbstversuche von Schneller und Flechner 6 ), 


*) P. Rossi, „De nonnullis plantis, quae pro venenatis habentur, observa- 
tiones et experimenta.“ Florentiae instituta Pisis. 1762. 

*) F. A. G. Emmert in Hafeland’s Journal der prakt. Heilkunde. 1814. 
Bd. 39, sowie in Meckel’s Arch. für die Physiol. Bd. 1. 1815. S. 176—187 
und ebenda Bd. 4. 1818. S. 165—212. 

*) Orfila, „Trait6 des poisons tir6s des regnes mineral, v6g6tal et animal“, 
ou „Toxicologie g6n6rale“ consideree sous le rapport de la Physiologie, de la 
Pathologie et de la m6decine. Paris 1814. Tom. I. et II. Part I.—IV. Ferner: 
„Le^ons faisant partie du Cours de m6decine legale, ouvrage orn6 de vingt-deux 
planches.“ Paris 1821. 8. 

*) E. L. Schubarth in Horn’s Archiv für Med. Erf. 1823. Nov. S. 399 
und 1824. Jan. S. 53. 

®) Hahnemann, „Organon der Heilkunde.“ 3. Aufl. Dresden 1824, und 
namentlich dessen: Fragmenta de viribus medicamentorum positivis, sive in sano 
corpore observatis. Lips. 1805; später erweitert durch die „Reine Arzneimittel¬ 
lehre“, Dresden 1811, darin handelt er weitläufig ab im 1. Theile Belladonna. 
Vergl. auch: „Heilung und Verhütung des Scharlachfiebers.“ Gotha 1801. 

*) Schneller und Flechner, „Beiträge zur Physiologie der Arzneiwirkun¬ 
gen.“ Zeitschr. der Wien. Aerzte. Juni 1847. 


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64 


Dr. J. Kratter, 

sowie von Bouchardat'), Cooper 2 ), Lusanna 3 ) und Tissore 4 ) 
und die Untersuchungen von Schroff sen. s ) an jungen Medicinern 
hervorzuhebeu neben den experimentell-physiologischen Untersuchungen 
von Bezold und Bloebaum 6 ), ferner von Keuchel 1 ), Heiden¬ 
hain 8 ), Rossbach und Fröhlich 9 ), Schmiedeberg 10 ), Böhm“), 
Jones’ 2 ), Hayden’ 3 ), Meuriot 14 ), Zeiss’ 5 ) und Anderen. 

Durch diese Untersuchungen sind wir verhältnissmässig sehr ge¬ 
nau unterrichtet über den ganzen Symptomencomplex, wie er bei der 
Atropinvergiftung zur Beobachtung kommt und können auch nach dem 
Ergebnisse der experimentellen Studien der genannten Forscher die 
physiologischen Vorgänge ziemlich genau erklären. 

Die Reihenfolge der wichtigsten Vergiftungserscheinungen stellt 
sich demnach folgendermassen heraus: 

Subjectiv treten zuerst Trockenheit in der Mundhöhle und Kratzen 
im Halse auf, dem sich bald als objective Symptome belegte Zunge, 
Heiserkeit, erschwertes Schlingen und Sprechen, Ekel und Brechnei¬ 
gung anreihen. Diese ersten Erscheinungen werden schon etwa 15 Mi- 


1 ) Annuaire de tbßrapeutique. 1841 und 1860. 

2 ) Stuart Cooper, „Recherches opt. physiolog., therapeut. et pbarmac. sur 
l’Atropine.“ Gaz. m6d. de Paris. 1848. No. 51 et 52. 

*) UnioD raedic. 1851. No. 77. 

4 ) Tissore, „Empoisonnement par la Belladonna.“ Gaz. med. de Paris. 
1856. No. 12. 

8 ) v. Schroff, „Ueber Belladonna, Atropin und Daturin. 41 Zeitschr. d. Ges. 
der Aerzte in Wien. 1852. Ferner „lieber Mydriatica und das Yerbältuiss des 
Hyoscyamins zum Atropin.“ Ebenda 1868. 

6 ) Untersuchungen aus dem physiol. Laboratorium in Würzburg. I. 1867. 

7 ) Keuchel, „Das Atropin und die Hemmungsnerven.“ Inaug.-Diss. Dorpat 1868. 

8 ) Archiv für Physiol. V. 40. 

y ) Rossbach und Fröhlich, Verhandl. d. nat. med. Ges. in Würzburg. V., 
sowie Rossbach später „Weitere Untersuchungen über die physiol. Wirkung des 
Atropins u. Physostigmins.“ Archiv f. Physiol. Bd. 10, S. 383 und Fröhlich 
und Harnak, „Ueber die physiol. Wirkungen des Atropins und Physostigmins 
auf Pupille und Herz.“ Verhandl. der Würzb. phys. med. Ges. N. F. Bd. 5. 1873, 
auch in den Arbeiten aus der phys. Anstalt zu Leipzig. V. 41. 

10 ) Ber. der Sachs. Acad. d. Wiss. Math. phys. CI. 1870. S. 129. 

n ) Böhm, „Studien über die Herzgifte.“ Würzburg 1871. S. 14. 

ia ) Edinburgh med. journ. 1863. 777. 

13 ) Dublin, quart. journ. 1863. Aug. 51. 

u ) Gaz. hebdom. 1868. No. 12, 15, 16. 

15 ) Zeiss, „Ueberd, Wirkung des Atropinsauf den Puls.“ Inaug.-Diss. Jena 1875. 


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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 65 

nuten nach der Vergiftung beobachtet; wie Tissore') angibt, gesellt 
sich sehr bald auch starker Durst dazu. 

Früh treten auch Erscheinungen von Seiten des Gehirns 
hinzu, wie Schwindel, Kopfschmerz, leichte Betäubung und geistige 
Verstimmung, Abgeschlagenheit, Gesichts- und Gehörshallucinationen 
des verschiedensten Inhalts, nicht selten heiterer Natur. 

Ebenso sind die Störungen des Sehorgans ziemlich frühzeitig 
zu beobachten. In Folge der wichtigsten Wirkung der Belladonna¬ 
präparate stellt sich Erweiterung der Pupille und dadurch eine Reihe 
von unangenehmen Symptomen seitens des Gesichtes ein, wie Nebel¬ 
sehen, Schwachsichtigkeit u. s. w. Wichtig sind auch die auf der 
äusseren Haut auftretenden Symptome, als Trockenheit, scharlach¬ 
artige Röthe derselben, Gedunsenheit und hochgradige Röthung des 
Gesichtes, zeitweilig ödematöse Schwellung. 

Alle diese Symptome steigern sich natürlich bei schweren Ver¬ 
giftungen zu enormer Höhe, und so sind namentlich die Schling¬ 
beschwerden oft so bedeutend, dass das Unvermögen auch nur 
Flüssigkeiten zu schlucken (Aphagie) vorhanden ist. 

Wichtig sind die Symptome, welche sich im Gebiete des Ge- 
fässsytems bemerkbar machen. Es ist dies namentlich eine enorme 
Beschleunigung der Herzbewegung, so zwar, dass der Puls bis zu einer 
Höhe von 150, ja nach einigen Angaben bis zu 190 Pulsschlägen in 
der Minute steigen kann. Dabei pulsiren die Halsgefässe heftig, die 
Bulbi werden hervorgetrieben und die Conjunctiva stark injicirt. Diese 
heftige Alteration des Gefässsysteras ist die Ursache der an der Haut 
auftretenden Erscheinungen. Dieselbe ist livid und heiss und bald 
stellt sich auch das Scharlach artige Exanthem ein. Die Schweissbil- 
dung ist vollkommen unterdrückt. Dem Zustande des Herzens und 
der Gefässe entsprechend ist der Puls anfänglich sehr voll und hart, 
wird jedoch später weich und leicht unterdrückbar. 

Bezüglich eines wichtigen objectiven Symptoms, nämlich des 
Verhaltens der Körpertemperatur sind die Angaben verschie¬ 
dener Autoren widersprechend. Schon Schroff sen. 2 ) gibt mit Be¬ 
stimmtheit an, dass die Temperatur stets vermindert sei; dasselbe 


') Tissore, Empoisonneraent par la Belladonne. Gaz. raod. de Paris. 1856. 
No. 12. 

*) Zeitschr. der Ges. der Aerzle in Wien. 1852. 

Vierteljalirsschr. f. «er. Med. N. F. XLIY. 1. ^ 


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66 


Dr. J. Kratter. 


behauptet auch v. ßoeck 1 ). Dagegen finden sich aber auch bestimmte 
Angaben darüber vor, dass eine Erhöhung der Temperatur ein- 
tritt. Ich habe diesem Umstande eine besondere Aufmerksamkeit zu- 
gewendet, und wir werden bei Besprechung der weiter unten mitzu- 
theilenden Vergiftungsfälle auf diesen, wie ich glaube für die Diagnose 
nicht unwichtigen Punkt, noch zurückkommen. 

Auch die Respiration ist geändert, indem anfangs Verlang¬ 
samung, später constant Beschleunigung beobachtet wird. 

Bezüglich der psychischen Functionen wäre nur noch zu er¬ 
wähnen, dass im Verlauf der Vergiftung die anfangs oft furibunden 
Delirien, welche das Bild eines mit Delirien verbundenen rauschartigen 
Zustandes machen, später einem Zustande von Müdigkeit, Schläfrig¬ 
keit und oft auch wirklichem Schlafe Platz machen. Es ist dies bei 
schweren Vergiftungen das Stadium der Narkose, welches bald in 
einen soporösen Zustand übergeht, der entweder verschwindet oder bis 
zum Tode andauert. Der Tod tritt durch Horzparalyse ein. 

Das wichtigste Symptom der Atropin Vergiftung ist wohl zweifel¬ 
los die Pupillenerweiterung, welche bekanntlich bei innerer An¬ 
wendung beiderseits, bei localer Application in einem Auge einseitig 
erfolgt. Sie wurde nach einer Angabe von Weber 2 ) durch Ray 
zuerst entdeckt und tritt bei Application in den Conjunctivalsack schon 
bei ungemein kleinen Dosen auf, ein Umstand, der namentlich für den 
Nachweis des Giftes von grosser Wichtigkeit ist und der noch im 
Weiteren besprochen werden wird. 

Die Wirkung des Atropins auf die Iris hat ihren Sitz in dieser 
selbst, nicht in deren entfernteren Centren. Es geht dies schon aus 
dem Erfolge der monoculären Instillation, noch schöner aber aus dem 
Versuche von Flemraing 3 ) hervor, der nachwies, dass bei vorsich¬ 
tiger Auftragung des Giftes die Erweiterung an der entsprechenden 
Stelle zuerst auftritt, sowie aus dem Experiment von de Ruitcr 4 ), 
nach welchem noch am ausgeschnittenen Auge von Fröschen Mydriasis 
durch Auftragung des Giftes erzeugt wurde. Dasselbe gelangt in das 
Innere des Augapfels und ist hier von de Ruiter in seinen unter der 


1 ) v. Ziemssen’s Ifandb der spcc. Patli u. Thor. XV. Bd. Intoxicationen. 
I. Aufl. Leipzig 1870. S. 857. 

2 ) Hisloria plantarum. I 080. 

3 ) Edinburgh, nud journ. 1S03. S. 777. 

4 ) Nederlandsch Lancet UI. S. 483; auch in Onderzoekingen gedaan in het 
physiolog. labor. d<*r UtivchtAscht} Hoogeschool VI. (1853 — 54) S. 83. 


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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 67 


Leitung von Donders Angestellten Untersuchungen im Humor aqueus 
nachgewiesen worden. 

In welcher Weise diese Pupillenerweiterung bewirkt wird, ist zum 
Theil noch eine wissenschaftliche Controverse. Hermann 1 ) sagt 
darüber Folgendes: 

„Da der Zustand der Pupille die Resultante aus dem tonischen 
Contractionszustande des Sphincter und Dilatator ist, deren ersterer 
vom Oculomotorius, letzterer vom Syrapathicus beständig erregt wird, 
so kann die Erweiterung durch Atropin abgeleitet werden: a) von 
Lähmung des Sphincter oder der Oculomotoriusenden in demselben, 
b) von krankhafter Erregung des Dilatator oder der Sympathicusenden 
in demselben.“ An diesen Controversen haben sich zahlreiche Beob¬ 
achter, wie Bernstein und Dogiel 2 ), Cramer 3 ), Grünhagen*), 
H. Braun 5 ), Hirschmann 6 ) und Botkin 1 ) betheiligt. Aus den 
Untersuchungen derselben geht hervor, dass eine Lähmung im Sphincter- 
system al s sicher angenommen werden muss, während die gleichzeitige 
Erregung im Dilatatorsystem zweifelhaft ist. 

Obschon nun durch diese vielfachen und eingehenden Beobach¬ 
tungen und Untersuchungen sowohl die Symptomatologie der Atropin¬ 
vergiftung, wie auch die physiologische Erklärung der wichtigsten 
Phänomene derselben bereits ziemlich genau und zum Theil in ein¬ 
gehender Weise erforscht sind, so dürfte dennoch die Mittheilung der 
von mir beobachteten Fälle nicht ganz ohne Interesse sein, weil es 
mir möglich sein wird, auf Grund dieser eigenen Beobachtungen einige 
hervorragende Symptome einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, 
und namentlich einen kleinen Beitrag zu der für die gerichtsärztliche 
Praxis besonders wichtigen Frage der Differentialdiagnose zu 
geben. 

Es ist nämlich sicher für die ärztliche, sowie für die gerichts¬ 
ärztliche Beweisführung von ausserordentlicher Wichtigkeit, dass wir 
in der Lage sind, durch wohl charakterisirte und zweifellose Symptome 


! ) Hermann, Lehrb. der experimentellen Toxicologie. Berlin 1S74. S. 333. 

*) Verhandl. d. nat.-med. Vereins zu Heidelberg. IV. S. 28. 

*) Cramer, Het accommodatic-vermogcn der oogen. Ilarlem 1853. 

4 ) Centralbl. f. d. medic. Wissensch. 1863. S. 577. 

5 ) Archiv f. Ophthalmologie. V. S. 112. 

6 ) Archiv f. Anat. u. Phys. 1863. S. 309. 

7 ) Botkin, „Ueber die physiol. Wirkung des Schwefels Atropins.“ Virchow’s 
Archiv Bd. XLII. 1862. 


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(58 


Dr. J. Kratter. 


eine Vergiftung von der anderen zu scheiden; denn es ist nicht ganz 
ungewöhnlich, dass wir bei der Beweisführung für eine stattgehabte 
Vergiftung uns ausschliesslich auf die Symptomatologie derselben zu 
stützen genöthigt sind, da bei einer grossen Anzahl von Vergiftungen 
der pathologische Befund weniger charakteristisch ist, und für sich 
allein nichts zu beweisen vermag und es auch manchmal unmöglich 
ist, den chemischen oder physiologischen Nachweis einer stattgefun¬ 
denen Vergiftung thatsächlich zu erbringen. 

Die Fälle, in welchen ich Vergiftungssymptome selbst zu beob¬ 
achten Gelegenheit hatte, oder wo ich an der Untersuchung durch 
Bearbeitung des chemischen Theiles mitbetheiligt war und wo mir die 
bezüglichen Krankengeschichten von Collegen gütigst zur Verfügung 
gestellt wurden, sind folgende: 

1. Fall. Medicinale Vergiftung durch Extractum Belladonnae 
als Hustenpulver verabfolgt. 

Fräulein M. G.. 22 Jahre alt, litt an Bronchialkatarrh unter Mitaffection des 
Kehlkopfes. Es wurde der Patientin ordinirl Extractum Belladonnae 0,15 in 10 
Dosen, also 0,015 pro dosi, zweistündlich ein Pulver zu nehmen. Nachdem Pa¬ 
tientin allerdings in etwas zu rascher Aufeinanderfolge im Laufe des Tages 
7 Pulver genommen hatte, stellten sich am Abend folgende Erscheinungen ein: 

Das Gesicht auffallend geröthet, etwas turgescirend, Zunge trocken und be¬ 
legt, Schlingbeschwerden im Halse und das Gefühl krfmpfhaften Zusammen- 
ziehens mit Schwierigkeit Wasser zu schlucken; Gefühl von Hitze am ganzen 
Körper, ängstliche Beklommenheit und vor Allem Undeutlichkeit des Sehens, 
welches Symptom sich schon am Nachmittag eingestellt hatte und Patientin, die 
fieberfrei war, verhinderte zu lesen. Die Untersuchung ergab eine ziemlich be¬ 
trächtliche Erweiterung der Pupillen. Puls 120, die Haut heiss, trocken und 
geröthet, die Rachengebilde intensiv roth und trocken; sonstige Erscheinungen 
waren nicht vorhanden. 

Dieser Fall ist deswegen beachtenswerth. weil er ein Beispiel für eine ganz 
abnorme Indiosynkrasie gegen Belladonna ist, denn die im Laufe des Tages ein¬ 
genommene Menge von Belladonnaextract ist eine solche, dass dabei wol in 
der Regel Intoxicationserscheinurigen nicht beobachtet werden. Dass aber boi 
verschiedenen Individuen eine ganz abnorm gesteigerte Empfindlichkeit gegen 
Belladonnapräparate vorhanden ist, das ist eine sehr oft beobachtete Erschei¬ 
nung. Hervorheben möchte ich an dem Falle noch, dass frühzeitig und wie 
es scheint als erstes von der Patientin unangenehm gefühltes Symptom der Ver¬ 
giftung die Pupillenerweiterung auftrat. Der Fall ist an sich eine leichte 
medicinale Vergiftung, welche auf kalte Ueberschläge am Kopfe und nach Ersatz 
der Belladonnapulver durch Morphinpulver in wenigen Stunden, wie dies ja bei 
vielen derartigen Vergiftungen zu geschehen pflegt, ohne jeden weiteren Nach¬ 
theil für die Patientin schwand; nur die Pupillenerweiterung hielt fast 24 Stun¬ 
den an. Nach Ablauf dieser Zeit war auch das volle Accommodationsvermögeu 
der Augen wieder hergestellt. 


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Beobachtu?',gen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 69 


2. Fall. Medicinale Vergiftung durch Anwendung vonSuppositorien 
mit Extractum BeJladonnae. 

Ich batte die 48jährige Maurersfrau Katharina F. an einer intensiven 
Ischias seit mehreren Wochen in Behandlung. Die neuralgischen Schmerzen der 
ziemlich stark abgemagerten, herabgekommenen und blutarmen Patientin waren 
deswegen sehr heftige und keiner Medication weichende, weil die Ischias bedingt 
war durch directen Druck einer carcinomatösen Neubildung, welche sich in der 
linken Seite des Beckens entwickelt und, wie die etwa 10 Wochen später vorge¬ 
nommene Obduction ergab, den Nervus ischiadicus sinister in einer ziemlichen 
Ausdehnung vollkommen mitdegenerirt hatte. Ich verschrieb derselben eines Ta¬ 
ges 10 Stück Suppositorieu von Cacaobutter mit je einem Gehalte von 0.05 Bella- 
donnaextract, und der Weisung, täglich 2 bis 3 Stuhlzäpfchen einzuführen. Pa¬ 
tientin applicirte sich gegen die stricte Verordnung im Laufe des Tages 7 der 
verschriebenen Suppositorien. Als ich sie Abends besuchte und zwar auf drin¬ 
gende Aufforderung der Angehörigen, welche erklärten, Patientin sei tobsüchtig 
geworden, fand ich folgende höchst auffällige Krankheitserscheinungen: 

Die sonst durch ihre Blässe auffallende Frauensperson war hoch geröthet 
und gedunsen im Gesichte; sie warf sich unruhig im Bette hin und her. redete 
ununterbrochen das tollste Zeug untereinander, schrie, drohte, lachte, weinte, 
raisonnirte und bot in der That das Bild einer Rasenden. Wiederholt war sie 
aus dem Bette gesprungen, ohne dabei eine Schmerzensäusserung zu machen 
und musste mit Gewalt zurückgebracht werden, während sie sonst bei jeder ge¬ 
ringen Bewegung der linken Extremität heftige Schmerzen empfand und daher 
jede Bewegung mied. Der Puls war voll, hart, 130 in der Minute, die Pupillen 
maximal erweitert und auf Lichtreiz nicht reagirend. Die Bewusstseinsstörung 
war eine vollkommene, und selbst auf laute Anfragen gab Patientin nur unver¬ 
ständliche und nicht zur Sache gehörende Antworten. Die Athembewegung be¬ 
trächtlich beschleunigt, 40 in der Minute, die Haut überall heiss anzufühlen, die 
Extremitäten und der ganze Körper in fortwährender, unruhiger Bewegung. 

Es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass es sich um eine 
schwere Atropinintoxication handle und durch die Wahrnehmung, dass 
bereits 7 der verordneten Suppositorien verbraucht waren, war die 
Aetiologie der Vergiftung sofort klar. Die Vergiftungserscheinungen 
hielten in diesem Falle trotz sofortiger Morphininjectionen und Appli¬ 
cation von kalten Umschlägen mit erst gegen Morgen abnehmender 
Intensität im Ganzen 24 Stunden an, während die Pupillenerweiterung 
3 Tage dauerte. Das volle Bewusstsein kehrte auch erst am 2. Tage 
zurück. 

Ich habe in diesem Falle während der Dauer der Vergiftung fünf 
Temperaturmessungen in der Axelhöhle vorgenommen, welche Folgen¬ 
des ergaben: 

7 Uhr Abends 38,5, HO Uhr Abends 38,9, 6 Uhr Früh 38,2, 
12 Uhr Mittags 37,5, 7 Uhr Abends 37,1. 


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Dr. J. K ra tte r. 


Es ist somit in diesem Falle eine während der ganzen Dauer 
der Vergiftung anhaltende Temperaturerhöhung von bis zu 
2 Graden über die Normaltemperatur, welche bei der Patientin in der 
Regel 36,5 0 betrug, constatirt. Es ist dieser Fall auch noch deswegen 
beachtenswerth, weil er, was allerdings auch anderwärts schon beob¬ 
achtet worden ist, den Beweis liefert, dass die Resorption des 
Giftes auch vom Mastdarm aus so erfolgt, dass dadurch Vergif¬ 
tungserscheinungen der heftigsten Art, ja von solcher Intensität her¬ 
vorgerufen werden können, wie bei der Aufnahme des Giftes durch 
den Magen oder bei subcutaner Injection desselben. 

Dieser Fall erinnert an den von Schüler 1 ) mitgetheilten, wo 
ebenfalls durch Stuhlzäpfchen die Vergiftung veranlasst wurde, nur 
mit dem Unterschiede, dass dort durch Schuld des Apothekers eine 
Verwechslung von Belladonnaextract mit Atropin stattfand. Wie leicht 
übrigens das Atropin in den Organismus übergeht und Vergiftungs¬ 
erscheinungen hervorruft, beweist der interessante Fall von Ploss 2 ), 
welcher nach Application von 0,18 Gramm Atropins in Form einer 
Salbe auf die äussere Haut in der Halsgegend, allerdings nach Ent¬ 
fernung der Epidermis applicirt, eine schon nach zwei Stunden tödt- 
lich verlaufende Vergiftung beobachtete. 

3., 4. und 5. Fall. Oekonomische Vergiftung durch atropinhaltigen 

Roob spinae. 

Einen höchst interessanten Beitrag zu der Atropinvergiftung liefert der fol¬ 
gende Fall, wo 3 Personen fast gleichzeitig dadurch einer schweren Atropin- 
intoxication verfielen, dass sie von einem hiesigen Apotheker ohne ärztliche Ver¬ 
schreibung den an und für sich gewiss nicht gerade giftigen officinellen Roob 
spinae, welcher unter der landesüblichen Bezeichnung „Kreuzbeersalse“, wie 
es scheint, häufig auf dem Wege der Selbstdisposition von den Apothekern als 
Abführmittel an Parteien hintan gegeben wird, ausgefolgt erhielten. 

Am 7. April 1880 k 11 Uhr Vormittags erstattete der praktische Arzt 
Engelbert Busbach an das Grazer Stadtphysikat die Anzeige, dass er zu der 
Schuhmachersgattin Josefine Probst und der bei ihr wohnhaften Pflasterersgattin 
Anna Prean gerufen wurde, welche beide nach dem Genüsse von „Kreuzbeersalse“ 
unter Vergiftungssymptomen erkrankt seien. Die sogleich vorgenommenen Er¬ 
hebungen ergaben, dass die Pflasterersgattin, Anna Prean, die zugleich Hebamme 
ist, der Josefine Probst, welche erst einige Tage vorher entbunden hatte, anrietb, 
Kreuzbeersalse zu nehmen, worauf der Gatte der letzteren aus einer hiesigen Apo¬ 
theke solche holte. Sowohl die Hebamme als auch die Schustersfrau haben davon 
eine nicht genau bekannte Menge genommen. Gleich darauf kochte die Hebamme 


*) Berl. klin. Wochenschrift. 17. Jahrg. 1880. S. 658. 
s ) Schmidt*« Jahrbücher Bd. 126. 1864. S. 282. 


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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 


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einen schwarzen Kaffee, von dem sie ebenfalls beide tranken. Nach nicht langer 
Zeit stellten sich Uebelkeiten ein, so dass sie zu Bette gebracht werden mussten. 
Auf Anordnung des herbeigerufenen oben genannten Arztes wurden beide Frauen 
dem städtischen Spital übergeben. Aus der Einvernehmung des Gatten der er¬ 
krankten Hebamme ergab sich, dass beide Frauenspersonen sich am Morgen des 
genannten Tages vollkommen wohl befanden. Ungefähr um k 8 Uhr wurde von 
ihm die erwähnte „Kreuzbeersalse“ geholt und von den beiden Frauen sofort 
eingenommen. Als sich der Mann um 9 Uhr wieder zu Hause einfand, fand er 
seine Frau im Hofe des Hauses bewusstlos liegen, worauf er sie in’s Bett trug und 
den Arzt herbeirief. Die Wöchnerin fand er zwar im Bette, doch ebenfalls ganz 
bewusstlos. Das Gesicht der beiden Frauen war nach seiner Angabe entstellt, 
dunkelblau gefärbt, die Hände ebenfalls livid und eiskalt. 

Bei der Uebernahme in’s Spital ergab sich folgender Status praesens fast 
vollkommen übereinstimmend bei beiden Patientinnen: Ausser der Bewusstlosig¬ 
keit eine ziemlich bedeutende Beschleunigung des kleinen, harten Pulses, Tur- 
gescenz des Gesichtes, allgemeiner Collaps, hochgradige Erweiterung der Pupillen, 
die auf Lichtreiz nicht reagirten. Bald stell!en sich theilweise furibunde Delirien 
ein, welche sich bis gegen Abend desselben Tages verloren, während Schwindel. 
Schwachsichtigkeit. Doppelsehen, grosse Mattigkeit, Gefühl von Kratzen und 
Trockenheit im Schlunde noch bis zum folgenden Tage anhielten. An demselben 
Tage ereignete sich in einem anderen, weit abgelegenen Theile der Stadt fol¬ 
gender Fall: 

Die 45jährige Vereinsdienersgaltin Josefa Köttl wurde, nachdem sie bei 
Bereitung des Morgenkaffees um 9 Uhr früh plötzlich bewusstlos zusammenge¬ 
stürzt war. der Beobachtungsabtheilung des allgemeinen Krankenhauses über¬ 
geben. 

Die sofort unabhängig von dem vorigen Falle vorgenommenen Erhebungen 
ergaben, dass auch diese Patientin, nachdem sie am Morgen Kreuzbeersalse, 
welche in derselben Apotheke gekauft worden war, zu sich genommen hatte, in 
der gedachten Weise plötzlich erkrankte. 

Aus der auf der Beobachtungsabtheilung aufgenommenen Krankengeschichte 
hebe ich als wichtigste Momente folgonde hervor: Bei der Aufnahme war die 
Temperatur 37,8, Patientin ist schwindlig, jedoch auf Befragen im Stande ihre 
Generalien richtig anzugeben, wobei sie jedoch leicht in Verwirrung geräth und 
andere Dinge dazwischen spricht. Beim Reden fallen ihr die richtigen Worte 
nicht ein. sie merkt jedoch selbst, dass sie mit dem Sprechen nicht fertig wird 
und die Worte vergisst, worüber sie dann hell auflacht. Sie verliert in ihrer 
hastig bervorgestossenen Erzählung leicht den Faden und spricht dazwischen von 
anderen Dingen; dabei ist ein grosser Bewegungsdrang vorhanden; sie klaubtauf 
der Decke herum, mit unsicherer Hand zufassend und dann wieder loslassend. 
Das Bewusstsein ist offenbar in ziemlich hohem Grade gestört. 

Somatisch ergiebt sich eine Erweiterung der Pupillen, die sich auf 
Lichtreiz kaum merklich contrahiren, die Zunge stark belegt , übler Geruch aus 
dem Munde vorhanden, im Nacken und an den Händen, die sich heiss und trocken 
anfühlen, ein juckendes Eczem. Puls 120, hart, gespannt. 

In den Nachmittagstunden ist sie etwas aufgeregter, ängstlich, zitiert am 


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Dr. J. Kraiter, 


ganzen Leibe, steht oft vom Bette auf, hat einen grossen Bewegungsdraug und 
zeigt nur deliröses Bewusstsein. Puls 92, Temperatur 38,2. 

Es war sofort die Diagnose Hyperaemia cerebri ex intoxicatione 
cum Belladonna gestellt worden. Auf entsprechende Medication wichen 
die Erscheinungen am nächsten Tage: Patientin wurde lucid und am 
übernächsten Tage geheilt entlassen, obschon die Pupillenerweiterung 
zu dieser Zeit noch nicht vollkommen gewichen war. Es hatte sich 
jedoch volles Bewusstsein eingestellt. Bemerken muss ich noch, dass 
auch in diesem Falle eine über 24 Stunden andauernde Stei¬ 
gerung der Temperatur beobachtet wurde. 

Nachdem die von verschiedenen Aerzten (die beiden erstgenann¬ 
ten Patienten waren in einem andern, nämlich im städtischen Spitale 
von anderen Aerzten behandelt worden) beobachteten Krankheitssyra- 
ptome die Diagnose einer stattgehabten Atropin Vergiftung fast zwei¬ 
fellos sicher bewiesen hatten, kam es darauf an zu untersuchen, wie 
die betreffenden Patientinnen zum Gifte gekommen waren. Es wurde 
daher sowohl der Kaffeerest und Kaffeesatz in beiden Fällen dem In¬ 
stitute für Staats-Arzneikunde zur Untersuchung übergeben, als auch 
die noch vorhandenen Reste der Kreuzbeersalse. Der Kaffee wurde 
vollständig frei befunden, dagegen ergab sich, dass der Rest der 
„Kreuzbeersalse“ in beiden Fällen Atropin enthielt. Ich 
komme später auf diese von mir angestellten Untersuchungen noch 
zurück. 

Es war nun von vornherein gar nicht abzusehen, wieso ein Roob 
spinae atropinhaltig sein könne. In rühmenswerther Weise wurde nun 
in der betreffenden Apotheke von Seite des Herrn Stadtphysikus Dr. 
Ritter v. Plazer, dem ich an dieser Stelle für die freundlich ge¬ 
stattete Einsichtnahme in die gcsammten Acten dieses Falles bestens 
danke, genaue Erhebungen gepflogen und es ergab sich, dass ein 
Theil der Kreuzbeeren, aus welchen der Apotheker ganz lege artis 
den Roob spinae dargestellt hatte, durch beigemischte Bella¬ 
donnabeeren verunreinigt war. Der Apotheker hatte die Roh- 
waare von einem Kräuterhändler bezogen und es ist nicht möglich, 
weiter auszuforschen, wieso diese Beimischung erfolgte. Zweifellos 
war die Salse auf diese Weise atropinhaltig geworden. Es ist nur zu 
verwundern, dass nicht mehrere Personen durch diese Salse vergiftet 
wurden. Weiteres Unheil allerdings wurde durch sofortige Confiscation 
der vorhandenen Vorräthe verhütet. 

Dieser gewiss eigcnthümliche Fall hat die steiermärkische Statt- 


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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 73 

halterei veranlasst, die Sache in einer besonderen Verordnung bekannt 
zu geben und zu bestimmen, dass, um solchen Unglücksfällen in Zu¬ 
kunft möglichst vorzubeugen, alle Apotheker und Hausapotheken füh¬ 
rende Aerzte verpflichtet seien, falls sie sich mit Bereitung solcher 
Salsen befassen, die bezüglichen Früchte nur von verlässlichen Ein¬ 
sammlern zu beziehen und dieselben jederzeit einer genauen Besichti¬ 
gung vor der Anwendung zu unterziehen. (K. k. steierm. Slatth Ver¬ 
ordnung vom 17. Mai 1880. Z. 7382.) 

6. Fall. Selbstvergiftung durch Genuss von Belladonnabeeren. 

Am 24. September 1883 war der 60jährige Knecht Andreas Hebenstreit 
mit acuten Intoxicationserscbeinungen in’s allgemeine Krankenhaus in Graz auf¬ 
genommen worden. Wie die Begleitung angibt, war Patient am vorigen Tage 
vollkommen wohl. Am 23. September Nachmittags soll er, ob absichtlich oder 
nicht ist unentschieden, Tollkirschenbeeren genossen haben. In der darauf fol¬ 
genden Nacht fing er plötzlich heftig zu toben an, erhob sich von seinem Bette, 
schlug umher, schrie und lärmte und stürzte endlich zusammen, wobei ersieh 
zahlreiche Excoriationen zuzog. Der kräftig gebaute, gut genährte Patient war 
vollkommen bewusstlos, mit Muskelzuckungen an allen Extremitäten, die Pupillen 
ziemlich stark erweitert, auf Lichtreiz wenig reagirend; die Haut sehr heiss und 
trocken, überall, namentlich im ganzen Gesichte stark geröthet: Temperatur be¬ 
trächtlich erhöht. 40°; Puls kräftig, sehr frequent. Er erhielt 0,02 Morphin sub- 
cutan und da er nicht erbrochen hatte, wurde die Magenpumpe applicirt. Der 
vollkommen bewusstlose Patient war so unruhig und zeigte einen so grossen Be¬ 
wegungsdrang, dass ihm die Zwangsjacke angelegt werden musste. Abends er¬ 
hielt er die gleiche Menge Morphin subcutan. Am nächsten Tage war er theil- 
weise bei Bewusstsein, klagte über grosse Mattigkeit, versank aber bald wieder 
in den soporösen deliranten Zustand. Unwillkürlicher Abgang von Harn und 
Faeces. Trotz der angewandten Medication ist Patient am nächstfolgenden Mor¬ 
gen verschieden. Die in diesem Falle sehr genau aufgezeichneten Temperaturen 
waren folgende: Am 4. 8 Uhr Abends 40°, am 5. 12 Uhr Nachts 39°, 8 Uhr 
Vormittags 39°, 4 Uhr Nachmittags 39,5°, am 6. 12 Uhr Nachts 38,2°. 8 Uhr 
Vormittags 39°. Um 11 Uhr erfolgte nach vorangehendem stundenlangen Sopor, 
aus dem Patient durch kein Mittel aufzurütteln war. unter den Zeichen beginnen¬ 
der Herzschwäche und endlicher Paralyse des Herzens der Tod. Auch in diesem 
Falle habe ich die chemische Untersuchung vorgenommen, von welcher später 
berichtet werden wird. 

Die hier raitgetheilton Fälle bieten besonders hervorragende Eigen¬ 
tümlichkeiten nicht dar; die beobachteten Symptome sind grössten- 
theils Bestätigungen längst bekannter und festgestellter Thatsachen; 
es sind nur wenige Punkte, die ich auf Grund dieser Krankengeschichten 
erörtern will. Vor Allem ist das die besonders in gerichtsärztlicher 
Beziehung wichtige Frage: „Sind die Symptome der Atropinvergiftung 


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74 


I)i. J. K ratte r, 


unter allen Umständen so charakteristisch, dass durch sie allein der 
Beweis einer stattgehabten Vergiftung mit voller Sicherheit erbracht 
werden kann, oder nicht?“ Ich glaube diese Frage bejahen zu können. 
Die Atropinvergiftung gehört zu denjenigen Intoxicationen, welche 
einen Symptoraencomplex auslösen, der in jedem Falle, ob die Ver¬ 
giftung eine leichte oder schwere ist, hinreichend charakteristisch und 
constant ist, um eine sichere Diagnose zu gestatten. In unseren Fäl¬ 
len 3, 4 und 5 war die Aetiologie keineswegs von vornherein klar» 
und dennoch war die Diagnose bestimmt gestellt worden, so dass ge¬ 
rade diese zur Aufhellung der Aetiologie führte, indem die Recherchen 
in einer ganz bestimmten Richtung angestellt werden konnten, nach¬ 
dem man wusste, um was es sich handle. Es dürfte also klinisch die 
Vergiftung mit Belladonna oder Atropin kaum je verkannt werden. 

Das wichtigste und entscheidendste Symptom ist die Pupillen¬ 
erweiterung, welche in leichten Vergiftungsfällen (Fall 1) auch das 
fast einzige Vergiftungssymptom sein kann. Es hält auch am längsten 
an und kanu oft selbst nach Tagen noch beobachtet werden. Da es 
aber noch eine Reihe anderer pupillenerweiternder Gifte und Alkaloide 
gibt, von denen oben die Rede war, so entsteht die Frage, ob es 
möglich ist, zu entscheiden, durch welche dieser Substanzen eine con- 
crete Vergiftung veranlasst worden sei. Hier wird wol in der Regel 
aus den blossen Symptomen eine sichere Entscheidung nicht zu treffen 
sein; man ist demnach, nur auf diese allein gestützt, wol nur berech¬ 
tigt, die Frage etwa in folgender Formulirung zu beantworten: „Die 
Symptome lassen zweifellos eine Vergiftung durch Belladonna oder 
Atropin oder eine andere pupillenerweiternde Substanz erkennen“. 
Dann spricht aber die Wahrscheinlichkeit für die Belladonna, da es 
wol nicht zu viel gesagt ist, dass von 100 Vergiftungen mit einer 
pupillenerweiternden Substanz 99 Fälle der Vergiftung durch Bella¬ 
donna und ihre Präparate oder ihrem so viel verwendeten Alkaloide, 
dem Atropin zugehören. 

Es würde sich nun darum handeln, die weitere Frage zu erör¬ 
tern: „Womit könnte sonst noch die Atropin Vergiftung verwechselt 
werden? “ 

Ich glaube, dass es nur folgende Krankheiten sein können: Mit 
Steigerung des intracraniellen Druckes verbundene Gehirnerkrankun¬ 
gen, wie Congestion oder Apoplexie, dann wirkliche Geistes¬ 
krankheit, womit thatsächlich Verwechslungen vorgekommen sind, 
wie Brown (London Hosp. Rev. II.) und Morgan (Brit. med. Journ. 


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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin Vergiftung. 75 

Decbr. I. 1866) berichten; ferner die acute Alkoholvergiftung 
(Rausch) und endlich etwa Scharlach. Neben einer Reihe von kli¬ 
nischen Erscheinungen, die meist jede dieser Krankheitsforraen ziem¬ 
lich gut charakterisiren, ohne der in Rede stehenden Vergiftung zu¬ 
zukommen, würden vor allen Dingen zwei Momente für die Differcn- 
tialdiagnose verwerthet werden können, erstens das Verhalten der 
Pupillen — bei keiner der genannten Krankheiten wird eine so 
starre, gleichmässige und maximale Pupillenerweiterung vorhanden 
sein, wie bei den schweren Atropinintoxicationen, und mit Vergiftun¬ 
gen leichteren Grades können diese überhaupt nicht verwechselt werden 
— und zweitens die Temperatur. 

Würde sich in der That die Temperatur bei der Atropin Vergiftung 
mit zweifelloser Sicherheit so verhalten, wie bisher allgemein ange¬ 
nommen wurde und zwar auf Grund der mehrerwähüten Versuche von 
Schroff sen., nach welchem die Vergiftung constant eine Herab¬ 
setzung der Temperatur bewirkt, so hätte man in diesem Ver¬ 
halten eines der werthvollsten objectiven Symptome für die Differen¬ 
tialdiagnose, namentlich etwa gegenüber von Scharlach gegeben. Ich 
dachte nicht, dass es sich anders verhalten könnte, bis eine eigene 
Beobachtung, die das Gegentheil zu beweisen schien (Fall 2) meine 
Aufmerksamkeit auf den Gegenstand lenkte. Ich freue mich nun. 
durch mehrere Beobachtungen, die ganz unabhängig von mir und un¬ 
abhängig von einander gemacht wurden, meine erste diosfällige Wahr¬ 
nehmung bestätigt zu finden. In allen Fällen, die hier beobachtet 
wurden und wo überhaupt Temperaturmessungen vorgenommen worden 
sind, war nicht eine Abnahme, sondern eine Erhöhung der Tem¬ 
peratur vorhanden. Der Fall Hebenstreit (6. Fall) gibt einen in¬ 
teressanten, allerdings vereinzelt dastehenden pathologisch-anatomi¬ 
schen Commentar dafür in den bei der Obduction Vorgefundenen lo¬ 
calen Veränderungen am Magen und im Oesophagus. Zweifellos sind 
aber in den nicht letal endenden Fällen diese localen Erscheinungen viel 
zu geringe, ja es ist die Frage, ob ausser bei Vergiftung mit den Beeren 
überhaupt locale Irritationen Vorkommen, — als dass die beobachtete 
Temperaturzunahme in allen Fällen davon abgeleitet werden könnte. 

Durch diese Beobachtungen ist die Lehre von der temperatur¬ 
erniedrigenden Wirkung der Belladonnapräparate mindestens sehr zwei¬ 
felhaft geworden, und möchte ich mit Hinweis auf die durch unsere 
hiesigen Beobachtungen gerechterweise begründeten Zweifel die Auf¬ 
merksamkeit aller Fachgenossen und Aerzte auf diesen Gegenstand 


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Dr. J. Kratter. 


lenken, damit durch möglichst zahlreiche directe Bobachtungen am 
Krankenbette dieses gewiss wichtige Verhalten der Körpertemperatur 
zweifellos sicher gestellt werde. Vorläufig betrachten wir die Frage 
(mindestens) als eine offene. 

III. Me LeichenemheintiBgen bei Atrepin-Vergiftnag. 

In Bezug auf die Leichenerscheinungen finden sich in der Literatur 
nur karge Angaben vor, welche zudem noch in den wichtigsten Punkten 
widersprechend sind, so dass es wol ganz gerechtfertigt ist, wenn 
Schauenstein ') hervorhebt, dass die Leichenerscheinungen gar nichts 
Charakteristisches darbieten. Bei genauer Durchsicht der einschlägigen 
Literatur konnte ich Folgendes finden: 

Orfila 2 ) beschreibt einen Fall, wo von Kindern, die Belladonnabeeren 
gegessen hatten, eines im Alter von 4 Jahren am folgenden Tage starb. Es 
fanden sich bei demselben 3 Geschwüre im Magen, sonst war nichts be¬ 
sonders Charakteristisches vorfindlich. 

Taylor 3 ) sagt über die vorfindlichen Leichenerscheinungen: „Die bei 
mehreren Vergiftungen mit Beeren in London im Herbst 1846 beobachteten 
Leichenerscheinungen waren Congestionen der Gehirngefässe mit flüssigem Blut; 
Magen und Darm blass und schlaff, gegen die Cardialmündung hin 
einige rothe Flecken. In anderen tödtlichen Fällen waren die Gefässe und 
Häute des Gehirns von dickem, schwarzem Blute ausgedehnt; geröthete Stel¬ 
len sind ebenfalls im Schlunde und der Speiseröhre und dunkel- 
rothe Congestionsflecken auf den Magen Wandungen beobachtet wor¬ 
den. In manchen Fällen ist die Schleimhaut durch den Saft der Beeren voll¬ 
ständig gefärbt.“ 

Rosenberger 4 ) theilt den Obductionsbefund eines 5jährigen Knaben mit, 
welcher durch Genuss von Belladonnabeeren zu Grunde gegangen ist. Er hebt 
den intensiven Glanz der halb offenen Augen, die Pupillenerweiterung, den 
krampfhaft geschlossenen Mund und die Erschlaffung des Sphincter ani hervor. 
Daneben waren die Gehirngefässe von dunklem Blute ausgedehnt, die Hirn¬ 
substanz, das Cerebellum und die Medulla oblongata boten zahlreiche Blut- 
punkte dar. 

Im Schlunde und der Speiseröhre fanden sich mehrere geröthete 
Stellen, im Magen nebst einiger Flüssigkeit drei zerplatzte Beeren, die 
Schleimhäute waren an verschiedenen Stellen röthlichblau. 


*) Schauenstein in Maschka’s Handb. der ger. Medicin. II. Bd. S. 658. 

*) Orfila, Toxicologie, nach der 5. Aufl. deutsch von Krupp. Braunschweig 
1854. Bd. II. S. 406 . 2te Krankengeschichte entnommen aus „Histoire de l’academie 
des Sciences“ von 1703. 

*) Taylor, a. a. 0. S. 377. 

4 ) Canstatt’s Jahresber. 1844. 5. S. 295. 


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Beobachtangen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 77 


van Hasselt 1 ) giebt als Sectionsergebniss Hyperaemie der Leber, Milz 
und anderer parenchymatöser Organe der Bauchhöhle, sowie Ueberfüllung des 
Gehirns und der Lungen mit Blut an, hebt dagegen herror, „dass sich Spuren 
einer irritirenden Nebenwirkung in der Regel nicht vorfinden, nur die Schleim¬ 
häute der Mundhöhle und besonders des Schlundes seien geröthet und mitunter 
von Aphthen besetzt gefunden worden.“ 

Nach Husemann 2 ) ist der Leichenbefund beim Menschen bei der kleinen 
Zahl der tödtlich verlaufenden Fälle von Belladonna-Vergiftung keineswegs zur 
Genüge festgestellt. 

Körner 3 ) hebt besonders die auffallende Erweiterung der Pupillen, die 
Ueberfüllung der Blase mit Harn und Röthung der Nervi vagi (!) hervor, während 
Seaton 4 ) die Dünnflüssigkeit des Blutes als auffälligste Leichenerscheinung er¬ 
wähnt, womit vielleicht der von Bauer 5 ) betonte rasche Eintritt der Fäulniss 
zusammenhängt. 

Dass Otto 6 ) neben starker Hyperämie der Hirnsinus, der Pia mater und 
Medulla oblongata Ecchymosen am Pericardium hervorhebt, ist noch zu erwähnen. 

Noch spärlicher als die Angaben über den pathologischen Befund 
bei Vergiftungen mit Belladonnabeeren sind die über die Vergiftung 
mit dem reinen Alkaloid. 

Taylor 1 ) war der erste, welcher einen derartigen Fall im November 1850 
zu untersuchen Gelegenheit hatte: Ein junger Mann hatte sich mit 2 Gran 
Atropin vergiftet und war Morgens todt im Bette aufgefunden worden. Die Haut 
war livid. die Glieder starr und contrahirt, wenig braune Flüssigkeit aus dem 
Munde fliessend, die Pupillen stark erweitert, die Magenschleimhaut diffus 
geröthet, was auch, wie Taylor bemerkt, von Branntwein hergerührt haben 
kann, den er genossen. 

ln neuerer Zeit hat Gross 8 ) in Philadelphia einen Obductionsbefund mit- 
getheilt, wo ein Patient durch Verwechselung von Asa foetida mit Atropin in der 
Apotheke vergiftet worden war. 

Die 48 Stunden nach dem Tode vorgenommene Obduction ergab: das 
Gesicht livid, die Pupillen erweitert, der Magen zeigte an der Cardia 
Sugillationen, die Därme waren blass, die Blutgefässe der weichen Hirnhaut 
mit Blut überfüllt. — 


') A. W. M. van Hasselt. Haudb. der tiiftluhre, frei bearbeitet und mit 
Zusätzen versehen von J. B. Henkel. I. Theil 1862. S. 300. 

*) Husemann, Handb. der Toxicologie. Berlin 1862. S. 466. 

*) Württemberg. Corresp.-Bl. 1856. No. 35. 

*) Med. Times and Gaz. Dec. 3. 1869. 

*) Württemberg, med. Corrcsp-B). 1873. No. 75. S. 113. 

®) Vierteljahrsschrift f. ger. Medic. N. F. V. 1. 1866. S. 154. 

T ) Taylor, a. a. 0. S. 378. 

®) The American Journ. of the med. sc. 1869 Oct. S 401; vergl. Ref. in 
Friedreich’s Blätter f. ger. Med. 1870. S. 457. 


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78 


Dr. J. Kratter, 


Bei Thieren ergaben die Sectionen bedeutende Schleimansammlungen im 
Munde, Pharynx, Trachea. Lungen. Speiseröhre und Magen, Hyperämie der 
grösseren Bauchdriison und des Gehirns, selbst Injection der Schleimhäute 
des oberen Theiles des Verdauungs- und Respirationssystems. l ) 

Hertwig fand bei seinen Versuchen an Thieren venöse Hyperämie, be¬ 
sonders an der Gehirnbasis, in der Gegend der Corpora quadrigeinina und der 
Medulla oblongata mehrmals selbst mit blutigem Extravasat. Das Blut soll mehr 
als gewöhnlich flüssig und wie beim Typhus degenerirt sein. 2 ) 

Wenn wir diese Angaben überblicken, so finden wir fast bei allen, 
dass 1) die Pupillen erweitert sind, 2) Blutüberfüllung des Gehirns 
und seiner Häute vorhanden ist und 3) wenigstens in allen Fällen, 
wo Vergiftungen mit den Beeren stattfanden, irritative Erscheinungen 
an der Schleimhaut des Pharynx, der Speiseröhre und des Magens. 

Ob diese Erscheinungen hinlänglich charakteristisch und constant 
genug sind, um für sich allein die Diagnose einer stattgehabten Atro¬ 
pinvergiftung zweifellos festzustellen, werden wir noch weiter unten 
ausei nan dersetzen. 

Ich selbst hatte in den letzten 2 Jahren Gelegenheit, das Obduc- 
tionsergebniss von zwei diesbezüglichen Fällen kennen zu lernen und 
theile mit freundlicher Erlaubniss des Professor Eppinger, in dessen 
Institut die Obductionen vorgenommen wurden, die betreffenden Be¬ 
funde mit. 

Obduetionsbefund zum Falle 6 — betreffend den am 6. Sep¬ 
tember auf der ersten mcdicinischen Abtheilung des allgemeinen Kran¬ 
kenhauses 12 Uhr Mittags verstorbenen 60jährigen Knecht Andreas 
Hebenstreit, dessen Krankengeschichte als 6. Fall oben mitgetheilt 
worden ist. 

Körper mittelgross, kräftig gebaut, mager; im Gesiebt, an der rechten 
Thoraxseite, am Ellenbogen und am rechten Unterschenkel Excoriationen. Todten- 
starre mässig ausgeprägt. Pupillen mässig und gleich erweitert. 

Schädeldach rundlich, dick, schwammig; im oberen Sichelblutleiter Faser¬ 
stoffgerinnsel, die Dura mater gespannt, leicht geröthet. Die inneren Hirn¬ 
häute getrübt, feucht, stark injicirt, in den basalen Sinus flüssiges Biut. 
die Hirnhäute an der Basis zart. 

Hirnsubstanz weich, zähe, die Corticalis mässig breit, das Mark von 
reichlichen grossen dunklen Blutpunkter, durchsetzt, die Ventrikel 
weit, mit klarem Serum gefüllt; das Ependym gieichmässig verdickt, die Cen¬ 
tralganglien blutreicher, der 4. Ventrikel weiter, das Kleinhirn weich, 
blutreich, Medulla und Pons weich und ebenfalls etwas blutreicher. 


') llusemann a. a 0. S. 466. 

*) van Hasselt a. a. 0. S. 300. 


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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 79 


Das Zwerchfell beiderseits im 5. Rippenknorpel stehend; Unterhautzellge¬ 
webe fettarm, Muskeln blassrotb. Beide Lungen zurückgesunken, im linken Tho¬ 
raxraum etwas blutig gefärbte Flüssigkeit. Im Herzbeutel trübe Flüssigkeit, das 
Pericardium leicht verdickt, fettarm, das Herz gross, schlaff, in seinen Höhlen 
halb geronnenes Blut und Faserstoffgerinnsel. Die Herzwandungen dünn, die 
Höhlen weit, die Musculatur brüchig, blassbrann gefärbt, die Klappen zart und 
wohl geformt. 

Die linke Lunge frei, gross und schwer; die Ränder etwas gedunsen, sonst 
ist das Gewebe luftarm, stark pigmentirt. von schaumarmen Serum reichlich 
durchtränkt, Bronchialschleimhaut allenthalben blass. Die rechte Lunge etwas 
kleiner, sonst genau ebenso beschaffen, wie die linke. 

Die Pharynxschleimhaut glatt, dünn, dunkelviolett gefärbt. 

Die Schleimhaut des unteren Dritttheiles des Oesophagus mit ausge¬ 
breiteten, stellenweise die ganze Circumferenz einnehmenden dunkelbraunen, 
da und dort gelblich-grau gefleckten, theils locker haftenden, theils ziemlich fest 
sitzenden Belegen besetzt, die, wenn abgelöst, an ihrer untern Fläche ziemlich 
glait und graulich gelb gefärbt erscheinen und sich membranartig darbieten. 
Ueber den Längsfalten des Oesophagus erscheinen dieselben gleichfalls gefaltet 
und ahmen so die Innenfläche des Oesophagus nach. Nach Ablösung derselben, 
wo es möglich ist. bleibt eine glatte, blasse Fläche des Oesophagnsinneren 
zurück. 

Die Cardiaschleimhaut ist im Allgemeinen blass und zeigt eine zackige Ab¬ 
grenzung gegen die des Oesophagns. 

Die Schleimhaut des Larynx und der Trachea grünlich missfarbig. 

Die Lage der Unterleibseingeweide normal; das Peritoneum zart, die Ge¬ 
därme gasgebläht. 

Der an der Cardia und dem Pylorus abgebundene Magen ist ausgedehnt 
und enthält eine grosse Menge gelblicher Flüssigkeit, die Wandungen desselben 
im Allgemeinen mässig dick. Die Schleimhaut der vorderen und hinteren 
Fläche der ganzen Cardiahälfte inclusive des Fundus ist etwas geschwollen, stark 
gefaltet und in Form einer Landkartenzeichnung mit röthlich braunen, gelblich 
gefleckten, sehr dünnen, da und dort leicht ablösbaren, membranartigen 
Belegen besetzt. Die freien Schleimhautpartien einfach geröthet. An dem 
der kleinen Curvatur zugehörigen Abschnitt dieser Magenhälfte finden sich klei¬ 
nere. förmlich flockige, so gefärbte Auflagerungen, neben welchen, wie überhaupt 
längs des ganzen kleinen Magenbogens sich 3 Millimeter bis 1 Ctm. 
grosse Substanzverluste vorfinden, die von scharfen, zackigen 
Rändern umgeben werden und eine leicht vertiefte, zart streifige, 
gelblich weisse Basis besitzen. Die übrige Schleimhaut in der Pylorus- 
hälfte sehr stark geschwollen, gefaltet; die glätteren Stellen wie warzig und im 
Allgemeinen röthlich violett gefärbt; die Muscularis allenthalben ein ganz wenig 
gequollen, scheinbar feuchter, der Peritonealüberzug blass. (Siehe Taf. II. Fig. 1.) 

Die mesenterialen Drüsen haum angedeutet. Im Dünndarm recht viel Gas 
und gallig gefärbter Ghymus. Im Dickdarm eine geringe Menge geballter, mit 
Fruchtkörnern untermischter Fäces; im absteigenden Colon und Sromanum 
ist die Schleimhaut mit zähem Schleime bedeckt. Die Wandungen des ganzen 
Darmcanals dünn, die Schleimhaut glatt, etwas geröthet und im Dünndarm 


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80 


Dr. J. Kratt er. 


von einzelnen Eccbymosen, die stellenweise dichtgedrängt sind, durchsetzt. 
Die Schleimhaut des Jejunum glatt und gallig imbibirt. 

Die Milz etwas grösser, pulpereicher und dunkel gefärbt. 

Die Leber gross, ihre Oberfläche glatt, ihr Gewebe hart, brüchig, gelblich 
braun; in der Gallenblase viel dunkle Galle. 

Die Nieren gross, mit zarten Kapseln versehen, ihr Gewebe schlaff, paren¬ 
chymatös degenerirt. Die Harnblase sehr stark ausgedehnt, mit dunkelgelbem 
Ham gefüllt, ihre Schleimhaut leicht geröthet. Die Genitalien wie gewöhnlich 
beschaffen. — 

Der höchst auffällige Befund sehr beträchtlicher localer Veränderungen an 
den Schleimhäuten des Oesophagus und des Magens, welcher allerdings überein- 
stimmt mit gewissen Befunden älterer Autoren, veranlasste eine eingehende mi¬ 
kroskopische Untersuchung, welche Herr Prof. Eppinger in Gemeinschaft mit 
mir vorzunehmen die grosse Güte hatte. 

Mikroskopische Untersuchung des Falles 6. 

Dieselbe bezog sich vor allen anderen auf die Vorgefundenen Ver¬ 
änderungen im Oesophagus und dem Magen. Die raembranartigen 
Gebilde in der Speiseröhre erwiesen sich als wirkliche faserstoffige 
Exsudationen, durch welche das geschichtete Pflasterepithel des 
Oesophagus in Form von Fetzen, die mit den faserstoffigen Massen 
innig Zusammenhängen, abgehoben wird. Wo die Membranen etwas 
dünner sind, ist das Fibrinnetz ein wenig dickbalkiger, die engen 
Maschenräume sind mit spärlichen Exsudatzellen und einer feinstgra- 
nulirten Masse ausgefüllt; wo die Membranen dicker sind, dort bietet 
sich der faserstoffige Antheil des croupösen Exsudats in Form eines 
feinstfibrillären Netzwerkes dar, das da und dort von grösseren Men¬ 
gen von erhaltenen und zerfallenen Exsudatzellen untermengt erscheint. 
Ausser den abgehobenen Epithelmassen finden sich an der Oberfläche 
des Exsudates zerfallene rothe Blutmassen, da und dort oft in 
Form einer ziemlich dicken Lage eines rostbraunen Belages. Die 
oberste Bindegcwebsschicht der Oesophaguswand ist zahlreicher, ebenso 
die Muskelschicht der Schleimhaut, während die Aussenschichten eine 
wesentliche Veränderung nicht zeigen. (Siehe Taf. 111. Fig. 1 u. 2.) 

Aus einer gleichen faserstoffigen Exsudatmasse setzen sich 
die mit Pigmentmassen belegten, membranartigen Belege der 
Schleimhaut der Cardiahälfte des Magens zusammen. Auf¬ 
fallend ist der Umstand, dass unter denselben die inneren Hälften der 
Magendrüsen auch bei sorgfältigster Tinction die Kernfärbung der Epi¬ 
thelzellen ganz und gar vermissen lassen. Die so beschaffenen Ab¬ 
schnitte der Drüsen erscheinen durch eine wie haarscharfe Linie von 


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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 8 t 


den äusseren Drüsenhälften unterschieden, an welchen durch combi- 
nirte Eosin- und Häraatoxylintinction nicht nur die Epithelkerne, son¬ 
dern auch ihre Leiber äusserst correct und deutlich zum Vorschein 
kommen. — 

Die mikroskopische Untersuchung der unteren Partie der Speise¬ 
röhre und des Magens hat sonach mit Sicherheit dargethan, dass es 
sich um eine zum Theil ziemlich hochgradige Entzündung der 
Schleimhäute dieser Partien unter Bildung eines mit Blut ge¬ 
mischten croupösen Exsudates handle. An einzelnen Partien 
des Magens, an der kleinen Curvatur, hatten sich (siehe Befund) aus 
dieser Entzündung unter Abstossung kleiner Exsudatpartien sogar schon 
einige kleine oberflächliche Geschwürchen gebildet. Es ist be- 
merkenswerth, dass sich Zeichen irritativer Vorgänge selbst noch 
in den oberen Partien des Dünndarms vorfanden und zwar, wie der 
Befund besagt, in Form von stellenweise sogar dichtgedrängten Ec- 
chymosen. 

Ich habe auch die in den Fäces vorfindlichen kleinen Frucht¬ 
kerne einer vergleichenden makro- und mikroskopischen Untersuchung 
unterzogen und erwiesen sich dieselben zweifellos als Samenkörner 
der Tollkirsche, die vielfach noch in Reste des Fruchtfleisches der 
Beere eingebettet waren. Auch Fetzen der blauschwarzen Oberhaut 
der Tollkirschen, charakteristisch durch den darin enthaltenen stark 
färbenden violetten Farbstoff, konnten nachgewiesen werden. Durch 
diesen Befund fanden die Angaben der Angehörigen, sowie die kli¬ 
nische Diagnose ihre volle Bestätigung, obwohl das Ergebniss der von 
mir durchgeluhrten chemischen Untersuchung in diesem Falle, wie ich 
noch später mittheilen werde, ein negatives war. 

7. Fall. Selbstmord durch Atropinum sulfuricum. 

Im Juli 1884 kam der eines Morgens todt in seinem Bette aufgefondene 
54 jährige Apotheker ..... welcher zuletzt ein Droguengeschäft besass und hier¬ 
bei finanziell zu Grunde gegangen war, zur sanitätspolizeilichen Obduction. 

Die polizeilichen Erhebungen hatten ergeben, dass ein Selbstmord im hohen 
Grade wahrscheinlich sei, und dass derselbe durch schwefelsaures Atropin, wahr¬ 
scheinlich in Wasser gelöst ausgeführt worden sein dürfte. Man hatte nämlich 
neben dem Bette ein leeres Wasserglas und in der Nähe des Bettes am Boden 
liegend ein Stückchen Papier gefunden, welches ganz in der Art gefaltet war, wie 
die Apotheker Pulver einzuschliessen pflegen. Die geöffnete Papierkapsel war 
vollkommen leer und mit der Aufschrift „Atropinum sulfuricum“ versehen. 

Erst eine von mir nach der Obduction vorgenommene genaue Besichtigung 
des Papiers mit einer Loupe ergab, dass noch einige feinste Krystallnadeln an 

Vierteljahrtsohr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 1. j 


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82 


Dr. J. Kratter. 


demselben anhafteten, welche sich sowohl durch die mikroskopische Untersu¬ 
chung, von der noch weiter unten die Rede sein wird, wie auch durch das phy¬ 
siologische Experiment, welches von meinem Collegen Dr. Birnbacher an einem 
seiner Patienten vorgenommen worden war, als Atropin erwiesen. 

Bei der leider in Folge behördlicher Anordnung erst spät — 
nach Ablauf von 48 Stunden — vorgenoinroenen Obduction wurde 
folgender Befund aufgenommen: 

Der Körper sehr gross, ungewöhnlich kräftig gebaut, sehr gut genährt; die 
Hautdecken im Allgemeinen blass, stark verfärbt und namentlich über dem stark 
ausgedehnten, aufgetriebenen Unterleib grünlich missfärbig. Die Epidermis im 
Gesicht, an der Rückenfläche und den Extremitäten theils blasig abgehoben, 
theils in Form von Fetzen abgelöst. 

Das Schädeldach gross, länglich oval, beträchtlich dicker, compact. Die 
Dura mater der Glastafel adhärirend, die inneren Meningen stark verdickt und 
getrübt, von blutig-imbibirtem Serum stark durchtränkt. 

Das Gehirn zeigt an der Oberfläche weite Furchen, seine Substanz allenthal¬ 
ben etwas weicher und dunkler gefärbt. Das Kleinhirn ebenfalls etwas weicher 
und röther, das Gewebe der Varolsbrücke und des verlängerten Markes ist etwas 
feuchter und rothlich gefärbt. 

Die Gonjunctiva getrübt, leicht blutig imbibirt. die Cornea beiderseits 
stark getrübt; bei intensiverer Beleuchtung erscheinen die Pupillen weiter, 
als gewöhnlich. 

Das Ünterhautzellgewebe sehr fettreich, die Musculatur kräftig, rothbraun. 
In den Brusthöhlen etwas blutig gefärbte Flüssigkeit. Die Lungen an reichlichen 
Stellen fixirt, ihr Gewebe, namentlich an den Rändern, gedunsen, rareficirt, 
blasser; sonst ist das Gewebe luftärmer, blutreioher, zerreisslich und reichlich 
von schaumiger Flüssigkeit durchtränkt. An der Aussenfläche des rechten Ober¬ 
lappens ist die Pleura im Umfange von etwa 4 Ctm. in streng umgrenzter Weise 
sehnig verdickt, die Ränder der Verdickung mit strahligen, sehnig glänzenden 
Ausläufern versehen. 

Der Herzbeutel im ganzen Umfange mit dem Herzen bindegewebig ver¬ 
wachsen. Das Herz gross, enthält rechts Blutgerinnsel, links zumeist flüssiges, 
dunkles Blut. Die Höhlen desselben sind weit, die Wandungen dünner; das Herz- 
fleisch ist brüchig, gelblich braun gefärbt, das Endocard reichlich blutig imbi¬ 
birt, ebenso auch die etwas verdickten, aber wohl geformten Klappen. 

Die Schleimhaut der oberen Luftwege ein wenig verdickt, dunkel bläulich¬ 
violett gefärbt. 

Die Lagerung der Unterleibseingeweide insofern verändert, als die Leber 
durch straffe Adhäsionen an das Zwerchfell und das grosse Netz durch mem- 
branöse Bindegewebsmassen an die vordere Bauch- und Beckenwand fixirt er¬ 
scheinen. 

Die Milz etwas geschwollen, von Gasblasen durchsetzt, ihr Gewebe sehr 
brüchig, morsoh, schwärzlich verfärbt. 

Die Nieren in ungewöhnlich dicke, fettreiche Bindegewebsmassen eingehüllt, 
etwas grösser, mit dickeren, aber leicht abstreifbaren Kapseln versehen; ihr Ge¬ 
webe ist fest, zähe und dunkler gefärbt. 


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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 83 

Im Magen reichlicher Speisebrei mit röthlich gefärbter, saurer Flüssigkeit. 
Die Schleimhaut der Card iah älfte verfärbt und sehr leicht in Form eines gallertU 
gen Breies abstreifbar. Die übrige Schleimhaut wol etwas verdickt, leicht ge¬ 
faltet und gleichmässig rauchgrau gefärbt; die Schleimhaut des Dünndarms un-, 
verändert. Im Dünn- und Dickdarm sehr reichliche, mit Gas untermengte In¬ 
haltsmassen, ihre Wandungen gewöhnlich dick, die Schleimhaut allenthalben 
entsprechend gefaltet und blass. • ;: 

Die Leber etwas grösser, ihr Gewebe an einzelnen Stellen der Oberfläche 
des rechten Lappens in Folge straliliger, tiefgreifender Narben eingesunken, sonst 
das Gewebe härtlicb-brüchig, gleichmässig gelblich braun gefärbt, in den Ge¬ 
lassen schaumiges dunkles Blut. ( 

In der Harnblase lichtgelber klarer Harn. Die Wandung derselben gehörig 
dick, ihre Schleimhaut blass. Die Prostata etwas grösser, körnig und blass. Die 
Hoden ein wenig kleiner, mit ihren Scheidenhäuten verwachsen, von derben, 
fibrösen Streifen durchsetzt, ihr Drüsengewebe sparsam und gelblich braun 
gefärbt. 

Das Ergebniss dieses Befundes ist, abgesehen von einer Reihe 
pathologischer Veränderungen, welche dem chronischen Alkoholisraus. 
und alter Syphilis zugehören und demnach hier keine weitere Erörte¬ 
rung finden können, in Bezug auf die Vergiftung selbst ein völlig 
negatives. Namentlich fehlen hier im Gegensätze zu dem so cha¬ 
rakteristischen Befunde bei der Vergiftung mit Belladonnabeeren jeg¬ 
liche localen Erscheinungen an den Schleimhäuten des Ver- 
dauungstractes. 

Hält man diese beiden so genau untersuchten Fälle einander ge¬ 
genüber, so muss man zu der Ueberzeugung kommen, dass die pa¬ 
thologischen Erscheinungen in Bezug auf das Verhalten der 
Schleimhäute der oberen Verdauungswege und des Magens ganz ver¬ 
schiedene seien beim Atropin und bei der Tollkirsche. Bei 
ersterem ist der locale Befund des Magens ganz negativ, wie bei allen 
anderen Alkaloiden, bei Vergiftung durch die Beeren dagegen ist deut¬ 
lich eine Irritation der Schleimhaut und reactive, selbst bis zur Exsu¬ 
dation und Geschwürsbildung führende Entzündung vorhanden. Es dürfte 
die Feststellung dieses Unterschiedes wol von Wichtigkeit sein und aus 
diesem verschiedenen Verhalten sich zum Theil auch die widerspre¬ 
chenden Angaben der Autoren erklären. Die meisten älteren beziehen 
sich auf die Vergiftung mit den Beeren der Tollkirsche und wir finden 
daher Veränderungen an der Schleimhaut des Pharynx, des Oesopha¬ 
gus und des Magens fast immer hervorgehoben; die jüngeren Angaben 
und die Befunde an Thieren sind meist reine Atropinvergiftungen, die 
pathologischen Befunde dieser Organe daher negativ. Wie sich dies- 

6 * 


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84 


Dr. J. Kratter, 


bezüglich etwa die Befunde gestalten bei Vergiftungen mit Blättern 
und der Wurzel der Belladonna, sowie mit den galenischen Präpara¬ 
ten derselben muss ganz dahingestellt bleiben. Wenn es gestattet ist, 
eine Meinung diesbezüglich zu äussern, so möchte ich glauben, dass 
eine local irritirende Wirkung nur den Beeren und diesen vielleicht 
nur im frischen Zustande genossen, zukomme. 

Die übrigen Befunde, nämlich die auch noch an der Leiche wahr¬ 
nehmbare Pupillenerweiterung und die Hyperämie des Gehirns 
sind beiden gemeinsam, jedoch dürfte wol Niemand wagen, auf 
diese Befunde hin allein mit Sicherheit die Diagnose auf eine statt¬ 
gehabte Atropinvergiftung zu stellen. 

Alles Andere, was von verschiedenen Autoren als charakteristisch 
betont wurde, ist meist nur Theilerscheinung jener Veränderungen, die 
stets gefunden werden, wenn der Tod durch Herzlähraung erfolgt. 

Auf Grund dieser Beobachtungen und Untersuchungen halte ich 
mich in Hinsicht auf den anatomischen Befund bei der Atropinver¬ 
giftung zur Aufstellung folgender Sätze für berechtigt: 

1) Die Erweiterung der Pupillen ist eine constante Leichen¬ 
erscheinung der Atropinvergiftung und ist dieser Befund in einem 
nicht zu verkennenden und daher diagnostisch immerhin verwerthbaren 
Gegensatz zu den Vergiftungen mit anderen Narcoticis, namentlich den 
Opiaten, bei denen ja die Verengerung der Pupillen eine constante 
Erscheinung ist. 

2) Ebenso constant ist die Ueberfüllung des Gehirns und 
seiner Häute mit Blut; jedoch ist dieser, obwohl constante Be¬ 
fund, weil er sich auch aus anderen Ursachen häufig genug findet, 
für sich allein diagnostisch gar nicht verwerthbar. 

3) Während diese Erscheinungen (1 und 2) sich sowohl bei der 
reinen Atropinvergiftung, wie bei der durch Belladonna und deren 
Präparate herbeigeführten, ganz in gleicher Weise an der Leiche vor¬ 
finden, ist das Verhalten in Bezug auf die localen Befunde in den 
oberen Theilen des Verdauungstractes verschieden: Dieselben sind voll¬ 
kommen negativ bei der Vergiftung durch das reine Alkaloid 
und dessen Salze, dagegen wirkt die Belladonnabeere wie ein 
irritirendes Gift und erzeugt neben Hyperämie und Blutungen der 
Schleimhäute der Speiseröhre, des Magens und selbst noch des oberen 
Dünndarms reactive bis zur croupösen Exsudation und oberflächlichen 
Geschwürsbildung führende Entzündung dieser Partien des Verdauungs¬ 
rohres. 


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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 85 


4) Auch das Vorhandensein aller dieser als constant bezeichneteu 
pathologischen Veränderungen ist nicht ausreichend und charakteristisch 
genug, um für sich allein den Beweis einer stattgehabten Belladonna¬ 
vergiftung zu erbringen. Derselbe wird durch den Befund an der 
Leiche allein nur dann als sicher erbracht angesehen werden können, 
wenn, wie dies ja in einer Reihe von Fällen und so auch in unserem 
Falle 6. vorgekommen ist, Reste der genossenen Beeren im Magen¬ 
oder Darminhalt vorgefunden werden. 


IV. Der forensische Nachweis. 

Je unsicherer sich die pathologische Diagnostik gestaltet, um so 
wichtiger ist der forensiche Nachweis einer stattgehabten Atropinver¬ 
giftung aus der Leiche. Glücklicher Weise ist bei Einhaltung ent¬ 
sprechender Untersuchungsmethoden ganz entgegen der Annahme von 
Otto'), welcher es einfach schlechtweg für unmöglich erklärte, bei 
einer stattgehabten Atropinvergiftung den chemischen Nachweis aus 
der Leiche zu erbringen ganz wohl möglich, dies zu thun. 

Ausser einer Reihe von .experimentellen Untersuchungen, die ich 
behufs Aneignung und Erprobung entsprechender Verfahrungsweisen 
vornahm, habe ich in den meisten der vorhin angeführten Fälle die 
chemische Untersuchung zu führen gehabt. 

Bevor ich auf die Resultate dieser Untersuchungen übergehe, will 
ich in Kürze die Methode besprechen, deren ich mich zur Abscheidung 
des Alkaloides bediente. 

Die von mir angewandte, vielfach erprobte und auch für forensische Zwecke 
vollkommen geeignete, weil volle Sicherheit gewährende Methode ist mit geringen 
Veränderungen jenes Verfahren, welches Dragendorff 2 ) angiebt und das 
eine Abänderung des Erdmann-Uslar’schen Verfahrens ist. 

Die zu untersuchende Substanz, wie Mageninhalt, Darminhalt, Magen, Blut, 
Harn etc. wird zuerst mit wenig schwefelsaurem Alkohol (ich bediente mich stets 
der verdünnten Schwefelsäure zum Ansäuern) wiederholt extrabirt und zwar 
Flüssigkeiten, nachdem sie zuvor bei niedriger Temperatur auf dem Wasserbade 
zur Syrupconsistenz eingeengt worden waren. Wenn man nach 24—48 ständi¬ 
gem Digeriren wiederholt mit (saurem) Alkohol auszieht, so kann man sicher sein, 
alles Alcaloid in die saure Lösung gebracht zu haben. Nach Verdunstung des 
Alkohols auf dem Wasserbade, wird die zurückbleibende wässrige Flüssigkeit 
entweder mit Aether oder mit Chloroform wiederholt ausgeschültelt. Amylalkohol 
und Benzin habe ich bei den Untersuchungen auf Atropin niemals angewendet 


') Otto, „Anleitung zur Ausmittlung der Gifte.“ 5. Aufl. 1875. 

*) Dragendorff, „Die ger-ehern. Ermittlung von Giften.“ St. Petersburg, 
1876. 8 193 u. f. 


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Dr. J. Kratter, 


aus denjenigen Gründen, welche auch Dragendorff 1 ) veranlassten, diese 
Substanzen nicht oder nur unter gewissen Cautelen in Anwendung zu bringen. 

Ist die saure Lösung wiederholt durch Aether oder Chloroform ausge- 
schültelt und dadurch gereinigt, so dass nichts mehr in diese Flüssigkeiten über¬ 
geht, so wird die Säure durch Ammoniak neutralisirt und die ammoniakalische 
Flüssigkeit neuerdings mit Aether oder Chloroform und zwar wiederholt ge¬ 
schüttelt. Aus der ammoniakalischen Flüssigkeit geht das Alcaloid vollständig 
und zwar schon bei gewöhnlicher Temperatur in den Aether und das Chloroform 
über. Wäscht man diese Flüssigkeiten mit destillirtem Wasser mehrmals und 
lässt dann die gesammelten Aether- oder Chloroformauszüge verdunsten, so er¬ 
hält man das Alcaloid im amorphen Zustande und zwar jetzt schon mitunter ziem¬ 
lich rein. 

Meistenteils ist aber noch eine weitere Reinigung nöthig, die vorgenommen 
wird durch neuerliche Lösung des Aether- oder Chloroformrückstandes in wenig 
schwefelsaurem Wasser, welches neuerdings in der oben angeführten Weise be¬ 
handelt wird. Ich habe nun stets das auf diese Weise schon so vollständig als 
möglich gereinigte Alcaloid in ganz wenig leicht eingesäuerten Alkohol gelöst 
und diese Lösung auf einem Uhrglase bei gewöhnlicher Temperatur verdunsten 
gelassen. 

Beinahe in allen Fällen, wo ich dieses Verfahren eingeschlagen, erhielt ich 
das schwefelsaure Salz in krystallinischer Form und konnte es so vor der Vor¬ 
nahme der chemischen oder physiologischen Schlussreaction einer genauen mikro¬ 
skopischen Untersuchung unterziehen. 

Gerade die mikroskopische Untersuchung halte ich für recht 
wichtig und möchte sie in keinem Falle unterlassen wissen. Es ist 
mitunter möglich, schon aus der Krystallforra mit hoher Wahrschein¬ 
lichkeit die Anwesenheit des Alkaloids zu erkennen. 

Hellwig 2 ) hat zuerst auf die Wichtigkeit des Mikroskops für 
die Toxicologie hingewiesen. Leider sind seine Untersuchungen eben 
nur experimentelle, welche in Laboratorien unter Anwendung von 
chemisch reinen Substanzen vorgenommen wurden. Auf Untersuchung 
wirklicher Vergiftungsfälle beim Menschen ist diese Methode bisher 
nicht angewendet worden. 

Ich gehe nun auf Besprechung der von mir chemisch untersuchten 
Fälle über. 

Chemische Untersuchung der Fälle 3, 4, 5. Von Seite des Stadt- 
physikates sowohl als wie von Seite des betreffenden Apothekers, von welchen die 
incrimirte „Kreuzbeersalse“ (Roob spinae cervinae) stammte, wurde mir je ein 
Rest zur Untersuchung gegeben. Ich bediente mich hier zur Abscheidung des 
Atropins, da die Frage nach der Anwesenheit eines anderen Alcaloids nicht ge- 


') Dragendorff, „Beiträge zur gerichtl. Chemie einzelner organischer Gifte.“ 
St. Petersburg, 1872. S. 220 u. f. und a. a. 0. S. 194 

*) Hellwig, „Das Mikroskop in der Toxicologie.“ Mainz, 1865. 


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Beobachtangen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 87 


stellt war, nur ausschliesslich des Chloroforms und zwar mit einem geradezu 
ausserordentlich gaten Erfolge, indem schon bei der ersten Chloroformschüttelang 
eine naheza vollkommen reine Substanz zarüokblieb, welche nicht weiter za 
krystallisiren versucht, sondern sofort für das physiologische Experiment ver¬ 
wendet wurde. 

Von dem in einigen Tropfen Wasser mit Hilfe einer ganz geringen Spur 
von Schwefelsäure gelösten Rückstände wurde zuerst einem Kaninchen in den 
Bindehautsack geträufelt. Das Experiment wurde in Beisein von Regierungsrath 
Professor Schauenstein und Professor von Schroff jun. aasgeführt. Das 
Resultat war negativ. Wenigstens konnte eine über jeden Zweifel erhabene Pu¬ 
pillenerweiterung beim Kaninchen mit Sicherheit nicht constatirt werden. 

Von dem Reste der Flüssigkeit habe ich Herrn Dr. Strasiribka, Assistent 
am pharmakologischen Institut, 3 Tropfen ins rechte Auge geträufelt. Nach 
einer Stunde war bereits eine recht beträchtliche Erweiterung der Pupille dieses 
Auges vorhanden und dauerte die Pupillenerweiterung fast 24 Stunden an, da 
sie noch am darauf folgenden Morgen mit voller Deutlichkeit zu erkennen war. 

Es konnte somit keinem Zweifel unterliegen, dass die zur Unter¬ 
suchung gekommene Substanz atropinhaltig war. Andererseits aber 
hat es sich auch gezeigt, dass Kaninchen ungeeignete Thiere für die 
Vornahme der Schlussreaction sind, da sie sich eines hohen Grades 
von Immunität gerade gegen Belladonna und Atropin erfreuen. 

Es muss auf diesen Umstand ganz besonders Rücksicht genommen 
werden, da von der Auswahl eines entsprechend empfind¬ 
lichen Versuchsthieres das Resultat der ganzen Unter¬ 
suchung abhängig sein kann, wie dies gerade diese Untersuchung 
mit höchster Evidenz beweist. Nach dem Ergebnisse des Experiments 
am Kauinchenauge hätte man absolut nicht die Anwesenheit einer 
pupillenerweiternden Substanz annehmen dürfen, während das Experi¬ 
ment am Menschenauge die Gegenwart einer solchen mit voller Sicher¬ 
heit ergab. 

Es sei mir gestattet, an dieser Stelle einiges über die Empfind¬ 
lichkeit verschiedener Thiere gegen Atropin einzufugen, umso mehr als 
von der Kenntniss dieser Empfindlichkeit die Wahl des Versuchsthieres 
abhängen wird und muss. 

Schon vor mehr als 100 Jahren hat der um die Entwicklung der experi¬ 
mentellen Toxicologie verdiente Italiener P. Rossi') gefunden, dass Hunde Bella¬ 
donna und gefleckten Schierling ohne besonderen Nachtlieil ertragen. 

Auch F. A. Q. Emmert*) hat ähnliche Versuche in Betreff der Wirkungs¬ 
art der Gifte angestellt und kam ebenfalls zu dem Schlüsse, dass sich die ver- 


’) P. Rossi, »De nonnullis plantis, quao pro vcncnatis habcntur, observa- 
tiones et cxperimenta.“ Florentiac instituta Pisis. 1762. 

*) Meckel’s Archiv f. die Physiologie, Bd. 1. 1815 u. ebenda Bd. 4. 1818. 


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Dr. J. Kratter, 


schiedenen Thiere gegen Gifte darunter auch gegen Belladonna sehr verschieden 
verhalten, was auch durch Orfila’s') meist an Hunden ausgeführte Experimente 
bestätigt wurde, sowie durch E. L. Schubarth’s 2 ) interessante Versuche an 
Hunden, Katzen, Pferden und Kaninchen. Pilger 3 ) fand, dass Pferde ohne 
Schaden 4 Unzen Belladonnawurzel vertragen können und nach den Versuchen 
von Bredin 4 ) mit verschiedenen Giften (darunter auch mit Belladonna) an 
wiederkäuenden Thieren und Solipeden giebt es für diese zwar Narcotica, allein 
die Dosis musste bei ihnen 100 mal stärker als beim Menschen gereicht werden. 

Die hohe Immunität der Kaninchen gegen Belladonna, die ja bekanntlich 
so weit geht, dass ein Kaninchen wochenlang Belladonnablätter ohne Schaden 
fressen kann, wurde neben vielen anderen neueren insbesondere von Schroff sen. 5 ) 
durch eingehende Untersuchungen und Beobachtungen neuerdings constatirt. 
In jüngster Zeit hat sich Heckei 6 ) sehr viel mit der Frage der Immunität der 
verschiedenen Thierspecies, insbesondere auch niederer Thiere gegen Gifte be¬ 
schäftigt. Er glaubt durch seine Experimente an Kaninchen mit Blättern von 
Belladonna, Hyoscyamus niger und albus, Datura Stramonium und Datula nach¬ 
gewiesen zu haben, dass die bekannte Immunität der Kaninchen, Meerschwein¬ 
chen, Ratten und Beutelthiere bedingt sei durch theilweise Zerstörung der gifti¬ 
gen Alcaloide jener Pflanzen innerhalb des Blutstromes. 

Auch E. Yung 7 ) liefert interessante Beiträge zu dieser Frage, indem er 
insbesondere die Wirkung von Curare, Strychnin, Nikotin, Veratrin und Muscarin 
auf Cephalopoden prüft. 

Ob übrigens unter allen Verhältnissen Fleischfresser von vegetabilischen 
Giften mehr ergriffen werden als Pflanzenfresser und ob insbesondere der Satz 
Heckel’s allgemeine Bedeutung hat, dass die Empfindlichkeit des Wirbelthieres 
für das Gift um so grösser ist, je höher entwickelt die Gattung des Thieres ist, 
muss, wie Schauenstein 8 ) mit Recht hervorhebt, erst noch durch weitere Ver¬ 
suche festgestellt werden. Nichtsdestoweniger aber haben wir hinreichend genaue 
Keuntniss darüber, dass das sonst für physiologische Versuche so vielfach ver¬ 
wendete Kaninchen ein sehr unzuverlässiges nnd daher bei forensischen Unter¬ 
suchungen auf Atropin nicht zu verwendendes Versuchsthier sei. 

Es hat sich durch einfache vergleichende Versuche herausgestellt, 
dass unter den Wirbelthieren das Auge der Katzen sehr empfindlich 


') Orfila, „Toxicol. generale “ Paris 1814. T. II 

*) E. L. Schubarth in Horn’s Archiv für Med. Erf. 1S23. Nov S. 399 
und 1824. Jan. S. 53. 

*) Marx, „Geschichte der Giftlebre.“ H. Göttingen, 1829. S. 6. 

4 ) Bredin, „Proc^s verbal de la seance publ. tenue ä l’ecolc veterinaire 
de Lyon.“ 1809. 

•) Ztschr. d. Ges. d. Aerzte in W T ien 1852. 3. Heft. 

*) „Ueber die Einwirkung versch. gift. Solaneen und namentlich der Bella¬ 
donna auf Nagethiere und Marsupialien.“ Compt. rendu I. 80. S. 1608 und Bull, 
de l’Academ. de m6d. 1879. S. 378. 

7 ) Comptes rendus, 1880. 91. I. S. 306—308. 

8 ) Schauenstein a. a. 0. S. 637. 


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Beobachtungen and Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 89 


reagiere und dass aber vor Allem der Mensch ein auf Atro¬ 
pin sehr intensiv reagirendes, höchst empfindliches Auge 
besitze. 

Es empfiehlt sich daher, bei gerichtlichen Untersuchungen den 
physiologischen Endversuch stets am gesunden Menschenauge vorzu¬ 
nehmen und es ist bei einer sorgfältigen Reinigung, und wenn man 
namentlich zum Schlüsse aus Alkohol das schwefelsaure Atropinsalz 
auskrystallisiren liess, auch nicht das geringste Bedenken vor¬ 
handen, dass selbst das aus Leichentheilen, Blut oder fau¬ 
lenden organischen Substanzen abgeschiedene Alkaloid am 
Menschenauge versucht werde. 

Von den chemischen Reactionen ist nur eine einzige zur Erken¬ 
nung des Atropins verwendbar, nämlich die von Gulielmo angege¬ 
bene, welche in der Entwicklung eines eigenthümlichcn Geruches beim 
Erwärmen mit concentrirten Säuren besteht. Die Reaction ist ausser¬ 
ordentlich empfindlich, jedoch insofern unsicher, als sie auf einer ganz 
subjectiven Wahrnehmung beruht, welche, wie sich mir oftmals erge¬ 
ben hat, von verschiedenen Individuen in sehr verschiedener Weise 
wahrgenommen wird. 

Die Einen bezeichnen den hierbei entstehenden, mir subjectiv sehr 
angenehmen Geruch, der mich stets an Honig erinnerte, als Schlehen- 
blüthenduft, Andere als Jasminduft, wieder Andere als einen nicht 
näher zu bezeichnenden Gestank, noch Andere endlich nahmen bei 
Reactionen, wo drei der Anwesenden deutlich einen Geruch constatirten, 
überhaupt gar keine Geruchsempfindung wahr. Aus dieser Thatsache 
allein ergiebt sich schon die Unsicherheit der Reaction für den foren¬ 
sischen Nachweis. 

Ich habe daher bei meinen Untersuchungen, wo ja stets nur mini¬ 
male Mengen vorhanden waren, mit dem in wenig Tropfen Wasser ge¬ 
lösten Atropinsalz derartig operirt, dass ich zuerst die physiologische 
Reaction durch Einträufelung in ein gesundes menschliches Auge, 
hierauf mit dem Reste die eben geschilderte chemische Reaction aus¬ 
führte. Nur als Vorversuch wurde in der Regel ein Tropfen verwen¬ 
det, um zu constatiren, ob denn überhaupt wahrscheinlicher Weise ein 
Alkaloid vorhanden sei oder nicht. Dazu diente mir die für alle Al¬ 
kaloide sehr empfindliche Reaction mit Phosphor-Molybdänsäure. Der 
hier geschilderte Vorgang ist bei allen späteren Untersuchungen ein¬ 
gehalten worden und glaube ich mit Recht, denselben auf Grund viel- 


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Dr. J. Kratter, 


facher eigener Erfahrung für den gerichtlich chemischen Nachweis des 
Atropins empfehlen zu können. 

Chemische Untersuchung des 6. Falles. 

Durch Dr. Schneller, Assistenten am pathologischen Institute in Qraz, 
waren mir Mageninhalt, Blut, Leber- und Milzstücke und der der Leiche ent¬ 
nommene Harn zur Untersuchung übergeben worden. 

Die Untersuchungsmethoden waren genau die oben angegebenen; das Re¬ 
sultat jedoch ein vollkommen negatives. Ich erkläre mir dies daraus, dass 
die Krankheit des Andreas Hebenstreit durch mehrere Tage andauerte, so dass 
erst 3 Tage nach dem Genüsse der Belladonnabeeren der Tod eintrat. Ausserdem 
war die Magenpumpe in Anwendung gezogen worden, so dass die Untersuchung 
des Mageninhaltes schon von vorneherein als ganz aussichtslos bezeichnet werden 
musste. Es scheint mir das übrigens ein Beweis für die rasch erfol¬ 
gende Ausscheidung des Giftes bei nur einmaliger Einverleibung desselben 
zu sein und es ist dies um so weniger auffällig, als ich ein gleiches Verhalten 
auch für ein anderes Alcaloid nämlich für das Strychnin nachgewiesen habe. 

Ich habe gefunden, dass bei einer einmaligen Injection einer 
allerdings sehr kleinen, als medicinale Gabe zulässig erscheinenden 
Menge von Strychninum nitricura schon der nach 22 Stunden entleerte 
Harn kein Strychnin mehr enthielt und dass selbst bei durch lange 
Zeit täglich fortgesetzten Injectionen nach dem Aufhören derselben 
die Abscheidung in längstens 48 Stunden beendet war. *) 

Nach dieser Analogie hat der negative Befund im vorliegenden 
Falle nicht nur nichts Befremdendes, sondern er dient geradezu als 
ein Paradigma dafür, dass auch das Atropin aus dem Menschen rasch 
ausgeschieden wird. 

Nebenbei erwähne ich, dass, wie schon oben gesagt, in diesem 
Falle der sichere Nachweis der stattgehabten Vergiftung durch Bella¬ 
donnabeeren erbracht wurde, durch die Untersuchung des Darminhaltes, 
in welchem noch Bcerenreste, namentlich Samen vorgefunden wurden. 

Untersuchung des 7. Falles. 

Durch Herrn Professor Eppinger wurde mir und zwar gleich nach der 
Obduclion zur Untersuchung übergeben 1) der Magen sammt Inhalt, 2) Blut, 
weiches der Vena cava entnommen wurde, 3) der Harn, den wir mittelst Katheter 
der Leiche vor Oeffnung der Harnblase entnahmen. Die Untersuchung wurde 
in der oben angeführten Weise vorgenommen und zwar wurde der ganze Magen 
und Mageninhalt zusammengenommen, da zu befürchten stand, dass bei einer 


') Kratter, „Untersuchungen über die Abscheidung von Strychnin durch den 
Harn* Wien, tnedic. Wocbenschr. 1882. No. 8, 9 u. 10; sowie „Ein Fall von 
Strychnin Vergiftung.“ Oestcrr. Aerztl. Vereinszeitung, 1S80. 


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Beobachtangen and Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 91 

Theilang möglicher Weise wegen der vielleicht za geringen Menge des noch vor¬ 
handenen Giftes das Resultat in Frage gestellt werden könnte. Ich zerkleinerte 
demnach den Magen, digerirte ihn durch 48 Stunden mit Alkohol, extrahirte 
wiederholt mit Alkohol and behandelte die Schwefelsäure alkoholische Flüssigkeit 
in der gewöhnlichen Weise weiter. 

Blut und Harn wurden zur Extractdicke nach vorheriger Ansäuerung mit 
verdünnter Schwefelsäuro eingeengt, mit Alkohol ausgezogen und in der ange¬ 
gebenen Weise weiter behandelt. 

Als Abscheidungsmittel bediente ich mich in diesem Falle mit sehr gutem 
Erfolge des Aethers. Nach sorgfältiger, wiederholter Reinigung suchte ich, wie 
ich das immer zu thun pflege, das Schwefelsäure Salz in krystallinischem Zustande 
auf einem Uhrschälchen zu erhalten. Es gelang dies in diesem Falle in ganz 
besonders schöner Weise und hatte ich dadurch besonders die Gelegenheit, eine 
eingehende mikroskopische Untersuchung des krystallinischen Rück¬ 
stand es vorzunehmen, welche zu sehr interessanten Ergebnissen geführt hat. 

Betrachtete man den Rückstand in durch fallendem Lichte mit 
schwacher Vergrösserung, so fand man unvollkommen entwickelte, 
säulenförmige Krystallo und Krystallskelette, also Wachs¬ 
thumsformen neben viel kleineren sternförmig angeordneten Aggregaten 
von sehr zarten Krystallnadeln, wovon sich noch als sehr vereinzelte 
Vorkommnisse würfelähnliche Individuen einer tesseral krystallisirenden 
Substanz als 3. Form abhoben. 

Die säulenförmigen Krystallo und Krystallskelette zeich¬ 
neten sich durch ihre Neigung zum Verwittern aus, so dass die 

Schärfe der Ecken und Kanten schon nach 24 Stunden abgenomracn 

hatte und im Laufe einer bis anderthalb Wochen ziemlich allgemein 
geschwunden war. Die Untersuchung im polarisirten Lichte führte 

zu dem Resultat, dass wir es wahrscheinlich mit einer ira monoklini¬ 
schen, möglicherweise auch ira rhombischen System krystallisirenden 
Substanz zu thun hatten. 

Ganz anders war das optische Verhalten der sternförmigen 

Aggregate von Krystallnadeln. Diese an sich viel kleiner, von 
viel stärkerem Lichtbrechungsvermögen treten neben den eben ge¬ 
schilderten grösseren Krystallen wie kleine eingestreute helle Sterne 
oder Büschel in die Erscheinung. Sie traten theils isolirt (Fig. 3), 
theils mit den anderen Gebilden verwachsen aut. (Fig. 1, 2, 6, 7.) 
Sie erinnern durch ihren ganzen Habitus und ihre ausserordentliche 
Beständigkeit gegenüber der leichten Verwitterung der erstbeschriebenen 
Krystalle an Krystallgruppen, die künstlich durch Verdunstenlassen 
von einem Tropfen einer einprocentigen Atropinlösung auf dem Object- 
träger erhalten worden sind, so dass sowohl bei der Beobachtung im 


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Dr. J. Kratter, 


durch fallenden, wie im auffallenden Lichte und im polarisirten Lichte 
die Identität dieser beiden mit voller Sicherheit zu Tage trat. Dazu 
kam noch die Gleichheit der Anordnung der Krystallnadeln in radiärer 
Form zu Büscheln oder Sternchen. 

Besonders in den Rückständen, die aus dem Magen und Harn 
erhalten wurden, aber auch in den aus dem Blute erhaltenen, jedoch 
hier nur spärlich fanden sich die meist ringsum geschlossenen Stern¬ 
chen, öfter auch nur als isolirte aus 2 oder 3 Nädelchen bestehende 
Büschel und zwar meistentheils als Einschlüsse in den säulenförmigen 
Krystallen vor. 

Die dritte Form endlich, nämlich die würfelförmigen Gebilde 
waren, wie schon hervorgehoben, spärlich vorhanden und zwar immer 
nur in Verwachsungen mit den säulenförmigen Krystallen (Fig. 1) oder 
auch mit den sternförmigen Krystallgruppen (Fig. 2). 

Was nun die Deutung dieser mikroskopischen Befunde anbe¬ 
langt, so unterliegt es nach der vorgenommenen vergleichenden 
krystallographischen Prüfung keinem Zweifel, dass die kleinen stern¬ 
förmigen Krystalle schwefelsaures Atropin waren, während 
die grösseren säulenförmigen und die spärlich vorhandenen 
Würfel als noch vorhandene Verunreinigungen anzusehen sind und 
zwar erstere als schwefelsaures Ammon, letztere als Spur von Koch¬ 
salz. Sowohl die Anwesenheit des schwefelsauern Ammoniaks wie 
einer Spur von Kochsalz ist nach den eingehaltenen Untersuchungs¬ 
methoden leicht erklärlich. 

Wenn man nun diesen krystallisirten Rückstand mit absolutem 
Alkohol behandelt und hierbei ganz raässig erwärmt, so lösen sich 
die Krystallsterne und Büschel auf, während die anderen Krystalle 
ungelöst zurückblieben. Aus dieser alkoholischen Lösung krystallisirte 
das nun nahezu ganz reine schwefelsaure Atropin neuerdings in Form 
schöner, sehr feiner, länger ausgezogener büschelförmig angeordnetcr 
Krystallnadeln aus. 

Die optischen Erscheinungen waren hierbei so auffällig gewesen, 
dass wir das Mikroskop geradezu als Führer gebrauchten, um 
uns zu informiren, ob überhaupt die Anwesenheit von Atropin in 
einem Uhrschälchen wahrscheinlich sei oder nicht, und eben darin 
liegt ein zweifelloser Werth der Methode für die forensische Unter¬ 
suchung. 

Auf Grund dieser werthvollen, positiven Erfahrungen werde ich 
in Zukunft bei jeder Untersuchung nicht nur auf Atropin, sondern 


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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 93 

auf alle Alkaloide die mikroskopische Untersuchung des Rück¬ 
standes, den man in allen Fällen womöglich in krystallinischer Form 
zu erhalten suchen soll, was nach meinen Erfahrungen sehr leicht und 
regelmässig geschieht, wenn man das ausgeschiedene Alkaloid wieder 
in ein Salz überführt und die Salzlösung auf einem Uhrglase langsam 
verdunsten lässt, vor der chemischen oder physiologischen 
Schlussreaction vornehmen. Je genauer diese Untersuchung geführt 
wird und je sorgfältiger man sich hierbei der so ausserordentlich em¬ 
pfindlichen, für die krystallographischen Bestimmungen unerlässlichen 
Untersuchung im polarisirten Lichte bedient, desto werthvollere 
Anhaltspunkte wird man dadurch schon von vornherein gewinnen. 
Ich kann behaupten, es durch diese Methode dahin gebracht zu haben, 
dass ich mit voller Bestimmtheit aus dem mikroskopischen Bilde, 
nachdem ich einmal bei der zuerst durchgeführten Untersuchung des 
Magens dasselbe genau kennen gelernt hatte, anzugeben vermochte, 
dass auch auf dem Uhrglase, das den Rückstand vom Blute, wie in 
jenem, das den Rückstand aus dem Harn enthielt, Atropin vorhanden 
sei, was sich in einem jeden Falle und zwar durch die von Dr. Birn- 
bacher, Docenten für Augenheilkunde, an meinem eigenen Auge aus¬ 
geführten Schlussversuche vollkommen bestätigte. Nach einer von 
Dr. Birnbacher 2 Stunden nach der Einträufelung vorgenommenen 
Messung der Pupillenweite ergab sich: linkes Auge 2 3 4 Mm., rechtes 
5V 4 Mm. Die Pupillenerweiterung hielt in der Regel fast 24 Stunden 
an, so dass sie an dem dem Versuchstage folgenden Vormittag fast 
jedesmal noch deutlich zu erkennen war. 

ln allerjüngster Zeit, nämlich in der zweiten Hälfte April dieses 
Jahres hatte ich noch einen beim Menschen beobachteten, mit Gene¬ 
sung endigenden Vergiftungsfall zu untersuchen, den ich hier noch 
kurz anreihe. 

8. Fall. Zufällige Vergiftung durch mit zerschnittener Belladonna¬ 
wurzel verunreinigten Abführthee. 

Im April d. J. übersandte mir der Herr Stadtphysikus Dr. von Plazer 
einen Urin zur Untersuchung, der von einer Patientin stammte, die in einem 
furibund delirenden Zustande ins städtische Spital gebracht worden war und bei 
welcher die Aerzte Belladonna-Vergiftung diagnosticirt hatten. Es war ein Fall 
von ökonomischer Vergiftung, indem bei einem vom Kräuterhändler bezogenen 
Thee durch einen nicht aufgeklärten Zufall Stückchen von Belladonnawurzel bei¬ 
gemischt waren. 

Die in der oben angeführten Weise vorgenommene Untersuchung ergab ein 
positives Resultat. Der Harn enthielt ein pupillenerweiterndes Alka- 


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Dr. J. Kratter, 

loid. Ich hatte auch in diesem Falle aus dem Ergebnisse der mikroskopischen 
Untersuchung mit Bestimmtheit die Anwesenheit von Atropin erkannt, indem auch 
hier wieder die gleichen Krystalle, wie sie oben beschrieben wurden, beobachtet 
worden sind. 

Ich will noch das Eine hinzufügen, dass Atropin ein Alkaloid 
ist, welches nicht nur unverändert durch den Harn wieder ausgeschie¬ 
den wird, gerade so wie Strychnin, Morphin und die meisten anderen 
Alkaloide, sondern dass es auch analog wie diese der Zersetzung 
lange Zeit widersteht, was in gerichtsärztlicher Beziehung namentlich 
von Wichtigkeit ist. 

Dragendorff l ) konnte aus einem künstlichen Speisebrei, nach¬ 
dem er 2'/ a Monate im warmen Zimmer gestanden und stark in Fäul- 
niss übergegangen war, noch Atropin abscheiden. 

In einem besonderen Versuche ist es mir gelungen, Atropin, das 
ich in einer Eprouvette faulendem Harne und in einer andern fau¬ 
lendem Blute beigefügt hatto, nachdem die Fäulniss bei gewöhnlicher 
Zimmertemperatur ungehindert vorgeschritten war, noch nach 6 und 
8 Wochen nachzuweisen. Es kann daher mit hoher Wahrscheinlich¬ 
keit angenommen werden, dass bei einer auch bereits durch meh¬ 
rere Wochen, ja vielleicht selbst durch einige Monate be¬ 
grabenen Leiche der Nachweis einer geschehenen Vergiftung 
durch Atropin oder ein anderes der resistenzfähigen Alka¬ 
loide noch erbracht werden könne. 

Im üebrigen wird es Sache besonders auszuführender experimen¬ 
teller Untersuchungen sein, für jedes der wichtigeren Alkaloide die 
Resistenzfähigkeit gegen Fäulniss in der Weise zu bestimmen, dass 
man genau bekannte Mengen in faulenden und zwar in verschiedenen 
fäulnissfähigen Medien durch verschieden lange Zeiträume verharren 
lässt und dann untersucht, ob das Alkaloid noch vorhanden ist, oder 
durch den Fäulnissprocess zerstört wurde. 

Ich beabsichtige derartige experimentelle Untersuchungen, die 
begreiflicher Weise einen grösseren Zeitraum in Anspruch nehmen 
müssen, in Zukunft auszuführen. 

Als Resultate dieser Untersuchungen und Versuche über den fo- 
rensichen Nachweis des Atropins glaube ich folgende Sätze aufstellen 
zu dürfen: 


*) Dragendorff, „Die gcr.-chem. Ermittlung von Giften.“ St. Petersburg, 
1876. S 195. §. 207. 


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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 95 


1) Der Nachweis einer stattgehabten Atropinvergiftung ist unter 
Einhaltung erprobter Methoden durch Abscheidung des Alkaloids aus 
Leichentheilen mit Sicherheit zu erbringen. 

2) Der Harn ist für die forensische Untersuchung ein sehr wich¬ 
tiges Object, da das Atropin rasch resorbirt und in nicht zu langer 
Zeit unverändert und wahrscheinlich vollständig durch denselben wie¬ 
der ausgeschieden wird; es kann im Harne auch bei nicht tödtlich 
verlaufenden Vergiftungen sicher nachgewiesen werden. 

3) Die mikroskopische, beziehungsweise krystalloskopische 
Untersuchung des reinen, zur Krystallisation gebrachten Rück¬ 
standes im polarisirten Lichte ist zwar für sich allein keineswegs 
beweisend, doch ist deren Vornahme umso mehr zu empfehlen, als 
die charakteristischen Formen des schwefelsauren Salzes die Anwesen¬ 
heit von Atropin schon auf diesem Wege ziemlich sicher erkennen 
lassen und namentlich noch vorhandene fremde Substanzen zweifellos 
nachgewiesen werden können, was bestimmend für das weitere Ver¬ 
fahren ist. 

4) Der volle Beweis kann weder durch die krystallographische 
Bestimmung, noch durch die Gulielrao-Brunner’sche Geruchsreac- 
tion, sondern nur durch ein positives Ergebniss des physiologischen 
Experimentes erbracht werden. Es empfiehlt sich hierzu wegen seiner 
hohen Empfindlichkeit vor Allem das gesunde Menschenauge, und 
kann dasselbe bei exactem Reinigungsverfahren unbedenklich auch 
dann verwendet werden, wenn das Atropin aus Leichentheilen oder 
faulenden Substanzen abgeschieden wurde. 

5) Das Atropin zeichnet sich durch eine grosse Widerstands¬ 
fähigkeit gegen die Fäulniss aus, und kann daher mit hoher 
Wahrscheinlichkeit auch noch in Leichen aufgefunden werden, die be¬ 
reits einige Monate begraben waren. 

6) Das Resultat der chemischen Untersuchung kann in Folge der 
erwiesenen raschen Ausscheidung des Atropins durch den Harn dann 
in Frage gestellt werden, wenn der Tod erst nach Tagen eingetreten 
ist und behufs Entfernung des Giftes noch besondere therapeutische 
Massnahmen ergriffen wurden (s. 6. Fall Hebenstreit). 

(Tafel-Erklärung befindet sich am Schluss des Heftes.) 


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6 . 


Zm Erstickungstod« aif mechanische Weise. 

Von 

Dr. Anton Heidenhain, 

Kreiswundarzt in Cöslin. 


Es ist eine ziemliche bedeutende Zahl plötzlicher Todesfälle, die 
— zuerst schwer erklärlich — bei der Obduction als durch Er¬ 
stickung verursacht erkannt wurden. Alle comatösen Zustände kön¬ 
nen disponirendes Moment zum Tode durch Erstickung werden; hier¬ 
her gehört der Tod durch Erstickung in der Chloroformnarcose. 

Häufig sind vor Allem solche Todesfälle durch Erstickung ein¬ 
getreten — und als solche beschrieben — durch Eindringen fremder 
Massen und besonders von Mageninhalt in den Kehlkopf und die 
Luftröhren.') 

Ganz besonders interessant sind die plötzlichen Todesfälle, welche 
während des Badens eintreten und bei vorgenommener Obduction als 
verursacht durch Erstickung erkannt wurden. 

Während man früher gemeinhin annahra, dass jene plötzlichen 
Todesfälle, wie sie beim Baden sonst gesunder Leute — besonders 
kurze Zeit nach eingenommener reichlicher Mahlzeit — beobachtet wur¬ 
den, durch Gehirn- oder Herzschlag herbeigeführt seien, dürfte man 
jetzt nach neueren Beobachtungen mit grosser Berechtigung als richtig 
annehmen, dass — wenn auch nicht in allen, jedoch in den meisten 


*) Vere George Webb, Fälle von Erstickung durch Eindringen von Speise¬ 
partikeln in die Luftwege. Brit. med. Journ. March 26. p. 467. 1880. 

Axel Key, Tod durch Eindringen von Magencontentis in die Luftröhre. 
Hygiea XXXTX . 11. Sv. Cäkaresällsk, foerh S. 248. Nov. 1877. 

Geschwind, Tod durch Eindringen von Speiseresten in die Trachea beim 
Erbrechen. Rec. de m6m. de möd. etc. milit. 3. S. XXXVHL p. 592. Sept.-Oct. 1882. 

Dr. Josef Hehle, Tod durch Eindringen von Speisebrei in die Luftwege. 
Wien. med. Presse XX. 5. p. 146. 1879. 

Bremme (Soest), Zerreissung des Zwerchfells in Folge von gewaltiger Auf¬ 
treibung des Magens und Eindringen von Magencontentis in die Luftwege. Vieitel- 
jahrsschr. f. ger. Med. N. F. XXIX. 1. p. 42. 1878. 

Wynn Westcott, Plötzlicher Tod durch Erstickung in Folge von Ent¬ 
leerung des Inhalts einer käsig entarteten Bronchialdrüse in die Trachea. Brit. 
med. Journ. March 12. p. 386. 1881. 


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Zum Erstickungstode auf mechanische Weise. 


97 


jener Fälle der Druck des Wassers auf den gefüllten Magen des 
unter den Wasserspiegel getauchten Menschen Erbrechen bewirke; 
das Erbrochene kann unter dem Wasser nicht entfernt werden; es wird 
in den Kehlkopf und die Luftröhren adspirirt und bewirkt so plötz¬ 
liche Erstickung. Zwei diese Frage deutlich illustrirende Fälle hat 
Dr. 0. Naegeli, Bezirksarzt in Ermatingen beschrieben 1 ). 

Dass auch ein hoher Grad von Trunkenheit den Tod durch Er¬ 
stickung in Folge von Eindringen erbrochener Massen in die Luftwege 
wege herbeifuhren kann, beweisen folgende 2 Fälle: 

Vor mehreren Jahren wurde ich nach dem Dorfe R. geholt; ich fand da¬ 
selbst die Leiche des Arbeitsmannes L. vor. Die Leute von R. hatten in der be¬ 
nachbarten Stadt P. Tabak an den Händler abgeliefert; bei dieser Gelegenheit 
wird nach alter hergebrachter Weise dem Schnaps sehr stark zugesprochen. L. 
war von den anderen Leuten in einem sehr betrunkenen Zustande auf einen der 
leer nach Hause fahrenden Wagen gelegt; als man in R. anlangte, wurde L. todt 
vom Wagen gehoben. Das Gesicht und die Kleider des Verstorbenen waren stark 
mit erbrochenen Massen besudelt und waren solche Massen noch im Mund und 
Nase bemerkbar. 

Ein erst in jüngster Zeit hier passirter, ähnlicher Fall, welcher 
auch die Strafkammer des hiesigen Königlichen Landgerichts beschäf¬ 
tigt hat, war folgender: 

Mehrere junge Burschen von 18—20 Jahren hatten eines Sonntags Abends 
in dem Stranddorfe Gr.-Mölln einen Bengel von ca. 16 Jahren mit Schnaps 
fleissig regalirt; als der letztere bereits stark angetrunken war, nöthigten sie den¬ 
selben, ihm die Flasche in den Mund zwingend, zum weiteren Trinken. Der 
Bengel nun völlig betrunken, wurde von den anderen Burschen an den Strand ge¬ 
schleppt und auf die Düne gelegt; nach etwa 1 Stunde holten sie denselben, um 
ihn nach Hause zu bringen. Zwei Burschen fassten den bewusstlosen, aber leben¬ 
den Jungen unter die Arme und schleppten ihn — der Kopf hing ihm tief auf 
die Brust — nach seiner Wohnung; als sie ihn dort niederlegten, war er todt. 

Die Obduction ergab Folgendes: 

A. Aeussere Besichtigung. 1) Die recognoscirte männliche Leiche 
ist die eines Menschen von ca. 16 Jahren; sie ist von kräftigem Körperbau und 
gutem Ernährungszustände und hat eine Länge von 150 Ctm. — 2) In den Ge¬ 
lenken ist überall vollständige Leichenstarre vorhanden. Die allgemeine Haut¬ 
farbe ist blass gelblich. Am Rücken, der inneren und hinteren Fläche beider 
Arme, am Gesässe und der hinteren Fläche beider Beine zeigt sich zusammen¬ 
hängend eine kupferbraunrothe Verfärbung der Hautdecken, welche an verschie¬ 
denen Stellen eingeschnitten keinen Blutaustritt in das Unterhautbindegewebe 
erkennen lässt. — 3) In den natürlichen Oeffnungen des Kopfes sind keine 


') Schweiz. Corresp.-Blatt, X. 2. 1880. 

ViertelJ*hn*chr. f. gor. Med. N. F. XLIV. I. 


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Dr. A. Heidenhain, 


fremden Gegenstände vorhanden. Die Zahnreihen sind vollständig; die blasse 
Zunge mit ihrem vorderen Rande vor den nicht fest geschlossenen Kiefern. 
Aus dem Munde fliesst eine farblose, wässrige Flüssigkeit, welche einen schwa¬ 
chen Alkoholgeruch erkennen lässt. An dem rechten Nasenflügel ist eine kleine 
Hautabschärfung vorhanden. Die Ohrmuscheln sind braunroth verfärbt. — 4) 
An dem kurzen, gut abgerundeten Halse, an der gut gewölbten Brust und an 
dem mässig aufgetriebenen Leibe ist Nichts besonders zu bemerken. — 5) Dasselbe 
gilt von der Rückenfläche. Der After steht offen. — 6) Aus dem knabenhaft 
entwickelten männlichen Gliede ergiesst sich eine geringe Menge heller, wässe- 
ger Flüssigkeit. Der gerunzelte Hodensack enthält beide Hoden. — 7) An den 
Gliedern ist Nichts besonders (ausser sub 2. Bemerkten) zu bemerken. 

B. Innere Besichtigung. 1. Eröffnung der Kopfhöhle. (Um den 
event. wichtigen Befund in den Gefässen der Gehirnhäute und des Gehirns 
durch etwaigen Abfluss von Blut nicht unersichtlich werden zu lassen, ist trotz 
des Verdachtes der Todesursache durch Alkohol-Vergiftung hiermit angefangen 
und von der Befolgung der vorgeschriebenen Reihenfolge der zu eröffnenden 
einzelnen Körperhöhlen abgesehen.) 8) Die Kopfhaut wird durch einen quer von 
einem Ohr zum anderen laufenden Schnitt gespalten und nach vorn und hinten 
zurückgeschlagen. Die innere Fläche der weichen Kopfbedeckung zeigt sich blass 
und nur aus dem hinteren Theile derselben wird eine nicht grosse Anzahl aus¬ 
tretender Blutstropfen sichtbar. — 9) Die Oberfläche des knöchernen Schädel¬ 
daches ist unversehrt und triit nur aus den neben der Pfeilnaht befindlichen 
natürlichen kleinen Oeffnungen der Schädelbeine eine massige Menge dünnflüssi¬ 
gen dunkeln Blutes hervor. — 10) Die Gehirnschale hat eine Dicke von ca. 
5 mm; durch den durchscheinenden Knochen sieht man stark gefüllte Gefässe 
von blaurother Farbe. — 11) Bei der Abnahme der oberen Gehirnschale ergiesst 
sich aus den durchgerissenen Gefässen eine ziemliche Menge dunklen, dünn¬ 
flüssigen Blutes. Die Gefässe der äusseren Oberfläche der harten Hirnhaut sind 
prall gefüllt; die innere Oberfläche der letzteren ist glatt, perlmutterartig glän¬ 
zend und etwas bläulich erscheinend. — 13) Die vorliegenden Abschnitte der 
weichen Hirnhaut zeigen sich durchsichtig und lassen eine starke Gefässentwicke- 
lung, namentlich in den hinteren Theilen und längs der grossen Hirnspalte eine 
sulzige Trübung wahrnehmen. Die weiche Hirnhaut ist überall leicht abziehbar. 
— 14) Nach der kunstgerechten Herausnahme des Gehirns erweisen sich sowohl 
der quere wie die übrigen Blutleiter stark gefüllt mit dunklem flüssigen Blut. 
Die harte und weiche Hirnhaut am Schädelgrunde zeigen bis auf eine starke 
Füllung ihrer Gefässe Nichts auffallendes; auch die grösseren Arterien sind 
gründlich stark gefüllt. — 15) Ein besonderer Geruch war weder bei der Er¬ 
öffnung des Schädels noch bei der Herausnahme des Gehirns bemerkbar. — 

16) Das Gehirn von elliptischer Form ist 17 Ctm. lang und 14 Ctm breit. — 

17) Die Rindensubstanz ist ziemlich dunkelfarbig, die Marksubstanz weiss und 
lässt bei Einschnitten zahlreiche Blutpunkte hervortreten. Die Gehirnsubstanz ist 
fest und sämmtliche Höhlen sind leer. — 18) Das Gewebe der grossen Ganglien, 
Seh- und Streifenhügel, ist derb und lässt auf Querschnitten zahlreiche Blut¬ 
punkte erkennen. Die obere Gefässspalte ist von dunkelrother Farbe, durch¬ 
sichtigem Gewebe und starker Füllung ihrer Gefässe. — 19) Das Gewebe der 
Yierhügel, des Kleinhirns, des Gehirnknotens und des verlängerten Markes ist 


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Zum Erstickungstod« auf mechanische Weise. 


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auf Durchschnitten massig durchtränkt und lässt keinen sehr starken Blutgehalt 
erkennen. — 20) Desgleichen zeigen die Gefässe der Adergeflechte eine im 
Ganzen nur massigen Blutgehalt. — 21) Am Schädelgrunde und an den 
Seitentheilen des Schädels erweisen sich die Knochen unversehert. Aus der 
Rückenmarkshöhle fliesst eine ziemliche Menge dunkelkirschrothen, flüssigen 
Blutes. 

II. Eröfung der Brust-und Bauchhöhle. 22) Nach Ausführung 
eines langen vom Knie bis zur Schambeinfuge links vom Nabel geführten 
Schnittes quellen die Därme aus der eröffneten Bauchhöhle hervor, grösstentheils 
bedeckt von dem nur mässig fettreichen und durchscheinenden blassen Netze. 
Ein specifischer Geruch ist nicht wahrnehmbar; auch findet sich kein ungehöriger 
Inhalt frei in der Bauchhöhle. Die Lage der vorliegenden Eingeweinde ist nor¬ 
mal; ihre Farbe hell-aschgrau. — 25) Das Zwerchfell steht beiderseits am obe¬ 
ren Rande der fünften Rippe. 

a) Brusthöhle, 24) Nachdem das Brustbein vorschriftsmässig entfernt 
ist, sieht man die bis zum mittleren Drittel des Herzbeutels herabreichende 
Thymusdrüse. Die ausserhalb des Herzbeutels fühlbaren grossen Gefässe sind 
prall gefüllt. Die vorliegenden Lungen weichen in Folge nur mässiger Ausdeh¬ 
nung etwas von der Brustwand zurück; die linke Lunge ist mehr zurückgezogen 
als die rechte und erreicht kaum den Rand des Herzbeutels. Die Grundfarbe der 
Lungen ist brannroth; es ragen jedoch eine Anzahl grössere oder kleinere Inseln 
hieraus hervor von weiss-bläulich inarinorirtem Aussehen. — 25) In den Brust¬ 
fellsäcken ist kein ungehöriger Inhalt vorhanden. — 26) In dem blassblauen 
Herzbeutel befindet sich etwa 1 Esslöffel von gelblich weisser klarer Flüssigkeit. 
— 27) Das Herz ist grösser als die Faust der vorliegenden Leiche und ist ziem¬ 
lich schlaff anzufühlen. Die Kranzgefässe sind nur mässig stark gefüllt. Kleine 
hochrothe Flecke (Ecchymosen) sind nirgends zu entdecken. — 28) Die Farbe 
des Herzmuskels ist braunroth; die Consistenz desselben ist namentlich im lin¬ 
ken Ventrikel derb: die Füllung in allen Abschnitten gering. — 29) Der rechte 
Vorhof und die rechte Herzkammer enthalten je einen Theelöffel dünnflüssi¬ 
gen, dunkelkirschkirscbrothen Blutes, während der linke Vorhof und die linke 
Kammer fast leer sind. Ir. die Oeffnung der Atrioventricular-Klappen kann man 
2 Finger einführen. — 30) An dem herausgeschnittenen Herzen erweisen sich 
die arteriellen Mündungen bei Eingiessen von Wasser schlussfähig; an ihren zar¬ 
ten und durchscheinenden Klappen zeigen sich weder Auflagerungen noch Sub¬ 
stanzverluste. — 31) Das Herzfleisch, Balken u. s. w. sind von braunrother 
Farbe. Die Klappen der venösen Mündungen sind zart und normal. — 31) An 
der Innenfläche der grossen Gefässe zeigen sich keine abnormen Zustände. — 
32) Vor der Herausnahme der Lungen wird der Kehlkopf und die Luftröhre er¬ 
öffnet und findet sich in deren Innerem fast ein Esslöffel voll an Kartoffelstücken 
und trüb weisslicher Flüssigkeit bestehenden Breis, welcher einen deutlichen 
Alkoholgeruch hat Eine ähnliche nur weniger grössere feste Theile enthaltende 
dickflüssige Substanz steigt bei Druck auf die Lungen aus den Bronchien in die 
Luftröhre hinauf. — 33) Die Schleimhaut des Kehlkopfes und der Luftröhre ist 
hellroth. — 34) In dem Schlunde, dessen Schleimhaut blass gefärbt ist, finden 
sich einzelne Kartoffelstücke und wenig breiige Substanz von oben beschriebener 

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Dr. A. Heidenhain, 


Beschaffenheit. — 35) Nunmehr werden die Lungen aus der Brusthöhle her¬ 
ausgenommen, wobei sich die linke Lunge an der entsprechenden Rippenwand 
durch leicht zerreissbare Strange in ihrer ganzen Ausdehnung angewachsen 
zeigt. Die vorderen Oberflächen der Lungen zeigen sich zum grössten Theil — 
wie schon sub 24 gesagt wurde — von bläulich braunrother Grundfarbe und 
nur die über das Niveau dieser Flächen hervorragenden grösseren oder kleineren 
inselartigen Erhebungen zeigen ein marmorirtes Ansehen von weiss-bläulichem 
Ansehen; diese Stellen fühlen sich knisternd an, während jener grösste Theil 
der Lungen, welcher eingesunken ist, sich derb und nicht knisternd anfühlt. 
Noch weniger solche sich knisternd anfühlenden Stellen zeigen die anderen Ab¬ 
schnitte der Lungen. Aus den Schnittflächen der eingesunkenen Lungentheile, 
quillt nur dunkles, dünnflüssiges Blut heraus und zwar in bedeutender Menge, 
während aus der Schnittfläche der marmorirten und knisternden Theile ein schau¬ 
miges, helleres Blut austritt. — 36) Sowohl in den meisten grösseren wie klei¬ 
neren Bronchien finden sich Mengen des mehrfach beschriebenen Speisebreies. 
Die Schleimhaut dieser Bronchien ist von hellrother Farbe. Die grösseren Lun- 
gengefässe sind frei von Gerinnsel. — 37) Die venösen Gefässe am Halse sind 
stark gefüllt. — 38) Die Speiseröhre enthält eine geringe Menge kleiner Kar¬ 
toffelstücke; ihre Schleimhaut ist blass und bläulich roth. 

b) Bauchhöhle. 39) Das Netz ist von der sub 22 beschriebenen Be¬ 
schaffenheit. — 40) Die Milz ist von blaurother Farbe und 10 Ctm lang, 6 Ctm. 
breit und 2 1 / 2 Ctm, dick, von derbem Gefüge und massigem Blutgehalt. — 
41) Die Nieren, deren Kapsel leicht abziehbar ist, sind 10 Ctm. lang, 6 Ctm. breit 
und 3V 2 Ctm. dick; die Farbe ist dunkel rothbraun; der Blutgehalt ist mässig 
stark. Die Pyramiden von blassblauer Farbe, zeigen keine Trübungen. — 42) Die 
Blase enthält etwa 200 Grm. hellen, klaren Urins. Die Farbe der Schleim¬ 
haut derselben ist blass. — 43) An den Geschlechtstheilen ist Nichts abnormes 
zu bemerken. — 44) Der Mastdarm enthält eine massige Menge Koth; seine 
Schleimhaut ist blass; die Drüsen sind nicht geschwellt. — 45) Der Zwölffinger¬ 
darm enthält eine massige Menge des oben beschriebenen Speisebreies. — 
46) Der Magen stark ausgedehnt, ist an seiner äusseren Fläche von hellröthlicher 
Farbe. Der Inhalt besteht aus Kartoffelstöcken, welche in grösseren oder kleine¬ 
ren Stücken in einem trüben , ziemlich dickflüssigen. weisslichen Brei vertheilt 
sind; er beträgt ca. */ 4 Liter und hat einen süsslichen, etwas an Alkohol er¬ 
innernden Geruch. Die Schleimhaut ist im Grunde des Magens dunkel bräunlicli- 
roth und von zahlreichen aschgrauen Streifen durchzogen. Der übrige Theil der 
Schleimhaut ist hellroth und zeigt ebenso wenig, wie die des Grundes, irgend 
welche Substanzverluste oder Schwellung. — 47) Der Gallengang ist für die 
Sonde leicht durchgängig. — 48) Die Leber von dunkel-braunrother Farbe ist 
22 Ctm. lang, 15 Ctm. hoch und im rechten Lappen 6\ 2 Ctm. dick. Das Ge¬ 
webe ist derb und blutroich, die Zeichnung der Läppchen deutlich. — 49) Die 
Bauchspeicheldrüse ist von hellröthlicher Farbe und derbem Gefüge. — 50) Am 
Gekröse sind die Drüsen von der Grösse einer kleinen bis grossen Bohne. — 
51) Der Dünndarm enthält nur mässig viel breiigen Koth von gelblich grauer 
Farbe; seine Schleimhaut ist hellroth. — 52) Der Dickdarm hat mehr Inhalt 
von gelblich brauner Farbe; seine Schleimhaut ist blass und nicht geschwellt. — 


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Zum Erstickungstod® auf mechanische Weise. 


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53) Die Bauch-Aorta enthält eine massige Menge dunkelrothen, dünnflüssigen 
Blutes; ihre Innenhaut zeigt keine Auflagerungen; die aufsteigende Hohlader 
ist von dunkelrothem, flüssigem Blut nur massig gefüllt. 

Hierauf erklärten die Sachverständigen die Obduction für ge¬ 
schlossen und gaben ihr vorläufiges Gutachten dahin ab: 

1) dass der Tod im vorliegenden Falle durch Erstickung in 
Folge Eintritts von erbrochenen Massen in den Kehlkopf und 
die Luftröhren verursacht ist; 

2) dass dieser Vorgang durch die in Folge des übermässigen 
Alkoholgenusses verursachte hochgradigste Trunkenheit ver¬ 
ursacht ist. 


7. 

Auffallend verschiedene Verwesungserscheinnngen bei zwei Lei¬ 
chen von Personen, die unter vollkommen gleichen Verhältnissen 
und zu derselben Zeit gestorben waren. 

Mittheilung des 

Kreis-Physikus Dr. Meyer in Heilsberg. 


In der Nacht vom 29. zum 30. Januar war im Dorfe S. ein altes 
Ehepaar, welches allein in einem Stübchen wohnte, gestorben. Aus 
der Nachbarstube hatten die Einwohner gesehen, dass der Mann am 
Abend des 29. Januar den Ofen mit Torf heizte, später die Klappe 
des Ofens schloss und sich zu seiner Frau wie gewöhnlich in das Bett 
legte. Morgens fand man beide todt. 

Der Mann war 72, die Frau 65 Jahre alt; beide von kleiner 
Statur, schwächlich gebaut, beide gleich mager und schlecht genährt. 
Er ein Potator, sie eine langjährig Lungenkranke. 

Am Nachmittag des 31. Januar wurde vom Amtsgericht H. unter 
meiner Zuziehung Leichenschau gehalten. Beide Leichen lagen, wie 
sie am Morgen des 30. Januar gefunden waren, in einem Bett, beide 
bedeckt mit ein und demselben mässig starken Federbett; beide nur 
mit einem Hemde bekleidet. Das kleine Zimmer war kalt. Die hell- 
rothen Todtenflecken liessen vermuthen, dass eine Vergiftung durch 
Kohlenoxyd stattgefunden hatte. Der Leichenbefund bei der gericht¬ 
lichen Obduction am 7. Februar (hellrothe Todtenflecken, hellrothe 


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102 


Dr. Meyer. 


Farbe des Blutes und dementsprechende Farbe der Musculatur und 
einiger inneren Organe) und die bei der Section sofort ausgeführte 
Natronprobe bestätigten den Verdacht der Kohlenoxyd-Vergiftung, der 
zur Gewissheit wurde durch die später angestellte spektroskopische 
Untersuchung des Blutes beider Leichen. 

Es ist wol mit Bestimmtheit anzunehmen, dass die beiden alten, 
gleich schlecht genährten Personen annähernd gleichzeitig gestorben 
sein werden. Die Leichen waren darauf unter vollständig gleichen 
Verhältnissen liegen geblieben, und doch zeigten sich bei der Leichen¬ 
schau, also etwa 36 Stunden nach dem Tode, die grössten Verschieden¬ 
heiten in den Verwesungserscheinungen. 

Die Leiche der Frau war noch vollkommen frisch, mässige Todten- 
starre in den Gliedmassen, vorn ganz blasse Farbe, die Bauchdecken 
leicht grünlich gefärbt. Die Hornhäute wenig getrübt. Beide Arme 
und Beine und die hintere Fläche des Rumpfes mit hellrothen, unregel¬ 
mässig geformten Todtenflecken bedeckt. Fäulnissgeruch gar nicht 
wahrnehmbar. 

Die Leiche des Mannes hatte durch eine ungemein starke Ent¬ 
wicklung von Fäulnissgasen unter den Hautbedeckungen das Ansehen 
eines colossal kräftig gebauten Mannes angenommen, nur an den Un¬ 
terschenkeln und Vorderarmen war das Hauteraphysera wenig ent¬ 
wickelt. Das Gesicht war so aufgetrieben, dass die Gesichtszüge voll¬ 
ständig entstellt waren. Der Penis hatte die Dicke eines Kinderarms, 
stand steil in die Höhe und war fragezeichenartig gekrümmt; das 
Scrotum hatte die Grösse eines Kindskopfes. Die Haut am Kopf und 
Rumpf, den Oberschenkeln und Oberarmen war durch Fäulniss-Em¬ 
physem so stark ausgedehnt, dass ein tympanitischer Ton beim An- 
klopfcn entstand; bei Druck auf die Haut das bekannte Knistern. Die 
Hautfarbe am Kopf war eine dunkel grünlich-rothe, am Rumpf, den 
Oberschenkeln und Oberarmen eine gesättigt froschgrüne, durchsetzt 
mit schmutzig braunrothen Flecken und den bekannten verästelten 
Streifen, die durch Transsudation des Blutfarbestoffes aus den Haut¬ 
venen entstehen. Die Epidermis war an der Vorderfläche des Rumpfes 
in Blasen bis zu der Grösse eines Markstückes erhoben, die theils ein 
schwärzlich-rothes, theils ein hellgelbes Serum enthielten; an der 
Hinterfläche war die Epidermis bereits in grossen Fetzen abgestreift. 
Der After stand weit offen. Die Hornhäute waren vollkommen trübe 
und eingefallen. Keine Todtenstarrc. Der Verwesungsgeruch sehr stark 
und widerlich. 


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Auffallend verschiedene Verwesungserscheinungen. 


103 


Genau acht Tage später hatten sich die Verwesungserscheinungen 
bei beiden Leichen, die bereits beerdigt gewesen waren, wenig geän¬ 
dert, nur waren bei dem Manne die Epidermisblasen an der Vorder¬ 
fläche des Rumpfes geplatzt, der Leib stärker aufgetrieben, die grüne 
Farbe dunkler und in’s schmutzig-braune spielend. Bei der weiblichen 
Leiche waren nur die Bauchdecken etwas mehr aufgetrieben und ge¬ 
sättigter grün gefärbt als vor acht Tagen. Die inneren Organe zeig¬ 
ten bei der Section am 7. Februar in Betreff der Verwesungserschei¬ 
nungen bei beiden Leichen nur höchst unbedeutende Verschiedenheiten 
und boten Bemerkenswerthes nicht dar. Die Gase des Fäulniss-Era- 
physems bei der männlichen Leiche traten bei vielfachen Einstichen 
in die Haut des Kopfes, des Rumpfes und der Geschlechtstheile mit 
zischendem Ton hervor und brannten angezündet längere Zeit mit 
bläulich-weissem Lichte. 

Wenn man das Aussehen der von mir beschriebenen beiden Lei¬ 
chen in Vergleich zieht mit den Angaben über die Zeitfolge der Ver¬ 
wesungserscheinungen in dem Handbuch der gerichtlichen Medicin von 
Lim an (Seite 35 u. folg.), so würde bei der Leichenschau am 31. Ja¬ 
nuar die Erklärung ihre Berechtigung gehabt haben, dass die weibliche 
Leiche einer Person angehörte, die vor 24—36 Stunden, die männliche 
einer solchen, die vor 14—20 Tagen gestorben war. Ich hielt diese 
Fälle deshalb für werth der Bekanntmachung, weil dieselben lehren, 
wie vorsichtig man in solchen Fällen zu urtheilen hat, wenn man 
allein aus den Verwesungserscheinungen auf die Zeit des eingetretenen 
Todes zu schliessen amtlich aufgefordert wird. Hier handelte es sich 
um die Leichen von zwei fast gleich alten, körperlich annähernd gleich 
constituirten Menschen, die unter vollständig gleichen Verhältnissen, 
durch dieselbe Todesursache und gewiss ziemlich zu derselben Zeit 
gestorben waren, deren Leichen dann ebenfalls unter vollständig glei¬ 
chen Verhältnissen geblieben waren, und wie verschieden zeigten sich 
die durch die Verwesung hervorgebrachten Leichenerscheinungen! Ge¬ 
wiss eine Parallele, wie selten so eine zur Beobachtung kommt und 
welche in sehr belehrender Weise zur Vorsicht bei der Abgabe von 
Gutachten über die Zeit des Todes von Personen auffordert, wenn nur 
allein die Verwesungserscheinungen als Richtschnur geboten sind. 


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8 . 


Beisehlafsföhig, nicht zeugungsfähig, 

Mitgetheilt vom 

Kreis-Physikus Dr. Bremme zu Soest. 


Kurz nacheinander sind zu meiner Beurtheilung zwei Fälle streitiger 
Zeugungsfähigkeit gekommen. 

Beide betrafen verheirathete Männer, von denen der eine lange in 
einer ziemlich kinderreichen, der andere aber seit Jahren in kinderloser 
Ehe lebte. 

Der erste rief meine Hülfe an gegen seine Ehefrau, die ihm 
hartnäckig ihre Schwangerschaft leugnete, damit ich deren Bestand 
ausspräche. 

Der zweite wurde von einer Wittwe auf Alimentation und Anerken¬ 
nung der Vaterschaft verklagt, gegen welche er Einspruch erhob. 

Der erste hatte vor Jahren gegen seine Erwartung und Berech¬ 
nung zu bald nach der Hochzeit seine Ehefrau mit dem ersten Kinde 
niederkommen sehen, aber „aus Scham“ geschwiegen; als jedoch die 
Schwangerschaften sich öfters wiederholten, gab er die falsche Scham 
auf und stellte sich den ärztlichen Gutachtern. 

Der andere stand in dem Rufe eines dem weiblichen Geschlechte 
besonders gefährlichen Mannes, der schon oft sich kleine Angriffe auf 
die weibliche Keuschheit sollte haben zu Schulden kommen lassen. 
Auffallend war daher das Gerücht, dass er ausserehelich Vater ge¬ 
worden, keineswegs. 

Nachdem die Beweisführung, dass die geschwängerte Wittwe auch 
mit andern Männern innerhalb der Schwängerungsfrist vertrauten Um¬ 
gang gepflogen, wie es scheint, misslungen war, eröffncte der Ange¬ 
klagte dem gerichtlichen Sachverständigen sein Geheimniss. — 

Bevor nun der Sachverständige die Ergebnisse seiner Untersuchung 
dem Papier an vertraut, geschieht es gewöhnlich, dass er sich Rath 
holt bei denen, die vor ihm in gleicher oder ähnlicher Lage gewesen 
sind. Casper-Liman’s Casuistik wurde durchgeforscht. Und weil 
gerade diese so mager selbst an ähnlichen Fällen von mir betroffen 
wurde, nahm ich mir vor, die beiden Beobachtungen nicht in den 


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Beischlafsfähig, nicht zeugungsfähig. 


105 


Gerichtsacten allein besprochen ruhen zu lassen, sondern sie auch den 
übrigen Sachverständigen zur Kenntniss zu bringen. — 

Die beiden Persönlichkeiten, über die hier berichtet wird, zeigten 
in ihrem Aussehen die grössten Verschiedenheiten. 

Derjenige, dessen Ehe mit Kindern versehen war, hatte einen schwächlichen 
Körper von etwas über 1,25 M. Länge, eine schlaffe, spärlich entwickelte Mus¬ 
kulatur und fast vollständigen Mangel an Fettpolster. 

Obwohl weder der Kopf, noch der Bauch, noch irgend ein anderer Körper- 
theil sich durch besondere Massigkeit auszeichnete, vielmehr sämmtliche Gebilde 
nur der schwächlichen Körperanlage entsprachen, konnte doch aus der schlaffen 
Beschaffenheit der Haut, aus den zahlreichen, runzelartigen Fallen des Gesichts 
und der gelbbräunlichen Farbe desselben, aus der dünnen knabenhaften Stimme 
des 40jährigen Mannes auf eine gewisse Aehnlichkeit mit einem Halbcretin ge¬ 
schlossen und vermuthet werden, dass die Untersuchung der Geschlechtsorgane 
diesen Schluss bekräftigen würde. — 

Der andere Mann, dessen Ehe kinderlos geblieben, gewährte den Anblick 
eines gesunden Menschen. Das Alter desselben betrug 52 Jahre. Seine Grösse 
wurde auf etwa 165 Ctm. geschätzt. Der Knochenbau war kräftig, die Musku¬ 
latur gut entwickelt, das Fettpolster gleichmiissig reichlich. Die Form der ein¬ 
zelnen Theile des Körpers konnte eine vollständig ebenmässige genannt werden. 
Die Stimme war stark und von gewöhnlicher Tiefe, die Haut glatt überall und 
im Gesicht blassroth gefärbt. Haarwuchs ziemlich. 

Aus diesem Aeussern konnte also nicht im Entferntesten ein 
Schluss auf diejenige Beschaffenheit der Geschlechtsorgane gezogen 
werden, welche durch die Untersuchung festgestellt wurde. 

Die Besichtigung nun der Geschlechtsorgane des Halbcretinen ergab voll¬ 
ständigen Mangel der Behaarung in der Schamgegend, ein etwa 2 Ctm. langes 
Glied, das die kindliche Form darbot. Der Hodensack war schlaff und in dem¬ 
selben lag ein Hoden (der rechte), welcher die Grösse einer weissen Bohne hatte 
und bei Druck unempfindlich war. Der Nebenhoden war nicht durchzufühlen, 
und die häutige Umgebung des Hodens lag diesem fest an. Der linke Hoden war 
nicht aus dem Bauche hervorgetreten. 

Das Gutachten lautete: P. hat eine angeborene Hodenatrophie 
und muss demnach sowohl für beischlafs- als zeugungsunfähig erklärt 
werden. 

Die Untersuchung des zweiten Mannes, der in kinderloser Ehe lebte, bot 
folgenden Befund dar: 

Das männliche Glied ist normal gestaltet und gut entwickelt. Die Eichel 
liegt frei da und ist an der Spitze durchbohrt. Die Unterbauchgegend ist behaart. 
Eine Neigung des Gliedes zum Steifwerden findet bei der Untersuchung nicht statt. 

Beide Hoden liegen im kleinen schlaffen Hodensack; der rechte erscheint 
von der Grösse einer Erbse, neben ihm wird der Nebenhoden als linsengrosser 
Anhang herausgefühlt. Umgeben sind diese harten Gebilde von deutlich zu unter- 


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106 


Dr. B r e m tn e. 


scheidenden häutigen Theilen und den Gefässen nnd dem Samenleiter, von denen 
die letzteren als dünne Stränge einzeln festgestellt werden können. Der linke 
hat die Grösse eines Hodens, der beim Neugeborenen in den Hodensack herab¬ 
getreten ist, also den Umfang einer kleinen weissen Bohne. Im Uebrigen ist 
dieselbe häutige Umgebung und strangförmige Gewebsbildung wie beim rechten 
vorhanden. 

Wenn beide Hoden fest gedrückt werden, verzieht der Untersuchte keine 
Miene und meint, er empfinde keinen Schmerz. 

Befragt, ob die Hoden seit der Jugendzeit die aufgefundene Grösse 
und Beschaffenheit gezeigt hätten, antwortete der Untersuchte: 

Als 24jähriger junger Mann habe er im Jahre 1856 in der Krupp’schen 
Fabrik zu Essen gearbeitet und eines Tages einen Unfall in der Weise erlitten, 
dass er auf ein Maschinenstück von Eisen aus einer beträchtlichen Höhe mit dem 
Hodensack aufgefallen sei. Er sei sofort ohnmächtig geworden und habe 3 Wochen 
lang an einer Hodenentzündung erkrankt darniedergelegen. Seit jener Zeit seien 
seine Hoden so klein geworden, wie sie jetzt sich zeigten. Er habe wol nach 
jener Zeit Erregungen verspürt und Versuche zur Ausübung des Beischlafs ge¬ 
macht, sei aber damit nicht zu Stande gekommen, und einen Abgang von Samen 
habe er nicht bemerkt, ln seinem 38. Lebensjahre habe er sich mit seiner 
jetzigen, damals 20jährigen Ehefrau verheirathet. Die Ehe sei kinderlos ge¬ 
blieben. Während in früheren Jahren nach gewissen Zwischenräumen Anregungen 
zu spüren gewesen seien, komme solches jetzt nur selten vor; jedoch habe er be¬ 
merkt, dass dei>Genuss geistiger Getränke von Einfluss sei. Nachdem seine Ehe 
nach Verlauf mehrerer Jahre kinderlos geblieben, habe er der Neckereien seiner 
Bekannten wegen sich von seinem damaligen Hausarzte untersuchen lassen. Der¬ 
selbe habe erklärt, er könne nicht auf Nachkommenschaft rechnen. — 

Auf meine Frage, ob er denn einen Unterschied der Beschaffenheit seiner 
Hoden vor und nach dem im Jahre 1856 erlittenen Unfälle gemerkt habe, gab 
der Untersuchte im vergangenen Jahre an: die Hoden seien stets von derselben 
Beschaffenheit gewesen als jetzt. 

Später, als der Prozess entschieden war, erklärte er jedoch: er wisse genau, 
dass seine Hoden vor dem Unfälle dicker gewesen seien, aber nach dem Unfälle 
habe sich an denselben nichts geändert. 

In meinem Gutachten musste ich auf die seltene Gelegenheit hin- 
weisen, die mir, dem begutachtenden Arzte, bei diesem Palle zu Theil 
geworden. 

Nachdem ich bemerkt, dass Aehnliches selbst in der reichhaltigen 
Casuistik des Casper-Liman’schen Werkes nicht mitgetheilt sei, 
setzte ich den Unterschied zwischen Beischlafsfähigkeit und Zeugungs¬ 
fähigkeit auseinander und wies aus jenem Werke nach, dass bei 
Menschen, denen beide Hoden genommen, noch ein gewisser Grad von 
Beischlafsfähigkeit bleiben könne, wobei ich nicht verfehlte, jene be¬ 
kannten Mittheilungen von Cooper als Beweise anzuführen. 


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Beischlafsfähig, nicht zeugungsfähig. 


107 


Ueber die Entstehung der Hodenentartung habe ich mich nicht 
mit Sicherheit aussprechen können, nur glaubte ich entschieden an- 
nehroen zu müssen, dass dieselbe nicht angeboren sein könne, weil 
die Beschaffenheit des Gliedes und seiner Umgebung und die ganze 
Körperbildung dagegen sprächen. Ob nun aber die Angabe des Unter¬ 
suchten, es stamme sein Uebel von jenem oben erwähnten Unfälle her, 
als glaubwürdig angenommen werden dürfe, oder ob die Atrophie 
Folge von Tripper und nachheriger Nebenhoden- und Hodenentzündung 
gewesen sei, musste ich dahingestellt sein lassen. 

Aber mit Bestimmtheit konnte ich das Endgutachten dahin bilden, 
„dass der Untersuchte zwar noch beischlafsfähig, aber nicht mehr 
zeugungsfähig sei, unter Hinzusetzung, dass letzteres auch während 
der Schwängerungsfrist nicht mehr der Fall gewesen.“ — 

Der Anwalt der Klägerin forderte das Gutachten eines zweiten 
Arztes. 

Dieser trat im Termine allen meinen Ausführungen bei, glaubte 
aber, dass die Hodenatrophie angeboren sei. 

Schon oben habe ich mich gegen diese Ansicht aussprechen 
müssen und würde auch dann bei meiner Annahme geblieben sein, 
wenn der Untersuchte bei seiner Aussage, er habe niemals andere 
Hoden gehabt, beharrt und nachträglich mir nicht raitgetheilt hätte, 
seine Hoden seien vor dem Unfälle dicker gewesen. 

Denn abgesehen davon, dass man aus dem Vorhandensein der 
häutigen weiten Umgebung der atrophirten Hoden wol auf einen 
früher stärkeren Inhalt, also auf dickere Hoden schliessen darf, sind 
doch eine männliche Körperbildung und ein gut entwickeltes Glied 
mit angeborener Hodenatrophie schwer vereinbar, wol aber mit 
erworbener. 

Soest, den 3. Mai 1885. 


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9. 


Der ärztliche Sachverständige and der Ausschlags der freien 
Willensbestinmung des §. 51 des Deutschen Strafgesetzbuches. 

Ton 

Prof. Dr. K. Mendel« 

Sach einem Vortrage im Verein der deutschen Irren-Aerzte in Baden-Baden 

am 17. September 1885. 


„§. 51. Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der 
Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von 
Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, 
durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“ 

In der Sitzung der Berliner medicinischen Gesellschaft am 6. Fe¬ 
bruar 1884') hatte Herr Li man über zwei Gutachten berichtet, in 
denen er als Sachverständiger sein Urtheil über den Geisteszustand 
der Angeschuldigten abzugeben hatte. 

Auf die Fälle selbst hier einzugehen, ist nicht meine Absicht, 
dagegen hatte ich bereits in der an den Vortrag sich anschliessenden 
Discussion gegen die Art der Beantwortung der Frage des Präsidenten 
des Schwurgerichts: Ist die Z. jetzt geisteskrank? seitens des Herrn 
Liman Widerspruch erhoben. Herr Liraan hatte nämlich ausgeführt, 
„dass die Z. sich nicht in einer normalen Gemüthslage befände und 
krankhaft erregt sei, dass sie aber gegenwärtig nicht als geisteskrank 
im Sinne des Gesetzes zu erachten sei und dass nur von einer äusserst 
geringen Beeinträchtigung, nicht aber von einem Ausschluss der freien 
Willensbestimmung im Sinne des §. 51. des Str.-Ges. die Rede sein 
könne“. 

Ich hatte dagegen ausgeführt, dass die Aufgabe des Arztes bei 
zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit nur darin bestehen dürfe, zu unter¬ 
suchen, ob zur Zeit der Begehung der Handlung ein Zustand von Be¬ 
wusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit vorhan¬ 
den gewesen sei, dass dagegen die Entscheidung darüber, ob der event. 
nachgewiesene Zustand von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung 

v ) cf. Verhandlungen der Berl. med. Gesellschaft, Bd. XV. p. 123. 


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Zum §.51 des Deutschen Strafgesetzbuches. 


109 


der Geistesthätigkeit der Art war, dass dadurch die freie Willensbe¬ 
stimmung ausgeschlossen war, lediglich Sache des Richters sei und 
dass es umso mehr für die ärztlichen Sachverständigen geboten sei, 
sich der Beantwortung der Frage nach dem Ausschluss der freien 
Willensbestimmung zu enthalten, als die „freie Willensbestimmung“ 
kein wissenschaftlich psychiatrischer Begriff ist, mit der Entscheidung 
darüber der Sachverständige also sein speciell wissenschaftliches Ge¬ 
biet verlässt. 

Ich machte dabei darauf aufmerksam, dass die wissenschaftliche 
Deputation des Preuss. Ministeriums für geistliche etc. Angelegenheiten 
in gleichem Sinne verführe und bei den von ihr erforderten Gutachten 
die Beantwortung der Frage nach dem Ausschluss der freien Willens¬ 
bestimmung als nicht zur Competenz des Arztes gehörend ablehnte, 
wie noch ein neuerdings von Herrn Westphal als Referenten der 
Deputation verfasstes und veröffentlichtes Gutachten zeige'). 

Im weiteren Verlaufe der Discussion schloss sich Herr Virchow, 
der als Referent der wissenschaftlichen Deputation bei dem den be¬ 
treffenden Strafgesetzbuchparagraphen vorbereitenden Gutachten in sehr 
erheblicher Weise betheiligt war 2 ), im Wesentlichen meinen Ausfüh¬ 
rungen an. Seitdem hat sich nun Herr Schäfer (Lengerich) be- 
müssigt gefunden, gegen diese Auffassung in einem längeren Artikel 
in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin 3 ) zu polemisiren und 
daran ein Gutachten über einen Fall geknüpft, der beweisen soll, 
dass es Aufgabe des Gerichtsarztes ist, „die freie Willensbestimmung 
eines Kranken auch in den Bereich seiner Untersuchung zu ziehen, 
und dass er in gewissen Fällen genöthigt ist, nicht den völligen Aus¬ 
schluss der freien Willensbestimmung, wie ihn der §. 51. voraussetzt, 
sondern nur einen relativen Grad ihrer Beeinträchtigung zu erklären“. 

Nun ist vorerst Herrn Schäfer bei seinen forensisch psychiatri¬ 
schen Auseinandersetzungen das kleine Malheur passirt, den §. 51. 
gar nicht genau zu kennen. Er meint, dass der §. 51. laute: „Eine 
strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter sich in 
einem Zustande krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, 
durch welche seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“ 


') Eulenberg’s Viertelj. f. ger. Med. 1883. Oct p. 212 
*) cf. Virchow’s gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen 
Medicin. II. p. 505. 

*) Eulenberg’s Viertelj. 1885. XLII. p. 57 u 271. 


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Dr. E. Mendel, 


Nun heisst es aber nicht: durch welche, sondern durch welchen; 
es bezieht sich der Ausschluss der freien Willensbestimmung auf den 
Zustand, und nicht blos auf den Zustand von krankhafter Störung 
der Geistesthätigkeit, sondern auch auf den Zustand von Bewusst¬ 
losigkeit. 

Es ist daher nicht richtig, wenn Herr Schäfer meint: „dieser 
letzte Relativsatz ist nach deutschem Sprachgebrauch eine unmittel¬ 
bare, nähere Begriffsbestimmung für das vorhergehende Substantivum: 
„Störung der Geistesthätigkeit“. Abgesehen von „dem deutschen 
Sprachgebrauch“, nach dem sich „welchen“ auf Zustand beziehen 
muss und dieses Substantivum zu den Genitiven: Bewusstlosigkeit und 
krankhafter Störung der Geistesthätigkeit gehört, sagt Schwartze 
in seinem Comraentar zum deutschen Strafgesetzbuch*) ausdrücklich: 
„Auf jeden dieser beiden Zustände (Bewusstlosigkeit und krankhafte 
Störung der Geistesthätigkeit) beziehen sich die folgenden Worte: „durch 
welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“ 

Ferner ist auch in einer Entscheidung des Reichsgerichts vom 
16. Januar 1882 2 ) ausdrücklich von einem Zustande von Bewusst¬ 
losigkeit, welcher jede freie Willensbestimmung ausschliesst, die Rede. 

Ja noch mehr; ich werde weiterhin zeigen, dass sich jener Re¬ 
lativsatz nach der Entstehungsgeschichte und den Commentaren zum 
Strafgesetzbuch vorzugsweise auf den Zustand von Bewusstlosigkeit, 
viel weniger auf den Zustand von krankhafter Störung der Geistes¬ 
thätigkeit bezieht. 

Nicht besser, wie mit der Auslegung des §. 51, steht es mit dem 
angeblich beweisenden Falle des Herrn Schäfer; ich muss auf den¬ 
selben hier kurz eingehen, weil die meiner Ansicht nach durchaus 
unrichtige Beurtheilung desselben leicht die Gerichtsärzte veranlassen 
könnte, jenes Gutachten als den Anschauungen der Psychiatrie über¬ 
haupt entsprechend zu betrachten. 

Es handelt sich um eine 34jährige Frau, deren Vater stumpfsinnig war, 
deren Schwester schwermülhig ist. Im Alter von 20 Jahren bekam sie epilep¬ 
tische Krämpfe, mit denen sich seit etwa 4 Jahren periodisch tobsüchtige Auf¬ 
regung. Gesichts- und Gehörshallucinationon verbanden. Nach der Beobachtung 
von Herrn Westphal in der Charite hatte sich nach den Krampfanfällen Ver¬ 
wirrtheit mit Angriffen gegen Mitpatientinnen gezeigt. In der Zwischenzeit 

') p 223. 1884; auch im Gerichtssaal 1881. p. 432. 

*) Entscheidungen des Reichsgerichts, V. p. 338. 


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Zum §.51 des Deutschen Strafgesetzbuches. 


111 


zwischen den Krampfanfällen war sie zu Zornausbrüchen geneigt, querulant und 
mit einer GefUhlslähmung der linken Körperhälfte behaftet. 

In Lindenburg bei Cöln, wo sie 1882 war, hatte sie einen Zustand post¬ 
epileptischer Tobsucht, in der Zwischenzeit zwischen zwei Anfällen war sie 
schwer besinnlich und verwirrt. 

In der Zeit zwischen ihrem Aufenthalt in Irrenanstalten befand sie sich im 
Gefängniss. Im Krankenhause von Geseke war sie frech, tobend, hat Douchen 
wie Nahrungsentziehung mit „unbegreiflicher“ (sic! dem Sachverständigen wol 
begreiflicher) Gemüthsruhe ertragen, drohte mit Selbstmord und machte einen 
Versuch, sich zu erhängen. 

Sie führte dann 1883 mit ihrem Mann einen Raub aus, und kam aus der 
Untersuchungshaft nach der Irrenanstalt Lengerich. Dort traten innerhalb 
5 Wochen 8 epileptische Anfälle auf. Gleichzeitig bestand Hemianaesthesia 
sinistra, „übermässige Eindrncksfähigkeit und Reizbarkeit.“ Von der incrimi- 
nirten Handlung wollte sie nichts wissen, gab aber zu, dass sie dieselbe be¬ 
gangen haben könnte. 

lieber den Zustand des Gedächtnisses und der Intelligenz ist 
Näheres in dem Gutachten nicht angegeben. Die angeführten That- 
sachen dürften aber wol genügen, um nachzuweisen, dass bei der seit 
14 Jahren an Epilepsie leidenden Frau die Psyche in den Intervallen 
nicht intact geblieben war, dass es sich um einen Zustand von chroni¬ 
scher epileptischer Geistesstörung handelt. Es beweist sicher gegen 
die Geistesstörung nichts, wenn nachgewiesen wird, dass die Ange¬ 
klagte hier und da oder öfter bewusst die Unwahrheit sagte, das 
„Lügen“ gehört bekanntermaassen bei epileptischen und hysterischen 
Personen zu den Krankheitssymptomen. 

Die Angeklagte demoustrirte in der Schwurgerichts-Verhandlung ihren Zu¬ 
stand noch ad oculos. Erst war sie ruhig, allmälig wurde sie gereizter, fuhr 
plötzlich auf, um den Redenden in’s Wort zu fallen, dann trat ein ausgebildeter 
epileptischer Anfall ein. „Als sie zu sich kam, benutzte sie die Gelegenheit, 
vollständige Unbesinnlichkeit vorzutäuschen, indem sie die Aerzte mit Du an¬ 
redete und allerlei durchsichtige Faxen machte.“ 

Dass eine Epileptische unmittelbar nach einem schweren Anfall 
in dieser Weise simuliren könne, wird Herr Schäfer wol kaum zu 
beweisen im Stande sein, und ich bin überzeugt, ohne Herrn Schäfer 
hätten die Geschwornen unter dem Eindruck des Zustandes der An¬ 
geklagten das richtige Urtheil, nämlich die Freisprechung, gefunden. 
Dass der eine Sachverständige, Herr Laudahn (Lindenburg), der die 
Kranke in seiner Anstalt beobachtete, sie für geisteskrank (psychischer 
Degenerationszustand) erklärte, nimmt nicht Wunder, ebensowenig dass 
drei praktische Aerzte, die ja bei dem Mangel an Vorbildung auf der 
Universität, selbstverständlich mit Ausnahmen, wol in dieser Specialiät 


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112 


Dr. E. Mendel, 


kaum als Sachverständige zu betrachten sind, sie für gesund erklärten, 
wol aber muss in hohem Grade befremden, dass Herr Schäfer als 
langjähriger Psychiater zu folgendem Gutachten, das, wie ich meine, 
dem Inhalte nach psychiatrisch, der Form nach gerichtlich nicht zu 
rechtfertigen ist, kam: 

Die Frau P. ist krankhaften Störungen ihres Nerven- und Geisteslebens 
unterworfen, die für gewöhnlich ihre Zurechnungsfähigkeit er¬ 
heblich vermindern, und 

sie befand sich ausserdem zur Zeit der incriminirten That möglicher¬ 
weise in einem maniakalischen Aufregungszustand, welcher ihre 
freie Willensbeslimmung im Sinne des Gesetzes aufhob. — 

Sie wurde zu 2 Jahr Zuchthaus verurtheilt. 

Der Fall, der nach Herrn Schäfer beweisen soll, dass der 
Arzt die freie Willenbestimmung in den Bereich seiner Untersuchung 
ziehen soll, beweist im Gegentheil, wie gefährlich es ist, wenn der 
Arzt sein sachverständiges Gebiet verlässt. Wäre es nicht ein foren¬ 
sischer Fall gewesen, so würde, wie ich glaube, Herr Schäfer, und 
zwar mit Recht, kein Bedenken getragen haben, die Frau «fls epilep¬ 
tische Geisteskranke bis an ihr Lebensende in der Anstalt der Freiheit 
zu berauben, weil sie geisteskrank und gemeingefährlich sei. 

Aber Herr Schäfer meint, dass „unter den Aerzten wohl kein 
Zweifel darüber sei, dass es Zustände giebt, wo die geistige Thätig- 
keit gestört ist, ohne dass die freie Willensbestimmung wesentlich 
beeinträchtigt oder aufgehoben wird“. Die freie Willensbestimmung 
selbst nennt er eine psychische Function. Ich habe nicht die Ab¬ 
sicht, hier auf den Begriff der freien Willensbestimmung irgendwie 
näher einzugehen, ich glaube aber nicht, dass die alte Trigolie der 
Seele in Gefühls-, Erkenntniss , Willensvermögen noch viele Anhänger 
unter den Psychiatern hat; die krankhaften Störungen des Willens 
(Abulie, Hyperbulie), die man früher als eoordinirt den Störungen 
der Gefühle, der Intelligenz erachtete, sind, wie ich glaube, mit 
vollem Rechte aus der Semiotik der Psychosen verschwunden. Die 
klinische Untersuchung sucht die Veränderungen der inneren Sinnes¬ 
wahrnehmung, des Fühlens und Denkens festzustellen, und bemüht 
sich, aus diesen, nicht aus einer Veränderung des Wollens, die Ent¬ 
stehung der abnormen Handlungen nachzuweisen. 

Hat doch auch die moderne Psychologie (cf. die Willensbestim¬ 
mungen und ihr Verhältniss zu den impulsiven Handlungen von 
Spitta, Tübingen 1881 p. 15) das „Wollen“ aus dem Grundver- 


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Zum §.51 des Deutschen Strafgesetzbuches. 


113 


mögen der menschlichen Seele gestrichen und es zu einer secundären 
Erscheinung gemacht, die vom Vorstellen und Fühlen zu Stande ge¬ 
bracht wird! 

Wenn nun aber schon über das Wollen keine Einigkeit herrscht, 
wie jener Dissens des Herrn Schäfer zeigt, so noch viel weniger 
über den freien Willen. 

Nicht bloss jeder Psychiater, jeder Arzt, sondern auch jeder 
Richter, wie jeder Staats- und Rechtsanwalt, endlich auch jeder Ge¬ 
schworene hat sein philosophisches System darüber, jeder dünkt sich 
hinreichend sachverständig über diesen Punkt, zu dem Keiner Vor¬ 
studien für nothwendig hält: Was freier Wille ist, das sagt der so¬ 
genannte gesunde Menschenverstand klipp und klar. 

Was aber ist unter krankhafter Störung der Geistesthätigkeit 
zu verstehen? 

Die wissenschaftliche Deputation des Preussischen Ministeriums 
hatte krankhafte Störung der Geistesthätigkeit statt Geisteskrankheit 
vorgeschlagen, weil der erstere Begriff umfassender ist, und man 
unter ihm auch Fieberdelirium, Zustand der Gebärenden u. s. w. sub- 
sumiren kann. Krankhafte Störung der Geistesthätigkeit kann also 
sein a) Geisteskrankheit, b) vorübergehende secundäre Störung der 
geistigen Thätigkeit durch anderweitige körperliche Anomalien. 

Weitaus in der grossen Mehrzahl der Fälle handelt es sich in den 
forensischen Gutachten um die Frage, ob Geisteskrankheit oder nicht. 

Wie verhält sich Geisteskrankheit zum Auschluss der freien 
Willensbestimra ung ? 

Man mag nun diesen „freien Willen“ definiren oder auffassen 
wie man will; der Satz des Herrn Schäfer, dass Geisteskrankheit 
ohne Auschluss der freien Willensbestimraung einhergehen könne, ist 
psychiatrisch nicht zu rechtfertigen. Herr Schäfer citirt Beispiele: 
„Apoplektiker mit Intelligenzdefect, mit oder ohne Aphasie, originär 
Schwachsinnige mässigen Grades“. 

Unzweifelhaft sind solche Personen geisteskrank, und dass wenig¬ 
stens für die deutschen Psychiater geisteskrank und unzurechnungs¬ 
fähig identisch ist, d. h. also nach der Definition des § 51 Geistes¬ 
krankheit mit Ausschluss der freien Willensbestimmung zusammen¬ 
fällt, darüber kann nach den langen Verhandlungen über diese Frage 
kein Zweifel sein. 

Vom Jahre 1858—1865 wurde fast alljährlich auf den Ver¬ 
sammlungen der deutschen Irrenärzte hierüber discutirt, und das Ende 

Vierteljährigelir. f. ger. Med. N. F. XL1V. 1 g 


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Dr. E. Mendel, 


dieser Discussionen war die Annahme der Jessen’schen Thesis 13 
im Jahre 1865 in Hildesheim, die folgender Maassen lautet: 

„Jeder Geisteskranke ist dem bürgerlichen Gesetz gegenüber zu- 
rechnungsunfähig.“ 

In demselben Sinne sprach sich auch Skrzeczka, der bei dem 
vorbereitenden Gutachten für den § 51 in der wissenschaftlichen De¬ 
putation betheiligt war, aus, als er bei der Discussion in der Ber¬ 
liner med. psychol. Gesellschaft 1 ) erklärte: 

Uebrigens ist auch jeder Geisteskranke des freien Willens be¬ 
raubt, auch wenn eine That scheinbar nicht unter dem Einfluss der 
Krankheit entstanden ist. 

Aber auch die Commentare zum Strafrecht und die Lehrbücher 
des Strafrechts theilen diese psychiatrische Anschauung. 

Schvvartze, der im norddeutschen Reichstage Referent über den 
jetzigen § 51 war, sagt 2 ): 

Die „krankhaften Störungen der Geistesthätigkeit“ umfassen 
daher auch die Geisteskrankheiten im engeren Sinne, bei denen selbst¬ 
verständlich die Frage der Zurechnungsfähigkeit durch die Existenz 
der Krankheit verneint ist. 

Berner 3 ) erklärt: die Entstehungsgeschichte des § 51 erhebt 
indess zur Augenscheinlichkeit, dass der Gesetzgeber bei bewiesener 
Bewusstlosigkeit oder wahrer Geisteskrankheit nicht noch einen be¬ 
sonderen Beweis der Unfreiheit zur Annahme der Zurechnungsun- 
(ähigkeit fordert. 

„Sobald der Beweis geführt ist, dass der Thäter zur Zeit der 
That geisteskrank war, ist das Strafverfahren einzustellen.“ 

Nach diesen Ausführungen könnte es scheinen, als ob überhaupt 
kein wirklicher Dissens zwischen Aerzten und Juristen bestände, und 
dass der Zusatz des Ausschlusses der freien Willensbestimraung ledig¬ 
lich eine Formalität sei in dem Falle, wenn von dem Sachverstän¬ 
digen Geisteskrankheit nachgewiesen sei. Thatsächlich liegt die 
Sache allerdings ganz anders. Bei dem Mangel psychiatrischer Kennt¬ 
nisse unter den Juristen und selbstverständlich auch bei den Ge¬ 
schworenen und bei den verkehrten Anschauungen, die über Geistes¬ 
krankheit überhaupt herrschen (ein eklatantes Beispiel dafür hat uns 


') cf. Arch. f. Psjrch. II. p. 230. 1869. 
*) Gerichtssaal 1881. 33. p. 436. 

*) Strafrecht p. 128. 


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Zum §.51 des Deutschen Strafgesetzbuches. 


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in Berlin erst wieder der Staatsanwalt im Process Graef gegeben), 
wird öfter das Vorhandensein der Geisteskrankheit in erster Reihe bezwei¬ 
felt. Der Instanzrichter hat aber die Frage nach der Ausschliessung der 
freien Willensbestimmung selbständig zu lösen, er ist dabei weder an frü¬ 
here Entscheidungen des Civilrichters (Blödsinnigkeitserklärung), noch an 
das Gutachten zu vernehmender Sachverständiger gebunden. (Ober- 
Tribunalsentscheidung, October 1868. R. d. 0. IX. 546. Strafprocess- 
ordnung § 261). Je strenger der ärztliche Sachverständige lediglich 
sich auf ärztlichem Gebiete hält, je mehr er psychologische Deduc- 
tionen vermeidet, um so wirkungsvoller wird sein Gutachten sein, da 
sich der Richter dem Einflüsse einer streng wissenschaftlichen Deduc- 
tion schwer wird ganz entziehen können. 

Im Uebrigen ist jener Zusatz, wie sich aus den Vorverhandlungen 
ergiebt, entstanden dadurch, dass man zwar dem Drängen der Aerzte 
(auch der wissenschaftlichen Deputation) nachgeben und das Moment 
der Krankheit in den betreffenden Paragraphen hineinbringen wollte, 
dass man aber auch die Besorgniss hatte, dass, wenn man lediglich die 
Krankheit resp. die Geisteskrankheit als entscheidend für die Unzurech- 
nungsfähigheit hinstellte, die Aerzte eine zu präponderirende Stellung 
einnehmen würden. Der Zusatz des „Ausschlusses der freien Willens¬ 
bestimmung“ sollte dem Richter die Möglichkeit geben, ohne die 
Autorität des ärztlichen Gutachtens herabzusetzen, zu sagen, der 
Angeschuldigte litt zwar zur Zeit der Begehung der Handlung nach 
dem Ausspruch der Aerzte an krankhafter Störung der Geistesthätig- 
keit, dieselbe war aber nach der Feststellung des Richters nicht eine 
derartige, dass durch dieselbe die freie Willensbestimmung ausge¬ 
schlossen war. 

Dem entspricht auch vollständig folgender Satz in den Motiven 
zum § 51 (damaligen § 49)*): 

Bei der gewählten Fassung des Paragraphen hat man zugleich 
mit den Schlussworten desselben ausdrücken wollen, dass die Schluss¬ 
folgerung selbst, nach welcher die freie Willenstörung in Beziehung 
auf die Handlung ausgeschlossen war, Aufgabe des Richters ist. 

Nun ist zwar bei der dritten Berathung (52. Sitzung) auf An¬ 
trag des Herrn v. Saltzwedel das „in Beziehung auf die Handlung“ 
gestrichen worden, nachdem noch in zweiter Lesung (16. Sitzung) der 
Antrag der Herren Nasse, Richartz und Pelmann, die dasselbe 


! ) Stenograph. Ber. des Reichstags, Nordd. Bundes 1870. Anlage 3. p. 57. 

8 * 


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Dr. E. Mendel, 


wollten, abgelehnt worden war, aber nach der Auffassung, die in den 
Motiven enthalten ist und wie sie auch von dem Referenten Schwartze 
vertreten war, wird durch den Wegfall jener Worte an der Aufgabe, 
die dem Sachverständigen zufällt, und der, die dem Richter obliegt, 
nichts geändert. 

In demselben Sinne äussert sich Berner (1. c. p. 123): 

Der Schluss, den der Arzt aus dem Seelenzustande auf die Zu¬ 
rechnungsfähigkeit zieht, unterliegt, weil er wesentlich zur Recht¬ 
sprechung gehört, und einen strafrechtlichen Begriff be¬ 
trifft, der sorgfältigen Controle des Richters. Der Arzt brauchte 
ihn in seinem Gutachten gar nicht zu ziehen, konnte dasselbe viel¬ 
mehr auf den Seelenzustand beschränken, ebenso wie er sich bei 
Tödtungen auf die Feststellung des Causalzusammenhangs beschränken 
und die davon wohl zu unterscheidende Zurechnungsfrage gänzlich 
dem Richter überlassen kann. 

Ferner Schütze’): Dem Begutachter ist nur die Vorfrage vor¬ 
zulegen, ob ein abnormer Geisteszustand oder geistige Unreife bestehe 
bezw. bestanden habe, niemals aber die Frage, ob der Angeschuldigte 
zurechnungsfähig. Das Gericht hat da selbständig zu prüfen, inwie¬ 
weit das Gutachten die Ueberzeugung bewirken könne, dass jener ab¬ 
norme Geisteszustand Vorgelegen und daraus nach rein strafrecht¬ 
lichen Erwägungen den Schluss zu ziehen, ob Unzurechnungsfähigkeit 
anzunehmen sei oder nicht. 

Aus all diesen Erwägungen ergiebt sich in Bezug auf das Ver- 
hältniss von Geisteskrankheit und Ausschluss der freien Willensbe¬ 
stimmung Folgendes: 

1) Die freie Willensbestimmung ist kein medicinischer Begriff, 
der Arzt ist als Sachverständiger nicht in der Lage, über Bestehen 
oder Ausschluss derselben Auskunft zu geben. 

2) Versteht man unter freier Willensbestiramung, resp. setzt man 
dafür lediglich die Thatsache, dass Handlungen aus einem Kampfe 
sich associirender und contrastirender Vorstellungen hervorgehen kön¬ 
nen, so ist es als eine allgemein angenommene Thesis der Psychiatrie zu 
betrachten, dass Geisteskrankheit einen in normaler Weise sich voll¬ 
ziehenden Widerstreit zwischen jenen Vorstellungen (also freie Willens¬ 
bestimmung) ausschliesst. 

3) Der Gesetzgeber hat durch die Motive zum §. 51. seinen Willen, 


') Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, p. 71. IST4. 


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Zum §. 51 des Deutschen Strafgesetzbuches. 


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hervorragende Rechtslehrer haben durch ihre Commentare zum deut¬ 
schen Strafgesetzbuch ihre Ansicht dahin ausgesprochen, dass der 
Relativsatz „durch welchen seine freie Willensbestimmung aufgehoben 
war“ nicht von dem sachverständigen Arzt zu beantworten sei. 

Aber die Definition der Unzurechnungsfähigkeit im §. 51. umfasst 
nicht blos die Geisteskrankheiten, sondern auch eine Reihe anderer 
Zustände von „krankhafter Störung der Geistesthätigkeit“ und ausser¬ 
dem Zustände von „Bewusstlosigkeit“. Was die ersteren betrifft, so 
war oben davon schon die Rede. 

Den „Zustand von Bewusstlosigkeit“ hatte man hinzugefugt, um 
auch Zustände von Trunkenheit, Schlaftrunkenheit, Nachtwandeln, 
hochgradigen Affect, Zorn, Angst, Furcht 1 ) berücksichtigen zu können, 
Zustände, die z. Th. sich schwer oder gar nicht unter krankhafter 
Störung der Geistesthätigkeit subsumiren lassen. Es sollte damit übri¬ 
gens nur eine Bewusstlosigkeit gemeint sein, durch welche weder das 
Selbstbewusstsein noch die Actionsfähigkeit völlig aufgehoben ist, son¬ 
dern nur eine solche vorübergehende Störung des Bewusstseins, bei 
welcher immer noch in Frage kommt, ob sie so bedeutend gewesen 
sei, dass durch sie die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war 2 ). 
Nun ist es unzweifelhaft, dass bei dem grössten Theil der hier in Frage 
kommenden Zustände, z. B. bei der Trunkenheit, beim Affect, bei den 
Geburtswehen u. s. w. die Frage der Zurechnungsfähigkeit lediglich 
nach dem Grade, der Höhe jener Störungen sich wird beantworten 
lassen; dieser Grad kann aber häufig nicht durch den Arzt, sondern 
muss durch Zeugen festgestellt werden. Der Arzt scheint hier oft 
kaum nothwendig, ja Herr Virchow erklärte bei jener Discussion, 
dass man überhaupt in der wissenschaftlichen Deputation gemeint 
habe, bei der Beurtheilung jener fraglichen Zustände von Bewusstlosig¬ 
keit brauche man überhaupt keinen Arzt als Sachverständigen zuzu¬ 
ziehen : eine Meinung, mit der ich allerdings nicht ganz übereinstimrae, 
da auch bei der Beurtheilung derartiger Zustände in vielen Fällen 
psychiatrische Kenntnisse erforderlich sind. Ich möchte nach dieser 
Richtung hin hier nur beiläufig den Zustand der Trunkenheit erwähnen. 
Hier könnte der Richter einfach aus der durch Zeugenaussagen fest¬ 
gestellten Menge des genossenen Alkohols z. B. nach seinen subjectiven 
Erfahrungen entscheiden, ob der Angeschuldigte bewusstlos gewesen 


') of. Olshausen, Strafgesetzbuch p. 212. 

*) cf. Scbwartze, Gerichtssaal 1881. p. 432. 


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118 


Dr. E. Mendel, 


oder nicht, während wir wissen, dass unter besonderen Umständen 
sehr kleine Mengen Alkohol Zustände von Bewusslosigkeit herbei¬ 
führen können. 

Der Relativsatz „durch welchen seine freie Willensbestimmung“ 
ausgeschlossen war, bezieht sich demnach vorzugsweise auf Zustand 
von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit, 
soweit die letztere keine eigentliche Geisteskrankheit darstellt. 

Dem entspricht auch die Stelle bei Olshausen (Strafgesetzbuch 
p. 212): „Durch den Zusatz „freie Willensbestimmung“ ist gerade der 
Begriff der Bewusstlosigkeit näher motivirt“ und bei Berner (1. c. 
p. 128): Dagegen liegt die Directive in den Worten „durch welchen 
seine freie Willensbestiramung ausgeschlossen war“ in den Fällen, wo 
keine eigentliche Geisteskrankheit vorhanden (Fieberdelirien, Gebä¬ 
rende u. s. w.). 

Wenn nach dem Gesagten es den Anschein hat, als ob die Frage¬ 
stellung, die der Richter für den Arzt zu formuliren hat, so einfach 
gegeben ist, muss es Wunder nehmen, dass trotzdem in der Praxis, 
wie Herr Li man in jener Discussion hervorgehoben hat, seitens der 
Gerichtspräsidenten anders verfahren wird und von dem Sachverstän¬ 
digen auch die Beantwortung der Frage nach dem Ausschluss der 
freien Willensbestimmung verlangt wird. 

Es beruht dies, wie ich glaube, auf der Unkenntniss der Richter 
über die Entstehungsgeschichte des §. 51, und es scheint mir viel saeh- 
gemässer zu sein, den Richter auf die ärztlichen und juristischen Gründe 
aufmerksam zu machen, aus denen der Sachverständige die Beant¬ 
wortung jener Frage ablehnt, wie es die wissenschaftliche Deputation 
unter Vorsitz eines Juristen thatsächlich ausführt, als sich dem un¬ 
berechtigten Verlangen zu fügen. Dass die Richter sich schliesslich 
die Ablehnung der Beantwortung der betreffenden Frage gefallen lassen, 
zeigt ebenfalls das Beispiel der wissenschaftlichen Deputation, deren 
Gutachten — ohne Beantwortung des Relativsatzes — bisher nicht 
beanstandet worden sind. 

Ich möchte aber bei dieser Gelegenheit noch darauf aufmerksam 
machen, dass Ausdrücke, wie „geisteskrank im Sinne des Gesetzes“ 
oder „verminderte Zurechnungsfähigkeit“, welche in den oben erwähn¬ 
ten Gutachten gebraucht worden sind, durchaus zu verwerfen sind. 
Was den ersteren Ausdruck betrifft, so giebt es weder eine gesetz¬ 
liche noch eine ungesetzliche Geisteskrankheit, sondern es giebt nur 
eine Geisteskrankheit, deren Wirkung auf die rechtliche Stellung des 


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Zam §. 51 des Deutschen Strafgesetzbuches. 


119 


Kranken zu entscheiden ausserhalb der Competenz des Arztes liegt; 
was den zweiten Ausdruck aber betrifft, so darf allerdings wol der 
Richter bei einem gerichtlichen Sachverständigen soviel Kenntniss 
der Materie voraussetzen, dass er weiss, dass das deutsche Strafgesetz 
eine verminderte Zurechnungsfähigkeit nicht kennt. Ist es meiner 
Ansicht nach schon zu verwerfen, dass der Arzt sich überhaupt über 
Zurechnungsfähigkeit ausspricht, so ist es noch viel weniger zu recht- 
fertigen: verminderte Zurechnungsfähigkeit als vorhanden zu behaupten. 
Will der Arzt gewisse Milderungsgründe bei dem Angeklagten geltend 
machen, den er nicht für geisteskrank erklären kann, so muss er 
dies in anderer Form thun und in einer Weise, die dem Richter zur 
Fragestellung nach mildernden Umständen, soweit dieselben zulässig 
sind, Veranlassung geben kann. Andern Falls könnte ein mit der 
Entstehung des §. 51 vertrauter Gerichtspräsident dem Sachverstän¬ 
digen sofort das Wort entziehen, indem er sich die Motive des §.51 
aneignet: Der Gerichtsarzt hat zunächst zu untersuchen, ob Krank¬ 
heit (Geistesstörung) vorhanden war oder nicht, in welch letzterem 
Falle er sich aller weiteren Erörterungen zu enthalten hat. 

Es handelt sich im Uebrigen bei diesen Fragen durchaus nicht 
um etwa formelle Dinge, sondern es sind Fragen von eminentester 
praktischer Bedeutung. Ein Arzt, der sich vor Gericht anmaasst, über 
»Zurechnungsfähigkeit“, „verminderte Zurechnungsfähigkeit“ u. s. w. 
zu entscheiden, verkennt seine Stellung, und macht sich und seinen 
Collegen die so schon ungemein schwierige Stellung des gerichtlichen 
Sachverständigen bei zweifelhaften Geisteszuständen noch schwieriger. 

Die Zurechnungsfähigkeit oder Unzurechnungsfähigkeit ist kein 
medicinischer, sondern ein strafrechtlicher Begriff, und es bedarf wahr¬ 
lich nur eines Blickes auf eine nicht lange hinter uns liegende Zeit, 
um zu erkennen, welche Nachtheile für das Ansehen der Aerzte wie 
für das Geschick ihrer Clienten es mit sich führt, wenn die Aerzte 
sich anschicken, die Geschäfte des Richters besorgen zu wollen. 


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II. Oeffentliches Sanitätswesen. 


1 . 

Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf 

(geliefert von Firma Walz & Windscheidt) 
dnrch 

Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig, 

in Düsseldorf. Kreisphysikus in Duisburg. 


Während in der wissenschaftlichen medizinischen Welt, die ätio¬ 
logische Richtung von Tag zu Tag neue Erfolge zu verzeichnen hat, 
bereitet sich die Hygiene vor, unbeirrt von noch streitigen Punkten 
möglichst rasch und vollständig Nutzen aus diesen Erfolgen, resp. 
den mühsamen Untersuchungen, welche den Erfolgen vorangingen, zu 
ziehen. Vor allen Dingen ist es die Desinfectionsfrage, welche das In¬ 
teresse weiter Kreise für sich in Anspruch nimmt. Auch hier ist es 
wieder Prof. R. Koch, dem wir für bahnbrechende Arbeiten in dieser 
Frage, wie für so viele andere grossen Fortschritte in der Bacterio- 
logie dankbar sein müssen. Wenn auch Fr. Sander in seiner 1875 
erschienen Broschüre: „Ueber Geschichte, Statistik, Bau und Einrich¬ 
tung von Krankenhäusern“ schon die direkte Benutzung des Dampfes 
zur Desinfection von grösseren Gegenständen anführt und denselben be¬ 
nutzt hat, so war es doch Koch und seine Schüler, welche mit Hülfe 
verbesserter Methoden diese Frage genauer studirten und erst recht 
begründeten. Zunächst wurden von Koch und Wolffhügel Versuche 
über die desinficirende Kraft der heissen Luft angestellt. Diese Ver¬ 
suche hatten das Resultat, dass nur sporenfreie Bacterien und Schim¬ 
melsporen in verhältnissmässig kurzer Zeit durch heisse Luft zerstört 
wurden, während die Vernichtung von Bacillensporen erst durch drei¬ 
stündigen Aufenthalt derselben in 140° C. heisser Luft erreicht werden 
konnte. Dabei stellte es sich heraus, dass die trockene heisse Luft 
nur äusserst schwierig in Desinfectionsobjecte von nur mässigen Dimen¬ 
sionen eindringt, auch wenn dieselbe drei bis vier Stunden bei 140° C. 
einwirkt. 


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Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf. 


121 


Weitere von Koch, Gaffky und Löffler angestellte und in den 
„Mittheilungen des Kaiserl. Gesundheitsamtes“ Bd. I. veröffentlichte 
Untersuchungen ergaben nun, dass unter den infectiösen Mikroorga¬ 
nismen die Bacillenformen bereits durch Temperaturen unter 100 C. 
zerstört, dass aber die Dauerformen, die Sporen erst bei längerer 
Einwirkung von 100 C. vernichtet werden. 

Heisses Wasser, bei direkter Einwirkung der Siedehitze, todtet 
Dauersporen in zwei Minuten. 

Heisse Wasserdämpfe von 100 C. bewirken dies ebenfalls in kur¬ 
zer Zeit und zwar in 10 bis 15 Minuten. Die Bacillen und Sporen 
sind aber in den meisten Fällen unserer Desinfectionspraxis nicht 
direkt für heisse Luft, heisses Wasser oder heisse Dämpfe angreifbar, 
sondern durch ihre Vehikel geschützt, so dass die Temperaturträger, 
sei es nun Luft, Wasser oder Dampf, diese erst allseitig durchdringen 
müssen. So einfach nun auf den ersten Blick diese Verhältnisse zu lie¬ 
gen scheinen, so verwickelt ist der Vorgang, sobald es sich um grössere 
Objecte handelt. 

Heisse Luft ist, wie schon Prof. Koch und Dr. Wolffhügel an¬ 
gegeben und wie neuerdings auch Prof. M. Wolff bestätigt hat, ab¬ 
solut nicht zu verwenden, da erstens die Wirkung eine sehr unsichere 
und zweitens die Objecte durch die lange Einwirkung trockener Hitze 
leicht verdorben werden. 

Heisses Wasser ist nur selten wegen der Beschaffenheit der Stoffe 
in Anwendung zu ziehen. 

Heisser gespannter Wasserdampf dringt ebenfalls langsamer in 
grössere Objecte ein, als man vermuthen sollte und nur heisse strö¬ 
mende Wasserdärapfe thun dies in kurzer Zeit und in befriedigender 
Weise. 

Koch emfiehlt deshalb nur die Anwendung dieser, er konnte 
jedoch bei grösseren Apparaten die Dampfhitze von 100 C. am Aus¬ 
flussrohr nicht erreichen, wenn er nicht Salzlösungen verwandte. Bei 
Versuchen im Grossen ergaben sich nun, wie Merke 1 ) nachwies, ver¬ 
schiedene Nachtheile, wenn die Construction, welche Koch zu seinen 
Versuchen gedient hatte, einfach in grösserem Maassstabe ausgeführt 
werden sollte. Die Hauptschwierigkeit bei der Construction würde darin 
liegen, wie Merke hervorhebt: dass es bei jenen Apparaten ein Haupt- 


l ) Merke, „Ueber Desinfections-Apparate und Desinfectious-Versuche“ in 
dieser Vierteljahrsschrift N. F. XXXVII. 1. 


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122 


Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig, 


erforderniss ist, dass die dampfentwickelnde Fläche gleich ist dem 
Querschnitt des zur Aufnahme der Effecten bestimmten Cylinders, da 
sonst die Dämpfe nicht concentrirt genug sind und beim Eintreten in 
einen weiteren kühlen Raum nicht den nöthigen Hitzegrad behalten 
würden. Es müsste dementsprechend auch die Feuerungsanlage sehr 
gross angelegt werden, was sehr umständlich und kostspielig werden 
dürfte. Diese Erwägungen führten Merke zu einer neuen Construc- 
tion, welche ausser strömenden Wasserdämpfen, noch trockene Hitze, 
welche durch ein besonderes Rippensystem erzeugt wird und starke 
Ventilation verwendet. Diese Construction wird von Schimmel & Co. 
in Chemnitz ausgefuhrt und ist denselben patentirt. Auch der von 
Bacon in Berlin construirte Apparat benutzt neben Dampf von 
2 Atmosphären Spannung noch trockene Hitze und starke Ventilation. 

Der Raetke’sche Desinfectionsapparat arbeitet nur mit heisser 

Luft. 

Nur der Henneberg’sche Desinfectionsapparat schliesst sich in 
seiner Construction den im Reichsgesundheitsamt benutzten Modellen 
genauer an, indem sich der Desinfectionsraum unmittelbar über dem 
offenen Verdampfungsbehälter befindet. Indess auch Henneberg 
sieht sich gezwungen, zur Erreichung der constanten Dampftemperatur 
von 100 Cels. und der Verhinderung einer Condensation der Dämpfe, 
seinen Kessel mit inneren Rippen zu versehen, welche von dem obe¬ 
ren Flansch bis zum Boden hinabreichen, um noch vor der Dampf¬ 
entwicklung die Luft und die Wandungen des Desinfectionsraumes auf 
circa 100 Cels. zu erwärmen. Henneberg legt einen grossen Werth 
auf die starke natürliche Strömung des Dampfes nach oben und misst 
gerade dem stark strömenden Wasserdampfe die Fähigkeit bei, schnell 
in die Desinfectionsobjecte einzudringen. 

Ausserdem wurden von verschiedenen Firmen noch Apparate con- 
struirt, die aber im Wesentlichen auf dem von Merke angegebenen 
Princip der gleichzeitigen Anwendung von trockener Hitze bei strö- 
mondem gespannten Dampf basirt sind. 

Bei Gelegenheit der Besprechung von Abwehrmassregeln bei Seu¬ 
chen, spec. Cholera, wurde von dem einen von uns in der Sanitäts- 
Commission zu Düsseldorf in der Sitzung vom 19. Juli 1884 der 
Antrag gestellt: städtischerseits eine dauernde, resp. nach dem Be¬ 
dürfnis in Betrieb zu haltende Desinfectionsanstalt einzurichten. Die¬ 
ser Antrag fand die Billigung der Commission und der Stadtverord¬ 
netenversammlung. 


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Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf. 


123 


Da die bislang bekannten Apparate von Raetke, Merke und 
Bacon noch nicht allgemeine Anerkennung gefunden haben, so wurde 
von Herrn Sanitätsrath Dr. Eckardt, der die Frage mit den Herren 
Walz und Windscheidt besprochen, der Sanitäts-Commission ein neues 
Projekt unterbreitet, welches von diesen Herren ausgearbeitet worden 
war und als besser als die bisher bekannten Systeme von ihnen empfoh¬ 
len wurde. Da die Firma Walz & Windscheidt liberaler Weise sich 
damit einverstanden erklärte, dass ihre neue Construction einer ein¬ 
gehenden bakterioskopischen Untersuchung unterzogen werde und nur 
im Falle der völligen Wirksamkeit des Apparates auf Zahlung An¬ 
spruch machten, so schien der Versuch mit einem neuen System ge¬ 
rechtfertigt und wurde demgemäss auch von der Stadtverordneten¬ 
versammlung beschlossen. 

Die Ausführungen der Herren Walz und Windscheidt beruhen 
im Wesentlichen auf folgenden Erwägungen: 

1) Wenn gespannter Dampf von 3 Atmosphären in einen weiten 
Raum ausströmt, so verliert er zunächst seine Spannung. Er ist leichter 
als die Luft im Raum und als die in den Desinfectionsgegcnständen 
enthaltene Luft, deshalb geht er auf dem kürzesten Weg nach oben. 
Da nun in den his jetzt benutzten Desinfectionsapparaten die Abfluss¬ 
öffnung für den Dampf sich immer oben befindet, so geht der Dampf 
auf dem kürzesten Weg dorthin, daher die Schwierigkeit, in volumi¬ 
nösen Gegenständen 100 Gels, zu erreichen. Ausserdem werden sich 
in nicht ganz cylindrischen engen Räumen ungleiche Temperaturen, 
sogenannte todte Punkte finden. VValz und Windscheidt leiten des¬ 
halb den Dampf von oben ein und nach unten aus. 

2) Ein fernerer Nachtheil ist, dass, wie auch Merke angiebt, die 
Wäsche sehr leicht durch gelbe Flecken, die nicht auswaschbar sind, 
verdorben wird und 

3) dass bei 3 Atmosphärendruck ein gelernter Heizer noth- 
wendig ist. 

Der von der Firma Walz & Windscheidt für die Stadt Düsseldorf gebaute 
Desinfections-Apparat hat einen nutzbaren Rauminhalt von 1,2 M. Breite, 2,5 M. 
Länge und 1,5 M. Höhe. Derselbe trennt die Lagerräume für inficirte und des- 
inficirte Gegenstände von einander ab, indem die letzteren in dem Aufbewahrungs¬ 
raum der inficirten Gegenstände auf einem eisernen Wagen ebener Erde durch 
eine Thür in den Apparat und eine zweite Thür aus dem Apparat sofort in einen 
anderen Raum mit nur desinficirten Gegenständen gebracht werden können. 

In dem Keller unter dem Apparat befinden sich zwei Feuerungen, die eine 
erwärmt das Innere des Desinfectionsraumes, indem die Wärme durch gusseiserne 


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Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig, 


Rippenheizkörper an die Luft, beziehungsweise den Dampf des Desinfoclions- 
raumes übermittelt wird; die andere spendet ihre Wärme unter Vermittelung 
eines Röhrensystems an ein über dem ganzen Apparat in der Höhe liegendes Ge- 
fäss für kochendes Wasser, resp. Dampf. Die erzeugten Dämpfe erhalten im 
Maximum V t0 Atmosphäre Ueberdruck, weshalb der betreffende Heizapparat im 
Sinne des Gesetzes unter dem Begriff „Kochkessel“, also nicht zu den concessions- 
pflichtigen Dampfkesseln gehört. Zur Bedienung ist also ein Maschinist nicht 
nothwendig. 

Die Einführung der Dämpfe in den Apparat erfolgt durch eine grosse Röh¬ 
renbrause in der Höhe. Die Abführung der Luft erfolgt durch eine geräumige 
Oeffnung unter dem Apparat. 

Diese Führung der Medien ist gewählt: 

1) weil die atmosphärische Luft schwerer ist wie der Dampf und weil es 
nur gelingen kann, mit dem Dampf in das Innere der Gegenstände zu 
dringen, wenn die Luft vollständig verdrängt werden kann; 

2) weil Luft, beziehungsweise Dämpfe von gleicher Spannung und Tem¬ 
peratur sich alsdann das Gleichgewicht halten können, wodurch auf 
gleicher Schichthöhe eine gleiche Temperatur in dem ganzen Apparat 
erzielt werden muss. 

Es sei deshalb hier in Erinnerung gebracht, dass die Gewichte von Luft 
und Dampf bei gleicher Spannung mit der Temperaturabnahme zunehmen und 
umgekehrt; dass ferner 

1 Cubikmeter Luft von 20 C. 1,2053 Kilogrm. 

1 - - 100 C. 0,9467 

1 - Dampf - 100 C. 0,5896 

wiegt. 

Der Vorgang im Apparat ist daher folgender: 

Der in den vorgewärmten Apparat oben eintretende Dampf füllt nach und 
nach den ganzen oben und seitlich genau abgedichteten Dosinfectionsraum an, 
indem die schwerere atmosphärische Luft unten entweicht. Der Dampf kommt 
mit den Rippenheizkörpern im Inneren in Berührung und wird schliesslich bis 
auf 150 C. und höher überhitzt. Da in dem Apparat nur der atmosphär. Druck 
vorhanden sein kann, wird der Dampf immer leichter und dünner, während an¬ 
dererseits die Differenz der Temperatur im Raum und der Innentemperatur in 
den zu desinficirenden Gegenständen auf die grösste zulässige Höhe gebracht 
werden kann. Die Gewichtsdifferenz zwischen dem Dampf im Raum und der in 
den Gegenständen enthaltenen Luft ist daher die grösstmöglichste. Die Luft 
muss deshalb aus permeablen Gegenständen herausfallen und wird durch Dampf 
ersetzt. Da ferner die Wärmequelle durch Strahlung einen Einfluss auf die Tem¬ 
peratur des Raumes nicht haben kann und die Wärme dem Raum nur durch den 
überhitzten Dampf übermittelt wird, so muss nothwendigerweise in dem freien 
Desinfectionsraum in Schichten von gleicher Höhe eine gleiche Temperatur 
herrschen, da sich die Dämpfe gegenseitig das Gleichgewicht halten. Die wär¬ 
meren Dämpfe steigen in die Höhe und bleiben dem Raum erhalten, während 
kältere Dämpfe sofort fallen müssen '). 


*) Hierin liegt ein Hauptgegensatz zu denjenigen Apparaten, bei welchen der 


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Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf. 


125 


Frische Dämpfe werden nur in dem Masse zugeführt, als solche duroh Un¬ 
dichtigkeiten und Condensation in dem Apparat verloren gehen. 

Wird eine vorherige Berieselung der zu desinficirenden Gegenstände mit 
heissem Wasser nothwendig, so erfolgt diese durch dieselbe Brause, durch welche 
der Dampf einiritt. Der bedienende Heizer hat für diesen Fall bloss das Wasser¬ 
quantum in dem Kochkessel entsprechend zu vermehren. — Damit keine Bacte- 
rien unsterilisirt fortgeschwemmt werden können, ist in dem Apparat eine Vor¬ 
richtung getroffen womit das Rieselwasser aufgefangen und gleichzeitig mit der 
nachfolgenden Erhitzung der Gegenstände in Siedetemperatur gebracht werden 
kann. Nach der Desinfectionszeit kann man das Wasser durch einen Hahn ent¬ 
weichen lassen. 

Der Hauptunterscliied des Apparates von den bisher construirten 
beruht also darauf, dass nicht strömender Wasserdampf, sondern 
ruhender, resp. nur leicht bewegter Dampf überhitzt wird und dass 
gleichzeitig durch eine grosse Abfuhröffnung am Boden des Appa¬ 
rates dafür gesorgt ist, dass die Luft und die kälteren Wasserdämpfe 
aus dem Apparate entweichen können. Den beiden Unterzeichneten 
wurde nun der Apparat zur Prüfung und bakterioskopischen Unter¬ 
suchung seiner Wirkung von der Stadtverwaltung der Stadt Düsseldorf 
übergeben. Der eine von uns, Physikus Mittenzweig, hatte seiner 
Zeit Gelegenheit, im Reichsgesundheitsamt unter Leitung des Herrn 
Prof. Dr. Koch sich mit den einschlägigen Methoden vertraut zu 
machen, während der andere von früherer Zeit her, wo derselbe Assi¬ 
stent am pathologischen Institut zu Bonn unter Prof. Köster war, 
mit mikroskopischen Dingen vertraut sich durch Privatstudien die 
nöthigen Kenntnisse erworben hatte. 

Wir lassen nunmehr die vorgenommenen Versuche der Reihe nach 
folgen. 

Samstag, 29. August 1885: 

Der Apparat wurde mit einem Paquet aus 20 aufeinander gerollten Woll¬ 
decken beschickt. Das Paquet ist 1 '/ 2 Meter lang, 84 Ctm. breit, 28 Ctm. 
hoch, ln der Milte wurden 2 Maximalthermometer eingerollt in der Weise, dass 
die innerste Decke 8 Mal um die Thermometer gewickelt, die übrigen 19 Decken 
um die Hülle aufgerollt wurden, so dass die Thermometer allseitig von einer 
65 fachen Schicht der Wolldecken umgeben waren. 

Zugleich mit den beiden Thermometern wurden mit Fliesspapier umwickelte 
und signirte Paquetchen von Gartenerde und Aspergillus mit eingerollt; ferner 


Dampf oben abgeleitet wird. Heisse Dämpfe suchen alsdann den kürzesten Aus¬ 
weg, stören das Gleichgewicht und rufen ungleiche Temperaturen bervor. Die 
letzteren können auch entstehen, wenn strahlende Wärme der Heizapparate 
Einfluss auf das Innere hat. 


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126 


Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig, 


ein P&quetchen mit Milzbrandsporen an Seidenfäden, die von Geh.-Rath. Prof. 
Dr. Koch bezogen worden waren. 

Ausserdem wurden auf zwei Kartoffelhälften gezogene Milzbrandbacillen in 
der Weise eingebracht, dass die beiden Kartoffelhälften aufeinander gelegt und 
dann mit Fliesspapier umwickelt wurden. In derselben Weise wurden je zwei 
mit Prodigiosus und Aspergillus, die reichhaltig gewuchert hatten, versehene 
Kartoffelhälften aufeinander gelegt, mit Fliesspapier umwickelt und in die innerste 
Schichte der Decken eingebracht. 

Frei in dem Apparat auf einem Teller wurden hingestellt: Gartenerde und 
auf Kartoffel gewachsener Aspergillus und Prodigiosus. Der Boden des Fahrstuhls 
war mit einer 10 Ctm. hohen Schicht Wasser aus der Brause bedeckt. Um die 
Temperatur des Wassers während der Versuchszeit bestimmen zu können, war 
eine Extraöffnung in die eine Thür eingebohrt und mit, Thermometer versehen, 
welches ins Wasser hineinreichte. Die Gegenstände waren vorher nicht mit der 
Brause durchnässt worden. 

Der Versuch wurde begonnen um 2 Uhr 30 Minuten und die Temperatur 
zunächst alle 15 Minuten unten und oben, sowie im Wasser abgelesen. Die 
obere Oeffnung für Einführung resp. constante Belassung des Thermometers war 
12 Ctm. von der Decke des Apparates entfernt, die untere Oeffnung für Thermo¬ 
meter ebenfalls 12 Ctm. vom Boden. Die Temperaturen verhielten sich nun 
folgendermaassen. 


Zeit. 


Ob en Unten 
Reaumur. 


Wasser. 

Celsius. 


Oben Unten 
Celsius. 


2 Uhr 30. 

— 

— 

— 

— 

— 

3 - 45. 

88 

77 

98 

110 

97 

4 - —. 

94 

78 

98 

118 

98 

4 - 15. 

99 

80 

98 

124 

100 

4 - 30. 

100 

81 

98 

125 

101 

5 - —. 

102 

80 

98 

128 

100 

5 - 30. 

107 

82 

98 

134 

103 


Bei der Herausnahme der Decken fanden wir die Temperatur der Maximal¬ 
thermometer zu 94 Celsius. 

In früheren Versuchen, die zur Orientirung von den Herren Walz und 
Windscheidt vorgenommen worden waren, waren die Temperaturen viel 
höhere gewesen. Dass heute keine höheren Temperaturen erzielt worden waren, 
lag an einem äusseren Umstand, nämlich an der schlechten Beschaffenheit der 
Kohlen. Die Kohlen, welche zur Heizung verwandt worden, waren so schlecht, 
dass zu Ende des Versuchs der ganze Feuerrest mit einer grossen Schlacke wie 
ausgegossen erschien. In der letzten Zeit hatte man mit Holz nothdürftig nach¬ 
feuern müssen. Da viel Besuch da war, wir uns selbst auch erst einarbeiten 
mussten, war auch die Temperaturbestimmung zuerst nur unregelmässig vorge¬ 
nommen worden, wie die Tabelle zeigt. Und doch sollte auch dieser schein¬ 
bare negative Versuch uns für die Folge sehr lohrreich werden. Bei der Prü¬ 
fung der in den Decken eingehüllten Materialien gingen wir zunächst so vor, 
dass wir mit allen Stoffen Controlproben gleichzeitig machten. Die zu den Cul- 
turen benutzte Gelatine war ganz frisch und absolut steril. Die zum Platten- 


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Prüfung des Desinfections- Apparats der Stadt Düsseldorf. 


127 


giessen benutzen Röhrchen sorgfältig sterilisirt. Die Glasplatten waren zuerst 
in Sublimatlösung gewaschen, dann geglüht, ebenso Teller nnd Glasglocken. 
Dass beim Aussgiessen, Beschicken der Platten die grösste Vorsicht obwaltete 
und alle Regeln auf das Minutiöseste befolgt wurden, bedarf kaum der Erwäh¬ 
nung. Es wurden nun mit nicht desinficirten und mit drei Stunden lang im 
Ofen desinficirten Material der Reihe nach folgende Versuche angestellt. 

1) Nicht sterilisirle Gartenerde auf Gelatineplatte: 

30. VIII. Makroskop. Noch klar ohne Höfe. 

31. VIII. Makroskop. Zahllose zierliche Pilzrasen um die einzelnen Brockel, 
von Stecknadel- bis Hanfkorngrösse. 

Mikroskop, verschiedene Bacillen und Coccenformen, und zwar, wie die 
später vorgenommene Reincultur ergiebt, hatten wir in der von uns zu allen 
Versuchen verwendeten Gartenerde: 

1) wirtelförmige Colonien, deren Individuen sich als unbewegliche, zu 
Fäden auswachsende, sporentragende Bakterien erwiesen; 

2) wurzelförmige Colonien, deren Individuen den ersteren sehr ähnlich sind; 

3) runde, braungelbe, verflüssigende Colonien, deren Individuen aus lan¬ 
gen, sporentragenden, mit Eigenbewegung versehenen Bacillen bestehen 
(Bacillus subtilis); 

4) in geringer Zahl den dicken Koch'schen Erdbacillus; 

5) eine runde, bräunliche, nicht verflüssigende Colonie, mit eiförmigen 
Bakterien. 

2) Nicht sterilisirter Milzbrand an Seidenfäden auf Gelatineplatte: 

30. VIII. 6 Uhr. Um die drei geimpften Fäden ein noch klarer Verflössi- 
gungsbof. 

31. VIII. 3 Uhr. Um die einzelnen Fäden, die ganze Aureole verflüssigt, 
trübe, milchig gefärbt durch zarte, weissliche und gelbliche Flecken. Bei 50 
und lOOfacher Vergrösserung bestehen dieselben aus zarten dicht aneinander 
gelagerten Fäden ohne Verzweigung. Bei 800facher Vergrösserung bestehen 
diese Trübungen aus langen Stäbchen ohne Eigenbewegung mit zahlreichen 
Sporen. 

Das Präparat wurde zerstört und nicht weiter aufgehoben. 

3) Nicht sterilisirter Prodigiosus auf Kartoffel: 

30. VIII. reichlich gewuchert. 

31. VIII. 3 Uhr. Makroskop. reichlicher, dicker, rother Belag. 

4) Nicht sterilisirter Aspergillus auf Kartoffel: 

30. VIII. Die kleinen grünen geimpften Punkte mit grauweissen Pilzrasen 
umsäumt. 

31. VIII. 3 Uhr. Makro- und mikroskopisch reichlich gewachsen. 

5) Sterilisirter Milzbrand an Seidenfäden auf Gelatine: 

Platte I. 30. VIII. 6 Uhr. Noch nirgend wo ein Hof zu erkennen. 

31. VIII. Makro- und mikroskopisch kein Wachsthum. 

2. IX. Nichts gewachsen. 

Patte II. 30. VIII. 6 Uhr. Nirgendwo ein Hof. 

31. VIII. Ohne alle Veränderungen. 

2. IX. Makro- und mikroskopisch nichts gewachsen. 


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128 


Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig. 


6) Sterilisirter, auf Kartoffel gewachsener Milzbrand. Zuchtversuch auf Kartoffel 

30. VIII. Nichts gewachsen. 

31. VIII. Makro- und mikroskopisch nichts gewachsen. 

2. IX. desgleichen. 

7) Sterilisirter Milzbrand, der auf Kartoffel gewachsen war, dann zwischen 
zwei Kartoffel hälften in den Decken desinficirt worden war, auf Gelatine¬ 
platte geimpft: 

30. VIII. Gelatine klar ohne Veränderung. 

31. VIII. Makroskop. und mikroskop. ohne Veränderungen. 

2. IX. Nichts gewachsen. 

Da man den auf Gelatine geiinplten Milzbrandbacillen, welche mit Kar¬ 
toffelmasse gemischt waren, nicht ansehen konnte, ob nicht doch an einer oder 
der anderen Stelle langsames Wachsthum vorhanden war, so wurde von dieser 
Platte am 31. VIlI. eine Controlplatte geimpft und bis zum 5. IX. beobachtet, 
jedoch in dieser Zeit kein Wachsthum gefunden. Also auch der zwischen Kar¬ 
toffelhälften gelegene Milzbrand war getödtet. 

8) Sterilisirte Gartenerde auf Gelatine: 

Platte I. 30. VIII. Ganz klar. 

31. VIII. Makroskop. und mikroskop. ohne alle Wucherung. 

Nach weiteren 48 Stunden also am 2. IX. reichliche wirtelförmige, daneben 
auch sparsamer runde bräunliche Colonien aus den einzelnen Erdbröckchen ge¬ 
wachsen. Die wirbelförmigen Colonien bestehen aus einem langen schmalen Ba¬ 
cillus mit abgestumpften Rändern. Die bräunlichen Colonien aus einem kleine¬ 
ren Bacillus, der etwas breiter ist, etwa 4 mal so lang als breit. 

Platte II. 30. VIII. Ganz klar. 

31. VIII. Makroskop. und mikroskop. nichts gewachsen, diese Platte 
wurde nicht so lange aufbewahrt, wie die vorige. 

9) Prodigiosus sterilisirt auf Kartoffelhälften im Apparat gelegen, auf Kar¬ 
toffel geimpft: 

34. VIII. Nicht gewachsen. 

31. VIII. Makroskopisch und mikroskopisch nicht gewachsen. 

2. XI. desgleichen. 

10) Aspergillus zwischen Kartoffelhälften sterilisirt, dann auf Kartoffel ausgesät: 

30. VIII. Schnittfläche feucht, geimpfte Massen etwas gequollen. 

31. VIII. Makroskop. ohne Veränderungen. 

2. IX. geimpfte Massen nicht weiter verändert resp. gewuchert. Am 
Rande dieser Kartoffelhälfte eine ganz kleine, runde, weisse Colonie, von rahm- 
artiger Consistenz, die mikroskop. ganz aus einem sehr kurzen, dicken, fast 
ebenso langen als breiten Bacillus mit sehr deutlichen Sporen besteht. (Kurzer 
dicker Erdbacillus, Koch.) Derselbe war, obschon die Kartoffel gekocht, gründ¬ 
lich mit Sublimat gewaschen und mit gut geglühtem Messer zerschnitten worden 
war, doch wol mit dem Messer auf die Schnittfläche gelangt. An den geimpften 
Massen absolut nichts gewachsen. 

11) Prodigiosus frei im Ofen stehend sterilisirt auf Kartoffel geimpft: 

30. VIII. Absolut trocken. 

31. VIII. Nichts gewachsen. 2. IX. desgl. 


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Original frnm 

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Prüfung des Desinfections Apparats der Stadt Düsseldorf. 


129 


12) Aspergillus frei im Ofen stehend desinficirt auf Kartoffel geimpft: 

30. VIII. Nichts gewachsen. 

31. VIII. Desgleichen. 

2. IX. Kein Wachsthura. 

13) Am 29. VIII. 6 Uhr Abends wurden 2 Meerschweinchen mit achtem, von 
Dr. R. Koch bezogenen Milzbrand an Seidenfäden in der Weise geimpft, dass 
mit wohl geglühtem Messer und Pincette je drei Seidenfäden den Thieren in eine 
auf dem Rücken gebildete Hauttasche gebracht wurden. Die Wunde wurde sorg¬ 
fältig mit carbolisirter Seide vernäht: 

30. VIII. 6 Uhr Abends. Die Thiere sitzen traurig in einer Ecke des Be¬ 
hälters. 

31. VIII. 6 Uhr Morgens. Beide Thiere todt. Um drei Uhr secirt. Im 
Milzblute zahllose lange Bacillen. Milz zu weiteren Eperimenten verwendet. 

14) 29. VII. 6 Uhr Abends. In der gleichen Weise wurden 2 Meerschwein¬ 
chen je drei im Ofen desinficirlen Seidenfäden in eine Hauttasche gebracht und 
die Wunde sorgfältig genäht: 

30. VIII. 6 Uhr Abends. Thiere munter. 

31. VIII. Beide Thiere munter. 

2. IX. Thiere leben beide und sind völlig gesund. Wunde verheilt. 

5. IX. Beide Thiere gesund. 

15) Bodenwasser aus dem Wagen des Apparats im Reagensglas mit Gelatine 
gemischt: 

30. VIII. Absolut klar. 

31. VIII. Nichts gewachsen. 

2. IX. Nichts gewachsen. 

Aus diesem Versuch geht hervor, dass in drei Stunden selbst bei 
einer Temperatur von 94 Celsius alle Bacillen und auch die Sporen des 
Milzbrands getödtet waren, nicht so die Sporen der Gartenerde. Die¬ 
selben waren in ihrem Wachsthum verlangsamt, fingen aber nach 4 Ta¬ 
gen an zu wachsen. Ueberhaupt erwies sich uns auch ferner die Garten¬ 
erde, wie auch Koch angiebt, als das hartnäckigste beste Reagens 
für die Wirksamkeit des Apparates. 

I. Desinfections-Versuch am 31. August: 

Der Ofen wurde wiederum mit den aufeinandorgerollten 20 Wolldecken 
beschickt. In der Mitte die Thermometer, und Paquetchen aus Fliesspapier mit 
Prodigiosus, Aspergillus, Gartenerde, Milzbrand an Fäden, und die Milz von dem 
an Milzbrand verstorbenen Meerschweinchen, eingerollt, so dass Alles wieder mit 
65facher Wollschichte umgeben war. Der Boden des Wagens wurde diesmal 
nicht mit Wasser gefüllt. Der Versuch dauerte eine Stunde. Die Temperaturen 
wurden alle Viertelstunden notirt. 


Vierteljahrs sehr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 1. 


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UNIVERSUM OF IOWA 



130 


Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig, 


Zeit. 

Oben 

Reaum. Celsius. 

Unten 

Reaum. Celsius. 

3 Uhr 20. 

— 

— 

— 

— 

3 - 35. 

118 

148 

100 

125 

3 - 50. 

128 

160 

110 

138 

4 - 5. 

133 

166 

106 

133 

4 - 20. 

134 

167 

107 

134 


Im Ballen fanden wir 102 Celsius. 

1) Platte I. Desinficirte Milzbrandfäden, 3 Stück auf Gelatine geimpft: 

2. IX. An den Fäden nicht gewachsen. 

4. IX. Bios von einem Fadenende aus die Gelatine fünfpfennigstückgross 
verflüssigt, leicht getrübt. 

5. IX. Nur von diesem Fadenende aus eine raarkstückgrosse Verflüssigung 
der Gelatine, die ganz grauweiss getrübt ist. Mikroskopisch besteht die Trübung 
aus langen Bacillen mit Sporen ohne Eigenbewegung. 

In diesen verflüssigten Hof werden desinficirte Fliesspapierstückchen eine 
halbe Stunde lang zum Aufsaugen gelegt und diese Papiermassen einem Meer¬ 
schweinchen unter die Haut gebracht. (Siehe weiter unten unter dem 5. Septbr.) 

Platte II. 3 desinficirte Seidenfäden mit Milzbrand auf Gelatine geimpft: 

2. IX. Nichts gewachsen. 4. IX. Nichts gewachsen. 5. IX. Nichts ge¬ 
wachsen. 7. IX. Nichts gewachsen. 

2) Desinficirte Milz von an Milzbrand verstorbenem Meerschweinchen auf 

Gelatine geimpft: 

2. IX. Von den Milzstücken aus nichts gewachsen. 

5. IX. Nichts gewachsen. 7. IX. dito nichts gewachsen. 

3) Desinficirte Gartenerde auf Gelatine: 

2. IX. Enthält zahlreiche Colonien, die von den Erdbröckchen ausgehen, 
und zwar vorwaltend zwei Formen. Eine rundliche gelbliche Colonienform, die 
aus kleinen ovoiden Stäbchen besteht. Die Stäbchen haben Eigenbewegung, ge¬ 
färbt liegen sie vielfach diplokokkenartig aneinander. Die andere grössere Form 
wächst wirtelförmig, perlmulterfarben. Die einzelnen Glieder der Colonie weisen 
zierliche schlangenförmige Biegungen auf, Gelatine verflüssigend. Diese Colonion 
bestehen aus länglichen Stäbchen ohne Eigenbewegung, etwa 8 mal so lang als 
breit. Daneben noch eine kleine runde Kokkenform, die gefärbt sich gern sar- 
cinenartig zusammenlegt. 

4) Prodigiosus auf Kartoffel geimpft bleibt bis zum 5. Septbr. ohne Wachsthum. 

5) Aspergillus desgleichen. 

6) Ein Meerschweinchen Albino wird mit 3 desinficirten Milzbrandfäden auf 

dem Rücken geimpft, in gleicher Weise wie früher: 

2. IX. lebt und ist sehr munter. 5. IX. desgl. 12. IX. desgl. 

7) Einem bunten Meerschweinchen wird die halbe Milz von einem der an 

Milzbrand verstorbenen Thiere, die vorher im Apparat in den Wolldecken 


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UNIVERSUM OF IOWA 



Prüfung des Desinfeclions Apparats der Stadt Düsseldorf. 131 

desinficirt waren, in früher beschriebener Weise unter die Rückenhaut 
genäht: 

2. IX. Thier lebt und ist gesund und munter. 5. IX. desgl. 12. IX. desgl. 

8) Ein Stück von .der Milz eines an Milzbrand verstorbenen Meerschweinchens 
war zwischen zwei Kartoffelhälften mit in die Decken eingewickelt worden: 

Auch von diesem Milzstück wuchs weder auf Kartoffel, noch auf Gelatine 
etwas bis 5. IX. 

Aus diesem Versuche geht hervor, dass eine Stunde zur völligen 
Desinfection nicht genügt. Aspergillus und Prodigiosus waren zwar 
getödtet, auch der Milzbrand war fast ganz getödtet, wie ja die posi¬ 
tiven Experimente mit Einnähen von Seidenfäden und sogar fast einer 
halben Milz beweisen. Jedoch bewies das Wachsthum von einem 
Seidenfaden aus, dass noch einige Sporen des Milzbrandes vermeh¬ 
rungsfähig geblieben waren. Wir tauchten deshalb wohl desinficirte 
Fliesspäpierstückchen in die Wachsthumszone dieses Fadens, Hessen 
dieselben eine halbe Stunde liegen und nähten die Fliessstückchen am 
5. Septbr. einem Meerschweinchen unter die Haut. Das Thier wurde 
nicht im Mindesten krank und heilten die Fliessstückchen ohne jede 
Eiterung ein, noch am 16. Septbr. zeigte keins von den zu den Ex¬ 
perimenten verwandten Thieren die geringste Erkrankung. Die Viru¬ 
lenz war demnach wol vollständig geschwunden, nicht so das Wachs¬ 
thum. Für die Sporen der Gartenerde genügt diese kurze Zeit aber 
noch viel weniger; obschon in den Decken 102 Celsius gowesen waren, 
hatte die Zeit der Einwirkung nicht genügt. In der Voraussicht, dass 
eine Stunde wol ungenügend sein würde, hatten wir am selben Tage 
noch einen anderthalbstündigen Versuch gemacht, den ich nunmehr 
folgen lasse. 

II. Desinfections-Versuch am 31. August begonnen um 5*/ 4 Uhr: 

Dieselben 20 Wolldecken ebenso gerollt. In der Mitte 2 Thermometer, die 
Milz des zweiten an Miizbrand gestorbenen Thieres, welches am 29. VIII. inficirt 
worden war. Die Milz enthielt zahllose Bacillen. Ausserdem waren darin ent¬ 
halten Milzbrand an Seidenfäden und Gartenerde. 

Nach Beendigung des Versuchs, der V/ 2 Stunden dauerte, in den Decken 
102 Celsius. Temperaturen V 4 ständige Messungen. 

Oben Unten 


Zeit. 

Reaum. 

Celsius. 

R6aum. 

Celsius 

5 Uhr 1 5. 

— 

— 

— 

— 

5 - 

30. 

98 

123 

99 

124 

5 - 

45. 

111 

139 

111 

139 


9* 


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Original from 

UNIVERSUM OF IOWA 



132 


Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig, 


Oben Unten 


Zeit. 

R6aum. 

Celsius. 

R£aum. 

Celsius. 

6 Uhr —. 

114 

143 

115 

144 

6 - 15. 

123 

154 

124 

155 

6 - 30. 

129 

1C1 

131 

164 

6 - 45. 

135 

168 

137 

171 


1) Milz ron an Milzbrand gestorbenen Meerschweinchen desinficirt. Auf Kar* 
toffel geimpft: 

2. IX. Nichts gewachsen. 5. IX. desgl. 7. IX. desgl. 9. IX. Von Milz¬ 
brand keine Spur. 

2) Von der vorigen Milz auf Gelatineplatte gelegt: 

2. IX. Nichts gewachsen. 5. IX. desgl. 7. IX. desgl. 9. IX. desgl. 

3) Desinficirte Milzbrandfäden anf Gelatine: 

2. IX. An den Fäden nichts gewachsen. 5. IX. desgl. 7. IX. desgl. 

4) Desinficirte Gartenerde auf Gelatine: 

2. IX. An der Gartenerde nichts gewachsen. 5. IX. desgl. 7. IX. desgl. 

Anderthalb Stunden hatten also vollständig genügt, Alles, selbst die so 
schwer zu sterilisirende Gartenerde zu tödten. 

Um zu erfahren, wann wir 100 Cels. in unseren Decken erhalten haben 
würden, machten wir nunmehr eine Reihe von Versuchen mit einer halben Stunde 
beginnend, dann immer 10 Minuten länger, natürlich jedesmal vorher die Decken 
erkalten lassend. Diese Versuche wurden am 5. September begonnen. 

Oben Unten 


Zeit. 

Reaum. 

Celsius. 

Reaum. 

Celsius. 

2 Uhr 45. 

— 

— 

— 

— 

3 - —. 

87 

109 

80 

100 

3 - 15. 

96 

120 

91 

114 


In den Decken 48 Grad Celsius. 

Um noch genauer über die Temperaturverhältnisse im Innern des Apparats 
orientirt zu sein, wurden von jetzt ab von 5 zu 5 Minuten Ablesungen derselben 
gemacht. 

5. September. Versuch von 40 Minuten: 

Oben Unten 


Zeit. 

R6aum. 

Celsius. 

Reaum. 

Celsius. 

3 Uhr 35. 

— 

— 

— 

— 

3 - 

40. 

79 

99 

80 

100 

3 - 45. 

86 

108 

86 

108 

3 - 

50. 

90 

113 

88 

110 

3 - 50. 

92 

115 

89 

112 

4 - —. 

95 

119 

91 

114 

4 - 

5. 

97 

122 

92 

115 

4 - 

10 . 

99 

124 

93 

117 

4 - 

15. 

103 

129 

95 

119 


In 20 Wolldecken 96 Grad Celsius. 


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Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 



Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf. 


133 


5. September. Versuch mit 50 Minuten Dauer: 


Oben Unten 


Zeit. 

R6aum. 

Celsius. 

Reaum. 

Celsius. 

4 Uhr 30. 

— 

— 

— 

— 

4 - 35. 

93 

117 

83 

104 

4 - 40. 

102 

128 

86 

108 

4 - 45. 

106 

133 

97 

122 

4 - 50. 

110 

138 

102 

128 

4 - 55. 

112 

140 

104 

130 

5 - —. 

113 

142 

105 

131 

5 - 5. 

114 

143 

107 

134 

5 - 10. 

116 

145 

107 

134 

5 - 15. 

116 

145 

107 

134 

5 - 20. 

117 

147 

108 

135 


In 20 Decken 99 Grad Celsius. 

5. September. Versuch von 1 Stunde: 


Oben Unten 


Zeit. 

Reaum. 

Celsius. 

Reaum. 

Celsius 

5 Uhr 42. 

— 

— 

— 

— 

5 - 47. 

86 

108 

72 

95 

5 - 52. 

100 

125 

95 

119 

5 - 57. 

101 

127 

95 

119 

6 - 2. 

104 

130 

102 

128 

6 - 7. 

108 

135 

106 

136 

6 - 12. 

114 

143 

110 

138 

6 - 17. 

115 

144 

112 

140 

6 - 22. 

119 

149 

115 

144 

6 - 27. 

121 

152 

116 

145 

6 - 32. 

123 

153 

117 

147 

6 - 37. 

124 

154 

117 

147 

6 - 42. 

120 

151 

113 

142 


In den 20 Wolldecken 97 Grad Celsius. 

Bei letzterem einstündigen Versuch hatten wir, da wir 100 Celsius er¬ 
warteten, nochmals Seidenfäden mit Milzbrandbacillen und Gartenerde mit in 
die Decken eingehüllt. Zugleich hatten wir Teller, Glasglocken, Fliesspapier 
gleichfalls eine Stunde im Ofen belassen. Die Platten waren sorgfältig geglüht 
und ganz frische, von Dr. Rohrbeck bezogene Nährgelatine zur Verwendung 
gebracht worden. 

1) Desinficirte Milzbrandseidenfäden auf Gelatineplatte geimpft: 

7. IX. Nichts gewachsen. 

9. IX. An den Fäden nichts gewachsen. Vielleicht an einem Fadonende 
beginnendes Wacbsthum. 

12. IX. An den Fäden absolut nichts gewachsen. Was am 9ten Wachs¬ 
thum vortäuschte, waren am Faden haftende getödtete Bacillen. 

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Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 



134 


Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig, 


2) Desinficirte Gartenerde auf Gelatineplatte: 

7. IX. Nichts gewachsen. 

9. IX. Reichliches Wacbsthum von den einzelnen Bröckeln aus und zwar 
vorwaltend zwei Formen. Die eine Form zeigt runde gelbbraune, muschelförmige 
Colonien, die mikroskopisch aus kleinen ovoiden Stäbchen' gebildet sind. Die 
Stäbchen haben Eigenbewegung. Gefärbt liegen sie vielfach diplokokkenartig 
aneinander. Die andere Form ist unsere alte wurzelförmige, die aus langen 
Stäbchen mit Eigenbewegung besteht und die Gelatine verflüssigt. Diese Stäb¬ 
chen enthalten endständige Sporen. Daneben kommt noch eine wirtelförmige 
Colonienform vor, die ebenfalls aus langen schmalen Stäbchen besteht, die je¬ 
doch keine Eigenbewegung zeigen. Diese Stäbchen liegen auch mikroskopisch 
wirbelförmig aneinander und bilden aneinander gelagert Züge, die in ihrem 
Verlauf an den Bau der Sarcome erinnern, wenn dieser Vergleich gestattet ist. 
Die Platte verbreitete einen stark übelriechenden Geruch. 

Auch in diesem Versuch hatte eine Stunde also nicht genügt, die 
Sporen der Gartenerde zu tödten, sie hatte nur das Wachsthum verzögert. 
Während nach zwei Tagen noch nichts gewachsen war, trat bis zum 
4. Tage reichliches Wachsthum auf. Milzbrandbacillen waren definitiv 
sterilisirt. — Am 9. September wurden die Versuche fortgesetzt und ver¬ 
wendeten wir von nun an nur noch Gartenerde zu unseren Züchtungs- 
Versuchen, da sich dieselbe uns als ein so vorzügliches Reagens be¬ 
wiesen hatte, dass man fast mit Gewissheit von ihrem Wachsthum auf 
Dauer und Höhe der angewandten Temperatur schliessen konnte. 

9. September. Versuch von 1 Stunde 20 Minuten: 

Oben Unten 


Zeit. 

R6aum. 

Celsius. 

R6aum. 

Celsius. 

2 Uhr 40. 

— 

— 

— 

— 

2 - 

45. 

94 

118 

78 

98 

2 - 

50. 

100 

125 

81 

102 

2 - 

55. 

100 

125 

85 

107 

3 - 

- . 

102 

128 

98 

123 

3 - 

5. 

104 

130 

97 

122 

3 - 

10. 

105 

132 

100 

125 

3 - 

15. 

107 

134 

103 

129 

3 - 

20. 

109 

137 

105 

132 

3 - 

25. 

110 

138 

105 

132 

3 - 

30. 

110 

138 

106 

133 

3 - 

35. 

111 

139 

106 

133 

3 - 

40. 

111 

139 

105 

132 

3 - 

45. 

112 

140 

106 

133 

3 - 

50. 

107 

134 

103 

129 

3 - 

55. 

106 

133 

102 

128 

4 - 

- . 

106 

133 

102 

128 


In 20 Wolldecken wie früher gerollt 101 Cels. In den Deoken Gartenerde. 

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Original from 

UNIVERSUM OF IOWA 



Prüfung des Desinfeciions-Apparats der Sfydl Düsseldorf. 


135 


Bei dem nächsten und den folgenden Versuchen wurde in der Mitte der 
Thür noch ein Thermometer eingeschaltet, welches 67 Ctm. von dem oberen 
und ebenso 67 Ctm. von dem unteren entfernt war. 

9. September. Versuch 1 Stunde 10 Minuten: 


Oben Mitten Unten 



Zeit. 

Reaum. 

Celsius. 

R6aum. 

Celsius. 

Reaum 

Celsius 

4 Uhr 20. 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

4 

- 25. 

78 

98 

79 

99 

77 

97 

4 

- 30. 

95 

119 

96 

120 

92 

115 

4 

- 35. 

97 

122 

99 

124 

95 

119 

4 

- 40. 

99 

124 

101 

127 

97 

122 

4 

- 45. 

103 

129 

104 

130 

102 

128 

4 

- 50. 

106 

133 

105 

132 

102 

128 

4 

- 55. 

107 

134 

107 

134 

104 

130 

5 

- - . 

109 

137 

109 

137 

105 

132 

5 

- 5. 

110 

138 

111 

139 

107 

134 

5 

- 10. 

114 

143 

114 

143 

108 

135 

5 

- 15. 

113 

142 

114 

143 

109 

137 

5 

- 20. 

113 

142 

115 

144 

109 

137 

5 

- 25. 

113 

142 

115 

144 

109 

137 

5 

- 30. 

112 

140 

115 

144 

108 

135 


ln den wie früher gerollten 20 Wolldecken, die ebenfalls Gartenerde ent¬ 
hielten, 101 Celsius. 

1) Platte mit Nährgelatine, die mit Gartenerde, die 1 Stunde 10 Minuten 
desinficirt war, beschickt worden: 

12. IX. Nichts gewachsen, Gelatine absolut klar. 

15. IX. Absotut steril. 

2) Platte mit eine Stunde 20 Minuten lang desinficirter Gartenerde geimpft: 

12. IX. Nichts gewachsen, Gelatine klar. 

15. IX. Absolut steril. — 

12. September. Um zu erfahren, ob und in welcher Zeit man in völlig 
durchnässten Wolldecken die Temperatur von 100 Celsius erreicht, wurde fol¬ 
gender Versuch gemacht. Die Thermometer, wie immer in 20 Wolldecken gehüllt, 
so dass 65 fache Wollschichte sie umgiebt. Das ganze Paquet 1 V 2 Meter lang, 
34 Meter breit, 28 Ctm. hoch. Zuerst bei offenstehenden Thüren 5 Minuten lang 
starke Brause mit nur massig warmen Wasser. Dann die Thüren geschlossen 
und l’/j Stunden der Wirkung von heisser Luft und Dampf ausgesetzt: 


Oben Mitten Unten 


Zeit. 

Reaum. 

Celsius. 

Reaum. 

Celsius. 

Reaum. 

Celsiu 

2 Uhr 40. 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

2 . 

45. 

75 

92 

66 

83 

66 

83 

2 - 

50. 

74 

93 

73 

92 

71 

89 

2 - 

55. 

77 

97 

77 

97 

77 

97 

3 - —. 

79 

99 

78 

98 

80 

100 


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Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 



136 


Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig, 


Oben Mitten Unten 


Zeit. 

Reaum. 

Celsius. 

Reaum. 

Celsius. 

Reaum. 

Celsius. 

3 Uhr 5. 

80 

100 

80 

100 

81 

102 

3 - 10. 

81 

102 

84 

105 

86 

108 

3 - 15. 

81 

102 

84 

105 

88 

110 

3 - 20. 

93 

117 

96 

120 

90 

113 

3 - 25. 

94 

118 

98 

123 

98 

123 

3 - 30. 

96 

120 

98 

123 

90 

113 

3 - 35. 

98 

123 

101 

127 

91 

114 

3 - 40. 

98 

122 

103 

129 

92 

115 

3 - 45. 

99 

124 

105 

131 

93 

116 

3 - 50. 

100 

125 

107 

134 

94 

118 

3 - 55. 

93 

117 

99 

124 

93 

116 

4 - —. 

102 

128 

109 

136 

94 

118 

4 - 5. 

103 

129 

111 

139 

97 

122 

4 - 10. 

104 

130 

112 

140 

95 

119 


Nach Beendigung des Versuchs fanden wir 97 Celsius. 


Wir hatten also die Temperatur von 100 Cels. nicht erreicht; woran dies 
lag, sollte der folgende Versuch uns lehren. Wir hatten die Thüre während des 
Brausens offen gelassen und dadurch unseren Apparat zu sehr abgekühlt. Bei der 
Menge Wasser dauerte es sehr lange, fast über eine Stunde, ehe wir oben und in 
der Mitte die Temperatur von 100 Reaumur erreichten. — 

Ganz anders verhält es sich, wenn man, sonst in der gleichen Weise ver¬ 
fahrend, bei geschlossenen Thüren die warme Brause einwirken lässt, wie der 
Versuch vom 15. September lehrt. 

15. September. Versuchsdauer 1 Stunde 20 Min. 5 Minuten lang heisse 
Brause bei geschlossenen Thüren. Wolldecken wie sonst: 


Oben Mitten Unten 



Zeit. 

R6aum 

. Celsius. 

Reaum 

. Celsius. 

Reaum. 

Celsius 

2 Uhr 35. 


heisse Brause bis 

2 Uhr 40 Minuten. 


2 

- 

40. 

78 

98 

77 

97 

76 

95 

2 

- 

45. 

79 

99 

79 

99 

78 

98 

2 

- 

50. 

80 

100 

82 

103 

82 

103 

2 

- 

55. 

82 

103 

96 

120 

95 

119 

3 

- 

— . 

97 

121 

104 

130 

100 

125 

3 

- 

5. 

101 

126 

106 

133 

101 

126 

3 

- 

10. 

103 

129 

107 

134 

102 

128 

3 

- 

15. 

102 

128 

107 

134 

102 

128 

3 

- 

20. 

104 

130 

109 

136 

104 

130 

3 

- 

25. 

104 

130 

110 

138 

105 

132 

3 

- 

30. 

101 

126 

110 

138 

102 

128 

3 

- 

35. 

105 

132 

112 

140 

106 

133 

3 

- 

40. 

106 

133 

114 

140 

104 

130 

3 

- 

45. 

109 

136 

116 

145 

108 

135 


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UNIVERSUM OF IOWA 



Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf. 


137 


Oben Mitten Unten 


Zeit. 

Reaum. 

Celsius. 

R6aum. 

Celsius. 

Reaum. 

Celsius. 

3 Uhr 50. 

108 

135 

117 

146 

in 

139 

3 - 55. 

110 

138 

119 

149 

113 

141 

4 - —. 

112 

140 

121 

151 

114 

143 

4 - 5. 

114 

143 

123 

154 

116 

145 


Hier erreichten wir die Temperatur 100 Reaumur im Apparat schon nach 
einer halben Stunde und fanden demgemäss auch in unseren Decken 100 Cel¬ 
sius. Höher konnte das Thermometer ja nicht steigen, da die Decken ja völlig 
durchnässt waren, so lange Wasser vorhanden aber keine höhere Temperatur 
ein treten kann. 

Um weiterhin einen Anhaltspunkt dafür zu gewinnen, ob die Theorie 
des Herrn Walz, der behauptet, dass die Schwierigkeit,'hohe Tempe¬ 
raturen in den Desinfectionsgegenständen zu erlangen, in der Schwierig¬ 
keit, alle Luft aus den Gegenständen herauszubringen, begründet ist, 
resp. ob sich experimentell dafür Beweise erbringen lassen, dass, wenn 
man die Luft verhindert, ganz aus den Gegenständen herauszufallen 
durch die Wirkung der überhitzten Dämpfe, dass dann bei sonst glei¬ 
chen Bedingungen, die lufthaltigen Gewebe kälter sind, als die Ge¬ 
webe, worin die Luft durch Dämpfe verdrängt worden sind, wurde 
noch folgender Versuch angestellt. 

Es wurden zwei Paquete in den Apparat gebracht. Jedes Paquet bestand 
aus 10 Wolldecken, die in der Mitte zusammengefaltet waren und dann in der 
üblichen Weise zusammengerollt. Das Thermometer in der Mitte war nunmehr 
gleichfalls mit 65facber Wollschichte umgeben, nur jetzt 65 Ctm. lang, jedoch 
wie früher 34 Ctm. breit und 28 Ctm. hoch. Das eine Paquet wurde frei in dem 
Apparat aufgehängt, das andere in einen eisernen, oben offenen Kasten gelegt, 
so dass die Oberfläche frei war, nur die Seiten und die untere Fläche war von 
einer frei im Apparat stehenden Schichte Eisenblech umgeben, jedoch dem 
Paquet nicht dicht anliegend, so dass der warmen Luft und dem Dampf die 
Möglichkeit blieb das Paquet allseitig zu umspülen. 

5 Minuten vor 6 Uhr wurde die Thüre des Apparats geschlossen. Versuchs¬ 
dauer 1 Stunde 20 Minuten. 

Oben Mitten Unten 



Zeit. 

Reaum. 

Celsius. 

Reaum. 

Celsius. 

Reaum. 

Celsius. 

5 Uhr 55. 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

6 

- —. 

80 

100 

77 

97 

67 

84 

6 

- 5. 

80 

100 

79 

99 

76 

95 

6 

- 10 . 

79 

99 

78 

98 

79 

99 

6 

- 15. 

80 

100 

87 

109 

87 

109 

6 

- 20. 

81 

101 

93 

116 

90 

113 

6 

- 25. 

87 

109 

95 

119 

92 

115 

6 

- 30. 

92 

115 

98 

123 

94 

118 


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Original from 

UNIVERSUM OF IOWA 



138 


Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig, 


Oben Mitten Unten 


Zeit. 

Röaum. 

Celsius. 

Reaum. 

Celsius. 

Reaum. 

Celsius. 

6 Uhr 35. 

95 

119 

101 

127 

96 

120 

6 - 40. 

98 

123 

104 

130 

98 

123 

6 - 45. 

101 

127 

106 

133 

101 

127 ') 

6 - 50. 

105 

131 

111 

139 

95 

119 

6 - 55. 

106 

132 

113 

141 

106 

132 

7 - —. 

107 

134 

112 

140 

106 

132 

7 - 

5. 

107 

134 

114 

143 

106 

132 

7 - 

10. 

109 

136 

117 

146 

109 

136 

7 - 15. 

114 

143 

120 

150 

113 

141 


Im freihängenden Ballen fanden wir 103 Celsius. Im von den Seiten und 
unten umschlossenen Ballen dagegen nur 65 Celsius, obschon die Decken an¬ 
scheinend sehr heiss sich anfiihlten und durchaus feucht waren von Niederschlags¬ 
wasser. Unsere freischwebenden Decken dagegen waren nur leicht feucht und 
nach dem Ausbreiten, wie immer, sofort trocken. 

Formulirt man nun die Ansprüche, welche man an einen guten 
stabilen Desinfectionsapparat stellen kann, so muss man für eine 
grosse Stadt, zumal für Zeiten der Gefahr folgende Postulate stellen: 

1) Der Apparat muss genügende Grösse haben. Dieser Forderung 
entspricht unser Apparat, indem er einen Rauminhalt von 
4,5 Cubikmeter enthält. 

2) Der Raum zur Beschickung des Apparats mit inficirten Gegen¬ 
ständen, soll möglichst von dem Raum, wo nachher die des- 
inficirten Gegenstände herausgenommen werden, getrennt sein. 
Dieser Forderung wird der Apparat auf das Vollständigste ge¬ 
recht. 

3) Leichte Beschickung und Handhabung desselben. Durch die 
grossen eisernen Wagen ist die Beschickung möglichst einfach, 
die Desinfection selbst kann leicht durch einen nur einiger- 
massen verständigen Arbeiter besorgt werden. 

4) Die desinficirten Effecten dürfen nicht verdorben werden. Wäsche- 
theile erhielten hin und wieder leichte Flecken bei unserem 
Verfahren, die aber leicht auszuwaschen sind. Selbst die aller¬ 
feinste Wäsche wurde zum Versuch genommen, ohne jeden 


') Die Schwankungen in den Thermometern, welche sich daduroh bekunden, 
dass plötzlich ein Thermometer um mehrere Grade fällt (wie hier um 8 Grad), um 
dann in den nächsten 5 Minuten wieder um ebenso viel oder mehr zu steigen, 
sind durch an den Wänden des Apparats herunterfliessendes Condensationswasser 
herbeigeführt. 


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Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf. 


139 


Schaden zu leiden. Echte Farben werden ebenfalls nicht an¬ 
gegriffen. 

5) Dass der Apparat es möglich macht, im Inneren grösserer 
Effecten 100 Cels. zu erreichen. 

Dieser Punkt 5. zerfiel bei unserer Prüfung in mehrere Versuche, 
da es uns besonders darauf ankam zu wissen: wann sind 100 Cels. 
in den Effecten erreicht. 

Wie vorstehende detaillirte Versuche ergeben, geschieht dies in 
einer Stunde und zehn Minuten bei genügender Heizung; damit jedoch 
diese Temperatur sicher erreicht wird, ist es nöthig, dass die Tem¬ 
peratur des mittleren Thermometers eine halbe Stunde lang zwischen 
130 und 140 Cels. erhalten bleibt. Je nach stärkerer oder gerin¬ 
gerer Heizung kann die Desinfectionszeit gekürzt werden, jedoch nicht 
über ein bestimmtes Maass hinaus, da bei höher als 140—150 Cels. 
liegenden Temperaturen die Effecten geschädigt werden können. Im 
Allgemeinen reicht eine Zeit von 1\ 4 bis l'/ 2 Stunde bei vorgewärm¬ 
tem Apparat völlig hin, alle Effecten sicher zu desinficiren. Man 
kann deshalb in Zeiten der Gefahr den grossen Raum des Apparats 
mindestens sechs- bis achtmal an einem Tage beschicken und wird der¬ 
selbe deshalb schon sehr grossen Anforderungen entsprechen können. 

6) Müssen die zur Zeit bekannten widerstandsfähigsten lnfections- 
kcime Milzbrandsporen und die am meisten widerstandsfähigen 
organischen Keime überhaupt, die Sporen der Gartenerde, ge- 
tödtet werden. 

Bei den Versuchen stellte sich nun heraus, dass Milzbrandsporen 
und Bacillen, wie auch schon Koch gefunden, bei genügend langer 
Zeit auch schon durch Temperaturen unter 100 Cels. getödtet werden. 
Besonders lehrreich ist in dieser Beziehung unser erster Versuch. Die 
Sporen der Gartenerde erwiesen sich auch uns als bestes Reagens für 
die Wirksamkeit des Apparats, so dass man mit Sicherheit sagen 
kann, wenn Gartenerde wächst, so waren keine 100 Celsius in den 
Effecten und umgekehrt. Auch diesem Postulat genügt der Apparat 
in vollkommener Weise. 

Damit hatte sich der Apparat als vollständig leistungsfähig und 
sehr leicht handlich erwiesen. Es blieb bei den Versuchen aber noch 
Verschiedenes zu berücksichtigen, und zwar in erster Linie die heisse 
Brause. Dieselbe war zunächst mit Rücksicht auf Incrustirungen mit 
getrockneten Borcken von eiweisshaltigen Stoffen, Dejectionen u. s. w. 
gefordert worden, da es a priori nicht vorauszusehen war, ob dieser 


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140 


Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig, 


feine, überhitzte Dampf diese Krusten vollständig desinficiren würde. 
Wie sich bei den Versuchen heraustellte, ist die heisse Brause min¬ 
destens überflüssig, wenn nicht schädlich. Das abfliessende Brause¬ 
wasser wird zwar vollständig desinficirt, wie der Versuch mit Nähr¬ 
gelatine im Reagenzglas beweist, die Effecten werden aber so stark 
durchnässt, dass eine nachherige längere Trockenperiode bei stärkerer 
Ventilation nöthig ist, um dieselben zu trocknen. Hat man nur über¬ 
hitzten Dampf angewandt, so sind die Effecten nur leicht feucht und 
sofort nach der Herausnahme trocken. Man braucht also bei diesem 
Apparat keine Trockenperiode. Ferner ist es viel schwieriger, in den 
stark durchfeuchteten Effecten 100 Celsius zu erreichen, da die stark 
erhitzten Dampftheile die einzelnen Wassertröpfchen in den Gewebs- 
maschen erwärmen müssen, wohingegen sie sonst nur die Luft in den 
Gewebstheilen zu verdrängen haben, die dann nach dem Gesetz der 
Schwere herausfällt. Auch für diese Vorstellung der Herren Walz 
und Windscheidt suchten wir einen experimentellen Anhalt zu fin¬ 
den, indem wir den Versuch vom 15. September anstellten, und ist 
die grosse Temperaturdifferenz, die wir dabei erhielten, sehr auffallend. 
Möglicherweise liegt auch in der starken Durchnässung der Effecten 
bei strömendem Dampf der Hauptgrund, warum so schwer 100 Cels. 
erreicht werden. Wasser für sich kann bei 1 Atmosph. Druck nicht 
höher als auf 100 Celsius erhitzt werden. Wenn also Dampf durch 
Effecten streift, die kälter sind wie Dampf, so muss sich Conden- 
sationswasser bilden und die Temperatur steigt nunmehr nur noch 
sehr schwer über 98 Celsius, da sich im freien Raum schon bei nie¬ 
drigerer Temperatur Dampf bildet; daher auch die Nothwendigkeit, 
neben strömendem Dampf noch indirecte Erwärmung anzuwenden. 
Der dünne überhitzte Dampf bewirkt weniger Condensationswasser in 
den Gegenständen und dringt deshalb nach mechanischen Gesetzen 
leichter ein. 

Eine praktisch wichtige Frage ist ferner: wie lange Zeit gebraucht 
man, um den Apparat genügend vorzuwärmen? Diese Zeit nun ist 
eine relativ lange, nämlich zwei bis zwei und eine halbe Stunde. Es 
liegt dies in der grossen Masse von Mauerwerk, welches zuerst enorme 
Wärmequanta in sich aufnimmt, dann aber auch lange in sich fest¬ 
hält. Hat man den Apparat erst vorgewärmt, so kann man rasch 
aufeinander folgend grosse Massen desinficiren, wenn man die Vorsicht 
gebraucht, die Thürcn wieder rasch zu schliessen. In Zeiten der Ge¬ 
fahr wird man leicht am Tage den Ofen 7 bis 8mal füllen können. 


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Original from 

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Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf. 


Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 


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Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig 
































144 


Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig:. 


Ist der Ofen am Tage vorher geheizt worden, so ist die Vorwärm¬ 
periode eine wesentlich kürzere. 

Die Ursache, warum bei unserem Apparat so viel Mauerwerk 
verwendet ist, liegt an örtlichen Verhältnissen, die hier so günstig 
lagen, wie wol selten. Der alte, nunmehr geschlossene städtische 
Friedhof enthält ein grosses Leichenhaus, welches als Desinfections- 
haus eingerichtet wurde. Daher auch die luxuriöse Raumverschwen¬ 
dung bei Bemessung der Aufnahmeräume für desinficirte, resp. infi- 
cirte Gegenstände. An Orten, wo weniger Raum zu Gebote steht, 
wird man leicht den Apparat modificiren können. Ein grosser Theil 
des Mauerwerks kann fortfallen, der Desinfectionsofen selbst kann mit 
anderem Material als mit Mauerwerk isolirt werden u. s. w. Wenn 
weiter oben gesagt wurde, dass zur Bedienung des Apparats jeder nur 
einigermassen verständige Arbeiter verwendet werden könne, so ist 
dies für die Bedienung richtig. 

Ganz anders ist es aber bei Beurtheilung der Frage, ob genügend 
desinficirt ist. Eine strenge Controle ist hier gar nicht zu entbehren, 
und müssen wir hier den Ausführungen von Prof. M. Wolf 1 ) völlig 
beipflichten. Man wird in allen Fällen den jeweiligen Desinfector gut 
einschulen und denselben ausserdem auch für die Folge möglichst 
oft und ausgiebig controliren müssen. Wie die oben angeführten 
Versuche beweisen, wird man immer sicher sein, dass alle Sporen 
sterilisirt sind, wenn die Desinfectionszeit mindestens fünfviertel 
Stunden gedauert und die Temperatur im Ofen während der letzten 
halben Stunde mindestens zwischen 130 und 140 Celsius sich bewegt 
hat. 150 Celsius sollen nicht überschritten werden, da sonst leicht 
Schäden an den Objecten entstehen können. Wenn nun auch gerin¬ 
gere Temperaturen bei genügend langer Zeit im Stande sind, alle be¬ 
kannten Krankheitsstoffe zu tödten, so haben wir doch geglaubt, in 
jedem Falle das höchste Postulat stellen zu müssen und deshalb in 
den Instructionen des Desinfectors die Forderung gestellt, dass min¬ 
destens eine halbe Stunde lang die Temperatur des Ofens 130 bis 
140 Celsius betragen haben muss. 

Abweichungen von dieser Vorschrift sind nur dem controlirenden 
Arzte gestattet. 


*) Virchow’s Archiv Bd 102. l.Hft. 


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UNIVERSUM OF IOWA 



2 . 


Bemrknagei über den für die Stadt Düsseldorf bestimmten 

Desinfections-Apparat 

Ton 

H. Merke, 

Verwaltungs-Director dos städtischen Krankenhauses Moabit 


Dem Wunsche der Redaction gemäss habe ich die von den Herren DDr. 
Fleischhauer und Mittenzweig gelieferte Abhandluug: „Prüfung des Des- 
infections-Apparates der Stadt Düsseldorf“ einer genaueren Durchsicht unter¬ 
worfen und erlaube mir meine Ansicht über den in derselben beschriebenen 
Desinfections-Apparat in Folgendem mitzutheilen. 

Vorausschicken möchte ich noch, dass sowohl die der Abhandlung beiliegen¬ 
den Zeichnungen, als auch die Beschreibung des Apparates selbst in ihren De¬ 
tails nicht genau durchgeführt sind und deshalb das Verständnis der einzelnen 
Anordnungen der Gesammtanlage besonders für Laien ziemlich erschweren dürf¬ 
ten. Namentlich für die Zeichnungen erscheint es dringend nothwendig, dass die 
einzelnen Theile mit Buchstaben bezeichnet werden, deren Erläuterung im Text 
zn geben wäre. Auf Einzelheiten, welche mir in dieser Beziehung besonders auf¬ 
gefallen sind, erlaube ich mir weiter unten zurückzukommen. 

Was zunächst die Construction des Apparates und seiner Adnexa, der 
beiden Heizvorrichtnngen und des Dampfentwicklers, betrifft, so dürfte gegen die 
technische Durchführung derselben nicht viel zu erinnern sein. Der zur Auf¬ 
nahme der Desinfectionsobjecte bestimmte herausfahrbare Wagen, den ich zuerst 
vor 4 Jahren am Schlüsse meiner in dieser Zeitschrift veröffentlichten Abhand¬ 
lung „Ueber Desinfections-Apparate und Desinfectionsversuche“ in Vorschlag 
brachte, hat sich als praktisch bewährt und ist seit jener Zeit bei der grossen 
Mehrzahl der bisher erbauten Desinfections-Apparate (beispielsweise bei allen 
Schimmel’schen) in Anwendung gekommen. Noch vortheilhafter, wie in dem 
vorliegenden Falle, ist die Construction desselben in den Schimmel’schen Appa¬ 
raten, in denen die Vorder- und Rückseite des Wagens aus einer festen Wandung 
besteht, welche beim Herausziehen desselben den Apparat nach aussen ziemlich 
vollständig abschliesst, so dass während des Ausladens der desinficirten Gegen¬ 
stände der Innenraum des Apparates vor Abkühlung geschützt wird. 

Die Heizanlage für die Erwärmung dos Apparates und Ueberhitzung des 
in denselben gelassenen Dampfes ist eine sehr einfache und erzeugt, wie dies 
auch bei den betreffenden Versuchen durch Temperaturmessungen constatirt ist, 
sobald die Steinwandungen des Apparates genügend erwärmt sind, in kurzer Zeit 
sehr hohe Hitzegrade im Innern desselben; es haften ihr jedoch, meiner Ansicht 
nach, zwei grosse Fehler an: erstens ist es bei der vorliegenden Construction 
nicht möglich die Temperatur im Apparat in der Weise zu reguliren, dass über¬ 
mässige Hitzegrade, die zerstörend auf die Desinfectionsobjecte einwirken, aus¬ 
geschlossen sind, und zweitens werden sich stets auf den gusseisernen Rippenheiz¬ 
körpern, die hauptsächlich in den dem Apparat am nächsten liegenden Windun- 


Viertellahrsschr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 1. 


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crteljahrsschr. f. ge 

Googl 


10 

Original fro-m 

UNiVERSITY OF IOWA 



146 


H. Merke, 


gen sehr bald glühend werden, Staubtheile ansammeln, welche hier verkohlen, 
durch die Circulation der Luft in den Apparat gelangen, und die in demselben 
befindlichen Desinfectionsobjecte ähnlich wie bei dem Raetke’schen Desinfec- 
tionsapparate stark verunreinigen. Ausserdem werden die Wandungen der Rip¬ 
penheizkörper bei täglicher Benutzung durch die hindurchstreichende Flamme 
sehr angegriffen, so dass häufige und — da dieselben schwer zugänglich sind — 
auch zeitraubende Reparaturen nothwondig werden dürften. 

Die Zuführung der heissen Luft und späterhin des überhitzten Dampfes von 
den Heizkörpern aus erfolgt nach dem Längenschnitt in der Zeichnung nur auf 
der einen Seite des Apparates; hierdurch wird aber auf der entgegengesetzten 
Seite ein Stagniren der Luft- resp. Dampfcirculation zu Stande kommen, d. h. es 
werden sich dort gerade die sogenannten todten Punkte bilden, welche nach der 
auf Seite 123 ausgesprochenen Ansicht durch die neue Construction (Zuleitung 
des Dampfes von oben) vermieden werden sollen. 

Von dem oberhalb des Apparates befindlichen Dampfentwickler findet der 
Zeichnung nach die Entnahme des Dampfes ungemein tief (anscheinend unter¬ 
halb der Mitte des Gefässes) statt; es erscheint hiernach nicht ausgeschlossen, 
dass bei einem stärkeren Aufwallen des kochenden Wassers nicht allein Dampf, 
sondern auch Wasser in das Dampfableitungsrohr übergerissen und als solches in 
den Apparat gelangen wird; dies bewirkt ein Durchnässen der Effecten, welches 
das schnellere Eindringen der Hitze in dieselben verhindert, also den Desinfec- 
tionsprocess verlangsamt, ganz abgesehen von der Beschädigung der Stoffe 
durch das Wasser selbst. Auch dieser Uebelstand sollte nach Ansicht der be¬ 
treffenden Autoren in dem neuen Apparat ausgeschlossen sein (cf. Seite 140). 
Ferner finde ich auf Seite 125 den Satz: „Frische Dämpfe werden nur in dem 
Maasse zugeführt, als solche durch Undichtigkeiten und Condensation in dem Ap¬ 
parat verloren gehen“, allein weder in der Zeichnung, noch in der Beschreibung 
ist angedeutet, in welcher Weise eine derartige Regulirung der Dampfzufuhr zu 
Stande kommen soll; ist die letztere aber eine continuirliche, so wird man es im 
Apparat nicht, wie angenommen, mit „dünnem überhitzten Dampf“, sondern, 
wie in den übrigen Apparaten, mit compacteren Dampfmassen zu thun haben. 

Es wird schliesslich ein grosses Gewicht darauf gelegt, dass der vorliegende 
Apparat eine grosse Abzugsöffnutig am Boden hat. aus der die Luft entweichen 
kann. Soweit sich dies nach der Zeichnung (Längen- und Querschnitt) beurtheilen 
lässt, führt diese Abzugsöffnung in einen Canal, der zuerst vertical nach unten 
steigt, hierbei in seinem unteren Drittel mit demRaum, in dem sich die Heizregister 
befinden, communicirt, und sodann in einen horizontalen Canal übergeht, der, in 
der Längsaxe des Gebäudes verlaufend, in einen Abzugsschlot mündet. (Genaueres 
hierüber fehlt leider sowohl in der Zeichnung, wie in der Beschreibung.) 

Diese Abzugsöffnung nun wird nach oben von dem festen Boden des Wa¬ 
gens überdacht, so dass die Luft, welche hier entweichen soll, nur durch den 
zwischen Wagen und den gemauerten Seitenwänden befindlichen Zwischenraum 
hindurchtreten kann, ein directes Abführen der im Desinfectionsraum vorhandenen 
Luft auf dem kürzesten Wege gerade nach unten, ist also nicht möglich, da dem 
der Boden des Wagens im Apparat entgegensteht. — 

Der Düsseldorfer Desinfectionsapparat beruht, wie alle neueren Apparate, 
auf dem Princip der Anwendung von Hitze als Desinfectionsmittel; während je- 


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Ueber den für Düsseldorf bestimmten Desinfections-Apparat. 


147 


doch in den übrigen Apparaten strömende Wasserdämpfe als Ueberträger der 
Hitze in die Desinfectionsobjecte benutzt werden, soll dieselbe im vorliegenden 
Falle in Form von überhitztem dünnen Dampf auf die Effecten wirken, in sie 
eindringen. Ueber die Art und Weise des Eindringens dieses Dampfes in die Ob¬ 
jecte wird nun folgende Theorie aufgestellt: Luft von gewöhnlicher Temperatur 
ist schwerer als erhitzte Luft, erhitzte Luft schwerer als Wasserdämpfe, beson¬ 
ders als die stark verdünnten überhitzten Wasserdämpfe; wird also ein Gegen¬ 
stand, in dem gewöhnliche atmosphärische Luft vorhanden ist — beispielsweise 
ein aus zusammengerollten wollenen Decken bestehender Ballen — rings von 
überhitzten und deshalb stark verdünnten Dämpfen umspült, so ist die Gewichts¬ 
differenz zwischen der in diesem Gegenstand vorhandenen Luft und den umge¬ 
benden Dämpfen eine sehr grosse, es muss also, wenn anders die Wandungen 
des Gegenstandes durchlässig sind, wie in diesem Fall die wollenen Decken, die 
Luft aus dem Gegenstand vermöge ihrer Schwere herausfallen und an Stelle der 
entwichenen Luft nun dringen eben jene überhitzten Dämpfe bis in das Innere 
des Ballens vor. Dass die Gewichtsdifferenz zwischen der kälteren Innenluft und 
der warmen äusseren Luft, resp. Dampfschichten ein Herausfallen der ersteren 
und Eindringen der letzteren begünstigt, muss zugegeben werden, allein eine 
ausreichende Erklärung für das leichtere Eindringen von heissen Wasserdämpfen 
in voluminösere Packete gegenüber der Einwirkung von heisser Luft ist hierdurch, 
meiner Ansicht nach, durchaus noch nicht gegeben. Lägen die Verhältnisse so 
einfach, so müsste auch Luft von 140°C. und darüber in verhältnissmässig kür¬ 
zerer Zeit in das Innere von zusammengeschnürten Wolldecken-Packeten u. s. w. 
eindringen, als dies nach denVersuchen von Koch und Max Wolff der Fall ist, 
denn gerade diese Versuche ergaben, dass nach einer vierstündigen Einwirkung 
von trockener Hitze bis zu 160 0 C. selbst in kleineren Packeten nur eine Innen¬ 
temperatur von 51 — 64 °C. erzielt werden konnte, während schon eine einstün- 
dige Anwendung von strömenden Wasserdämpfen, deren höchste Temperatur 
116° C. betrug, genügte, um in der Mitte eines Ballen von 22 fest zusammen¬ 
geschnürten wollenen Decken eine Temperatur von 104° C. herbeizuführen 
(cf. Virchow’s Archiv f. path. Anat. Bd. 102. Heft I. S. 113). Der Hergang 
ist jedenfalls viel complicirter, als ihn obige Theorie darstellt und scheint mir 
nachfolgende Erklärung für denselben der Wirklichkeit bedeutend mehr zu ent¬ 
sprechen, wenngleich ich zugestehen will, dass mit ihr durchaus noch nicht alle 
massgebenden Momente erschöpft sind: Soll Wärme in irgend einen Gegenstand 
eindringen, so wird dies um so leichter geschehen, je besser die Wärmeleiter 
sind, aus denen das Object besteht. Ein Ballen von 22 wollenen Decken, die 
derartig zusammengerollt und geschnürt sind, dass von keiner Seite ein Luftcanal 
direct in das Innere des Packetes führt, setzt dem Eindringen einer höheren Tem¬ 
peratur den grösstmöglichen Widerstand entgegen, denn nicht nur sind die Woll- 
haare, aus denen die Decken bestehen, sehr schlechte Wärmeleiter, sondern auch 
die zwischen den einzelnen Lagen der Decken und zwischen dem Gespinnst der 
letzteren befindlichen ruhenden Luftschichten sind als mindestens ebenso 
schlechte Wärmeleiter zu betrachten. Soll nun eine höhere Temperatur in dom 
Innern eines solchen Ballens herbeigeführt werden, so erreicht man dies am leich¬ 
testen und schnellsten durch ein Medium, welches wenigstens einen der vorgenann¬ 
ten schlechten Wärmeleiter in einen besseren umwandelt und dieses Medium hat 

10 * 


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H. Merke, 


Koch in den strömenden heissen Wasserdämpfen gefunden. Kommen diese 
letzteren mit dem Ballen in Berührung, so dringen sie in die am meisten nach 
aussen gelegenen Spalten des Gewebes ein und verdrängen die vorhandenen Luft¬ 
schichten, erfüllen den frei gewordenen Raum und würden nun, falls die Einwir¬ 
kung des Dampfes nur eine schnell vorübergehende wäre, vermöge ihrer Wärme¬ 
abgabe allmälig zu Wasser condensiren. Da aber fortwährend heisse Wasserdämpfe 
nachströmen, so wird von diesen der entstandene Wärmeverlust gedeckt, auch die 
nächstfolgenden Luftschichten werden verdrängt, der von ihnen besetzt gewesene 
Raum füllt sich mit heissem Wasserdampf und dieser Vorgang wiederholt sich so 
lange, bis der Dampf, der von allen Seilen auf den Ballen eindringt, bis zum Mittel¬ 
punkt desselben gelangt ist und die gewünschte Temperatursteigerung bewirkt hat. 

Ein Condensiren des Dampfes zu Wasser tritt, wenn derselbe die nöthigen 
Wärmegrade besitzt, nicht ein, da erstlich stetig heisser Dampf nachströmt, also 
der Wärmeverlust gedeckt wird, und ausserdem die Wollenfaser kraft ihres 
schlechten Wärmeleitungsvermögens demselben auch nur eine entsprechend ge¬ 
ringe Wärmemenge auf einmal zu entziehen im Stande ist. Dass ein vorher 
durchnässter Ballen um so viel schwieriger zu durchwärmen ist, wie ein trocke¬ 
ner erklärt sich dadurch, dass in diesem Falle die in dem Gewebe vorhandenen 
Hohlräume, die im trockenen Ballen Luft enthalten, zum grössten Theil mit 
Wasser erfüllt sind, zu dessen Erhitzung dem einströmenden Dampfe ungleich mehr 
Wärme entzogen werden muss, als zur Erwärmung der Luftschichten gebraucht 
wurde. Trotzdem gelang es übrigens Max Wolff (a. a. 0. 117) in einem 
Ballen von 22 wollenen Decken, von denen die äusseren 12 total durchnässt 
waren, durch 2 ständige Einwirkung von heissen strömendeu Wasserdämpfen 
eine Mittentemperatur von 101° C. zu erzielen. 

Nach obigen Auseinandersetzungen ist also bei der Hitzedesinfection das 
Hauptgewicht auf die Einwirkung strömender, stetig in Bewegung befindlicher 
heisser Wasserdämpfe zu legen, da diese allein das wirksame desinficirende 
Agens repräsentiren. 

Wenn dem gegenüber in der vorliegenden Abhandlung (S. 125) gesagt 
wird: „Der Hauptunterschied des Apparates von den bisher construirten 
beruht also darauf, dass nicht strömender Wasserdampf, sondern ruhender, 
resp. nur leicht bewegter Dampf überhitzt wird“, so erlaube ich mir zu be¬ 
merken, dass meiner Ansicht nach grade zwischen dem Desinfectionsraum und 
der unteren Hoizungsanlage eine sehr rege Circulation der Luft resp. der Dämpfe 
stattfinden muss, die einerseits durch die Temperaturdifferenz zwischen den oben 
zugeführten Dämpfen des kochenden Wassers und der über den Rippenheiz¬ 
körpern befindlichen erhitzten Luft (150—160° C. und darüber), andererseits 
aber auch dadurch hervorgerufen wird, dass die am Boden des Apparates vor¬ 
handene grosse Abzugsöffnung durch einen geräumigen Canal mit der Aussen- 
luft communicirt. Die vorliegenden Versuche sind in der Zeit vom 29. August 
bis zum 15. September, d. h. in einer Jahreszeit gemacht, in der die Aussen- 
temperatur verhältnissmässig hoch ist, in kälteren Jahreszeiten wird durch die¬ 
sen Abzugskanal sehr häufig nicht nur ein Abführen der Innenluft, sondern 
gleichzeitig ein Zuströmen der schweren Aussenluft zu Stande kommen, die ihrer¬ 
seits wieder Temperaturdifferenzen in der Desinfectionskammer hervorruft. 

Es scheint mir demnach, dass der vorliegende Apparat im Princip mit den 
früheren Apparaten übereinslimmt, insofern auch in ihm die Hitze in der Form 


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Ueber den fdr Düsseldorf bestimmten Desinfections-Apparat. 


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von circulirenden heissen Wasserdämpfen auf die Desinfectionsobjecte einwirkt 
resp. in dieselben eindringt, und dass nur in Bezug auf die Wärmequellen, d. h. 
den Ort, an dem diese heissen Wasserdämpfe erzeugt werden, eine Differenz vor¬ 
liegt. Während in den bisher gebräuchlichen Apparaten die Dämpfe in einem be¬ 
sonderen Dampfkessel erzeugt und von diesem aus als so zu sagen fertige, auf die 
nöthigen Hitzegrade gebrachte Dämpfe in den Apparat geleitet wurden, geschieht 
in dem Düsseldorfer Apparat das Erhitzen des Dampfes im Apparat selbst und zwar 
durch dieEinwirkung von heisser, bis auf 160 und mehr Grade C. gebrachter Luft. 

Bezüglich der praktischen Verwendbarkeit des Düsseldorfer Apparates im 
Vergleich zu den bisher gebräuchlichen erlaube ich mir Folgendes zu bemerken: 

1) Die in dem ersteren erhaltene Temperatur zeigt in sämmtlichen Versuchen, 
in denen in dem Ballen von 20 wollenen Decken die erforderliche Temperatur¬ 
höhe von 100°C. erzielt war, Steigerungen bis zu 140°C.; in einzelnen Versuchen 
stieg dieselbe bis zu 160°C. an. Derartig hohe Temperaturen wirken aber erfah- 
rungsgemäss auf eine grosse Anzahl vonDesinfectionsobjecten, besonders auf Lein¬ 
wand, Shirting u.dergl., sobald sie bei denselben wiederholentlich zur Anwendung 
kommen, zerstörend ein, indem das Gewebe gelockert und leicht zerreisslich wird. 
Bei Temperaturen unter 130 0 C. konnte, wie die Versuche zeigen, die geforderte 
Temperaturhöhe von 100° C. im Innern des Ballens nicht erreicht werden. 

Eine Regulirung der Temperatur in dem Sinne, dass eine Maximaltempe¬ 
ratur von 130°C. nicht überschritten wird, ist nach den vorliegenden Versuchs¬ 
resultaten nicht möglich. 

Demgegenüber genügte in den Apparaten, in welchen directe strömende 
Wasserdämpfe zur Anwendung kommen, eine Maximaltemperatur von 116°C. im 
Apparat, um im Innern eines Ballens von 22 wollenen Decken 104° C. hervor¬ 
zubringen (cfr. Wol ff a. a. 0. S. 113). 

2) Die Zeitdauer, in welcher im Düsseldorfer Apparat eine volle Desinfec- 
lionswirkung erzielt werden kann, beträgt nach vorgängiger Erwärmung des 
Apparates 1 '/ 4 bis 1 , / 2 Stunden (S. 139). Bei der Benutzung von heissen strö¬ 
menden Wasserdämpfen wurden im Zeitraum von einer Stunde in der Mitte eines 
Ballens von 22 wollenen Decken 104° C. erzielt; rechnet man hierzu eine Ven¬ 
tilationsdauer von 15 Minuten zum besseren Trocknen der Desinfectionsobjecte, 
so nimmt im letzteren Falle der ganze Desinfectionsprocess eine Zeit von 1 */ 4 
Stunden in Anspruch. 

3) Ist man, wie dies in grossen Städten der Fall ist, genöthigt, mehrere 
Desinfectionsapparate aufzustellen, so muss, falls man die Construction des 
Düsseldorfer Apparates wählt, für jeden einzelnen Apparat, auch wenn dieselben 
nebeneinander gestellt werden, eine besondere Feuerungsanlage hergerichlet 
werden; bei den Apparaten älterer Construction genügt eine einzige Feuerungs¬ 
anlage, um 3 und mehr Apparate mit dem erforderlichen Dampfe zu versehen. 

4) Gemauerte Desinfectionskammern, die längere Zeit der Einwirkung hoher 
Temperaturen ausgesetzt werden, bedürfen häufiger Reparaturen, wie ich dies 
im Laufe der Jahre an dem hier befindlichen Apparate zu beobachten Gelegen¬ 
heit hatte; eiserne Desinfectionsapparate haben in dieser Beziehung meines 
Wissens noch zu keinen Klagen Veranlassung geben. 

Ich komme hiernach zu dom Resultat, dass, da der Düsseldorfer Desinfec- 
tionsapparat vor den Apparaten älterer Construction mit directer Dampfeinströ- 
mung und Ventilation keinerlei Vorzüge besitzt, wohl aber vom praktischen 

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H. Merke. 


Standpunkte aus zu mancherlei nicht unerheblichen Bedenken Veranlassung 
giebt, da ferner die letztgenannten Apparate sich nach den erst neuerdings wie¬ 
der von Prof. Max Wolff angestellten, oben mehrfach citirten Untersuchungen 
durchaus leistungsfähig erwiesen haben, letztere Apparate dem Düsseldorfer ent¬ 
schieden vorzuziehen sind. 

Zum Schluss bemerke ich noch, dass in der ersten demnächst fertiggestell¬ 
ten öffentlichen Desinfectionsanstalt der Stadt Berlin, zu welcher ich im Früh¬ 
jahr d. J. den Plan entwarf, die wichtigsten der auf S. 138 u. f. aufgestellten For¬ 
derungen erfüllt sind: die betreffenden sehr grossen Apparate besitzen, wie der 
Düsseldorfer Apparat, einen auf beiden Seiten herausfahrbaren Wagen'), der 
Baum, in welchem die inficirten Gegenstände aufbewahrt werden, sowie der zur 
Beschickung des Apparates nöthige Vorraum ist vollständig von dem Aufbewah¬ 
rungsraum für desinficirte Gegenstände getrennt und die Apparate selbst sind 
conform demjenigen gearbeitet, dessen Leistungsfähigkeit durch die mehrerwähn¬ 
ten Untersuchungen des Herrn Prof. Max Wolff hinlänglich constatirt ist. 

Eine genaue Beschreibung dieser ersten grösseren Desinfections- Anstalt 
glaube ich nach erfolgter Fertigstellung derselben in Aussicht stellen zu dürfen. 


3. 

Die Ergebnisse der neueren Untersuch an gen des Schweine¬ 
fleisches« 

Von 

Dr. Hermann Baienberg. 


Seitdem es bewiesen, dass das Schwein gelegentlich Trichinen beherbergen 
kann und das Fleisch desselben in Folge dessen als verdächtiges Nahrungs¬ 
mittel angesehen werden musste, ist wohl Nichts öfter und eingehender der mikro¬ 
skopischen Untersuchung unterworfen worden als das Schweinefleisch; denn nicht 
nur, dass sich seit jener Zeit eine ganze Reihe der hervorragendsten Naturfor¬ 
scher mit der Untersuchung der Existenzbedingungen und der Entwicke¬ 
lungsgeschichte der Trichinen beschäftigten, es entstand in Folge dessen auch 
im Laufe der Jahre das Institut der Fleischbeschauer, welche die mikroskopische 
Untersuchung des Schweinefleisches auf Trichinen gewerbsmässig betreiben. 
Nun befindet sich zwar unter den eigentlichen Fleischbeschauern nur ein geringer 
Procentsatz solcher Personen, welche zur Anstellung selbständiger wissenschaft¬ 
licher Untersuchungen befähigt sind; dennoch aber haben sie der Wissenschaft 
keine geringen Dienste geleistet, denn nur den die mikroskopische Fleischschau 
practisch ausübenden Personen ist es zu danken, dass wir jetzt mit ziemlicher 
Sicherheit über die Häufigkeit des Vorkommens trichinöser Schweine, sowie über 
die Verbreitung der Trichinen, mindestens in Norddeutschland, unterrichtet sind. 


') Dieselbe Einrichtung ist übrigens meines Wissens schon vor ca. 1*/* Jahren 
bei einem in der Stadt Bremen aufgestellten Desin/ections-Apparat durchgeführt. 


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Dr. H. Eulenbcrg. 


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and zweifellos würden ans ohne deren Mitwirkung manche Parasiten and andere 
Vorkommnisse im Schweinefleisch noch vollständig unbekannt geblieben sein. 

Als Vorkommnisse, welche die Fleischbeschaaer den Fachgelehrten be¬ 
sonders häufig zur Untersuchung und Begutachtung übermittelten, sind in 
erster Linie gewisse Goncretionen zu nennen, welche hin und wieder in der 
Musculatur der Schweine angetroffen werden und welche wiederholt zu dem Ver¬ 
dachte Veranlassung gaben, dass man es mit verkalkten Trichinen zu thun 
habe. Dennoch blieb das Wesen dieser Concremente, welche vorerst, als sich 
nur noch wenige Personen mit der Fleischschau beschäftigten, da ein Zwang 
zur mikroskopischen Untersuchung des Schweinefleisches nur in sehr wenigen 
Ortschaften und Districlen existirte, bis in die neueste Zeit hinein ein Räthsel, 
denn Form, Grösse und sonstige Eigenschaften derselben waren in den verschie¬ 
denen Fällen sehr verschieden, so dass man sich daher oft nur darauf beschrän¬ 
ken musste, einfach anzuerkenneu, dass es keine verkalkten Trichinen seien. 

Gerlach, welcher sich wiederholt mit der Untersuchung solcher Con- 
cretionen beschäftigt hat, beschreibt dieselben 1 ) folgendermaasssen: „Sie sind 
von verschiedener Grösse und Form, immer aber erscheinen sie dem unbewaff¬ 
neten Auge als kleine grauweisse Körperchen in dar rothen Fleischmasse. Sie 
kommen über den ganzen Körper verbreitet, oder nur an einzelnen Körpertheilen, 
oder auch nur sparsam eingestreut vor. Bei näherer Betrachtung, namentlich 
mit der Loupe, erscheinen diese weisslichen Körperchen entweder als kleine 
rundliche oder ovale abgegrenzte Sandkörnchen von Sandkorn- oder Hirsekorn¬ 
grösse, oder als unregelmässige schollige, blättrige, stachlige und nicht 
scharf abgegrenzle Körnchen.“ 

Da die Concretionen nioht immer dieselben Gebilde waren, sondern Ver¬ 
schiedenheiten, sowohl in den organischen Grundlagen wie auch in den abge¬ 
lagerten chemischen Substanzen, Vorkommen, so unterschied Gerlach dieselben 
a) in solche mit abnormen organischen Grundlagen und b) in solche ohne be¬ 
sondere abnorme Grundlagen, 

Erstere sind scharf abgegrenzt, bilden rundliche oder längliche Körperchen 
und enthalten immer Kalksalze, namentlich kohlensauren Kalk, bei dessen Auf¬ 
lösung durch Salzsäure man unter dem Mikroskop die Kohlensäure in kleinen 
Lufibläschen entweichen sieht. Nach der Auflösung der Kalksalze bleibt ein 
organischer Rückstand, der in der Regel keine bestimmte Form mehr erkennen 
lässt, sich aber doch als ein Häufchen von abnormen Substanzen darstellt, die 
man verschieden, bald als Parasiten, bald als von pathologischon Neubildungen 
herrührend, deutete. So fassten Claus, Carus und Leuckart sie in einzelnen 
Fällen als abgestorbene Finnen auf, während Virchow sich dahin äusserte, 
dass zwar der Gedanke an untergegangene Finneh am nächsten liege, doch sei 
die Möglichkeit einer unbekannten pathologischen Neubildung nicht zu bestreiten. 
In anderen Fällen erklärte Leuckart solche Concretionen für abgestorbene 
Trichinen, Küchenmeister für eine Cestoden-Miliartubcrculose, Vogel für das 
Product einer diffusen Muskelentzündung, Krause für verkalkte Lipome u. s. w. 

Bei den Gerlach’schen „Concretionen ohne besondere abnorme organische 
Grundlage“ hat die Ablagerung in der Muskelsubstanz und den intermusculären 
Bindegeweben stattgefunden. Die Concretionen erscheinen weniger scharf be- 


*) A, C. Gerlach, Die Trichinen. Hannover, 1873. p. 85 u. f. 


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Dr. H. Eulenberg. 


grenzt, bald mehr strahlig, schollig, blättrig, in unregelmässigen Formen und 
oft grösser als die scharf begrenzten. Nach der Auflösung mittelst Säure sieht 
man normales Gewebe, namentlich treten die Primitivbündel deutlich hervor. 
Die abgelagerte Substanz ist nicht in allen Fällen dieselbe. So fand Leuckart 1 ) 
in geräuchertem westphälischen Schinken Concretionen mit oft strahlig ausge¬ 
zackten Rändern. Sie wurden von einer bröcklichen Substanz gebildet, die sich 
bei Behandlung mit Präparimadeln in längere oder kürzere Fasern von verschie¬ 
dener Dicke auflöste. Unter dem Mikroskop constatirte er eine dichte Masse viel¬ 
fach verfilzter dünner Spiesse, die er für Stearin- oder Margarin- vielleicht 
auch Tyrosinkrystalle hält, die aber möglicherweise erst beim Räu¬ 
chern entstanden sein können. Bei Zusatz von Salzsäure verblassten und 
verschwanden die Gebilde allmälig vom Rande her ohne Gasentwicklung, während 
gleichzeitig an den Muskelfasern einesehr deutliche und schöne Querstreifung auftrat. 

Auch Virchow 2 ) fand in Schinken zahlreiche weisse und harte Einspren¬ 
gungen, welche unter dem Messer knirschten. Sie hatten keine scharfen Con- 
turen, ihre äussere Begrenzung war vielmehr unregelmässig, wie faserig oder ver¬ 
schwommen. Die weisse Masse löste sich in Salzsäure vollständig auf und es 
blieb nach der Auflösung stets Muskelsubstanz mit scheinbar unveränderten Pri¬ 
mitivbündeln in der Salzsäure zurück. Weitere Untersuchungen ergaben, dass 
die Concretionen alle Eigenschaften des Guanin’s darboten, eines Stoffes, wel¬ 
cher der.Harnsäure und dem Hypoxanthin (Sarkin) nahe verwandt ist, und Vir¬ 
chow folgert daraus, dass bei den Schweinen eine Krankheit vorkomme, die in 
ähnlicher Weise wie die Gicht des Menschen mit Ablagerungen von harnsaurem 
Natron einhergeht, Guaninconcretionen erzeugt, und die man deshalb als 
Guaningicht auffassen könnte. 

Aus allem oben Angeführten ergiebt sich also, dass man bis vor Kurzem 
über die Concretionen im Schweinefleisch nicht mehr wusste, als dass sie bezüg¬ 
lich ihrer Formen und chemischen Eigenschaften nioht unbedeutende Verschie¬ 
denheiten darbieten können, und dass es sich bei ihrer Bildung um verschiedene 
noch nicht festgestellte pathologische Vorgänge und Zustände handeln müsse. 

Etwas mehr Licht und vielleicht die Lösung des ganzen Räthsels brachten 
endlich die Untersuchungen des Thierarztes H. C. J. Duncker in Berlin 3 ), denn 
die Resultate derselben, welche eines Theils in der „Zeitschrift für Mikro¬ 
skopie und Fleischbeschau“ niedergelegt und andern theils mir mündlich 
und schriftlich zur beliebigen Verwendung mitgetheiltsind,lassen vermuthen, dass 
sämmtliohe Concretionen des Schweinefleisches parasitären Ur¬ 
sprungs sind, sowie dass sämmtliche Parasiten, welche bisher im 
Schweinefleisch entdeckt worden sind, unter gewissen Umständen 
zum Entstehen von Concretionen Veranlassung geben können. 

Nach diesen Untersuchungen sind eine der häufigsten Ursachen zum Ent¬ 
stehen von Concretionen im Schweinefleische frühzeitig abgestorbene 
Trichinen, wie sie zuerst von Leuckart 4 ) in Schweinen und von Virchow 5 ) 


*) Leuckart, Untersuchungen über Trichina spiralis. Leipzig, 1866. p. 113. 
*) Archiv Bd. 35. p. 358. 

*) Virchow’s Archiv Bd. 95. p. 546. 

4 ) Leuckart, a. a. 0. p. 66 u. 114. 

*) Archiv Bd. 32. p. 353. 


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Die Ergebnisse der neueren Untersuchungen des Schweinefleisches. 153 


in der Masculatur des Menschen gefunden wurden. Leuckart fand in einem 
Schweine ausser normal verkapselten Trichinen rundliche Körperchen von be¬ 
trächtlicher Grösse, fast bis 1 mm, und weisslichem Aussehen. Grösse und Fär¬ 
bung der Körper rührten von einer Bindegewebshülle von beträchtlicher Dicke 
her. Im Innern derselben fand sich ein rundlicher ziemlich scharf begrenzter 
Hohlraum, aber ohne Kapsel, in welchem sich beständig eine abgestorbene und 
verglaste Trichine, die unter dem Drucke des Deckglases in Stücke zerbrach, be¬ 
fand. In einzelnen Fällen war die Form der Trichine noch unverkennbar, aber 
in einem andern fand sich statt eines aufgerollten Glasfadens ein unregelmässiges 
Conglomerat von grösseren und kleineren Bruchstücken, io dem man den frühe¬ 
ren Bewohner unmöglich ohne Weiteres erkennen konnte. Bei Zusatz von Salz¬ 
säure schmolzen die Massen ohne Gasentwickelung ein. Dass es abgestorbene 
Trichinen waren, die hier Vorlagen, konnte nicht zweifelhaft sein, und offenbar 
war der Tod schon eine längere Zeit vor dem Untersuchungstermine eingetreten. 
Ob die abnorme Verdickung der Bindesubstanz die Verödung herbeigeführt 
hatte, lässt Leuckart unentschieden. 

In einem anderen Falle fand Leuckart die abgestorbenen Würmer von 
einer dicken Bindegewebshülle umgeben, die eine bald mehr oder minder ovale, 
bald auch spindelförmige Gestalt hatte, dabei aber nur unvollständig gegen die 
benachbarte Bindesubstanz sich absetzte. Unterhalb dieser Hülle erkannte 
Leuckart in manchen Fällen nooh eine deutliche Kapsel, die auf ein Alter 
von 2—3 Monaten hindeutete. In anderen Fällen war die Kapsel geschwunden, 
aber die Trichinen lagen dafür in einem hellen Raume, der in Form und Grösse eine 
unverkennbare Aehnlichkeit mit der gewöhnlichen Kapsel darbot. Die Begrenzung 
dieses Raumes war bald scharf gezeichnet, bald verwischt, als wenn die Binde- 
gewebsmasse von aussen in den Kapselraum hineingewuchert wäre. Die einge¬ 
schlossenen Trichineu verhielten sich ähnlich wie in den vorher erwähnten Fällen. 

Dasselbe frühzeitige Abslerben und Verkalken des Trichinenleibes beobach¬ 
tete, wie schon erwähnt, Virchow wiederholt beim Menschen; der Trichinen¬ 
körper bildete eine harte,- glänzende, wurstförmige Masse von sehr dunklen und 
harten Conturen. Nach Auflösung der Kalksalze durch Säuren kam der erheblich 
veränderte Thierkörper zum Vorschein. Neben diesen abgestorbenen waren aber 
auch lebende und nicht verkalkte Trichinen vorhanden. 

Diese Beobachtungen wurden durch die neueren Untersuchungen von 
Dunoker voll und ganz bestätigt und vermuthet derselbe als Ursache des Ab¬ 
sterbens der Trichinen eine eigenthümliche Krankheit derselben, eine Pilzinfec- 
tion. In dieser Vermuthung ist er unter anderem auch dadurch bestärkt worden, 
dass es ihm und dem städtischen Oberthierarzt in Berlin, Dr. Hertwig, wie¬ 
derholt gelungen ist, bei diesbezüglichen Fülterungsversuchen gleichzeitig lebende 
und abgestorbene Trichinen in Ratten und Meerschweinchen zu erzielen. Nach 
Duncker ist es nicht seilen, dass man in ein und demselben Schweine alle 
Stadien der Umwandlung findet. Das erste Zeichen, dass eine Trichine abster¬ 
ben wird, ist, dass an den Polen der Kapsel eine mehr oder minder starke Binde¬ 
gewebswucherung auftritt. Um diese Zeit erscheint der eingeschlossene Wurm 
noch vollständig gesund, denn aus der Kapsel befreit und auf einen erwärmten 
Objectträger gebracht bewegt derselbe sich sehr lebhaft und ist auch in dessen 
Innern irgend wolche Voräudernng nicht auffindbar. Nach und nach aber wird 
die ganze Kapsel von der Bindegowebewucherung umgeben, und ist dies ge- 


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Dr. H. Eulenberg, 


schehen, ist auch in den meisten Fällen der Wurm bereits gestorben. Die Win¬ 
dungen desselben sind mehr gestreckt, der Körper erscheint geschrumpft und die 
Conturen der Eingeweide sind minder deutlich. 

Die weiteren Veränderungen sind nun zweierlei Art. Mitunter, aber selte¬ 
ner, verfällt das ganze Innere der Trichine einer fettigen Degeneration und Re¬ 
sorption, so dass schliesslich innerhalb der zwar sehr umfangreichen, aber nicht 
sehr dichten Bindegewebshülle nichts weiter zu entdecken ist, als die Cbitinhaut 
der Trichine; in anderen Fällen ist die Bindegewebshülle schmaler, aber sehr 
dicht, und dann verfällt die Trichine meist dem oben erwähnten Verkalkungs- 
processe. Derselbe wird dadurch eingeleitet, dass das Innere der Trichine in 
eine feinkörnige unter dem Mikroskop dunkel erscheinende Masse zerfällt. Dann 
treten an einer oder an mehreren Körperstellen glänzende Körnchen, sogenannte 
Verkalkungspunkte, auf, welche sich mehr und mehr ausdehnen, bis endlich der 
ganze Trichinenkörper in die bekannte dunkel glänzende, harte, bröckliche Masse 
umgewandelt ist. 

In manchen Fällen bleibt nun die so umgewandelte Trichine unverändert 
liegen, bisweilen aber zerbröckelt sie in kleinere Stückchen und wird dies dann 
Veranlassung zu fortgesetzter Kalkablagerung, bis die Kapsel gänzlich von un¬ 
regelmässig geformten Kalkstückchen angefüllt ist. 

Bemerkenswerth bei diesem Umwandlungsprocess ist, dass die vollständig 
gefüllten Kapseln die oben erwähnte lockere Bindegewebshülle entweder gar 
nicht mehr oder nur noch in geringerer Stärke und Dichtigkeit erkennen lassen, 
während sie bei solchen Kapseln, die nur zum Theil mit Kalkbröckeln gefüllt 
sind, und welche ausserdem noch erkennbare Reste des verkalkten Triohinen- 
leiber enthalten, unverändert gebliebin ist. Es scheint dies darauf hinzudeuten, 
dass die so räthselhafte Bindegewebshülle wieder verschwindet, wenn der Ver- 
kalkungsprocess beendet ist (d. h. wenn die ursprüngliche Trichinenkapsel voll¬ 
ständig mit Kalk angefüllt ist), sowie, dass die Ursache des frühzeitigen Abster¬ 
bens der Trichinen in dieser Hülle zu suchen ist. 

Hiernach ist es also unzweifelhaft, dass gewisse Goncretionen den Trichinen 
ihr Entstehen verdanken, dass man sie aber nur dann mit Sicherheit als von 
letzteren herrührend bezeichnen kann, wenn gleichzeitig abgestorbene, oder noch 
besser, neben diesen auch noch vollständig intacte Trichinen vorhanden sind. 

Ausser den Trichinen bilden auch Finnen die Grundlage von Concretionen. 
Wie erstere, so sterben auch diese nicht selten frühzeitig ab, und da dies Absterben 
nicht gleichzeitig alle Finnen betrifft, so hat man mitunter Gelegenheit, neben 
vollständig intakten auch abgestorbene und bereits verkalkte Finnen anzutreffen, 
so dass man die Bildung der Concretionen von Stufe zu Stufe verfolgen kann. 

Dass eine Finne kürzlich abgestorben ist, erkennt man daran, dass der In¬ 
halt bedeutend zusammenschrumpft und gelblich gefärbt erscheint. Im weiteren 
Verlaufe wird die Finne in einen gelblichen käsigen Brei verwandelt, welcher, 
durch die Blase hindurchschimmernd, letztere nach und nach ganz anfüllt und 
ausser zahlreichen Fetttröpfchen aus Zellen, Zellenresten, Eiterkügelchen und 
kleinen Kalkpartikelchen besteht. Während der nun folgenden Resorption des 
Detritus findet eine stetige Vermehrung und Vergrösserung der Kalkpartikelchen 
statt, so dass die inzwischen entstandene dickwandige Kapsel schliesslich mit 
kleineren und grösseren Kalkstückchen angefüllt ist. 


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Die Ergebnisse der neueren Untersuchungen des Schweinefleisches. 155 


Die Grösse der Concretionen wechselt je naoh der der ursprünglichen Fin¬ 
nen ; sie können bis 4 Mm. im Durchmesser erreichen. 

Der Beweis, das etwaige Concretionen durch Finnen verursacht sind, ist 
kaum zu führen, wenn nicht gleichzeitig intacte und kürzlich abgestorbene Fin¬ 
nen vorhanden sind; denn den Hakenkranz oder einzelne Häkchen sucht man in 
der bereits käsig zerfallenen Masse oder zwischen den Kalkstückchen der fer¬ 
tigen Concretionen vergebens. 

Ausser den Trichinen und Finnen bilden ferner, wie Duncker nachgewiesen 
hat, die von ihm im Frühjahr 1884 entdeckten Actinomyceten des Schweine¬ 
fleisches*) nicht selten die Grundlage von verschiedenartigen Concretionen. 
Das Vorhandensein dieser Pilze ist zu vermuthen, wenn bei der Untersuchung des 
Fleisches auf Trichinen zwischen normalen Muskelfasern andere gefunden wer¬ 
den, welche in ihrem ganzen Verlaufe eine unregelmässig vertheilte, schmutzig 
braune Färbung zeigen, und welche in unregelmässigen Intervallen mehr oder 
weniger scharf umscbriehene, dunkle, in der Mitte hellere Körper mit wulstigem 
Rande enthalten, deren Durchmesser die Breite der Muskelfasern etwas übertrifft. 
Solche pilzhaltige Muskelfasern erscheinen makroskopisch, und zwar sowohl im 
Präparate, als auch bei oberflächlicher Lage derselben in der Musculatur, als 
feine grauweisse Striche, in welchen perlschnurartig neben einander gereihte 
feine weisse Pünktchen, die oben erwähnten rundlichen Körper, die eigentlichen 
Actinomycesrasen, erkennbar sind. 

Das Eindringen und die Entwicklung des Pilzes in der Muskelfaser bedin¬ 
gen einen eigenthümlichen Degenerationsprocess der letzteren. Zunächst erscheint 
sie unregelmässig wellig gekrümmt und es entstehen in ihrem Verlaufe breite 
Querfalten und knotenförmige Auftreibungen. Später wird die Querstreifung un¬ 
deutlicher, es bilden sich Querrisse in der contractilen Substanz und diese zer¬ 
fällt in kleinere und grössere unregelmässig geformte glänzende Trümmer, von 
welchen letzteren sich einige regelmässig zu rundlichen, an ihrer Oberfläche mehr 
oder weniger faltigen Portionen zusammenziehen, während andere, meist cylin- 
derförmige, insofern einen eigenthümlichen Anblick gewähren, als die Primitiv¬ 
fibrillen an einem oder an beiden Enden derselben wulstig hervorgedrängt werden 
und in verschiedener Weise, mitunter fächer-oder kranzförmig dioht über und neben 
einander gelagert sind. — Die übrigen unregelmässig umschriebenen Trümmer 
der contractilen Substanz bieten in diesem Stadium nichts besonders Auffälliges. 

Nachdem der Pilz jetzt die ganze Muskelfaser durchzogen hat, erfolgen Auf¬ 
lösung und Resorption der abgestorbenen contractilen Substanz, und zwar um so 
rascher und vollständiger, je üppiger und kräftiger die sich nunmehr bildenden 
Rasen gedeihen. Schliesslich, nach erfolgter vollständiger Resorption, fällt der 
Sarcolemmaschtauch zusammen, so dass er nur noch in der Umgebung der zurück¬ 
gebliebenen Pilzrasen und zwar als feine Umhüllung derselben nachweisbar ist. 

Wie die Actinomyceten in die Musculatur der Schweine gelangen, ist bis¬ 
her ein Räthsel geblieben, doch kann mit ziemlicher Sicherheit angenommen 
werden, dass die Aufnahme der Keime während der Sommermonate mit dem Futter 


') Das Vorkommen von Actinomyceten in der Schweinelunge wurde bereits 
im Frühjahr 1883 constatirt. In stecknadelkopfgrossen, gelblichen, harten Knöt¬ 
chen, welche sich massenhaft in den vorderen Lungenspitzen eines geschlachteten 
Schweines vorfanden, ermittelte Duncker je 2, 4 bis 8 Ra>-en, welche von 'b-nen 
der Actinomyces bovis in keiner Weise unterschieden werden konnten. 


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156 


Dr. II. Eulenberg, 


geschieht; denn um diese Zeit findet man nur selten wohlentwickelte, sondern 
fast nur verkalkte, also ältere Rasen, während man die ersten Zeichen der be¬ 
gonnenen Einwanderung des Pilzes in die Muscnlatur gewöhnlich erst im October 
zu beobachten Gelegenheit hat. Den Pilz selber sicher zu constatiren gelingt da¬ 
gegen erst, wenn bereits erhebliche Zerstörungen der Musculatur, das Zerreissen 
der contractilen Substanz stattgefunden haben. Dann findet man die Trümmer 
von dichteren Haufen und neben einander verlaufenden, sich öfter verzweigenden 
und vielfach gewundenen Zügen sehr feiner, stark lichtbrechender mikrokokken¬ 
artiger Körper, welche die eigentliche Grundlage der Strahlenpilze bilden, durch¬ 
setzt und dicht durchzogen. 

Aus diesem Lager vollzieht sich der weitere Aufbau des Pilzkörpers je nach 
der Verschiedenheit des Substrates in verschiedener Weise. Die charakteristisch¬ 
sten Formen entwachsen den oben erwähnten zu rundlichen Körpern zusammen¬ 
geballten Portionen der contractilen Substanz. Hier erbeben sieb aus dem Mikro¬ 
kokkenlager nach allen Richtungen hin kurze, äusserst feine Pilzfäden, deren 
Enden sich länglich bimförmig verdicken und somit zu den charakteristischen 
stark lichlbrechenden Keulen heranwachsen, welche in der jungen unverletzten 
Pilzkugel so dicht neben einander gelagert sind, dass man unter dem Mikroskop 
nichts anderes als die stärkeren Keulenenden zu sehen vermag. Diese Pilzkugeln 
werden nach und nach flacher, so dass sie endlich die Form einer runden Scheibe 
annehmen, deren dünnere Mitte aus feinem, mit mikrokokkenartigen Körpern 
durchsetztem Pilzmycel und deren wulstiger Rand aus den radiär gestellten Keulen 
besteht. Während dieses Entwicklungsstadiums kann man mitunter an einzelnen 
über die Peripherie hinausragenden Keulen eine dichotome Verzweigung desStieles 
und eine Scheidewand zwischen Stiel und Basis der Keule wahrnehmen. l ) 

Ein ähnliches Bild entwickelt das Mycel in denjenigen Trümmern der con¬ 
tractilen Substanz, welche oben als vorläufig nichts Auffälliges bietende erwähnt 
wurden, nur dass sich hier keine kugelförmigen Pilzkörper, sondern mehr oder 
weniger flache, unregelmässig umschriebene Rasen, von denen die Keulen dioht 
gedrängt hervorragen, bilden. Bemerkenswerth ist es, dass die Keulen in diesen 
Rasen nicht immer ihre charakteristische Form beibehalten, sondern sich sehr 
häufig um das Doppelte bis Dreifache ihrer normalen Länge strecken — eine 
Erscheinung, die bei dem kranzförmigen Rasen sehr selten zu beobachten ist. 

Eine dritte Entwicklungsform unseres Pilzes, welche mit den beiden vor¬ 
erwähnten keinerlei Aehnlichkeit hat, entsteht nur in denjenigen Trümmern der 
contractilen Substanz, an deren Enden die Primitivfibrillen in der beschriebenen 
eigenthümlichen Weise hervorgequollen sind. Bei diesen kommt es nicht zu 
vorwiegender Keulenbildung, sondern hier wird die contractile Substanz (die Pri¬ 
mitivfibrillen) ihrer ganzen Länge nach von unzählbaren feinen Pilzfäden durch¬ 
zogen, zwischen welchen nur hin und wieder sehr gestreckte und sehr schmale 
Keulen Vorkommen, so dass das Ganze einem starken Bündel sehr feiner Pilz¬ 
fäden gleicht, deren Enden weniger dicht zusammengelagert sind, als deren Mitte. 


*) Nach Virchow (Archiv Bd. 95. S. 547) liegen die Actinomyceten ursprüng¬ 
lich, wie die Trichinen, im Innern der Primitivhündel und entwickelt sich um sie 
eine starke Verdickung des Sarcolemmes, wie bei der Einkapselung der Trichinen. 
Daran schliesst sich eine weit ausgreifende Proliferation in dem intramusculäreu 
Bindegewebe, welche eine reiche Bildung von Granulationszellen mit sich bringt, — 
also Erscheinungen einer starken interstitiellen Entzündung. 


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Die Ergebnisse der neueren Untersuchungen des Schweinefleisches. 157 


Nachdem die Actinomyceten jetzt die Höhe ihrer Entwicklung erreicht ha¬ 
ben, werden sie nach und nach derartig von Kalksalzen imprägnirt, dass es selbst 
dem Kundigen oft unmöglich wird, aus der schliesslich entstandenen Concretion 
den Ursprung derselben genau zu bestimmen, da sowohl die inzwischen entstan¬ 
dene Kapsel, wie auch der Inhalt der letzteren mit solchen von verkalkten Tri¬ 
chinen , Finnen und Psorospermien die grösste Aehnlichkeit haben können. Es 
gilt dies namentlich von den aus der zweiten Entwicklungsform der Ac¬ 
tinomyceten, aus den unregelmässig umschriebenen flachen Rasen, entstande¬ 
nen Concretionen, denn hier ist die Kapsel zum Theil oder ganz von unregel¬ 
mässig geformten Kalkstückchen angefüllt, genau so, wie wir sie bei den Trichi¬ 
nen kennen lernten, wohingegen die aus der ersten Form, aus den kranz¬ 
förmigen Actinomyceten entstehenden Concretionen insofern charakteristisch sind, 
als sich innerhalb einer ziemlich dickwandigen, in Form und Grösse der der 
Trichinen ähnlichen Kapsel, eine oder mehrere runde, ovale oder bohnenformige 
Kalkscheibchen mit dünner Mitte und starkem wulstigen Rande befinden, welche 
mitunter eine feine radiäre Streifung erkennen lassen. Nach der Behandlung 
dieser beiden Formen mit Salzsäure bleibt ein geringer organischer Rest, wahr¬ 
scheinlich Pilzmycel, zurück. 

Ganz verschieden von diesen gestalten sich die Concretionen der drit¬ 
ten Entwicklungsform der Actinomyceten, denn da die Kalkablagerung an 
den Verlauf der Pilzfäden gebunden ist, so scheinen die fertigen Concretionen 
aus unzähligen langen, feinen, parallel neben einander verlaufenden oder fächer- 
und kranzförmig angeordneten Nadeln, Spiessen oder Krystallen zu bestehen. 
Bei stärkerem Druck mit dem Deckglase zerbrechen sie entweder der Länge nach 
oder sie zerbröckeln in kleine, unregelmässig geformte Stückchen. Diese Con- 
cretionen sind nie von einer Kapsel umgeben, sondern sie liegen un¬ 
mittelbar zwischen den Muskelfasern. Salzsäure löst die Kalksalze vollständig 
auf, und zwischen dem verbleibenden organischen Rest findet man nicht selten 
noch ziemlich wohlerhaltene Primitivfibrillen. — 

Nicht weniger charakteristisch als die soeben erwähnten sind die durch 
sogenannte Mieschersche Schläuche bedingten Concretionen, so 
dass man mitunter aus der Form der letzteren auf das Wesen derselben zurück- 
scbliessen kann. Sie entstehen in ähnlicher Weise wie die vorher beschriebenen. 
Der Inhalt der Schläuche zerfällt in eine käsige Detritusmasse, in welcher nach 
und nach, an einer oder an mehreren Stellen, Kalksalze abgelagert werden. In 
demselben Verhältniss. in welchem die Kalkablagerungen zunehmen, wird der 
Detritus resorbirt und die inzwischen entstandene Kapsel wird schliesslich mit 
Kalk angefüllt. Trat in dem Detritus ursprünglich nur ein einziger Verkal¬ 
kungspunkt auf, so wird der letztere in der Regel auch zu einer einzigen langen, 
spiessartigen Concretion, von der ungefähren Form des ursprünglichen Schlau¬ 
ches, auswachsen, waren dagegen von Anfang an mehrere Verkalkungspunkte 
vorhanden, so wird auch die Kapsel von mehr oder weniger unregelmässig ge¬ 
formten Kalkstücken angefüllt werden. Form und Grösse dieser Concretionen 
richten sich nach der der Schläuche; sie sind daher in den meisten Fällen lang 
und schmal und können eine Länge von 4 Mm. erreichen. — 


Aus dem Vorhergehenden ergiebt sich also, dass sehr verschieden¬ 
artige Concretionen des Schweinefleisches parasitären Ursprungs 


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158 


Dr. H. Eulenberg, 


sind und dass die Annahme Duncker’s, dass sämmtliche der ge¬ 
dachten Concretionen durch zu Grunde gegangene Parasiten ver¬ 
anlasst werden, um so weniger der Berechtigung entbehrt, als 
sie auch über das Entstehen so rälhselhafter Formen, wie sie 
Leuckart’s Stearinkrystalle und Vircho w’s Guaninconcretionen 
darbieten, Aufklärung zu geben vermag. Ob letztere wirklich den durch 
Actinomyceten verursachten Concretionen zuzurechnen sind, mag vorläufig dahin¬ 
gestellt bleiben, augenscheinlich besteht aber der einzige Unterschied zwischen 
denselben in ihren verschiedenen chemischen Eigenschaften. Es wäre daher noch 
zu untersuchen, ob und inwiefern die durch Actinomyceten bedingten Concretio¬ 
nen durch den Räucherungsprocess chemisch verändert werden. 1 ) — 


Als Parasiten, welche ebenfalls die Grundlage zu Concretionen im Schweine¬ 
fleisch abgeben könnten, als solche aber noch nicht nachgewiesen worden sind, 
wären noch die Muskeldistomeen und der Haplococcus zu nennen, da ge¬ 
wisse kleine Rundwürmer, welche hin und wieder in den Präparaten der 
Fleischbeschauer Vorkommen, sowie die noch seltener im Schweinefleische auf¬ 
tretenden Echinokokken hier wohl nicht in Betracht kommen können. 

Die Muskeldistomeen. Im Januar 1881 erhielt Duncker von einem 
Fleischbeschauer in Waldenburg eine Fleischprobe, in welcher „egelartige Wür¬ 
mer“ gefunden sein sollten. Nachdem Duncker die fast vertrockneten Fleisch¬ 
proben genügend erweicht hatte, fand auch er die fraglichen Würmer, in welchen 
er sofort mikroskopisch kleine Distomeen erkannte. In einen Tropfen Wasser ge¬ 
bracht, machten die Thiere, welche nahezu die Grösse einer Trichinenkapsel 
hatten, die lebhaftesten Bewegungen, bald dehnten sio sich lang aus, bald zogen 
sie das Vordertheil gleichsam in sich hinein; sie ballten sich zu einer Kugel zu¬ 
sammen, streckten den Vorderkörper wieder langsam hervor, dehnten sich, 
krümmten sich u. s. w. 


Bezüglich der Organisation wurde Folgendes ermittelt: „Der Körper ist 
länglich schlauchförmig, äusserst zart und dünn und von grauer Farbe. Am Vor¬ 
derrande befindet sich ein grosser Saugemund, von welchem aus ein stark mus¬ 
kulöser Schlund in die weisslich durchschimmernden, blind endigenden Magen¬ 
säcke führt. Der Bauchsaugnapf befindet sich in der Körpermitte. Seitwärts von 
jedem Magensacke nach dem äussern Rande zu liegen zwei grosse Drüsenzellen, 
welche nach Pagenstecher symmetrische Dottersäcke des geschlechtlich un¬ 
reifen Thieres sein dürften. Im hinteren Körperende desselben befinden sich zwei 
contractilo Blasen, welche mit einem nach vorne verlaufenden Wassergefässsystem 
in Verbindung stehen. Diese Blasen ziehen sich abwechselnd zusammen, so dass 
man mitunter alle beide, mitunter nur eine derselben sieht. Bei der Contraction 
wird ein am hinteren Ende des Thieres mündender Canal sichtbar.“ 

Nachdem Duncker das Resultat seiner Untersuchungen in der „Zeit- 


*) Nach Uertwig (Bericht über die Berliner städtische Fleischschau pro 
1. April 1883/84. Von Dr 11. llertwig, städtischer Ober-Thierarzt. Berlin, 1884 ) 
wurden auf dem Centialschlachthofc in Berlin während des Jahres April 1883 bis 
März 1884 19 Schweine wegen massenhaft vorhandener Kalkconcretionen und 
15 Schweine wegen Actinomyceten beanstandet und vom Constim ausgeschlossen. 
Unter den 216 wegen Trichinosis beanstandeten Schweinen befanden sich mehrere, 
in welchen neben normal verkapselten, auch abgestorbene und verkalkte Trichinen, 
sowie durch diese verursachte Concretionen aufgefunden wurdcu. 


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Die Ergebnisse der neueren Untersuchungen des Schweinefleisches. 159 


Schrift für Mikroskopie und Fleischschau“ veröffentlicht halte, liefen 
sehr bald Mittbeilungen über neue Distomeenfunde aus den verschiedensten Ge¬ 
genden Deutschlands ein, so dass es nunmehr keinem Zweifel weiter unterliegen 
konnte, dass man es hier wirklich mit einem neuen Parasiten des Schweine¬ 
fleisches zu thun habe, der, wie aus allen Beobachtungen hervorging, vorzugs¬ 
weise in der Musculatur des Kehlkopfs und des Zwerchfells vorkommt. 

Auch in Berlin sind die Muskeldistomeen nicht selten von Fleischbeschauern 
aufgefunden worden und hatte Duncker hier Gelegenheit, ausser der oben er¬ 
wähnten, eine geschwänzte und eine verkapselte Form kennen zu lernen. 

Der Körper der geschwänzten Form war lang cylindrisch; nur wenn das 
Thier ermattet auf dem Objectträger ruhte, schien die Körperform eine flach ovale 
zu sein. Der Schwanz, welcher in der Mittellinie am stärksten und nach den 
Seitenwänden und nach hinten zu abgeflacht und scharfrandig war, besass im 
Verhältnis zu dem übrigen Körper eine nur geringe Beweglichkeit; es schien 
fast, als könnten mit demselben nur Seitenbewegungen ausgeführt werden, wäh¬ 
rend der eigentliche Körper die verschiedenartigsten Formveränderungen eingehen 
konnte. — Die allgemeine Körperdecke war sehr zart und unbewimpert. Die un¬ 
mittelbar unter derselben liegende weiche Körpersubstanz war von verschiedenen 
stärkeren Muskelfasern, sowie von zwei sich schräg kreuzenden Muskelschichten 
durchzogen. Die verhällnissmässig grosse Mundöffnung, welche sich genau am 
Vorderende des Körpers befand, führte in einen stark musculösen Schlund. Der 
sich gleich hinter dem Schlunde spaltende Darm führte in zwei grosse, weiss 
schimmernde, blind endigende Magensäcke, welche seitwärts und hinter dem in 
der Mittellinie des Körpers liegenden Bauchsaugnapf leicht auffindbar waren. 
Kurz hinter der Gabelung des Darmes, jederseits an der äussern Wandung des¬ 
selben, lag eine weiss schimmernde schlauchartige Drüse. Ein Paar ähnliche, 
ebenfalls in den Darm mündende, kleinere Drüsen lagen etwas weiter zurück. 
Der Bauchsaugnapf wurde bei zweien der beobachteten Cercarien von einem 
grösseren unregelmässigen Drüsenhaufen bedeckt. Dieser Drüsenhaufen zog sich 
bei einem der gefundenen Tbiere bis in den Schwanztheil hinab. Bei einem an¬ 
deren lag derselbe regelmässiger nach den Seiten hin geordnet, gleichsam als sei 
er im Begriff, sich in vier einzelne Haufen zu sondern. Das Wassergefässsystem 
war auch bei diesen Thieren gut entwickelt. Es befand sich im Schwanzende und 
bestand aus einem Endporus mit*fewei contractilen Bläschen, von denen jederseits 
ein stärkeres Wassergefäss nach vorne verlief. 

Bezüglich des aufgefundenen verkapselten Distomums ist weiter nichts 
Näheres bekannt geworden, als dass der Wurm sich innerhalb einer gelbbraunen, 
lederartigen, doppeltcontourirten Kapsel lebhaft bewegte und dass der Bauchsaug¬ 
napf u. s. w. während dieser Bewegungon, durch die Kapselwand hindurch, deut¬ 
lich erkennbar waren. Eine Oeffnung der Kapselwand wurde vermieden und das 
Präparat unverletzt für die Sammlung des Centralschlachthofes hergerichtet. 

Der Haplococcus l ). Im October 1880 erhielt Dr. W. Zopf in Halle 
von Torgau aus Schweineproben zugesandt, die mit sogenannten Miescherschen 
Schläuchen behaftet sein sollten. Die Untersuchung ergab indess, dass anstatt 
dieses Schmarotzers ein ganz anderer Parasit sich in der Musculatur angesiedelt 
hatte und zwar in solcher Menge, dass jedes kleine Präparat Dutzende von In- 


l j Biolog. Centralblatt, Bd. III. No. 2*2. 

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160 


Dr. H. Eulenberg, 


dividuen enthielt. Es konnte festgestellt werden, dass der Parasit den Charakter 
niederer Schleimpilze an sich trägt und dass er drei Entwicklungsstadien bildet: 
eine Amöbenform, eine Sporangienform und eine Dauersporenform. Die Sporan- 
gien stellen etwa 16 bis 22 mikr. im Durchmesser haltende vollkommen oder 
nahezu kugelige Körper dar. Ihre Membran ist glatt, schwach verdickt und daher 
deutlich doppelt contourirt, mit Ausnahme von drei odor mehreren rundlichen 
Stellen, welche stets unverdickt bleiben und als flache Papillen ein wenig über 
die Contour des Sporangiums vorspringen. 

Das Sporangium enthält anfangs feinkörniges Plasma; zur Reifezeit aber 
tritt in letzterem ein Zerklüftungsprocess ein, der zur Bildung von mehreren, 
etwa 6 bis 15, Plasmaportionen führt. Diese, zunächst pflastersteinartig anein¬ 
ander gelagert, runden sich später gegeneinander ab, nehmen eine amöboide Be¬ 
wegung an und schlüpfen endlich als Amöben aus der Sporangienmembran aus. 
Ihre Austrittsstellen entsprechen den oben erwähnten verdünnten und schwach her¬ 
vorgewölbten Membrantheilen, die allmälig bis zur völligen Auflösung vergatterten. 

Die Dauersporen stellen Kugeln oder Tetraeder, von etwa 25 — 30 mikr. 
Durchmesser, mit stark gerundeten Flächen dar. Nach Form und Struktur lassen 
sie eine gewisse Aehnlichkeit mit manchen Farnsporen erkennen. Ihre stark ver¬ 
dickte und cuticularisirte Membran weist nämlich meistens leistenartige Erhaben¬ 
heiten auf, die zahlreiche, in ziemlich grosser Regelmässigkeit auftretende poly¬ 
gonale Maschen bilden. Die Spore erscheint in Bezug auf die Struktur dorsi- 
ventral gebaut, denn während an der Bauchseite nur die Netzform zu finden ist, 
zeigt die Rückseite ausserdem drei im Scheitel zusammenstossende, den Kanten 
des Tetraeders entsprechende lange und dicke Rippen. Im Inhalt der reifen 
Spore sieht man meist einen grossen fettreichen Tropfen. Das Auskeimen der 
Spore, sowie das weitere Verhalten der Amöben sind noch nicht beobachtet worden. 

Aus dieser Beschreibung erhellt, dass der Pilz sich den vampyrellenartigen 
Monadinen anschliesst, wie sie von Cienkowski und Klein bereits charakteri- 
sirt wurden; doch unterscheidet er sich von den übrigen Repräsentanten dieser 
Gruppe nicht nur durch die Bildung von besonderen Austrittsöffnungen für die 
Amöben, sondern auch dadurch, dass die zur Dauersporenbildung bestimmte 
Amöbe nach ihrer Abrundung nicht erst eine Membran abscheidet, um sich dann 
innerhalb derselben zur Dauerspore zu contrahiren, und endlich in der eigenar¬ 
tigen Struktur. Diese unterscheidenden Merkmale nöthigen zu einer Abtrennung 
von der Gattung Vampyrelia und zur Creirung eines neuen Genus, für welches 
Zopf den Namen Haplococcus vorschlägt. 

Ueber das Verhalten des Pilzes im Schweinekörper ermittelte Zopf an den 
zwei ihm übersandten Fleischproben, dass die Sporangien und Dauersporen, von 
denen die ersteren häufiger als die letzteren waren, zwischen den Muskelfasern 
eingelagert erschienen, ontwedor einzeln oder zu wenigen bei einander liegend. 
Ausser dem Umstande, dass die Muskelfasern hierdurch theilwoise aus ihrer nor¬ 
malen Lage gebracht, zum Theil zusammengedrückt wurden, hat Zopf keine auf¬ 
fälligen Einflüsse bemerkt, die der Parasit etwa ausüben könnte; wie denn auch 
makroskopisch die Fleischstücke, trotzdem der Parasit reichlich vorhanden war, 
ein durchaus gesundes Ansehen zeigten. 

Nach dem, was Zopf in Erfahrung bringen konnte, scheinen auch die 
Schweine durch den Pilz in keiner Weise besonders belästigt zu werden, obwohl 
es hierfür noch sicherer Beobachtungen bedarf. 


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Die Ergebnisse der neueren Untersuchungen des Schweinefleisches. 161 

Trotzdem der Pilz, wie Zopf von dem Einsender der Fleischproben, einem 
späterhin ausgewanderten Fleischbescbauer, versichert worden ist, in ungefähr 
33 pCt. aller von demselben untersuchten Schweine vorgekommen ist, so ist der¬ 
selbe, trotz aller angewandten Aufmerksamkeit, erst in einem einzigen Schweine 
als Dauerspore, und zwar in zwei Exemplaren von Hertwig und Duncker auf 
dem Centralschlachthofe in Berlin ^ufgefunden worden; das bezügliche Dauer¬ 
präparat befindet sich in der dortigen Sammlung. 

Für die Praxis der Fleischschau resultirt also aus dem Vorhergehenden: 

1) dass Fleisch, welches einzig Concretionen unbestimmbarer Natur, 
oder solche, deren Grundlage Hieschersche Schläuche, Diatomeen 
oder Haplokokken bilden, in geringer Anzahl enthält, für den 
Consum frei zu geben ist; 

2) dass Fleisch, welches Trichinen und Finnen oder nachweislich von 
diesen herrährende Concretionen enthält, nur den gesetzlichen Bestim¬ 
mungen gemäss auszunutzen ist, und 

3) dass Fleisch, welches sehr viele Concretionen, einerlei welcher Ursache sie 
entstammen, sowie Actinomyceten enthält, nur zur Fettgewinnung Ver¬ 
wendung finden kann. 


Nachträglich sei noch erwähnt, dass das Fleisch actinomycetischer Schweine 
nach den Beobachtungen Duncker’s und Hertwig’s während der ganzen Ent¬ 
wicklungsperiode der Pilze ganz charakteristische und schon dem unbewaffneten 
Auge wahrnehmbare Veränderungen erkennen lässt. Nach 12—24 ständiger 
Aufbewahrung an der Luft erscheint Fleisch, in dem der Pilz noch nicht zur 
vollen Entwicklung gelangt ist, d. h. in dem noch keine Rasen nachweisbar sind, 
bleich, stark wässerig und mürbe; herrscht in demselben jedoch schon 
Rasenbildung vor, so ist es mehr röthlich-gelb, lachsfarbig. — Erst nach 
und nach, und zwar erst, wenn die Rasen in der Verkalkung begriffen sind, oder 
vielmehr nach Abschluss der Concretionenbildung, zeigt es wieder die normale 
Farbe und Consistenz. Dies und die Natur des verursachenden Para¬ 
siten wurden Veranlassung, dass auf dem Berliner Centralschlacht- 
liofe Schlachtschweine, in denen Duncker’sche Actinomyceten 1 ) 
nachweisbar sind, vom ungehinderten Consum ausgeschlossen und 
der dortigen Schmelzküche überwiesen werden, — eine Anordnung, 
welche auch bei der Berathung des demnächst zu erwartenden Nahrungsmittel- 
Gesetzes einige Beaohtung verdiente. 


l ) Es ist ausdrücklich hervorzuheben, dass die Actinomyceten des Schweine¬ 
fleisches weder mit Actinomyces hominis, noch mit A. bovis identisch sind, und 
daher vorläufig als eine besondere Species der Gattung Actinomyces aufgefasst 
werden müssen; sie würden also bis auf Weiteres als A. muscul. suis zu be¬ 
zeichnen sein. 


VierteljtlirsBchr. £ ger. Med. N. F. XLIV. 1. 

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4. 


(Jeher einige gesundheitliche und landwirtschaftliche 
Missstände der Bade-Insel Norderney. 

Von 

Professor Dr. Alexander Müller. 


Norderney erhebt sich mit Ausnahme isolirter Dänenzuge wenig über Hoch¬ 
wasserstand und besteht aus Dünensand, der ursprünglich ziemlich reich an 
kohlensaurem Kalk — in Folge eingemengter Muschelfragmente — ist, aber mit 
der Zeit seinen Kalkgehalt durch Auswaschung verliert. 

Das gemäss der maritimen Lage reichlich fallende Meteorwasser versinkt 
schnell in den Boden, ohne oberirdisch von der Insel abzufliessen, und wird von 
diesem, ausser wo die Oberfläche nahe auf den Grundwasserstand herabsteigt, 
recht gut vor Verdunstung geschützt. Wegen der Durchlässigkeit des Bodens 
werden erhebliche Schwankungen des Grundwasserstandes kaum Vorkommen, in¬ 
dem der Abfluss des Meteorwassers nach der See mit steigendem Gefälle be¬ 
schleunigt wird; doch ist die Durchlässigkeit des Bodens nicht so gross, dass 
ein praktisch bemerkbares Eindringen der täglichen Salzfluthwellen durch die 
äussere Dünenkette und künstliche Eindeichung hindurch anzunehmen ist — 
eine Frage, die übrigens in sehr einfacher Weise experimentell nach dem Chlor¬ 
gehalt des Grundwassers (ausserhalb des Bereichs der Verunreinigung duroh 
hauswirthschaftliche Abfälle) bestimmt entschieden werden kann. 

Torf- und Moorbildungen sind mir nicht bekannt; im Gegentheil zeigt sich 
die Oberfläche des unbebauten Landes sehr humusarm — demnach sollte das 
Grundwasser von Norderney ziemlich weich (d. i. frei von Erdsalzen) sein und 
nur sehr wenig organische Substanz enthalten. 

Chemische Analysen von Grundwasserproben sind mir nicht bekannt; aber 
die sinnfälligen Merkmale des Brunnenwassers, welches in dem Badedorf geför¬ 
dert und benutzt wird, machen durchaus nicht den Eindruck von reinem Wasser; 
es ist auffällig gelb gefärbt und nicht gerade weich zu nennen, und mit Berück¬ 
sichtigung der Art und Weise, wie auf Norderney die hauswirthschaftlichen Ab¬ 
fälle, die flüssigen und die festen, behandelt werden, liegt der Verdacht nahe, 
dass die Schmutzwässer nach allzu kurzem Kreislauf wieder als Brunnenwasser 
für hauswirthschaftliche Zwecke, namentlich zu Speisen und Getränken, wie zur 
Reinigung des Körpers und der Wäsche benutzt werden. 

Die Zeit ist nicht lange her, wo alles Abwasser aus den Haushaltungen auf 
Höfen und Strassen in den Untergrund anstandslos mit dem Meteorwasser ver¬ 
sank, welches ausserdem die festen Abfälle und Auswurfsstoffe auf den Höfen 
und Strassen auszulaugen die beste Gelegenheit hatte. 

In neuerer Zeit sind sogenannte wasserdichte Abtrittsgruben anbefohlen 
und eingeführt worden; der Gebrauch von Aborttonnen nimmt ebenfalls zu; eine 
geregelte Abfuhr entfernt die Fäcalien und die festen hauswirthschaftlichen Ab¬ 
fälle; zur Ableitung der flüssigen Abfälle existirt eine Art Canalisation. Während 


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Ueber einige Missstände der Bade-Insel Norderney. 


163 


aber letztere an ihrer Mündung an der Ostseite des Dorfes zu einer argen Ver¬ 
pestung von Luft und Grundwasser führt, versinkt ohne Zweifel noch sehr viel 
löslicher Schmutz in den Hofräumen und auf den unbefestigten Strassen, und auch 
der abgefahrene Unrath findet, bei aller Anerkennung der maschinellen und admi¬ 
nistrativen Art, wie die Abfuhr von den Häusern und am Abfuhrdepot gehand- 
habt wird, noch nicht die abschliessende Behandlung, welche die Reinheit von 
Luft, Boden und Grundwasser gewährleistet. Unter dem, was nicht abgefahren 
wird, macht sich besonders der Abfall von dem allgemein zur Heizung benutzten 
Brenntorf auf den Strassen lästig, indem er stark schmutzenden braunen Staub 
erzeugt und, mit dem eingemengten Pferdedünger vom Regen ausgelaugt, sicher¬ 
lich auch das Brunnenwasser verschlechtert, welches auf Norderney immer nur 
locales, durch Bodenfiltration mehr oder weniger verändertes Meteorwasser bleiben 
wird, denn dass vom Festlande herüber unter dem Watt hindurch eine Ader 
süssen Wassers sich herüberziehen sollte, wie das an der, geologisch ganz ver¬ 
schiedenen Westküste von Schleswig qachgewiesen worden, ist hier sehr unwahr¬ 
scheinlich. 

Bei alledem ist die jetzige Reinhaltung von Norderney recht kostspielig. 
Sollte es nicht möglich sein, manche Uebelstände zu beseitigen und gleichzeitig 
die Reinhaltung billiger zu machen? Es wird möglioh sein, wenn die Ab¬ 
fälle weniger nach dem Princip einseitiger Fortschaffung, als vielmehr zum 
Zweck vortheilhafterer Ausnutzung durch Gartenbau und Land¬ 
wirtschaft behandelt werden. 

Die Erzeugung pflanzlicher Producte ist zur Zeit auf Norderney noch er¬ 
staunlich gering — trotz des hohen Bedarfs während der Badesaison, den man 
vom Festlande aus decken muss. Als Gründe sind anzuführen: die Armuth des 
Bodens an Humus und mineralischem Pflanzennährstoff, sowie dessen Durchlässig¬ 
keit und Beweglichkeit (Dünen- und Flugsand); ferner das stürmische Klima 
und vor Allem das Naturell der seit Jahrhunderten für Fischfang und Schifffahrt 
gezüchteten Bevölkerung. 

Am leichtesten kann die Bodenbeschaffenheit corrigirt werden, wie sofort 
dargethan werden soll. Das Klima an sich ist gewiss nicht in dem Masse ver¬ 
schieden von demjenigen der bochcultivirten Canalinseln, wie der Culturzustand, 
und lässt sich auch einigermassen verbessern. Die grösste Schwierigkeit für 
Hebung der Cultur liegt, wie meist der Fall, in der Bevölkerung selbst. Wenn 
diese der Belehrung und Erziehung unzugänglich ist, trotz ihres zutageliegenden 
eigensten, unmittelbarsten Vortheils, und wenn sie vielleicht sogar einer land¬ 
wirtschaftlichen und gärtnerischen Einwanderung gegenüber sich ablehnend 
verhält, dann hat eben Norderney keine Zukunft als deutscher Badeplatz und der 
Fremdenstrom wird sich nach gastlicheren Gestaden umsehen! Zugleich verliert 
die Bade-Insel ihren hauptsächlichsten Werth für das deutsche Festland und 
damit dessen Unterstützung im Kampfe um’s Dasein! 

Zur Hebung der Bodenkultur ist zunächst eine verständige Auswahl und 
Aptirung von Wirthschaftsareal nöthig, sowohl hinsichtlich des Windschutzes 
wie der Bodenfeuchtigkeit. Die Kulturflächen sind innerhalb ausreichend be¬ 
festigter Dünenzüge zu suchen in einer Höhe über dem Grundwasser, welche 
während der Vegetationszeit nicht viel um V 4 — 1 Meter schwankt. Instinctiv 
scheint man von Alters her die kleinen Kulturflächen nach diesem Gesichtspunkt 


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164 


Dr. A. Mftller, 


ausgesucht und hergerichtet zu haben. In grösserem Maassstabe ist man auf 
dieser Basis mit den Feldanlagen bei der Meierei und dem Abfuhr-Depot vorge¬ 
gangen. Stellenweise muss durch Ausschachtung und Abtragung, stellenweise 
durch Auffüllung die natürliche Bodengostaltung corrigirt werden. An der Hand 
eines sachverständigen Kulturplanes und mit Benutzung von Feldeisenbahnen 
sind die Kosten der Aptirung sicherlich keine unrentable Geldanlage. 

Die chemischen Meliorationen bestehen in Zufuhr von Kalk, Kali, Phosphor¬ 
säure, löslichem Stickstoff und Humus. 

Kalk kann aDgewendet werden in Form von verwitterten oder gepulverten 
Muschelschalen oder gebranntem Kalk oder am besten von thonigem Kalkmergel, 
bezügl. kalkhaltigem Baggerschlick, welcher gleichzeitig etwas Kali. Phosphor¬ 
säure und Stickstoff mitbringt und durch seine Bindigkeit wesentlich die physi¬ 
kalische Beschaffenheit des Sandes verbessert. 

Unter den aufzubringenden Kalisalzen von Stassfurth oder Aschersleben 
werden aus naheliegenden Gründen die chlorfreien vor den chlorhaltigen, also 
schwefelsaure Kali-Magnesia vor Kainit, zu bevorzugen sein. 

Zur Gewinnung eines Grundstocks von Phosphorsäure ist in erster Linie die 
billige Thomasschlacke in feinster Mahlung zu empfehlen; für Deckung des ersten 
Stickstoffbedarfs eine kleine Gabe Ghilisalpeter, — sofern sie nicht durch die 
wirthschaftlichen Abfälle der ständigen und vorübergehenden Bevölkerung von 
Haus aus erspart werden kann. Mindestens haben diese Abfälle die Aufgabe, 
für die Zukunft mehr oder weniger ausschliesslich den nöthigen Dünger zu liefern. 
Jetzt kann auch Emdener Stadtdung dafür eintreten. 

Zu dem Ende ist für die Behandlung der Fäcalien vor allen anderen 
Methoden die Aufsammlung in Torfstreu und Torfmull anzurathen. 

In wie hohem Grade die genannten Torfpräparate geeignet sind, die mensch¬ 
lichen Fäcalien und ebenso die Pferdeexcremente aufzusaugen, geruchlos zu 
machen und für die Pflanzenkultur zu conserviren, dafür bürgen die reichen und 
mit Erfolg gekrönten Erfahrungen von Oldenburg. Hannover und Braunschweig.') 

Die Torfstreu Methode hält die Luft rein, schützt bei Anwendung von 
Kübeln oder halbwegs dichten Gruben das Grund- und Brunnenwasser vor Ver¬ 
pestung, liefert sämmtlichen Dungstoff an das Gartenland oder Feld und erhöht 
allmälig dessen Humusgehalt, die wichtigste Vorbedingung eines lohnenden 
Pflanzenbaues auf magerem Sandboden. 

Die besonders zu sammelnden Küchen- und Fischerei-Abfälle sind zunächst 
auf dem Abfuhr-Depot zur Fütterung von Schweinen, Enten und Hühnern zu be¬ 
nutzen, wie das in Kopenhagen schon lange mit Erfolg geschieht. (Vergl. den 
Enquete-Bericht des Deutschen Landwirthschaftsrathes über „die Verwerthung 
der städtischen Fäcalien“, S. 275. Hannover, bei Ph. Cohen, 1885.) 

Die Ueberreste der eben genannten Abfälle würden dann mit dem Kehricht, 
der Herdasche, welche grösstentheils aus Torfasche besteht, dem Brenntorfmull 
u. s. w. zu Compost zu verarbeiten sein, — unter zeitweiliger Anfeuchtung mit 

l ) Nach gefälliger Mittheilung des Abfuhr-Unternehmers Herrn Ennen ist die 
Torfstreu seit einiger Zeit in mehreren Gebäuden des Bade-Etablissements zur An¬ 
wendung gelangt. Leider erfuhr ich dies erst so spät, dass ich ausser Stande 
war, von dem Herrn Bade- Inspector mir die Erlaubniss zu einer Besichtigung zu 
erbitten. Der Verfasser. 


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Ueber einige Missstände der Bade-Insel Norderney. 


165 


Jauche, soweit solche nioht auch durch Torfstreu in Hof- und Strassenpissoirs 
und in den Pferde- und Kuhställen aufgesogen wird. 

Was mit ausreichendem und passendem Dung aus dem unfruchtbarsten 
Sand gemacht werden kann, ist jedem Gärtner bekannt; die fruchtbarsten Ge¬ 
müseländereien in der Nähe von Grossstädten sind meistens aus magerem Sand 
geschaffen worden, — und zeigt sich die Wirkung starker Düngung auch bereits 
auf Norderney beim Abfuhr-Depot. 

Auf Norderney wird man sich, wenigstens anfänglich, mit der Massen- 
production weniger empfindlicher Pflanzen, vorwaltend für Fütterungszwecke be¬ 
gnügen, also Grasflächen mit Reygras, Knaulgras, Timotheumgras u. s. w. an- 
legen, andere Stücke mit Lupinen und Spargel, andere mit Runkelrüben und 
versuchsweise mit Comfrey (Symphytum asperrimum) bestellen. Unter den 
Getreidearten wird man diejenigen anbauen, deren Samen so fest sitzen, dass 
sie nicht vorzeitig durch heftige Winde ausgeschüttelt werden. Daran wird sich 
eine allmälig intensiver werdende Gemüsegärtnerei anschliessen in dem Masse, 
wie durch Anlegung von lebendigen Hecken Schutz gegen die Winde ge¬ 
wonnen wird. 

Dass man mit Anpflanzung von Büschen und Bäumen bisher wenig Glück 
gehabt, beruht wol weniger auf den starken Winden, als auf Mangel an Nähr¬ 
stoffen für dieselben und auf Vernachlässigung ihres Wasserbedürfnisses. Schafft 
man sich in diesen beiden Beziehungen günstige Centren, so wird man allmälig 
von Buschwerk (Bocksdorn oder Lycium europaeum, Rubusarten) zu ausge¬ 
dehnteren Baumpflanzungen von Weiden, Erlen, Espen, Linden, Ulmen u. s. w. 
kommen. Bei Obstbäumen sind alle hochstämmigen Sorten von Haus aus als 
unpassend zu bezeichnen. 

Mit der Verwerthnng von Futtermitteln, auch bei Massenproduction, wird 
man nie Schwierigkeit haben; der jetzige Mangel daran ist wol die Hauptursache 
der hohen Milchpreise. 

Wir haben noch die Behandlung der Hauswässer besonders zu besprechen. 
Ein Theil derselben wird, wie oben erwähnt, durch Strassencanäle an die Ost¬ 
seite des Ortes abgeleitet; aber dass es sich zur Zeit nur um einen Anfang der 
Abwasserbeseitigung handelt, darüber dürfte Einstimmigkeit herrschen. Am 
besten wäre es, wenn jede Haushaltung ihr Torffilter hätte, welches nur klares 
Wasser abfliessen lässt und dessen unrathgesättigter Inhalt von Zeit zu Zeit mit 
dem Fäcaltorf abgefahren wird. Andernfalls sind bei der schwachen Spülung 
die Strassenrohre der Verschlämmung ausgesetzt. 

Die Spüljauche in ihrer jetzigen Beschaffenheit, wie sie die Mündung des 
Canals verlässt, ist ein öffentliches Aergerniss und eine sanitäre Gefahr zugleich. 
Zur Beseitigung der Uebelstände würde ich Vorschlägen, nahe der Mündung 
2 Bassins anzulegen, dieselben mit grober Torfstreu zu füllen und die Jauche 
abwechselnd durch das eine und das andere Bassin zu leiten bis zur Sättigung 
der Torfstreu, worauf letztere als Dünger aufs Feld gefahren wird. Es könnte 
allenfalls auch eine Klärung mit Kalkmilch eingefübrt werden, doch ziehe ich 
unter gegebenen Verhältnissen die Torffiltration vor. 

' Das Filtrat ist mit etwas Kalk versetzt zur Bewässerung von Gartenbeeten 
oder von Grasflächen oder von Weidenplantagen zu benutzen. 

Bei derartiger Behandlung der Abwässer würde sogar die Anlage einzelner 


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166 


Dr. A. Maller. 


Wasserclosets principiell statthaft erscheinen, wenn man glaubt, closetliebenden 
Badegästen hierin entgegenkommen za müssen. l ) 

Da die Loft auf Norderney fast ohne Ausnahme in lebhafter Bewegung ist, 
erscheint es zweckmässig, ihre lebendige Kraft durch automatische Windmotoren 
zum Wasserheben zu verwenden, theils um letzterwähntes Jauchenfiltrat besser 
für Pflanzenbau auszunutzen, theils um unter andern Kulturen etwa zu hohen 
Grandwasserstand zu senken und anderswo einem Wassermangel abzuhelfen, 
wodurch zugleich eine dem Pflanzenwuchs höchst forderliche Bewegung und 
Lüftung des Grundwassers bewirkt wird, wie in den alten berühmten holländi¬ 
schen Poldern. 

Die Anlage von Süsswasserteichen, wie ein solcher nahe bei der Canal¬ 
mündung an der Südostseite des Ortes sich befindet, an verschiedenen Punkten 
der Insel wäre sehr wünschenswerte Mit der an den Ufern sich entwickelnden 
Baumvegetation würde der landschaftliche Reiz der Insel sehr erhöht werden; 
das Teichwasser ist für die Wäsche besser als Brunnenwasser, und liefert im 
Winter den nöthigen Eisvorrath für den Sommer in die Haus- und Gast¬ 
wirtschaften und die Molkerei. 

Bei Feuersgefahr ist, ausser bei kleinen Stubenbränden, in der Regel das 
salzige Seewasser, weil wirksamer, vorzuziehen und kaum schwerer zu be¬ 
schaffen als Teichwasser. — 

Was hier über die Zustände auf Norderney gesagt ist, scheint nach Allem, 
was ich zu hören Gelegenheit hatte, ebenfalls für die Bade-Insel Borkum, bis 
zu einem gewissen Grade vielleicht auch für andere Nordsee-Inseln zutreffend 
und verwertbar zu sein. 

Berlin, den 24. September 1885. 


*) Die Gesammtreinhaltung auf Schwemmcanalisation mit Wasserclosets zu 
basiren, möchte ich nicht raten. Zunächst würde dieser Plan ein grosses Wasser¬ 
werk mit Tiefbrunnen voraussetzen, und bei der Schmalheit der Insel würde eine 
merkliche Senkung des Wasserspiegels um die Tiefbrunnen herum vielleicht ein 
Eindringen von salzigem Seewasser nach sich ziehen. Die Beseitigung der täglich 
erzeugten Spüljauche, welche bei Regenwetter doch mehr als 1000 cbm betragen 
dürfte, könnte nach den traurigen Erfahrungen der englischen Seebäder nicht durch 
directe Ableitung in das Meer bewirkt werden, sondern müsste durch Berieselung 
erfolgen; die Rieselfelder aber müssten, um einen Rückfluss verdächtigen Grund¬ 
wassers in die Brunnen zu verhüten, jenseits des Leuchtthurms auf der Ostseite 
der Insel angelegt werden, wo es allerdings an Platz nicht fehlt. Hierzu kommt 
als sehr erschwerendes Moment, dass die an sich doch recht kostspielige Be- und 
Entwässerung der Schwemmcanalisation auf der Bade-Insel Norderney nur etwa den 
dritten Theil des Jahres in eigentlichem Betrieb gehalten, der Aufwand einer solchen 
Anlage vergleichsweise zu einem ständig gleichbevölkerten Orte also ziemlich verdrei¬ 
facht werden würde. Mit der Ausserbetriebsetzung oder doch starken Einschränkung 
des Betriebes wäre gleichzeitig eine sanitäre Gefahr verbunden: das Trockenlaufen 
langer Canalstrecken, die dadurch bedingte Gährung der Schlammrückstände und 
das Eindringen von Canalgasen durch die gleichfalls austrocknenden Closetverschlüsse 
in die Häuser. Wenn schon schwemmcanalisirt werden soll, so wäre wenigstens ein 
Separatsystem mit gesonderter Ableitung des Regenwassers und demgemäss engen 
Schmutzwassercanälen, z. B. das Shone System, zu wählen. Der Verf. 


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III Verschiedene Mittheilungen. 


Ein Beitrag mr Aetialagie 4er Tulntinnkeit Von Sanitätsrath Dr. Ebertz 
in Weilborg. 

Das Material für meine Untersuchungen, deren Resultate ich in der kurzen 
Skizze mitzutheilen mir gestatte, verdanke ioh der Direction der communalständi- 
schen Taubstummen-Anstalt zu Gamberg, welche mir ihre Aufzeichnung bereit¬ 
willigst überlassen hatte. 

Meine Untersuchungen estreckten sich auf die in den letzten 25 Jahren in 
die Lehranstalt aufgenommenen 310 Zöglinge. Von der ursprünglichen Zahl 
319 musste ich 6 Zöglinge ausscheiden, bei welchen in den Listen alle Angaben 
fehlten, und ausser diesen noch 3 Fälle unberücksichtigt lassen, bei welchen 
sofort nach der Aufnahme angeborener Idiotismus constatirt worden war. 

Statistische Zahlen werde ich nicht mittheilen können, weil erstens nicht 
alle in dem bildungsfähigen Alter stehenden Taubstummen des Regierungsbezirks 
Wiesbaden der communalständischen Lehranstalt zur Ausbildung überwiesen wur¬ 
den, und weil ferner auch noch Zöglinge aus benachbarten Bezirken und Ländern 
in dem genannten Zeitraum in die Anstalt aufgenommen worden waren. Ich 
werde indess Gelegenheit finden, die von mir gewonnenen Zahlen mit anderen 
statistischen Angaben zu vergleichen. 

Von den 310 Zöglingen gehörten 278 dem Reg.-Bez. Wiesbaden, 21 dem 
Grosshezogthum Luxemburg, 4 dem Reg.-Bez. Cassel an, die übrigen vertheilen 
sich auf benachbarte Bezirke. 

Confession. Von 310 Taubstummen waren 171 evangelisch, 132 ka¬ 
tholisch, 7 Israeliten. 

Geschlecht. Von 310 Taubstummen waren 192 männlich, 118 weib¬ 
lich. Es kommen demnaoh auf 100 annähernd 62 männliche und 38 weibliche, 
oder 3:2. Diese Verhältnisszahl kann einen statistischen Werth aus den schon 
angegebenen Gründen nicht beanspruchen. Sie ist indess, wenn auch nicht con- 
gruent, doch annähernd mit anderen statistischen Angaben übereinstimmend. 
Bei der Volkszählung im früheren Herzogthum Nassau kamen auf 100 männliche 
Taubstumme 75 weibliche, 4:3. Ganz dasselbe Verhältniss gab die im früheren 
Königreich Hannover 1856 vorgenommene Zählung. Im Königreich Bayern 
kamen 1858 auf 6 männliche 5 weibliche Taubstumme. In Preussen war das 
Verhältniss 1852 13:10; in Belgien 1835 6:5; in Grossbritannien 1851 5:4; 
in Dänemark 1855 7:5. Das gleiche Verhältniss bestand 1850 in Schweden. 

Lebensstellung der Eltern. Bei 16 Zöglingen war der Beruf nicht 
angegeben. Von den übrigen 294 stammten — entsprechend dem Ueberwiegen 
der ländlichen Bevölkerung in dem Regierungsbezirk — 128, also beinahe die 
Hälfte von Landleuten, 34 von Tagelöhnern, 19 von Bergarbeitern, 16 von Kauf¬ 
leuten und Kleinkrämern, 10 von Maurern und je 7 von Schneidern und Schuh- 


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168 


Verschiedene Mittheilungen. 


machern ab, die übrigen Fälle vertheilen sich gleichmässig auf alle Berufsarten 
der Eltern. Ein irgendwie bemerkbarer Einfluss einzelner Stände und Gewerbe 
der Eltern auf die Entstehung der Taubstummheit ihrer Kinder lässt sich aus 
diesen Zahlen nicht heileiten. Aber selbst wenn einzelne Gewerbe mit stärkeren 
Zahlen vertreten wären, so würde man mit Ausscheidung der Zöglinge aus den 
benachbarten Bezirken doch erst dann zur Aufstellung von relativen Zahlen ge¬ 
langen können, wenn man die Gesammtzahl der den einzelnen Berufs- und 
Erwerbsarten angehörigen Einwohner des Regierungsbezirks zu Grunde legen 
könnte. Wenn man die Erfahrung gemacht haben will, dass unter den Kindern 
von Müllern verhältnissmässig mehr Taubstumme Vorkommen, so ist darauf hin¬ 
zuweisen, dass von diesen 310 Kindern nur 1 aus einer Mühle stammte. 

Aus unserer Zusammenstellung geht indess doch hervor, dass die meisten 
der taubstummen Kinder den ärmeren Familien des Bezirks angehörten. Wenn 
man auch die materielle Noth der Eltern nicht direkt als ätiologischen Faktor 
heranziehen kann, so hinderte doch die Armuth in den vielen Fällen von früh 
oder spät erworbener Taubstummheit die Eltern, die Kosten für eine Special¬ 
behandlung ihrer unglücklichen Kinder aufzubringen, ganz abgesehen davon, 
dass auch dieser Bevölkerungsklasse meist das Verständniss für den Werth einer 
frühzeitigen rationellen Hülfe abgeht. 

Eintheilung. Die Bezeichnung der Krankheitsursachen in den Anstalts- 
Tabellen basirt theilweise auf ärztlichen Zeugnissen und Krankengeschichten, 
und theilweise nur auf den mündlichen Angaben der Eltern. Leider wird damit 
der exact wissenschaftliche Werth der folgenden Darstellungen hinfällig. Indess 
werden sie doch im Allgemeinen einen annähernd richtigen Einblick in die Aetio- 
logie der Taubstummheit gewähren. Statistische Zählungen werden doch auch 
auf die Angaben der Laien basirt, und gerade die ersten Erhebungen müssen 
meistens Organen anvertraut werden, welchen Liebe und Verständniss zur Sache 
abgeht. Dagegen beanspruchen die mir vorgelegenen Einträge in die Anstalts- 
Tabellen insofern eine grössere Zuverlässigkeit, als sie von sachkundigen, mit 
dem Wesen der Taubstummheit vertrauten Fachmännern vorgenommen wurden. 

Pathologisch-anatomische Befunde werde ich nicht mittheilen können, da 
bei den 8 während der Anstaltszeit letal geendigten Fällen Sectionen nicht stalt- 
gefunden hatten. 

Um die untersuchten Fälle übersichtlich zu ordnen, folge ich der Einthei¬ 
lung von v. Tröltsch. Ich unterscheide hiernach 3 Entstehungsarten: eine 
angeborene Taubstummheit, in welcher das Kind nie hörte und vor dem Taub- 
stummen-Unterricht nie sprach; eine früh erworbene Taubstummheit, die sich 
bei einem nach der Geburt hörenden, aber seinem Alter entsprechend noch nicht 
redenden Kinde entwickelte; und eine spät erworbene Taubstummheit bei 
Kindern, die hörend geboren waren, bereits kürzere oder längere Zeit sprachen 
und dann erst mit dem Gehör allmälig auch die Sprache wieder verloren hatten. 

Die Eltern und besonders die Mütter leugnen, von einem falschen Scham¬ 
gefühl geleitet, vielfach das Angeborensein der Taubstummheit ihrer Kinder und 
schieben die Ursache der vermeintlich erworbenen Taubstummheit einer in der 
frühesten Jugend aufgetretenen, oft sehr leichten und indifferenten Erkrankung 
zu. Zu berücksichtigen ist ferner, dass bei der angeblichen Beobachtung, nach 
welcher die Kinder in dem erßten Lebensjahre gehört haben sollen, vielfache, 


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Verschiedene Mittheilungen. 


169 


und wenn sie von einer Matter ausgehen, auch entschuldbare Täuschungen unter¬ 
laufen. Ich habe daher in einzelnen Fällen, in welchen die Krankheit in den 
Tabellen als im ersten Lebensjahre erworben aufgeführt wurde, wenn als Ursache 
irgend eine indifferente Krankheit angegeben war, und wenn auf der anderen 
Seite andere anamnestische Momente, wie Verwandtschaft der Eltern, Heredität etc. 
Vorlagen, kein Bedenken getragen, solche Fälle unter die angeborene Taubstumm¬ 
heit zu registriren. Aber auch die Grenze zwischen früh und spät erworben war 
in den einzelnen Fällen nicht immer mit Sicherheit zu ziehen, da auch bei ganz 
normalen Kindern der Zeitpunkt des Eintritts der Sprechfähigkeit ein ver¬ 
schiedener ist. Im Allgemeinen wird, wie ich es gethan habe, diese Grenze bei 
dem Abschluss des zweiten Lebensjahres zn ziehen sein. 

Von diesen Gesichtspunkten ausgehend habe ich die Eintbeilung vorge¬ 
nommen. Die Taubstummheit der 310 Schüler war bei 185, also bei 60 pCt. 
angeboren und bei 125 oder bei 40 pCt. erworben, and zwar bei 73 früh, 
bei 52 spät erworben. 

Diese Zahlen sind ziemlich congruent mit anderen statistischen Erhebungen. 
In dem früheren Herzogthum Nassau ') waren bei der Zählung am 10. März 1863 
unter 381 Taubstummen 228 (59,85 pCt.) taubgeboren und 153 (40,15 pCt.) 
durch spätere Krankheiten ertaubt. Ein ähnliches Verhältniss ergaben nach 
Dr. Schmalz 1 ) die Zählungen aus 13 verschiedenen Staaten, in denen unter 
5425Taubstummen 3665 (67,56pCt.) mit angeborener, und 1760 (32,44 pCt.) 
mit erworbener Taubstummheit gezählt wurden. Nach Dr. C. Majer 2 ) betrug 
nach den Zählungen in den Jahren 1840 und 1858 die Zahl der angeboren 
Taubstummen im Königreich Bayern 80 pCt., die der Ertaubten nur 20 pCt. 

Auch neuere Zählungen kommen zu demselben Resultat. Dr. H. Bircher 3 ) 
fand durch seine Untersuchungen in 8 Taubstummen-Anstalten der Schweiz unter 
313 Zöglingen 64,3 pCt. mit angeborener und 35,7 pCt. mit erworbener Taub¬ 
stummheit. Da jedoch die Taubgeborenen im Allgemeinen weniger bildungsfähig 
sind und daher bei der Aufnahme in Lehranstalten numerisch weniger berück¬ 
sichtigt werden als die Ertaubten, so schliesst Bircher, dass in den Anstalten 
der Schweiz die gefundene Procentzahl der angeboren Taubstummen sich mit 
dem wirklichen Vorkommen nicht deckt. Er nimmt vielmehr an, dass in der 
Schweiz 80 pCt. der angeborenen und 20 pCt. der erworbenen Taubstummheit 
angehören. Dieses Zahlenverhältniss stimmt genau mit den vorher angeführten 
älteren Zahlen aus Bayern überein. Wenn umgekehrt in der Taubstummen- 
Anstalt in Berlin von 185 Schülern 25 pCt. mit angeborener und 75 pCt. mit 
erworbener Taubstummheit gezählt wurden, so ist man auf Grund der neueren 
Zahlen von Hartmann 4 ) zu dem Schlüsse berechtigt, dass die angeborene Taub¬ 
stummheit (nach Dr. H. Bircher die endemische) in gebirgigen Gegenden 
häufiger auftritt als im Flachland. 


') Meckel, Statistik der Taubstummen im ilerzogthum Nassau. 

*) Dr C. Majer, Studien zur Statistik der Taubstummen im Königreich Bayern. 
Henke’s Zeitschrift. 

s ) Dr. H. Bircher, Der endemische Kropf und seine Beziehungen zur Taub¬ 
stummheit. Basel 1883. 

4 ) A. Hartmann, Taubstummheit. Stuttgart 1880. 


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170 


Verschiedene Mittheilungen. 


In der Grossherzogi. hessischen Tanbstummen-Anstalt in Fr. sollen nach 
der mir gewordenen Mittheilung des Anstalts-Directors in den letzten b'/ 2 Jahren 
von 150 aufgenommenen Zöglingen nur 2 Fälle von angeborener Taubstummheit 
vorgekommen sein. Diese mit meinen Erhebungen aus den Tabellen der Anstalt 
zu C. im direkten Widerspruch stehende Angabe machte mich bezüglich der 
Richtigkeit meiner Resultate nicht wankend. Denn den oben mitgetheilten 
älteren Zahlen von Meckel, Dr. Schmalz, Dr. Majer, und den neueren von 
Dr. Bircher und Hartmann gegenüber kann dieser Angabe eine Bedeutung 
nicht zugeschrieben werden, zumal da auch Dr. Mathias bei der 1858 gerade 
im Grossherzogthum Hessen vorgenommenen Zählung 75,63 pCt. mit angeborener 
und 24,37 pCt. mit erworbener Taubstummheit constatiren konnte. 


1. Angeborene Taubstummheit. 

Verwandtschaft der Eltern. Von den 185 Zöglingen mit angeborener 
Taubstummheit stammten 37 von blutsverwandten Eltern ab, während die Eltern 
der übrigen 148 Zöglinge in keinem Verwandtschafts-Verhältniss zu einander 
standen. Mehrere Zöglinge sind Kinder derselben Familie. Die Zahl der bluts¬ 
verwandten Elternpaare reducirt sich dadurch auf 28. Von diesen sind 9 Paare 
Geschwisterkinder, 5 Geschwisterenkel und 14 sind weitläufiger mit einander 
verwandt. Bei einzelnen dieser letzteren ist der Verwandtschaftsgrad noch näher 
angegeben. Da dies indess nicht nach feststehenden Normen geschehen zu sein 
scheint, so ist es sicherer, nur die drei Unterscheidungen bezüglich der Verwandt¬ 
schaft zu treffen. Aus diesen 28 Ehen blutsverwandter Eltern sind auch neben 
taubstummen noch vollsinnige Kinder hervorgegangen. Die folgende Zusammen¬ 
stellung ergiebt einen übersichtlichen Einblick in diese Verhältnisse. 


Verwand tschafts-Verhältuiss 
der Eltern. 

Zahl der 
taubstummen 
Kinder. 

Zahl der 
vollsinnigen 
Kinder. 

Geschwisterkinder .... 

4*) 

keine. 

weitläufig. 

1 

Angabe fehlt. 

weitläufig. 

1 

do. 

weitläufig. 

1 

do. 

Geschwisterkinder .... 

4 

keine. 

weitläufig. 

1 

Angabe fehlt. 

Geschwisterkinder .... 

1 

1 

weitläufig. 

1 

1 

weitläufig. 

1 

1 

weitläufig. 

1 

Angabe fehlt. 

Geschwisterkinder .... 

4 

1 

Gesch wisterenkei .... 

1 

3 

Geschwisterenkel .... 

2 

keine. 

Geschwisterkinder .... 

1 

do. 

Geschwisterenkel .... 

1 

1 


*) 2 davon sind Zwillinge. 


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Verschiedene Mitteilungen. 


171 


V erwandtschafts-V erhältn iss 
der Eltern. 

Zahl der 

taubstummen 

Kinder. 

Zahl der 
vollsinnigen 
Kinder. 

weitläufig. 

2 

2 

weitläufig. 

1 

3 

Geschwisterenkel .... 

1 

4 

Geschwisterkinder .... 

1 

1 

weitläufig. 

2 

keine. 

weitläufig. 

2 

3 

Geschwisterkinder - . . . 

1 

Angabe fehlt. 

Geschwisterkinder .... 

1 

keine. 

Geschwisterenkel .... 

1 

do. 

weitläufig. 

1 

2 

weitläufig. 

1 

2 

weitläufig. 

1 

5 

Geschwisterkinder .... 

2 

keine. 

Das Verhältniss liegt hiernach für die Eltern, die Geschwisterkinde 


ungünstig, denn 5 Elternpaare haben nur taubstumme Kinder, und 3 haben 
neben taubstummen nur 1 vollsinniges Kind. Bei Eltern mit weitläufigerem 
Verwandtschaftsgrad hommen dagegen auf je 1 taubstummes Kind je 3, 4 und 
5 vollsinnige Kinder. 

Heredität, a) Taubstummheit. Von den 185 Zöglingen hatten 25 
taubstumme Ascendenten, und zwar 1 Mutter, 1 Qrossvater, 9 Elterngeschwister, 
die übrigen waren entferntere Blutsverwandte. Ausserdem kam Taubstummheit 
in der Seitenverwandtschaft bei 6 Geschwisterkindern vor. 

Von diesen erblich mit Taubstummheit belasteten Kindern waren 13 die 
einzigen Kinder, in 3 Familien waren je 2, und in je 2 Familien je 3 taub¬ 
stumme Kinder vorhanden. 

Es ist bemerkenswerth, dass diejenigen Fälle, in welchen 3 taubstumme 
Kinder in derselben Familie vorkamen, sowohl bezüglich der Zahl der taub¬ 
stummen Ascendenten, als auch bezüglich des näheren Verwandtschaftsgrades 
der letzteren am meisten belastet waren. Die näheren Angaben mögen dies 
erläutern. In dem einen Falle war die Mutter und 6 Muttergeschwister taub¬ 
stumm. In dem zweiten Falle lagen die Verhältnisse nicht günstiger, denn die 
Sohwester des Vaters war taubstumm und hatte eine taubstumme Tochter ge¬ 
boren, eine Muttersschwester war taubstumm und auch unter den entfernteren 
Verwandten befand sich noch ein taubstummes Glied. Umgekehrt waren in den 
Familien mit nur 1 taubstummen Kinde meist auch weniger taubstumme entfernt 
verwandte Ascendenten vorhanden. Auch war die Zahl der vollsinnig geborenen 
Geschwister in diesen Familien durchschnittlich eine höhere. Auch hierfür zwei 
Beispiele. In einer Familie mit 1 taubstummen und 3 vollsinnigen Kindern 
waren die 3 Kinder des Grossonkels taubstumm; und in einer anderen Familie 
mit ebenfalls 1 taubstummen und 3 vollsinnigen Kindern waren 2 entferntere 
Ascendenten der Mutter taubstumm. 


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172 


Verschiedene Mittheilungen. 


b) Gehörleiden. Bei 12 Zöglingen waren unter Eltern, Grosseltern und 
Geschwistern mehr oder weniger Gehörleiden constatirt worden. Die letzteren 
sind nicht näher zu präcisiren, da sich durchgängig nur die Bezeichnung „sehr 
harthörig“ oder „schwerhörig“ in den Tabellen vorfindet. In einem Falle grenzte 
die Harthörigkeit nahe an Taubstummheit, indem der sehr harthörige Vater auch 
als Knabe nicht geläufig sprechen konnte. 

Andere Ursachen. Von tuberkulösen Eltern stammten 7 Zöglinge mit 
angeborener Taubstummheit ab; in 4 Fällen war die Mutter, in 3 der Vater an 
Tuberkulose erkrankt und gestorben. Auch war oin Zögling während der Anstalts¬ 
zeit derselben Krankheit erlegen. Mit der einfachen Wiedergabe dieses Vorkom¬ 
mens aus den Anstaltslisten lasse ich die Frage nach dem causalen Zusammen¬ 
hang beider Krankheitsprozesse unerörtert. 

Geistesstörung unter Ascendenten und Geschwistern wurde in 3 Fällen 
und angeborener Blödsinn in 2 Fällen beobachtet. In einer Familie mit 1 taub¬ 
stummen und 2 vollsinnigen Kindern war der Vater geistig gestört, Mutter und 
Geschwister schwächlich und körperlich unentwickelt. Ein taubstummer Zögling, 
der eine schwachsinnige Schwester hatte, stammte von einem Vater, der Potator 
war. Ein anderer Zögling, der noch einen taubstummen, der Anstalt nicht an- 
gehörigen Bruder hatte, stammte ebenfalls von einem Vater, der Potator und 
moralisch verkommen war. Uebrigens darf nicht übersehen werden, dass diese 
Taubstummen in erster Linie dadurch belastet waren, als sie einen taubstummen 
Vatersbruder hatten. 

Bezüglich der Körperconstitution, überstandener Krankheiten, 
bestehender Krankheitsanlagen und vorhandener körperlicher Bil¬ 
dungsfehler bei diesen Zöglingen mit angeborener Taubstummheit ist Fol¬ 
gendes zu erwähnen. 

Sechs Kinder zeigten schon von der Geburt an eine grosse Körperschwäche 
und waren auch geistig sehr gering beanlagt und wenig bildungsfähig. Ein 
Zögling hatte erst im 5ten. ein anderer erst im 6ten Jahre gehen gelernt, ein 
dritter zeigte noch viel später Motilitätsstörungen in der Form von schwerfälligem 
und schwankendem Gang. Ein Zögling mit Atrophie und rachitischer Bückgrats- 
verkrümmung musste als bildungsunfähig entlassen werden. Dieser Knabe hatte 
4 vollsinnige Geschwister, darunter aber eine Schwester, die in ihrer körperlichen 
Entwicklung sehr zurückgeblieben war und noch in ihrem 17ten Lebensjahre 
ganz den kindlichen Habitus hatte. 

Nur 2 Zöglinge waren in erheblichem Grade skrophulös. Dieses geringe 
Vorkommen der Skrophulose widerspricht der früheren Annahme, dass diese 
Dyscrasie bei Taubstummen besonders häufig sei. Auch Dr. Bircher 1 ) fand 
durch vergleichende Untersuchungen der Zöglinge in 8 Taubstummen-Anstalten 
der Schweiz mit den vollsinnigen Kindern des Bezirks Aarau, dass Skrophulose 
nichts mit der Taubstummheit zu thun hat und Taubstumme nicht mehr befällt 
als andere Menschen. Zu demselben Resultate gelangte Falk durch seine Unter¬ 
suchungen in der Taubstummen-Anstalt in Berlin. 

Eine Schülerin litt an Epilepsie und war geistig äusserst gering beanlagt. 


') a. a. 0. 


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Verschiedene Mittheilungen. 


173 


Ein Schüler hatte im Alter von 1 '/ 2 Jahren bei angeborener Taubstummheit 
noch heftige eklamptische Anfalle überstanden. 

Eine Schülerin, deren Mutter an Tuberkulose gestorben war, zeigte als 
Residuum von Hydrocephalus congenitus einen breiten Schädel. 

Ein Knabe mit angeborener Taubstummheit, welcher 5 ältere vollsinnige 
Geschwister hatte, war im 2ten Lebensjahre an Diphtherie erkrankt. Bei seiner 
Aufnahme in die Taubstummen-Anstalt bestand erheblicher Strabismus, wodurch 
seine Absehfahigkeit und damit seine Ausbildung überhaupt erschwert wurde. 
Nach kurzer Zeit erfolgte Anaesthesia retinae des einen und später des anderen 
Auges. Der unglückliche taubstumme und jetzt auch vollständig erblindete Knabe 
musste zur Erlernung der Blindenschrift einer Blinden-Anstalt übergeben werden. 

Zwei Zöglinge mit angeborener Taubstummheit litten in den ersten Jahren 
an stinkendem Ohrenfluss. 

Sechs Zöglinge hatten angeborene Bildungsfehler. Die Annahme liegt nahe, 
dass diese zum Theil wenigstens mit der angeborenen Taubstummheit in geneti¬ 
schem Zusammenhänge stehen. Sie wurden in den Tabellen schon aus dem 
Grunde aufgeführt, weil sie die Ausbildung der Schüler in der Sprechfäbigkeit 
erschwerten. 

Bei einem Zögling bestand starke Kropfbildung, und eine voluminöse Zunge 
verhinderte die reine Aussprache der Zischlaute. Bei einem Anderen fehlten im 
Oberkiefer sämmtliche Schneide- und Eckzähne. Ein Zögling konnte wegen Ver¬ 
knorpelung der Uvula und des weichen Gaumens nicht dazu gebracht werden, 
ein reines i auszusprechen. Bei einem Zögling lag mangelhafte Zabnbildung vor, 
indem nur Zahnstummeln vorhanden waren; das Aussprechen der Zischlaute war 
dadurch sehr erschwert. Bei einem anderen Knaben waren die Flexoren beider 
Vorderarme gelähmt. Derselbe war ausserdem geistig sehr unentwickelt. Unter 
seinen 3 vollsinnigen Geschwistern, die früh gestorben waren, befand sich ein 
Knabe mit ähnlicher partieller Muskelläbmung. Bei einem Mädchen verhinderte 
die schiefe Mundbildung die Deutlichkeit der Spraohe. Bei einem anderen 
Mädchen bestand fehlerhafte Bildung des weichen Gaumens. 

Vermeintliche Ursachen. In einem Falle war das sog. Versehen der 
Schwangeren, und in einem anderen Falle der schwierige, durch die Kunsthülfe 
beendigte Geburtsact von den Müttern als die Ursache der angeborenen Taub¬ 
stummheit beschuldigt worden. In dem ersten Falle behauptete die Mutter 
häufigen Umgang mit einem taubstummen Knaben gehabt und hierdurch die 
Krankheit auf ihre Leibesfrucht übertragen zu haben. Ich führe diese thatsäch- 
liche Mittheilung aus den Anstaltslabellen hier einfach an, ohne damit die Mög¬ 
lichkeit oder gar die Wahrscheinlichkeit eines solchen Vorganges begründen zu 
wollen. Dasselbe gilt von dem anderen Falle, in welchem die Mutter die schwere 
Zangenentbindung als ursächliches Moment der angeborenen Taubstummheit be¬ 
schuldigt hatte. 

Bringen wir jetzt von der Gesammtzahl der 185 Fälle von angeborener 
Taubstummheit alle bereits besprochenen Fälle in Abzug, in welchen ein direktes 
ätiologisches Moment vorlag, oder bei denen constitutioneile Leiden, Krankbeits- 
anlagen und Fehler der ersten Bildung mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit 
auf eine gemeinsame Entstehung mit Taubstummheit zurückzuführen waren, so 
bleiben doch immer noch einige 70 Fälle übrig, in welchen nicht das 


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Verschiedene Mittheilungen. 


geringste ätiologische Moment aufzufinden war. Die Zöglinge stammten 
von gesunden, nicht blutsverwandten Eltern ab, waren erblich nicht belastet, 
körperlich kräftig und von guter Gesundheit, ohne sonstige Gebrechen und auch 
zum Theil sehr gut beanlagt. Wir stehen hier vor einer Frage, deren Lösung 
der weiteren Forschung Vorbehalten bleibt. 

Es fehlt noch zu sehr an wissenschaftlichem Material der congenitalen 
Bildungsfehler des Gehörorgans. Auch müssen sich unsere Kenntnisse über die 
Lokalisation im Gehirn und besonders über die cerebralen Gehörs- und Sprach- 
centren noch erweitern. Und wenn ferner zahlreichere und zuverlässige Sections- 
befunde nach beiden Richtungen hin vorliegen, dann werden wir erst zu einiger- 
massen sicheren Aufschlüssen über diese Frage gelangen können. 

2. Erworbene Taubstummheit. 

Wir haben vorher kennen gelernt, dass die Taubstummheit bei 125 von 
310 Zöglingen erworben war. 73 Zöglinge waren früh und 52 spät ertaubt 
und hatten mit dem Gehör allmälig auch die Sprache verloren. 

Untersuchen wir nun, welche Krankheiten die Anstaltstabellen als der 
Ertaubung zu Grunde liegend anführen, so erhalten wir folgende Resultate, 
welche ich der besseren Uebersicht wegen in tabellarischer Form mittheile. 



G 

3 e 

r t a u b 

t e 

n 







früh 




spät 

im 





in Folge von 

i. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

8. 

*1 

10. 

Summa 





Lebensjahre 





Meningitis*) . . . . 

21 

23 

11 

3 

2 

_ 

_ 

2 

1 

_ 

63 

Eklampsie. 

2 

3 

— 

1 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

7 

Mening. cerebro* \ 

1 





1 


1 

2 


5 

spinalis / 








Otitis, Ohrenfluss, 1 

1 

2 

1 

1 

1 






6 

Carics / 








Scrofulosis. 

— 

2 

— 

— 

— 

— 


— 

— 

— 

2 

Scharlach. 

1 

2 

1 

1 

2 

1 

2 

— 

— 

1 

11 

Diphtherie. 

— 

— 

1 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

2 

Masern. 

2 

1 

1 

7 

4 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

13 

1 

10 

Typhus . 

— 

2 

1 

4 

— 

i 

1 

— 

— 

Fall auf den Kopf . 

— 

3 

— 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

— 

4 

nicht angegebener 1 


1 









1 

Krankheit / 










Summa 

30 

43 

20 

7 

12 

2 

i 3 

4 

| 3 

1 

125 

73 

52 



*) Unter der Rubrik Meningitis habe ich alle Fälle aufgeführt, welche in 
den Anstaltstabellen als Gehirnentzündung, Gehirnkrankheit und Kopf¬ 
krankheit bezeichnet waren. 

*) Die an Variola erkrankte Mutter hatte ihr an der Brust, gestilltes Kind 
inficirt. 


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Verschiedene Mittheilungen. 


175 


Von diesen 125 Ertaubten waren 19 zugleich erblich belastet, nämlich 12 
durch Taubstummheit unter Blutsverwandten, 5 durch geringere Gehörleiden; 
1 Ertaubter hatte eine geisteskranke Mutter, ein Anderer stammte von einem 
Vater, der Potator war und sichtbare Symptome moralischer Degeneration zeigte. 

Die angeführten 12 taubstummen Verwandten waren 4 Mal Geschwister, 

1 Mal Muttersbruder, die übrigen waren entferntere Blutsverwandte. 

In einem Falle bestand ausser der Taubstummheit der Schwester noch bei 

2 anderen Geschwistern Harthörigkeit. 

Es lässt sich nicht beweisen, indess mit mehr oder weniger Wahrscheinlich¬ 
keit annehmen, dass die in diesen 12 Fällen eingetretenen Krankheiten zu Er¬ 
taubung führten, weil sie bereits erblich belastete Kinder befallen hatten. Diese 
Krankheiten waren Meningitis in 4 Fällen, Eklampsie in 1, Gehirnerschütterung 
durch Fall auf den Kopf in 1, Infectionskrankheiten in 5 und Ohrenfluss in 1 Fall. 

Bezüglich der Körperconstitution, Krankheitsanlagen und Complicationen 
mit anderen Krankheiten, welche zum Theil während der Anstaltszeit noch fort¬ 
bestanden, ist Folgendes zu erwähnen: 4 Ertaubte litten an allgemeiner Körper¬ 
schwäche; 3 in Folge von Meningitis Ertaubte hatten längere Zeit Motilitäts¬ 
störungen der unteren Extremitäten, und bei einem von diesen Zöglingen wurde 
noch während der ganzen Anstaltszeit ein schwankender Gang beobachtet. Drei 
Ertaubte litten an Tuberculose, in einem Fall mit tödtlichem Ausgange. In zwei 
Fällen von Ohrenfluss und in 2 von Eklampsie bestand gleichzeitig allgemeine 
Scrofulosis. * In einem dieser Fälle beeinträchtigte die andauernde skrophulöse 
Augenentzündung die Absehfähigkeit des Schülers und damit seine Ausbildung 
in erheblichem Grade. Bei 6 Ertaubten bestand Kurzsichtigkeit, welche ebenfalls 
für die Absehfähigkeit sehr störend war. Die ursprüngliche Krankheit dieser 
kurzsichtigen Taubstummen war in 4 Fällen Meningitis, in 1 Eklampsie und in 
1 Typhus. 

In 1 Fall folgte auf Masern der Keuchhusten und in je 1 Fall waren Typhus 
und Scharlach mit Meningitis complicirt. Ein Zögling, welcher im 8. Lebens¬ 
jahre in Folge von Meningitis ertaubt war, bekam während der in der Anstalt 
verbrachten Zeit häufig eklamptische Anfälle, besonders wenn derselbe gereizt 
oder geschlagen wurde. Bei einem im 3. Lebensjahre nach Meningitis Ertaubten 
zeigte sich in der Mitte des Schädeldaches eine erhebliche Vertiefung. Wann 
und wodurch diese Difformität entstanden, ist nicht angegeben. Bei 4 an Me¬ 
ningitis, bei 3 an Masern und bei 2 an Scharlach Ertaubten war stinkender 
Ohrenfluss eingetreten, der lange Zeit andauerte und bei den meisten dieser 
Zöglinge während der Anstaltszeit noch fortbestand. In 2 dieser Fälle war das 
das Trommelfell auf beiden Seiten zerstört; in 2 Fällen bestand hinter dem 
rechten Ohr eine Fistelöffnung, und in einem dieser letzteren Fälle waren die 
Gehörknöchelchen mit dem Eiter ausgespült worden. 

Ueberhaupt sind bezüglich der pathologischen Veränderungen, welche in 
den Fällen von erworbener Taubstummheit im mittleren Ohr und im Labyrinth 
eintreten, bereits wesentliche anatomische Grundlagen gewonnen worden. Nach 
Dr. H. Bircher 1 ) fand man im mittleren Ohr Anfüllung der Trommelhöhle mit 
Schleim, Eiter, Concrementen, Granulationen, Sarcom und Tuberkelbildung; 


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') a. a. 0. p. 68. 

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176 


Verschiedene Mittheilangen. 


im Labyrinth Verdickungen der hantigen Theile, Ablagerungen von Kalk, Knochen¬ 
massen, Compression des Hörnerven und Atrophie desselben. 

Dagegen entbehren wir, wie bei den Taubgebornen, so auch bei den Er¬ 
taubten über pathologisch - anatomische Vorgänge in dem Gehirn und besonders 
in den Gehörs- und Sprachcentren bis jetzt noch brauchbarer Aufschlüsse. 

Ich batte in der Einleitung angeführt, dass ich einzelne in die Listen der 
Anstalt als früh ertaubt aufgenommene Fälle ausgeschieden und sie unter die 
angebornen Fälle einregistrirt habe. In einem derselben war Magenkatarrh im 
1. Lebensjahre, in einem anderen Erkältung ärztlich (!) als Ursache der Er¬ 
taubung attestirt worden; in 2 anderen Fällen beschuldigten die Eltern Erkältung 
und zurückgetretnen Hautausschlag als Krankheitsursache. Sind diese vermeint¬ 
lichen Ursachen an sich schon als solche mehr als zweifelhaft, so ist in einem 
Falle der nahe Verwandtschaftsgrad der Eltern, in 2 anderen die erbliche Be¬ 
lastung durch Taubstummheit unter Blutsverwandten als hinreichend zu erach¬ 
ten, diese Fälle der angebornen Taubstummheit einzureihen. 

Als Curiosum theile ich an dieser Stelle noch mit, dass ein Vater den Impf¬ 
arzt beschuldigte, seinem Kinde im 1. Lebensjahr die Taubstummheit eingeimpft 
zu haben. Auch dieser Zögling war durch constatirte Taubstummheit unter 
Blutsverwandten erblich belastet. — 

Schliesslich verdient das häufige Vorkommen von Enuresis nocturna 
unter den Zöglingen der Anstalt zu C. einer besonderen Erwähnung. 

Die Anstaltstabellen aus den Jahren 1860—75 enthielten unter 170 Zög¬ 
lingen bei 19, also bei 11,2 pCt. die Angabe, dass sie Bettnässer seien. Das 
Leiden wurde vorwiegend (in 16 von 19 Fällen) bei Taubgebornen und nur 
3 Mal bei Ertaubten beobachtet. Ueberdies war von letzteren ein Zögling durch 
Taubstummheit unter Blutsverwandten erblich belastet. Bei einzelnen Zöglingen 
verlor sich das Leiden nach kürzerer oder längerer Dauer, bei anderen dagegen 
war es am Schluss des 6—7 jährigen Cursus noch nicht beseitigt. 

In der Anstalt zu Fr. befanden sich zur Zeit unter 70 Taubstummen 5, 
oder 7,1 pCt. Bettnässer, und in der Anstalt zu N. unter 79 Zöglingen 7, oder 
8,8 pCt. Der Director der letzteren Anstalt theilte mir ausserdem mit, dass 
nach seinen Beobachtungen stets 9 pCt. der Zöglinge Bettnässer seien. 

Indem ich das thatsächlich häufige Vorkommen dieses Leidens unter Taub¬ 
stummen, namentlich unter Taubgebornen, wie ich dies bei den Zöglingen der 
Anstalt zu C. constatirt habe, hier mittheile, überlasse ich die Beantwortung der 
Frage, ob Enuresis nocturna in den von mir berichteten Fällen nur eine zufällige 
Erscheinung war, oder ob dieses Leiden mit Taubstummheit in genetischem 
Zusammenhänge steht, weiteren Untersuchungen. 


Heber Verien-Keleaiea. Von Dr. Alexander Korn in Berlin. — Die 
Ferien-Kolonien sind ein glücklicher Gedanke der neuesten Zeit, um arme, 
heruntergekommene, bleiche Stadtkinder den schädlichen Einflüssen der grossen 
Stadt und des elterlichen Hauses eine Zeitlang zu entziehen, indem man sie in 
eine frische, kräftigende Landluft bringt. Pfarrer Walter Brion in Zürich 
fasste zuerst diesen Gedanken, Dr. Varrentrap in Frankfurt a./M. verbreitete 
die Idee in medicinischen Fachblättern, und bald folgte eine Reihe grosser 


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Verschiedene Mittheilungen. 


177 


Städte, namentlich deutscher, diesen Anregungen. Schon am 15.November 1881 
konnten auf einem hiesigen Ferienkolonien-Congress Vertreter aus ganz Deutsch¬ 
land, Oesterreich und der Schweiz erscheinen. London und Paris folgten. In 
Kopenhagen hatte schon viel früher der Inspector einer Militärschule einen Aufruf 
an die Landbevölkerung erlassen, arme Kinder in Einzelpflege zu nehmen. Der 
Aufrnf war von glänzendem Erfolge begleitet. Aber es gab noch keine ge¬ 
schlossenen Kolonien. In New-York wurden alljährlich von der Kinder-Schutz- 
gesellsohaft an 1500 Kinder während der Ferien, um sie gegen die Ruhr und 
andere Schädlichkeiten zu beschützen, in grossen Schiffen des Morgens aufs 
Meer hinaus- und Abends wieder heimgebracht. 

Die Ferien-Kolonien sind ein glücklicher Gedanke, weil sie rechtzeitig, d. h. 
noch dem kindlichen Organismus zu Hülfe kommen, wo ein Hinausschieben der 
Hülfe Krankheit und Siechthum bedeuten würde. Sie sind ein glücklicher Ge¬ 
danke, weil sie die Hebung socialer Noth und socialer Missstände von einem 
richtigen Punkte aus anfassen, weil sie Noth und Elend im Hause, in der Stadt 
und im Staate durch geeignete Mittel vermindern und verhindern und mit ge¬ 
ringen Mitteln grosse Erfolge erzielen. 

Vor Allem werden die Kinder widerstandsfähiger gegon schädliche Ein¬ 
flüsse. In der Stuben- und Stadtluft verlangsamt sich der Stoffwechsel, die 
Bedingung des Lebens; die Organe werden welk, bleich, schrumpfen zusammen, 
verlieren einen Theil ihrer Wärme, werden zu ihren Verrichtungen immer untaug¬ 
licher, und es bilden sich eine Menge Krankheiten aus Schwäche. Es tritt ein 
Hang zur Trägheit ein, die innere Triebkraft geht verloren. Verdauung, Blut¬ 
umlauf, Ernährung nehmen ab und bringen jene Blässe, Magerkeit oder ge¬ 
dunsene Schlaffheit hervor, welche schon auf den ersten Anblick die Lebens- 
armuth verräth. 

Ich verweise hier auf die später folgenden Beispiele von ärztlichen Gut¬ 
achten über die zur Aufnahme in die Ferien-Kolonien empfohlenen Kinder. 

Professor Rossbach spricht in der „Thüringer Saison-Nachricht“ unter 
den Gedanken über klimatische Kuren an erster Stelle den aus, „dass das Klima 
ein aus der Pharmacopoea pauperum auszuschliessendes Mittel sei und nur in 
die Therapie der Reichen gehöre; den Armen mag man in das beste Klima 
schicken, überall wird ihn das Gespenst seiner heimathlichen Lage verfolgen, 
die bleiche Sorge, der nagende Hunger, die schlechte Wohnung, die ungenügende 
Kost, und von diesem gejagt müsste er selbst in paradiesischen Gegenden unter¬ 
liegen. . . . Man überlege daher bei einem jeden Kranken zuerst genau, ob seine 
Mittel auch reichen uad ob nicht vielleicht ein kurzer Aufenthalt in der Fremde 
durch völlige Erschöpfung der vorhandenen Mittel ihn bald in eine schlimmere 
Lage versetzt, als er sie vorher hatte.“ Nun, bei den Kindern fällt diese bange 
Sorge weg. und gerade bei den Kindern bewirken und bedeuten die klimatischen 
Orte, wenn auch nicht Kurorte, als welche wir die Ferien-Kolonien nicht alle 
oder ganz ansehen können, nur Heil und Segen. Wenn Rossbach ferner be¬ 
tont, dass nie das Klima allein, sondern das Verhalten des Kranken und, 
setzen wir für unseren Fall hinzu, des Schwachen im besseren Klima wesentlich 
zur Heilung und, wie wir für die Ferien-Kolonien wieder hinzusetzen müssen, 
zur Erholung und Stärkung mitwirken muss, und dass man nur, wenn mit einem 

Vierleljebreeofar. f. gor. Med. N. P. XXIV. 1. 12 


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Verschiedene Mittheilungen. 


klimatischen Kurort eine geschlossene, unter strenger ärztlicher Aufsicht befind¬ 
liche Anstalt verbunden ist. Arme, Ungebildete und Charakterschwache einer 
klimatischen Behandlung unterziehen solle, so dürfen die armen Kinder um so 
eher der Wohlthat der Ferien-Kolonien theilhaflig werden, als die letzteren Be¬ 
dingungen bei ihnen erfüllt sind. 

Die öffentliche Gesundheitspflege sowohl wie die private sind bei diesen 
kolonialen Bestrebungen gleich stark interessirt. Sie verdienen unser Interesse 
mindestens in gleichem Grade, wie die überseeischen; denn wir schaffon ein 
Capital von Gesundheit und Lebenskraft, das dem Staate, der Gemeinde und 
dem Hause zu Gute kommt. 

Nicht genug anzuerkennen sind darum die Bemühungen des Comitds für 
Ferien-Kolonien des Vereins für häusliche Gesundheitspflege in Berlin. Auch in 
diesem Jahre, heisst es in dessen Bericht vom Jahre 1884, vermag das Comitd 
mit freudigster Genugthnung auf den Verlauf und die Resultate seiner Arbeit 
zurückzublicken; denn während im Jahre 1880 108 Kinder. 1881 228 Kinder, 
1882 293 Kinder und 1883 399 Kinder in die verschiedensten Orte zur Ent¬ 
sendung kamen, ist im verflossenen Jahre die Zahl auf 421 gestiegen. Ich füge 
noch hinzu, dass in diesem Jahre in Summa 741 Kinder und zwar 271 Knaben 
und 470 Mädchen in die verschiedenen Kolonien entsendet wurden. 

In der Anleitung, wie bei der Auswahl von Kindern für die Ferien-Kolonien 
zu verfahren sei, ist als leitender Gedanke aufgestellt: schwächlichen und in der 
Genesung begriffenen Kindern würdiger und in dürftigen Verhältnissen lebender 
Eltern während der grossen Sommerferien Erholung in guter Luft, an einem ge¬ 
sunden Orte, unter geeigneter Aufsicht zu bieten. 

Es worden bei der Auswahl nur solche Kinder berücksichtigt, deren Eltern 
es ermöglichen können, die für die Dauer einer Ferien-Kolonie unumgänglich 
nothwendige Ausstattung zu stellen. Jedem Kinde sind 4 Postkarten mitzugeben. 
Dieselben werden angehalten, wöchentlich einmal an die Eltern zu schreiben. 
Selbstverständlich werden Kinder, die mit unheilbaren Krankheiten oder mit 
Untugenden behaftet sind, ausgeschlossen. Während der Erholungszeit soll nicht 
allein auf den Körper, sondern auch auf den Geist erziehlich eingewirkt werden. 
Deshalb werden die Kinder bei den gemeinschaftlichen Spaziergängen auf alles 
Schöne in der Natur aufmerksam gemacht, und es wird darauf gesehen, dass sie 
ein kameradschaftliches, harmonisches Zusammenleben führen. Sie werden viel¬ 
fach durch anregende Spiele erfreut, aber auch zu häuslichen Verrichtungen, 
Reinlichkeit und Ordnung angehalten. 

Das für die Ferien-Kolonien geeignete Alter reicht vom vollendeten 8. bis 
zum 14. Lebensjahre. Kinder unter 8 Jahren sind meist körperlich zurück und 
machen zu viel Umstände, mit dem vollendeten 14. Jahre dagegen verlassen sie 
die Schule und beginnen ihren zukünftigen Lebenslauf. 

Die Untersuchung, auf welche hin die Mitnahme beschlossen wird, geschieht 
allein von den. vom Comite auserwählten und den Bezirks-Comites bekannt zu 
machenden Aerzten. Die ärztlichen Gutachten werden erst eingeholt, nachdem 
die betreffenden Recherchirenden das Ihrige über die Würdigkeit und Bedürftig¬ 
keit der Familien abgegeben haben. 

Als Vorsitzender eines Bezirks-Comitds für die Ferien-Kolonien bin ich in 
der Lage, hier einige Beispiele von ärztlichen Gutachten folgen zu lassen, auf 


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Verschiedene Mittheilungen. 


179 


Grand deren Aufnahmen von Kindern in die Kolonien empfohlen oder erfolgt 
sind. Sie gewähren den präcisesten Einblick: 

G H., Mädchen, 13 Jahre alt, ausserordentlich mager, schlecht ernährt, 
blass, mit müdem Gesichtsausdruck, sonst gesund, der Erholung und Stärkung 
bedürftig. 

G. H. Auffallend klein, zart gebaut, im Allgemeinen gesund aber schwäch¬ 
lich und der Stärkung und Erholung sehr bedürftig. 

A. M. Von zartem Knochenbau, das gesammte Skelett in der Entwicklung 
zurückgeblieben, dürftige Musculatur, auffallend schlechte Zähne (fast alle cariös). 

A. R. Sehr schlecht entwickelte Brust, sehr schwächlich, chronischer Kehl¬ 
kopfskatarrh, hatte einmal im vorigen Jahre schwere Masern und nach denselben 
angeblich Bluterbrechen, und in diesem Jahre zum zweiten Mal Masern gehabt, 
seitdem Kehlkopfskatarrh. Für die Ferien-Kolonie ungeeignet, dagegen für die 
Aufnahme in eine See-Kolonie zu empfehlen. 

H. L., blasser, schwächlicher, schlecht genährter Knabe mit danieder¬ 
liegendem Appetit, scheint durch die Schule überangestrengt zu sein. Die Luft 
im Hofe des mir bekannten Hauses ist als besonders schlecht zu bezeichnen. 
Der L. ist ärztlicherseits sehr zur Mitnahme in eine Ferien-Kolonie zu em¬ 
pfehlen. — 

Ausser den auswärtigen Kolonien wurden in diesem Jahre noch 100 Kinder 
in zwei sogenannte Halbkolonien vereinigt, welche während der grossen Ferien 
täglich, mit Ausnahme des Sonntags, Nachmittags in Gartenlokalen der Aussen- 
bezirke Berlins unter Aufsicht bei gutem Wetter im Garten, bei ungünstigen in 
Sälen zu Spielen. Handarbeiten, Singen, Geschichtenerzählen sich versammeln, 
wobei ihnen im vorigen Jahre täglich um 4 Uhr eine angemessene Portion guter 
Milch mit Zubrot und um 7 Uhr eine Suppe verabreicht wurde. — 

Es wird gewünscht, dass im Laufe des Winters die in den Kolonien ge¬ 
wesenen Kinder dreimal besucht und über den Befund dieser Besuche berichtet 
würde, um auf Grund dieses Materials die Ferien-Kolonien weiter auszubilden 
und zu verbessern. 

Die Kolonien sind: Dippmannsdorf (Belzig), Dolgenbrod (Königs-Wuster¬ 
hausen), Drehna (Calau), Fredersdorf (Belzig), Herzberg a. ö. Elster, Königs- 
Wusterhausen, Lehnin, Lütte (Belzig), Ober-Cosel (Rietschen), Pforten i.d. Lausitz, 
Rheinsberg, Schwerin; ferner Ostseebad-Kolonien Möllen bei Köslin, Swinemünde; 
Nordseebad-Kolonie Norderney; Soolbad-Kolonien Frankenhausen am Kyffhäuser, 
Eimen. 


Puerperalfieber, — In der Sitzung der Acad. de möd. vom 6. Nov. 1883 
zu Paris (Arch. göner. de med. Dec. 1883.) sprach sich Hervieux bezüglich 
des Einflusses, welchen Puerperalfieber-Epidemien auf schwangere Frauen aus¬ 
üben, dahin aus, dass, wie längst bekannt, eine gewisse Anzahl derselben der 
puerperalen Septicämie, welche bald als solche sich vollständig entwickelt, bald 
nur Frühgeburt bedingt, anheimfalle. 

Während man nun diese Consequenzen immer nur als Ausnahmen zu be¬ 
trachten gewohnt ist, erkennt sie H. im Gegentheil als Regel auf Grund einer in 
der Matcrnitö gemachten, sich auf 12 Jahre (1861—1872) beziehenden statisti- 


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Verschiedene Mittheilungen. 


sehen Aufstellung an, welcher zufolge die Häufigkeit der Frühgeburten im Ein¬ 
klänge mit der Intensität der fraglichen Epidemie steht. Als dieselbe im Ver¬ 
laufe der Jahre 1863 und 1864 ihren Culminationspunkt erreichte, wüthete 
jene Infeetionskranklieit besonders unter den schwangeren Frauen. Dieselben 
blieben in den Jahren 1865, 1866 und 1867, wo jene Epidemie sich abge- 
schwächt hatte, mehr verschont, aber ihre Frucht wurde häufig ergriffen der Art, 
dass das Gift, wenngleich weniger intensiv wirkend, Zeit genug gehabt zu haben 
scheint, bis zum Foetus vorzudringen und da zum Nachtheile desselben und 
Vortheile der Mutier seine Verheerungen anzurichten. 

Wenn sich später der sanitäre Zustand der oben erwähnten Gebäranstalt 
noch weiter bessern wird, wird auch die Häufigkeit der Frühgeburten und die 
Mortalität der Schwängern noch mehr abnehmen. 

Erfahrungen solcher Art machen es dringend nothwendig, jenen Frauen 
unter den gedachten Umständen den Zutritt in eine Gebäranstalt entweder 
gänzlich zu versagen, oder sie, wo dies nicht angänglich ist, möglichst kurze 
Zeit vor ihrer Niederkunft dahin aufzunehmen. Pauli (Cöln). 


Per Bacillus der LungentuberkuUse und die Verhütung derselben. — In 

einem Vortrage kommt Jaccoud (Gaz. des Höp. 1884. No.42) zu dem Schlüsse, 
dass die Entdeckung des Bacillus der Lungentuberkulose der Prophylaxis der¬ 
selben noch keinen Vorschub geleistet hat, da wir in dieser Hinsicht lediglich 
noch datauf angewiesen sind, der mangelhaften Ernährung, welche die Entwick¬ 
lung jener Krankheit, resp. das Erscheinen des genannten parasitären Gebildes 
in erster Linie begünstigt, entgegenzutreten. Und zwar soll sich auf dieses 
Moment schon von der Geburt der Kinder ab. wenn eine erbliche Uebertragung 
zu befürchten steht, unsere Aufmerksamkeit richten und die Ernährung jener 
von Seiten der Mutter gänzlich untersagt werden, selbst dann noch, wenn nur 
der Vater krank und die Mutter gesund ist, in Rücksicht darauf, dass diese von 
jenem bei der Cohabitation angesteckt werden kann. Pauli (Cöln). 


IV. Literatur. 


Dr. Ft 'ied. Sanders Handbuch der öffentlichen Gesundheits¬ 
pflege, in zweiter Auflage, bearbeitet und herausgegeben vom 
Vorstand des niederrheinischen Vereins für öffentliche Gesundheits¬ 
pflege. (Leipzig. S. Hirzel. 1885.) 

Das Sander’sche Werk ist schon in der ersten Auflage von der Kritik 
so günstig aufgenommen worden, dass es nur der Anzeige dieser neuen, von 
Dr. Graf unter Mitwirkung sämmtlicher Vorstandsmitglieder des niederrheini¬ 
schen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege herausgegebenen Ausgabe bedarf, 
um das Werk allen sich für die öffentliche Gesundheitspflege Interessirenden von 
Neuem zu empfehlen. Fast alle Kapitel haben eine dem neuesten Standpunkte der 


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Literatur. 


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wissenschaftlichen Forschungen entsprechende Erweiterung erhalten; ausserdem 
hat Dr. Baer in Berlin die Bearbeitung des Artikels „Gefängnisse“ geliefert. 

_ Elbg. 

Illustrirtes Lexikon der Verfälschungen und Verunreini¬ 
gungen der Nahrungs- und Genussmittel, der Colonial- 
waaren und Manufakte, der Droguen, Chemikalien und 
Farbewaaren, gewerblichen und landwirthschaftlichen 
Produkte, Dokumente und Werthzeichen. Mit Berücksich¬ 
tigung des Gesetzes vom 14. Mai 1879, betr. den Verkehr mit 
Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegenständen, sowie 
aller Verordnungen und Vereinbarungen. Unter Mitwirkung von Fach¬ 
gelehrten und Sachverständigen herausgegeben von Dr. Otto Dämmer. 
Leipzig. J. J. Weber. 1885. 

Schon der Titel spricht für das grossartig angelegte Werk, welches nach 
den vorliegenden Lieferungen, wovon 5 ä 5 Mk. erscheinen sollen, noch mehr 
liefert, als es verspricht. Obgleich das Hauptgewicht auf die Verfälschungen 
der Nahrungsmittel gelegt worden zu sein scheint, so sind doch eine Menge, die 
specielle Technik und Pharmakognosie etc. berührenden Gegenstände sehr ein¬ 
gehend behandelt und häufig durch sehr saubere Zeichnungen illustrirt worden 

Fast zu ausführlich dürfte der Artikel: „quantitative Analyse“ erscheinen, 
da die Behandlung der allgemeinen, hier massgebenden Gesichtspunkte nicht in 
den Rahmen des Werkes gehört, sondern als bekannt vorauszusetzen ist. 

Der Artikel: „Bakterioskopische Untersuchungen“ von Becker zeichnet 
sich durch ganz vortreffliche Zeichnungen aus; namentlich ist die farbige Dar¬ 
stellung der Cholera- und Tuberkelbacillen, des Milzbrandblutes und der einer 
Wasseruntersuchung entnommenen Kolonie von Bakterien als sehr gelungen 
hervorzuheben. 

Bei den Artikeln „Bekleidungsgegenstände“ und „Farben“ ist hauptsäch¬ 
lich die von Vertretern der angewandten Chemie in Bayern getroffene Verein¬ 
barung hinsichtlich der Beurtheilung der giftigen Farben zu Grunde gelegt wor¬ 
den. Diese wichtige Angelegenheit wird mit Rücksicht auf die Interessen der 
Industrie neuerdings eine neue gesetzliche Regelung erfahren, da die Verordnung 
vom 1. Mai 1882 seit Aufhebung der §§. 2 und 3 ihrem Zwecke nicht mehr 
entspricht. 

Es würde zu weit führen, auf alle einzelnen Artikel näher einzugehen; wir 
begnügen uns daher mit der Versicherung, dass das Werk alle einschlagenden 
Verhältnisse berücksichtigt und zuverlässigen Rath ertheilt. Bei der vortreff¬ 
lichen Ausstattung des Werkes müssen wir nur das Bedauern aussprechen, dass 
zu kleine Lettern für den Druck ausgewählt sind, wobei der Hygiene des Auges 
nicht Rechnung getragen wird. Elbg. 


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Erwiderung. 

Auf den neuen — wiederum jeder Provocation von meiner Seite entbehren¬ 
den — Angriff des S.-R. Winckel im October-Heft erwidere ich, dass meine 
Auffassung von der Richtung der fraglichen Schleimhautablösung auf einer 
Deutung seines Obductions-Protokolles beruhte. Wenn diese Deutung, wie W. 
jetzt behauptet, eine irrthümliche war, und W. diesem Irrthum, wie die jetzige 
Betonung desselben andeutet, einen grossen sachlichen Werth beimessen zu 
dürfen glaubte, so hätte W. die Pflicht gehabt, ihn sofort während der Gerichts¬ 
verhandlung zur Sprache zu bringen. Meine Schlussfolgerung, dass dieser ge¬ 
ringfügige Befund für die Frage nach der Todesart und Ursache gar nicht in 
Betracht komme, wäre dadurch freilich nicht erschüttert worden. 

G. Veit. 

Zar Riehtigstellang. 

Um dem schwachen Gedächtniss des Herrn Geh. Rath Dr. Veit zu Hülfe 
zu kommen, mache ich hier darauf aufmerksam, dass der Uterus der Frau St. 
bei den gerichtlichen Verhandlungen Vorgelegen hat und von ihm selbst, dem 
Delcgirten des Rheinischen Medicinal-Collegiums und vielen namhaften Aerzten 
sorgfältig besichtigt worden ist! Mit dem Sprichwort: „Wahrheit bleibt ewig 
Wahrheit, gut eingerieben thut sie wehl“ nehme ich gerne Abschied vou dem 
Horrn Professor der gerichtlichen Medicin und Geburtshülfe! 

Dr. Winckel. 

Auch die vorstehenden Worte sollen mich nicht verleiten, den Standpunkt 
der rein sachlichen Erörterung, welchen ich im Gegensätze zu dem Herrn S.-R. 
Winckel festgehalten habe, jetzt zu verlassen. Ich beschränke mich daher auf 
die Erwiderung, dass mein hier veröffentlichtes Gutachten meine Besichtigung 
des Präparates nicht verhehlt. Da ich es gewagt fand, meine Ansicht von dem 
anormalen Sitze der Placenta ohne Zuhülfenahme der Autopsie mit Entschieden¬ 
heit zu vertreten, musste ich mich darüber vergewissern. Dabei habe ich mir 
natürlich auch die seitlichen Risse angesehen, aber der Schleimhautfalte nicht 
genügende Aufmerksamkeit zugewandt, um meine Deutung des Obductions- 
Protokolles zu controliren, solches auch nicht für geboten erachtet, weil mir diese 
geringfügige Veränderung für die Erörterung der Todesart und Todesursache 
ganz bedeutungslos erschien, und auch meine Deutung von der Richtung dieser 
Ablösung an Ort und Stelle keinen Widerspruch fand. 

Das Urtheil darüber, wem die Wahrheit wehe thun sollte, überlasse ich den 
Lesern dieser Zeitschrift. Veit. 


Um die Meinungsverschiedenheit über den von Herrn S. R. Dr. Winckel 
im Juliheft veröffentlichten Fall hier zum Abschluss zu bringen, entspricht die 
Rcdaction dem Wunsche desselben, schliesslich hier auch die nachstehende 
Ausführung des Herrn Geh. S.-R. Dr. Birnbaum zu Trier über den fraglichen 
Fall mitzutheilon. 


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Replik. 


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In dem von Herrn Sanilätsrath Winckel im Julihefte dieser Zeitschrift 
beschriebenen Falle war der betreffende College bei mir. um mich zu einer ent¬ 
lastenden Begutachtung meinerseits gegen das auf gerichtliche Requisition 
aufgenommene Gutachten zu bestimmen. 

Nach seiner Erzählung des Falles konnte ich mich, so sehr ich auch nach¬ 
weislich bereit bin, Collegen bei solchen Gelegenheiten zu unterstützen, nicht 
entschlossen, dem Anträge ohne genaueres Eingehen in die Gerichtsacten zu 
entsprechen. Nach deren Durchlesung musste ich aber umsomehr auf der schon 
vorher angedeuteten Ablehnung derselben beharren, da ich bei Vergleich seiner 
Erzählung mit den Gerichtsacten dem aufgestellten Gutachten nach seinem we¬ 
sentlichen Inhalte vollkommen beitreten musste. 

Die Behandlung der Geburt bis zu Eintritt des Verfahrens zu deren Vollen¬ 
dung erschien vorab vollständig unbegründet, da keine Erscheinungen irgendwie 
aufgeführt waren, welche dieselbe hätten rechtfertigen können. Die Anwendung 
solch’ kräftig eingreifender Mittel ohne dringende Anzeigen kann ich aber unmög¬ 
lich irgendwie gestattet erachten. 

Allerdings scheint die Chloroformanwendung nicht hochgradig gewesen zu 
sein, aber die Combination derselben mit Morphium ist erfahrungsgemäss immer 
eine sehr bedenkliche, die Gefährlichkeit entschieden steigernde, deshalb blos bei 
sehr dringender, deutlich hervortretender Anzeige zu rechtfertigen. Solche aber 
lag in dem Falle nach allen Angaben entschieden nicht vor. 

Dieser Umstand mochte denn auch das Medicinal- Collegium veranlasst 
haben, dem Chloroforme einen entscheidenderen Einfluss zur Erklärung des tödt- 
lichen Ausganges zuzuschreiben, als den späteren Eingriffen. 

Es mag darin ein mit begünstigender Einfluss auf das Nervensystem auch 
wirklich Vorgelegen haben, und muss anerkannt werden, dass eine derartige 
Behandlung ohne jede dringende Veranlassung jedenfalls als bedeutender Kunst¬ 
fehler zu erachten ist. Da aber weder die Dosirung noch die Art der Anwendung, 
ob mit Gazemaske oder mit Tuch, ob dicht oder im Abstande vorgehalten, genauer 
dargelegt ist, lässt sich die Einwirkung nicht genauer feststellen. 

Es muss aber noch hervorgehoben werden, dass jede Chloroformirung bei 
Operationen jeder Art ohne genaue sachverständige Aufsicht, also wenn ein Arzt 
mit Handleistungen beschäftigt ist, ohne Gegenwart eines zweiten den Verlauf 
beaufsichtigenden Arztes, ein leichtsinniges Verfahren genannt werden muss, und 
bei schlimmem Ausgange die Verantwortlichkeit des Arztes sehr wesentlich 
steigert. Auch kann der Umstand, dass solches bei einiger Vorsicht der Anwen¬ 
dung immer ein seltenes Ereigniss ist, diese Verantwortlichkeit nicht vermindern, 
da solche Ausgänge hinreichend festgestellt und bekannt sind. 

Was die weitere Beurtheilung und Behandlung des Falles anlangt, so muss 
dem Vorwurfe, dass die Frau eine Zeit lange ohne jede sachverständige Beihülfe 
sich selbst überlassen wurde, um so mehr beigetreten werden, da solche Aufsicht, 
wenn in den Acten nicht angegebene Verhältnisse obwalteten, welche die Anwen¬ 
dung von Morphiuminjectionen forderten, eben so. wie wenn solche ohne Anzeigo 
einmal gemacht waren, unerlässlich erscheint, mag nun dieselbe von einem zwei¬ 
ten Arzte oder einer Hebamme geübt werden. Bei der späteren Wiederkehr zu 
der in offenbarem Geburtsgeschäfte befindlichen Frau wird bei der Untersuchung 
Blutabgang bemerkt, ohne dass nähere Angaben über seinen Grad vorliegen, als 


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Dr. Birnbaum, 


die unbestimmte, dass Blut hervorgestürzt sei. Der Leichenbefund giebt uns 
Kunde, dass er kein beträchtlicher gewesen war. Es wird daraus auf Vorlage 
des Mutterkuchens geschlossen. Welcher Geburtshelfer hat aber nicht schon in 
einzelnen Fällen zeitweiligen Blutabgang mehr weniger hohen Grades beobachtet, 
der sich in einiger Zeit wieder verliert ohne jede üble Folge? Und welcher Arzt 
wird sich bei sonst ganz regelmässigen Geburtsverhältnissen sofort zu so bedeu¬ 
tendem Eingreifen bestimmen lassen, ohne sich Zeit zu nehmen zu Versuchen, 
die Blutung zu beseitigen und zu ausreichender Beobachtung, ob solche wirklich 
Gefahr bedinge und nicht anders zu stillen sei? 

Die Annahme, dass Vorlage des Mutterkuchens vorhanden, war schon durch 
den so späten Eintritt der Blutung nahezu als ausgeschlossen zu betrachten. Von 
Blutungen, die schon in der letzten Zeit der Schwangerschaft eingetreten wären, 
war keine Rede. Und doch fehlen diese bei irgend bedeutender Vorlage fast nie, 
und nur wenn die Geburtsthätigkeit vor dem rechten Ende der Schwangerschaft 
eintritt, können dieselben mit dem Geburtseintritte zusammenfallen. Bei sehr 
unvollkommener Vorlage kann allerdings auch etwas Aehnliches Vorkommen, dann 
aber treten dieselben doch gleich mit Beginn der Geburt hervor, und in diesen 
Fällen sehen wir, dass im weiteren Verlaufe sie sich nach Ablösung des kleinen 
Stückes von selbst verlieren und der weitere Verlauf der Geburt ein ganz regel¬ 
mässiger und natürlicher sein kann. Aber die Controverse, ob Ausstopfen der 
Scheide, ob gewaltsame Entbindung? bezieht sich eben lediglich auf die Fälle, 
wo schon in der Schwangerschaft häufig wiederkehrende Blutungen vorhanden 
sind, die sich stetig verstärken. Unser Fall hat seinem Verlaufe nach mit 
derselben gar nichts zu schaffen. Die ganze Annahme einer Vorlage des Mutter¬ 
kuchens beruhte, wie schon aus dem Verlaufe klar werden musste, auf einem 
Irrthum bei der Untersuchung, welchen der Leichenbefund nicht erst aufzudecken, 
lediglich als solchen zu bestätigen hatte. Sass auch derselbe etwas tiefer oder 
vielmehr hätte er auch höher sitzen können, so war er immer noch mehrere 
Gentimeter über dem inneren Muttermunde mit seinem unteren Rande, und da 
kann ein solcher Sitz als solcher keine Blutung hervorrufen, welche in die Streit¬ 
frage der Behandlung hineinfällt. 

Die einzigen zunächst unklaren Ursachen der Blutung waren bei Ausschluss 
der Vorlage des Mutterkuchens in krampfhafter Thätigkeit mit vorwiegender Zu¬ 
sammenziehung der Stelle, wo der Mutterkuchen sass und in grosser Festigkeit 
der Eihäute und dadurch veranlasstem Abzerren desselben zu suchen. Dass 
erstere in unserm Falle vorhanden gewesen, ist durch keine Angabe erwiesen, 
würde allerdings die Anwendung der Heilmittel, Morphium und Chloroform, 
erklären, würde aber dann auch das Verlassen der Gebärenden ohne jeden sach¬ 
verständigen beaufsichtigenden Beistand als ganz unverantwortlich erscheinen 
lassen. Die zweite Ursache der Blutung würde, wenn erwiesenermassen sie Zu¬ 
nahme derselben veranlasst hätte, einfach die Sprengung der Eihäute gefordert 
und der Blutung sofort ein Ende gemacht haben. 

In beiden Fällen war aber eine sofortige gewaltsame Entbindung um so 
entschiedener ausgeschlossen als die übrigen Verhältnisse, die Kindeslage insbe¬ 
sondere sehr günstig lagen und nach Beseitigung der Blutung einen regelmässi¬ 
gen Gang der Geburt versprachen. Nur bei sehr verschleppten Fällen, wo bei 
Abwesenheit jeder geeigneten Hülfe bis zur Ankunft des Arztes dringende Le- 


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Replik. 


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bensgefabr eingetreten wäre, könnte ein so gewaltsames Verfahren Rechtfertigung 
finden, aber einestheils ist eine solche Dringlichkeit in unserm Falle durch den 
Leichenbefand abgewiesen, anderntheils würde für solche Versäumniss der recht¬ 
zeitigen Hülfe den Arzt, bei dessen Ankunft und erster Leitung der Geburt keine 
Blutung vorhanden war, die volle Verantwortlichkeit treffen, wenn er die 
Gebärende so lange ohne jeden sachverständigen Beistand liesse. Und auch hier 
konnte ich nur dem gerichtsärztlichen Gutachten vollkommen beilreten. 

Was die Ausführung der betreffenden Kunsthülfe anlangt, so musste ich 
auch hier dem Gutachten der Gerichtsärzte unbedingt beitreten. Freilich können 
Fälle Vorkommen, in welchen bei besonders verschleppten oder erschwerten Wen- 
dungäversuchen Zerreissungen der Gebärmutter in verschiedenem Umfange ohne 
jede Verschuldung des Arztes Vorkommen, um so mehr, da ja solche auch ohne 
jeden Eingriff des Arztes möglich sind und es wol denkbar ist, dass der Arzt 
gerade in solch’ verhängnisvollem Momente seinen Eingriff beginnt. Freilich 
mögen auch manche derartige Verletzungen verschuldet oder unverschuldet Vor¬ 
kommen, die den Umständen gemäss nicht zur Kenntniss der Gerichte kommen, 
daraus kann aber in einem gegebenen Falle, wo die Angehörigen die gerichtliche 
Untersuchung fordern, kein Vertheidigungsgrund für den Betreffenden entnom¬ 
men werden. Eine solche Zerreissung aber bei noch vorhandenem Fruchtwasser, 
bei noch nicht fest umklammertem Kindeskörper, bei Ausschluss also jeder Er¬ 
schwerung, sobald die einzig hier vorliegende Schwierigkeit des Eindringens der 
Hand durch den noch nicht weit genug eröffneten Muttermund überwunden war, 
wäre nur denkbar bei tiefer allgemeiner oder örtlicher Erkrankung des Gewebes 
der Gebärmutter. Bei solcher sind allerdings Zerreissungen durch sehr schwache 
Wehen ohne jeden Eingriff der Kunst möglich, also auch ein unglückliches Zu¬ 
sammentreffen mit dem Beginn solchen Eingriffes. Aber von solchem krankhaften 
Zustande des Gebärmuttergewebes hat der Leichenbefund gar nichts ergeben, 
und bei der gesunden Beschaffenheit der Gebärmutterwände, bei der Unverletzt- 
heit der Blase, die noch vorhanden, hätte das gewaltsame Eingehen wol allenfalls 
Zerreissung des Muttermundes herbeifübren können, die höher hinauf sich er¬ 
streckten, aber keine Zerreissungen höher oben, wenn die Vornahme des Eingriffes 
mit der erforderlichen Fertigkeit nach den Regeln der Kunst ausgeführt worden 
wäre, wozu die bei noch stehender Blase höchst wirksame Verbindung der inne¬ 
ren und äusseren Wendung gehört. Es kommt noch hinzu, dass kein Riss vorlag, 
sondern eine Schürfung, die der ganzen Beschreibung des Leichenbefundes 
nach nur von unten herauf durch Eingraben der Nägel in die Schleimhaut der 
Gebärmutter erklärbar wird, und bis in die Muskelschicht eingedrungen ist. 
In Betreff ihrer war mir eine Angabe in den Vernehmungsverhandlungen beson¬ 
ders wichtig, dass der Arzt während der Ausführung geäussert habe: Hier ist 
etwas angewacbsen. Dieser Umstand in Verbindung mit den genauen Angaben 
über den Leichenbefund ergänzte denselben so genau, dass ich auch nach dieser 
Richtung keinerlei Handhabe zu einer Gegenäusserung gegen das Gutachten der 
Gerichtsärzte finden konnte. Denn eine Verwachsung kann bei der einfachen 
gewaltsamen Entbindung kein Hinderniss ergeben, da die eindringende Hand, 
wenn der widerstrebende Muttermund überwunden ist, bei Vorlage des Mutter¬ 
kuchens auf diesen, sonst auf die Eihäute stösst und nun in die Blase vorzu¬ 
dringen hat. 


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Dr. Birnbaum, 


Eine solche Schürfung des Uteringewebes ist aber eine Verletzung der 
Hauptregel bei Vornahme der Wendung, dass die vorgehende Hand mit mög¬ 
lichster Vermeidung der Berührung der inneren Wand der Gebärmutter mehr 
durch Abdrücken der Frucht oder des Eies von derselben ihr weiteres Eindringen 
vermitteln soll und dass bei Lösung fest mit der Wand der Gebärmutter ver¬ 
schmolzener Theile diese nicht gewaltsam von der Gebärmutterwand abgetrenut 
werden dürfen, sondern diese Stellen aus dem Zusammenhänge mit ihrem übrigen 
Gewebe zu trennen und an der Gebärmutterwand zurückzulassen sind. 

So konnte ich auch nach diesen Richtungen keinen Grund zum Auftreten 
gegen das Gutachten der Gerichtsärzte finden und musste auch hier vollkommen 
ihrem Ausspruche, dass die Leitung der Geburt eine ganze Reihe von 'Kunst¬ 
fehlern entfaltet habe, vollkommen beitreten. 

Was nun schliesslich den so plötzlich eintretenden Tod anbelangt, so muss 
anerkannt werden, dass Wöchnerinnen unmittelbar nach der Geburt, sowie in 
späteren Tagen des Wochenbettes in einzelnen Fällen, auch in solchen, wo keine 
Kunsthülfe weiter geübt worden, sterben können, ohne dass die eigentliche Todes¬ 
ursache unbezweifelbar festgestellt werden kann. Besonders betreffen solche Fälle 
sehr rasche Geburten, aber auch solche mit heftigeren Gemütsbewegungen, und 
sind von mir auch nach sehr anstrengender Geburtsarbeit beobachtet worden. 
Diese Thatsache ist so allgemein feststehend, dass die Verteidigung sie durch 
einfache Frage an jeden, auch den gorichtsärztlich begutachtenden Arzt fest¬ 
stellen kann. Welchen Werth der Richter auf diese Thatsache legen will in Fällen, 
wo eine Verkettung von Umständen den schlimmen Ausgang vollständig erklären 
kann, ist sodann seine Sache. Eine gutachtliche Aeusserung gegen das Gutachten 
der Gerichtsärzte erschien mir demnach hier ebenfalls werthlos, wenn ich dem¬ 
selben in Bezug auf den hier möglichen Zusammenhang des Verlaufes mit dem 
ärztlichen Handeln vollkommen beitreten musste. Die Billigkeit hat dem strengen 
Rechtsbegriffe gegenüber unbezweifelbar ihre Geltung zu wahren, aber in der 
sachverständigen Beurtheilung auf Eid nicht blos den handelnden Theil im Auge 
zu halten, sondern auch den leidenden, um eben die volle Unbefangenheit des 
Urtheils sich zu wahren. 

Der so rasch eintretende Tod wird erklärlich theils durch eine tiefe Er¬ 
schütterung des Nervensystems, den sogenannten Sbock, theils durch die Ver¬ 
stopfung der Blutgefässe, die sogenannte Embolie, theils durch Eintritt von Luft 
in offne Venen. Welche von diesen drei Ursachen ihn in unserm Falle, wo sonst 
keine bestimmte Erkrankung vor und neben der Schwangerschaft und Geburt 
irgend angegeben wird, denselben vermittelt hat, erhellt aus dem Leichenbefunde 
nicht. Dass der sogenannte Sbock sich oft mit der Embolie und dem Lufteintritte 
deckt, und angenommen wird, wenn die beiden andern Ursachen nicht nachge¬ 
wiesen sind oder nicht nachgewiesen werden können, muss anerkannt werden. 

Dass der Shock auf heftige Nervenerregung sowohl von körperlicher wie 
geistiger Seite aus möglich ist, steht fest. Dass Gebärende und Wöchnerinnen 
bei der grossen Erregbarkeit des Nervensystems besonders dazu neigen, dürfte 
nach den bei ihnen gemachten Erfahrungen auch zugegeben werden müssen. 
Dass aber in unserm Falle die plötzliche rasche und gewaltsame Entbindung und 
besonders die Art, in welcher sie ausgeführt wurde, ganz geeignet war, diesen 
Ausgang herbeizuführen und dabei die Verletzung der innern Fläche der Gebär- 


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Replik. 


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matter sehr wesentlich mitwirken konnte, ist ganz unbezweifelbar. Die Möglich¬ 
keit, dass diese Verletzung von Seiten des Kindes bei der Entwickelung herbei¬ 
geführt sei und nicht von dem behandelnden Arzte, kann theils der Natur der 
Verletzung nach, theils durch den Umstand, dass derselben nach einmal ein¬ 
gedrungener Hand kein Hinderniss im Wege stand, endlich, dass sie ja bei Ein¬ 
tritt des Todes noch nicht perfekt war. vollkommen zurückgewiesen werden. 
Dass die wenigstens nach dem gerichtlich festgestellten Thatbestande durch 
nichts erklärte und begründete Anwendung des Chloroform in Verbindung mit 
der des Morphium das Nervensystem in eine krankhafte, den Shock wesentlich 
erleichternde Stimmung und Erregung versetzt und so denselben herbeigeführt 
habe, ist nicht bestimmt erweisbar, kann aber ebensowenig unbedingt aus¬ 
geschlossen werden. Dass also das ganze Verfahren bei der Geburt den Tod 
durch Shock vollkommen zu erklären vermag, kann keinem Zweifel unterworfen 
werden. 

Was den zweiten Umstand, die sogenannte Embolie, betrifft, so ist eine 
stellenweise Gerinnung des Blutes innerhalb der Gefässe als Grundlage unbedingt 
feststehend, ebenso dass sich solche durch grosse körperliche und geistige Nerven¬ 
erregung sehr schnell ausbilden kann. Mir stehen mehrere dahin einschlagendo 
Beobachtungen von Embolien in der Lungenschlagader zu Gebote. Dass die¬ 
selben bei krankhaften Anlagen auch ohne grosse Erregung möglich sind, steht 
fest. Dass hier eine krankhafte Anlage irgend welcher Art vorlag, erhellt aus 
den Akten in keiner Weise. Dass aber die mannichfachen Schädlichkeiten bei 
solcher Leitung der Geburt eine solche Einwirkung wol auszuüben im Stande 
waren, und wenn solchergestalt der plötzliche Tod eingetreten sein sollte, der 
Verlauf der Geburt und der Entbindung eine vollgenügende Erklärung abgiebt. 
ist nicht zu bezweifeln. 

Der dritte Umstand, Eintritt von Luft in die Venen, würde nach der Geburt 
wol als unvermittelt zu Stande gekommen möglich erscheinen. Wie aber dieser 
Lufteintritt bei noch unvollkommen eröffnetem Muttermunde, bei noch an¬ 
sitzendem, eben sich zu lösen beginnendem Mutterkuchen, bei noch vorhandener 
die Gebärmutter abschliessender Fruchtblase. bei aus den zerrissenen Gefässen 
hervorquellendem, die Luft zurückdrängendem Blute ohne direkte Zuleitung der 
Luft möglich sei. ist nicht einzusehen. Stände dieser Lufteintritt in unserem 
Falle fest, so würde die unmittelbare starke Zuleitung der Luft durch Einführung 
der Hand in die Gebärmutter und die Einleitung in die Blutgefässe durch die 
durch Schürfung des Gewebes geöffneten Gefässe allein als Ursache anerkannt 
werden können und die Verantwortung dafür wiederum dem durch nichts auf¬ 
gedrungenen. durch nichts gerechtfertigten Verfahren zur Last fallen. Und auch 
in diesem Sinne glaubte ich bei Rücksicht auf alle diese möglichen Hypothesen 
meine entlastende Begutachtung dem Gutachten der Gerichtsärzte gegenüber 
ablehnen zu müssen. 

Trier, 16. Novbr. 1885. Dr. Birnbaum, 

Direktor der Prdvinxial-Hebammen- 
Anstalt in Köln, a. D. 


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Preussischer Medicinalbeamten-Verein. 


III. Haupt-Versammlung zu Berlin, 1885. 


Nachdem am Abend des 24. September 1885 die gegenseitige Begrüssung 
der Theilnehmer in den Räumen des „Franziskaner“ stattgefunden hatte, eröffnele 
der Vorsitzende Hr. Kanzow (Potsdam) 

am Freitag den 25. September 1885, Vormittags 9'/ 4 Uhr 
in der Theerbusch’schen Ressource 

die Versammlung, indem er die Erschienenen willkommen heisst und der im ver¬ 
flossenen Jahre verstorbenen Mitglieder gedenkt. Die Anwesenden erheben sich 
von den Sitzen. — 

I. Der Schriftführer, Hr. Rapmund (Nienburg), giebt den Kassen-Bericht, 

wonach die Versammlung auf Vorschlag, des Vorsitzenden die Herren Mitten¬ 
zweig und Probst durch Zuruf zu Kassen-Revisoren ernennt. — Die Kasse hat 
einen Ueberschuss von 1184 Mark 21 Pfennig. Für das kommende Geschäfts¬ 
jahr setzt die Versammlung fünf Mark als Beitrag fest.- 

Nach einer längeren Geschäftsordnungs-Debatte, an welcher sich ausser 
dem Vorsitzenden die Herren Wallichs (Altona), Rapmund und Falk (Berlin) 
betheiligen, spricht 

II. Hr. Liman (Berlin): Mord und Selbstmord, oder Verun¬ 
glückung; Tod in Leuchtgas. 

Meine Herren! Gestatten Sie, dass ich das Thema, welches ich zum Vor¬ 
trage bestimmt hatte, nämlich über Kohlenoxyd-Vergiftung, etwas ändere und 
es dahin präcisire: „eine Kohlenoxyd-Vergiftung“. Ich glaube nämlich, dass es 
besser ist, einen Einzelfall zu erörtern als ein allgemeines, theoretisches Thema, 
über welches Sie ja in den Büchern hinreichenden Aufschluss finden. Ich will 
also einen speciellen Fall Ihrer gütigen Beurtheilung unterbreiten. 

Von einer Lebensversicherungs-Gesellschaft gingen mir die Acten dieses 
interessanten Falles mit der Bitte um Abgabe eines Gutachtens darüber zu, ob 
Mord und Selbstmord oder Verunglückung vorliege, eine Frage, welche am 
schwierigsten bei der Vergiftung durch Kohlenoxyd zu entscheiden ist und nur 
durch die begleitenden Umstände eventuell entschieden werden kann. 

Der Kaufmann H. in F. war mit zwei Policen in Höhe von 30000 Mark bei 
der genannten Gesellschaft versichert. 

Er wurde an einem Februartage Vormittags gegen 8 Uhr todt aufgefunden, 


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Erster Sitzungstag. 25. September 1885. 189 

und zwar mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, deren ältestes 12 Jahre 
alt war. 

Während die beiden Kinder todt waren, lebte die Frau noch, war aber be¬ 
wusstlos und blieb es bis zu ihrem am anderen Tage erfolgenden Tode. 

Das Zimmer war bei Eröffnung der unverschlossenen Thür stark mit Leucht¬ 
gas erfüllt. 

In dem Zimmer befand sich eine Gaslampe. An dieser war der Hahn, 
welcher zum Oeffnen und zum Verschliessen der Gasleitung diente, soweit aus 
seiner Hülse herausstehend, dass er nach unten gerichtet war. Die kleine 
Schraubenmutter, welche an dem Ende des Hahnes angebracht war und ihn 
festhielt, fehlte, mit ihr gleichzeitig die kleine Blechscbeibe, welche zwischen 
Schraubenmutter und Hülse sich befindet, so dass eben die Lockerung des Hahnes 
möglich war. Die Schraubenmutter wurde im Zimmer unter dem Bette gefunden, 
die kleine Blechscheibe wurde nicht gefunden. 

Es konnte also, da der Haupthahn nicht geschlossen war, das Gas frei in 
das Zimmer ausströmen. 

Diese Lampe hat H. Tags zuvor vom Corridor, wo sie bisher gebrannt hatte, 
in diesem Schlafzimmer anbringen lassen. 

Ein Grund zu dieser Translocirung ist aus dem ganzen Actenstück nicht 
ersichtlich, wohl aber ist durch zeugeneidliche Vernehmung des Gasarbeiters 
festgestellt, dass er mit der nöthigen Vorsicht bei dem Anmachen der Lampe 
verfahren ist, dass er namentlich die Schraubenmutter fest angezogen und dass 
er die Lampe abgeleuchtet und für „gasdicht“ befunden hat. 

Dieser Zeuge sagt ferner aus, dass H. „nicht von seiner Seite gewichen“ 
sei und sich genau über die Manipulationen inforrairt habe. 

H. sei dabei im Hemde gewesen, da er wegen angeblicher Krankheit zu 
Bett gelegen habe. 

Ueber diese Krankheit ist nichts constatirt. Ein Arzt ist nicht gerufen 
worden. Das Dienstmädchen sagt aus, dass von Krankheit überhaupt nicht die 
Rede gewesen, dass Besuch vielmehr damit abgewiesen worden sei, dass Herr H. 
nicht da sei; auch ist er zum Essen mit seiner Familie aus dem Bette aufgestanden. 

Es wurde au diesem Tage ein Wechsel präsectirt. 

Die Vermögensverhältnisse des H. waren überaus zerrüttete. 

Die beiden Policen hatte er an einen Kaufmann B. verpfändet. 

In dem Zimmer befanden sich 4 Betten: 2 Ehebetten, der Länge naoh an¬ 
einander stehend, 2 Betten für die beiden Kinder. 

In diesen beiden Betten liegend wurden beide Kinder, das jüngste schla¬ 
fend, das ältere lesend von dem Dienstmädchen am Abend vorher gesehen. 

Die 4 Personen wurden, wie in dem unten folgenden Gutachten beschrieben, 
gefunden. 

Dr. V., welcher an der Unglücksstätte eintraf und Alles noch unberührt 
fand, hat die Lage der Leichen angegeben. 

Er äussert sich in einem Gutachten dahin, dass er den Eindruck eines Un¬ 
glücksfalles gehabt habe. 

Auch Professor 0. in T. tritt dieser Ansicht in seinem Gutachten bei, 
kommt aber doch darauf hinaus, dass man ein „non liquet“ in Bezug auf die 
Frage, ob Verunglückung oder Selbstmord, ausspreohen müsse, da Verunglüokun- 

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gen in Leuchtgas sehr häufig. Selbstmordsfälle zu den allergrössten Seltenheiten 
gehören. 

Die beiden Polizeibeamten H. und B. hatten dagegen den Eindruck eines 
Unglücksfalles nicht erhalten können. 

Die gerichtliche Section der Leiche des H. ergab, wie die Obducenten sagen, 
die sehr ausgesprochenen Zeichen der Vergiftung durch Leuchtgas. Eine Spec- 
tralanalyse des Blutes ist aber nicht gemacht, und es wäre interessant, zu wissen, 
durch welchen Befund an der Leiche die Obducenten den Tod durch Leuchtgas 
diagnosticirten. Dieser Umstand ist es. der mich veranlasst, das Thema hier 
vorzubringen, welches ich als allgemein bekannt vorausgesetzt habe. 

B. hatte die Lebensversicherungs-Gesellschaft, welche die Zahlung der 
30000 Mark verweigerte, verklagt und obige Gutachten extrahirt. 

In erster Instanz war das Urtheil der Lebensversicherung günstig. Es wurde 
Selbstmord und Mord angenommen. 

Die zweite Instanz verurtheilte dagegen die Gesellschaft zur Zahlung, und 
ich will noch erwähnen, wie der Mandatar des B. noch anführte, dass die Frau 
event. der schuldige Theil sei. da sie am Abend noch Tetschen (Kuchenteich) 
eingerührt habe und ruhig in ihrem Botte liegend bewusstlos und schwer ath- 
mend, also noch lebend gefunden sei. 

Die dritte Instanz konnte sich von der Stichhaltigkeit der in zweiter Instanz 
geltend gemachten Gründe nicht überzeugen, vernichtete das Erkenntniss zweiter 
Instanz und wies die Sache an ein anderes Gericht zweiter Instanz zurück. 

In diese Zeit des Processes fällt nun das von mir abgegebene Gutachten, 

loh berichtete nach Kenntnisnahme der drei Richtersprüche und der Be¬ 
weisaufnahme-Verhandlungen sowie der Gutachten des Dr. V. und Professor 0., 
wie folgt: 

I. 

Dass der Tod dos H. in der That durch Leuchtgas, d. h. durch Kohlenoxyd 
erfolgt sei, ist nicht derartig festgestellt, als man obenhin glauben sollte. 

Es sagen zwar die Obducenten in ihrem Gutachten am Ende der am dritten 
Tage nach dem Tode vorgenommenen Section, „dass dieselbe die sehr ausge¬ 
sprochenen Zeichen der Vergiftung durch Leuchtgas ergeben habe“. 

Der Beweis hierfür ist aber in keiner Weise geliefert. 

Sollte es denn den Obducenten unbokannt gewesen sein, dass man den Tod 
in und durch Kohlenoxydgas, welcher mit dem Tode in und durch Leuchtgas 
identisch ist, da das dem Leuchtgas beigemengte Kohlenoxyd die tödtende Sub¬ 
stanz ist, durch die Spectralanalyse des Blutes ohne grosse Umstände sofort an 
der Leiche feststellen kann, und wäre es nicht geboten gewesen, auf die Weise 
den Tod nicht allein des H.. sondern auch der Kinder festzustellen, weil dadurch 
ein einwandsfreier Beweis für die supponirte Todesart geliefert worden wäre, 
und wäre es nicht event. bei dieser Versäumniss zweckmässig gewesen, den 
Chemiker mit der Untersuchung auf Kohlenoxydgas zu beauftragen? 

Die von den Obducenten angegebenen Zeichen, die hellrothe Färbung des 
Blutes und der Organe, können zwar durch eine Vergiftung durch Kohlenoxyd 
erzeugt sein, aber sie können auch einer Vergiftung durch Blausäure, auf welche 
wunderbarer Weise bei der chemischen Untersuchung nicht gerücksichtigt ist, 
ihre Entstehnng verdanken. Diese letztere erslreckte sich vielmehr nur auf Opium. 


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Morphium und Strychnin, und es ist doch in der That auffallend, dass in einer 
Stadt wie F. die Spectralanalyse unbekannt sein solle, diese einzige Methode, 
durch die man das Kohlenoxyd im Blute zweifelsfrei nachweisen kann. 

Freilich kann auch der Tod noch eintreten, nachdem das Kohlenoxyd durch 
die Athmung wieder entfernt ist, und es würde im vorliegenden Falle das Kohlen- 
oxyd im Blute der Frau nicht mehr wahrnehmbar gewesen sein, wenn auch der 
Tod durch Kohlenoxyd erfolgt ist. 

Ich führe dies nur an, nicht weil ich der Meinung bin, den Tod durch Kohlen¬ 
oxyd resp. Leuchtgas in Abrede zu stellen, sondern nur, weil ich glaube, meine 
Ausstellungen der wissenschaftlichen Kritik schuldig zu sein. 

Denn dass hier in der That ein Tod durch Leuchtgas, dem alle vier Per¬ 
sonen erlegen sind, Vorgelegen habe, das ist nicht zweifelhaft, und zwar des¬ 
halb nicht, 

weil alle vier Personen gleichzeitig todt, bez. sterbend aufgefunden worden sind, 
weil die Luft des Zimmers reichlich mit Gas imprägnirt gefunden worden ist, 
weil die Section eine andere Todesart nicht nachgewiesen hat (wobei ich be¬ 
merken will, dass ein Blausäure-Geruch bei der Section nirgends bemerkt 
worden ist). 

weil ausserdem die chemische Untersuchung eine Vergiftung durch Opium, 
Morphium oder Strychnin ausgeschlossen hat. 

Es ist der Tod durch Leuchtgas auch unter den Parteien nicht strittig und 
anzunehmen. 

II. 

Es fragt sich nur, ob in dem gegebenen Falle eine Verunglückung oder ein 
Selbstmord, bez. Mord vorliegt. 

Es sind von dem Kläger zwei ärztliche Gutachten, und zwar von Dr. V. in 
F. und dem Prof. 0. in T. beigebracht. 

Das Erstere neigt zu der Annahme eines Unglücksfalles, indem es ausführt, 
dass das Ausströmen des Gases durch ein unbeabsichtigtes Offenlassen des Gas¬ 
hahnes an der in dem betreffenden Schlafzimmer hängenden Gaslampe bewirkt sei. 

Das O.’sche Gutachten spricht sich weder für Selbsttödtung, noch Zufall 
mit Bestimmtheit aus, sondern votirt für ein „non liquet“. 

Prüfen wir die einzelnen, in den Gutachten angeführten Thatsachen. 

Zunächst die Situation der verunglückten Personen: 

a) Der H. lag leblos, nur mit einem kurzen Hemd bekleidet, neben seinem 
Bett auf dem Rücken auf dem Stubenboden. Seine beiden Füsse befanden 
sich noch bis zur Hälfte der Unterschenkel im Bett, und zwar so fest mit dem 
leinenen Betttuch verwickelt, dass sie nur dadurch im Bett (anscheinend! Ref.) 
zurückgehalten wurden. 

Sowohl das V.’sche als das O.’sche Gutachten hallen es für gezwungen, 
diese Situation mit einer beabsichtigten Oeffnung des Gaslampen-Hahnes in Ver¬ 
bindung zu bringen, weil diese Situation auf den Versuch einer Rettung deutet, 
die ja bei einem beabsichtigten Tode eine unsinnige Procedur gewesen wäre. 

Aber diese Argumentation ist vollkommen hinfällig. 

Denn die Erfahrung lehrt, dass sehr häufig Selbstmörder im Augenblicke 
des herannahenden Todes ihre Proceduren rückgängig zu machen bemüht sind; 
sich zu ertränken Beabsichtigende rufen um Hilfe und suchen sioh zu retten, sich 


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Erhängende greifen nach dem Strangwerkzeug u. s. w. Und gerade derartige, wie 
hier vorkommende Situationen finden sich nicht selten bei notorischen Unglücks¬ 
fällen — ein Beweis, dass der Rettungsversuch zu spät unternommen worden ist.’ 

Es kann mithin die Lage des H. durchaus nicht benutzt werden, um aus 
derselben ein Argument gegen einen Selbstmord zu machen. 

b) Die älteste Tochter lag nach dem Gutachten V.’s „im linken ausge¬ 
streckten Arm des H. auf dem Rücken“, und es giebt V. an, das3 er die vier 
fraglichen Personen unverändert daliegend vorgefunden habe. 

Frau G. sagt, dass die Tochter im linken Arm des Vaters mit dem Gesicht 
auf dessen Arm gelegen habe in einer Stellung, als ob sie mit demselben aus dem 
Belt herausgefallen sei. 

Die Dienstmagd L. sagt aus: „Die älteste Tochter befand sich in kniender 
Stellung neben ihrem Vater. Sie hatte ihr Gesicht auf ihrem einen Arm liegen, 
mit dem anderen hielt sie ihren Vater am Hals, möglicherweise auch unterhalb 
des Halses. Mit dem Umfassen wisse sie es aber nicht mehr genau. Eine Ver¬ 
änderung in der Lage des Kindes sei nicht vorgekommen. 

Ueber die Lage dieses Mädchens wissen wir also nichts Genaues. Entweder 
nun das Kind, welches nach Aussage der L. am Abend in ihrem Bette gelegen, 
ist ebenfalls in halb bewusstlosem Zustande in der Richtung nach dem Vater zu 
hingegangen und zusammengebrochen, oder sie hat mit dem Vater im Belt ge¬ 
legen und ist von demselben mit herausgerissen worden. 

Wäre die letztere Alternative die richtige, so würde ja damit ein sehr er¬ 
heblicher Beweis für den Selbstmord gewonnen sein. 

Unterstützt aber wird diese Annahme 

c) durch die Lage des zweiten Kindes. Dasselbe lag im Belt neben der 
sterbenden Mutter todt, von dieser umfasst. 

Dieses jüngere Kind wurde von der Dienstmagd Abends schlafend in seinem 
eignen Bette gesehen, es muss also im Laufe der Rächt in das Bett der Mutter 
gekommen sein, und es ist erlaubt, aus dieser Thatsache einen Rückschluss auf 
die Vorkommnisse zu machen, welche das ältere Kind betroffen. 

Somit beweist die Lage der Kinder nichts für einen Unglücksfall. Sie lässt 
aber nicht unerheblichen Vermuthungen für einen beabsichtigten Tod Raum. 

- d) Die Lage der noch lebenden Mutter ist für die eine oder die andere Al¬ 
ternative vollständig unerheblich. 

III. 

Es hat die Partei versucht, aus dem Umstand, dass Frau H. noch lebte, die 
Schlussfolgerung zu machen, dass sie die zuletzt Wachende gewesen sein müsse. 

Dies ist völlig irrig, wie meine vielfachen Erfahrungen, Kohlenoxyd-Vergif¬ 
tungen betreffend, beweisen. 

Der wirksame Bestandtheil des Leuchtgases ist aber das Kohlenoxyd, und 
es dürfen diese beiden Todesarten, d. h. die im Leuchtgas und die im Kohlen¬ 
oxyd, als identisch bezeichnet werden. 

Wir wissen weiter nichts, als dass in Bezug auf das Ueberleben Zufällig¬ 
keiten Platz greifen und dass wahrscheinlich die individuelle Disposition eine 
verschiedene ist. 

Rieht einmal das kann mit Bestimmtheit behauptet werden, wie es das V.’sche 
Gutachten thut, dass Kinder dem Kohlenoxyd leichter erliegen als Erwachsene. 


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Nur das glaube ich aussprechen zu können, dass die Wirkungen des Leucht¬ 
gases intensiver sind als die des Kohlendunstes, weil der Procentsatz des Kohlen¬ 
oxyds im Leuchtgas ein relativ hoher ist und weil dasselbe mit Druck nachströmt, 
während der Kohlendunst nachlässt mit der Verbrennung und dem Erlöschen der 
verbrennenden Kohle. 

IV. 

Wenn die Partei den Grundsatz aufstellt, dass das Leuchtgas nicht geeignet 
sei, eineu Menschen im Schlafe zu tödlen, weil im Gegensatz zu dem geruch¬ 
losen Kohlenoxyd der penetrante Geruch die Opfer leicht aufwecke und auch 
das O.’sche Gutachten hierauf anspielt, so ist diese Behauptung als vollständig 
irrig zurückzuweisen. 

Wenn der Geruch die Schlafenden erweckte, so würden ja Unglücksiälle 
durch Leuchtgas-Vergiftung nicht Vorkommen. 

Es kann also auch der Umstand, dass Frau H. nicht erwacht, sondern 
schlafend vergiftet sein müsse, nicht dagegen angeführt werden, dass sie unbe¬ 
wusst in eine Vergiftung mit Leuchtgas verfallen sei und nichts für ihre suppo- 
nirte Thäterschaft beweisen. 

V. 

Das Gutachten des Professor 0. macht ferner darauf aufmerksam, wie der 
Umstand gegen einen Selbstmord plaidire, dass Unglücksfälle mit Leuchtgas sehr 
häufig, Selbstmorde zu den allergrössten Seltenheiten gehörten. 

Selbst wenn dieser Satz richtig wäre, so würde er für den concreten Fall 
gar nichts beweisen. 

Aber diese Behauptung ist irrig. 

Unter einer recht grossen Anzahl von Kohlenoxyd-Vergiftungen, wovon z. B. 
auf das Jahr 1875 54 fallen und das Mittel der drei Jahre 1876—1878 34,4 
beträgt, welche allein in die Berliner Morgue eingeliefert wurden (die erhebliche 
Zahl der nicht eingelieferten nicht mitgerechnet), befanden sich nur einige wenige 
durch Leuchtgas erzeugte (die Zahl habe ich leider nicht notirt), wonach man 
nicht sagen kann, dass der Tod durch Leuchtgas ein sehr häufiger sei; dass nun 
unter diesen wenigen Fällen selbstverständlich wieder mir einige wenige von 
Selbstmord durch Leuchtgas sind, leuchtet ein. 

Eine genaue Statistik der Kohlenoxydgas-Vergiftungen, auch nur für die 
Stadt Berlin, bin ich anzuführen ausser Stande, da mich das Königlich statistische 
Bureau im Stich gelassen hat, mit der Anführung, dass der Tod durch Kohlen¬ 
oxydgas sich unter den Vergiftungen befinde und erst seit dem Jahre 1884 spe- 
ciellere Ausscheidungen desselben sich vorfänden, aber auch dieses Material zu 
wissenschaftlichen Zwecken nur mit Vorsicht zu benutzen sei. 

Das aber kann nicht gesagt werden, wie das O.’sche Gutachten behauptet, 
dass der Wiener Fall der einzig sichergestellte sei, da ich selbst mehrere Fälle 
anzuführen im Stande bin, namentlich einen, wo ein Meusch, der im Leuchtgas 
erstickt war, sich eine Düte über den Kopf gestülpt hatte. 

Es kann also aus dem bisher Erörterten mindestens der Schluss gezogen 
werden, dass die Befunde des Augenscheins und der Section sowie die den Arzt 
tangirendenNebenumstäude den Selbstmord nicht ausschliessen, einige sogar eher 
dafür als dagegen sprechen. 

Vierteljahrsaohr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 1 13 


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VI. 

Die Combination aller das Leben und Sterben begleitenden Umstände ist 
es, welche, abgesehen von den ärztlichen Daten, das Urtheil über einen vor¬ 
handenen Selbstmord oder Unglücksfall leitet. Diese aber sind nicht speciell 
technisch-ärztliche. 

Es liegt mir daher fern, über das Motiv, über das Verbringen der Gaslyra 
von demCorridor nach der Schlafstube, das Benehmen des H. bei der Befestigung 
der Lampe, seine angebliche Krankheit und die Loslösung der den Hahn haltenden 
Schraubenmutter mich zu äussern. 

Ich bin nur genöthigt, gegen Dr. V., welcher diesen letzteren Umstand be¬ 
rührt, darauf aufmerksam zu machen, dass, wie mich Versuche gelehrt haben, 
bei einem gauz lockeren, in einigen wenigen Umdrehungen bestehenden Auf¬ 
schrauben der Mutter, sp dass der Hahn noch locker hin- und horgeschoben 
werden kann, durch mehrmaliges Umdrehen desselben dieser nicht von selbst 
abfällt, dass also das Fehlen der Schraubenmutter und das Herausstehen des 
Hahnes aus seiner Verbindung bei Weitem eher für eine Absicht als für einen 
Zufall sprechen. 

Wenn ich das Ergebniss meiner Erwägungon incl. der begleitenden Um¬ 
stände zusammenfasse, so kann ich mich gutachtlich nur dahin äussern, 

dass keine Annahme mehr Wahrscheinlichkeit hat als die, dass die 
Leuchtgas-Vergiftung des H. und seiner Familie eine absichtlich herbei¬ 
geführte ist. — 

Uebor den Ausgang des Prozesses kann ich Ihnen noch nicht berichten. Es 
hat allerdings einTermin zweiter Instanz wieder stattgefundon. In demselben wurde 
aber Erhebung weiterer Beweismittel, doch nicht der ärztlichen, beschlossen, wel¬ 
che letzteren hiernach dem Gerichte gegenüber zum Abschluss gebracht erscheinen. 

D iscussion: 

Hr. Falk: Ich will mich selbstverständlich nicht über den speciellen Fall 
äussern, sondern nur an die einleitende Bemerkung über die Spectralanaly.se an¬ 
knüpfen, welche ich ja ebenfalls als bekannt voraussetzen kann. Der hohe wissen¬ 
schaftliche Werth der Probe ist unzweifelhaft, und es ist dieselbe in jedem ge¬ 
ordneten Institute ohne Weiteres anzustellen. In unserer Praxis ist dies anders. 
Wenn wir zur Section auf dem Lande schreiten, wissen wir zunächst nicht, worum 
es sich handelt, erst bei der Obduction erfahren wir es. Der Apparat ist nicht 
zur Hand, man dürfte kein Gutachten abgeben; selbst die Entnahme von Blut 
hat etwas Bedenken, da Luft hinzutreten könnte, und man wäre demnach in Ver¬ 
legenheit. Aber glücklicher Weise haben wir noch mehr Beweismittel, beson¬ 
ders die Natronprobe von Hoppe-Seyler, die weder im Vorgutachten in F., 
noch hier in Frage gebracht worden ist. Es ist dies eine scharfe Probe, auf deren 
Einzelheiten ich hier nicht näher einzugehen brauche. Sie lässt sich überall 
leicht machen, denn die officiuelle Natronlauge ist in den Apotheken vorräthig. 
und sobald Verdacht vorliegt, verschaffen wir sie uns und warten das Ergebniss 
der Probe ab. So ist man während der Section im Stande, zu untersuchen, ob 
die Annahme zutrifft oder nicht. In der Praxis wird sich also die Natron probe, 
da sie handlicher ist, mehr empfehlen und nicht hinter die Spectralanlyse zurück¬ 
zutreten brauchen. 


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Hr. Li man: Es ist ganz richtig, dass auf den Vorladungen nicht ange 
geben ist, worum es sich handelt. Es ist dies aber sehr leicht zu erreichen, wenn 
man d ie Gerichtsschreibereien darum ersucht, die Vermuthung über die Todesart 
auf den Vorladungen zu bemerken, wie dies bei mir jedesmal geschieht. Was 
nun die Schwierigkeit der Probe betrifft, so ist es, wenn man den Apparat nicht 
zur Stelle hat, sehr leicht, sich etwas Blut mit nach Hause zu nehmen und dort 
zu untersuchen. Ein Spectralapparat ist in Berlin für sehr billiges Geld bei 
Schmidt u. Hähnsch zu haben, und die Herren, welche in der Lage sind, 
sich ein Mikroskop zu kaufen, werden auch das Wenige, was ein Spectralapparat 
kostet, übrig haben Was die Sicherheit der Natronprobe betrifft, so haben wir 
früher, bevor die Spectralanalyse bekannt war, auch die Natronprobe gemacht, 
sind aber jetzt davon zurückgekommen, da sie lange nicht so beweiskräftig ist 
wie die Spectralanalyse. 

Hr. Falk: Es spricht hier Beobachtung gegen Beobachtung, indem wir mit 
der Natronprobe Versuche mit zunehmenden procentischen Abstufungen des 
Kohlenoxyds gemacht haben. — Im Uebrigen muss ich constatiren, dass ich seit 
Jahren versuche, die Vermuthungen auf den Vorladungen angegeben zu erhalten; 
ich habe dies trotzdem fast nie erlangen können. 

Hr. Rapmund: Letzteres ist auch schwer zu erreichen, weil es nur ganz 
bestimmt auf Veranlassung der Richter geschieht. Im Allgemeinen sollen die 
Richter es nicht sagen, damit wir vorurtheilsfrei an die Section gehen, und erst 
nachher soll der Richter aus den Acten den Verdacht, der erhoben wird, sagen. 
Viele Richter thun dies nicht, weil sie den praktischen Standpunkt haben, dass 
die Section leichter zu machen ist, wo eine gewisse Richtschnur vorhanden. 

Hr. Gleitsmann (Naumburg): Zu der angegebenen Probe mit Natron 
muss ich für meinen Theil zugestehen, dass ich Herrn Li man beistimmen möchte, 
da sie mir nicht prägnant genug erscheint. Auch das Mitnehmen eines Spectral- 
apparates ist nicht so schwierig; ich habe denselben mit auf das Land genommen 
und die Probe an Ort und Stelle ausgeführt. An Herrn Li man möchte ich noch eine 
Anfrage richten. Er machte gelegentlich die Bemerkung, dass er in allen Fällen, 
wo unzweifelhaft nach den Begleiterscheinungen eine Kohlenoxyd-Vergiftung statt¬ 
gefunden, er dies aus dem speclralanalytischen Befunde des Blutes auch gefun¬ 
den habe. Ich habe nun vor einigen Monaten einen Fall erlebt, wo Mann, Frau 
und Kind einer Kohlenoxyd-Vergiftung ausgesetzt worden. Mann und Kind kamen 
mit dem Leben davon, die Frau soll noch lebend mit schlagendem Herzen ge¬ 
funden worden sein, starb aber, bevor ich hiuzukam. Bei der Section war ich 
sehr enttäuscht, als die spectralanalytische Probe ein negatives Ergebniss lieferte: 
das Blut verhielt sich wie normales. Die begleitenden Umstände ergaben in¬ 
dessen. dass eine Kohlenoxyd-Vergiftung Vorgelegen. 

Ilr. Li man: Mir sind eine grosse Anzahl solcher Fälle vorgekommen, des¬ 
halb habe ich in meinem Gutachten angegeben: Tod in und durch Kohlenoxyd. 
Selbstverständlich wird durch die Athmung das Kohlenoxyd des Blutes wieder aus¬ 
getrieben, und man kann auch experimentell das Kohlenoxyd wieder aus dem Blute 
austreiben, sogar einfach dadurch, dass man hinreichend lange das Blut aus einem 
Reagensglase in das andere übergiesst, so dass die Luft mit dem Blute in Be¬ 
rührung kommt. Nun ist der früheste Termin, den ich beobachtet habe, wo das 


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Kohlenoxyd nicht mehr in dem Blute gefunden wurde, in einem Falle vorgekom¬ 
men, wo fest constatirt wurde, dass die Person noch 6 Stunden gelebt hatte. In 
allen Fällen, wo die Personen nach den Krankenhäusern geschafft wurden, finden 
ja die Aerzte derselben nicht mehr Kohlenoxyd im Blute, weil noch eine Ath- 
mung stattgefunden hat. Wenn also bei Personen, welche gleichzeitig einer 
Kohlenoxyd-Atmosphäre ausgesetzt gewesen sind, die eine gestorben ist, die 
andere noch lebend gefunden wurde, aber später starb, so ist bei letzterer kein 
Kohlenoxyd im Blute. Diese sind dann durch Kohlenoxyd gestorben, wie man 
durch Arsen sterben kann, wenn auch das Arsen aus dem Körper geschafft wor¬ 
den ist, eben an den Nachwirkungen des Giftes. 

Hr. Philipp (Kyritz): Die Kohlenoxyd-Vergiftung ist eben eine Vergiftung, 
und es ist doch bei einer forensischen Obduction immer nothwendig, aus der 
Leiche Organe und einen Theil Blut zu chemischer und anderweitiger Unter¬ 
suchung mitzunehmen. 

Hr. Li man: Da möchte ich Herrn Dr. Bischoff fragen, ob er es für er¬ 
forderlich hält, wenn das Blut unzweifelhaft die Erscheinungen der Kohlenoxyd- 
Vergiftung gezeigt hat, auch noch die übrigen Organe der Leiche einer chemi¬ 
schen Untersuchung zu unterziehen. 

Hr. Dr. Bischoff (Berlin): Die Frage ist in dieser Form ja zunächst zu ver¬ 
neinen; hat man im Blute Kohlenoxyd gefunden, so sind die übrigen Organe nicht 
weiter zu untersuchen. Die Zuverlässigkeit aber, die Herr Li man dem kleinen 
Taschen-Spectralapparate zuschreibt, kann ich demselben nicht nachrühmen. Ich 
habe häufig mit dem Browning’schen Taschenspectroscop keine Befunde mehr er¬ 
halten, während ich mit dem grossen Vierordl’schen Apparate noch Erfolge er¬ 
zielte, und ich wüsste nicht, ob man nicht mit diesem Vierordl’schen Apparate 
bei einer Kohlenoxyd-Vergiftung, welche erst 6 Stunden später mit dem Tode 
endigte, Kohlenoxyd nachweisen könnte. Das Kohlenoxyd zersetzt sich nicht so¬ 
fort. sondern die Zersetzung tritt erst nach und nach ein; ich vermochte, wenn 
Behörden von ausserhalb mich anlässlich Kohlenoxyd-Vergiftungen consultirt 
hatten, falls das Blut in Flaschen vor Luftzutritt möglichst geschützt war, 
selbst in faulendem Blute Kohlenoxyd-Hämoglobin nachzuweisen. — Die Natron¬ 
probe hat gegenüber dem spectroskopischen Befunde geringere Bedeutung. 

Hr. Mittenzweig (Duisburg): Ich kann, was Herr Bischoff gesagt hat, 
nur bestätigen. Ich habe vor acht Jahren, während meiner Beschäftigung im In¬ 
stitute dos Herrn Li man, Fälle gesehen und Versuche angestellt, wie lange sich 
in dem in Flaschen oder Reagensgläsern aufbewahrten Blute das Kohlenoxyd hielt, 
und habe Beweise erhalten, dass bis zu 4 Monaten das Kohlenoxyd im faulenden 
Bluto nachgewiesen werden kann. Es ist daher wichtig, das Blut immer mitzu¬ 
nehmen. 

Hr. Falk: Zu dem von Herrn Bischoff Vorgetragenen erwähne ich nur, 
dass meine Bemerkungen die kleineren, gebräuchlicheren, besonders die „Taschen“- 
Apparale im Sinne haben. Im Uebrigen führe ich noch an, dass noch Natronprobe 
sogar bei Kohlenoxyd-Intoxicationen, die in Genesung endeten, das Gift im Blute 
nachzuweisen im Stande war.- 


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III. Hr. Falk (Berlin): Ueber die Thätigkeit der Medicinalbeam- 
ton auf dem Gebiete des Irrenweseus. 

Ich habe den Gegenstand, den ich anzuregen mir gestatte, schon seit längerer 
Zeit hier in unserem Kreise für besprechenswerth erachtet. Wenn ich ihn end¬ 
lich heute zur Sprache bringe, so bemerke ich vorweg, dass ich mir die Thätig¬ 
keit der Medicinalbeamten auf dem Gebiete des Irrenwesens als eine wesentlich 
controlirende, überwachende vorstelle. Dass das Irrenwesen und besonders das 
Irrenanstaltswesen einer Ueberwachung bedarf, erscheint selbstverständlich, na¬ 
mentlich auch den nicht-medicinisch gebildeten Laien.; dennoch habe ich in der 
Literatur, welche sich mit sanitätspolizeilichen Dingen befasst, abgesehen von 
einigen im Druck vorliegenden schätzenswerthen Examen-Arbeiten, dem Gegen¬ 
stände nicht sehr eingehende Aufmerksamkeit zugewandt gefunden. Irrenärzte 
haben sich besonders auf Congressen mehrfach mit dieser Frage beschäftigt und 
auch die Nothwendigkeit ständiger Ueberwachung im Princip zugestanden. Aber 
es leuchtet immer hierbei das Bestreben hervor, durch diese Ueberwachung mög¬ 
lichst wenig genirt zu werden. Die Einen meinen vielleicht, dass es ginge, wenn 
etwa eine neue Beamten-Kategorie, z. B. Inspectoren des Irrenwesens, geschaffen 
werde, Andere erwarten das Heil wohl von einem Irrengesetz. Ich aber hege die 
Ansicht, dass ein Irrengesetz nicht nothwendig ist, denn wichtige rechtliche Ver¬ 
hältnisse der Irren sind in den neuen Reichs- und Landes-Justizgesetzen geordnet, 
das Uebrige gebt einfach im Rahmen von Verordnungen zu regeln. 

Zur Ueberwachung sind neu zu creirende Beamte nicht nötbig, das vorhan¬ 
dene Beamten-Material reicht vollständig aus, und zwar denke ich mir, dass das 
Schwergewicht in die Kreis-Medicinalinstanz fallen solle. 

Das Irrenanstaltswesen hat, wie gesagt, eine Ueberwachung nöthig; es 
herrscht unverkennbar im Kreise der Bevölkerung ein Misstrauen in zwei Rich¬ 
tungen: man fragt zunächst, ob die Möglichkeit recht verhütet ist, dass etwa 
auch Gesunde in die Irrenanstalt aufgenommen werden. Dies Misstrauen ist so 
stark, dass mir einst ein intelligenter höherer Verwaltungsbeamler aussprach, 
das Privatanstaltswesen müsse ganz aufgehoben, dem Zuge der Zeit folgend, ver¬ 
staatlicht werden. Wir hegen diese Ansicht zwar nicht, wir wissen, dass die öffent¬ 
lichen Anstalten ohnehin genug zu thun haben und ihr Material nicht bewältigen 
können, und wissen, dass gerade die kleineren Privatanstalten für viele Kranke, 
namentlich aus besseren Ständen, ganz besonders am Platze sind. Nach anderer 
Richtung ist die Besorgniss verbreitet, dass die Kranken in denPrivat-Irrenanstalten 
gewissermassen als Vermögens-Objecte angesehen werden, an denen man sich be¬ 
reichert, zumal da sie ihre Klagen nicht Vorbringen können. Es sind nun bei dieser 
Frage eine Reihe verschiedenartiger Interessen mit einander in Versöhnung zu 
bringen: in erster Linie das der Kranken, welche möglichst bald und in frühen 
Stadien zum Zwecke der Heilung einer solchen Anstalt zugeführt werden sollen. 
Dann kommt das Interesse der Gesammtheit, welches dahin geht, dass nicht ein 
Gesunder in die Anstalt komme; endlich auch die Rücksicht auf die Anstalls¬ 
besitzer, welche an ihr Unternehmen geistiges und finanzielles Capital gesetzt 
haben und nicht unnöthigen Belästigungen ausgesetzt werden wollen und sollen. 

Man spricht, dass in Preussen Alles stark reglementirt sei und dass ein 
uniformerZug auch durch die Bestimmungen des Sanitätswesens gehe; in Betreff des 


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Irren weseus kann man dies nun nicht behaupten, da den Mittel-Instanzen hier 
grosse Latitude gelassen ist; in Verwaltungsgebieten, welche dicht bei einander 
liegen, bestehen die verschiedenartigsten Bestimmungen, hier rigorose, da leichte. 
Dadurch kann es Vorkommen, dass eine Anstalt, welche sonst eine gute Bürg¬ 
schaft für Pflege und Behandlung giebt, unlieber aufgesucht wird, weil die Con- 
trole, namentlich die Formalitäten der Aufnahme, dort complicirter sind. Deshalb 
ist es wünschenswert!), dass allgemeinere Bestimmungen getroffen werden, da¬ 
mit durchweg die verschiedenen Interessen mit einander in Ausgleich gebracht 
werden. 

Es fragt sich nun zunächst, wie bei der Errichtung einer neuen Irrenan¬ 
stalt vorzugehen ist. Wenn eine Irrenanstalt errichtet wird, so ist durch die Ge¬ 
werbeordnung bestimmt, dass eine Concession von der höheren Verwaltungsbe¬ 
hörde nöihig; es kann dieselbe verweigert werden, wenn Thatsachen, welche die 
Zuverlässigkeit der Unternehmer in Frage stellen, vorliegen. Auch ist mit Recht 
nicht festgesetzt, dass man Arzt zu sein braucht, um die Concession für eine An¬ 
stalt zu bekommen; eine ganze Reihe von kranken und siechen Irren sind ganz gut 
in kleinen Anstalten untergebracht, die auch von Damen geleitet sein können. 

Ferner ist durch eine Novelle zur Gewerbeordnung gegeben, dass die Con¬ 
cession an gewisse, im sanitätspolizeilichen Sinne aufzustellende Bedingungen ge¬ 
knüpft werde; generelle Bestimmungen existiren über solche Bedingungen nicht. 
Im speciellen Falle werden hier immer eine ganze Reihe von Punkten in Frage kom¬ 
men, nur gewisse Minima brauchen allgemein festgesetzt zu werden. Im Wesent¬ 
lichen handelt es sich darum, dass der Kranke einen bestimmten kubischen Luft¬ 
gehalt vorfinde, dass die Räume eine Reinigung leicht gestatten, dass die Fuss- 
böden geölt oder parkettirt, die Wände gestrichen oder tapezirt, dass Isolirräume 
vorhanden, dass bei Kranken beiderlei Geschlechts die Räumlichkeiten, sowie das 
Wartepersonal vollständig getrennt seien, dass Vorrichtungen gegen Unglücksfälle, 
Räume für Leichen vorhanden u. s. w. Ist der Anstaltsbesitzer nicht Arzt, so 
sollte, falls nicht unsere allgemeinen gesetzlichen Bestimmungeu über Ausübung 
der Heilkunde dieser Forderung entgegenstehon, ein fester Contract mit einem 
approbirten Arzte vorliegen, welcher die Behandlung übernimmt. 

Es ist nun in manchen Bezirken beliebt, dass, wenn der Besitzer nicht 
Arzt, die Anstalt nur für Unheilbare sein soll. Dieser Unterschied muss forlfallen, 
denn wenn es auch sicherlich unzählige Fälle giebt. in denen man nicht blos in 
Betreff der Heilung, sondern sogar der Lebenserhaltung jede Hoffnung aufgeben 
muss, so lässt sich eine solche Prognose keineswegs immer mit Sicherheit anfäng¬ 
lich stellen; die Natur hat uns hier oft merkwürdige Bilder vorgeführt, und es 
mehren sich die Fälle auch in der Literatur, in denen anscheinend ganz unheil¬ 
bare Geisteskranke doch noch curirt oder wenigstens in einer Art gebessert wur¬ 
den, welche man geradezu als Heilung bezeichnen darf. — 

Es ist selbstverständlich, dass der Medicinalbeamte als solcher die Anstalt 
zu begutachten hat und sie nicht eher dem Betriebe zu übergeben ist, als bis die¬ 
selbe in allen ihren Einrichtungen durchaus vorschriftsmässig befunden worden. 
Dieser Theil der controlirenden Tbätigkeit vor der Eröffnung mnss sich sowohl 
auf Privat-, wie auf öffentliche Anstalten erstrecken, es würde dann manche 
Ueb^rfüllung in bestehenden öffentlichen Anstalten ihr Ende erreichen. — Die 
Genehmigung zur VergrÖsserung bestehender Anstalten, zu An- oder Umbauten 


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Erster Sitzungslag. 25. September 1885. 199 

in ihnen könnte füglich nur der Kreis-, bez. Kreis-Medicinal-Instanz Vorbe¬ 
halten sein. — 

Wie soll nun die Aufnahme in Irrenanstalten geregelt and wie soll es be¬ 
sonders verhütet werden, dass ein Gesunder in die Anstalt komme? 

Die Fälle, welche bisher als Belag für solches Vorkommniss vorgebracht 
worden sind, haben vor einer ernsten wissenschaftlichen Kritik nicht bestehen 
können, aber die Möglichkeit kann nicht in Abrede gestellt werden, auch ohne 
dass ein unedles Motiv bei den Anstaltsbesitzern vorzuliegen braucht. Nach 
populärer Empfindung sollen ja Irrenärzte mit der Diagnose «geisteskrank“ 
mitunter zu schnell fertig sein. 

Jene Möglichkeit muss nun fern gehalten werden. Bei den Privatanstalten 
sind jetzt die Bestimmungen über die Aufnahmen sehr verschieden, aber man be¬ 
hauptet mehrfach, dass es im Allgemeinen in Preussen leicht sei, in eine 
(Privat-) Irrenanstalt übergeführt zu werden. 

Bald ist jetzt das Zeugniss eines Medicinalbeamten und eines practischen 
Arztes nöthig, aber in anderen Bezirken das zweier praktischer Aerzte, in noch 
anderen das Attest eines beliebigen Arztes. 

Ich sehe nun aber einen Widerspruch: Wenn bei verhaltnissmässig gering¬ 
fügigeren Dingon das Attest eines Medicinalbeamten für obligatorisch gilt, z. B. 
bei Beurlaubung und Pensionirung gewisser Beamten, wie ist es dann zu billigen, 
dass ein Zeugniss, welches einen so schweren Eingriff in das Recht eines Menschen 
ermöglicht, den Verlust seiner Freiheit nach sich zieht, von jedem Arzte ausge¬ 
stellt werden darf, auch von einem, der auf diesem Gebiete gar keine genügende 
Erfahrung besitzt. Es sind auch thatsächiich diese Atteste oft nach Form und 
Inhalt recht dürftig, selbst wenn sie von höchst ehrenwerthen und auf anderen 
Gebieten ärztlichen Wissens als sehr tüchtig geltenden Aerzten herrühren. 

Um es kurz zu sagen, erachte ich für die Aufnahme in eine Privat-Irren¬ 
anstalt die Attestirung eines Medicinalbeamten für durchaus erforderlich; ein 
Attest eines practischen Arztes daneben halte ich nicht für nothwendig. Ein 
solches wird auch oft nicht zu beschaffen sein, indem kein Arzt sich mit dem 
Krankheitsfall vorher zu beschäftigen hatte, es wird Zeit mit der Beschaffung ver¬ 
loren gehen u. s. w. 

Was soll nun attestirt werden? 

Ich denke nicht, dass es dabei gerade auf die Gemeingefährlichkeit der 
Kranken ankomme. Wenn man sich nicht auf den Standpunkt stellt, welchen 
etliche Irrenärzte geäussert haben, dass eben jeder Geisteskranke gemeingefähr¬ 
lich sei, so müsste bei Festhaltung an der Forderung der Gemeingofährlichkeit 
mancher Kranke, für welchon die Anstalt der geeignetste Ort ist, von ihr fern- 
bleiben. Es genügt aber, dass das Attest zu denSchlüssen komme: der Betreffende 
ist geisteskrank und seine Aufnahme in die Irrenanstalt nothwendig oder gerecht¬ 
fertigt oder wünschenswerth. — Dass das Attest vor der Aufnahme schon vor¬ 
liege, erachte ich keineswegs für benöthigt. Oft ist es schwer, die Kranken zu be¬ 
wegen, zu dem ihm fremden Medicinalbeamten zu gehen oder ihm bei sich Rede zu 
stehen. List oder Gewalt werden oft besser dazu benutzt, einen Kranken gleich in 
die Anstalt zu bringen. Dem sie ausserhalb der Anstalt aufsuchenden oder von 
ihm aufgesucbten Medicinalbeamten können Unannehmlichkeiten erwachsen. Es 
genügt meines Erachtens vollkommen, dass, wenn ein Kranker in die Anstalt ge- 

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Preussischer Medicinalbeamten-Verein. 


kommen, der Anst&ltsbesitzer verpflichtet sei, dem Medicinalbeamten ungesäumt 
Kenntniss zu geben, damit sich dieser, falls noch kein Kreisphysikats-Attest vor¬ 
liegt, alsbald über den Zustand des Kranken durch den Augenschein informire. 
Auch von der Entlassung des Kranken aus der Anstalt ist dem Medicinalbeamten 
sogleich Mittheilung zu machen. Es sind nun ausserdem vielfach noch Meldungen 
an die Ortsbehörde, bez. polizeiliche Genehmigung zur Aufnahme vorgeschrieben. 
Jch halte aber kaum für nothwendig, vielleicht auch nicht für wünschenswerth, 
noch grössere Kreise damit bekannt zu machen, deshalb auch nicht für erforder¬ 
lich , dass alle Vierteljahre namentliche Angaben der Aufgenommenen und Ent¬ 
lassenen an die Ober-Behörden abgehen. Die Discretion, auf welche oft Kranke 
und Angehörige grossen Werth legen, wird ohne Noth getrübt. Es scheint mir 
genügend, wenn das Orts-Meldeamt von der Kranken-Bewegung Kenntniss hat. 

An öffentlichen Irrenanstalten verhält sich die Sache jetzt anders. Hier ist 
es gerade sehr schwer, einen Kranken in die Anstalt zu bringen, es verstreicht 
damit kostbare Zeit, und dann geschieht es meist ohne Mitwirkung eines Medici¬ 
nalbeamten. Wenn diese Platz greift, so ist es hier meist in der Weise, dass er 
einen grossen Fragebogen bekommt, dessen Rubriken er garnicht ausfüllen kann. 
Es liegt eher im Interesse des Kranken, wenn der Medicinalbeamte nur kurz eine 
Erklärung über die Krankheit und Nothwendigkeit der Aufnahme giebt. Wenn 
dann die Anstaltsdirection aus statistischen und wissenschaftlichen Gründen noch 
weitere Fragen beantwortet wissen will, so kann dies auch nach der Aufnahme 
geschehen. Immer jedoch sollte auch bei jener so folgenschweren Massnahme, der 
Ueberweisung an eine öffentliche Irrenanstalt, das Urtheil eines Medioinalbeamten 
gehört und massgebend werden. — 

Wie ist nun zu verhüten, dass ein Genesener über Gebühr gegen seinen 
Willen in der Anstalt zurückbehalten werde? 

In manchen Verwaltungsgebieten ist vorgeschrieben, dass in regelmässigen 
Zwischenräumen der Polizei Nachricht gegeben wird, wie sich der Kranke be¬ 
findet. Dies ist aber noch keine Bürgschaft, und wenn wirklich solche regelmässigen 
Berichte obligatorisch werden oder bleiben sollen, dann ist der Anstaltsbesitzer 
nicht competent; auch dies muss vielmehr durch den Medicinalbeamten geschehen. 
Noch in anderer Weise sucht die Gesetzgebung jenes zu verhüten. indem vorge- 
geschrieben ist, dass innerhalb 24 Stunden nach der Aufnahme die Staatsanwalt¬ 
schaft zu benachrichtigen, woran sich das Entmündigungsverfahren anschliessen 
soll. Es scheint aber manchmal in etwas säumiger Art von diesem Verfahren, 
wegen des Kostenpunktes, Gebrauch gemacht zu werden, besonders wenn es sich 
um Unbemittelte handelt. Die Frage ist indessen zu wichtig, als dass der Kosten¬ 
punkt dabei nachdrücklich mitsprechen sollte. Das Entmündigungsverfahren hat 
übrigens gewisse Verbesserungen erhalten. Bis zum 1. October 1879 bestand 
das Institut der fiskalischen Curatoren, meist Rechtsanwälten, welche als Pfleger 
bestellt waren und die Aufgabe hatten, Sachverständige vorzuschlagen. Sie 
wählten Aerzte, welche ihnen bekannt waren, ohne Rücksicht auf ihre wissen¬ 
schaftliche Befähigung; speciell die Medicinalbeamten, die technisch dafür beson¬ 
ders vorgebildet waren, traten dabei nicht in den Vordergrund. Jetzt müssen 
nicht zwei, sondern ein oder mehre Sachverständige zugezogen werden, und es 
kommt jetzt der Medicinalbeamte viel mehr als früher in Function. Indessen ist es 
auch jetzt nicht ausgeschlossen, dass der Richter ihm persönlich nahe stehende 


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Erster Sitzungslag. 25. September 1885. 


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Aerzte sogar als alleinige Sachverständige vorladet und daraus missliche Gon¬ 
sequenzen erwachsen. Diese so wichtige Thätigkeit muss ausschliesslich den 
Medicinalbeamten zufallen, der Art dass, besonders wenn nur ein Sachverständiger 
hinzugezogen wird, es jedenfalls der Medicinalbeamte ist. Der Wortlaut des 
Gesetzes scheint freilich dagegen zu sprechen, aber auch von Obductionen heisst 
es, dass dieselben von einem Gerichtsarzt und einem approbirten Arzte vorzu¬ 
nehmen seien, und dennoch hat unsere Landes-Justizverwaltung ermahnt, dass 
nicht ohne zwingende Gründe von den Medicinalbeamten abzusehen sei; die 
factischen Consequenzen sind aber bei dem Entmündigungsverfahren, wo es sich 
um den bürgerlichen Tod eines Individuums handeln kann, oft eben so wichtige 
wie nach Obductions-Terminen. Es müssen ja auch die Entmündigungs-Gut¬ 
achten abschriftlich zur Revision und Superrevision den technischen Oberbehörden 
zugehen; es soll dadurch möglich werden, den Sachverständigen, eventuell wenig¬ 
stens nachträgliche, Correctur zu Theil werden zu lassen und auf sie für künftig 
eine Art von Pression auszuüben, aber dies ist nur möglich, wenn eine gewisse 
Disciplin da ist, wie bei den Medicinalbeamten, denn auf die Monita wird sonst von 
anderen Aerzten, wie mir bekannt, nicht immer die erwünschte Rücksicht genommen. 

Ist dann Jemand entmündigt, so ist es in erster Linie Aufgabe der Pfleger, 
sich fortlaufend von dem Befinden der Betreffenden zu unterrichten und. wenn 
Heilung eintritt, die Entmündigung einzuleiten, wozu sie auch meist sehr bereit sind. 
Zur weiteren Verhütung etwaiger Uebelstände müssen ständige Revisionen statt¬ 
finden, welche gleichzeitig auf die Pflege und Abwartung der Kranken zu achten 
haben. Solche Revisionen sind allerdings in einzelnen Bezirken vorgeschrieben, 
doch ist der Turnus dieser Revisionen verschieden. So wollte eine Verwaltungs¬ 
behörde ‘^jährliche Revisionen der Privatanstalten haben; das ist vielleicht zuviel. 
Aus äusseren Gründen erscheint mir zweimal im Jahre eine solche nothwendig, eine 
in der milderen, eine in der rauheren Jahreszeit. Diese Revisionen sollen, wie er¬ 
wähnt, mit in erster Reihe die leibliche und geistige Pflege, Wartung, Kleidung, 
Ernährung der Kranken controliren, nicht in erster Linie sich darum drehen, ob etwa 
ein Gesunder in der Anstalt festgehalten wird. Besondere Aufmerksamkeit würde 
auch die Durchsicht der Registratur beanspruchen, um zu sehen, ob in Betreff 
eines jeden Kranken die vorgeschriebenen Formalitäten erfüllt sind. Mir ist es 
noch nie gelungen, einen Gesunden in einer Irrenanstalt untergebracht zu finden, 
aber in letztangedeuteten Beziehungen habe ich manchesMonirenswerthe gefunden. 

Die öffentlichen Irrenanstalten müssen ebenfalls revidirt werden. Auch gegen 
öffentliche Anstalten sind Anklagen erhoben worden und es ist die Mehrzahl der 
Institute nicht staatlich, sondern von Selbst-Verwaltungsbehörden geleitet. Hier 
muss jährlich wenigstens einmalige Revision stattfinden. 

Was ich kurz skizzirt habe, bezieht sich vorzugsweise auf administrative und 
Civiljustiz-Verhältnisse, um kurz auch die criminalrechtlichen zu berühren, so 
kommt hier vor allem die Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit in Frage. 
Welche üblen Folgen hier eintreten können, wenn beliebige practische Aerzte mit 
der Beantwortung dieser Frage betraut werden, lehrt die Erfahrung satis superque. 
Nur der Medicinalbeamte dürfte, nach meiner Ansicht, sich zu dieser Materie 
äussern. 

Auch in den Fällen, wo Jemand wegen Geisteskrankheit nach § 51 gericht¬ 
lich freigesprochen und ausser Verfolgung gesetzt wird, müsste dem zuständigen 


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Medicinalbeamlen Nachricht gegeben und die massgebenden Gründe müssten be¬ 
zeichnet werden, um für etwaige spätere Vorfälle die anamnestischen Daten 
rechtzeitig zur Verfügung zu stellen. 

Vielleicht wird in der Discussion die von mir gegebene Skizze weiter aus- 
zufiihren sein. Es eröffnet sich dem Medicinalbeamten auf diesem Gebiete ein 
weites Feld. Man könnte dem entgegen halten, dass eine reiche psychiatrische Vor¬ 
bildung dafür erforderlich ist. Aber unsere Unterrichtsverwaltung widmet diesem 
Lehrgegenstande und der gerichtlichen Medicin wachsende Theilnahme. Es dürfte 
dann bei Besetzung der Medicinalämter auf besonders vorgebildete Canditaten 
Rücksicht genommen, auch die Anforderung in der Prüfung vertieft werden. — 


Discussion: 


llr. Wallichs: Ich bin in der angenehmen Lage, meine Uebereinstimmung 
mit fast jedem einzelnen Punkte des Vortrags kuud zu geben. Es sprechen 
sämmlliche Gründe, welche er anführt, dafür, dass in diesen Dingen der Ein¬ 
fluss des Medicinalbeamten nicht zu entbehren ist. In Betreff einiger Punkte will 
ich zunächst bemerken, dass es in Rücksicht auf die in den einzelnen Provinzen 
geltenden, von einander abweichenden Bestimmungen wünschenswerth erscheint, 
dass eine gesetzliche Regelung gewisser allgemeiner Gesichtspunkte noch in stär¬ 
kerem Masse stattfinde, als dies bisher der Fall ist, so die Concessionirung der 
Anstalt, die Aufnahme der Kranken etc. In meiner Heimath ist es Bedingung, 
dass ein approbirter Arzt als regelmässiger Berathcr der Anstalt angestellt ist, und 
es ist dies aus allgemeinen sanitätspolizeilichen Gründen durchweg zu verlangen. 

In Betreff der Aufnahme stimme ich mit dem Herrn Vortragenden dahin 
überein, wie es wünschenswerth, dass der Medicinalbeamte dabei thätig sei, 
wenn auch nicht in dem ersten Stadium, doch im weiteren Verlaufe. Es ist nicht 
ausgeschlossen, dass ein Gesunder aufgenommen wird, wenn es auch nach unseren 
Einrichtungen nicht denkbar ist, dass er auf die Dauer darin bleibt. So wurde in 
die Irronstation des städtischen Krankenhauses meines Wohnorts auf Attest eines 
Arztes, welcher die Kranke garnicht gesehen hatte, eine Ehefrau als geisteskrank 
aufgenommen, die einen Streit mit ihrem Manne gehabt hatte. Nicht alle Privat- 
Aerzte sind in ihrer psychiatrischen Erfahrung und sonstigen Qualification gleich 
zuverlässig, die Medicinalbeamten dagegen unterstehen einer staatlichen Disciplin 
und haben ein schärferes Gefühl der Verantwortlichkeit. — 

Noch ein paar Worte über die Art der Entmündigung. 

Ich bin der Ansicht, dass nach Lage uuserer Gesetzgebung bei diesem Ver¬ 
fahren jedesmal der betr. Medicinalbeamte zugegen sein muss. Dies hängt aller¬ 
dings von der Interpretation ab; aber im Gesetz steht ausdrücklich, dass als 
Sachverständige, besonders für Criminalfälle nur solche verwandt werden sollen, 
die für diese bestimmte Art der Thätigkeit öffentlich angestellt oder vereidigt 
siud. Es können davon Ausnahmen stattfinden, im Gesetz sind die Fälle genannt, 
wo eine derartige Ausschliessung stattfindet, persönliches Interesse, grosse Ent¬ 
fernung vom Wohnort etc. An dem Entmündigungs-Verfahren selber können meines 
Erachtens noch manche Ausstellungen gemacht werden, aber das sind juristische 
Fragen, und ich vermeide es. darauf einzugehen. Ich habe neuerdings ganz merk¬ 
würdige Erfahrungen über die Art gemacht, in welcher Entmündigungen aufge¬ 
hoben werden. Ich werde an einem anderen Orte über diesen heiklen Gegen¬ 
stand ausführlich erzählen. 


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ErsterSitzungstag. 25. September 1885. 


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Hr. Kanzow: Da der Herr Redner seine Erfahrungen über den besprochenen 
Gegenstand wohl grossentheils in dem mit Privat Irrenanstalten reichlich ver¬ 
sehenen Verwaltungsbezirke gesammelt hat, über welchen sich auch meine amt¬ 
liche Wirksamkeit erstreckt, so möchte ich mir gestatten, mit wenigen Worten die 
wesentlichsten Grundsätze und Bestimmungen darzulegen, nach welchen die Auf¬ 
sicht über die Privat-Irronanstalten hier geübt wird. Zunächst wird bei der Con- 
cessionirung dahin gesorgt, dass für die zu errichtonde Anstalt andere Zwecke 
als die Aufnahme und Behandlung geisteskranker Personen ausgeschlossen bleiben: 
es müssen Pläne vorgelegt werden, nach welchen gebaut, eingerichtet und der 
Betrieb geführt werden soll, es wird über die Zuverlässigkeit des Unternehmers 
amtliche Auskunft eingeholt und nach Prüfung dieser Nachweise die Concession 
— jetzt bekanntlich durch den Bezirksausschuss — ertheilt. Sodann beginnt 
alsbald die Wirksamkeit der Aufsichtsbehörde; sie hat zu prüfen, ob die fertig 
gestellte Anstalt dem Zwecke und den nothwendigen hygienischen Anforderungen 
völlig entsprechend eingerichtet ist. Dabei werden die für die Einrichtung von 
Krankenanstalten überhaupt zur Geltung zu bringenden Anforderungen gestellt, 
welche für den Regierungsbezirk Potsdam in einem eigenen Regulativ zusammen¬ 
gestellt sind, und es kommen ausserdem die zur Beaufsichtigung und Sicher¬ 
stellung der Pfleglinge erforderlichen besonderen Einrichtungen in Betracht. Erst 
wenn durch ein Gutachten des Physikus nachgewiesen, dass allen diesen Bestim¬ 
mungen und Anforderungen entsprochen ist. wird die Genehmigung zur Eröffnung 
der Anstalt ertheilt. — Hinsichtlich des Betriebes wird als wesentlich festgc- 
halten, ob die Anstalten als Heilanstalten oder lediglich als Pflegestätten unheil¬ 
bar geisteskranker Personen hingestellt werden. Für die ersteren besteht die Be¬ 
dingung. dass ein Arzt in der Anstalt seine Wohnung haben muss. Es sind be¬ 
kanntlich sehr ansehnliche derartige Anstalten im Regierungsbezirk Potsdam. 
Ausserdem aber giebt es hier in der Umgebung von Berlin eine Zahl meist 
kleinerer Anstalten, welche nur unheilbare Kranke aufnehmen dürfen und meisten- 
theils von Unternehmern angelegt sind, welche früher in Irrenanstalten als Pfleger 
oder Pflegerinnen beschäftigt gewesen sind. Neben anderen Pfleglingen werden 
denselben mehrentheils solche auch von der Berliner Gemeinde-Verwaltung über¬ 
wiesen, da das Bedürfniss der Unterbringung von Geisteskranken für die Stadt 
Berlin stetig zunimmt und die grosse Anstalt in Dalldorf nicht mehr ausreicht. 
Den Besitzern dieser Anstalten fehlt es im Allgemeinen nicht an Gewandtheit für 
die Verwaltung derselben und, da es für die Aufnahme der chronisch kranken 
Personen nicht darauf ankommen kann, ob dieselbe um wenige Tage früher oder 
später erfolgt, auch die Angehörigen solcher Kranken mit den Aufnahme-Formali¬ 
täten bereits vertraut zu sein pflegen, so ist die polizeiliche Genehmigung oder 
die Ueberweisung aus einer öffentlichen Anstalt oder der Nachweis der erfolgten 
Entmündigung für dieso Anstalten unbedingt vorgeschrieben. Es ist jedoch vor- 
gekommen, dass das Genehmigungs-Zeugniss für die Aufnahme notorisch schwach¬ 
sinniger Personen den Angehörigen des Kranken von der Polizeibehörde versagt 
worden ist, indem diese die Nothwendigkeit ihrer Mitwirkung bei der Unter¬ 
bringung geisleskranker Personen nur für die Fälle nachgewiesener Gemeinge¬ 
fährlichkeit anerkennen wollte. — Für die Irrenheilanstalt sind die gesetzlich 
ausnahmsweise zugelassenen, sogenannten provisorischen Aufnahmen, bei denen 
eine vorgängige Mitwirkung der Polizei- oder Gerichtsbehörde nicht stattfindet, 


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Preussischer Medicinalbeamten-Verein. 


fast zur Regel geworden, und es ist dieses meines Erachtens bei den jetzigen 
Einrichtungen der Irrenheilanstalten ebenso unbedenklich, wie es dem jetzigen 
Stande der Irrenheilkunde entspricht. Diese hat sich bekanntlich seit der Zeit, 
in welcher das Grundgesetz für die Aufnahme geisteskranker Personen in Irren¬ 
anstalten, die Allerh. Ordre vom 5. April 1804, erlassen worden ist, wesentlich 
anders gestaltet und, während die Irrenanstalten damals noch gefürchtete Stätten 
der Qual und des Entsetzens waren, sind sie jetzt willkommene Zufluchtsstätten, 
welche schon bei dem Auftreten der ersten Zeichen geistiger Erkrankung gern 
aufgesucht werden; wohlhabende Familien pflegen die Privatanstalten den öffent¬ 
lichen Instituten vorzuziehen. Mit den dabei zu berücksichtigenden gesetzlichen 
Anforderungen sind die betroffenen Familien meistentheils nicht von vornherein 
bekannt. Es liegt in der That nicht sehr nahe, dass die Polizei bei der Unter¬ 
bringung eines Kranken in eine gut renommirte Heilanstalt mitzusprechen haben 
soll, ferner tritt die Manie oft genug so unvorhergesehen auf, dass es nicht als¬ 
bald möglich ist, ein amtsärztliches Attest zu beschaffen, zumal nicht überall ein 
Medicinalbeamter sofort zur Stelle ist; ein ärztlicher Ausweis aber entspricht den 
allgemeinen Begriffen von der Sachlage und so kommt denn der Kranke gewöhn¬ 
lich mit einem hausärztlichen Atteste in der Anstalt an. In der Regel würde es 
sich weder vom humanen noch vom wissenschaftlichen Standpunkte rechtfertigen 
lassen, ihn zurückzuweisen, und die vorläufige Aufnahme, welohe demnächst durch 
die unerlässliche Anzeige an die zuständige Gerichtsbehörde zur endgiltigen wird, 
ist demgemäss eine schätzenswerthe Bestimmung der erwähnten Verordnung. Die 
Anzeige an die Staatsanwaltschaft muss in allen Fällen auch bei Aufnahmen 
in die Pflegeanstalt unverzüglich erfolgen und es haben die Anstaltsdirigenten 
sich darüber von der Staatsanwaltschaft eine Bescheinigung zu erbitten; ausser¬ 
dem aber haben dieselben noch Anzeigen an die Ortspolizeibehörde und an den 
Kreisphysikus zu erstatten. Von Letzterem wird erwartet, dass er die bezüg¬ 
lichen Verhältnisse genau prüft, sich nach Ermessen die betreffenden Schrift¬ 
stücke einreichen lässt, hervortretende Bedenklichkeiten durch angemessene Nachfra¬ 
gen und Erörterungen erledigt, auch auf Grund der Anzeigen die Krankenbewegung 
in den Anstalten fortgesetzt controlirt, das Verbleiben der einzelnen Kranken in 
denselben beachtet und bei persönlicher Anwesenheit in den Anstalten von dem 
geistigen Verhalten der Kranken, soweit es erforderlich erscheint, Kenntniss 
nimmt. In der Sachkunde der Physiker wird eine Bürgschaft dafür gesehen, 
dass Letzteres mit der gebührenden Rücksichtnahme auf den psychopathischen 
Zustand und den Bildungsgrad der Kranken geschieht. Den Physikern der Kreise 
Niederbarnim und Teltow — nur in diesen beiden Kreisen des Potsdamer Re¬ 
gierungsbezirks bestehen Privat-Irrenanstalten — ist anheimgegeben, in jedem 
Vierteljahr einen Tag besonders zu der Inspection dieser Anstalten zu verwenden 
und die dadurch entstehenden Reisegebühren zur Bezahlung aus Staatsmitteln zu 
liquidiren; den Inhabern der Irrenanstalten aber wird schon bei der Aushändigung 
der Concession unter Anderem gesagt, dass dem Kreisphysikus, wie auch jedem 
anderen von dem Regierungs-Präsidenten beauftragten Medicinalbeamten, der Ein¬ 
tritt in die Anstalt jederzeit gestattet werden müsse. Dem Physikus dürfte mit 
diesen Einrichtungen die Möglichkeit einer eingehenden Controlirung der An¬ 
stalten ausreichend gesichert und auch dem in Laienkreisen nicht eben selten 


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Erster Sitzungslag. 25. September 1885. 


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gehegten Befürchtungen ungerechtfertigter Aufnahme and ungebührlichen Zu¬ 
rückhaltens von Krankon in diesen Anstalten damit so weit Rechnung getragen 
sein, wie sich solches durch allgemeine Anordnungen erreichen lässt. 

Hr. Rapmund: Was der Herr Vortragende hinsichtlich der Aufnahme 
über Thätigkeit und Betheiligung der Medicinalbeamten sagte, können wir nur 
unterschreiben. Ich stimme auch darin völlig bei, dass die Aufnahme von 
Geisteskranken in eine Privat-Irrenanstalt in Preussen jetzt so leicht ist. wie kaum 
in einem anderen Staate. Wir müssen die Forderung stellen, dass bei jedem in 
eine Privatanstalt aufgenommenen Kranken vorher oder nachträglich verfahren 
wird wie dies bei öffentlichen Anstalten nothwendig ist. Hier sind zwei Abthei¬ 
lungen zur Mitwirkung nöthig, die Verwaltungsbehörde und der Medicinalbeamte. 
Die Mitwirkung der ersteren erscheint mir für unsere eigene Sicherheit unbedingt 
nothwendig zur Beschaffung der Zeugenaussagen, eines Attestes vom Hausarzt, 
auf welchen Grundlagen wir nach genauer Untersuchung des betr. Kranken das 
Gutachten aufstellen. Wir müssen eben jederzeit bedenken, dass der Geistes¬ 
kranke, welcher in die Irrenanstalt kommt, auch in strafgerichtliche Untersuchung 
kommen kann, und ist jemand einmal in einer Irrenanstalt gewesen, so hängt 
ihm dies lange an, und dann sagt ein Sachverständiger, der Mann könne gar nicht 
verurtheilt werden, weil er in einer Irrenanstalt gewesen sei. Mit Rücksicht auf 
solche Möglichkeiten müssen wir bei der Aufnahme ausserordentlich vorsichtig 
sein. Ebenso müssen wir weniger auf die Aussagen der Angehörigen als auf 
die protokollarischen Ermittelungen, welche uns die Verwaltungsbehörde beschafft, 
geben. Eigentümliche Fälle aus meiner Erfahrung haben mich belehrt, wie vor¬ 
sichtig man gegenüber den Angaben der Angehörigen bei Aufnahme in Irren¬ 
anstalten sein muss, besonders im Hinblick darauf, dass der Betreffende später 
einmal in strafgerichtliche Untersuchung kommen kann, und ich rathe, sich bei 
der Aufnahme nur nach den protokollarischen Verhandlungen der Verwaltungs¬ 
behörden zu richten. 

In Betreff desZurückhaltens von Geisteskranken halte ich es für nothwendig, 
dass auch die öffentlichen Irrenanstalten von Medicinalbeamten eingehend unter¬ 
sucht werden. 

In den Privatanstalten ist es so theuer, dass die Angehörigen meist darauf 
drängen, die Kranken heraus zu haben. 

In öffentlichen Anstalten verfügt die Direction mit plein pouvoir, und die 
Angehörigen haben kaum Einfluss darauf. Hier muss der Medicinalbeamte ein- 
treten. 

Hr. Kirchhoff (Leer): Das Verfahren in meinem Bezirke ist folgendes: 
Wenn Jemand in eine öffentliche Irrenanstalt aufgenommen werden soll, so 
muss dies dem Landrath gemeldet werden. Dieser vernimmt die Angehörigen 
und protokollirt den Sachverhalt. Diese Papiere werden dem Medicinalbeamten 
zugesandt und dieser erstattet darauf das Gutachten. Es kann aber auch das 
Gutachten von zwei Aerzten, jedoch ohne dass diese wissen, wie die Sache sonst 
liegt, mit demselben Erfolg abgegeben werden. Vom Landrath geht dies Gut¬ 
achten an die Irrenanstalten und der Director entscheidet, ob dasselbe begründet 
ist oder nicht. Nimmt er den Kranken auf, so ist die Sacho erledigt. Zugleich 
macht der Landrath die Anzeige an den ersten Staatsanwalt des Gerichts, welcher 


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Preussischer Medicinalbeamten-Verein. 


dann die Erkundigung vornimmt nach vorheriger Befragung beim Medicinalbe- 
amten, ob der Mann disposilionsfähig ist oder nicht. — In Privatanstalten ist 
dies anders. Diese schicken kurzweg an die Leute Anfragen, was dem Kranken 
fehlt, und nehmen ihn einfach auf. Es werden diese Anstalten regelmässig von 
Regierungs-Medicinalbeamten untersucht, ebenso auch die Provinzial-Irrenan- 
stalten. — 

(Pause.) 

Hr. Falk: Zunächst die Bemerkung, dass vierteljährliche Revisionen der 
Privat-Irrenanstalten durch den Physicus wohl im ganzen Lande nicht oder nicht 
mehr stattfinden, natürlich vor allem der Kosten wegen. Es ist dann angedeutet 
worden, dass wenigstens für die vorläufige Aufnahme in die Privat-Irrenhäuser (ich 
trenne absichtlich nicht Heil- von Pflegeanstalt) das Attest eines beliebigen prak¬ 
tischen Arztes genügen könne, da es ja in der Hand des Kreisphysicus liege, falls 
ihm jenes Zeugniss nicht ausreichend erscheine, ein anderes zu verlangen oder 
sich bald selbst von dem Zustande des in die Anstalt Aufgenommenen zu unter¬ 
richten. Abgesehen davon, dass es schwor zu entscheiden wäre, auf wessen 
Kosten diese „Nach-Re vision“ Seitens des Medicinalbeamten zu geschehen habe, so 
wird durch jene Massregel der Willkür des Physicus ein breites Thor geöffnet: 
woraus soll er denn immer von vornherein erschliessen, dass das ärztliche Attest 
ungenügend, da er doch den, über welchen es ausgestellt ist, zunächst nicht vor 
Augen hat? Deshalb bin ich nach wie vor dafür, dass ausnahmslos an erster 
Stelle der Medicinalbeamte das Aufnahme-Zeugniss auszustellen habe. Ebenso 
wiederhole ich, dass derselbe als der „geborene“ Sachverständige bei den Ent¬ 
mündigungen und Aufhebungen von Entmündigung zu gelten habe. Besonders 
widersinnig muss es erscheinen, wenn anstatt desselben, wie häufig allem 
Anschein nach wegen der Kostenverminderung, der Arzt der (privaten oder öffent¬ 
lichen) Irrenanstalt als Sachverständiger fungirt, wo es sich um die Entmündigung 
eines der Insassen seines Institutes handelt. Wenn auch die Entmündigung vor 
allem vermögensrechtliche Festsetzungen im Auge hat, so soll das gerichtliche 
Verfahren doch in gewissem Grade auch dazu dienen, festzustellen, ob der be¬ 
treffende Provocat wirklich ein pathologisches Individuum und seine Festhaltung 
in der Anstalt auch wider seinen Willen gerechtfertigt ist. Dass gerade die 
Staatsanwaltschaft die hierbei zur Mitwirkung kommende Behörde ist, deutet wohl 
auch auf die Absicht hin, widerrechtliche Freiheits-Beraubungen zu verhüten. Dann 
wird aber der Anstaltsarzt in der Entmündigungs-Verhandlung gleichsam Richter 
in eigener Sache. Dass dies zulässig erscheint, kommt mir als eine Art von 
Gegensatz zum §. 87 der geltenden Strafprocessordnung vor, wo es in Betreff von 
gerichtlichen Leichenöffnungen heisst: „Demjenigen Arzte, welcher den Verstor¬ 
benen in der dem Tode unmittelbar vorausgegangenen Krankheit behandelt hat, 
ist die Leichenöffnung nicht zu übertragen“. Und wie streng letztere Bestim¬ 
mung auch die medicir.ischen Behörden auffassen, hat mich ein Fall gelehrt, wo 
am Schlüsse eines Ober-Gutachtons ein Provinzial-Medicinal Collegium es dem 
Gerichte gegenüber rügte, dass als zweiter Sachverständiger bei Obduction und 
gerichtlichem Verhör in einer Anklagesacho gegen einen Arzt wegen §. 230 al. 2 
des Strafgesetzbuches der Kreis-Wundarzt fungirt habe, da er doch in der näm¬ 
lichen Stadt wie der Angeschuldigte ansässig war und praeticirte. 


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Dass aber ein Irrenarzt, weil besonders Sachkundiger, auch als Sachverstän¬ 
diger bei den Entmündigungen fungiren solle oder dürfe, ist nicht in’s Feld zu 
führen, denn die Abgabe eines Gutachtens in Entmündigungs-Processen ist eine 
gerichtlich-medicinische, nicht eine practisch-psychiatrische Arbeit. Soresumireich 
nochmals, dass bei den verschiedenartigsten Aufgaben, welche, soweit nicht gerade 
therapeutische Zwecke direkt berührt werden, beim Irrenwesen in Betracht 
kommen, dem Medicinalbeamten, namentlich dem der Kreis-Instanz eine aus¬ 
gedehnte, über das jetzige Mass im Allgemeinen weit hinausragende Mitwirkung 
zugesprochen werden muss.- 

IV. Hr. Engelhard (Burg) beleuchtet an der Hand von eigenen und frem¬ 
den unbliebsamen Erfahrungen, wie wünschenswert!) es, namentlich vor dem In¬ 
krafttreten einer schon seit Jahren vergebens erhofften Medicinalreform, sei, dass 
der Staat den Kreis-Medicinal-Beamten eingehendere Berücksichtigung ange¬ 
deihen Hesse bei ärztlichen Stellungen, deren Besetzung von öffentlichen Behörden 
abhängig ist. 

Redner wünscht, dass in diesem Sinne ein Gesuch seitens des Vereins an 
den Vorgesetzten Herrn Minister gerichtet werde. — 

Discussion: 

Hr. Rapmund: Ich stehe demjenigen, was der Herr Vorredner gesagt hat, 
vollständig schroff gegenüber. Ich habe den Standpunkt, dass je mehr wir dahin 
streben, den practischen Aerzten Concurrenz zu machen, und wünschen, dass uns 
der Staat unterstütze, die Stellungen, auf deren Besetzung er Einfluss hat, zu er¬ 
langen, wir weit von dem abgezogen werden, was w T ir Medicinalbeamte erzielen 
sollen. Nicht eine grosse Thätigkeit in der Privatpraxis und den damit verbun¬ 
denen Stellungen, sondern eine ausgiebigere Tliätigkeit auf dem Gebiete der 
öffentlichen Gesundheitspflege sei unser Streben. Diese Art der Thätigkeit muss 
naturgemäss um so mehr beschränkt werden, je mehr wir den practischen Aerzten 
Concurrenz machen. Von diesem Standpunkte aus möchte ich die Herren Collegen 
bitten, von der vorgeschlagenen Petition gänzlich abzusehen. Wir können sogar 
in jener Beziehung den höchsten Behörden dankbar sein, da diese im Gegentheil 
uns entgegonkommen, wo sie nur können. Da ist zunächst die Verfügung des 
Herrn Justizministers, dass bei Besetzung der Gefängnissarzt-Stellen die Medicinal¬ 
beamten berücksichtigt werden mögen. Es sollen sogar diese Stellen während 
der Vacanz frei bleiben , damit der neu angestellte Medicinalbeamte in dieselbe 
gleich eintreten kann. Der Bautenminister hat ebenso die Königlichen Eisenbahn- 
Directionen angewiesen, bei Abschliessung vonKrankcnkassen-Contracten in erster 
Linie die Medicinalbeamten zu berücksichtigen. Dies sind gewiss zwei Ver¬ 
fügungen, welche uns in hohem Grade entgegenkommen. Die praktisch-ärztliche 
Thätigkeit kann sich nach meiner Ansicht nur auf Kreis-Krankenhäuser, Gefäng 
nisse und vor allen Dingen auf das Impfwesen beziehen. Bei Krankenkassen und 
Eisenbahnarzt-Stellen erscheint mir dies nicht eben wünschenswerth. Streben wir 
nun dahin, dass die Emolumente, die uns fehlen, auf andere Weise gedeckt wer¬ 
den, so gehen wir weit von unserer amtlichen Stellung ab. 

Wir haben jetzt nur ein Nebenamt; daraus ein Hauptamt zu machen, muss 
unser Bestreben sein. 


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Hr. Wallicbs beantragt Schluss der Discnssion, da Tags darauf Gelegen¬ 
heit geboten sei. das Thema weiter zu behandeln. 

Nach Annahme dieses Schluss-Antrags spricht: 


V. Hr. Dr. C. Bischoff (Berlin): Ueber Ptomaine. 


Ich gestatte mir, im Folgenden Ihnen in möglichst gedrängten Zügen ein 
Bild von dem gegenwärtigen Stande einer in lebhafter Discussion befindlichen 
Frage zu geben, welche in gleicher Weise die ganze Aufmerksamkeit des Gerichts- 
Arztes und des Gerichts Chemikers für sich in Anspruch nehmen darf, die Frage 
über die sog. Cadaver-Alkaloide, Fäulniss-Alkaloide oder in allgemeinerer Fassung 
über die Ptomaine. Die Frage spitzt sich mehr und mehr zu einer solchen zu, 
welche sei es Arbeitstheilung, sei es gemeinsame Arbeit des Chemikers und des 
Mediciners erheischt, und ich darf es wol wagen, meine Erfahrungen und An¬ 
sichten über diesen Gegenstand einmal an einer zum Urtheil so berufenen Stelle 
zum Ausdruck zu bringen, der ich wol schon in mehr als hundert Fällen Ge¬ 
legenheit gehabt habe, sogenannten Fäulniss-Alkaloiden zu begegnen, da mir 
ferner so gut wie keine der von anderen Chemikern über diese Stoffe mitge- 
theilten Beobachtungen aus eigener Anschauung fremd geblieben ist. Lediglich 
die in jüngster Zeit erfolgten Mittheilungen des Herrn Professor Brieger über 
diesen Gegenstand darf ich von dieser Behauptung ausschliessen. 

Es hat sich das Material über diesen Gegenstand etwa im Laufe eines 
Jahres in so bemerkenswerther Weise geklärt, dass man ein gutes Theil des 
vordem Bekannten als nur noch von geschichtlichem Werthe hinstellen darf. Die 
Klärung der Frage.ist erfolgt in Bezug auf die Identificirung einer Keihe von 
Ptomainen mit theils bekannten, theils neuen chemischen, wohl charakterisir- 
baren Individuen. Noch nicht ausreichend ist sie erfolgt in Bezug auf zahlreiche 
Reactionen, welche von einzelnen Chemikern diesem oder jenem Ptomain zuge¬ 
sprochen wurden. Von besonderem Interesse dürfte wol für den Gerichts-Arzt 
und den Gerichts-Chemiker die Erwägung sein: 

Sind bei sorgfältiger Prüfung in der That Verwechselungen von Pto¬ 
mainen mit Pfianzen-Alkaloiden möglich? Wodurch können diese Ver¬ 
wechselungen bedingt sein? Lassen sich dieselben verhüten und wie? 
Giebt es Ptomaine, die mit Pflanzenbasen identisch sind? Sind somit 
Fälle möglich, in denen auch die gemeinsame Arbeit des Gerichts-Arztes 
und desGerichts-Cbemikers ausser Stande ist, eine gerauthmasste Alkaloid- 
Vergiftung bei Befund eines Giftes aufzuklären? 

Sie wissen, dass wir unter Ptomainen oder Cadaver-Alkaloiden eine Kategorie 
meist basischer Verbindungen zusammenfassen, welche sich aus thierischen und 
pflanzlichen Materien unter dem Einfluss der Fäulniss-Fermente bilden und welche 
den Namen Fäulniss-Alkaloide erhalten haben, weil sie mit den Pfianzen- 
Alkaloiden gewisse Reactionen mehr oder weniger theilen, welche wir als allge¬ 
meine Alkaloid-Reaclionen zu bezeichnen pflegen. Man erhält die Ptomaine aus 
faulendem Fleisch, Eiweiss, Leim. Fibrin etc. und es ist sowohl ihre Zahl wie auch 
ihre chemische Natur mannigfaltig. Ich sage, dass zu dieser Kategorie meisten- 
theils basische Verbindungen gehören. Es sind ganz sicher viele Stoffe, welche 
von Chemikern als Ptomaine verzeichnet wurden, keine basisohen Stoffe gewesen, 
oft wol Säuren oder indifferente Stoffe, über deren Stellung im System sich zur 


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Zeit nichts aussagen lässt. Solche Stoffe sind in die Klasse der Ptomaine mit 
hineingerathen, weil sie im Untersuchungsgang nach Pflanzen-Alkaloiden sich in 
dem jeweilig von diesem oder jenem Chemiker erhaltenen Extraete vorgefunden 
haben, der schliesslich zur Prüfung auf Alkaloide diente. 

Es ist leicht begreiflich, dass das Aufireien von Stoffen in Leichentheilen, 
welche mit den Pflanzengiften gewisse chemische oder physiologische Reactionen 
theilen, die Sicherheit des chemischen Unheils unter Umständen sehr gefährden 
kann, und es hat ja in der That auf unvollständiger Prüfung basirendes Urtheil 
schon zu wiederholten Malen in der gerichtlichen Literatur Verwechselungen oder 
Verkennungen von Ptomainen mit Pflanzen-Alkaloiden veranlasst. 

Wir benutzen in der gerichtlichen Chemie zur Isolirung von Giften, insbe¬ 
sondere zur Isolirung von pflanzlichen Giften nach Möglichkeit solche Methoden, 
welche dem Untersuchungsmaterial so wenig wie möglich fremdartige Stoffe zu¬ 
führen, um das Material nicht untauglich zu machen, noch nach anderer als der 
zuerst eingeschlagenen Richtung hin untersucht werden zu können. Speciell um 
Alkaloide oder Glukoside aus Organtheilen und Contentis abzuscheiden dient uns 
bekanntlich eineslheils das von Stas erdachte, von Otto weiter ausgebildete 
Extractionsverfahren der Massen mit angesäuertem Alkohol, anderntheils die 
Extraction der Massen mit saurem Wasser nach Dragendorff. Beide Verfahren 
beruhen auf der Fähigkeit der Mehrzahl der Alkaloide und Glukoside, sich in 
Säuren zu lösen oder saure Salze zu bilden, dann sowohl in Alkohol wie in saures 
Wasser überzugehen. Aus den ursprünglichen Extracten stellen wir durch Fäl¬ 
lungen mit absolutem Alkohol, welcher Leim, Albuminate etc. niederschlägt, und 
nach Entfernung von Fett schliesslich gereinigte Extracte her, aus denen durch 
geeignete Lösungsmittel für Basen, z. B. Aetber, Chloroform, Petroleumäther, 
Amylalkohol, Benzin, Benzol, theils aus saurer Exlractlösung, theils nach Zusatz 
eines Alkalis, Stoffe ausgeschüttet werden, welche demnächst der Identificirung 
mit einem Pflanzenstoffe harren. 

Es hat nun gerade die Anwendung des Stas-0tto’schen Verfahrens häufig 
Mittheilungen von Beobachtungen zur Folge gehabt, wonach mit Hülfe dieser 
Methode schliesslich aus den Lösungsmitteln für Alkaloide Stoffe isolirt wurden, 
welche, mit den Pflanzen-Alkaloiden nicht identisch, dennoch theilweise deren 
Reactionen theilten. Ich kann nur sagen, dass es mir überaus auffällig ist,-dass 
Beobachtungen in dieser Richtung nicht schon viel früher in der Literatur ver¬ 
zeichnet stehen, als dies thatsächlich der Fall ist. Im Jahre 1851 hat Stas in 
dem berühmten Process Bocarme zum erston Mal von der noch heute im Wesent¬ 
lichen adoptirten Methode der Isolirung von Alkaloiden Gebrauch gemacht und 
erst 1873 begegnen wir in der chemischen Literatur dem Beginn dieser wich¬ 
tigen Discussioi) in einer Notiz des Italieners Selmi, welche Diseussion aller¬ 
dings vereinzelte Mittheilungen über Beobachtungen von Ptomainen zur Folge 
hatte, die bis in das Jahr 1865 zurückreichen. Die späte Erwähnung dieser 
Stoffe ist mir um so auffallender, als ich gerade behaupten darf, noch keine 
einzige Untersuchung von Leichentheilen nach dem Stas-Otto’schen Verfahren 
ausgeführt zu haben, ohne hierbei auf Stoffe allgemeinen Alkaloid-Charakters ge- 
stossen zu sein. Sie werden bei Untersuchungen schwach fauliger oder stärker 
faulender Leichentheile stets gefunden, und es ist auffallend, wenn ältere Hand¬ 
bücher der gerichtlichen Chemie nicht einmal deren Existenz erwähnen. — 


Vierteljahrs,sehr. f. ger. Med. N. F. XLIV. I. 

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Preussischer Medicinalbeamten-Verein. 


Gestatten Sie mir zunächst der Frage näher zu treten: Was weiss man 
heute über sicher charakterisirte Ptomaine? 

Es müssen hier in erster Linie die Resultate der vorzüglichen Unter¬ 
suchungen von Professor Brieger hervorgehoben werden, welche eine Reibe 
von sehr wichtigen Ergebnissen zu Tage gefördert haben. Brieger hat andere 
Methoden zur Abscheidung der von ihm constatirten Ptomaine angewandt, als sie 
gemeiniglich für die Isolirung der Pflanzen-AIkaloide dienen. Zunächst werden 
die gefaulten Massen mit salzsäurehaltigem Wasser aufgekocht und diese Auszüge 
nach vorsichtiger Concentration mit Alkohol gereinigt. Bis hierher deckt sich das 
Brieger’sche Verfahren im Wesentlichen mit der Dragendor ff’schen Methode. 
Die alkoholischen Auszüge werden jedoch an Stelle des Ausschüttlungs- Verfahrens 
demnächst direkt mit alkoholischem Quecksilberchlorid, oder auch Platinchlorid, 
auch neutralem Bleiacetat versetzt, wobei Doppelsalze der Basen entstehen, 
thoils schwer löslich, theils leicht löslich, aus welchen durch Schwefelwasserstoff 
die Basen isolirt werden. 

Für die wissenschaftliche Erforschung der Ptomaine ist denn auch in der 
That der von Brieger erdachte Weg der bestdenkbare, da man durch die 
Platin-, Quecksilber- oder Golddoppelsalze der Basen am leichtesten zu reinen 
Körpern gelangt. Was die Brieger’schen Untersuchungen nicht so leicht ver¬ 
gleichbar macht mit gerichtlich-chemischen Ermittelungen, ist jedoch das ganz 
enorme Untersuchungsmaterial, welches von Brieger aufgewendet werden musste, 
um doch verhältnissmässig geringe Mengen seiner Fäulnissbasen zu isoliren. 
Brieger hat z. B. in einem Versuche gleichzeitig 15 Lebern und 12 Milzen, in 
einem anderen Versuche gleichzeitig die Därme, Leber. Lungen. Herzen, Nieren 
von 4 Leichen zugleich verarbeiten können, somit über ein Untersuchungsmaterial 
verfügt, das sich doch bei gerichtlichen Expertisen nie bieten kann. Und gerade 
in der geringen Menge dieser Ptomaine liegt die Schwierigkeit oder Unmöglich¬ 
keit. dieselben bei gerichtlich-chemischen Untersuchungen genauer zu charakte- 
risiren. Die Mengen der alkaloidisch reagirenden Stoffe sind in der Regel aus 
den Leichentheilen so gering, dass das Material jeder analytischen Bestimmung 
sich entzieht und man allenfalls nur versuchen kann, mit den Pflanzen-Alkaloiden 
mehr oder weniger mikrochemische Vergleichs-Reactionen anzustellen. 

Die Untersuchungen von Professor Brieger erstreckten sich auf Ptomaine 
aus Fibrin. Fleisch von Säugethieren und Fischen, fauler Hefe, Leim etc. und end¬ 
lich aus Cadavertheilen aller Art. Von bekannteren Stoffen wurden von Brieger 
das Cholin und Neurin, ferner das Trimethylamin aus faulenden Cadavertheilen 
isolirt, aus faulendem Fischfleisch ein mit dem Muscarin identischer Stoff, ferner 
Dimethylamin und Triäthylamin. Von neuen Producten, d. h. Stoffen, welche 
an sich in der organischen Chemie bisher unbekannt waren, ist besonders häufig 
eine Base vertreten, die Brieger Neuridin genannt hat. Aus menschlichen 
Cadavern entstehen bei länger andauernder Fäulniss ausserdem basische Stoffe, 
welche bis zur Feststellung der Constitution dieser Körper mit den Namen 
Putrescin, Saprin, Cadaverin und Mydalein belegt sind, um in den Namen die 
Abstammungsart von faulenden Massen zum Ausdruck zu bringen. Ein be¬ 
sonders bemerkenswerther Stoff, vielleicht ein Aethylidendiamin, ist noch aus 
dem Fischfleisch gewonnen worden. 

Wichtig ist nun das verschiedene physiologische Verhalten dieser Körper. 


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Die Mehrzahl dieser Ptomaine ist indifferent, so das häufig auftretende Neuridin, 
ferner das Cadaverin (wahrscheinlich das sog. Leichenconiin), das Saprin, Pu- 
trescin. Wenig giftig sind die organischen Ammoniurabasen Trimethylamin, 
Dimethylamin. Triäthylamin, wenig giftig auch das Cholin. Sehr giftig ist von 
den Producten der Fäulniss des menschlichen Cadavers das Neurin und der von 
Brieger als Mydalein bezeichnete Stoff. Sehr giftig ist von den Producten der 
Fischfäulniss das Muscarin und das Aethylidendiamin. Die Stoffe Cholin, Neurin, 
Muscarin haben im Wesentlichen physiologisch gleiche Wirkungen, welche unter 
dem Bilde der Muscarinwirkung bekannt sind. Die Stoffe stehen sich auch 
chemisch äusserst nahe. 

Bemerkenswerth ist, dass die Producte der Fäulniss in verschiedenen 
Stadien verschieden sind. Als erstes Product findet sich in der Regel das 
Neuridin, demnächst findet man Neurin und Cholin; in späteren Stadien Cada¬ 
verin. Putrescin, Saprin, Mydalein, über deren Stellung im chemischen System 
sich zur Zeit noch nichts aussagen lässt. Bemerkenswerth ist in Bezug auf die 
Arbeiten Brieger’s eine in der Literatur früher verzeichnete Angabe des italieni¬ 
schen Forschers Marino Zucco, der nach seinen Untersuchungen mittheilte, 
dass die Ptomaine Selmi’s nichts anderes als Neurin seien, eine Angabe, 
welche, was giftige Ptomaine aus menschlichen Cadavern anlangt sich mit den 
Befunden von Professor Brieger im Wesentlichen deckt. 

Diese Fäulnissbasen Brieger’s sind nun sämmtlich charakterisirt durch 
eine ausserordentliche Zersetzbarkeit. Sie gehören anscheinend sämmtlich zu 
den Fettkörpern und enthalten, mit einziger Ausnahme des noch nicht sicher 
charakterisirten Peptotoxins, wol keine Benzol- oder Pyrrolkerne. Bei der ge¬ 
ringen Widerstandsfähigkeit gegen energisch wirkende Reagentien kann man 
sich mit Vortheil dieser Leichtzersetzbarkeit bedienen, um sich im besonderen 
Falle des täuschenden Einflusses der Ptomaine zu erwehren. Diese Thatsache 
der leichten Wandelbarkeit ist mir schon seit langer Zeit bekannt. Ich habe seit 
Jahren versucht, Lösungen von Ptomainen in Aether, um erst Material zu sam¬ 
meln, aufzubewahren. Wollte ich dann später mit solchem angesammelten Ma¬ 
terial Vergleiche anstellen bei frischen Befunden, so stellte sich heraus, dass ich 
nicht mehr das hatte, was ich früher asservirte. Es unterscheiden sich durch 
diese Zersetzbarkeit die Ptomaine von der Mehrzahl der Pflanzen-Alkaloide. 

Es ist nun untor den Brieger’schen Ptomainen aus menschlichen Cadavern 
auch nicht ein einziger Stoff gewesen, welcher mit Alkaloiden einer Pflanze über¬ 
einstimmt, man müsste denn das Trimethylamin zu den Pflanzen-Alkaloiden zählen 
wollen, — weil es auch in Chenopodium Vulvaria oder im Mutterkorn u. a. vor¬ 
kommt. Unter den Ptomainen des Fischfleisches hingegen begegnen wir in der 
That einem Stoff, dem Muscarin, welches sowohl die Fäulniss des Fischfleisches, 
wie die Lebensthätigkeit des Fliegenpilzes producirt. Hier also könnte eine 
Grenze gezogen sein für die Möglichkeit einer sicheren Ausdeutung des chemi¬ 
schen Untersuchungsbefundes. Ein etwaiger Befund von Muscarin würde nicht 
für eine Pilzvergiftung beweisend sein. 

Wie verhalten sich nun die von Brieger ermittelten Thatsachen zu dem, 
was bisher über Fäulniss-Alkaloide durch zerstreute Beobachtungen anderer 
Forscher bekannt geworden ist? 

Man kann getrost sagen, dass die Wenigsten, welche bisher Mittheilungen 


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über sogenannte Fäulniss-Alkaloide der Literatur übergeben haben, reine Stoffe 
in Händen hatten. In der Mehrzahl der Fälle sind Gemische verschiedenartiger 
Stoffe, über deren Beschaffenheit ich mir demnächst meine Ansicht auszusprechen 
erlaube, in die Literatur als Fäulniss-Alkaloide eingeführt worden, und wenn 
einzelne Chemiker nahezu reine Individuen unter den Händen gehabt, so ge¬ 
nügte deren geringe Menge nicht zur Charakterisirung. 

Will man die chemischen Reactionen der von Brieger identificirten 
Ptomaine mit denen der Pflanzen-Alkaloide vergleichen, so hat man zunächst in 
den Reactionen der Pflanzen-Alkaloide scharfe Grenzen zu ziehen. Einerseits 
geben die Pflanzen-Alkaloide. weil sie meist Stoffe basischer Natur sind, mit einer 
grossen Zahl von Fällungsmitteln für basische Stoffe oder auch für organische 
Stoffe überhaupt, Niederschläge, welche wir als allgemeine Alkaloid-Reactionen zu 
bezeichnen pflegen. Anderntheils liefern uns die Pflanzen-Alkaloide chemische 
und physiologische Special-Reactionen. Unter den chemischen Special-Reactionen 
stehen in erster Linie gewisse Farbenerscheinungen unter dem Einflüsse be¬ 
stimmter Reagentien, über deren Ursachen wir leider noch zu wenig sichere 
Erklärungen oder Aufschlüsse zu geben vermögen. Es kann nicht in Abrede ge¬ 
stellt werden, dass manche dieser Farbenreactionen ausserordentlich schön und 
prägnant sind, dass jedoch auch in anderen Fällen die Farbenreactionen sehr 
zweifelhafte Mittel zur Diagnose sind. Manche Alkaloide geben in reinem Zu¬ 
stande ganz andere Reactionen als im ungereinigten, und es werden in dem 
Masse, wie man Alkaloide reiner darstellen lernt, wol auch manche angeblich 
charakteristischen Farbenreactionen aus der Literatur verschwinden. Und gerade 
in diesen Farbenreactionen liegt in der Regel die Quelle der Verwechselungen der 
unreinen Ptomaine mit den Pflanzen-Alkaloiden. Wo Verwechselungen laut ge¬ 
worden sind oder als möglich hingestellt werden, liegen dieselben in einer Verken¬ 
nung der Farbenreaction, in der Ueberschätzung des wahren Werthes derselben, 
in der ungenügenden Vergleichung mit dem falsch identificirten Material. — Zur 
Erzielung solcher Farbenreactionen dienen in der gerichtlichen Chemie vor Allem 
Schwefelsäure, Salpetersäure, Gemische von beiden Säuren, Schwefelsäure mit 
Zusätzen von Oxydationsmitteln, z. B. Kaliumbichromat, Braunstein etc. ln 
selteneren Fällen rufen Bromdämpfe in den schwefelsauren Lösungen Farben¬ 
erscheinungen hervor. Zuweilen dient Salzsäure zu tinctorialen Reactionen. Die 
Reagentien verwenden wir bald in der Kälte, bald in der Wärme. Einige Reac¬ 
tionen treten sofort, andere erst nach längerer Zeit ein. Wichtig ist, dass gerade 
die für die gerichtliche Chemie bedeutenderen Alkaloide, wie Strychnin, Brucin, 
Morphin und die anderen Opiumalkaloide, Veratrin, Digitalin sehr schöne Farben¬ 
erscheinungen liefern. Für einzelne Alkaloide fehlen uns derartige Reactionen, 
so für Atropin, Hyoscyamin, Coniin, Nicotin. 

Die Mehrzahl der Farbenreactionen der Alkaloide dürfte in der complicirten 
Structur derselben, in dem Vorhandensein von Benzol-, Pyridin- oder Chinolin¬ 
kernen ihre Ursache finden. Es dürften Erscheinungen sein, welche der Ent¬ 
stehung von Azofarbstoffen, auch Chinolin- und Phenolfarbstoffen ähnlich sind. — 
Andererseits kann nicht genug hervorgehoben werden, was für Körper nicht sämmt- 
lich in der organischen Chemie zu Farbenreactionen disponiren. Eben die ausser¬ 
ordentliche Verbreitung der Farbenreactionen, die ich sogleich etwas näher in 
Rücksicht auf das vorliegende Thema beleuchten will, auch ausserhalb des Feldes 


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der Pflanzen-Alkaloide giebt den Reactionen nur dann einen beweisenden Werth, 
wenn man sämmtliche für ein Alkaloid charakteristischen Reactionen auch er¬ 
halten hat. 

ln Italien sind bekanntermassen gerichtliohe Verhandlungen gepflogen wor¬ 
den, in welchen in einem Falle aus Leichentheilen isolirte Stoffe als Delphinin, 
in einem andern als Morphin, in einem dritten sogar als höchst wahrscheinlich 
Strychnin bezeichnet worden sind. In Frankreich erwähnen Brouardel und 
Boutmy eines Ptomains, welches, dem Veratrin äusserst ähnlich, mit demselben 
soll verwechselt werden können. In physikalischen Eigenschaften hat das Coniin 
mehrfach, das Nicotin in einem Falle, den ich selbst gerichtlich nachzuprüfen 
hatte, zu Verkennungen und Missdeutungen von Fäulnissbasen Veranlassung ge¬ 
geben. Auch die Möglichkeit der Verkennung einer Fäulnissbase mit dem Atropin 
ist wiederholt hervorgehoben. Prüfen wir nun diese Thatsachen in ruhigen Er¬ 
wägungen, so behält keine der auf Farbenreactionen gegründeten Diagnosen der 
Chemiker, welche Delphinin, Morphin, Strychnin, Veratrin gefunden zu haben 
meinen, auch nur im Entferntesten eine Bedeutung. Man denke an die gefähr¬ 
lichste Verwechselung, Strychnin gefunden zu haben an Stelle eines Ptomains. 
Hier liegt die Sache so, dass ein Stoff, der nicht bitter schmeckt, als höchst 
wahrscheinlich Strychnin bezeichnet ist, eine Thatsache, die mir unbegreiflich 
ist, gegenüber der immensen Bitterkeit des Strychnins, die sich noch in Lösungen 
von 1 :400000 deutlich erkennen lässt und zu deren Feststellung weniger als 
l /i 00 Milligrm. Strychnin ausreicht. — Was die stattgehabte Verkennung des 
Delphinins anlangt, so sind die Reactionen dieses seiner Natur nach wenig be¬ 
kannten Alkaloids so unbestimmte, dass man dasselbe chemisch überhaupt zur 
Zeit nicht sicher durch seine Reactionen erkennen kann, und nur da dürfte einige 
Aussicht auf positiven Erfolg einer chemischen Untersuchung auf Delphinin zu 
erwarten sein, wo äussere Anhaltspunkte schon die Gegenwart dieses Giftes 
gerade nahe legen, wie Vergiftungen mit delphininhaltigen Tincturen aus dem 
gegen Ungeziefer benutzten sogenannten Läusesamen, dem Delphiniumsamen. 

Die Reactionen des Delphinins, woran dasselbe in der italienischen Exper¬ 
tise erkannt wurde, sind eine braune bis rothbraune Färbung mit Schwefelsäure 
gewesen; eine Rothfärbung beim Erwärmen mit Phosphorsäure, eine rothbraune 
Färbung mit sog. Fröhde’schen Reagens, sämmtlich Reactionen, die so überaus 
häufig mit den verschiedensten organischen Stoffen, z. B. Peptonen, Eiweisstoffen, 
hervorgerufen werden können, dass sie jeglicher Beweiskraft entbehren. — Das 
als Morphin irrthümlich bezeichnete Produkt ist ebenfalls nur durch Ueber- 
schätzung des Verhaltens in Farbenreactionen als Morphin bezeichnet worden. 
Hier war es die Violettfärbung mit Schwefelsäure und das starke Reductions- 
vermögen des isolirten Stoffes, welche irre führten, während die 3 wichtigsten 
Farbenreactionen des Morphins: die prachtvolle Blaufärbung mit Eisenchlorid, die 
Violettfärbung mit Fröhde’s Reagens, die Orangefärbung mit Salpeterschwefel¬ 
säure versagten. — Das Verhalten des angeblich zu Täuschungen mit Veratrin 
Veranlassung gebenden Ptomains von Brouardel und Boutmy ist überhaupt 
nicht mit Veratrin vergleichbar. Die Angaben der französischen Autoren, dass 
beim Lösen dieses Fäulniss-Alkaloids in Schwefelsäure eine violettrothe Färbung 
eintrete, trifft überhaupt für Veratrin gar nicht zu. Letzteres löst sich prachtvoll 


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guttigelb in Schwefelsäure, welche Färbung in einiger Zeit in Orangebraun und 
dann in prachtvolles Kirschroth übergeht. 

Ich will mich hier des weiteren auf die zu Täuschungen verleitenden Farben- 
reactionen jener angeblichen Fäulniss-Alkaloide nicht einlassen. Ich gestatte mir 
nur mitzutheilen, dass ich Beobachtungen solcher Farbenreactionen an isolirten 
Produkten des faulenden Cadavers in unzähligen Fällen beobachtet und dass ich 
in ihrer Häufigkeit auch Gelegenheit gefunden habe, festzustellen, wodurch die¬ 
selben in der Regel bedingt wurden. 

Zunächst muss ich betonen, dass kein einziges der von Brieger charakte- 
risirten Ptomaine im Sinne der Alkaloidprüfungen Farbenreactionen liefert. Die 
Ursachen der Farbenreactionen, mit Stoffen aus Leichentheilen erhalten, müssen 
somit allem Anschein nach anderen Stoffen zukommen als den eigentlichen 
Ptomainen. Ich habe nun bei Untersuchungen fauler Leichentheile oft genug 
Gelegenheit gehabt, die Stoffe, welche meistentheils zu Farbreactionen Veran¬ 
lassung bieten, zu constatiren, und berichte darüber folgendes: Bei der Eiweiss- 
fäulniss bilden sich bekanntlich, unter andern aromatischen Produkten, Spuren 
von Phenol, ferner namentlich Indol und Skatol. Diese Stoffe gehen sämmtlich 
in die Auszüge über, welche man nach dem Dragendorff’schen, wie auch nach 
dem Stas-Otto’sch6n Verfahren erzielt. Sie haften in Spuren den Auszügen 
an, welche mit Aether oder Chloroform aus den Leichenextrakten gewonnen 
werden. Sie gehen sowohl aus schwach saurer Lösung, wie namentlich aus al¬ 
kalischer Flüssigkeit (Indol und Skatol) in die Alkaloid-Ausschüttlungsmittel 
über und ertheilen den abgedunsteten Massen einen unangenehmen, fauligen, an 
Naphtylamin erinnernden Geruch. Das Indol und Skatol nun disponiren zu pracht¬ 
vollen Farbenerscheinungen. Das Indol liefert bei Gegenwart von salpetriger 
Säure Nitrosoindol. das sich mit purpurrother Farbe in conc. Schwofeisäure löst. 
Dient eine etwas salpetrige Säure enthaltende Schwefelsäure, wie sie häufig im 
Handel ist, direct als Reagens, so tritt die violettrothe Farbe sofort ein. Unter¬ 
wirft man faulige Leichentheile der Destillation, so habe ich fast stets bei der 
Oxydation des Destillats mit Salpetersäure — beim Phosphor-Ermittlungsverfahren 
— an prachtvoller Violettfärbung, oder Rothfärbung, Zeichen der Gegenwart 
von Indol und Skatol beobachten können. Beim Erhitzen mit Salzsäure giebt 
Indol und Skatol violettrothe Lösungen. — Vergleiche ich diese Beobachtungen 
mit den Angaben von Brouardel und Boutmy über ein zu Täuschungen mit 
Veratrin Veranlassung bietendes Ptomain, so möchte ich zur Ueberzeugung noch 
kommen, dass diese Herren ein mit Indol und Skatol verunreinigtes, im übrigan 
indifferentes Ptomain in Händen hatten und dass das färbende Princip nichts 
andres als Indol oder Skatol gewesen ist. 

Eine andere Quelle von Farbreactionen finde ich in folgendem: 

Bei der Fäulniss oder auch in der normalen regressiven Stoffmetamorphose 
entstehen aus den Eiweissstoffen Peptone. Letztere sind in wässrigem Alkohol 
löslich. Sowohl die nach Otto wie die nach Dragendorff’scher Methode er¬ 
haltenen Extrakte von Leichentheilen haben grosse Aehnlichkeit mit concentrirten 
Peptonlösungen. Peptone geben beim Erwärmen mit conc. Schwefelsäure violette 
Farbtöne. prachtvoll treten diese in der" Kälte bei Gegenwart von etwas Zucker 
hervor. Auch beim Erwärmen mit Phosphorsäure färben sich Peptonlösungen 
violett. Lösungen von Peptonen mit Salzsäure färben sich beim Erhitzen tief 


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violeltblau. Aus alkalischen Fleisch-Peptonlösungen geht in Amylalkohol ein 
Stoff über, der mit Phosphorsäure sich beim Erwärmen violett färbt, in der Kälte 
farblos löst. Alle diese Entstehungen von Farbreactionen hat man' auch für 
Alkaloide hervorgehoben. Soweit wie ich selbst Gelegenheit gehabt, diese Farben¬ 
wandlungen beim Erwärmen mit Schwefelsäure, Salzsäure, Phosphorsäure zu 
beobachten, welche dann eintreten, wenn man die angeblichen Alkaloidlösungen 
ohne genügende Vorreinigung zur Verdunstung bringt, schreibe ich dieselben 
Peptonen zu und möchte ich glauben, dass in derselben Weise die Farbenerschei- 
nungen zu deuten sind, welche man irrthümlich auf Morphin gedeutet hat. Ich 
bin auch der Ansicht, dass die von Lombroso aus faulem Mais, von Pöhl aus 
faulem Getreide isolirten Stoffe mit gleichen Reactionen Peptone sind. 

In die Auszüge nach Dragendorff oder nach Stas-Otto erhalten, gehen 
des weiteren die Gallensäuren über. Bekanntlich geben diese Verbindungen bei 
Gegenwart von Zucker unter dem Einfluss der conc. Schwefelsäure prachtvolle 
Violettfärbungen. Zucker aber ist postmortal häufig in den Organen vorhanden 
und gebt ebenfalls mit in diese Auszüge über. Die Pettenkofer’sche Gallen- 
reaction ist dann auch meiner Erfahrung nach ebenfalls häufig die Ursache der 
Violettfärbung mit Schwefelsäure und ganz besonders in den Ausschüttlungen aus 
saurer Lösung mit Aether oder mit Amylalkohol, in welchen man nach Colchicin, 
Digitalin, auch Veratrin zu suchen pflegte. Dieselbe Reaction können übrigens 
auch Stearin, Oelsäure, Cholesterin hervorbringen. 

In die Auszüge nach Stas-Otto geht ferner das Urobilin über, welches 
als Reduktionsprodukt des Bilirubins und des Hämatins den normalen Harnfarb¬ 
stoff bildet und im wesentlichen das Fäcalpigment darstellt. Es scheint dasselbe 
eine weite Verbreitung in den Organen zu haben. Aehnlicb verhalten sich be¬ 
züglich der Isolirbarkeit die übrigen Gallenfarbstoffe. Dieselben neigen ausser¬ 
ordentlich zu Farbenwandlungen und zeigen in alkalischen Lösungen lebhafte 
Fluorescenz, welche Erscheinungen an die Angaben des Vorfindens eines soge¬ 
nannten animalischen Chinoidins unter den Ptomainer. erinnern. Ich habe Farb¬ 
stoffe gleichzeitig mit Ptomainen isolirt, welche bald den Aether, bald Amylalko¬ 
hol oder Chloroform zunächst intensiv gelb färben, und, in amorpher Form ge¬ 
wonnen, sich in Schwefelsäure prachtvoll blau, bald violett werdend lösen, dieselbe 
Reaction auch mit molybdänsäurehaltiger Schwefelsäure zeigen. Durch Schütteln 
mit saurem Wasser gehen die Ptomaine an letzteres ohne den Farbstoff über und 
man erkennt alsdann, dass denjenigen Stoffen, welche die allgemeinen Alkaloid- 
Reactionen geben, nicht zugleich auch die Farbenreactionen zukommen. Ich kann 
diese Farbstoffe nur als Gallenfarbstoffe bezeichnen, wenn ich auch ausser Stande 
bin, bei dem spärlichen Material den Farbstoff selbst sicher zu bezeichnen. 

Die Sachlage ist somit nach dem bisher Gesagten zur Zeit die, dass wir in 
die rohen Ausschüttlungen der Auszüge nach Dragendorff, sowie nach Stas- 
Otto’scher Methode aus Leichentheilen gewonnen, in die rohen Lösungen von 
Aether, Chloroform, Amylalkohol, bald aus saurer, bald aus neutraler oder alka¬ 
lischer Lösung gewonnen, eine beträchtliche Anzahl zur Sache ganz indifferenter 
Körper überführen, welche mit den zu Farbreactionen gemeinhin benutzten 
Reagentien, z. B. mit Schwefelsäure, Phosphorsäure, Salpetersäure, nilroser 
Schwefelsäure etc. in der Kälte oder in der Wärme Farbreactionen liefern. Diese 
Stoffe werden nun zum Theil und in der Regel neben Spuren basischer’Produkto 


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der Fäulniss, den eigentlichen Ptomainen angetroffen und es gewinnt den An¬ 
schein. als ob die alsdann dem Gemisch eigenen Reactionen einestheils allgemeine 
Alkaloid-Reactionen, anderntheils specifische Farbreactionen einem gleichartigen 
Material, das in Wirklichkeit nicht vorliegt, angehören. Die Peptone allein geben 
übrigens auch schon die allgemeinen Alkaloid-Reactionen. 

Hat man nun diese Erkenntniss erreicht, so ist es nicht allzuschwer, sich 
dem täuschenden Einfluss derartiger Objekte zu entziehen. In erster Linie spielt 
hier die ausserordentliche Zersetzbarkeit und Vergänglichkeit der Fäulnissbasen 
eine bemerkenswerthe Rolle. Erhält man z. B. mit dem Aetherauszug irgend 
eines Extrakts aus Leichentheilen allgemeine Alkaloid Reactionen und reinigt man 
einen solchen Auszug mehrmals durch Wiederüberführung der etwaigen Alkaloide 
in Salze und Wiederabscheidung durch Alkalien, so verringert sich die Menge 
der täuschenden animalischen Alkaloide mehr und mehr und man erkennt bald, 
dass etwa zu Farbreactionen Anlass gebende Materie gar nichts mit dem ver¬ 
meintlichen Alkaloide zu thun hat. Es ist in der That, wenn man nur die alten 
Regeln, welche Stas-Otto und Dragendorff nicht genug hervorheben können, 
recht beachtet, die erhaltenen Ausschiittlungen erst gründlich sachgemäss zu 
reinigen, ehe man zu der eigentlichen Darstellung eines etwaigen Alkaloides aus 
denselben schreitet, nicht allzuschwer, zu überzeugenden Resultaten zu gelangen 
und sich von dem störenden Einfluss der sogenannten Ptomaine zu emancipiren. — 
Die Pflanzenalkaloide sind, bis auf wenige, recht beständige Körper. Strychnin, 
Brucin. Papaverin kann man mit conc. Schwefelsäure erhitzen ohne dass sie sich 
verändern. Morphin. Narcotin, Codein geben hierbei Derivate, oft erst bei 
längerem Erwärmen, die im übrigen selbst noch charaeteristische Alkaloide dar¬ 
stellen. Solche Behandlung vertragen die Ptomaine nicht. Einzelne Alkaloide 
vertragen keine Berührung mit Alkalien, z. B. das Atropin, andere, wie das Sola¬ 
nin. keine Berührung mit Säuren. Man muss somit, wenn man der Gefahr aus- 
gesetzt. ist. Fäulnissbasen und etwaige Farbstoffe neben etwaigen Pflanzen- 
Alkaloiden zu isoliren, und, wenn man glaubt, bestimmte Anhaltspunkte für das 
•Pflanzenalkaloid gefunden zu haben, die für das letztere zulässigen Reinigungs¬ 
methoden wohl erwägen, nicht schablonenmässig arbeiten wollen und sich, ich 
möchte sagen, in jedem einzelnen Falle die zweckmässigste Isolirungsmethode in 
sachgemässen Erwägungen erst erdenken. 

Es ist nicht schwer, das Veratrin von dem zu Täuschungen Veranlassung 
gebenden Indol zu trennen. Man braucht nur von der Flüchtigkeit des Indols 
mit Wasserdämpfen Gebrauch zu machen, welche dem Veratrin abgeht. Man 
wird für das Veratrin als empfindlichstes Reagens aber wohl stets die Nasen- 
schleimhaut mit zu Hülfe nehmen, auf welcher eine Spur des Veratrins bekannt¬ 
lich den heftigsten Reiz zum Niesen hervorruft. 

Die angebliche Möglichkeit der Verwechslung von Strychnin mit Ptomainen 
reducirt sich meines Dafürhaltens bei sachgemässem Arbeiten auf nichts. Das 
Strychnin ist charakterisirt durch seine enorme Bitterkeit, durch seine Leicht- 
krystallisirbarkeit. seine Widerstandsfähigkeit gegen Fäulniss, seine Widerstands¬ 
fähigkeit gegen heisse conc. Schwefelsäure. Hat man. durch Isolirung intensiv 
bitterer Krystalle aus Leichentheilen mit den sonstigen Alkaloid-Reactionen und 
vielleicht noch durch Verunreinigungen undeutlichen Specialreactionen auf Strych¬ 
nin, Anhaltspunkte für die Gegenwart von Strychnin gewonnen, so ist mit Hülfe 


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der Erhitzung der Masse mit conc. Schwefelsäure und dem Versuch, nach Zusatz 
von Alkali durch Ausschütteln mit Aether oder Chloroform das Alkaloid wieder 
zu isoliren, absolut reines Strychnin isolirbar, dessen chemische Reactionen eine 
Verkennung nicht zulassen. Ich habe in 11 Fällen mit voller Sicherheit Strychnin 
abscheiden können, ohne dass hierbei irgend welche Ptomaine das Unheil hätten 
trüben können. 

Bedenklicher liegt die Sache beim Morphin. Ich muss zunächst aus meiner 
Erfahrung mittheilen, dass meines Dafürhaltens kleine Gaben von Morphin im 
lebenden Organismus zum grössten Theil zersetzt werden oder sehr schnell aus 
dem Körper durch den Harn eliminirt werden. Nicht selten kommen Verwechs¬ 
lungen von Calomel- und Morphiumpulver vor oder Verwechslungen von Calomel- 
pulvorn mit Dower’scheri Pulvern. Ich habe 6 Fälle von Morphium-Vergiftungen 
zu bearbeiten gehabt. Handelt es sich um Selbstmord, so ist die Sache nicht 
schwierig, weil dann in der Regel nicht unbeträchtliche Mengen des Giftes ge¬ 
nommen werden, die den Nachweis erleichtern. Hier kann man zu der Eigen¬ 
schaft des Morphins, sich krystallinisch aus ammoniakalischen Lösungen abzu- 
scheiden, seine Zuflucht nehmen und daraufhin eine Trennung von den störenden 
Beimengungen in der Regel erreichen. Allein bei Vergiftungen von Kindern durch 
ein Morphium-Pulver mit etwa 1 — 3 Centigrm. Morphium ist die Untersuchung in 
der Regel ergebnisslos. In einem Fall von Vergiftung eines Mannes mit 0,15 Grm. 
Morph, accticum — derselbe hatte ein für ihn bestimmtes Medicament, aus Bittor¬ 
mandelwasser und Morphium, das tropfenweise verordnet war, mit einem Mal zu 
sich genommen und starb nach circa 18 Stunden — habe ich nur Spuren Mor¬ 
phins im Harn gefunden. Zur Reinigung des Morphins und zur Fernhaltung von 
Peptonen bonuize ich vorwiegend das Chloroform. Amylalkohol ist seiner Fähig¬ 
keit wegen, reichlich störende Verunreinigungen in die Spuren von Morphin zu 
bringen, ein oft sehr bedenkliches Extraktionsmittel, das nur zur Darstellung 
der Rohlösungen des Morphins benutzt werden sollte, nicht aber zur Isolirung des 
schliesslich zu Identitäts-Reactionen dienenden Alkaloides. Die Morphin-Isolirung 
erfordert allerdings viel Vorsicht, da die Mehrzahl der Reactionen des Morphins 
auch mit andern indifferenten Stoffen eintreten können. Auch wird man nur 
äusserst selten zu physiologischen Versuchen seine Zuflucht nehmen können, da 
die isolirten Mengen in der Regel nicht für derartige Prüfungen genügen. Ich 
halte es daher recht leicht für möglich, dass bei Behauptung, Morphin gefunden 
zu haben, oft genug Irrthümer untergelaufen sind. 

Schwieriger gestaltet sich die Frage bei solchen Pflanzen*Alkaloiden, bei 
welchen charakteristische chemische Reactionen zur Zeit fehlen. Ich gestatte mir 
drei derselben kurz zu berühren, das Coniin, das Nicotin, das Atropin. Hier 
werden wir wohl niemals des physiologischen Experimentes entbehren können 
und nur dann, wenn die bekannten chemischen Eigenschaften des Körpers sich 
mit den physiologischen Eigenschaften decken, ein bestimmtes Urtheil abzugeben 
vermögen. Wichtig ist, dass das Cadaverin, das mit dem Coniingeruch begabte 
Ptomain, nicht giftig ist. Nicht zu vergossen ist, dass dieser Geruch nach 
Mäusen, welchen besonders in der Verdünnung das Coniin zeigt, nicht etwa 
specifisch characterisch ist, sondern schon bei dem einfachen Amid der Essigsäure, 
dem Acetamid zu constatiren ist. Das Leichenconiin ist mir mehrmals begegnet, 
in der Regel nur in genügen Mengen, und kann ich namentlich eine Beobachtung 


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von Selmi bestätigen, wonach dieser Stoff anscheinend nicht unmittelbares Pro¬ 
dukt der Fäulniss ist, sondern sich selbst erst als Spaltungsprodukt bereits iso- 
lirter Fäulnissbasen erzeugt. Ich habe in mit Aether überschichteten alkalischen 
Lösungen von Extraktivstoffen aus Leichen, welche Ptomaine enthielten, beim Auf¬ 
bewahren einen so intensiven Geruch nach Mäusen, dem verdünnten Coniin-Geruch 
ähnlich entstehen sehen, dass sich beim Verdunsten dieser Aetherlösungen die 
Luft des Laboratoriums mit dem Geruch des Mäuseharns erfüllte. — Ein Ptomain 
in der Constitution oder Zusammensetzung auch nur dem Coniin ähnlich, ist bis¬ 
her nicht aufgefunden. Die Löslichkeitsverhältnisse, die Destillirbarkeit, die Be¬ 
ständigkeit des Coniins werden Anhaltspunkte genug bieten, um mit dem physio¬ 
logischen Verhalten ein isolirtes flüssiges und flüchtiges Alkaloid mit Bestimmtheit 
als Coniin zu erkennen. 

Das Nicotin hat in einem Falle zu einer Verkennung eines Ptomains ge¬ 
führt, welchen ich selbst klar zu stellen hatte. Hier war der Verdaoht auf eine 
Vergiftung mit Nicotin durch äussere Umstände gegeben worden. Der erste 
Experte hatte allein aus der Leber mehr als 0,25 Grm. eines Alkaloides, angeb¬ 
lich Nicotin gewonnen. Die Vergiftung war erst in etwa 24 Stunden tödtlicb 
verlaufen. Nicotin wirkt bekanntlich ausserordentlich schnell tödtlich, oft fast 
momentan wie Blausäure. Leichenlheile waren nicht mehr vorhanden, wohl aber 
das angebliche Nicotin. Bei der Untersuchung constatirte ich Fäulniss-Alkaloide, 
denen Spuren von Nicotin schwachen Tabaksgeruch verliehen. Für das Nicotin, 
muss ich hervorheben, ist die Eigenartigkeit des Geruchs insbesondere beim 
Erwärmen so charakteristisch, dass ich in derselben genügende Hülfe finde, 
bei einer Nicotin-Vergiftung auf die riohtige Fährte geleitet zu werden. Keines 
der mir bisher bekannt gewordenen Ptomaine zeigte den ausgesprochenen Tabaks¬ 
geruch. Im übrigen ist das Verhalten des Nicotins zur Jodlösung, die Bildung 
der Roussin’schen Jodnicotinkrystalle so characteristisch, dass m. E. eine Ver¬ 
kennung bei sachgemäßer Prüfung unmöglich ist. 

Das Atropin kann verkaunt werden, wenn Ptomaine auftreten, welche 
mydriatisch wirken. Was das von Zülzer und Sonnenschein hergestellte ani¬ 
malische Atropin ist, wissen wir nicht, weil Analysen darüber fehlen. Unter den 
Brieger’schen Ptomainen wirkt das Mydalein pupillenerweiternd. Dasselbe ist 
jedoch chemisch, trotz der analytisch meist wenig Charakteristiken Eigenschaften 
des Atropins, von letzterem recht gut zu unterscheiden. Insbesondere die Flüchtig¬ 
keit des Atropins mit Wasserdämpfen, seine Schwerlöslichkeit in Wasser, seine 
grosse Krystallisations-Fähigkeit, sein stark bitterer Geschmack, endlich die 
Sublimirbarkeit geben neben dem physiologischen Verhalten ausreichende Er- 
kennuDgsmerkmale. 

In der gerichtlich chemischen Praxis darf man somit im Allgemeinen wohl 
zugeben, dass gewisse Schwierigkeiten durch die Entstehung von Ptomainen bei 
der Ermittlung alkaloidischer Gifie entstehen, dass diese Schwierigkeiten aber bei 
sorgfältiger Arbeit, bei genügender Erfahrung über den gegenwärtigen Stand der 
Frage und bei der Erkenntniss der Stoffe, welche insbesondere störende Farben- 
reactionen liefern, ohne zu den Ptomainen zu gehören, sich in der Regel über¬ 
winden lassen. — 

Aus meiner Praxis darf ich noch mittheilen, dass die Unsicherheit in der 
Beurtheilung eines Befundes ganz besonders wächst, wenn man über unzurei- 


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chendes Untersuchungsmaterial verfügt. Es sollte seitens der Herren Gerichtsärzte 
ganz besonders darauf Gewicht gelegt werden, bei Verdacht auf Alkaloid-Ver- 
giftungen nicht gar zu spärliche Mengen Untersuchungs-Materials einzuliefern. 
Ich habe in einem Fall einer Daturin-Vergiftung, veranlasst durch Verwechslung 
der Gebrauchsweise eines Herba Stramonii enthaltenden Räuchermittels zum 
Theeaufguss, kaum 50 Grm. der Leber der erwachsenen Denata zur Untersuchung 
erhalten, eine Menge, mit der man selbstverständlich nichts anfangen kann. Es 
dürfte auch bei dem Verdacht auf Alkaloide mehr davon Gebrauch zu machen 
sein, die Leichentheile mit Alkohol oder doch mindestens mit starkem Weingeist 
vor der Zersetzung möglichst zu bewahren. Auch auf einen Punkt möchte ich 
noch aufmerksam machen, der ebenfalls unter Umständen jedes Resultat vereiteln 
kann, die unverhällnissmässige Grösse des Uebersendungsgefässes zu den Asser¬ 
vaten. Ich erhalte zuweilen in Gefässen von 2—3 Liter Rauminhalt nur hundert 
Gramm den Boden kaum bedeckender Massen, die beim Transport an die Gefäss- 
wände geschleudert, derart dem zersetzenden Einfluss der Luft ausgesetzt sind, 
dass veränderliche Stoffe ganz gewiss nicht beständig bleiben können. 

Die Frage der Ptomaine bietet eine bedenkliche Perspektive, wenn man 
an die Möglichkeit denkt, als giftig erkannte Ptomaine zu Giftmorden selbst zu 
benutzen. 

Ein überaus weites Arbeitsfeld bietet sich auch, wenn man den Produkten 
nachspürt, welche die nach den bahnbrechenden Mothoden von Koch als Krank 
heitsträger erkannten niederen Organismen auf verschiedenen Nährböden zu 
erzeugen im Stande sind. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass hier eine lange 
Reihe überaus giftiger, wahrscheinlich sehr leicht zersetzbarer Stoffe der chemi¬ 
schen und medicinischen Wissenschaft geschenkt werden dürften, welche sich als 
Produkte der Zerstörung des Organismus ebenfalls mit mehr oder weniger Berech¬ 
tigung unter die Ptomaine einreihen lassen dürften. Auch für die gerichtliche 
Chemie und die gerichtliche Medicin werden diese Körper bei der Möglichkeit, 
acute Erkrankungen mit acuten Vergiftungen zu verwechseln, ihre hohe Bedeu¬ 
tung haben. Doch alles dies sind Fragen, welche mehr und mehr in das medici- 
nische Gebiet überführen, das ich nicht berechtigt bin, zu betreten, und welches 
von so hervorragenden Specialforschern bearbeitet wird, dass die Aufhellung des 
heule herrschenden Dunkels nicht lange wird auf sich warten lassen. — 

(Schluss der Sitzung: 1 1 4 Uhr Mittags.) 

Am Nachmittage fand im „Englischen Hause“ ein Festmahl und am Abende 
geselliges Zusammensein in den „Kaiserhallen“ statt. 


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Zweite ordentliche Sitzung 
am 26. September 1885, Vormittags 9 l / 4 Uhr 
in der Theerbusch’schen Ressource. 

VI. Hr. A. Lesser (Berlin): Demonstration einiger Verletzungen 
der Geschlechtstheile, bedingt durch instrumenteile Provocation 
des Aborts. 

Sehr geehrte Herren! Ich werde mir erlauben, Ihnen eine Reihe von Zeich¬ 
nungen vorzulegen, welche Verletzungen der Scheide und der Gebärmutter, ver¬ 
anlasst durch criminelle Provocation des Aborts, wiedergeben. Diese Abbildungen 
sind für den zweiten Band meines Atlas bestimmt; sie vergegenwärtigen Ihnen 
den grösseren Theil der durch Fruchtabtreibung erzeugten Läsionen, welche ich 
während meiner mehr als siebenjährigen Thätigkeit am Institut für Staatsarznei¬ 
kunde hierselbst zu sehn Gelegenheit gehabt habe. Ich werde, falls mir Ihre 
Güte die Zeit gewährt, dann noch über meine übrigen, nicht abgebildeten Beob¬ 
achtungen berichten, welche sich auf den nämlichen Gegenstand beziehen, und 
die analogen in der Litteratur der letzten 20 Jahre beschriebenen Fälle zur Ver¬ 
gleichung heranziehen. Zum Schluss beabsichtige ich, eine kurze Gegenüber¬ 
stellung dieser, mit anatomisch demonstrirbaren Verletzungen verbundenen Frucht¬ 
abtreibungen und solcher ohne postmortal nachweisbare Läsionen folgen zu lassen. 

Fall 1. Das 1. Object 1 ) zeigt Ihnen, meine Herren, sehr einfache Verletzun¬ 
gen. Sie sehen in der Mitte der hinteren Gebärmutterwand eine ziemlich senk¬ 
recht verlaufende, rinnenförmige Läsion, welche die ganzen oberen 2 Drittheile 
des Halses einnimmt und mit ihrem Ende bis in den untersten Abschnitt des 
Körpers reicht. Sie verbreitert und vertieft sich nach oben hin, ohne jedoch die 
Grenzen der Schleimhaut zu überschreiten. Die glatten, wenn auch nicht ganz 
gradlinigen Ränder der Verletzung sind geschwollen, ihre und des Grundes 
Farbe ist, gleichwie die der übrigen Cervix-Innenfläche, eine tief-grünliche, 
bedingt durch faulig veränderten Blutfarbstoff. Etwas nach links von der 
Mittellinie, neben dem oberen Ende dieser Furche, welches übrigens, wie das 
untere, abgerundet ist, sitzt eine zweite, etwa */ 3 so grosse Läsion, die in Folge 
ihres mehr horizontalen Verlaufs mit jener einen nach unten offenen Winkel bildet. 
Auch sie ist nicht in ihrer ganzen Ausdehnung von gleichen Dimensionen. Ihre 
untere Hälfte gleicht dem oberen Abschnitte der schon beschriebenen Continuitats- 
trennung. nur reicht sie nicht so tief in das Gewebe hinein, ihr oberer Theil ver¬ 
schmälert sich äusserst schnell, so dass sein grösserer Abschnitt eine fast lineare 
Trennung bildet. Ihre Ränder sind kaum geschwollen. Diese zweite Verletzung 
liegt vollständig oberhalb des inneren Muttermundes. 

Die Scheide, die Aussenfläche der Portio vaginalis, der unterste Abschnitt 
des Halses sind vollkommen frei von jeder Verletzung. Die Innenfläche des nur 

Es ist nicht möglich gewesen, sämmtliche Bilder iithographiren zu lassen; 
die gegebenen veranschaulichen die Haupt-Typen der Verletzungen 


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Zweiter Sitzungstagr. 26. September 1885. 


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wenig vergrösserten Körpers ist bis auf die markstückgrosse Placentarstelle, 
welche von dem obersten Theile des EröfTnungsschnittes zufällig getroffen ist. 
glatt, sie zeigt nur eine massige Schwellung der grünlich verfärbten Schleimhaut 
mit Andeutungen diphtherischer Trübung in der Nähe der Verletzungen; Decidua- 
Resto finden sich auf ihr nicht vor. 

Hieraus geht hervor, dass zwischen Tod und Abort — der letztere dürfte 
gegen Ende des 3. Monats erfolgt sein — schon eine nicht unerhebliche Anzahl 
von Tagen gelegen ist und zwar, nach der nur unvollständigen und unsicheren 
Anamnese zu schliessen, gegen 13—14. 

In Betreff der Manipulationen sowie in Betreff des Instruments, mittelst 
dessen jene ausgeführt sind, haben die richterlichen Erhebungen nichts festzu¬ 
stellen vermocht. 

Fall 2. Die gleichen Lücken finden sich in der Geschichte des folgenden 
Falles. Es hat nur ermittelt weiden können, dass Denata 22 Tage vor dem Tode 
unter Schüttelfrost und Schmerzen im Abdomen erkrankt ist, dass am folgenden 
Tage Kreuzschmerzen und heftiges Fieber vorhanden waren und etwa 24 Stunden 
daraaf der Abort eintrat. Erst 4 Tage vor dem Tode, nachdem mehrfache 
Metrorrhagieen die Umgebung alarmirt hatten, sah ein Arzt die Kranke; er hörte, 
dass sie seit der Fehlgeburt bettlägerig gewesen, er constatirte eine schwere 
Sepsis, ausgehend von jauchiger Endometritis und complicirt mit Retention von 
Placentar-Resten. Er entfernte diese sowie die anderen zersetzten Inhaltsmassen 
des Uterus und der Scheide, indem er mit der Hand einging; irgend welcher 
Kraftaufwand war bei diesen Manipulationen nicht nöthig. — Den tödtlichen 
Ausgang vermochte er nicht mehr abzuwenden. 

An dem wiedergegebenen Abschnitt der Geschlechts-Organe bemerken Sie, 
m. H., eine bedeutendere Vergrösserung der Gebärmutter und beträchtlichere 
Dimensionen der Placentarstelle als in dem 1. Object, so dass in Hinblick auf 
die Länge der zwischen Fehlgeburt und Ableben gelegenen Zeit die Annahme 
nothwendig erscheint, die Gravidität habe etwa die Hälfte der normalen Dauer 
erreicht gehabt. Die Gebärmutter trägt auch in diesem Falle die unzweideutig¬ 
sten Spuren der instrumentellen Einleitung des Aborts. Sie sehen die schwerste 
der Verletzungen ebenfalls in der Mitte der hinteren Cervixwand gelegen, und 
zwar etwa an der Grenze des mittleren und oberen Drittheils; ihre Längsaxe ver¬ 
läuft aber nicht, wie in dem 1. Falle, parallel mit der Längsaxe des Organs, sie 
durchsetzt das Gewebe der Schleimhaut und die grössere Hälfte der Muskel¬ 
schicht, indem sie von unten innen nach oben aussen sich erstreckt. Es handelt 
sich hier um eine nicht zu verkennende Stichwunde mit glatten Begrenzungs- 
flächen von beiläufig l'/jCtm. Länge und 4 Mm. grösster Breite. Die zweite, 
allein die Schleimhaut betreffende Verletzung hat ihren Sitz in den unteren 
Partieen des Halses und zwar in der linken Hälfte der Hinterfläche. Sie beginnt 
etwa 2 Mm. über dem äusseren Muttermund und erreicht bei einer Breite von 
kaum 4 Mm. und einer ganz geringen Tiefe eine Länge von ca. 3 Ctm. Der äussere 
Muttermund bildet nicht, wie in dem 1. Falle, einen ununterbrochenen Ring, 
dessen Oberfläche durchweg in demselben Niveau gelegen ist, er zeigt rechts wie 
links je eine deutliche Einziehung, herrührend von alten, verheilten Einrissen, 
die bei früheren Entbindungen acquirirt worden sind. Gleichen Ursprungs und 
Alters sind auch die beiden, fast die ganze Länge der Seitenwände durchziehen- 


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den Cervix-Narben, welche an die Einkerbungen des Os externum sich an- 
schliessen. Die Wand des Halses und des unteren Körpertheiles ist, worauf ich 
beiläufig noch aufmerksam mache, in Folge frischer Entzündung geschwollen. — 
Die Scheide und die äusseren Geschlechtstheile sind frei von frischen Ver¬ 
letzungen. 

Fall 3. Die Wunden, welche die 3. Zeichnung wiedergiebt, sind bedeutend 
umfangreicher und schwerer, als die der beiden vorerwähnten Fälle; sie lassen nur 
einen kleinen Theil der Begrenzung des inneren Muttermundes und deren Nachbar¬ 
schaft frei, sie erstrecken sich ferner auch weiter in der Körperwand hinauf. In 
breiter Ausdehnung liegt die zerrissene Muskulatur vor und verleiht den von ihr ge¬ 
bildeten Partien des Grundes und der Ränder eine höchst unregelmässige, buohtige 
Beschaffenheit Die zwei grösseren Verletzungen beginnen in dem mittleren Theile 
des Halses, die dritte, kleinere, in dem obersten Abschnitte desselben. Die eine 
jener, welche in der linken Hälfte derHinterwand ihren Sitz hat, verläuft fast senk¬ 
recht aufwärts, gegen die Mitte sich ziemlich plötzlich verbreiternd; ihre Länge be¬ 
trägt 3 '/jj Ctm.. sie misst bis über 12 Mm. in derQuere. Die zweite der bedeuten¬ 
deren Läsionen hat Hufeisen-Form mit gegen die Scheide offener Biegung, sie be¬ 
ginnt in der Mitte der hinteren Wand und greift bis auf die rechten Seiientheile der 
vorderen über. Ihr dem äusseren Muttermund am nächsten gelegener Abschnitt 
übertrifft an Breite und Tiefe nicht wesentlich die Hauptverletzung der Figur 1 ; 
der übrige Theil der Wunde ist fast dreimal so breit und greift stellenweise um 
ebenso viel weiter in die Tiefe. Die ganze Länge der Läsion beträgt 6 Ctm. Die 
dritte Verletzung endlich nimmt fast den ganzen, von der eben beschriebenen um¬ 
fassten Raum ein. ihre Länge erreicht etwa 1 1 Ctm., ihre Tiefe und Breite 
sowie ihre übrigen Charaktere stimmen vollständig mit den der an sie angrenzen 
den Theile der zu zweit erwähnten Wunde überein. 

Wie die ziemlich glatte Beschaffenheit der Körperinnenfläche darthut. kann 
auch in diesem Falle der Tod der Ausstossung der Frucht, welche etwa 15 bis 
20 Ctm. lang gewesen sein mag, nicht alsbald gefolgt sein. Eine Anamnese 
fehlt fast vollständig; es ist nur bekannt geworden, dass Donata 4 Tage vordem 
Tode als an Peritonitis leidend in Bethanien aufgenommen ist. 

Noch bei Weitem roher und ungeschickter als in den bisher vorgeführten 
Fällen müssen die Manipulationen in den 4 Beobachtungen gewesen sein. auf 
welche ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte. In drei von diesen ist der 
Angriffspunkt der Instrumente ausserhalb des Cervicalcanals gelegen, in der 
letzten ist die Einführung jenes in diesen erst nach mehreren missglückten Ver¬ 
suchen geluugen, deren Spuren recht augenfällig sind. 

Fall 4. In dem ersten Object dieser Reihe begegnen wir einer vollständigen 
Durchtrennung der Muskulatur und der Schleimhaut an der auch in den vorigen 
Fällen vorzugsweise getroffenen Gegend, in der Mitte der hinteren Cervixwand. 
Die Zerreissung. die, wie die weitgreifende Ablösung der Muskulatur von dem 
Bauchfell mit Sicherheit darthut. durch die Einführung eines Instruments zwischen 
diese Schichten und durch dann erfolgten Druck nach vorn erzeugt ist, endet 4 Mm. 
unterhalb des inneren Muttermundes mit abgerundeter Spitze und reicht, wohl 
entsprechend der geringeren Widerstandsfähigkeit der Schleimhaut gegenüber der 
der contractilen Schichten, in ersterer etwas höher hinauf als in diesen. Die 
Rissflächen erscheinen vollkommen glatt, sind aber stark geschwollen und nament- 


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lieh in den unteren Partieen recht blutreich. Sie haben ein durchaus gutes Aus¬ 
sehen, keine Spur eines durch Infection oder sonstwie bedingten regressiven Vor¬ 
ganges ist an ihnen zu bemerken. Die vordere Fläche der stark injicirten Serosa 
erscheint, ebenso wie deren übrige Schichten, grünlich und zwar zum wesentlichen 
Theil in Folge cadaveröser Veränderungen. Die Trennungsfläche der Vagina ist, 
genau entsprechend ihrem Ansätze an den Cervix, eine leicht bogenförmige und 
gleichfalls glatt. Die vordere Muttermundslippe erscheint wenig, die hintere 
ziemlich stark geschwollen; ein bedeutender Blutgehalt bedingt die livide Farbe 
ihrer Oberfläche. Die übrige Schleimhaut des Cervicalcanals ist blass, nicht 
verdickt, sie ist frei von jeder Abweichung. Ebenso verhält sich die Innenfläche 
des nur ganz wenig vergrösserten (8, 5, 2 s / 4 Ctm.) Körpers, der in den oberen 
Partien seiner vorderen Wand die Ansatzstelle der Placenta noch deutlich er¬ 
kennen lässt. Erwähnenswerth dürften nur noch kaum über hirsekorngrosse 
Blutungen in der Muskulatur sein, welche in der Gegend des inneren Mutter¬ 
mundes ihren Sitz haben. 

In Betreff der Anamnese habe ich durch die Güte des Herrn Dr. Hofmeier 
erfahren, dass das kaum 17jährige Mädchen 9 Tage vor seinem Ableben in das 
Elisabeth-Krankenhaus aufgenommen ist, dass sie laut Angabe der Mutter 3 bis 
3V2 Wochen vorher, etwa im 4. Monat der Schwangerschaft, abortirt habe. Im 
Hospital bot die Patientin ausser der Peritonitis, welcher sie erlag, nur einen 
geringen, ab und zu blutigen, aber niemals übelriechenden Ausfluss aus den 
Geschlechtstheilen dar. 

Fall 5. Die in dieser Zeichnung (Fig. 1 der Tafel) wiedergegebene Gebär¬ 
mutter und Scheide zeigt eine Combination von Verletzungen, welche den in Fig. 1 
und 2 vergegenwärtigten ähneln, mit solchen, welche der des 4. Falles an dieSeite 
zu stellen sind. Der Unterschied gegenüber der letzteren beruht wesentlich in der 
Beschaffenheit der Oberflächen; dieselben sind hier höchst uneben, überall ver¬ 
sehen mit Fetzen nekrotischen Gewebes; sie zeigen also ein Aussehen, welches 
an und für sich schon mit Sicherheit darauf hinweist, dass zwischen dem Tode 
und den Manipulationen, welche die Abtreibung herbeiführen sollten, eine bei 
Weitem kürzere Frist gelegen haben muss, als in dem Fall 4. 

Auch hier hat die Spitze der Canüle oder einer Spritze — es sind nach- 
gewiesenermassen Injectionen von kaltem Wasser applicirt worden — in dem 
hintern Abschnitt des Scheidengewölbes sich gefangen. Das Rohr ist dann inner¬ 
halb der Muskelschicht des Halses in die Höhe gestossen worden und hat einmal 
in dieser — etwa im Niveau der Scheiden-Innenfläche — eine bis 3 '/ 2 Ctm. an 
Länge erreichende Trennung und zweitens eine bis auf die vordere Hälfte über¬ 
greifende Ablösung des Vaginal-Ansatzes herbeigeführt. 

Aus der so entstandenen Höhle führen zwei, etwas schräg von unten nach 
oben verlaufende Risse in das Lumen des Cervix; auch an diesen sind, wie im 
vorigen Falle, die Verletzungen der Schleimhaut ausgedehnter, als die der con- 
tractilen Schichten. Der Schleimhaulriss, welcher der Mitte der Hinterwand zu¬ 
nächst gelegen, zeigt in seinem oberen Abschnitt, abweichend von seiner unteren 
Hälfte und von dem in der rechten Seitenwand gelegenen, fast ganz glatte 
Flächen. Ungefähr 1 */ 2 Ctm. unterhalb seines oberen Endes, welches nur wenig 
tiefer als der innere Muttermund gelegen ist, sitzt eine längsovale, etwa 7 und 
3 Mm. an ihrem Eingänge messende Stichwunde, welche, sich schnell verjüngend, 


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in den obersten Schichten der Muskulatur ihr Ende erreicht. Noch weiter nach 
links von der Mitte, aber ebenfalls noch in der Hinterwand, findet sich ein zweiter 
kaum 1,5 Ctm. langer Stichcanal, dessen Richtung jedoch nur wenig von der 
Längsaxe des Organs abweicht. Seine fast 6 Mm. im Durchmesser führende, 
ziemlich rundliche Eingangs- und Ausgangsöffnung liegen hart an einander; sie 
bieten, wie ich nebenbei bemerken will, die grösste Aehnlichkeit mit den durch 
roh applicirtes Klysma erzeugten Mastdarmläsionen. Eine sechste, nur die oberen 
Schichten der Schleimhaut betreffende Wunde von 3 1 / 2 und 1,2 Ctm. Auss- 
maass ist in der linken Seitenwand und deren Nachbarschaft gelegen; sie er 
reicht mit ihrem oberen Abschnitt den Gebärmutterkörper. Auch sie hält in 
Uebereinstimmung mit der Mehrzahl der übrigen Verwundungen die Richtung 
von links unten nach rechts oben ein. 

Die Oberflächen der Verletzungen sind, wie die der Nachbarschaft, diph¬ 
therisch; die letztere ist lebhaft geschwollen. Die grösste Volumszunahme, be¬ 
dingt durch wässrig-eitrige Infiltration, hat jedoch im Bereich der vordem Lippe 
Platz gegriffen, trotzdem dieselbe von allen Theilen des Cervix am weitesten von 
den Continuitätstrennungen abliegt. 

In vollkommener Uebereinstimmung mit dem relativ frischen Aussehen der 
Verletzungen stehen die Dimensionen des Uteruskörpers. Derselbe ist mindestens 
3mal so gross wie der zuletzt besprochene (13. 87 4 . 4*/ 2 Ctm.), trotzdem die 
Gravidität kaum 4 Wochen länger gedauert haben soll. Der Tod ist in dem uns 
jetzt beschäftigenden Falle 11 Tage nach dem Abort eingetreten, der Abort 
erfolgte etwa 27 Stunden nach der Einspritzung, an welche sich sofort Uebel- 
keit, Schwäche, schweres Krankheitsgefühl anschloss. 

Fall 6. Fast noch bedeutendere Verletzungen als der soeben besprochene 
Fall bietet der folgende. Er betrifft eine Frau ira VII. Monat der zweiten 
Schwangerschaft, welche wenige Tage vor Beginn des tödtlichen Leidens schwer 
gehoben und 24 Stunden vor Anfang des letzteren eine grosse physische Auf¬ 
regung durchzumachen gehabt haben will: Angaben, welchen man ausserordent¬ 
lich häufig unter ähnlichen Umständen begegnet. 9 Tage vor dem Tode erkrankte 
die bis dahin ganz gesunde Person plötzlich und schwer, die Hauptklagen be¬ 
zogen sich auf Leibschmerzen, auf ein drückendes Gefühl in der Unterbauch¬ 
gegend mit Drängen nach unten. Die Schmerzen steigerten sich, so dass Pa¬ 
tientin selbst jeden Lagewechsel auf das Sorgsamste zu vermeiden suchte; etwa 
2X24 Stunden später trat nach einem Schüttelfrost eine heftige Blutung aus 
den Genitalien auf, Erbrechen und Durchfall gesellten sich hinzu: 4 Tage nach 
Beginn der Erkrankung erfolgte die Ausstossung einer 34 Ctm. langen, unver¬ 
letzten Frucht von 925 Grm. Gewicht; 5 Tage darauf war die Frau todt. 

Die Section deckte in der hinteren Cervixwand (Fig. 2 der Tafel) der nament¬ 
lich in Bezug auf ihren Dickendurchmesser den Uterus (14 1 / 2 , 7 \/ 2 i 6% Ctm.) 
des vorigen Falles überragenden Gebärmutter eine ebenfalls von links unten nach 
rechts oben sich hinziehende Zerreissung auf, welche, in der Gegend des inneren 
Muttermundes sich nach rechts und vorn wendend, die seitlichen Partien des 
Organs durchsetzt und erst in der linken Hälfte der vorderen Wand ihr Ende 
erreicht. Unverletzt ist also nur V 6 des Cervix und zwar die Nachbarschaft der 
linken Seitenwand und diese selbst. Der aufsteigende Theil der höchst unregel¬ 
mässig gestalteten Verletzung verbreitert sich nach oben hin um das Doppelte, 


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er misst hier etwa 8 Gtm. Er betrifft die ganze Dicke der Schleimhaut und den 
grössten Theil der Muskulatur, an einzelnen Stellen des höchst unebenen Grundes 
reicht er nahe an die Serosa. Der horizontal verlaufende Schenkel der Läsion 
zeigt bis zur Mitte der vorderen Wand die nämlichen Verhältnisse; hier aber be¬ 
ginnt er die Schleimhaut zu verschonen und sich intramuskulär bis an sein Ende 
fortzusetzen. Die unterhalb des Risses gelegenen Theiie der hinteren und vorde¬ 
ren Gervixwand rechts sind vornehmlich geschwollen und zeigen zudem noch sie 
senkrecht durchtrennende Risse von nicht unbedeutender Ausdehnung. Die heller 
erscheinenden Partien dieser Gegenden bieten auf dem Durchschnitt das Bild 
eitrig-wässriger Infiltration, die an ihrer Oberfläche bläulich schimmernden sind 
ausserdem von umfangreichen Blutungen durchsetzt. Die Farbe der Rissflächen 
zeigt ähnliche Differenzen, die helleren Töne sind bedingt durch Necrose, die 
dunkleren durch diese und blutige Infiltration, bezgl. Imbibition. — Die ganze 
Vorderfläche der Körperhöhle wird von der Placentarstelle eingenommen, die 
übrigen Abschnitte zeigen eine gesättigt opak-gelbliche Farbe, nur wenige in 
der Nähe des Fundus gelegene Partien von geringem Umfange lassen die von 
Decidua-Resten gereinigte Schleimhaut zu Tage treten; sie setzen sich durch ihre 
Hyperämie und ihre Hämorrhagien scharf von der Umgebung ab. 

Verletzungen der Scheide sind nicht vorhanden. 

Fall 7. In dieser Beobachtung (Fig. 3 der Tafel), in welcher es dem behan¬ 
delnden Arzt nach langem Zureden gelungen war, von der Patientin das Geständ¬ 
nis zu erhalten, sie hätte sich etwa 19 Tage vor dem Abort Einspritzungen be¬ 
hufs dessen Provocation machen lassen, hatte die Spitze des Instruments in dem 
vordem Scheidengewölbo Widerstand gefunden und war, dasselbe in schräg nach 
links gerichteter Bewegung durchbohrend, bis in das Parametrium vorgedrungen. 
Sie hat auf diesem Wege die peripherischen Theiie des Halses getroffen. Etwa 
in der Mitte der rechten Seitenwand des Stichcanals findet sich ein, ebenso wie 
dieser selbst, für den kleinen Finger passirbares Loch, welches in einen gleich¬ 
falls von höchst unebenen Wänden begrenzten Ganal von etwa 2'/ 3 Gtm. Länge 
führt. Der letztere liegt in der vorderen Gervixwand und verläuft von links oben, 
sich allmälig zuspilzend, nach rechts unten. Die Schleimhaut des Gebärmutter¬ 
halses wird von diesen Läsionen nicht erreicht, und scheint anch, nach der 
zwischen den sogenannten Einspritzungen und dem Abort gelegenen, ausser¬ 
ordentlich langen Zeit zu schliessen, überhaupt nicht mit dem Instrument in 
Berührung gekommen zu sein. Die Schwellung der vorderen Muttermundslippe 
ist, wie die Zeichnung vergegenwärtigt, eine erhebliche. Ebenso sind die Dimen¬ 
sionen der übrigen Uterustheile (Grösse des ganzen Organs 14, 7%, 3 V 4 Ctm.) 
gegen die Norm recht bedeutend vergrössert; der Umfang der Gebärmutter, die 
Dicke ihrer Wand, die Entwicklung der Placentarstelle spricht in Anbetracht des 
Momentes, dass der Tod 2 Tage nach Ausstossung der Frucht eingetreten, für 
eine Dauer der Schwangerschaft von ungefähr 4 Monaten. Die höchst unebene 
Beschaffenheit der Körper-Innenfläche wird durch zum grossen Theil noch fest 
anhaftende Eihaut-Reste bedingt. 

Fall 8. Noch ferner ihrem Ziel, dem Ei, ist die Operateurin in dem näch¬ 
sten Falle geblieben. In diesem sind Verletzungen der Gebärmutter überhaupt 
nicht vorhanden; die Scheide allein ist betroffen, und zwar an 3 Stellen. Etwa 

ViertelJahrMohr. f. ger. Med. N. F. XL1V. 1. ic 


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4 Ctm. oberhalb des Introitus vaginae findet sich in der hinteren Wand eine 
rundliche Durchbohrung der Schleimhaut, welche die nämlichen Dimensionen 
darbietet wie die obere der hier wiedergegebenen Verletzungen. Dieselben haben 
ihren Sitz in der rechten Hälfte des Scheidengewölbes, die höher gelegene ist längs¬ 
oval, ihr grösster Durchmesser, welcher etwa 1 1 / 4 Ctm. beträgt, liegt quer; die 
untere und grössere hat eine unregelmässige Kreuzform, ihr Hauptdurchmesser, 
gegen 2'/ 2 Ctm. lang, verläuft der Längsaxe der Scheide parallel. Die etwas un¬ 
regelmässigen Ränder allerWunden sind necrotisch, trübe-grünlich. Die im Forniz 
sitzenden Läsionen dringen bis in das rechte Parametrium vor und haben den 
Ausgang gebildet für eine umfangreiche, jauchige Phlegmone desselben. 

Die Gebärmutter bot ähnliche Verhältnisse dar wie in dem zuletzt herum¬ 
gegebenen Bilde; ich habe sie in Folge dessen nicht zeichnen lassen. Der Tod 
war ebenfalls 2 Tage nach dem Abort erfolgt, die Entwickelung des Fötus ent¬ 
sprach dem 5. Monat. Leider war es nicht möglich gewesen, von der Patientin 
den Termin der Abtreibungsversuche zu erfahren; bei ihrer 5 Tage vor der Aus- 
stossung der Frucht erfolgten Aufnahme in die Charite blutete sie stark aus den 
Geschlechtstheilen und gab nur an. dass die Häraorrhagie seit mehreren Tagen 
schon andauere. 

Fall 9. Mit einer, man könnte fast sagen, anerkennenswerthen Sorgsamkeit 
ist, nach den Erzeugnissen der Eingriffe zu schliessen, verfahren worden in der 
letzten Beobachtung, die ich Ihnen vorlegen kann. Nicht nur der Gebärmutter¬ 
hals und die anstossenden Theile des Körpers sind, wie in einigen der erwähnten 
Beobachtungen, energisch angegriffen worden, bis in den Fundus uteri erstrecken 
sich die Zerreissungen. Sie sehen, meine Herren, an den nämlichen Stellen, an 
welchen in der Figur 2 die von früheren, ohne Kunsthilfe verlaufenen Entbin¬ 
dungen heriührenden Narben ihren Sitz haben, an den Seitenflächen des Collum 
und deren Nachbarschaft, je eine ziemlich senkrecht aufsteigende Verletzung von 
gegen 1 Ctm. Breite, deren Oberfläche durchweg aneben und fetzig, trotzdem nur 
die Schleimhaut betroffen ist. Etwa in der Mitte des inneren Muttermundes geht 
jede dieser rinnen förmigen Läsionen in eine, bis in die mittleren Schichten der 
Muskulatur reichende Grube von annähernd halbkugeliger Gestalt und etwa 
1,5 Ctm. Durchmesser an ihrem Eingänge über. Von diesen Gruben nahmen 

5 halbcanalförmige Zerreissungen der Körper-Schleimhaut, welche ebenso, wie die 
des Halses, eine fast durchweg verticale Richtung innehalten, ihren Anfang. Zwei, 
ihnen im übrigen vollkommen gleiche, setzen in dem zwischen den Gruben ge¬ 
legenen Theile der hinteren Uteruswand ein, sie beginnen also etwas näher dem 
äusseren Muttermunde, hören aber auch etwas tiefer, als die Mehrzahl der anderen, 
auf, da sie nicht wie diese bis an den Fundus heranreichen. Sie finden ihr Ende 
an dem unteren Rande der Placentarstelle, welche in dem oberen Drittheil der 
hinteren Wand sitzt. Die Breite aller dieser Läsionen schwankt zwischen 2 bis 
7 Mm. Damit Sie sich ein richtiges Bild von dem ursprünglichen Umfang 
dieser Verletzungen zu machen im Stande sind, muss ich noch anführen, dass 
der Tod erst 11 —12 Tage nach dem Abort eingetreten ist, dass also genügende 
Zeit vorhanden gewesen ist, um eine erhebliche Involution des ganzen Organs 
einlreten zu lassen; dass eine solche in der That hier schon Platz gegriffen, da¬ 
für spricht unzweideutig neben Anderem der geringe Umfang der Placentarstelle 
und die Anamnese, welche die Dauer der Schwangerschaft auf 4 Monate fixirt. 


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Der abnorme Umfang der unteren Cervixhälfte ist auf die hierselbst eingetretene 
frische Entzündung zu beziehen. 

Was den rundlichen, unebenen Substanzverlust von etwa 4 Ctm. Durch¬ 
messer in dem linken oberen Quadranten der Scheiden-Schleimhaut anbetrifft, so 
ist derselbe wohl secundärer Natur, erzeugt durch Abstossung diphtherischer 
Partien. Auch die ganzen Oberflächen der Verletzungen sind necrotisch, während 
die mit intacter Schleimhaut versehenen Partien des Uterus zum Theil wenigstens 
nur stark zellig und hämorrhagisch infiltrirt erscheinen. 

Ich bin noch in der Lage, über zwei fernere Fälle berichten zu können, von 
denen der eine mit ausschliesslicher Verletzung des oberen Quadranten der vorderen 
Körperwand, der andere mit einer Cervixzerreissung einhergegangen, welche von 
den demonstrirten erheblich sich unterscheidet. 

Fall 10. Die ersterwähnte Abtreibung hatte eine zum 7. Male Geschwän¬ 
gerte in dem 4. Monate der Gravidität an sich ausführen lassen. Dieselbe war 
erschöpft und stark blutend von dem Besuch ihrer Helfershelferin nach Hause 
zurückgekehrt. 3 Stunden darauf constatirte ein Arzt Wehen, Fortbestehen 
einer recht copiösen Metrorrhagie, Singultus, Erbrechen, Diarrhoe, peritonitische 
Schmerzen und Fieber. Der Puls war fadenförmig, frequent. 8 Stunden nach 
dem Eingriff erfolgte die Ausstossung der Frncht, das ausfliessende Blut roch 
übel, die Temperatur war auf 40 gestiegen, die Zahl der Pulse betrug 120. 
Die Nachgeburt folgte erst nach 15 Stunden. Der Tod trat 35 Stunden nach 
den leider nicht näher bekannt gewordenen Manipulationen, 27 Stunden nach 
dem Abort ein. 

Es fand sich ein jauchigesOedem derParamotrien und derOvarien, 500Ccm. 
Jauche in dem Peritonealsack und eine gleich beschaffene Flüssigkeit in dem 
ausserordentlich schlaffen, ödematösen und grossen (19, 12, 6 Ctm.) Uterus. In 
der Höhe des Ursprunges des Ligamentum 'rotundum dextrum zeigten sich drei 
verdünnte Partien der vorderen Wand von etwa 50 Pf. bis 1 Markstück-Grösse, 
von denen eine 3, eben noch nachweisbare Canäle erkennen Hess, die mit dem 
Innern des Bauchfellsackes communicirten. Die Begrenzung der Läsionen an der 
Innenfläche war eine undeutliche, an der peritonealen Seite des Organs hoben 
sich die Heerde durch ihre auf Blutungen zu beziehende Grünfärbung scharf von 
der blassen Umgebung ab. 

Fall 11. Der letzte Fall endlich, dessen Kenntniss ich der Güte des Herrn 
Geh. Rath Wolff und meines schon verstorbenen Freundes Paul Sachse ver¬ 
danke, betrifft eine Ersigeschwängerte, deren Tod etwa 3 Tage nach dem Abort, 
deren Abort circa 24 Stunden nach den von unermittelter Hand ausgeführten 
Manipulationen eingetreten war. Es fand sich eine 1 l / 2 Ctm. lange Zerreissung, 
welche die vordere Lippe etwa 1 Ctm. über dem Os externum in querer Richtung 
durchsetzte. Man konnte also den Finger von dem Cervicalcanal durch jene 
Perforation in das Scheidegenwölbe führen. Auch in dieser Beobachtung hatte die 
bei den Abtreibungsversuchen erfolgte Infection schon vor der Geburt der frisch- 
todten, 15 Ctm. langen Frucht bedeutende locale und allgemeine Erscheinungen 
hervorgerufen. Die Eihäute und die Placenta waren bei ihrer Ausstossung bereits 
in Fäulniss begriffen; die Eihäute waren nicht zerrissen, ein Moment, das in 
Hinblick auf die bekannte Gallard’sche Behauptung von einigem Interesse ist. 

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Nichtsdestoweniger war der Muttermund und der Hals, abgesehen von jener 
Durchbohrung, unverletzt Es sei mir erlaubt, hier auf die von Tardieu an¬ 
geführte Zerreissung des ganzen Halses und der oberen Vaginalpartie zu verweisen, 
welche Danjau bei eine spontanen Abort im V. Monat beobachtete, und deren 
Entstehung nach Dubois’ Meinung nur erklärlich sei durch die Ausstossung 
des Eies en bloc, also eines ebenso grossen oder noch grösseren Körpers, als der 
Kopf eines ausgetragenen Kindes. Für uns sehr bemerkenswert!! ist auch noch 
eine Beobachtung Mekertschianz’ aus dem Jahre 1881. Derselbe constatirte 
bei einem unzweifelhaft spontanen Abort im IV. Monat der Schwangerschaft einen 
Centralriss der hinteren Wand der Portio. bedingt durch Rigidität des äusseren 
Muttermundes. 

Wir haben also, um noch ein Mal die Zahl und den Sitz der Zerreissungen 
zu überblicken, in den vorgeführten 11 Fällen: 

8 Vaginalverletzungen, 

20 Verletzungen des Halses oder dieses und des benachbarten 
Körperabschnittes, 

10 Verletzungen der übrigen Körperabschnitte, 
mithin im Ganzen 38 Läsionen. Von diesen fanden sich je 4 in der Vorder- und 
in der Hinterwand der Scheide, 7 in deren oberen, 1 in deren unteren Hälfte. 
Die vordere Wand des Halses war 2. die hintere 12 Mal getroffen; die Ver¬ 
letzungen an der Vereinigung des Halses und des Körpers sassen durchweg in 
der hinteren Hälfie des Organs, und die Verwundungen der oberen Körpertheile 
nahmen nur in einem Falle die gegen die Blase sehende Wand ein. 

Gestatten Sie mir, m. H., bevor ich auf die Erledigung einiger Fragen ein¬ 
gehe, zu welchen die berichteten Beobachtungen anregen, dass ich in möglich¬ 
ster Kürze die analogen, in der Literatur der letzten 20 Jahre von mir aufge¬ 
fundenen Fälle — es sind nur 28 — zur Vergleichung heranziehe. 7 Male han¬ 
delt es sich um Vaginalverletzungen, 9 Male um solche des Halses oder dieses 
und des benachbarten Körperabschnittes, in 12 Beobachtungen war der übrige 
Theil des Uteruskörpers getroffen. 

Die Läsionen der Scheide bieten unter sich und mit den von mir gesehenen 
die grössten Verschiedenheiten. Gallard 1 ) fand bei 3 Sectionen von Frauen, die 
in Folge von Fruchtabtreibung gestorben waren, Blutungen in der Schleimhaut 
des Scheidengewölbes und der Portio; in einem vierten verdächtigen Falle, in wel¬ 
chem ein Arzt die Scheide tamponirt hatte, um die schliesslich tödtlich gewor¬ 
dene Blutung zu stillen, liess es Gallard unentschieden, ob dieser therapeuti¬ 
sche Eingriff oder etwaige criminelle Manipulationen die Ursache gleicher Quet¬ 
schungen gewesen seien. Tardieu 2 ) sah drei kleine Stichverletzungen in dem 
vorderen Scheidengewölbe, von denen jedoch nur 1 die Schleimhaut vollständig 
durchsetzt. Eine Perforation des hinteren Scheidengewölbes führt Gaillard 3 ) an; 


*) T. Gallard, De l’avortement au point de vue mödico-legal. 1878. p. 63. 
*) A. Tardieu, Etüde medico-l6gale sur l’avortement 1S81. IV. Ed. Fall 50. 
*) Gaillard, Amer. Journ. N. F. CXXX. p. 406. 1873. Nach Referat in 
Schmidt’s Jahrbüchern 1874. Bd. 162. S 40 u. 41. 


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diese war von der Denata eigenhändig erzeugt worden, indem sie einen 17 */ a Zoll 
langen Draht so tief eingefiihrt hatte, dass die Spitze ihren Fingern entschlüpfte. 

Wahrscheinlich durch Accoucbement force entstanden — also wol nicht 
mit Recht hierher zu zählen — ist der von Harris 1 ) beschriebene Riss in 
der hinteren Wand der Scheide einer Frau, welche im VI. Monat der Gravidität 
nach Anwendung innerer Mittel abortirte. Die Trennung begann 4 Ctm. ober¬ 
halb des Introitus und reichte bis in’s Scheidengewölbe, wo sie in einem 
4—5 Ctm. weiten Loche endet, welches frei mit der Peritonealhöhle commu- 
nicirte. Morband und Salzat 2 ) fanden eine Ruptur der linken Vaginalwand 
und des entsprechenden Theiles des Halses, zusammen von 10 Ctm. Länge. 
Auch hier war der Bauchfellsack eröffnet; die Gravidität war bis zum VII. Monat 
gediehen. In einem Devergie’schen Falle 3 ), dessenAetiologie übrigens, wie die der 
vorigen Beobachtung, dunkel und unklar ist. war die hintere Scheidenwand zer¬ 
rissen, der invertirte Uterus und Darmschlingen prolabirt. 

Gallard 4 ) sah bei einer durch Verblutung nach Abort im III.—IV.Monat Ver¬ 
storbenen eine Trennung in dem unteren Theile der Vulva und der hinteren Vaginal¬ 
wand von unbedeutenden Dimensionen. Es kam zur Sprache, ob nicht ein junger 
Arzt, der Denata nach Beginn der Hämorrhagie untersucht hatte, diese Verletzun¬ 
gen erzeugt haben könnte. Gallard stellt diesen Entstehungsmodus energischer 
in Abrede, als der behandelnde Arzt selbst. Mir ist ein Fall bekannt, in welchem 
in einem Touchircurs für Studenten ein Dammriss acquirirt worden ist. 

Ich möchte noch kurz einer anderen Schlussfolgerung Gallard’s 5 ) Er¬ 
wähnung thun. Ein Mädchen behauptete, 7 Jahre vor der Untersuchung im III. 
Monat abortirt zu haben, inzwischen war sie nicht niedergekommen. Gallard 
fand in den hinteren Partien ihrer Vulva eine kleine weisse Längsnarbe und 
schloss hieraus, dass die Person nicht in einer so frühen Zeit abortirt haben 
könne, da dergleichen Einrisse nur bei der Geburt eines reifen oder der Reife 
nahen Kindes vorkämen. Ich habe einen Fall gesehen — es ist die von Liman 6 ) 
in dem Casper’schen Handbuche publicirte Verletzung des Gebärmutter¬ 
körpers — in welchem ein 1 Ctm. langer Dammriss nach Abort im IV.—V. 
Monat bestand. Eine Hebamme war behufs Entfernung von Placentarresten aus 
dem Uterus mit der ganzen Hand eingegangen. 

In 9 von jenen 29 Fällen war der Cervix, oder dieser und der anstossende 
Körpertheil verletzt worden. Ein Mal 7 ) durchsetzte ein enger Stichkanal das Ge¬ 
webe der vorderen Cervixwand in einer Ausdehnung von mehreren Centimetern, 
bevor er, sich nach innen wendend, die Schleimhaut perforirte; in den übrigen 
Fällen war die Läsion durch Einwirkung von der Innenfläche des Canals erzeugt. 


*) Harris, Boston uied. and surg. Journ. 1881. p. 346 Nach Referat in 
Virchow-Hirsch’s Jahresbericht (E. Hofmann) 1881. Theil I. S. 534. 

*) Von Tardieu 1. c. als Fall 51 citirt. 

*) Devergie, Annales d’hygiene publ. etc. 1838. S. 425, und citirt von 
Tardieu 1. c. 

*) Gallard 1. c. Appcndice. S. 118. 

*) Gallard, Annales d’hyg. publ. 1879. Bd. I. S. 371. 

*) Handbuch der ger. Med. VII. Aufl. Bd. I. S. 267. Fall 117. 

7 ) Tardieu 1. c. Fall 42. 


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7 Male 1 ) war die hintere Wand. 1 Mal die vordere. 4 Male die seitlichen 
Partien and deren Nachbarschaft verwundet worden; in einer Beobachtung 2 ) 
mit 2 Verletzungen an der unteren Körpergrenze ist deren Silz aus der Beschrei¬ 
bung nicht zu ersehen. Im Ganzen wurden in den erwähnten 9 Fällen 15 durch 
die Manipulationen erzeugte Gontinuitätstrennungen und 1 Quetschung ge¬ 
funden. Die Zerreissungen hatten zum Theil die Form von Halbkanälen, von 
Furchen, zum Theil waren sie grubenförmig. Die Quetschung documentirte sich 
als eine 0,5 Ctm. im Umfange messende Blutung in der Mitte der hinteren 
Lippe; der Fall, in welchem sie aDgetroffen worden, hat dadurch noch ein be¬ 
sonderes Interesse, dass die tödtliche Peritonitis nicht, wie in den übrigen Beob¬ 
achtungen, in welchen sie gefunden, durch die bei den Manipulationen einge¬ 
führten Infectionsstoffe hervorgerufen wurde, sondern dass sie bedingt erschien 
durch den Uebertritt von Eiter aus der rechten Tuba. Die uterine Mündung der¬ 
selben war beträchtlich erweitert und da das Rohr der Spritze den Rückfluss der 
injicirten Massen aus dem Uterus in die Scheide verhinderte, erfolgte ein Ueber¬ 
tritt in die Tube und eine Verdrängung der eiterigen Inhaltsmasseu dieser in 
den Peritonealsack. 3 ) 

Das gleiche, übrigens sehr seltene Ereigniss war auch in einem von mir 
secirten Falle eingetreten, in welchem es sich aber nicht um eine Schwangere 
und um Abtreibungsversuche, sondern um eine Puerpera und von ärztlicher Seite 
angeordnete Carbolsäure-Ausspülungen des Uterus handelte. 

In den anderen Partien der unteren Hälfte des Gebärmutterkörpers fanden 
— und zwar stets in der hintern Wand — Raynard 4 ), Maschka 5 ), Säxin- 
ger 6 ) Perforationen, von denen die Mehrzahl (5 in 2 Fällen) linsengross waren, 
während einmal die Maasse als 3 und 2 Ctm. betragend angegeben sind. In 
der von Lim an 7 ) veröffentlichten Beobachtung handelt es sich um eine mit nicht 
penetrirenden Stichwunden versehene Quetschung, welche etwa 4 */ 2 Ctm. im 
Durchmesser besass; auch sie war in der hintern Körperwand gelegen. Eine 
ähnlich veränderte Partie von bedeutend geringeren Dimensionen wies die rechte 
Seitenwand des Uterus und deren Nachbarschaft auf; diese Zerreissungen hielten 
sich innerhalb der Mucosa. 

In 6 Fällen, welche mit unzweifelhaftem Recht hier angezogen werden 
können, hatten die Verletzungen ihren Sitz in der obern Hälfte oder in dem 
Grunde der Gebärmutter. In 2 8 ) von diesen handelte es sich um erbsengrosse 


*) Tardieu 1. c. Fall 38. — v. Langsdorf, Centralblatt für Gynäkologie, 
1883. No. 46. S. 734. — Maschka, Diese Vierteljahrsschrift Bd. 42. S. 38. — 
Foster Bush, Boston raed. and surg. Journ. August 1882. Nach Referat in 
Virchow-Hirsch’s Jahresbericht (E. Hofmann) für 1882. Theil I. S. 510. — 
E. Uofmann, Lehrbuch der ger. Med. III. Aufl. S. 257. 

*) Tardieu 1. c. Fall 39. 

*) Sentex, Annales d’hyg. publ. etc. 1882. II. Theil, S. 488. 

4 ) Tardieu 1. c. Fall 40. 
s ) Maschka 1. c. Fall 2. S. 32. 

*) Säxinger, Maschka’s Handbuch der ger. Med 18*2. Bd. III S. 283. 

7 ) 1. c. 

*) Maschka 1. c. Fall 3 u. 4. 


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Zweiter Sit/.ungstag. 2(i. September 1885. 


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Perforationen, in einem 3. •) war eine Durchbohrung von 3 und eine andere von 
5 Ctm. Längenausdehnung vorhanden. Maschka 2 ) fand einmal die Zerreissung 
der innern Schichten 2 Ctm. lang, die der äussern 4 Ctm. lang und 2 Ctm. breit. 
De vergie 3 ) beschreibt eine Ocffnung imGrunde desüterus von 4—5Ctm.Länge 
— ausserdem fand sich in demselben Falle noch eine Zerreissung des Halses — 
und Tardieu 4 ) bezeichnet die Grösse einer ebensolchen, von ihm gesehenen als 
gleich einem Fiinffrankenstiick. 

Ich bin ferner der Meinung, dass auch die von Coutagne 3 ) citirten Publi- 
calionen von Fredet und Tourdes ohne Zwang hier eingereiht werden dürfen; 
der letztere sah ein ebenfalls fünffrankenstückgrosses Loch, der erstere eine Rup¬ 
tur von 2 l /a Durchmesser im Fundus. Coutagne’s eigene Beobachtung 
als sicheren Fall einer durch criminelle Manipulationen erzeugten Gebärmutter- 
zerreissung anzusehen, vermag ich nicht, so gravirend und verdachterregend 
auch die äussern Umstände der Erkrankung und des Todes der Denata sind. 
Ein 21 jähriges Mädchen, welches die Frucht sich abtreiben zu lassen ent¬ 
schlossen war und mit einer Hebamme sich auf einen Preis von 95 Francs ge¬ 
einigt hatte, wurde 1 Stunde nach ihrem Eintritt in die Wohnung dieser schwer 
krank gesehen; sie starb etwa 2 Tage später, nachdem die Hebamme erst we¬ 
nige Stunden vor dem Exitus einen Arzt gerufen hatte. Demselben wie dem Ge¬ 
richt sagte die Frau, dass Patientin resp. Denata kurz nach dem Betreten ihrer 
Wohnung collabirt sei und aus der Scheide Blut verloren habe. Die 6 Tage 
nach dem Tode von Coutagne ausgeführte Section ergab eine Querruptur von 
10 V* Ctm Länge in dem Fundus; dieselbe reichte von einer Tube bis zur an¬ 
dern. Der 15 Ctm. lange Fötus nebst Placenta fand sich innerhalb des Bauch¬ 
fellsackes. Die Ausdehnung der Zerreissung Hess Coutagne selbst die Hypo¬ 
these aufstellen, dass eine kleine, durch die Eingriffe der Hebamme erzeugte 
Verletzung des Fundus sich in Folge der eingetretenen Uteruscontractionen all- 
malig bis zu jener Grösse ausgedehnt habe, eine Hypothese, für welche er auf 
eine Erfahrung Spencer Wells recurrirt. Spencer Wells sah nämlich nach 
Einführung des Fingers in eine aus Versehen angelegte Punctionsöffnung des 
Uterus die Wand desselben in grosser Ausdehnung auseinanderweichen und eine 
10 Ctm. lange Ruptur sich entwickeln. — Die von Coutagne beobachtete 
Läsion gleicht in ihrem anatomischen Verhalten so sehr einigen der seltenen 
Beobachtungen, betreffend Spontanrupturen der schwängern Gebärmutter oder 
Berstungen derselben nach Einwirkung äusserer Gewalt auf die Bauchdecken, 
dass ich ausser Stande bin, auf Grund der vorhandenen Daten die Möglichkeit 
auszuscbliessen, es habe sich um eine Trennung gehandelt, welche unabhängig 
von den supponirten, durch nichts bewiesenen Manipulationen der Hebamme 
entstanden sei. 


') Kemperdick, Deutsche med. Wochenschrift 1881. No. 5. 

*) Maschka, diese Viertelj. Bd. 41. S. 271. 1884. 

*) Tardieu I. c. Fall 37. 

4 ) Tardieu 1 c. Fall 45. 

5 ) Coutagne, Des ruptures uterines pendant la grossesse etc. 1882. Fall 27 
und 28. 


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Preußischer Medicinalbeamten-Verein. 


In 37 der Ihnen vorgefährten Fälle von sicher constatirter Frucbtabtrei- 
bung hatte also 

37 Mal der Hals oder dessen und die unmittelbar daranstossenden 
Körperpartien, 

26 - die übrigen Theile des Körpers, 

12 - die Scheide 

Continuitätstrennungen erfahren, in 3 Fällen waren Quetschungen des Scheiden¬ 
gewölbes, in 1 Falle eine solche der Cervixschleimhaut angetroffen worden. 

Die sich wol zunächst aufdrängende Frage: ist der angestrebte Erfolg, 
die Ausstossung der Frucht, früher eingetreten in denjenigen Fällen, in welchen 
post mortem nachweisbare Verletzungen in dem Körper der Gebärmutter er¬ 
zeugt sind, als in jenen, deren Läsionen den Cervix oder nur die Vagina betra¬ 
fen? diese Frage ist leider nicht mit wünschenswerther Sicherheit zu beant¬ 
worten. Denn in den vorliegenden Beobachtungen ist nur 11 Male die Zeit des 
Aborts zu ersehen, und auch diese Angaben entbehren nicht ganz selten der 
nöthigen Genauigkeit. 

8 Stunden nach den Manipulationen wurde in dem vorletzten meiner Fälle 
(mehrfache Contusionen und Stichverletzungen in dem vordem obern Quadranten 
des Corpus) die Frucht ausgestossen; nach 12 —16 Stunden trat der nämliche 
Erfolg in der Maschka’schen Beobachtung auf, in welcher eine Perforation 
nicht fern vom Fundus existirte, nach 1 Tage in dem von Li man publicirten 
Fall (Verletzung der hinteren Körperwand), nach 24—48 Stunden in dem zum 
Bild 9 (Fig. 4 der Tafel) gehörigen, welcher durch die Extensität seiner Ver¬ 
letzung die erste Stelle unter den soeben erwähnten Fällen einnimmt. 

In den Fällen, welche Cervix-Verletzungen aufwiesen, geschah der Abort 
etwa 1 —19 Tage nach dem Eingriff. In der fünften (Fig. 1 der Tafel) der von 
mir demonstrirten Abtreibungen erfolgte die Fehlgeburt nach 27 Stunden, wäh¬ 
rend in jener, deren nicht minder schwere Verletzungen in Figur 6 (Fig. 2 der 
Tafel) wiedergegeben sind, der Abort erst nach 4 Tagen eintrat. Ein noch 
grösseres Missverhältniss zwischen der Ausdehnung der Verletzungen und dem 
Zeitpunkt der Fruchtausstossung besteht zwischen der letzterwähnten Beobachtung 
und dem zweiten meiner Fälle; in diesem abortirte die Person nach 2mal 24 
Stunden. Ein grösserer Zwischenraum scheint auch in der ersten der E. Hofm an n - 
sehen Beobachtungen zwischen Eingriff und Abort gelegen zu haben, trotzdem 
die In- und Extensität seiner Verletzungen die meines zweiten Falles bedeutend 
übortraf. Eine sehr auffallende Differenz besteht zwischen diesen und der letzten 
hier anzuführenden Beobachtung, derjenigen, welche das Bild 7 (Fig. 3 der 
Tafel) geliefert hat. Hier lagen etwa 19 Tage zwischen den Manipulationen und 
dem Eintritt des gewünschten Erfolges. Augenscheinlich sind hier die Uterus- 
Contractionen erst durch jene schwere Infection ausgelöst worden, deren Aus¬ 
gangspunkt jene Stichverletzungen gewesen sind. Die Frau, eine zum 7. Male 
Geschwängerte, war unter Bauchschmerzen bald nach der Einspritzung erkrankt; 
etwa 6 Tage darauf constatirte ein Arzt eine phlegmonöse Infiltration der äusse¬ 
ren Geschlechtstheile und der unteren Abschnitte der vordem Bauchwand mit 
Peritonitis, und erst, nachdem ein jauchiger Abscess über dem Schambein — 
natürlich unter stetiger Zunahme der Allgemeinerscheinungen — sich entwickelt 


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ZweiterSitzungstag. 26. September 1885. 


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hatte, erfolgte die Ausstossung der Frucht. Auch bei mehreren der andern Fälle 
batte, wie zum Theil schon oben bemerkt worden, die septische Infection bereits 
vor der Entbindung bedeutende Störungen erzeugt; wie weit die letzteren miter¬ 
regend auf den Uterus gewirkt haben, entzieht sich natürlich der Abschätzung. 

In meinem Falle mit den 3 Scheidenverletzungen ist der Abort nicht vor dem 
5. Tage nach Acquisition derselben, in dem analogen von Tardieu, dessen Lä¬ 
sionen viel unbedeutender waren, nach 2 Tagen eingetreten. 

Das vorhandene Material legt es also nahe, dass weder der Sitz, noch, 
wie aus dem Angeführten zugleich hervorgeht, die Ausdehnung der am Sections- 
tische nachweisbaren Verwundungen ausschlaggebende Factoren für die Schnellig¬ 
keit der Auslösung, für die Energie und die Häufigkeit der Gebärmutter-Con- 
tractionen sind. 

Eine Bestätigung findet dieser Satz, wenn wir durch ähnliche instrumen¬ 
teile Eingriffe provocirte Fehlgeburten zur Vergleichung heranziehen, welche ohne 
post mortem erkennbare Läsionen verlaufen sind. Ich will mich hier nur auf 
eigene Erfahrungen beschränken, zumal die Literatur noch weniger zahlreiche 
Beobachtungen dieser Art enthält als solche, die mit augenfälligen Verletzungon 
verbunden gewesen sind. 

So kenne ich einen Fall, in welchem nach 18, drei, in welchen nach etwa 
24 Stunden, je zwei, in denen nach 2 und 3, einen, in welchem nach 10 Tagen 
der Abort eintrat. 

Jener paradox erscheinende Satz verliert seine Absonderlichkeit, wenn wir 
erwägen, dass die Eingriffe, deren Spuren die in der Leiche entdeckten Ver¬ 
letzungen sind, ja durchaus nicht die Gesammtheit dev Einwirkungen zu reprä- 
sentiren brauchen und auch thatsächlich oft genug nicht repräsentiren. welche 
gegen die Gebärmutter und ihren Inhalt gerichtet gewesen sind. Eine mehr oder 
minder grosse Ablösung der Eihäute oder dieser und der Placenta, eine Durch¬ 
bohrung der ersteren sind an der Leiche der Mutter ja schon nach dem Eintreten 
des Aborts nicht mehr nachzuweisen. 

Aber auch die Länge der Krankheit wird durch die Gegenwart oder das 
Fehlen von Verletzungen und dementsprechend weder durch ihre Grösse noch 
durch ihre Geringfügigkeit in erkennbarer Weise beeinflusst. In 18 eigenen Be¬ 
obachtungen, in welchen ich die nöthigen Notizen besitze, finden sich 9 ohne, 
9 mit demonstrablen Verletzungen. Die ersten beiden Fälle der Zusammenstel¬ 
lung endeten 25 resp. 35 Stunden nach Vornahme der verbrecherischen Eingriffe 
— es sind dies jene hier in Berlin vorgekommenen Stichverletzungen in den 
oberen zwei Dritttheilen des Körpers—. den 3.—5. Platz (Tod nach 36—49 St.) 
nehmen Beobachtungen ohne nachweisbare Verletzungen ein. Nach 4, 7, 9, 12, 
13, 19, 22 Tagen und endlich nach Verlauf von mehr als 1 Monat starben die 
Personen, deren Läsionen ich gezeigt habe, während in je einem Falle ohne er¬ 
kennbare Verletzungen der Tod nach 6 und 9, in 2 andern nach 12, in je einem 
Falle nach 13, 27, 31 Tagen eintrat. 

Ich kann diese Fälle wohl mit einander vergleichen, weil die Todesursache 
in allen die nämliche war, sämmtlicbe starben an Puerperalfieber. Die Sectionen 
boten alle Varietäten desselben dar; die Aufzählung der Befunde kann ich wohl 
übergehen. 

In allen Fällen war gegen die Annahme nichts vorzubringen, dass die In- 


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Preussischcr Medicinalbeamten-Verein. 


fection mit den zur Einleitung des Aborts ausgeführten Eingriffen zugleich 
statigefunden habe. In einer Beobachtung allein, welche ich deshalb bisher 
nicht berücksichtigt habe, sind mir in Bezug anf diesen Punkt Zweifel aufge¬ 
stiegen, Zweifel, die ich leider nicht im Stande bin zu lösen. Eine 32jährige 
Frau halte zugestanden, dass eine Hebamme ihr behufs Fruchtabtreibung eine 
Stricknadel in die Geschlechtstheile eingeführt habe. 2 Tage darauf tamponirte 
eine andere Hebamme der Blutung wegen mit Salicylwatte, weitere 24 Stunden 
später erfolgte der Abort, das Ei ging uno actu ab. Am folgenden Tage ent- 
liess die Hebamme die Wöchnerin aus ihrer Behandlung, nachdem sie eine Irriga¬ 
tion der Geschlechtstheile vorgenommen hatte. Die Puerpera schien ganz gesund 
zu sein. 3—4 Tage darauf wurde Fieber bei derselben bemerkt, nach ferneren 
4 Tagen war ausgesprochene Sepsis vorhanden, die im Verlauf von weiteren 
24 Stunden den Tod berbeiführte. Handelte es sich in diesem Falle um eine 
Späterkrankung oder führten die Manipulationen der 2. Hebamme die tödtliche 
Infeclion herbei?- 

VII. Hr. Mittenzweig berichtet über das Ergebniss der Kassen-Prüfung; 
sie hat zu Ausstellungen keine Veranlassung gegeben und es spricht die Ver¬ 
sammlung dem Vorstande Entlastung aus. — 

VIII. Auf Antrag des Herrn Werner (Sangerhausen) werden durch Zuruf 
die Herren Kanzow, Rapmund, Falk, Schulz, Wolffhügel für das 
kommende Geschäfts-Jahr zu Vorstands-Mitgliedern wiedergewählt. 

Herr Kanzow nimmt im Namen der sämmtlichen fünf Herren die Wieder¬ 
wahl dankend an. — 

IX. Hr. Wal lieh s: Die Stellung des preussischen Kreis-Phy- 
si kus. 

Meine Herren! Es sind fast 40 Jahre vergangen, seit ich angefangen habe, 
mich mit Medicin zu beschäftigen, und ebenso lange habe ich die Losung „Me¬ 
dici nalreform“ gehört. Oftmals habe ich später darin mitgesprochen und mitge- 
rathen. und endlich die Hoffnung, in unserm Preussen noch ernstliche Förderung 
zu erleben, fast fahren lassen, bis nun vor Kurzem durch den von dem Herrn 
Minister den Regierungen vorgelegten Entwurf dieselbe neu belebt wurde. Es 
erscheint mir nun unzulässig und zu Missdeutungen Anlass bietend, wenn die 
Medicinalbeamten, die sich hier zu ihrer dritten Hauptversammlung vereinigt 
haben, über diese für sie so wichtige Angelegenheit Stillschweigen beobachten, 
während sie doch schon über die Stellung der Kreiswundärzte, die in meiner 
Heimathprovinz eine unbekannte und nicht entbehrte Einrichtung sind, einge¬ 
hend verhandelt haben. Näher liegt den Kreisphysikern doch die eigone Stellung, 
und, diese einmal scharf ins Auge zu fassen, scheint mir Zeit und Gelegenheit 
gleich dringend. Wenn auch über die Nothwendigkeit einer Aenderung derselben 
alle Factoren einig sind, so wird für die bevorstehende Verhandlung der Sache 
im Landtage der Nachweis, dass die Thätigkeit des Kreismedicinal-Beamten schon 
jetzt eine solche ist, die ihn vollständig in Anspruch nimmt, keineswegs als über¬ 
flüssig zu betrachten sein. Ich kann os dabei nicht vermeiden, mehr als mir 
lieb ist, von mir selber zu sprechen, weil ich die Beläge für meine Behauptun- 


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Zweiter Sitzungstag. 26. September 1885. 


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gen ans der eigenen Erfahrung, der 14jälnigen Amtsführung in einer grossen 
Stadt nehmen muss, und ich bitte deshalb um Nachsicht. Ich muss ferner voraus¬ 
schicken, dass die Arbeit, um die es sich handelt, keineswegs überall die gleiche 
ist. Abgesehen von dem Unterschied, den Stadt und Land bedingen, bieten sich 
sowohl durch die provinziellen Sonderheiten, die Art, in welcher die einzelnen 
Regierungen diese Dinge auffassen und behandeln, als auch durch Temperament 
und Eifer des Localmedicinal-Beamten gewiss grosse Verschiedenheiten dar. Es 
kommt hinzu, dass die öffentlichen Verrichtungen, zu denen ärztliche Sachkunde 
nöthig ist. sich nach gewissen Richtungen hin theilen und an vielen Orten von 
verschiedenen Personen wahrgenommen werden, von dem Stadtarzt, dem Poli¬ 
zeiarzt. Stadt- oder communale Aerzte giebt es allerdings m. W. bisher in 
Deutschland ausser in Frankfurt a. M. noch gar nicht; dagegen werden die be¬ 
züglichen Dienste der Gemeinden vielfach von nicht-beamteten (Polizeiärzten) 
geleistet. Es ist nun schwer, ja kaum möglich, diese Functionen streng ausein¬ 
ander zu halten; im Grunde halte ich es für das Zweckmässigste, wenn die Lei¬ 
stung, mindestens die Leitung in einer Hand liegt, und, da dies in meinem 
Wirkungskreise der Fall ist, werde ich meine Erörterung in diesem Sinne führen. 

Auch über die Stellung des Gerichtsarztes, welche in Preussen mit der des 
Gesundheitsbeamten verbunden ist, hätte ich gern Einiges vorgebracht, z. B. 
betreffs der mangelhaften Taxe von 1872, des ungenügenden Schutzes, den er 
geniesst. über die Frage, ob der Physikus zugleich Gerichtsarzt sein müsse 
u. s. w., allein die Beschränkung auf das eigentliche Thema erschien aus äussern 
Gründen nöthig. 

Wenden wir uns also zu den Obliegenheiten des Physikus als Gesundheits¬ 
beamten. Für den werdenden Arzt giebt es auf der Hochschule so viel zu lernen, 
dass auch demFleissigsten kaum Zeit übrig bleibt, mit den Gegenständen sich zu 
beschäftigen, deren Kenntniss ihm für eine Beamtenstellung nöthig ist. Er lernt 
also nach der Staatsprüfung, falls er sein Augenmerk auf solche Stellung richtet, 
mit Eifer das dazu Erforderliche, besteht die strenge Physikatsprüfung nach so 
und so viel Jahren, und wartet dann wieder — oft eine Reihe von Jahren — 
auf die Anstellung, die ihm bis jetzt sehr bescheidene Vortheile bietet, aber an 
seine Leistung, falls er allen Ansprüchen gerecht werden will, grosse Anforde¬ 
rungen stellt. Eine Instruction für die Geschäftsführung der Kreisphysiker giebt 
es in Preussen nicht, wohl in andern Staaten, z. B. eine sehr sorgfältig aus¬ 
gearbeitete vom 10. Juli 1884 für die sächsischen Bezirksärzte —, die Kennt¬ 
niss der Gesetze und Verordnungen, die darauf Bezug haben, muss er mühsam 
aus den Gesetz- und Amtsblättern, Rundschreiben der Regierungen u. s. w. zu¬ 
sammensuchen. Wenn auch die Eulenberg’sche Sammlung „Das Medicinal- 
wesen in Preussen“ dankenswerthe Belehrung giebt, so ist sie doch lückenhaft, 
und das Wichtigste findet sich in Provinzial-Verordnungen. Der Physikus der 
Neuzeit soll nicht allein Kenntniss in gerichtsärztlichen Dingen und in der 
grossen Menge des für die öffentliche Gesundheitspflege erforschten Materials be 
sitzen, sondern auch die hygienischen Untersuchungs-Methoden bis zu einem ge¬ 
wissen Grade beherrschen. Welche Aufgabe eröffnet sich hiermit für ihn! welche 
Opfer an Arbeit, Zeit und — Geld! So dankbar wir der Aufforderung gefolgt sind, 
unter Herrn Kooh’s Leitung einen Einblick in die bacteriologischen Forschungs- 
methoden zu gewinnen, es knüpft sich daran als Folge eino (mindestens mora- 


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Preussischer Medicinalbeamten-Verein. 


lische) Verpflichtung, auf diesem Gebiete stetig in einiger Uebung zu bleiben. 
Nur um hier die dazu nöthigen Einrichtungen zu schaffen, habe ich mehr Geld 
verwandt, als mein ganzes staatliches Jahrgehalt beträgt! 

Zu den wichtigsten Aufgaben gehört nun die sogen. Medicinal- und Gesund¬ 
heits-Polizei, in erster Linie die Sorge für die Salubrität des Kreises. Der Phy- 
sikus theilt dieselbe entweder mit den Orts- (Polizei-) Behörden oder den sogen. 
Sanitäts-Commissionen. Diese üben entweder eine ständige Thätigkeit aus oder 
treten nur bei besondern Anlässen (Cholera, anderen Epidemieen) zusammen; — 
stets ist er wohl Mitglied, und von dem Geiste, den er ihnen einflösst, wird 
ihre Wirksamkeit meistens abhängen. Um nicht zu weitläuftig zu werden, will 
ich die Gegenstände nur nennen, auf welche zu achten ist: gesunde Beschaffen¬ 
heit der Wohnungen, Reinhaltung der Höfe, Gänge, Strassen, Gassen, Ställe, 
Dungstätten, Wasserläufe, auf Rauch und Dünste, belästigende Gewerbe (Pro- 
ducten-Handlungen, Lager von Häuten, Schlächtereien. Gerbereien u. s. w.), Be¬ 
schaffenheit der Nahrungsmittel und Getränke (Wasser), Gebrauchs-Gegenstände. 
Im Jahr 1883 ward von unserer Regierung eine sorgfältige Revision aller 
Grundstücke nach gewissen sanitären Gesichtspunkten angeordnet, von mir ein 
Frage-Schema für den Kreis festgestellt; im Ganzen sind dann 4300 Grundstücke 
besichtigt, von welchen 976 mit Mängeln behaftet gefunden wurden. Alle diese 
letzteren mussten von mir gutachtlich beurtheilt und viele derselben vor der 
Aeusserung auch besichtigt werden. Sämmtliche (352) Brunnen wurden einer 
summarischen Prüfung unterworfen und die, welche Bedenken erregten, genauer 
chemisch untersucht. 

Wenn nun auroh diese allgemeine Fürsorge der Verbreitung ansteckender 
Krankheiten entgegengewirkt werden soll, so wird beim Auftreten solcher ein wei¬ 
teres Eingreifen nöthig. Gegenüber einer Reihe von ihnen, wie Scharlach, Masern, 
Diphtherie, Keuchhusten u. s. w. befinden wir uns in den grossen Städten mit 
unsern Massregeln vielfach noch im Stadium der Erwägung oder des Versuchs, 
gegen andere glauben wir, bereits wirksam handeln zu können. Dahin gehören 
z. B. das Kindbettfieber, der Flecktyphus, die Pocken, die Cholera. Bei der 
erstgenannten Krankheit ist es nöthig, die nähern Umstände jedes einzelnen 
Falles zu erforschen, die Hebammen zu überwachen, — bei den andern sind 
namentlich die Anfänge zu beachten, die ersten Fälle zu isoliren u. s. w. In 
der Cholera-Epidemie des Jahres 1873, die allerdings mit ca. 130 Fällen hier 
nur geringe Ausbreitung gewonnen, habe ich in jedem dieser Fälle an Ort und 
Stelle Nachforschung nach etwaigen Ursachen angestollt, Schäden aufgesucht 
und Abhülfe derselben erstrebt. — Kenntniss aller oder doch fast aller Vor¬ 
kommnisse wird uns durch die bei den zuletzt genannten Krankheiten vorge¬ 
schriebene sofortige Meldung durch die Aerzte (oder Haushaltungs-Vorstände), bei 
den übrigen durch regelmässige wöchentliche Meldung der von den Aerzten be¬ 
handelten Infectionskranken, wie sie in unserer Provinz seit Jahren geschieht. 

Die Beaufsichtigung einer Menge von Anstalten, die dem Kreisphysikus ob¬ 
liegen, als Kranken-, Siechen-, Armenhäuser, Apotheken, Droguen-Handlungen, 
Bade-Anstalten, Gefängnisse, Kirchhöfe u. a. kann natürlich, so lange nicht be¬ 
stimmte Vorschriften angegeben sind über die Art und Weise, in welcher die 
Aufsicht ausgeübt werden soll, ihn in grösserem oder geringerem Masse in An¬ 
spruch nehmen, je nachdem er seine Befugnisse auffasst. So liegt es allerdings 


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Zweiter Sitzungstag. 26. September 1885. 


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bisher bei vielen seiner Geschäfte. Die Aufsicht über die in fremder Pflege unter¬ 
gebrachten (Kost - oder Kalte-) Kinder war für mich eine sehr zeitraubende, so 
lange nach Verfügung unserer Regierung jedes Kind wenigstens einmal im Jahr 
besucht werden musste. Die Zahl der dadurch nöthigen Revisions Besuche war 
etwa 600 im Jahr, und im Verein mit den über jeden Befund zu machenden 
Notizen, den Verhandlungen mit der Polizeibehörde, den Aerzten, Aufsichtsdamen 
und Pflegemüttern erwuchs daraus eine beträchtliche Arbeit. Man nahm aber 
an den daraus dem Staate erwachsenden Kosten Anstoss (je 1 Mark 50 Pf. Fuhr- 
vergütung), und so hörte diese an sich gewiss nützliche, ja nothwendige Gontrole 
auf, und die Besuche beschränken sich jetzt auf einzelne besondere Fälle (etwa 
40 bis 50 im Jahr). — Eine „Mitwirkung des Kreisphysikus bei der Aufsicht 
über das Impfwesen“ steht im Grunde nur auf dem Papier (§ 1 des Impf-Regu- 
lativs für die Provinz Schleswig-Holstein). Bei uns waren die Physici bis zum 
Erlass des Impfgesetzes vom 8. April 1874 von Amtswegen Impfärzte. Dass 
eine Abänderung dieses Verhältnisses in jedem Betracht fehlerhaft war, brauche 
ich hier wohl nicht nachzuweisen. Wir müssen nun abwarten, ob das neuerdings 
vom Bundesrath festgesetzte Regulativ hierin etwas ändert. 

Einen nicht kleinen Theil seiner Zeit rauben dem Physikus die Beziehungen 
zu dem Medicinal-Personal; zunächst schon die An- und Abmeldungen, die bei 
einem Bestand von etwa 50 Aerzten, 80 bis 90 Hebammen, 9 Apothekern, 
30 Gehülfen und Lehrlingen, welche letztere fortwährend wechseln, u. s. w. 
zahlreich und lästig sind. Dazu kommen dann häufige schriftlich oder mündlich 
vorgebrachte Berichte, Wünsche, Klagen, Beschwerden der genannten Personen 
oder des Publikums. Die Nachprüfungen der Hebammen, die Controle der Ausbil¬ 
dung der Apotheker-Lehrlinge, die Prüfung von Trichinen-Beschauern, Heilgehülfen 
sind zwar nicht häufig wiederkehrende Verrichtungen, erfordern aber gerade des¬ 
halb einige Vorbereitung, Vergegenwärtigung elementarer Kenntnisse. 

Es ist hierbei auch der Theilnahme an dem ärztlichen Vereinswesen zu ge¬ 
denken. Die Wichtigkeit eines guten Verhältnisses zu den Collegen wird von 
keiner Seite verkannt werden und eine Pflege desselben ist vorzugsweise auf 
diesem Boden fruchtbar. Sowohl die Mittheilungen, deren der beamtete Arzt für 
seine Geschäftsführung bedarf, wird er dadurch bereitwilliger erzielon, als auch 
manche Anregung und Förderung für sein thätiges Eingreifen in die Gesundheits¬ 
pflege erfahren. Will er aber in den Vereinen eine einflussreiche, ja leitende 
Stellung gewinnen, so ist dies wiederum nicht ohne Opfer an Zeit nnd Arbeit zu 
erreichen. 

Nach dem Erlass der Gewerbe - Ordnung vom 21. Juni 1869 und der An¬ 
weisung zur Ausführung derselben vom 21. Juli ej. a., nach welcher dem zu¬ 
ständigen Medicinal-Beamten die Pläne solcher Anlagen, welche schädliche Aus¬ 
dünstungen verbreiten, vorzulegen waren, ward uns von der Vorgesetzten Behörde 
zur Pflicht gemacht, uns mit den einschlägigen Verhältnissen vertraut zu machen. 
Wir schafften uns also nicht nur eine Menge dickleibiger und theurer Bücher über 
Technologie, Gewerbe-Hygiene, Arbeiter-Krankheiten u. s. w. an, sondern suchten 
gegebenen Falls auch, in den vorhandenen Fabriken uns praktisch zu bilden. 
Eine Reihe von Jahren habe ich dann auch recht viele Gutachten über gewerb¬ 
liche Anlagen erstattot, bis im vorigen Jahr plötzlich durch eine neue Anweisung 
an die Stelle der Medicinalbeamten der Gewerberath trat. Ich vermag nicht in 


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Preussischer Medicinnlbeamten-Verein. 


die Motive dieser Abänderung einzudringen (vielleicht wollte man der neuen 
Stelle ein Relief mehr geben), aber dass bei Concessionirung von Schlächtereien, 
Gerbereien, Abdeckereien. Leimsiedereien und ähnlichen Anlagen nicht mehr der 
Medicinalbeamte am Orte oder im Kreise gehört wird, sondern der Gewerberath 
in der Bezirks-Hauptstadt, halte ich sachlich für schädlich und bedauerlich. 

Unter den Behörden hat derPhysikus insbesondere mit der Bezirks-Regierung, 
seiner Vorgesetzten Behörde, zu verkehren. Der ihr zu erstattende Jahresbericht 
erfordert, auch abgesehen von der stetigen Arbeit (Statistik), die Mussestunden 
vieler Wochen. Ueber alle wichtigeren sanitären Fragen hat er ihr mit oder ohne 
Erfordern zu berichten, die Veränderungen des Medicinal-Personals zu melden, hin 
und wieder an kommissarischen Besichtungen und Verhandlungen theilzunehmen. 
— Auch mit den Ortsbehörden, dem Landrath, den Magistraten, der Polizei- 
Verwaltung, den Militärbehörden findet mehr oder minder oft ähnlicher Verkehr 
statt, dessen Einzelheiten sich nicht wohl kurz wiedergeben lassen. Eine beson¬ 
dere Berücksichtigung verdienen jedoch die technischen Verrichtungen im Interesse 
der Gemeinde-Verwaltung. Wie ausgedehnt dieselben sein können, dürfte z. B. 
ein Blick in die „Dienst-Instruction für den Stadtarzt in Frankfurt a/M.“ lehren. 
Ich weise hier vorzugsweise auf drei Richtungen hin, das Schulwesen, das Armen¬ 
wesen, die Baupolizei. Wie viel in dem ersteren der Arzt thätig sein kann, ist 
ebenso einleuchtend, als dass in einem grösseren Wirkungskreis die Kräfte eines 
Beamten neben allem Uebrigen dazu nicht ausreichen. Beispielsweise will ich 
hier nur anführen, dass ich im vorigen Jahr der Königlichen Regierung über die 
sanitären Verhältnisse sämmtlicher Privatschulen, Kindergärten, Warteschulen, 
also über deren Raumverhältnisse, Lage, Lüftung, Heizung, Beleuchtung, Trink¬ 
wasser, Aborte habe berichten müssen. — Für die Armenverwaltung wird ausser 
der sanitären Ueberwachung der Pflegeanstalten der Beirath in der Anordnung 
der armenärztlichen Praxis, der Arznei-Verordnung u. a. von grossem Werth sein 
können. — Sanitäre Gesichtspunkte gelangen in den Baupolizei-Ordnungen mehr 
und mehr zur Geltung; diejenige meines Wohnorts erkennt die Wichtigkeit der¬ 
selben auch dadurch an, dass in der Baupolizei-Commission, der alle Pläne zur 
Genehmigung vorgelegt werden müssen, der Physikus Sitz und Stimme hat. Frei¬ 
lich legt ihm das Recht wiederum die — mindestens moralische — Verpflichtung 
auf, in deren Sitzungen allwöchentlich 1 l /., bis 2 Stunden zugegen zu sein. 

Ausser mit dem Medicinal-Personal, den verschiedenen Behörden, muss der 
Physikus auch mit dem Publikum schriftlichen und mündlichen Verkehr unter¬ 
halten. Abgesehen von den vielfachen Attest-Forderungen kommen zahlreiche — 
begründete und unbegründete — Wünsche und Beschwerden an ihn auch von 
dieser Seite heran, denen er sich ohne Härte nicht entziehen kann. 

Zeitraubender als jede andere Arbeit ist jedoch die Medicinal-Statistik, deren 
Umfang stetig wächst. Das Material für dieselbe besteht hier in ca. 4000 Ge- 
burts-, 3000 Todesbescheinigungen, 2000 ärztlichen Wochenmeldungen, Zähl¬ 
karten über Selbstmorde und Unglücksfälle und manchen Einzelberichten. Jede 
Woche wird dem Gesundheitsamt über die Todesfälle berichtet, dem Regierungs- 
Medicinalrath über die neugemeldeten Infectionskrankheiten; letztere initsammt 
den Geburten und Sterbefällen werden wieder monatlich zusammengestellt und 
nach Schluss des Jahres grössere Bearbeitung nach verschiedenen Richtungen 
vorgenommen, — bei weitem nicht nach allen möglichen oder nur wünschcns- 


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Zweiter Sitznngstag. 26. September 1885. 


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werthen. Dazu reichen die Kräfte eines Einzelnen in keiner Weise aus. Zu wie 
vielen Rückfragen, Berichtigungen die einzelnen Scheine und Meldungen Anlass 
gehen, zu so vielen, dass nur die dringenden sich erledigen lassen, will ich nur 
andeuten. 

Die meisten der oben erwähnten Geschäfte sind nicht ohne erhebliches 
Schreibwesen zu erledigen. Die Hülfe eines Bureaus steht dem Physikus nicht 
zu Gebot, alles muss er selbst erledigen, expediren, seine Journale führen, das 
Archiv in Ordnung halten, ja etwaige Abschriften in Verwaltungssachen muss er 
ganz aus eigener Tasche bezahlen, diejenigen gerichtsärztlicher Gutachten gleich¬ 
falls etwa zur Hälfte, weil die taxmässige Vergütung nicht ausreicht. Beispiels¬ 
weise will ich hier anführen, dass ich bei der Regierung darauf antrug, sie möge 
hier wenigstens die Ladungsformulare zu den Hebammen-Nachprüfungen drucken 
lassen. 

Endlich komme ich noch zu den polizeiärztlichen Verrichtungen, die dem 
Physikus als solchem kaum obliegen, aber doch vielfach von ihm versehen wer¬ 
den. Die Grenze zwischen ihnen und den rein staatlichen ist, wie gesagt, nicht 
durchweg streng zu ziehen. Ich rechne zu diesen die tägliche ärztliche Revision 
der in Polizeihaft gebrachten Individuen, die Untersuchung der unter sittenpoli¬ 
zeilicher Kontrole stehenden Mädchen, die Besichtigung von Leichen solcher Per¬ 
sonen, die nicht ärztlich behandelt worden sind, die vorläufige Feststellung bei 
gewissen Verletzungen. Sittenverbrechen, zweifelhaften Geisteszuständen u. A. 

Hiermit glaube ich nun, mein Thema weder erschöpft, noch weniger es in 
untadelhafter logischer Ordnung behandelt zu haben; die sehr umfangreiche, ge¬ 
richtsärztliche Thätigkeit habe ich ganz bei Seite lassen müssen, manches habe 
ich nur kurz andeuten können, aber ich darf annehmen, das das Material, wel¬ 
ches ich dargeboten habe, genügt, um die Behauptung zu rechtfertigen: „Das 
Amt eines Medicinalbeamten nimmt mindestens unter den Verhältnissen, wie ich 
sie geschildert, die ganze Thätigkeit eines Mannes voll in Anspruch“. Da, wo 
dies noch nicht in gleichem Masse der Fall ist, kann jedenfalls seine Zeit nach 
dem jetzigen Stande d.er Lehre von der Pflege der öffentlichen Gesundheit damit 
ausgefüllt werden. Und dies kann sie nicht allein, sondern das öffentliche Inter¬ 
esse verlangt, dass es geschehe. Hierauf, auf die Sorge für das Gemeinwohl, 
gründen wir überhaupt den Anspruch, dass unsere Stellung von Grund aus ver¬ 
ändert werde. Nicht, weil uns bisher aus dem Missverhältnisse zwischen Leistung 
und Vergütung Nachtheil erwachsen und Unrecht zugefügt ist, obgleich wir 
auch darüber uns zu beklagen Ursache haben, sondern weil die grossen Fort¬ 
schritte der Hygiene, die ausgedehntere Fürsorge des Staates nach dieser Richtung 
es gebieterisch erheischen, verlangen wir, dass man die Gesundheits-Beamten 
des Kreises ganz und voll mit dieser Aufgabe betraue und ihre bisherige Zwitter¬ 
stellung demgemäss beseitige. Kann denn bei mir noch die Rede davon sein, 
dass das Physikat eine „Nebenbeschäftigung“ ist? Niemand wird diese Frage 
bejahen wollen. Als ich einmal, gewissermassen zur Probe, bei einer bestimmten 
Anforderung der Regierung an mich diesen Standpunkt geltend machte, ihat sie 
unwillig verwundert. Und ich dachte im Grunde nicht anders. Aber es sollte 
doch nicht so sein, dass der Staat unsere Arbeitskraft missbraucht. Durch 
kleine Aufbesserungen, wie sie in wohlwollender Weise von den Oberbehörden 
versucht sind, ist nicht zu helfen. Die Stellung als Gefängniss-, Bahnarzt u. s. w. 


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Preussischer Medicinalbeamten- Verein. 


dient nicht dazu, dem schreienden Missverhältnis zu begegnen; ich glaube nicht 
einmal, dass sie für den Kreisphysikus geeignet ist. Auch kommen nicht alle 
unteren Behörden den Absichten der oberen in diesen Stücken bereitwillig nach. 
— Auch auf den Ertrag der Privatpraxis darf man uns wahrlich nicht verweisen. 
Wenn der Physikus in seinem Amte der Weise lebt, wie es die Neuzeit erfordert und 
w .e es z. B. in der sächsischeu .Dienst-Instruction der Bezirksärzte vorgeschrieben 
ist, dann bleibt ihm sehr geringe Zeit dazu übrig. Mir ist sie aus solchem 
Grunde nach und nach zerfallen; ich hätte mich dem Amte nicht so widmen 
können, wenn ich ganz ohne eigene Mittel und nicht aus dem communalen 
Dienste einiges Einkommen bezog. Es kommt hinzu, dass das Verhältniss zu den 
übrigen Aerzten durch die Concurrenz in der Privatpraxis sehr leicht leidet, und 
ferner, dass mit ihr eine strenge Handhabung der Gesundheits-Polizei unvereinbar 
ist. Conflicte mit Behörden und Privatpersonen sind unvermeidlich. Auch ge¬ 
richtliche Termine mitunter sind ein Hinderniss. 

Der Kreisphysikus muss in Zukunft Staatsbeamter mit allen Rechten eines 
solchen sein (mit den Pflichten ist er es bereits). Ohnehin ist er gegenüber an¬ 
deren Klassen derselben dadurch benachtheiligt, dass er erst in späteren Jahren 
in’s Amt gelangt. Dafür ist ein Ausgleich zu finden. Ihm muss selbständige 
Initiative, für dringende Fälle Executive zugestanden werden, Organe müssen ihm 
zu Gebote stehen, ernste Verantwortung ihm obliegen. Es gehört nicht zu meinem 
Thema, die ganze Stellung zu skizziren, es liegen auch Muster genug dafür 
vor. Haben doch fast alle anderen deutschen Staaten bereits — einige schon 
vor langer Zeit — Einrichtungen getroffen, welche diese Dinge in befriedigender 
Weise regeln, die sowohl dem Interesse der öffentlichen Gesundheit dienen, als 
den Wünschen des ärztlichen Siandes und der beamteten Aerzte genügen. Wird 
denn Preussen, das sonst zu führen hat, nicht endlich mit dieser Organisation 
Ernst machen? Wo liegt das Hinderniss? Wie lange ist schon von der einen 
Seite gedrängt, von der anderen versprochen worden. Schon im Jahre 1868 hat 
Virchow im Abgeordnetenhause eine ganz veränderte Stellung der Medicinal¬ 
beamten als im öffentlichen Interesse dringend nothwendig bezeichnet und seit 
dem Jahre 1877 haben sich auf Anregung ärztlicher Parlamentarier, zum Theil 
in Anlass der Petitionen von Medicinalbeamten, alljährlich entweder in Com¬ 
missionen oder im Plenum die Zusagungen am Regierungstisch wiederholt, dass 
in einer der nächsten Sessionen oder gar „der nächsten“ eine Vorlage über ver¬ 
änderte Stellung der Medicinalbeamten würde gebracht werden. Noch in der 
Sitzung vom 2. März 1885 by l 'lor Herr Cultusminister erklärt: „Ich habe einen 
Entwurf fertiggestellt, icL Aue mich sehr freuen, wenn ich in dem nächsten Etat 
in der Lage wäre, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der alle Wünsche erfüllt. . . “ 

Auch wenn man die Schwierigkeiten, welche der Neuordnung entgegen¬ 
stehen, würdigt, sie müssen sich besiegen lassen, wenn Staatsregierung und 
Volksvertretung in jenem Grade übereinstimmen. Sind doch viel schwierigere 
Sachen geordnet worden. 

Finanzielle Bedenken könuen doch nicht das Hinderniss sein. Zur Bekäm¬ 
pfung der Thierseuchen scheut man die Geldausgaben nicht, — ist Gesundheit 
und Leben der Menschen weniger werth? 

Werfen wir einen kurzen Blick auf einige Ansätze des Staatshaushalts von 
1885 86. Das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegen- 


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Zweiter Sitzungstag. 26. September 1885. 


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heiten erfordert an ordentlichen Ausgaben 52,7, an ausserordentlichen 4,6 
Millionen Mark, davon für die Hochschulen 6,5, für das gesammte Medicinal- 
wesen 1,45 Millionen!! Die Justizverwaltuug kostet bei einer Ausgabe von etwa 
85,6 und einer Einnahme von 50 Millionen dem Staat 35,6 Millionen! Diese 
Zahlen scheinen mir beredt, ich will daher nicht von den Kosten für das Heer, 
Lnxusbauten u. a. sprechen. Keinenfalls wird man den Zustand der Finanzen 
gegen die Medicinal- Reform geltend machen können. 

Hoffen wir also, dass dem bisherigen unhaltbaren Zustande baldigst ein Ziel 
gesetzt werde, dass der Herr Minister, der ans von seinem Wohlwollen schon Be¬ 
weise gegeben hat, und seine Räthe den wohlgeprüften Entwurf, von dem wir 
Erfüllung unserer berechtigten Wünsche erwarten, in der nächsten Sitzung des 
Landtages vorlegen und er zum Gesetz erhoben werde. — 


Hr. Rapmund: 

Ich habe Herrn Wallichs versprochen, meinerseits hauptsächlich die 
Stellung des Kreisphysikus auf dem platten Lande als Medicinalbeamten ins 
Auge zu fassen und die von ihm gemachten Ausführungen, die sich, wie er 
selbst hervorgehoben, lediglich auf seinen Wirkungskreis als Physikus einer 
grösseren Stadt bezogen, durch meine Mittheilungen gleichsam zu ergänzen. Nun, 
diejenigen Physiker, die wie ich, auf dem platten Lande wirken, werden mir 
sicherlich zugeben, dass unser Gescbäftskreis doch ein völlig anderer ist, als der 
von dem Vorredner geschilderte, und dass vor allem unsere Thätigkeit als Ge¬ 
sundheitsbeamte von den zuständigen Behörden nicht im entferntesten in dem 
Maasse in Anspruch genommen wird, wie dies bei Herrn Wal lieh der Fall zu 
sein scheint. Ist doch unsere amtliche Thätigkeit zur Zeit in Wirklichkeit nur 
eine solche, dass wir dieselbe als Nebenamt betrachten müssen und können, und, 
wenn ich bereits gestern andeutete, dass die von uns in dieser Hinsicht ver¬ 
langte Arbeit, abgesehen von derjenigen, die wir besonders vergütet erhalten, 
durch unser Gehalt allenfalls noch ausreichend bezahlt würde, so stehe ich auch 
heute noch auf demselben Standpunkte. Freilich dar! man dann eben nur das¬ 
jenige thun, was uns von oben herab vorgeschrieben; eine derartige amtliche 
Thätigkeit genügt aber weder denjenigen Anforderungen, die wir nach den heu¬ 
tigen Anschauungen und Erfahrungen im Interesse der öffentlichen Gesundheits¬ 
pflege an dieselbe stellen müssen, noch kann sie uns selbst innerliche Befriedi¬ 
gung, Lust und Liebe an unserer Arbeit gewähren, die zu jedem freudigen und 
erfolgreichen Schaffen nothwendig ist. M. H.! Die Unzulänglichkeit unserer 
amtlichen Stellung, die Nothwendigkeit ihrer Umgestaltung ist ja besonders in 
den letzten Jahrzehnten nicht nur in den Kreisen der Medicinalbeamten selbst, 
sondern vor allem auch von der Königlichen Staatsregierung sowie von den ge¬ 
setzgebenden Körperschaften in der entschiedensten Weise anerkannt worden, 
und ich brauche Sie nur auf diese Mittheilungen zu verweisen, die Ihnen soeben 
Herr W allichs aus den betreffenden VerH:ini<Sungen des Abgeordnetenhauses ge¬ 
macht hat. Es würde mich nun zu weit fülirW p auf alle diejenigen Punkte ein¬ 
zugehen, wo uns vom hygienischen Standpunkte aus dies mangelhafte unserer 
Stellung entgegen tritt; lassen Sie mich daher auch in Anbetracht der Kürze der 
uns heute zubemessenen Zeit nur einige Hauptpunkte streifen, und da werden 
Sie mir zunächst zugeben müssen, dass uns als Medicinalbeamten besonders den 


Vierteljahrsschr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 1. 


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Preussischer Medicinalbeamten-Verein. 


Verwaltungsbehörden gegenüber vor allem eins fehlt: das Recht wie die 
Pflicht der Initiative. 

Wir sind allerdings die technischen Beralher der Verwaltungs-Behörden 
erster Instanz und es sollen die letzteren uns bei allen das Sanitätswesen ihres 
Kreises betreffenden Angelegenheiten um Rath fragen; aber wie oft nehmen sie 
denn unsere Hülfe in Anspruch? Doch nur in den wenigsten Fällen und wenn es 
häufiger geschieht, dann häugt es lediglich davon ab, dass der betreffende Be¬ 
amte speciell ein grosses Interesse für die öffentliche Gesundheitspflege wie für 
die hygienischen Verhältnisse seines Kreises besitzt. Auf derartige Zufällig¬ 
keiten darf aber doch unmöglich unsere amtliche Thätigkeit angewiesen sein; im 
Gegentheil, sollen wir den öffentlichen Gesundheitszustand unseres Bezirkes über¬ 
wachen, alle gesundheitsschädlichen Einflüsse, insonderheit epidemische und an¬ 
steckende Krankheiten von demselben möglichst abwenden, die Behörden bei 
der Ueberwachung und Ausführung sanitätspolizeilicher Massregeln unterstützen: 
dann müssen wir auch mit dem Rechte und der Pflicht der Initiative ausgestattet 
sein, ohne welche jedes erfolgreiche Eingreifen unserseits auf dem Gebiete des Sani¬ 
tätswesen undenkbar. Wenn Herr Wallichs dagegen soweit geht, für uns 
auch das Recht der Executive zu beanspruchen, so kann ich ihm hierin nicht 
beistimmen. Dieses Onus wollen wir getrost den Polizeiverwaltungen überlassen, 
dieselben sind dazu viel besser qualificirt und uns würde es ja doch nichts weiter 
als mannigfache Unannehmlichkeiten einbringen. 

M. H.! Ein anderes, unsere amtliche Thätigkeit nicht minder lähmendes 
Hinderniss sehe ich in dem Umstand, dass wir, um unseren Lebensunterhalt zu 
erwerben, in der Hauptsache auf die Privatpraxis angewiesen sind und uns iu 
Folge dessen diejenige Unabhängigkeit in unserer Stellung fehlt, die jedem an¬ 
deren Beamten gewährt wird. Es ist ja eine bekannte Thatsache, dass fast bei 
den meisten Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege der Kostenpunkt eine 
Hauptsache bildet; ein Theil muss immer zahlen und, dass die dazu verurtheilte 
Partei nur zu leicht in Versuchung kommt, dem betreffenden als Sachverständigen 
zugezogenen Physikus die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben und es ihm 
in irgend einer Weise zu entgelten, davon wird wohl jeder College gerade auf 
dem platten Lande hinreichend Erfahrung gemacht und sich oft genug in seinen 
Einkünften aus der Privatpraxis geschädigt gesehen haben. So lange hierbei nur 
einzelne Personen in Frage kommen, lässt sich die Sache noch ertragen, aber, 
m. H., die Gemeindevorstände, Magistrate der kleineren Städte sind in dieser 
Hinsicht nicht minder empfindlich und, wenn es sich um nothwendigeSchulbauten, 
um Reinigung von Canälen, Flüssen und ähnliche Dinge, die meist mit grösseren 
Unkosten verknüpft sind, handelt und der Physikus vom gesundheitspolizeilichen 
Standpunkte aus auf ihre Ausführung dringen muss, dann hat er sich mitunter 
oine ganze Gemeinde zur Gegnerin gemacht und mit seiner Praxis in derselben 
ist es leicht vorbei, wie solches mir selbst einmal widerfahren ist. 

Wie aber der Gesundheitsbeamte dem Publikum gegenüber unabhängig sein 
muss, so ist dies auch im Interesse seiner amtlichen Stellung den Aerzten gegen¬ 
über nothwendig, denn ohne deren Mitwirkung ist eine erfolgreiche Thätigkeit 
auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege nicht möglich und wir werden 
uns dieselbe nur dann voll und ganz sichern können, wenn wir soviel wie mög¬ 
lich aus der Reihe der ärztlichen Concurrenten schwinden. Dann werden wir 


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Zweiter Sitzungstag. 26. September 1885. 


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von den praotischen Aerzten alle Anfragen beantwortet erhalten, überhaupt auf 
ihre Unterstützung rechnen können und es wird uns nun nicht mehr passiren, dass 
von ihnen sanitäre Vorschriften, deren Einführung wir vorgeschlagen. als lästig 
und überflüssig hingestellt werden. Dasselbe gilt endlich auch den Apothekern, 
Droguisten, dem niederen Heilpersonal sowie den Pfuschern gegenüber, deren Con- 
trole und Beaufsichtigung doch unbedingt nothwendig ist und die, streng durch¬ 
geführt, uns leider zu oft in der empfindlichsten Weise nachgetragen und falsch 
gedeutet wird. 

M. H.! Nehmen Sie irgend ein anderes Gebiet unseres amtlichen Wirkungs¬ 
kreises heraus, immer werden Sie finden, dass wir gerade durch den Mangel des 
Rechts der Initiative sowie durch unsere von der Privatpraxis in erster Linie 
abhängige Stellung ausser Stande sind, eine den jetzigen Anforderungen der 
öffentlichen Gesundheitspflege entsprechende Thätigkeit zu entfalten. Und wie 
gross könnte und müsste die letztere sein! Herr Wallichs hat uns durch seine 
Mittheilungen bereits ein Bild von den Aufgaben des Medicinalbeamten auf dem 
Gebiete des Schulwesens, der Gewerbe- und Baupolizei, der Krauken- und Armen¬ 
pflege, des Kinderschutzes, der Medicinal-Statistik sowie bei den so wichtigen 
Fragen der Reinhaltung von Bädern, Luft und Wasser, der Sorge für gesunde 
Nahrungsmittel, Trinkwasser dgl. gegeben, ich will deshalb nur noch eine kurz 
hervorheben: 

Die Ausführung des öffentlichen Impfgeschäfts. M. H. Dass die 
Anstellung der Impf-Aerzte den Kreisen übertragen und dadurch allmälig das 
Impfgeschäft, welches früher fast ausschliesslich von den Medicinalbeamten be¬ 
sorgt wurde, immer mehr in die Hände der praktischen Aerzte gekommen ist, 
kann nur tief bedauert werden, und nicht etwa allein vom finanziellen Stand¬ 
punkte aus, indem wir dadurch in unseren Einnahmen erheblich geschädigt sind, 
sondern vor Allem von dem Gesichtspunkte aus, dass uns in Folge dessen die 
beste Gelegenheit genommen ist, unseren ganzen Kreis und seine Bevölkerung 
kennen zu lernen. Führt uns doch das Impfgeschäft fast nach allen Ortschaften 
unseres Kreises, lassen wir doch bei demselben gleiohsam die ganze heran- 
wachsende Bevölkerung zweimal in ihrem Leben, im lsten und 12ten Lebens¬ 
jahre, Revue passiren; was wir hierbei mit unseren eigenen Augen sehen, beob¬ 
achten und prüfen, das können uns weder hundert, noch tausend Berichte er¬ 
setzen, und umsomehr müssen wir mit grosser Freude den Beschluss der letzten 
Reichs-Impf-Commission begrüssen, wonach die Medicinalbeamten wieder in erster 
Linie als Impf-Aerzte und zwar von der Regierung angestellt werden sollen. 

M. H ! Wenn ich Sie im Vorhergehenden auf eine Reihe von Unzuläng¬ 
lichkeiten unserer jetzigen Stellung als Medicinalbeamten aufmerksam gemacht 
und Ihnen gezeigt habe, wie gerade durch sie eine thatkräftige, den heutigen 
Anforderungen der Hygiene entsprechende Einwirkung des Kreis-Physikus auf 
das Sanitätswesen seines Kreises ausgeschlossen oder doch wenigstens in hohem 
Grade eingeschränkt ist, so werden Sie mir zugeben, dass wir vor Allem in dieser 
Hinsicht eine Aenderung anstreben müssen, dann wird auch die Gehaltsfrage 
seitens der zuständigen Behörden eine zufriedenstellende Erledigung finden. Ich 
stehe somit vollständig auf dem Standpunkte Virchow’s, der im Abgeordneten¬ 
hause am 8. Februar 1878 bei der Verhandlung über die Petition unseres Hrn. 
Collegen Wiener erklärte: „zuerst eine bedeutendere und erhöhtere Thätigkeit, 


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Preussischer Medieinalbeamten-Verein. 


grössere Aufgaben auf dem Gebiete des Sanitätswesens, als die Kreis-Physiker 
gegenwärtig zu erfüllen haben, und dann bessere Ausstattung in Bezug auf 
Gehalt und Stellung.“ M. H., die unbedingte Nothwendigkeit einer Aenderung 
unserer Stellung nach diesen beiden Richtungen hin ist gewiss allseitig an¬ 
erkannt, ja wir wissen sogar, dass eine vollständige Reorganisation unseres 
Medicinalwesens höheren Orts in allem Ernst geplant, ein entsprechender Ent¬ 
wurf bereits fertig gestellt ist und wir seine endliche Ausführung in der aller¬ 
nächsten Zeit umsomehr erwarten können, als eine der Hauptvorbedingungen, 
die vollständige Durchführung der Verwaltungs-Gesetzgebung, ihrem Ziele ent¬ 
gegensieht. Es muss ja die Stellung der Kreis Medieinalbeamten genau in den 
Rahmen der Kreis-Ordnung hineinpassen und zwar nicht mit Executive und 
Disciplinargewalt, sondern nur mit dem Rechte der Initiative ausgestattet. Dass 
es bei einer so gründlichen Umwälzung unserer Stellung nicht unberechtigt er¬ 
scheint, auch diejenigen Forderungen und Wünsche berücksichtigt zu sehen, die 
uns selbst auf Grund unserer praktischen Erfahrungen in unserem eigenen wie 
im Interesse des Allgemeinwohls nothwendig erscheinen, darin werden Sie sicher¬ 
lich Alle mit mir übereinstimmen; aber, wollen wir dieselben an entsprechender 
Stelle beachtet sehen, dann müssen sie auch präcisirt, begründet und der mög¬ 
lichst einstimmige Ausdruck der Gesammlheit sein, was im Plenum, noch dazu 
bei einer ersten Generaldiscussion nicht zu erreichen ist. Das einzige Mittel 
hierfür ist nach meiner Ansicht eine vorhergehende Commissions-Berathung, 
deren Bericht dann dem Plenum gleichsam als rother Faden zur Unterlage der 
Discussion dienen muss. Mein Vorschlag geht also dahin: eine Commission, be¬ 
stehend aus dem Vorstande und je einem Vereinsmitgliede aus jeder Provinz, zu 
wählen, die sich eingehend mit der vorliegenden Frage zu beschäftigen und in 
der nächsten Haupt-Versammlung Bericht abzustatten hat. Der Verein ist ganz 
gut in der Lage, den auswärtigen Commissions-Mitgliedern die behufs Theil- 
nahme an der Sitzung erforderlichen Reisekosten zu ersetzen; und es erscheint 
mir sehr zweckmässig, das Tax-Gesetz vom 9. März 1872, welches ja für die 
nächstjährige Tages-Ordnung von verschiedener Seite gefordert ist, ebenfalls der 
Commission zur Vorberathung zu überweisen, denn eine sofortige Besprechung 
desselben im Plenum halte ich für nicht minder unzweckmässig. — 

Discussion: 

Hr. Kirchhoff: Sie wissen, dass der Herr Minister an mehreren Orten 
selbst geäussert hat, die Medicinal-Reform wäre nöthig, aber es Hesse sich auch 
mit dem jetzigen Gesetzen ganz gut fahren, und der Meinung bin ich auch, 
jedoch muss man sich Mühe geben und dann ist das Gehalt, welches wir be¬ 
kommen, viel zu gering. Solche schlimmen Erfahrungen wie Herr Rapmund habe 
ich allerdings auch gemacht, als ich noch jünger war, aber jetzt muss ich ge¬ 
stehen, dass sie weniger geworden, und wenn die Leute sehen, dass man es gut 
meint und objectiv ist und nur */ 4 von dem verlangt, was man verlangen könnte, 
dann kommt man durch. Nun noch eins. Ich habe auch den Entwurf gelesen 
und es steht mancherlei schönes darin, aber wenn wir selbst nicht sehr arbeits¬ 
tüchtig sind, wird es mit unserer Wirksamkeit bleiben, wie es jetzt ist. Etwas 
Initiative muss der Physikus unbedingt haben und auch gehalten sein, seinen 
Bezirk in jeder Beziehung naebzusehen und darüber zu berichten. Aber die 


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Zweiter Sitzungstag. 26. September 1885. 


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Commission können wir sparen. Ich habe nur den Wunsch, hier möglichst ein¬ 
stimmig ausgesprochen za hören, dass entschieden im neuen Entwurf stehen 
muss, dass der Physikus keine Praxis, ausser der consultativen, haben darf, dann 
wird auch die Bezahlung eine bessere werden. 

Hr. Barnick (Flensburg): Ich vermisse in dem Vortrage des Herrn Wall ichs 
etwas, was uns viele Arbeit und viele Feinde macht: den Kampf gegen das 
Pfuscherthum. Ich bin früher auf dem platten Lande gewesen und habe mir 
durch mein Eintreten gegen die homöopathischen Pfuscher viel Feinde erworben. 
Seit V 2 Jahr wohne ich in einer Mittelstadt und übe eine ähnliche, wenn auch 
nicht so ausgedehnte Thätigkeit aus wie Hr. Wall ichs in Altona. Als ich nach 
meinem jetzigen Wohnorte binkam, verzog ein homöopathischer Arzt von dort, 
weil, wie er sich äusserte, der Homöopalhenfresser dahin versetzt wäre. Wir 
haben in Holstein eine Masse practischer Homöopathen, welche Arthur Lutze 
in Altona ausgebildet hat. Dies sind Leute, welche einen grossen Anhang haben, 
und ich halte es für meine Pflicht, gegen dieselben, soweit das Gesetz es gestattet, 
einzuschreiten. Der practische Arzt thut dies nicht, er wendet sich an den 
Physikus und, gehe ich gegen jene vor, so bestraft sie die Polizei, aber ich habe 
viel Arbeit, denn die Nachforschungen, Gerichtstermine, nehmen meine Zeit in 
Anspruch und oft werde ich 1 — 2 Stunden als Zeuge, nicht einmal als Sach¬ 
verständiger vernommen. 

Hr. Mittenzweig: Ich bin nicht ganz einverstanden mit allem, besonders 
nicht mit dem, was Hr. Wallichs über die Pflichten des Physikus gesagt hat. 
Wir haben ganz verschiedenartige Verrichtungen, welche auch von verschiedenen 
Seiten bezahlt werden. Als Kreisphysici haben wir einmal alles zu ihun, was die 
Regierung uns aufgetragen hat und wofür uns leider die Instruction fehlt. Dann 
haben wir ferner viel als Aerzte, unbesoldete Gemeinde-Beamte, Schulvorstand 
u. s. w. zu thun und zwar umsonst als Bürger unserer Gemeinden. Drittens — und 
das ist der brennendste Punkt — thun wir als Physici par usance sehr viel, was 
wir, umsonst zu thun, gar nicht verpflichtet sind, und das sind besonders Aufträge 
für die Orts-Polizeibehörde. So ist es ein grosser Unterschied, wenn der Ober- 
Bürgermeister, falls er zugleich Landrath ist, als solcher mir etwas aufträgt oder 
als Vertreter der Orts-Polizeibehörde, denn im letzteren Falle muss die Orts- 
Polizei bezahlen. Diese beiden Verrichtungen, die staatlichen als Physikus und 
die Verrichtungen als Polizeiarzt, sind auseinander zu halten, und das ist sehr 
schwierig, wenigstens ist es mir oft so ergangen, dass ich beim Ober-Bürgermeister- 
Amte Iiquidirte, diess mich an die Regierung verwies und letztere wiederum 
erklärte, dass die Stadt bezahlen müsse. Ebenso giebt die Staatsanwaltschaft 
der Orts Polizeibehörde mitunter den Auftrag, uns als Sachverständige zu ver¬ 
nehmen, und ist dann natürlich zur Zahlung der Gebühren verpflichtet, sonst 
aber die Gemeinde. Deshalb lasse ich mir immer einen schriftlichen Auftrag 
geben und, wer unterschrieben hat, muss schliesslich für die Kosten aufkommen. 
Eine grosse Schwierigkeit für unsere Thätigkeit liegt an dem Mangel einer In¬ 
struction. Diese müssen wir entschieden haben, ob dazu aber ein neues Gesetz 
nöthig ist, weiss ich nicht. Der Vorschlag des Herrn Rapmund ist meines Er¬ 
achtens sehr zu erwägen. Ein solcher kleinerer Ausschuss könnte auch eine 
Instruction ausarbeiten, mag sie nun verwerthet werden oder nicht. Wir wissen 
dann, was wir zu thun und was wir zu fordern haben. 


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Preussischer Medicinalbeatuten-Verein. 


Hr. Wallichs: Ich wende mich zunächst gegen Herrn Mittenzweig. Er 
hat vollkommen Recht, dass zwischen Gemeinde-Arzt und Staatsarzt za unterschei¬ 
den ist; doch es ist hier die Grenze schwer zu zeichnen und ioh habe ausdrücklich 
gesagt, dass nach meiner Ansicht der Staatsarzt auch Gemeinde- uud Polizeiarzt 
sein müsse. In Folge dessen habe ich auch bei meinen Ausführungen die Thätig- 
keit beider im Auge gehabt und hierbei vielleicht von ihren Pflichten, die eben 
schwer zu trennen sind, manches durcheinander geworfen. Was weiterhin die 
Bezahlung für meine vorher geschilderte amtliche Thätigkeit betrifft, so habe ich 
dies alles natürlich nicht für die 900 Mark zu thun, welche mir der Staat bezahlt, 
sondern die Gemeinde giebt mir eine Pausch-Vergütigung. 

Allerdings ist auch, wie Herr Kirchhoff betonte, nach dem jetzigen Ge¬ 
setze eine Thätigkeit möglich und ich glaube, diess für meine Person erwiesen zu 
haben; aber ich kann nicht zugeben, dass dieser Zustand der richtige ist, im 
Gegentheil glaube ich, ebenfalls nachgewiesen zu haben, dass an unsere Leistun¬ 
gen Ansprüche gemacht werden, welche mit unserer Stellung und ihrer Einnahme 
in entschiedenem Widerspruche stehen. 

Herrn Rapmund möchte ich erwidern, dass uns die Frage der Executive 
nicht veruneinigen soll; ich gebe sie leicht preis. Doch erwähnt die Holsteinische 
Physicats-Ordnung, dass der Physikus eine gewisse Executive hat und z. B. bei 
Ausbruch bösartiger Krankheiten in entfernteren Orten das Recht besitzt, bei der 
Localinspection auf eigene Hand die Schliessung der Schule anzuordnen, ohne 
vorher erst den Landrath zu fragen. Aber wie gesagt, ich lege auf diesen Punkt 
gar kein grosses Gewicht. 

Was die Commission anlangt, welche Hr. Rapmund in Vorschlag ge¬ 
bracht hat, so habe ich keine Einwendung dagegen, vorausgesetzt, dass Sie mich 
nicht in dieselbe hineinwählen. Ich habe meinem Herzen zunächst damit genügt, 
dass ich mich über diese Angelegenheit, welche mioh schon lange beschäftigt 
hat, hier unter meinen Special-Collegen ausgesprochen habe, und ich denke, dass 
die Commissionsarbeit schon etwas zu spät kommt. Immerhin kann sie aber 
Nutzen haben: denn, kommt ein Entwurf in den Landtag, so kann sie den Inhalt 
erwägen und eventuell eine ausserordentliche Generalversammlung berufen, damit 
wir uns mit dem Gewichte, das unserem Verein doch immerhin zusteht, äussern 
könnten. Jedenfalls halte ich es für sehr richtig, was Hr. Rapmund gesagt bat, 
dass, wenn auch das Tax Gesetz einmal einer Besprechung unterzogen werden 
soll, dies nicht im Plenum geschehen kann, sondern zuerst in einer Commission 
vorberathen werden muss. 

Hr. Rapmund: Herrn Mittenzweig entgegne ich, dass gerade die Be¬ 
stimmung, wonach die Gemeinden die Leistung des Physikus besonders bezahlen 
müssen, höchst nachtbeilig für dessen sanitätspolizeiliche Thätigkeit ist, denn 
die Besorgniss vor den Unkosten giebt nur zu leicht Veranlassung, dass seine 
Hilfe gar nicht in Anspruch genommen wird, und ich habe in Folge dessen häufig 
da, wo es zweifelhaft war, ob es sich um ein communales oder staatliches 
Interesse handelte, lieber auf die Tagegelder und Reise-Kosten verzichtet, damit 
nur überhaupt etwas gethan wurde. Es ist dies wieder ein Beweis mehr, wie 
nothwendig es auch im gesundbeitspolizeilichen Interesse ist, dass wir durch 
anderweitige Stellung, Gehalt etc. nicht darauf angewiesen seien, von Diäten 
und Gebühren zu leben; bekämen wir für alle derartige Arbeiten ein Pausch- 


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Zweiter Sitzungstag. 26. September 1885. 


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quantum an Dienstaufwands-Geldern, ähnlich wie die übrigen technischen Beamten 
z. B. Kreis-Bau-Inspeotoren u. a. m., so würden jene streitigen Fragen über die 
Kosten von selbst wegfallen. 

Andererseits hat bereits die kurze Discussion gezeigt, wie sehr die einzelnen 
Ansichten nnd Wünsche betreffs unserer Stellung als Medicinalbeamte noch aus¬ 
einander gehen; sind wir nicht einmal hinsichtlich der Hauptpunkte einig, dann 
werden auch alle unsere Verhandlungen ergebnislos und ohne jeden Einfluss 
nach aussen hin bleiben. Einstimmige oder wenigstens mit grosser Mehrheit ge¬ 
fasste Beschlüsse im Plenum dürften wohl nur dadurch zu erzielen sein, dass sie 
durch eine gründliche und ruhige Berathung inmitten einer Commission vor¬ 
bereitet werden, und ich bitte demgemäss dringend, meinem Anträge bezüglich 
Commissions-Berathung zuzustimmen. 

Hr. Falk: Ich erkläre mich mit aller Entschiedenheit gegen die Ein¬ 
setzung der Commission, und zwar vor allem schon aus 'geschäftlichen Gründen. 
Eine solche Commission, deren Mitglieder über das ganze Königreich zerstreut 
sind und welche aus 13 Herren bestehen soll, ist sehr schwer zusammenzubrin¬ 
gen und die Kosten, welche daraus erwachsen, stehen in keinem Yerhältniss zu 
dem zu erwartenden Ergebniss. Die Erörterungen in pleno würden auch damit 
nicht abgekürzt werden, ich halte daher die Commission für entbehrlich, wenn 
nicht schädlich. 

Hr. Dyrenfurth (Bütow): Die Commission erscheint auch mir überflüssig. 
Wir haben die tröstliche Aussicht, noch in diesem Winter eine Vorlage im Landtage 
zu bekommen; angenommen aber, dass diese nicht stattfinden würde, so glaube 
ich, dass diese 13 Herren nicht mit der gehörigen Autorität bekleidet sind, um 
an und für sich sohon ein Gutachten abzugeben, welches als vollkommen in die 
Wagschale gelegt werden kann und inhaltreich genug ist, um allen Anschauun¬ 
gen zu genügen. 

Hr. Rubensohn: Ich halte es für selbstverständlich, dass der Antrag 
ohne lange Berathung angenommen wird. Wenn Hr. Falk meint, dass es 
schwierig sei, die 13 Herren zusammenzuberufen, so gebe ich zu, dass viel¬ 
leicht Einer oder der Andere fehlen wird, indessen halte ich den von Herrn 
Rapmund vorgeschlagenen Modus für sehr practisch. Ich selbst habe als Me- 
dicinalbeamter in 2 Provinzen gearbeitet und weiss, dass die Stellungen in beiden 
verschieden sind. Deshalb ist es sehr wünschenswerth, wenn aus jeder Provinz 
ein Abgeordneter in die Commission kommt. 

Hr. Rapmund: Herrn Falk möchte ich erwidern, dass geschäftliche 
Schwierigkeiten nicht vorhanden sind, denn ich wiederhole, dass wir nach un¬ 
seren Kassen-Verhältnissen ganz gut in der Lage sind, den einzelnen Comissions- 
Mitgliedern Reisekosten, wo nicht gar Tagegelder gewähren zu können. 

Hr. Wernich (Cöslin): Ich constatire als Thatsache, dass der Deutsche 
Aerzte-Vereins-Bund und der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege 
Jahr zu Jahr solche Commissionen zusammenberufen. 

Hr. Wiener (Graudenz): Für die Einsetzung einer Commission erkläre ich 
mich gleichfalls, nicht aber auch zum Zweck der Ausarbeitung einer Dienst- 
Instruction. Dies überlassen wir besser den Herrn Ministerialräthen, die ja 
sämmtlicb auch Kreis-Medicinalbeamte gewesen sind. 


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Preussischer Medicinalbeamten-Verein. 


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Hr. Kanzow: Der Antrag, wonach die Commission auch eine Dienst- 
Instruction entwerfen soll, ist soeben zurückgezogen worden. — 

Der Antrag, „eine Commission einzusetzen, die, aus dem Vorstande und je 
einem Mitgliede aus jeder Provinz bestehend, die Stellung des Kreis-Physikus 
als Medicinalbeamten einer eingehenden Besprechung unterziehe, eventuell auch 
das Tax-Gesetz vom 9. März 1872 borathen und der nächsten Haupt-Versammlung 
Bericht erstatten soll“ — wird mit 47 gegen 34 Stimmen angenommen. 

Hr. Rapmund: Für die Wahl dieser Commission mache ich einen Vo 
schlag, welcher bei der Wahl der Abgeordneten der Central-Hülfskasse m 
Erfolg durchgeführt worden ist. Darnach wird von dem Vorstande ein Vereir. 
mitglied aus jeder Provinz mit der Leitung der Wahl beauftragt; dasselbe t 
die übrigen Vereinsmitglieder seiner Provinz zur schriftlichen Abgabe ihi 
Stimmen für einen Delegirten und dessen Stellvertreter aufzufordern, auf Gru 
der einlaufenden Voten das Wahl-Ergebniss festzustellen und nöthigenfalls emo 
Stichwahl zu veranlassen. — 

(Es erhebt sioh kein Widerspruch.) 4 

?> 

Der Vorsitzende schliesst nun um 1l 3 4 Uhr die Sitzung mit dem Wuns , 
eines recht fröhlichen Wiedersehens in der nächsten Haupt-Versammlung. — 

Um 12 Uhr fand ein gemeinsames Gabel-Frühstück im „Franziskan 
statt; nach Beendigung desselben führten Eisenbahn und Sonder-Dampfboot lie 
Theilnehmer zu den städtischen Wasserwerken am Tegeler See. welche unter 
sachkundiger Leitung einer eingehenden Besichtigung unterzogen wurden. — 
Nachdem im Schloss-Restaurant zu Tegel der Kaffee eingenommen worden, ging 
mit Pferdebahn die Rückfahrt nach Berlin vor sich, woselbst an der Weiden- 
dammer-Brücke um 6 2 Uhr Nachmittags die Ankunfi erfolgte. 

Abends fand die Schluss-Vereinigung wiederum in den „Kaiserhallen“ 
statt. — — 


Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin. 


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Erklärung der Tafeln. 


Tafel II. 

Fig. 1. Magen der mit Belladonnabeeren vergifteten Hebenstreit (6. Fall), 
nebst dem untersten Stück des Oesophagus und dem Anfangsstücke 
des Duodenums. Auf der Oesophagusschleimhaut, sowie auf der 
Schleimhaut des Magengrundes ist ein meist stark dunkel (blutig) ge¬ 
färbtes croupöses Exsudat aufgelagert; an der kleinen Curvatur (cc) 
1 nebstdem oberflächliche Substanzverluste. Die Ausschnitte bei a und b 

1 entsprechen den für die mikroskopische Untersuchung verwendeten 

Partien. 

;ig. 2. Die verschiedenen Crystallfornien. die bei der mikroskopischen 
Untersuchung der Fälle 7 u. 8 gefunden wurden. — Grosse, säulen¬ 
förmige Crystalle (1,4, 5. 6, 7) meist unvollkommen entwickelt (7, 
oder Wachsthumsformen, sog. CrysLaliscelette (1, 6), die mitunter 
schon starke Verwitterung zeigen (4, 5). Mit diesen verwachsen sind 
die büschel- oder sternförmigen Aggregate von Crystall- 
' nadeln (1,6. 7), die auch isolirt Vorkommen (3). Diese büschel-, 

nadelförmigen Crystalle, die sich physikalisch und optisch scharf 
differenziren, sind die Atropincrystalle. Weiters kommen noch 
tesserale Formen vor. die entweder mit den .säulenförmigen (1, 6; 
oder auch mit den Atropincrystallen (2) verwachsen sind. 

Tafel III. 

Fig. 1. Durchschnitt durch die Wand des Oesophagus. 

cc Croupöses Exsudat mit eingesprengtem freiem und in Zellen eingeschlos¬ 
senem Pigment und einer dünnsten Epithelschichte an deren Oberfläche. 
Die übrigen Schichten der Oesophaguswand (d. a) zeigen keine Verän¬ 
derung. 

Fig. 2. Durchschnitt der Magenschleimhaut. 

ff Fibrinnetz des aufgelagerten croupösen Exsudates, 
pp Pigmenthaltige Zellen im croupösen Exsudat. 
p t p t Freies Pigment im croupösen Exsudat. Allenthalben im croupösen 
Exsudat eingesprengte rothe Blutkörperchen (bb) wahrnehmbar, 
d Obere veränderte Drüsenschichte. 


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I. Gerichtliche Medicin. 


1 . 

Das Verhaltet der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 

Von 

Prof. Dr. T« Zaafjer in Leiden. 


Um die Mitte December 1883 wurde Maria Catharina Swanenburg, 
Ehefrau des Fabrikarbeiters Johannes van der Linden, zu Leiden ver¬ 
haftet und zwar wegen Verdachts, drei ihrer Verwandten (Vater, Mutter 
und Sohn) vergiftet zu haben. Bald darauf zeigte es sich, dass es 
sich hier nur um die Schlussscene einer ganzen Reihe von Vergiftungen 
handelte, welche von derselben Frau während mehrerer Jahre aus¬ 
geführt wurden. 

Frau van der Linden wurde am 1. Mai 1885 vom Gerichtshöfe 
im Haag zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurtheilt. 

In der öffentlichen Sitzung des Gerichtshofes hat es sich gezeigt: 
dass rauthmasslich der erste Vergiftungsversuch schon im Jahre 1869 
gemacht wurde, aber ohne dass die Person, für welche es bestimmt 
war, das Gift zu sich genommen hat; 

dass muthmasslich der erste Giftmord schon im Oetober 1877 
begangen wurde; 

dass sie muthmasslich im Februar 1879 für das erste Mal einer 
Person Gift gegeben hat, die in Folge dessen krank geworden ist; 

dass sie muthmasslich ausser den 4 Personen, welche sie mit 
Gift getödtet hat, für welche Giftmorde sie verurtheilt ist (S. unten: 
Eigene Beobachtungen I, II, IV, VI), noch 19 Andere vergiftet hat, 
während 36 Personen in Folge des beigebrachten Giftes erkrankten; 
von diesen letzten 36 Personen sind 5 zweimal, 2 dreimal, 1 viermal, 
1 fünfmal und 1 sechsmal erkrankt; 

dass sie muthmasslich noch an 14 Personen (deren 1 zweimal 
und 1 dreimal) Vergiftungsversuche gemacht hat; das Gift wurde je¬ 
doch aus verschiedenen Ursachen von diesen Personen nicht zu sich 
genommen. — 


Vienelj&hrsschr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 3. 

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250 


Dr. T. Zaaijer, 


Die anatomische Untersuchung der Leichen von 16 muthmass- 
lichen Opfern dieser Frau wurde von der Gerichts-Obrigkeit dem 
hiesigen Prosector Herrn Dr. P. de Koning und mir aufgetrageu. 
Die chemische Untersuchung wurde dem hiesigen Professor der 
Pharmacie und Toxieologie, Herrn Dr. E. A. van der Burg, über¬ 
geben. 

Indem ich hoffe, später noch etwas Näheres über diese merk¬ 
würdige Vergiftungsgeschichte publiciren zu können, habe ich am 
30. Mai 1885 in der Sitzung der physikalisch-mathematischen Klasse 
der Königl. Akademie der Wissenschaften in Amsterdam einen Theil 
der gewonnenen Resultate mitgetheilt. Ich beschränkte mich dabei 
hauptsächlich auf eine Besprechung des Einflusses auf die Schnellig¬ 
keit des Verlaufes der Leichen-Fäulniss, der dem beim Leben bei- 
gebrachteu Arsenik ziemlich allgemein zugeschrieben wird. Ich hatte 
mir vorgenommen, die Frage, ob man Recht hat, eine sogen, 
arsenikalische Mumification anzunehmen, einer näheren Prüfung zu 
unterziehen. 

Die von mir der Königl. Akademie angebotene Abhandlung ist 
seitdem erschienen unter dem Titel: „De toestand der lijken na 
arsenicum-vergiftiging. Eene gcrechtelijk-geneeskundige Studie door 
T. Zaaijer. Amsterdam, 1885.“ 

Dem Wunsche des Herrn Herausgebers zufolge werde ich den 
Hauptinhalt meiner Arbeit hier mittheilen. 

Einleitung. 

Unter dem Einflüsse verschiedener Ursachen unterliegt die Leiche 
ganz verschiedenen Veränderungen. Die gewöhnliche Modification ist 
diejenige der Fäulniss in ihren verschiedenen Arten (Verwesung, 
Fäulniss). Das Medium, worin die Leiche sich befindet, ist hier von 
sehr grosser Bedeutung. Dem Wasser kommt hierbei eine Hauptrolle 
zu; grosse Wassermengen können unter Umständen den Zersetzungs¬ 
prozess verzögern und zur Bildung von Fettwachs (Adipocire) führen, 
das der weiteren Zersetzung sehr lange widersteht. Ist aber die 
Wasserzufuhr gering, so dass der Fäulnissprozess nicht fortschreiten 
kann, dann trocknet die Leiche unter günstigen Bedingungen mehr 
oder weniger vollständig aus, sie mumificirt; sie behält dabei im 
Allgemeinen ihre Form, auch in den Gesichtszügen. Das Gewicht 
nimmt aber sehr bedeutend ab durch den mehr oder weniger voll¬ 
ständigen Verlust des grossen Wassergehalts des Körpers. 


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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 


251 

Die Mumification (Vertrocknung) ist entweder natürlich oder künstlich. 

Bei der natürlichen Mumification ist die Leiche sich selbst überlassen. 
Bei der künstlichen Mumification dagegen wird die Austrocknung durch Kunst¬ 
griffe verschiedener Art vorbereitet und meistens vollkommener erreicht. 

Die natürliche Mumification ist durchaus keine seltene Erscheinung und sie 
hat stets, auch im Alterthum, grosses Interesse erregt. 

Auf einigen Friedhöfen und in einigen Grüften (Kellern) sind die Bedin¬ 
gungen für das Zustandekommen der Leichen-Mumification äusserst günstig. 
Beispiele davon findet man in Toulouse, Bordeaux. Bonn, Bremen. Paris, 
Dünkerken und anderswo. Auch in unserem ziemlich nassen Boden finden sich 
derartige Stellen. Ein Keller mit mumificirten Leichen befindet sich in Wieuwerd 
(Provinz Friesland), ein zweiter, den ich selbst besucht habe, in Voorburg (beim 
Haag). Das Vorkommen natürlicher Mumien ist also sehr allgemein verbreitet; 
sie sind unter allen Zonen und in jedem Klima gefunden. 

Die künstliche Mumification ist schon sehr alt; sie erreichte, wie bekannt, 
die höchste Stufe ihrer Vollkommenheit bei den alten Egyptern und bei den 
Guanches auf den Canarischen Inseln. Bei den späteren, mehr civilisirten Völkern 
wurde das Balsamiren der Leichen nur selten geübt und verschiedene Substanzen, 
hauptsächlich aromatische und würzige Stoffe und Harze, wurden dabei ange¬ 
wendet, öfters jedoch mit sehr geringem Erfolge. 

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die von Swammerdam 
und Ruysch in der Anatomie eingeführte Methode der Injeciion der Blutgefässe 
von W. Hunter auch beim Balsamiren der Leichen angewendet. Aromatische 
und harzige Substanzen waren dabei die Hauptingredienzen. Später W’urden 
Sublimat (Chaussicr). Holzessig (Monge), Zinnchlorid (Tauflieb), Zink¬ 
chlorid (Sucquet, Richardson) und Aluminiumsalze (Gannal) als Injections- 
masse benutzt. 

Ritter hat zuerst den Vorschlag gemacht, eine Lösung von Arsenik in 
destillirtem Wasser und Alkohol in dieGefässe zu führen und nachher verschiedene 
aromatische Substanzen in die Körperhöhlen zu bringen. Diese Methode kam aber 
nicht in Anwendung; erst im Jahre 1835 publicirte Giuseppe Tranchina 
seine bis dahin geheim gehaltene Methode des Balsamirens. welche ausschliess¬ 
lich auf der Wirkung des Arseniks beruht. Zwei Pfund arsenige Säure genügen 
zur Conservirung einer Leiche. 

Man hat auch einigen, bei Lebenszeit beigebrachten Giften das Vermögen, 
die Zersetzung zu verzögern oder sogar zu verhindern, zuerkannt. Als solche 
werden Alkohol. Sublimat. Schwefelsäure, Wurstgift (Liebig. Schürmaver) 
und vor Allem Arsenik genannt. Dieser letztere soll in vielen Fällen die Mumi¬ 
fication der Leichen damit Vergifteter zur Folge haben. 

I. Geschieht liehe s. 

Es finden sich bei den Alten nur sehr spärliche Angaben über 
den Einfluss der Gifte überhaupt auf das Verhalten der Leichen. 
Nach Paulus Zacchias beweist die schnelle Zersetzung der Leiche, 
dass der Tod von einem innerlichen Gifte veranlasst wurde; die 

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252 Dr. T. Zaaijer, 

Leichen dagegen derer, welche von einem äusserlichcn Gifte getödtet 
sind, faulen sehr langsam. 

Es ist auffallend, dass fast alle Autoren des letzten Jahrhunderts 
der Meinung waren, dass der nach der Vergiftung im Körper zurück¬ 
gebliebene Arsenik die Eäulniss der Leiche beschleunigt. 

Diese beinah vollkommene Meinungsübereinstimmung erlitt plötz¬ 
lich einen wichtigen Umschwung durch die bekannte Geschichte der 
Frau Geh.-Räthin Ursinus in Berlin im Anfänge dieses Jahrhunderts. 

Es wird wohl kaum der Erinnerung bedürfen, dass die Leichen des Ehemannes 
und der unverheirateten Tante der Ursinus von Welp er untersucht worden. 
Beide Leichen (die eine war in Berlin, die andere in Charlotten bürg beerdigt) 
waren nicht auf die gewöhnliche Weise zorsetzt, sondern sie waren beide gut 
bewahrt geblieben und hatlon ein mumienartiges Vorkommen; obgleich kein 
Arsenik in den Leichen naebgewiesen werden konnte, wurde dies jedoch dem 
zugeführten Arsenik zugeschrieben. 

In Zusammenhang mit gleichartigen, von Welper schon früher gemachten 
Beobachtungen fesselte diese Auffassung in hohem Masse die Aufmerksamkeit 
der gerichtlichen Aerzte. und Viele glaubten bald fest an die Unverweslichkeit 
der Leichname nach Arsenik-Vergiftung. 

Die Zustimmung war aber nicht allgemein. Metzger bestritt aus triftigen 
Gründen die Meinung Welper’s. Die an Welper gerichtete Bitte, Näheres 
über die beiden Fälle der Ursinus mitzutheilen, ist ohne Erfolg geblieben. Die 
Meinung vieler, auch späterer Autoren, dass Welper selbst etwas über die 
Sache mitgetheilt habe, hat sich mir als unrichtig gezeigt. 

Indessen wurden von Kelch, in Verbindung mit Metzgor, Versuche ge¬ 
macht, welche die Auffassung Welper’s zu bewähren schienen. Die Versuche 
Jäger’s dagegen führten zu einem ganz entgegengesetzten Resultate. Auch von 
Klanck wurden, auf don Rath Welper’s, Versuche angestellt, und diese 
stimmten in den Ergebnissen wiederum mit denen Kelch’s überein. 

Das Dogma der Arsonik-Mumification erhielt bald eine bedeutende Stütze 
in den Beobachtungen Bachmann’s (1812), der drei Leichen untersuchte von 
Personen, die von der Anna Margaretha Steinacker, Wittwe Zwanziger, 
mit Arsenik vergiftet waren. Spuren von Mumification wurden an allen diesen 
Leichen, jedoch in sehr abweichendem Grade, angetrofFen. Es ist aber deutlich, 
dass Bachmann ganz von der Auffassung Welper’s beherrscht wurde. Viele 
späteren Beobachter, Anhänger der Wclper’schen Meinung, haben es nicht 
unterlassen, sich auf die Erfahrung Bachmann’s zu berufen. 

Spätero Beobachtungen und Versuche hatten theils positive (Hünefeld), 
theils negative (Hebreard, Wendt, Seemann, Jäger) Erfolge. 

Es ist deshalb um so mehr zu bedauern, dass, wenigstens soweit mir bekannt 
ist, so dürftige Mittheilungen gemacht sind über den Zustand der Leichen der 
zahlreichen Opfer der Gesche, Margarethe Gottfried, geh. Timm, der berüch¬ 
tigten Giftmörderin aus Bremen, wo sie am 20. April 1831 enthauptet wurde 1 ). 

l ) Die Geschichte der Frau van der Linden stimmt in vielen Punkten mit der 
der Bremischen Missethäterin überein. 

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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 


253 


Die lückenhaften Mittheilungen scheinen jedoch den Schluss zu rechtfertigen, dass 
die Untersuchung der in Bremen exhumirten Leichen die fäulnisswidrigen Eigen¬ 
schaften des Arseniks nicht bestätigt hat. 

Die Zahl derjenigen, welche mehr oder weniger bestimmt den Einfluss des 
Arseniks in toxischen Dosen auf die Zersetzung der Leichen leugnen, ist gering. 
Ich nenne hier allererst Orfila (1831). der seine Meinung auf Versuche stützte, 
und weiter Graff (1831) und Ganlke (1863). 

Bis jetzt besteht also noch keine Uebereinstimmung über diesen Punkt. 
Zum Beweise dafür habe ich in meiner Abhandlung eine Reihe von Citaten aus 
der allerletzten Zeit zusammengestellt. Der Kürze wegen muss ich darauf ver¬ 
weisen. 

Da sich nun die Gelegenheit bot, einige arsenikhaltige und einige arsenik¬ 
freie Leichen zu verschiedenen Zeilen nach dem Tode zu untersuchen, so habe 
ich es für meine Pflicht gehalten, durch die Mittheilung meiner Resultate etwas 
zur Lösung der noch immer schwebenden Frage beizutragen. 

II. Fremde Beobachtungen. 

Zur Beantwortung der erhobenen Frage kam es mir wünschens- 
werth vor, auch fremde Beobachtungen zu Rathe zu ziehen. Meine 
eigenen Erfahrungen sind nicht zahlreich genug, wenn auch die Re¬ 
sultate, meiner Meinung nach, in manchem Punkt entscheidend sind. 

Ich habe also 60 Beobachtungen Anderer zusammengestellt. Es 
wäre leicht gewesen, diese Zahl sehr bedeutend zu vergrössern. Für 
das gesteckte Ziel war dies aber unnöthig, ja sogar überflüssig.. 

ln 19 Fällen wurde die Leiche vor der Beerdigung untersucht. 
Die übrigen 41 Beobachtungen beziehen sich auf vor kürzerer oder 
längerer Zeit beerdigte Leichen. 

In allen der ersten Kategorie zugehörigen Leichen wurde Arsenik 
nachgewiesen, in 4 sogar in grosser Quantität. Einer dieser Fälle 
betraf ein 17jähriges Mädchen, das 10 Grm. Rattenpulver zu sich 
genommen hatte und nach 72 Stunden starb. 

Der Zeitverlauf zwischen dem Tode und der Untersuchung war 
sehr verschieden (Minimum 17 1 2 Stunden, Maximum 4 Tage). 

Die Fäulniss der Leichen war in sehr verschiedenem Grade fort¬ 
geschritten. Dieser Unterschied fand aber fast ohne Ausnahme seine 
Erklärung in der Jahreszeit, worin der Tod stattfand, und in der 
Zeitdauer nach dem Tode. 

Hieraus ist also zu sc,hlicssen, dass der bei Lebzeiten 
beigebrachte Arsenik in den ersten Tagen nach dem Ab¬ 
sterben die Leichen-Fäulniss nicht beeinflusst. — 

Ich komme jetzt zu den beerdigten Leichen, 41 an der Zahl. 

ln 6 Fällen wurde kein Arsenik in der Leiche vorgefunden. Ich 


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254 


Dr. T. Zaaij e r, 


habe diese Fälle doch mitaufgenommen, obgleich der positive Beweis 
einer stattgefundenen Arsenik-Vergiftung fehlt. Zwei dieser Fälle sind 
dem Prozess Ursinus entnommen und konnten als historisch wichtig 
nicht übergangen werden; in den übrigen Fällen beweisen die sonstigen 
Umstände die Vergiftung mit genügender Sicherheit. In einem Falle 
(der Schädel und verschiedene Knochenreste wurden nach mehr als 
20 Jahren im Sarge gefunden) waren die Sachkundigen über das 
Vorhandensein des Giftes uneinig. Arsenik wrnrde in allen übrigen 
Leichen in geringerer oder grösserer Quantität nachgewiesen. 6 Mal 
war eine reichliche Menge des Giftes vorhanden. 

Die kürzeste Zeit, zwischen dem Tode und der Untersuchung 
verlaufen, war 7 Tage (2 Fälle); der längste Zeitverlauf nach dem 
Tode war 22 Jahre (der bekannte Fall von Steinhäuser). 

Zwei Mal wurden geringe Fäulnisszeichen vorgefunden. Der Ein¬ 
fluss der Jahreszeit (die Leichen waren im Winter begraben) auf den 
Gang der Fäulniss ist hier nicht zu leugnen. 

Weit fortgeschrittene Fäulniss fand sich 9 Mal (nach 3 Monaten, 
15 Tagen, 8 Tagen, 7 Monaten, 13 Tagen, 9 Tagen, 4 Wochen, 7 Tagen, 

13 Tagen). 

In 13 Fällen waren die Weichtheile ganz o$er fast ganz ver¬ 
schwunden (nach 3 Jahren und 3 Monaten, 3 Jahren und 9*/ 2 Monaten, 
2 Jahren und 3 Monaten, 4 Jahren, 10 Monaten). In den übrigen 8 Fällen 
hatten die Leichen länger als 6 Jahre im Grabe gelegen (15 Jahre, 
7 Jahre, 10 Jahre und 5 Monate, 6'/ 2 Jahre, 8 Jahre, 22 Jahre, 

14 Jahre, mehr als 20 Jahre). 

Die restirenden 17 Leichen boten mehr oder weniger deutliche 
und mehr oder weniger vollständige Zeichen der Mumification dar. 
An einer Leiche wurden schon nach 3 Monaten (am frühesten unter 
den mitgetheilten Fällen) geringe Spuren der Mumification beobachtet. 
An einer anderen Leiche wurde 6 Jahre nach dem Tode (Maximum) 
die Haut der Bauchdecke, der Oberschenkel und der Kniegelenke 
mumificirt gefunden. Die Weichtheilc der Leichen, welche vor 
mehr als 6 Jahren bestattet waren, waren ganz oder beinahe ganz 
verzehrt. 

Die Mumification trifft relativ häufig die Bauchwand. 

Die Bauchwand allein war mumificirt in 3 Fällen. Mumification 
der Bauch wand nebst der der Brustwand fand sich ebenso 3 Mal. 
Dabei kam Mumification des Gesichts (2 Mal), der Haut des rechten 
Vorderarms und der Hand-, Knie- und Fussgelenkc (1 Mal) vor. In 


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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 


255 


einem Falle war die Haut der Bauchwand, der Oberschenkel und der 
Kniegelenke mumificirt. 

In 7 Fällen fand sich mehr vollständige Mumification des ganzen 
Körpers, wenigstens der Haut, vor. 

Zur Lösung der Mumificationsfrage sind die Controle-Beobach- 
tungen, welche von einigen Autoren mitgetheilt sind, von der höchsten 
Wichtigkeit. Keber erwähnt Folgendes: 

Die Leiche eines Mannes wurde nach 3 Jahren und 5 Monaten exhumirt. 
Der Boden des Kirchhofes war abschüssig. Das Grab lag am erhabensten Theile 
des Kirchhofes. Der Sarg war unversehrt. Die Bauchwand und die Haut des 
rechten Vorderarmes, der Hand-, Knie- und Fussgelenke waren mumificirt. Arsenik 
wurde in Leber, Herz, Bauchdecke und in den Ueberresten der Baucheingeweide 
nachgewiesen. Auf demselben Friedhofe wurde eine andere Männerleiche nach 
3 Jahren und 9 Monaten exhumirt. Man vermuthete, dass auch dieser Mann 
mit Arsenik vergiftet war. Es zeigte sich jedoch später, dass er an Apoplexie 
gestorben war, während keine Spur von Arsenik in der Leiche nachgewiesen 
werden konnte. Diese Leiche war ebenso zum Theil mumificirt und einige Or¬ 
gane waren noch besser erhalten als im vorigen Falle. Keber erwähnt noch 
einer dritten, nach 5 ,; 2 Jahren ausgegrabenen Leiche, welche grösstentheils gut 
erhalten und mumificirt gefunden wurde. Auch hier war keine Spur von Arsenik 
nachzuweisen. 

Es ist deutlich, dass der wohlbewahrte Zustand dieser Leichen 
von anderen Ursachen, als von dem fäulnisswidrigen und mumifici- 
renden Einflüsse des Arseniks bedingt wurde. 

Ich erinnere weiter an die von Kelp mitgetheilten Fälle: 

Drei Leichen (Vater, Mutter und Tochter) lagen auf demselben Kirchhofe 
neben einander. In den Leichen des Vaters und der Tochter wurde Arsenik vor¬ 
gefunden, in derjenigen der Mutter, bei der von stattgehabter Vergiftung nicht 
die Rede war, nicht. Die drei Leichen zeigten ungefähr denselben Fäulnissgrad. 
Der Vater war vor 6V 2 Jahren, die Tochter vor 8 Jahren, die Mutter vor 
9 Jahren gestorbon. 

Zum Schluss erwähne ich noch die Beobachtung Gaulke's, der 
eine arsenikfreie Leiche 8 Jahre nach dem Tode besser bewahrt fand, 
als eine andere arsenikhaltende Leiche, welche nach 4 Jahren ex¬ 
humirt wurde. 

• Die an den ausgegrabenen Leichen erworbenen Resultate werden 
im letzten Capitel näher besprochen werden. 

III. Eigene Beobachtungen. 

Meine eigenen Beobachtungen sind 18 an der Zahl; 16 davon 
beziehen sich auf den Prozess der Frau van der Linden. Kurz nachher 
wurden noch zwei Frauenleichen von uns untersucht, welche wegen 


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256 


Dr. T. Zaaijer, 


Vermuthung auf Vergiftung ausgegraben waren, die erste 48 Tage, 
die zweite 2 Jahre nach dem Tode. In keiner dieser Leichen wurde 
weder Arsenik, noch irgend ein anderes Gift aufgefunden. Ich glaubte 
jedoch, diese Beobachtungen nicht unerwähnt lassen zu dürfen. Die 
erste Leiche war wichtig des in kurzer Zeit weit fortgeschrittenen 
Fäulnissgrades wegen; die zweite ist ein sehr interessanter Beitrag durch 
den Zustand der Mumificirung, worin wir die Leiche angetroffen. 

Dem Wohlwollen meines verehrten Collegen van der Burg ver¬ 
danke ich die Mittheilung der chemischen Untersuchungsresultate. 

Ich lasse die Beobachtungen hier in chronologischer Ordnung folgen. 

I. Maria van der Linden, Ehefrau des Hendrik Frankhuizen (III), 
Schwägerin der Damnatin, 43 Jahre alt. 

Section am 15. December 1883, Vormittags 10 Uhr, 52 Stunden nach 
dem Tode. 

Die Leiche ist von gutem Ernährungszustände, massigem Fettpolster, kräf¬ 
tiger Muskulatur. Starke Leichenstarre an den unteren Extremitäten; diese ist 
an den oberen Extremitäten viel geringer und fehlt beinahe ganz am rechten 
Arm. Ausgedehnte Todtenflecken an der Rückenfläche des Rumpfes. Die Bauch¬ 
docke ist an verschiedenen Stellen grünlich gefärbt. Die linke Brust ist viel 
grösser als die rechte. Lippen roth ohne Erosionen oder merkbaren Substanz¬ 
verlust. Mundhöhle, Pharynx, Oesophagus normal mit blasser Schleimhaut. Die 
Magenschleimhaut zeigt hier und da, besonders in der Mitte der grossen Curvatur 
und im Pylorustheile dunkelrothe Stellen verschiedener Grösse (1—3 Ctm.) mit 
Extravasat im Gewebe. Im ersten Theile des Zwölffingerdarms kommt auch eine 
derartige Stelle vor. Um die Mitte des Krummdarms ist die Schleimhaut über 
eine Länge von 10 Gtm. roth mit starken Gefässinjectionen. Verfettung der 
Leber. Leichte Entzündung der Kehldecke und der Ligamenta ary-epiglottica. 
Kleine Ecchymosen im Herzmuskelfleisch und unter dem Endocardium. 

Chemischer Befund. Arsenik nachgewiesen in der Leber, der linken 
Brust und im Inhalte des Magens, des Duodenum und des Dünndarms. In der 
Leber entspricht die Menge des Arseniks 0,1236 Grm. arseniger Säure. 

Bemerkung. Da die Frau ihr Kind (III) stillte, wurde die linke Brust 
zur chemischen Untersuchung der Leiche entnommen. I und III wurden am Abend 
des 8. December 1883 vergiftet. Die Damnatin hatte ihnen ein arsenikhaltendes 
Pulver in die Abendsuppe gestreut. 

II. Hendrik Frankhuizen, Sohn von 1 und III, 8 Monate alt. 

Section am 15. December 1883, Nachmittags um 2 Uhr, 35 Stunden 

nach dem Tode. 

Gut genährte Kindesleiche. Geringe Leichenstarre nur an den unteren 
Extremitäten. Ausgedehnte Todtenflecken an der Rückenfläche des Rumpfes und 
der Glieder. Keine Zeichen der Fäulniss. Mundhöhle. Pharynx, Oesophagus 
normal. Um die Mitte der grossen Magencurvatur befindet sich ein circumscripter, 
rother Flecken (1,5 — 2 Ctm.) ohne Substanzverlust. Sehr grosse Mesenterial¬ 
drüsen. Einzelne Peyer’sohe Drüsengruppen roth und angeschwollen. Scbleim- 


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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 257 

haut des Dickdarms über eine grosse Strecke roth und geschwollen. Verfettung 
der Leber. 

Chemischer Befund. Arsenik in geringer Menge im Mageninhalt, noch 
weniger im Darminhalt. Der in der Leber (Gewicht 310 Grm.) nachgewiesenen 
Menge des Arseniks entspricht 0,0165 Grm. arseniger Säure. 

III. Hendrik Frankhuizen, Wittwer von L Vater von III, 35 Jahre alt. 

Section am 20. December 1883. Nachmittags um 2 Uhr, 14Stunden 

nach dem Tode. 

Wohlgenährte Leiche mit kräftiger Muskulatur. Sehr starke Leichenstarre 
des ganzen Körpers, der einer erstarrten Masse glich. Ausgedehnte Todten- 
flecken an der Rückenfläche des ganzen Körpers. Keine Fäulnisszeichen. Stellen¬ 
weise Verlust der Oberhaut am rechten Ohr, am linken oberen Augenlid, am 
rechten Arm, an der rechten Hinterbacke, am Scrotum. 

Der sichtbare Theil der Lippenschleimhaut ist roth, hier und da mit 
schwarzen, sich leicht lösenden Krusten bedeckt. Substanzverlust unter den 
Krusten. Kleinere, trockene, gräuliche Krusten finden sich an der unteren Hälfte 
der Wangen, insbesondere der rechten, bis in den unrasirten Bart. 

Die Schleimhaut der Zungenwurzel ist roth. stark angeschwollen, ohne 
Substanzverlust. Am rechten Arcus palato-glossus ist eine Stelle (1 Ctm. lang 
und 0,5 Ctm. breit) mit einer gelblichen, speckigen Masse bedeckt; der Boden 
ist roth mit Substanzverlust. 

Vom Isthmus faucium bis zum After ist die Schleimhaut des Darmtractus 
dunkelrotb bis schwarz, stark geschwollen, jedoch ohneGeschwüre oder Erosionen. 
Das Epithel der Darmzotten ist bis auf einige Fetzen verschwunden. Verfettung 
der Leber, der Nieren, des Herzens und des Magendrüsenepithels. Erosive. von 
einer gelblichen Masse bedeckte Stellen finden sich am linken Obenrande und 
an der Hinterfläche der Kohldecke und auf den Ligamenta ary-epiglottica: der 
Boden ist roth, leicht blutend. Croupöse Entzündung des Kehlkopfes, der Luft¬ 
röhre und des linken Bronchus. Mässige Pleuritis rechts. 

Chemischer Befund. Arsenik wurde in der Leber, den Nieren, dem 
Inhalt des Dünn- und Dickdarms vorgefunden, konnte aber im Inhalt des Magens, 
des Duodenum und im Liquor pericardii nicht nachgewiesen werden. In dom 
im Leben entleerten Urin waren Spuren Arsenik vorhanden. In der Leber allein 
ist eine Quantität Arsenik gefunden, 0,05211 Grm. arseniger Säure entsprechend. 

Bemerkung. Der Mann lebte noch 11 Tage, nachdem er das Gift zu sich 
genommen hatte. 

IV. Susanna Aben, 5 Jahre alt. 

Section am 21. December 1883, Vormittags um 9 1 2 Uhr, 20 Tage nach 
dem Tode. 

Beim Oeffnen des Sarges verbreitet sieb ein modriger Geruch. Die Leiche 
stammt yon einem wohlgenährten Kinde. Geringe Leichenstarre an den unteren 
Gliedern. Augen lief eingesunken. Die Haut hat eine grüne Farbe an den 
rechten Augenlidern, auf dem Kehlkopfe, an den ersten vier Ripponknorpeln der 
linken Seite, an der Bauchdecke und links bis über das Hypochondrium hinauf. 
Die Haut des Rückens und der Lendengegend ist bläulichroth, an den Hinter¬ 
backen mehr roth. An der Palmarfläche der Hände und an der Sohlenfläche der 


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258 


Dr. T. Zaaijer, 


Füsse ist die Haut feucht, gerunzelt. Eine dünne, weisse Schimtnellage bedeckt 
die Innen- und Vorderfläche der Oberschenkel und (wenn etwas dicker) die Um¬ 
gebung der Mund- und Nasenöffnung. 

Die Schleimhaut an der Znngenwurzel blass, stark angeschwollen. Die 
Magenschleimhaut ist glatt, meistens gräulich, stellenweise röthlich gefärbt. 
Zwei Invaginationon iui Krummdarme, die eine ist 5, die andere 3 Ctm. lang. 
Einzelne Partieen der Schleimhaut des Dünndarms und Dickdarms sind ge¬ 
schwollen. An den geschwollenen Stellen sind die solitären Follikel deutlicher 
wie anderswo. Einzelne Peyer’sche Drüsengruppen sind roth und geschwollen. 
Die Mesenterialdrüsen sind gross. 

Chemischer Befund. Arsenik wurde in der Leber, den Nieren, dem 
Magen- und Darminhalte vorgefunden. Die Menge des in der Leber gefundenen 
Arseniks entspricht 0.01 Grm. arseniger Säure. 

V. Catharina Maria Aben. Schwester von IV. 11 Monate alt. 

Section am 21. December 1883, Nachmittags um 2 Uhr, 29 Tage nach 

dem Tode. 

Ein modriger Geruch (wie in feuchten Kellern) verbreitet sich beim Oeffnen 
des Sarges. Wohlgenährte Kindesleiche. Am Halse und an beinahe der ganzen 
Vorderfläche des Rumpfes ist die Haut grün gefärbt. Unten am Rücken ist ein 
handpalmgrosser Theil der Haut ohne Epidermis und von einer grossen Menge 
Leichenmaden bedeckt. Eine dünne weisse Schimmellage überzieht die Oben- 
und Innenfläche der unteren Extremitäten. In den Leistengegenden und in der 
Geschlechtsöffnung wird eine Anzahl Leichenmaden gesehen.* Die Haut an der 
Palmfläche der Hände und an der Sohlenfläche der Füsse ist weiss, wie aufge¬ 
weicht und gerunzelt. Die Augenlider sind tief eingesunken. Die Haut der 
Wangen ist gelb, hart beim Anfühlen; die Haut der Extremitäten ist gleichfalls 
hart. Leichenmaden sind in die Speiseröhre bis an den Magen hervorgedrungen. 
Einzelne nahe an der Bauchwand liegende Darmschlingen sind grün. Einzelno 
solitäre Follikel sind geschwollen. Leichenmaden werden bis in den Bronchial¬ 
ästen dritter Ordnung gesehen. Ein grosser Theil des unteren hinteren Lappens 
der rechten Lunge ist atelectatisch. 

Chemischer Befund. Arsenik wurde in der Leber, den Nieren, dem 
Magen- und Darminhalte vorgefunden. Berechnet als arsenige Säure kommt auf 
die ganze Leber (Gewicht 317 Grm.) 0,0086 Grm. 

VI. Arend de Hees, Neffe der Damnatin. Sohn von VII, Bruder von VIII, 
21 Jahre alt. 

Section am 27. December 1883, Vormittags um 9 1 /, Uhr, 2 Jahre und 
2 Monate nach dem Tode. 

Ekelhafter Geruch (wie im Abzugsgraben). Die Weichtheile des Gesichts 
fehlen zum Theil. Die noch übrige Haut ist hart, aber leicht zu durchschneiden. 
Die Brust- und Bauchhöhle sind geschlossen, aber besonders die letztere stark 
eingesunken. Die Haut, besonders der Bauchdecke, ist consistent, aber leicht 
zu schneiden; ihre Farbe ist hellbraun. An den oberen Gliedern sind die Weich¬ 
theile verschwunden. Die Obcrschenkelhaut ist der der Bauchdecke ähnlich. Die 
Muskeln bilden eine weiche, missfarbige Masse. Am linken Unterschenkel fehlen 
die Weichtheile. Am rechten Unterschenkel sind sie noch zum Theil da; die 


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Des Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 


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Haut ist ebenfalls consistent. Das Gehirn bildet eine äusserst übelriechende 
Masse. Von den Hirnhäuten ist nichts zu finden. Die Weichtheile der Mund¬ 
höhle, des Halses und Nackens fehlen. Von den Brustorganen ist nichts mehr 
zu erkennen. Die Leber und einzelne Darmschlingen sind noch zu unterscheiden. 
Magen und Milz sind nicht zu finden. An der Steile der Nieren liegt eine 
schmierig graue Masse. 

Chemischer Befund. Arsenik wurde nachgewiesen in grosser Menge in 
der Leber, dem Gedärme, den Nieren, in geringer Quantität aber im Gehirn, im 
Haupthaar und in der Flüssigkeit aus dem Sarge. Die im Gedärme und in den 
Nieren (Gesammtgewicht 1120 Grm.) vorhandene Menge Arsenik entspricht 
0,1074 Grm. arseniger Säure. 

Bemerkung. Beim Ausgraben war der Sarg grösstentheils gefüllt mit 
einer wasserähnlichen, schwarzen, ekelhaft nach Abzug riechenden Flüssigkeit. 
Der Schwere wegen war ein grosser Theil dieser Flüssigkeit entfernt. Bei der 
Section war die Flüssigkeit noch zu einer Höhe von 8 Ctm. im Sarge vorhanden. 

VII. Cornelia van der Linden, Wittwe des Petrus Jacobus de Hees, 
Schwägerin der Damnatin, Mutter von VI und VIII, 46 Jahre alt. 

Section am 27. December 1883, Nachmittags um 1 l / a Uhr, 2 l / 2 Jahre 
nach dem Tode. 

Die Leiche ist von einem Sohne der Verstorbenen erkannt. Das Fettpolster 
ist sehr dick. Das behaarte Haupt ist von einer dicken weissen Schimmellage, 
wie von einer Mütze, überzogen. Die Haut des Gesichts ist gelbbraun, von einer 
schlüpfrigen Masse bedeckt. Die Nasenspitze fehlt. Die Augenlider sind tief ein¬ 
gesunken. Fettwachs unter der Wangenhaut und in den Augenhöhlen, welche 
damit ausgefüllt sind. Am Halse und am Nacken sind die Weichtheile fast ganz 
verschwunden. Körperhöhlen geschlossen. Die Haut der Brust und des Bauches 
ist gelbbraun, schlüpfrig, weich. Bauch tief eingesunken. Die Haut der auf der 
Nabelgegend ruhenden linken Hand ist dunkelbraun, trocken und hart. Die 
Fäulniss des ganzen rechten Arms ist weit vorgeschritten. Die unteren Glieder 
sind in Verbindung mit dem Rumpfe und haben ihre Form beibehalten. Das 
Gehirn ist in eine graue, breiartige Masse verwandelt. Die Zunge bildet eine 
weiche, schmierige Masse. Lungen zu unterscheiden. Vom Herzen findet sich 
ein Stück, wahrscheinlich der linken Kammer. Leber zu unterscheiden. Magen 
und Milz nicht zu finden. Eine ekelhaft stinkende Masse liegt an der Stelle der 
Nieren. Einzelne Darmschlingen sind noch zu erkennen. Viel Fettwachs in der 
Umgebung des rechten grossen Lendenmuskels und an vielen anderen Stellen. 

Chemischer Befund. In der Leber und ihrer Umgebung (Gewicht 
692 Grm.) ist eine Menge Arsenik nachgewiesen, welche 0,239 Grm. arseniger 
Säure entspricht. Die übrigen Organe sind nicht untersucht. 

VIII. Willem de Hees, Neffe der Damnatin, Sohn von VII, Bruder von VI, 
18 Jahre alt. 

Section am 28.December 1883, Vormittags um 9Uhr, beinahe 2 1 /., Jahre 
nach dem Tode. 

Die Weichtheile sind fast ganz verzehrt. An den Hü ft- und Kniegelenken 
finden sich Ueberreste der Gelenkbänder vor. Die Leber bildet eine trockene, 
dunkelgraue Masse mit sehr unebener Oberfläche (Gewicht 150 Grm.). 


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Dr. T. Zaaijer, 


Chemischer Befund. In der Leber und ihrer Umgebung (Gesammt- 
gewicht 158 Grm.) ist eine Quantität Arsenik vorgefunden, welche 0,01257 Grm. 
arseniger Säure entspricht. 

Bemerkung. Die Form der Beckenknochen erhob das Geschlecht der 
Leiche über allen Zweifel. Hieraus und aus dem Verhalten der Synchondrosis 
spheno-occipitalis, der Zähne und verschiedener Röhrenknochen war zu schliessen, 
dass die Leiche von einem ungefähr 18 jährigen Jüngling stammte. Wir glaubten 
ferner die Ursache der beinahe vollkommenen Zersetzung der Weichtheile im muth- 
masslich hohen Fäuinissgrade der Leiche bei der Bestattung suchen zu müssen. 
Die Temperatur war damals in Leiden sehr hoch (S. unten). 

IX. Johanna Maria Oosterbrug, Ehefrau des Dirk van der Lin¬ 
den, angeheirathete Tante der Damnatin, 55 Jahre alt. 

Section am 3. Januar 1884, Vormittags um 9 Uhr. 1 Jahr und 5 Monate 
nach dem Tode. 

Die Leiche ist vom Eheraanne erkannt. Wenig Geruch. Stirn und Haupt¬ 
haar mit einer weissen Schimmelkruste überzogen. Die Haut des Gesichts ist 
unter einer schmutzigen, schwarzbraunen, weichen Schicht ziemlich consistent. 
Augenlider tief eingesunken. Ohrmuschel und Nasenspitze fehlen. Die Nasen¬ 
beine liegen offen zu Tage. Körperhöhlen geschlossen. Bauchwand tief einge¬ 
sunken. Haut des Rumpfes weisslich, stellenweise mehr braun gefärbt. Die 
harte Hirnhaut ist unversehrt. Einzelne Gehirnwindungen sind noch vorhanden; 
der Unterschied zwischen grauer und weisser Gehirnmasse ist noch bemerkbar. 
Das Gehirn hat einen äusserst ekelhaften Geruch. Die Fossae spheno maxillares 
sind mit Fettwachs ausgefüllt. Die Weichtheile des Mundes und des Halses sind 
fast ganz verschwunden. Bei der Oeffnung der trocknen Brusthöhle verbreitet 
sich ein eigenthiimlich saurer Geruch, wie von Milchsäure. Lungen sehr zusam¬ 
mengefallen neben der Wirbelsäule. Herz normal. Innenfläche der Aorta glatt. 
Von der Speiseröhre ist nichts zu sehen. Die Bauchorgane sind zu unterscheiden; 
von den Beckenorganen aber (Gebärmutter, Eierstöcke. Harnblase) ist keins mehr 
zu erkennen. 

Chemischer Befund. In 100 Grm. der Leber wurde nur eine Spur des 
Arseniks vorgefunder.. Die übrigen Organe sind nicht untersucht. 

X. Willem Fuchs, Wittwer der Hester Bekooy, 64 Jahre alt. 

Section am 3. Januar 1884, Nachmittags um 1V 2 Uhr, 1 Jahr und 

1 1 Monate nach dem Tode. 

Eine dünne, schwärzliche, ekelhaft nach Abzug riechende Flüssigkeit be¬ 
deckt den Boden des Sarges zu einer Höhe von 12 Otm. Die Leiche liegt 
grösster»theils in dieser widerwärtigen Flüssigkeitsmasse und ist nicht wieder zu 
erkennen. Die Haut des behaarten Kopfes ist zum Theil verschwunden. Die linke 
Ohrmuschel ist noch da. während die rechte fehlt. Augenlider tief eingesunken. 
Die Weichtheile der Nase sind verzehrt. Die gelblichgraue, weiche Haut des 
Gesichts ist von einer schlüpfrigen Schicht überzogen. Die Rumpfhaut ist leicht 
braun. Die Weichtheile der Glieder sind zum Theil verschwunden. Die Fossae 
spheno-maxillares sind mit Fettwachs ausgefüllt. Das Gehirn ist als eine schmutzig¬ 
graue, sehr übelriechende Masse von der harten Hirnhaut umgeben. Von den 
Weichtheilen der Mundhöhle und des Halses sind nur wenig Ueberreste zu er- 


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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 


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kennen. Lungen dunkelblau, breiartig. Die Warzenmuskeln, Chordae tendineae 
und Klappen des Herzens sind wohl zu unterscheiden. Die Innenfläche der Aorta 
ist glatt. Speiseröhre und Magen fehlen. Leber und einzelne Darmschlingen wohl 
zu unterscheiden. 

Chemischer Befund. Als aiöenigc Säure berechnet wurde aus der ganzen 
Leber (Gewicht 512 Grm.) 0,04534 Grm. abgesondert. Die übrigen Organe sind 
nicht untersucht. 

XI. Abraham Fuchs. Sohn von X. 29 Jahre alt. 

Section am 4. Januar 1884, Vormittags um 9 Uhr, 1 Jahr und 9 Monate 
nach dem Tode. 

Die Leiche ist von einem Beksinnten des Verstorbenen wieder erkannt. Die 
Haut der Stirn und des Gesichts ist ziemlich trocken. Augenlider tief eingesunken. 
Die Weichtheile der Nase und die rechte Ohrmuschel sind verzehrt. Die Haut an 
der Vorderfläche des Rumpfes ist trocken, am Bauche bräunlich schwarz, auf der 
Brust etwas leichter tingirt, weich beim Durchschneiden. Körperhöhlen ge¬ 
schlossen. Fettpolster gering. Weichtheile der Extremitäten grossentheils ver¬ 
schwunden. Das Gehirn bildet eine äusserst ekelhafte, graue, modrige Masse, 
welche einen unerträglichen Geruch verbreitet. An den Weichtheilen der Mund¬ 
höhle, des Pharynx und des Halses ist nichts mehr zu erkennen. Lungen durch 
Adhäsionen mit der Brustwand verwachsen. Herz klein, Klappen normal. Innen¬ 
fläche der Aorta glatt. Magen gut erhalten, nicht von der Milz zu trennen. 
Leber, Gedärme und Nieren wohl zu unterscheiden. Pancreas und Harnblase 
nicht zu finden. 

Chemischer Befund. Als arsenige Säure berechnet wurde aus der Leber 
(Gewicht 582 Grm.) 0,075 Grm. abgesondert. Die übrigen Organe wurden 
nicht untersucht. 

XII. Lambertus van der Linden. Wittwer der Maria van der Mark, 
Schwager der Damnatin, 50 Jahre alt. 

Section am 4. Januar 1884, Nachmittags um 1 1 2 Uhr, 2 Jahre und 
11 Monate nach dem Tode. 

Die Haut des Gesichts ist dunkelbraun, schlüpfrig, an den Jochbeinen von 
weissen Schimmelflecken bedeckt. Die Augenlider sind wenig eingesunken. Die 
Weichtheile der Nase und die linke Ohrmuschel fehlen. Die Lippen sind dünn, 
wie ausgetrocknet. Die Haut des Halses (insofern sie noch da ist) und des 
Rumpfes ist braun, feucht. Die Brusthöhle liegt an der rechten Seite offen da. 
Der Bauch ist tief eingesunken und die Haut ist beiderseits dem Darmbeinkamme 
entlang eingerissen. Die Fäulniss der oberen Glieder ist weit vorgeschritten. Die 
linke Hand liegt mit der Palmarfläche der Regio epigastrica an. Die Haut der 
Rückenfläche (mit Einbegriff der ersten Phalangen) ist trocken und hart. An der 
Palmarfläche ist der noch restirende Theil der Haut, weich. Die kleinen Daumen¬ 
muskeln sind grösstentheils verzehrt. Viel Fettwaclis an der Vorder- und Innen¬ 
fläche der Oberschenkel. Die Muskeln der Unterschenkel sind fast ganz zersetzt. 
Augenhöhlen und Fossae spheno-maxillares mit Fettwachs ausgefüllt. Das Gehirn 
verbreitet einen äusserst ekelhaften Geruch. An den Weichtheilen der Mundhöhle, 
des Pharynx und des Halses ist nichts mehr zu erkennen. Die Lungen liegen als 
eine dunkelblaue, schmutzige, breiartige Masse neben der Wirbelsäule. Ein Stück 


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Dr. T. Zaaijor, 


des Herzens, wahrscheinlich der linken Kammerwand, ist noch zu erkennen. Das 
Diaphragma fehlt. Loher sehr klein. Von den übrigen Bauchorganen sind nur 
einzelne Darmschlingon zu unterscheiden. 

Chemischer Befund. Die in der Leber und einem anhängenden Lungen- 
sliiek (Gesamnugewicht 395 Grm.) Vorgefundene Menge Arsenik entspricht 
0.0255 Grm. arseniger Säure. Die übrigen Organe wurden nicht untersucht. 

XIII. PetronellaJohannaSwanenburg, Wittwe des Johannes Le - 
pelaar (XIV). Schwester der Damnatin, 35 Jahre alt. 

Section am 10. Januar 1884, Vormittags um 9 Uhr, 7 1 ., Monate nach 
dem Tode. 

Die Leiche ist von verschiedenen Verwandten der Verstorbenen reoognoscirt. 
An verschiedenen Stellen ist das Haupt von weissen Schimmelflecken bedeckt. Die 
Haut des Gesichts ist schmutzig grün, schlüpfrig. Die Augenlider sind tief ein¬ 
gesunken. Die Haut des Halses, des Rumpfes und der Extremitäten ist braun, 
an der Innenfläche der Oberschenkel jedoch bläulichschwarz. An der linken 
Wade ist die Oberhaut in grossen, von einer schmutzig braunen Flüssigkeit ge¬ 
füllten Blasen erhoben. Körperhöhlen geschlossen. Bauchwand tief eingesunken. 
Die Muskeln der Extremitäten sind leicht zu unterscheiden; ihre Farbe ist roth 
oder heilbraunroth. Am behaarten Kopfe löst die Haut sich leicht. Die harte 
Hirnhaut ist boinahe unverändert. Die schmutziggraue Gehirnmasse ist rechts 
consistenler als links und hat einen stark faulenden Geruch. Die Weichtheile 
der Mundhöhle, des Pharynx und des Halses lasson sich wohl unterscheiden. Die 
Spitze der rechten Lunge ist mit der Brustwand verwachsen. Die dunkel ge¬ 
färbten Lungen bilden eine schwarze, modrige Masse. Das Herz ist gut erhalten. 
Die Innenfläche der Aorta ist glatt. Die Speiseröhre ist deutlich zu unterscheiden. 
Magen, Gedärme. Leber, Pancreas und Nieren sind da. Einzelne Pyramiden, Mark- 
und Rindensubstanz sind wohl zu erkennen. Die Harnblase ist mässig mit Gas 
angefüllt. Die Gebärmutter bildet eine schmutzige, missfarbige Masse. Von den 
Eierstöcken ist nichts zu finden. 

Chemischer Befund. Die Menge des Arseniks aus der ganzen Leber 
(Gewicht 70G Grm.) abgesondert, entspricht 0,074 Grm. arseniger Säure. Die 
übrigen Organe wurden nicht untersucht. 

XIV. Johannes Lepelaar, verheirathet mit XIII, Schwager der Dam¬ 
natin, 32 Jahre alt. 

Section am 10. Januar 1884, Nachmittags um 1 1 2 Uhr, 11 Monate 
nach dem Tode. 

Die Leiche ist von Verwandten des Verstorbenen recognoscirt. Beide Ohr¬ 
muscheln sind da. Die Nasenbeine liegen offen zu Tage. Die Nasenspitze ist 
weich, hinabgesunken. Das Haupthaar ist nass. Die Haut der Stirn und des 
Gesichts ist braun, schlüpfrig; an jeder Wange ist eine grünlich tingirte Stelle. 
Die Haut des Halses und des Rumpfes ist braun und hart, derjenigen des ge¬ 
räucherten Schinkens am meisten ähnlich. Körperhöhlen geschlossen. Bauch tief 
eingesunken. Die Ruthe ist platt, schwarz, eingetrocknet. Die Haut des rechten 
Oberarms ist an der Oberfläche dunkelbraun, lederzähe, an der Unterfläche da¬ 
gegen weich und weisslich. Die Muskeln sind weich, blass, nicht deutlich zu 
erkennen. Die Haut des Vorderarms und der Hand ist ebenso dunkelbraun und 


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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 


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lederartig; die Muskeln sind hellbraun gefärbt. Die Nägel hallen noch. Die 
Haut des linken Oberarms ist an der Oberfläche dunkelbraun und zähe; die Mus¬ 
keln sind braun. An der Unterfläche ist die Haut weisslic-h, sehr gut erhalten, 
wie kurz nach dem Tode. An der Oberfläche des Vorderarms ist die Haut braun, 
sehr zähe; an der Unterfläche ist ein Thcil der Haut verzehrt Die Muskeln sind 
halb verzehrt. Dio Nägel hallen noch. Die Haut der unteren Extremitäten ist 
lederhart, braunroth mit schwarzen Flecken; das Fettpolster ist 1 Ctm. dick. 
Kräftige Muskulatur. Die Muskeln sind weich, röthlichbraun. Beim Durch¬ 
schneiden kommt eine dünne, blutige Flüssigkeit aus deu grossen Blutgefässen 
hervor. Die harte Hirnhaut ist intact. Das Gehirn bildet eine dunkelgraue, 
weiche kleiartige Masse, welche einen unbeschreiblich ekelhaften Geruch ver¬ 
breitet. Die Weichtheile der Mundhöhle, des Pharynx und des Halses sind beinahe 
alle wohl zu unterscheiden. Lungen dunkelblau, zusammengefallen, stellenweise 
mit Adhäsionen. Schleimhaut der Trachea und Bronchi trocken, dunkelbraun 
gefärbt. Herz klein; Höhlen und Klappen normal. Innenfläche der Aorta ebenso. 
Schleimhaut der Speiseröhre schieferartig blau, mit einer schmutzig grauen, 
dünnen, schleimigen Masse überzogen. Diaphragma intact. Die Haut der Bauch¬ 
wand ist lederzäh; die Muskeln sind hellbraun gefärbt; das Bauchfell ist matt- 
weiss. Magen klein, ohne Inhalt; Mucosa schieferblau, stellenweise gefaltet. Dio 
Gedärme sind platt, ihre verschiedenen Abtheilungen schwer von einander zu 
trennen. Leber schmutzig blau. Milz sehr klein, geschrumpft. Die Nieren bilden 
eine schmutzig graue, weiche Masse. Die Harnblase ist leer. 

Chemischer Befund. Die in der Leber (Gewicht 694 Grm.) Vorge¬ 
fundene Quantität des Arseniks entspricht 0,032 Grm. arseniger Säure. Die 
übrigen Organe wurden nicht untersucht. 

XV. Clement Swanenburg, Wittwer von XVI. Vater der Damnatin, 
72 Jahre alt. 

Section am 11. Januar 1884, Vormittags um 9 Uhr, 1 l / 2 Jahr nach 
dem Tode. 

Die Leiche wurde von zwei Söhnen des Verstorbenen recognoscirt. Die 
Haut der Stirn und des Gesichts ist feucht, hellgrau, stellenweise gelblich tingirt 
mit einzelnen weissen Flocken. Augenlider nicht eingesunken. Die Haut des 
Halses ist hellgelb; an der Vorderfläche des Rumpfes ist die Farbe mehr hell¬ 
grau. Die Körperhöhlen sind geschlossen. Bauch wenig eingesunken. Die Haut 
der Glieder ist blass und mürbe. Die Muskeln sind weich, hellroth und braun¬ 
gelb gefärbt. An den Händen hat die Oberhaut sich in grossen Lappen gelöst; 
die Nägel sind meistens gelöst oder abgefallen. Die Schienbeine liegen beinahe 
ganz zu Tage. Die Nägel der Zehen sind meistens gelöst. Die harte Hirnhaut 
ist mattweiss. Das Gehirn ist sehr weich, ekelhaft stinkend; an der Oberfläche 
ist die Farbe schmutzig grau. Die weisse Gehirnsubstanz hat ihre normale Farbe. 
Die Weichtheile der Mundhöhle, des Pharynx und des Halses sind gut erhalten; 
die Schleim häute sind blass. Lungen sehr mürbe, nahezu schwarz, sehr zu¬ 
sammengefallen, stellenweise mit der Brustwand verwachsen. Grosse Fäulniss- 
blasen an der Oberfläche. Schleimhaut der Trachea blass, der Bronchialäste 
modrig schwarz. Herzmuskel mürbe, bräunlich. Klappen normal. Kalkplatten im 
Bogen und im Brusttheil der Aorta. Schleimhaut der Speiseröhre glatt, dunkel. 
Diaphragma unversehrt. Haut der Bauchwand weich, Muskeln gut erhalten. 


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Dr. T. Zaaijer, 


Bauchfell mattweiss, Bauchhöhle trocken. Bauchorgano wohl conserrirt mit Aus¬ 
nahme des Pankreas, das nicht zu finden ist. 

Chemischer Befund. In 150 Grm. der Leber (Gewicht 410 Grm.) und 
im Mageninhalt konnte kein Arsenik nachgewiesen werden. Die übrigen Organe 
wurden nicht untersucht. 

Bemerkung. Der Mann war Morgens um V 2 9 Uhr noch auf die Strasse 
gegangen und starb um 11 Uhr Vormittags, nachdem er ein Brötchen gegessen 
hatte. Eine gräuliche, homogen breiartige Masse von ganz frischem Vorkommen 
stellte den Mageninhalt dar. 

XVI. Johanna Dingjan, Ehefrau von XV, Mutter der Damnatin, 
72 Jahre alt. 

Section am 11. Januar 1884, Nachmittags um 1 */ a Uhr, 1 Jahr und 
9 Monate nach dem Tode. 

Die Leiche ist von zwei Söhnen der Verstorbenen recognoscirt. Die Haut 
der Stirn und des Gesichts ist weich, schmutzig grau mit grünlich tingirten 
Stellen. Die missfarbige Zunge hängt aus dem Munde heraus. Am Halse und an 
der Brust ist die Haut blassgelb, am Bauche aber mehr gelb. Körperhöhlen ge¬ 
schlossen, Bauch tief eingesunken. Die Haut der Arme ist lederzähe. Die Mus¬ 
keln sind hellroth. ziemlich consistent Die Nägel der Finger sind beinahe alle 
abgefallen. Die Haut der Oberschenkel ist blass, zähe. Die Waden sind dick, 
die Haut schwarz und hart. Die Muskeln sind hellroth. Die Nägel der Zehen 
sind abgcfallen. Die harte Hirnhaut ist consistent. Das Gehirn ist weich, ekel¬ 
haft stinkend, rothgrau gefärbt. In der Mundhöhle und im Pharynx sind die 
Weichtheile gut erhalten. Die Schleimhaut der Speiseröhre ist glatt, schmutzig 
schwarz, stellenweise röthlich. Im Keklkopf und in der Trachea ist die Schleim¬ 
haut dunkelgrau, meist trocken. Beim Oeffnen der Brusthöhle verbreitet sich ein 
eigenthümlich saurer Geruch, wie von Milchsäure. Lungen schieferartig blau mit 
grossen Zersetzungsblasen. Herzmuskel bräunlich roth, Klappen normal. Innen¬ 
fläche der Aorta glatt. Diaphragma unversehrt. Haut der Bauchwand fest. Mus¬ 
keln hellbraun, Bauchfell mattweiss, Bauchhöhle trocken. Der Magen ist der 
grossen Curvatur entlang offen, sonst jedoch wohl conservirt. Auch die übrigen 
Bauchorgane sind wohl erhalten, mit Ausnahme des Pankieas und der Eierstöcke. 

Chemischer Befund. In 100 Grm. der Leber (Gewicht 340 Grm.) ist 
keine Spur von Arsenik nachzuweisen. Die übrigen Organe wurden nicht unter¬ 
sucht. — 

XVII. Section der Leiche einer mehr als 30jährigen Frau, 48 Tage 
nach dem Tode. 

Die Leiche verbreitet einen ekelhaften süsslichen Geruch. Das Haupthaar 
ist nass, die behaarte Haut löst sich leicht ab. Die Stirnhaut in der Nähe des 
Haares ist braun, trocken; sonst ist die Haut der Stirn und des Gesichts feucht 
und schlüpfrig, braun, stellenweise röthlich. Augenlider tief eingesunken. Die 
Weichtheile der Nase und die Ohrmuschel sind verschwunden. Der Unterkiefer 
liegt in der Nähe des Kinns offen zu Tage. Die Haut des Halses ist hier und da 
wie eingerissen, sehr mürbe, gelbbraun. Brust- und Bauchhöhle geschlossen, 
Haut hell gelbbraun, weich. Das rechte Schlüsselbein und der obere Theil der 
Brustmuskeln sind von der Haut nicht mehr bedeckt. Bauchwand tief einge- 


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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 


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sunken, so dass die Wirbelsäule durch die Bauchdecke hervorragt. Die Verwesung 
der oberen Extremitäten ist schon weit vorgeschritten. Die Muskeln sind weich, 
aber wohl zu unterscheiden: die Knochenhaut löst sich stellenweise leicht ab. An 
der Dorsalfläche der Hände liegen die Strecksehneu ganz offen; die Zwischen¬ 
knochenmuskeln sind grösstentheiis verschwunden. Die Nägel sind abgefallen, die 
Nagelglieder der Daumen ebenso. Die unteren Glieder zeigen ungefähr denselben 
Fäulnissgrad. Von der harten Hirnhaut sind nur einige Fetzen übrig geblieben. 
Das Gehirn bildet eine gräuliche, sehr übelriecheude Masse. Von den Weich- 
theilen der Mundhöhle und am Halse ist wenig zu erkennen. Die Lungen sind 
sehr faul, beinahe schwarz, stark zusammengefallen neben der Wirbelsäule. Der 
Herzmuskel ist sehr mürbe. Von der Valvula tricuspidalis sind noch einige Fetzen 
da. Die Aorta- und Pulmonalklappen sind normal. Die Innenfläche der Aorta ist 
glatt, ihr Lumen gering. Von der Speiseröhre ist nichts zu finden. Diaphragma 
unversehrt. Die Baucheingeweide sind ziemlich gut erhalten; sie verbreiten je¬ 
doch einen höchst putriden, süsslicben Geruch. Magen wie ein platter Sack mit 
geringem Inhalte. Milz klein, sehr mürbe. Leber sehr weich, modrig; Gewicht 
255 Grm.; zahlreiche Tyrosin-Krystalle an der Oberfläche. Pankreas zu erkennen. 
Darmschlingen platt, an vielen Stellen mit einander verklebt, leicht zerreissbar. 
Nieren weich, schmutzig braun. Gebärmutter wie eine schmutzig braune, weiche 
Masse. Harnblase sehr mürbe, leer. 

Chemischer Befund. Die Resultate sind negativ. 

Bemerkung. Die Frau war unter Symptomen des allgemeinen Hydrops 
gestorben. Der Kirchhof hat einen hohen, trocknen Sandboden; der Sarg stand 
ungefähr 1 Meter unter dem Sande. Der Boden des Sarges war defect. 

XVIII. Section der Leiche einer jungen Frau. 2 Jahre nach dem Tode. 

Die Haut des behaarten Hauptes löst sich leicht ab. Der vom Leichentuch 
nicht bedeckte Theil des Gesichts ist mit dicken, weissen Schimmelkrusten über¬ 
zogen. Die Nasenspitze und die linke Ohrmuschel fehlen, von der rechten Ohr¬ 
muschel ist noch ein kleiner Theil übrig. Die Augenhöhlen sind beinahe leer. 
Die Haut ist am Gesicht lederhart, am Halse fehlt sie grösstentheiis. Die Haut 
des Rumpfes und der Glieder ist meist trocken und hart; die Farbe ist braun¬ 
schwarz, an der Vorderfläche des Rumpfes aber etwas heller, an den Ober¬ 
schenkeln, besonders an der Aussenseite, sehr dunkel, beinahe schwarz. Die 
Körperhöhlen sind geschlossen. Die Bauchdecke ist kuppelförmig aufgehoben und 
klingt beim Anklopfen. Die Haut der oberen Glieder ist bräunlich, lederzähe. 
Rechts ist das Fettpolster consistent; die Muskeln sind braun, stellenweise röth- 
lich gefärbt, deutlich zu unterscheiden. An der linken Seite sind die Weichtheile 
beinahe ganz in Fettwachs umgewandelt. Die beiden Hände liegen unbedeckt 
der Regio epigastrica an; die Dorsalfläche ist von einer dicken weissen Schimmel¬ 
kruste bedeckt. Die Finger sind braun, die Nägel braunroth; einzelne Nägel sind 
gelöst. Die Haut der Hände und Finger ist trocken, lederartig. Die dicken Ober¬ 
schenkel liegen knapp aneinander. Die Haut ist lederhart. Das Fettpolster ist 
fest, an der Innenfläche 3—4 Ctm. dick. Die kräftigen Muskeln sind vollkommen 
erhalten und sehen meist ganz frisch aus; die Farbe ist frisch roth, stellenweise 
etwas bräunlich. Beim Durchschneiden der Muskeln verbreitet sich ein sehr 

Viert»»IJatarsselir. f. -er. Mod. N. F. XUV. 2. iv 


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Dr. T. Zaaijer, 


starker Geruch nach altem faulendem Käse. Die Muskeln der Unterschenkel sind 
etwas leichter gefärbt und an der Unterseite stellenweise etwas missfarbig. Am 
rechten Fusse ist die Haut hart und trocken, am linken dagegen schlüpfrig. Von 
den Hirnhäuten ist nichts zu sehen. Das Gehirn bildet eine schmutzig grane, 
ziemlich consistente Masse von einem äusserst ekelhaften, putriden Geruch. Fett¬ 
wachs in der rechten Fossa spheno-maxillaris. Die Weichtheile der Mundhöhle, 
des Pharynx und des Halses sind verschwunden. Die Haut der Bruslwand ist 
hart, das Fettpolster dick und fest, die Muskeln sind blass. Der Nervus 
phrenicus mit den begleitenden Blutgefässen ist beiderseits deut¬ 
lich zu sehen und weiter zu verfolgen. Das Herz ist im Herzbeutel sehr 
gut conservirt. Muskelsubstanz trocken, braun. Klappen normal. Innenfläche der 
unversehrten Aorta glatt. Speiseröhre nicht mehr zu erkennen. Die beinahe 
schwarzen Lungen liegen ganz frei, stark zusammengefallen, knapp an der 
Wirbelsäule. Grosse Zersetzungsblasen an der Oberfläche. Diaphragma intact. 
Die kuppelförmig aufgehobene Bauchdecke behält ihre Form nach dem Durch¬ 
schneiden. Beim Oeffnen der Bauchhöhle verbreitet sich wieder der üble Geruch 
von altem faulendem Käse. Haut lederartig, zähe; Fettpolster 2—3,5 Gtm. dick, 
consistent; Muskeln braun, dünn wie ausgetrocknet; Bauchfell glänzend. Die 
Eingeweide liegen der Hinterfläche der Bauchhöhle platt an. Magen geschlossen, 
nach unten hinabgesackt, schwer von der Umgebung zu trennen. Pankreas nicht 
zu finden. Leber bläulich grau, Gewicht 250 Grm. Zersetzungsblasen verschie¬ 
dener Grösse zeigen sich beim Durchschneiden. Milz zum Tlieil erkennbar, 
schwer zu isoliren. Darmschlingen platt, gelbroth, miteinander verklebt. Nieren 
weich, von der Umgebung nicht zu trennen. Harnblase leer. Gebärmutter wohl 
conservirt. Eierstöcke und Eileiter wohl zu unterscheiden. 

Chemischer Befund. Die Resultate sind negativ. 

Bemerkung. Die Gruft war trocken, der Sarg wie neu, gut schliessend, 
hatte an allen Seiten frei in der Gruft gestanden. Die Leiche war mit vielen, 
auch wollenen Kleidern bedeckt. 


Es zeigt sich also, dass die untersuchten Leichen meistens sehr 
gut conservirt waren, mit Ausnahme von VIII und XVII. 

Von VIII war fast nur das Skelett übrig. Folgende Umstände 
erklären dies, meiner Meinung nach, hinreichend. Der 18jährige 
Jüngling war nur 4 oder 5 Tage krank gewesen und starb am 
15. Juli 1881. Die Temperatur war damals in Leiden hoch (am 
15. Juli 22,7°C., am 16. Juli 23,3°C., am 17. Juli 23°C., am 18. Juli, 
dem Tage der Bestattung, 22,9°C. in einem geschlossenen, nicht ge¬ 
heizten Zimmer, Vormittags um 8 Uhr). Die Leiche ist also wahr¬ 
scheinlich in weit vorgeschrittener Fäulniss zur Erde bestattet, und 
die Erfahrung im Secirsaale hat mir wiederholt gezeigt, dass, wenn 
die Fäulniss einmal einen gewissen Grad erreicht hat, sie sehr rasch 
fortschreitet und selbst mit Antiseptica schwer gehemmt werden kann. 


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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 


267 


Ausserdem stand der Sarg obenan im Grabe und auch dies kann die 
Verwesung beschleunigt haben. 1 ) 

Die Fäulniss der Leiche von XVII war sehr weit vorgeschritten 
in der relativ kurzen Zeit von 48 Tagen. Die Frau war jedoch Anfang 
September, also in der warmen Jahreszeit, unter Symptomen des all¬ 
gemeinen Hydrops gestorben, und solche Leichen gehen gewöhnlich 
sehr rasch zu Grunde (S. unten). Der Sarg war ausserdem defect und 
war in einem allgemeinen grossen Grabe nur von einem Meter Sand 
überdeckt gewesen. 

In 14 der 18 von uns untersuchten Leichen wurde Arsenik vor¬ 
gefunden; alle diese 14 Leichen stammten von Personen, welche muth- 
masslich von Frau van der Linden vergiftet waren. 

Die Menge des Arseniks in den Organen der verschiedenen Lei¬ 
chen angetroffen, war sehr verschieden. Bei VI wurde die grösste 
Quantität vorgefunden und wurde das Gift bis in dem Haupthaare 
nachgewiesen. In 100 Grm. der Leber von IX wurde nur eine Spur 
des Arseniks gefunden; diese rührte wahrscheinlich von den Medica- 
menten her, welche die Damnatin ihrer angeheiratheten Tante gereicht 
hatte. Die von ihr gereichten Medicamente konnten zufällig mit einer 
geringen Quantität des Giftes vermischt sein, und dies konnte leicht 
geschehen, da sie das Gift täglich in den Händen hatte. 

In Bezug auf die totale oder partielle Mumification der Leichen 
ist Folgendes zu erwähnen. 

Die Haut von VI war an verschiedenen Stellen (Gesicht, Bauch¬ 
wand, untere Extremitäten) hart, jedoch sehr leicht mit dem Messer 
zu trennen. Von den Brustorganen war nichts mehr zu erkennen. 
Die Verwesung der Bauchorgane war sehr weit vorgeschritten; vom 
Magen und von der Milz war sogar nichts zu finden und nur einige 
Darmschlingen waren noch zu unterscheiden. Es kann also in diesem 
Falle von Mumification nicht die Rede sein. 

An VII und XII wurden Spuren der Mumification an einer Hand 
angetroffen. Ich bemerke hierzu, dass die beiden Hände der Regio 
epigastrica anlagen, dass sie also relativ zu den übrigen Leichentheilen 
hochgestellt waren; weiter erwähne ich abermals meiner anatomischen 


') Die Leiderer Leichen (IV—XVI) waren auf zwei Kirchhöfen beerdigt. Der 
Boden beider besteht aus Klei. Drei Särge werden in einem Grabe aufeinander¬ 
gestellt. Der Deckel des oberen Sarges befindet sich 30—40 Ctm. unter der Erd¬ 
oberfläche. 

18* 


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Dr. T. Zaaijer, 


Erfahrung, welche mich belehrte, dass Hände überhaupt sehr geneigt 
sind, in einen Zustand der Mumification zu gerathen. 

Eine nahezu vollständige Mumification wurde au der Leiche von 
XIV vorgefunden. Die äussere Erscheinung dieser Leiche stimmte 
hauptsächlich mit den betreffenden Mittheilungen verschiedener Schrift¬ 
steller. Der Geruch nach altem Käse, dessen die meisten Autoren 
erwähnen, fehlte jedoch hier. Die Menge des Arseniks in der Leber 1 ) 
des Johannes Lepelaar vorgefunden, entsprach nur 0,032 Grm. arse- 
niger Säure, war also nicht sehr gross, wenigstens um mehr als die 
Hälfte geringer als in anderen, nicht mumificirten Leichen, z. B. XIII. 
Lepelaar (XIV) jedoch war 4 oder 5 Tage krank gewesen, seine Frau 
(XIII) nur 2 Tage; bei dieser stimmte die Menge des in der Leber 
Vorgefundenen Arseniks mit 0,074 Grm. arseniger Säure. 

An der Leiche von XVI fanden sich ebenfalls Mumificationszeichen, 
jedoch in geringerem Grade als bei XIV. In diesor Leiche wurde keine 
Spur von Arsenik vorgefunden. 

Unsere Beobachtung XVIII ist ohne Zweifel eine der wichtigsten. 
Die Leiche stimmte in vielen Punkten mit der von XIV überein, war 
aber im Ganzen noch besser erhalten und verbreitete sehr intensiv 
den Geruch des alten faulenden Käse. Es ist jedenfalls bemerkens- 
werth, dass 2 Jahre nach dem Tode der Zwerchfellsnerv mit den be¬ 
gleitenden Blutgefässen deutlich zu sehen und zu verfolgen waren, und 
dass die Oberschenkelmuskeln ganz frisch aussahen. Die Bedingungen, 
unter welchen die Leiche verkehrt hatte, waren aber, wie unten ge¬ 
zeigt werden soll, dem Zustandekommen der Mumification sehr günstig. 
Ueberdies war die Frau mitten im Winter gestorben; auch war sie 
sehr corpulent, was für das Entstehen der Mumification als ungünstig 
betrachtet wird. Die Leiche enthielt weder Arsenik, noch etwa ein 
anderes Gift. 

In Bezug auf die Mumification kommen wir also zu den fol¬ 
genden Resultaten: 

In 10 der beerdigten Leichen wurde Arsenik vorgefunden. 8 ) Eine 
dieser Leichen (XIV) war nahezu vollständig mumificirt; bei VII und 
XII wurde eine Hand mumificirt angetroffen. 

Die übrigen 5 begrabenen Leichen waren arsenikfrei. Eine dieser 

fl ) Der grossen Leichenzahl und des Untersuchungsumfangs wegen wurden die 
übrigen den Leichen entnommenen Organe nur untersucht in denjenigen Fällen, 
für welche Frau van der Linden vor Gericht gestanden hat. 

*) Ich rechne IX hier zu den arsenikfreien Leichen. 


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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 


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Leichen (XVIII) war beinahe vollständig, eine andere (XVI) war un¬ 
vollständig mumificirt. 

Hieraus ist also auf Grund unserer Beobachtungen zu 
schliessen, dass Mumification mehr bei arsenikfreien als 
bei arsenikhaltigen Leichen angetroffen wird. 

IV. Schluss. 

In meiner oben erwähnten Abhandlung habe ich die Bedingungen, 
welche den Fäulnissprozess der Leichen beeinflussen, etwas ausführlich 
auseinandergesetzt. Ich beschränke mich hier auf Folgendes. 

Jene Bedingungen sind sehr verschiedener Art; sie sind entweder 
in der Leiche selbst oder ausserhalb derselben zu suchen. Es ist aber 
nicht immer möglich, den Einfluss dieser verschiedenen Bedingungen 
genau festzustellen, da bekanntlich auf diesem Gebiet noch Vieles 
unaufgeklärt ist. 

Zu den inneren Fäulnissbedingungen werden gerechnet: 

1) das Alter. Allgemein wird behauptet, dass die Leichen sehr 
junger Kinder rascher faulen als diejenigen Erwachsener und besonders 
von Greisen. Hofmann ist aber der Meinung, dass in bei Weitem 
den meisten Fällen die Leichen Neugeborener nicht schneller in Zer¬ 
setzung gerathen als Andere, dass aber der Zersetzungsprozess, der 
geringeren Grösse wegen, natürlich eher zu Ende ist. Die Leichen 
von Säuglingen dagegen faulen zweifelsohne früher, besonders wenn 
sie an den Folgen eines Darmkatarrhs gestorben sind; die Bauchdecke 
färbt sich dabei bald grün. 

2) Das Geschlecht für sich hat hier wohl gar keinen Einfluss. 

3) Die Constitution ist tür den Fäulnissgang nicht ohne Be¬ 
deutung. Alle sind darüber einig, dass fette, corpulente, lymphatische 
Leichen rascher in Fäulniss gerathen als magere und hagere. 

4) Die Todesursache. Die Leichen an einer akuten Krankheit 
Gestorbener zersetzen sich, unter gleichen Umständen, schneller als 
solche, welche den an chronischen Leiden Gestorbenen angehören. 
Wenn aber gesunde Menschen plötzlich sterben, dann faulen die Lei¬ 
chen, caeteris paribus, weniger schnell. Hierbei kommen aber sehr 
merkwürdige, individuelle Unterschiede vor, welche ihrem Wesen nach 
völlig unbekannt sind. Casper und Lira an haben hierüber sehr 
belehrende Beispiele mitgetheilt, und ich kann dieselben aus persön¬ 
licher Erfahrung bestätigen. 

Nach einigen akuten Krankheiten geht die Zersetzung sehr schnell, 


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Dr. T. Zaaijer 


z. B. nach Septicämie, Blattern, Typhus u. s. w., vor sich; Cholera¬ 
leichen dagegen leisten länger Widerstand, erstens des grossen Flüssig¬ 
keitsverlustes wegen und zweitens wegen der Entleerung von Magen 
und Gedärmen. Ir. diesem letzten Punkte stimmen sie mit den Lei¬ 
chen mit Arsenik Vergifteter überein. 

Den folgenden Todesursachen wird ein beschleunigender Einfluss 
auf die Zersetzung zugeschrieben: Erstickung im Rauch, Kohlenoxyd- 
und Schwefelwasserstoffgas, die verschiedenen Arten des Erstickungs¬ 
todes (Ertrinkung, Erstickung, Strangulation), narcotische Gifte, Blau¬ 
säure, Morphium und andere Pflanzengifte. 

Den schon früher als faulnissverzögernd genannten Giften, Alkohol, 
Sublimat, Schwefelsäure, Wurstgift und Arsenik, sind noch Cyankalium 
(Hofmann), Thymol (Husemann), Zinkchlorid und Antimonium 
(Taylor) hinzuzusetzen. 

Wassersüchtige Leichen faulen schnell durch den grossen Wasser¬ 
gehalt. Das finde ich durch meine Beobachtung XVII und öfters in 
meiner anatomischen Praxis bestätigt. 

Es ist selbstverständlich, dass den äusseren Bedingungen ein mehr 
entscheidender Einfluss auf den Gang des Verwesungsprozesses zu¬ 
kommt. Von diesen äusseren Fäulnissbedingungen seien hier erwähnt: 

1) die atmosphärische Luft. Zutritt von Luft mit Mikro¬ 
organismen (Fäulnissbacterien) ist für das Zustandekommen der Ver¬ 
wesung unbedingt nothwendig. Je nachdem die Luft freier zutreten 
kann, wird die Fäulniss innerhalb gewisser Grenzen beschleunigt wer¬ 
den. Wenn aber die Luft sehr schnell gewechselt wird und besonders 
wenn sie überdies sehr trocken ist, dann verdunstet das Wasser der 
Leiche, die Zersetzung wird gehemmt und die Leiche kann austrocknen 
(mumificiren). Aus diesem Grunde hat Dr. Ledder die Mumification 
der Leichen im Keller zu Wieuwerd erklärt, und ich glaube dieselbe 
Erklärung für die Voorburg’schen Mumien annehmen zu müssen. 

2) Die Temperatur. Die Temperatur der Luft ist von grösster 
Bedeutung; dies ist aber auch für das Wasser und für das Grab gültig. 
Bei niedriger Temperatur zeigt sich die Fäulniss nur langsam; die 
Leiche kann erfrieren und mehrere Jahre hindurch unverändert bleiben. 
Wenn aber gefrorene Leichen oder Leichentheile wieder aufthauen, dann 
schreitet, meiner Erfahrung nach, die Fäulniss sehr schnell fort. 

Nach Taylor ist die Temperatur zwischen 21° und 38°C. für die 
Zersetzung am meisten günstig. Ist die Temperatur aber bedeutend 
höher und die Luft dabei sehr trocken, dann wird die Verdunstung 


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der Leiche bedeutend vermehrt; die Leiche trocknet aus wie die 
Menschen- und Thierleichen in den Wüsten Afrika’s und anderswo. 

3) Die Feuchtigkeit. Eine bedeutende Menge Wasser oder 
Wasserdampf wird für die Leichenfäulniss erfordert. Unter günstigen 
Umständen reicht aber der hohe Wassergehalt des Körpers (65 pCt. 
ungefähr) dazu vollständig aus. Ein grosser Theil dieses Wassers ver¬ 
lässt die Leiche, bald nachdem die Zersetzung begonnen hat. Sind 
nun für die Ausdünstung günstige Bedingungen da, fliesst das eigene 
Wasser der Leiche weg und kommt keine hinreichende Menge von 
aussen hinzu, dann kann die Wassermenge für den gehörigen Fäulniss- 
gang zu gering werden, und dies führt am Ende zu einer mehr oder 
weniger vollständigen Muraification. Die Fäulniss schreitet aber sehr 
schnell fort, wenn die Wasserzufuhr abwechselnd zu gering oder 
reichlich ist. 

Zur Bestätigung des Einflusses des Feuchtigkeitszustandes der 
Luft ist folgende Mittheilung wichtig. Nach Pettigrew ist es be¬ 
sonders die Trockenheit der Luft, welche in Ober-Egypten die Fäulniss 
hemmt. In Unter-Egypten gehen die Mumien bald zu Grunde, wenn 
sie der Aussenluft ausgesetzt sind. Madden sah in Alexandrien, wo 
die Luft sehr feucht ist, mehrere Mumien, welche während vielleicht 
40 Jahrhunderte gut erhalten geblieben waren, in 40 Stunden in Zer¬ 
setzung gerathen. — 

Der Luftzutritt zu den Leichen kann auf verschiedene Weise ge¬ 
hemmt, ja sogar verhindert werden. Die Kleider, der Sarg und das 
Grab kommen hierbei in Betracht. 

4) Die Kleider. Der Einfluss besonders eng schliessender Kleider 
auf den Fäulnissgang ist sehr gross und wird allgemein anerkannt; 
er lässt sich sowohl an in der Luft liegenden Leichen, als an Wasser¬ 
oder beerdigten Leichen nachweisen. Sehr interessante Mittheilungen 
über den verzögernden Einfluss der Kleider auch an beerdigten Leichen 
sind von Creteur gemacht, der mit der Desinfection des Schlacht¬ 
feldes bei Sedan beauftragt war. Gummimäntel sollen am meisten 
verzögernd gewirkt haben. Kiene fand an zwei Leichen (nach 10 und 
nach 18 Jahren) unter den wahrscheinlich wollenen Strümpfen raumi- 
ficirte Hautstücke. Diese Beobachtung ist hier von höchstem Interesse. 

5) Der Sarg. Selbstverständlich kommt hierbei die Holzart, die 
Dicke der Wände, die mehr oder weniger vollständige Schliessung in 
Betracht. Metallene, besonders bleierne, luftdicht geschlossene Särge 
werden also die Fäulniss am meisten verzögern. Särge von dickem 


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Dr. T. Zaaijer, 


Eichenholz werden bessere Dienste leisten als dünne Fichtenholzsärge. 
Die weit vorgeschrittene Fäulniss in unserer Beobachtung XVII kann, 
wie es mir scheint, zum Theil der fehlerhaften Zusammensetzung des 
Sarges zugeschrieben werden. 

6) Das Grab. Die Natur des Bodens hat für sich nicht den 
überwiegenden Einfluss, den man ihm zuzuschreiben geneigt ist, es sei 
denn, dass schon viele faulende thierische oder pflanzliche Substanzen 
im Boden vorhanden sind. Viele sind der Meinung, dass Leichen im 
Sandboden weniger schnell verwesen, als im Klei- oder Lehmboden. 
Die Möglichkeit des Luftzutritts und der Feuchtigkeitsgrad sind hierbei 
aber wichtige Momente, und weiter ist es nicht ohne Belang, ob der 
Feuchtigkeitsgrad constant oder abwechselnd ist. Der Feuchtigkeits¬ 
grad des Bodens hat einen sehr bedeutenden Einfluss auf den Luft¬ 
zutritt. So hat es sich aus den Untersuchungen Fleck’s heraus¬ 
gestellt, dass vollkommen trockener Sand zweimal so viel Luft durch¬ 
lässt, als mit Feuchtigkeit gesättigter Sand. Nach Toussaint soll 
die Mumification der Leichen durch Eisen in der Kirchhofserdo ge¬ 
fördert werden. Boucherie fand wenigstens Eisen in der Haut der 
Mumien des St. Michaelskellers in Bordeaux. 

Die höhere oder tiefere Lage des Grabes in Beziehung zu seiner 
Umgebung ist von grösserer Bedeutung, als die Art des Bodons. Die 
geringere oder grössere Ständigkeit der Feuchtigkeit ist davon abhängig. 

Auch die Tiefe des Grabes ist von Einfluss und machen sich hierbei 
die schon erwähnten Factoren: Temperatur, Luftzutritt, Feuchtigkeit 
deutlich in ihrer Wirkung geltend. — 

Da so verschiedene Einflüsse die Fäulniss der Leichen beherrschen, 
so ist es klar, dass auch der Erfolg sehr verschieden sein wird. Daraus 
erklärt es sich zugleich, dass die Angaben über die Zeit, welche zur 
Vernichtung der Weichtheile hinreichen soll, sehr verschieden sind. 

Die Versuche Orfila’s zeigten, dass die Weichtheile schon nach 
14, 15 oder 18 Monaten beinahe ganz verschwunden waren, sogar 
wenn die Leichen in Särgen begraben und mit einem Leichentuch um¬ 
geben waren. Der Meinung Anderer nach wird ein Verlauf von 3 
oder sogar 6 Jahren zur totalen Vernichtung der Weichtheile gefordert, 
und Orfila bekämpfte diese Ansicht. Taylor dagegen hält es für 
wahrscheinlich, dass gewöhnlich ungefähr 10 Jahre hinreichen werden 
zur vollständigen Verwesung der Weichtheile von Leichen, welche in 
dünnen, hölzernen Särgen begraben sind. 

Dergleichen Angaben ist selbstverständlich nur ein sehr relativer 


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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 


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Werth beizulegen. Der Zustand der Leiche nach einem gewissen Zoit- 
verlauf ist zunächst und hauptsächlich abhängig von dem Zustande, 
worin sie zur Erde bestattet wurde. Ist alsdann die Fäulniss deutlich 
da oder schon weit vorgeschritten, so wird, selbst unter sonst günstigen 
Bedingungen, die Vernichtung der Weichtheile bald folgen. Ich ver¬ 
weise auf meine Bemerkungen zur Beobachtung VIII. Hat dagegen 
die Fäulniss bei der Beerdigung noch nicht begonnen, so ist ein 
späteres Auftreten und langsameres Fortschreiten der Verwesung zu 
erwarten. — — 

Mit Rücksicht auf die vorhergehenden Mittheilungen werde ich 
jetzt zuerst die schon früher besprochenen fremden Beobachtungen 
näher in’s Auge fassen. 

Wir gelangten für die 19 nicht begrabenen Leichen zu dem 
Ergebniss, dass der Fäulnissunterschied bei den verschiedenen Leichen 
fast ohne Ausnahme seine Erklärung fand in der Jahreszeit des Ab¬ 
sterbens (also in Temperaturunterschiede) und in der Zeitdauer nach 
dem Tode, dass also der im Leben beigebrachte Arsenik in den ersten 
Tagen nach dem Absterben die Leichcnfäulniss nicht beeinflusst. 

Für die übrigen 41 Fälle wird es selbstverständlich schwieriger 
sein, aus dem Gegebenen einen wohl motivirten Schluss zu ziehen. 
Es fehlen doch in vielen Fällen die schwer zu entbehrenden Details. 
Scheinbar geringfügige Details haben mich aber öfters zu einer hin¬ 
reichenden Erklärung geführt. 

Die 2 Fälle mit geringen Fäulnisszeichen und die 9 Fälle mit 
weit vorgeschrittener Zersetzung bedürfen keiner weiteren Erörterung, 
und ebensowenig die 13 Fälle, wobei die Weichtheile ganz oder fast 
ganz verschwunden waren. 

In Anknüpfung an die Mittheilung über die Durchschnittszeit, 
welche die Weichtheile zu ihrer vollständigen Verwesung brauchen, 
erinnere ich an die 8 Leichen, welche länger als 6 Jahre unter der 
Erde gelegen hatten und wobei die Weichtheile ganz oder beinahe 
ganz verzehrt waren; nur in einem Falle wurde kein Arsenik in den 
Ueberresten nachgewiesen. Die Weichtheile mehrerer dieser Leichen 
waren vernichtet in kürzerer Zeit, als Taylor bei gewöhnlichen, d. h. 
arsenikfreien Leichen dafür erforderlich meinte. Dieselbe Bemerkung 
trifft natürlich noch mehr für diejenigen Fälle (5 an der Zahl), wobei 
die Zersetzung der Weichtheile in weniger als 6 Jahren vollendet war. 
Auch hier wurde nur in einem Falle kein Arsenik vorgefunden. — 


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Schliesslich bleiben also noch die 17 Fälle übrig, wobei Zeichen 
der Mumificirnng vorgefunden wurden. In den meisten Fällen habe 
ich die muthmsissliche Ursache des eigentümlichen Zustandes der 
Leiche ausfindig machen können, ohne dabei den Einfluss des Arseniks 
zur Hülfe zu ziehen; ich glaube sogar in einzelnen Fällen den posi¬ 
tiven Beweis liefern zu können, dass dem Arsenik dabei gar keine 
Rolle zukommt. Zuvor muss ich noch bemerken, dass beinahe Alles, 
was die Zersetzung verzögert, der Mumification förderlich sein kann. 

In 3 Fällen (1, 55, 57) 1 ) konnte die Abmagerung als Ursache des guten 
Zustandes der Leichen betrachtet werden. In den beiden ersten Fällen wird diese 
von mir auf hinreichende Gründe vermuthet, in der letzteren Beobachtung wird 
sie absichtlich erwähnt. Im Falle 55 können weiter die Sterbenszeit (November) 
und die Lage des Sarges in trockenem Sande, und für 57 die hohe Lage und der 
Eisengehalt des Bodens des Kirchhofes in Betracht gezogen werden. 

Zwei Personen (30, 38) werden als Potatores erwähnt. Der Erste war 
überdies schon bejahrt (62 Jahre), starb im Deoember und wurde am zweiten 
Tage nach dem Tode schon bestattet. Auch war die Leiche mit vielen Kleidern 
bedeckt. Im Falle 38 wurde die Leiche zwei Mal untersucht, das erste Mal 
5 Tage nach dem Tode im Monat April. Damals wurden der Magen und die 
Gedärme aus der Leiche genommen. Die Fäulniss kann dadurch verzögert sein. 

In 5 Fällen (2, 20. 30 (S. oben), 45 und 55 (S. oben)) ist der Zeitpunkt 
des Sterbens wichtig; 2 starb im Januar, 20 im November. Ueberdies war im 
letzten Falle der Kirchhof hoch und trocken. 45 starb im December. Der Sarg 
war intact. Das Grab lag an der höchsten Stelle des abschüssigen Kirchhofes. 

Der trockene Zustand des Kirchhofes wird absichtlich vermeldet in 3 Fällen 
(5, 13, 14) und ausserdem in den Fällen 20. 55, 57 (S. oben). 

Die nachfolgenden drei Fälle (23, 25, 46) sind in hohem Maasse inter¬ 
essant. weil dabei, wie es mir scheint, der Einfluss des Arseniks ohne Zweifel 
ganz ausgeschlossen werden kann. 

Im ersten Falle wurde der Sarg nach beinahe 1 1 2 Jahren so gut wie neu 
gefunden und in der Leiche wurde kein Arsenik nachgewiesen. Beim Oeffnen 
des Sarges wurde aber von allen Umstehenden ein schwacher, aber deutlich 
wahrnehmbarer Knoblauchgeruch bemerkt. Im zweiten Falle war die Mumifica¬ 
tion beinahe vollständig; der Sarg stand 4—5 Fuss tief in einem sehr festen 
Lehmboden. Nach 4 Jahren und 7 Monaten waren die roth baumwollenen Merk¬ 
zeichen des Hemdes noch deutlich zu lesen. Die Quantität des Vorgefundenen 
Arseniks war gering. Der Boden des Kirchhofes im dritten Falle war durchweg 
trocken und bestand aus festem Lehm, mit wenig Sand gemischt. Der Sarg war 
nach 6 Jahren völlig erhalten; die rothe Beize, mit welcher er bestrichen war, 
war sogar unversehrt. In der mumificirten Bauchdecke wurde kein Arsenik vor¬ 
gefunden. 

Ausser dem beigebrachten Arsenik, der im ersten Falle nicht einmal nacb- 
gewiesen werden konnte und im letzten Falle in der mumificirten Baucbdecke 


') Zahlen der Tabelle meiner Abhandlung. 


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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik*Vergiftung. 


275 


fehlte, müssen also Bedingungen vorhanden gewesen sein, in Folge deren nicht 
nur die Leichen, spndern auch die Särge und sogar die Merkzeichen des Hemdes 
nach relativ langer Zeit so gut erhalten geblieben sind. Für die beiden letzten 
Fälle ist eine dieser Bedingungen im Boden der Kirchhöfe zu suchen; im ersten 
Falle wird darüber nichts mitgelheilt. — 

Es bleiben also von den 17 Mumificationsfällen nur drei (4, 6, 56) übrig, 
wobei es mir nicht gelungen ist, einige Erklärung der Mumificirung zu finden. 
Ich bemerke jedoch, dass in allen diesen Fällen die Fäulniss sehr weit vorge¬ 
schritten und die Mumification nur partiell war und besonders in der Bauchwand 
angetroffen wurde. Ueberdies sind die Mittheilungen über die Art des Kirchhofes 
für die ersten zwei Fälle entweder lückenhaft oder sie fehlen ganz. 

Ich werde jetzt versuchen, die relativ häufige Mumification der 
Bauchwand zu erklären. 

Wenn im Verlaufe der Zersetzung das eigene Wasser der Leiche 
durch Ausdunstung verloren geht und der Verlust nicht durch Zufuhr 
von aussen hergestellt wird, so werden diejenigen Weichtheile zuerst 
austrocknen (mumificiren), welche eine relativ grosse Oberfläche haben 
und relativ dünn sind. Der Verlust der Oberhaut begünstigt ausserdem, 
wie bekannt, die Ausdunstung. Man kann annehmeu, dass die Ober¬ 
haut in den meisten Fällen, um welche es sich hier handelt, fehlen 
wird. An der von Czermak untersuchten, übrigens wohl conservirten 
Mumie aus dem St. Michaelskeller in Bordeaux waren nur sehr undeut¬ 
liche Spuren der Oberhaut und sogar des Corpus papillare übrig. Die 
Bauchwand entspricht den oben gestellten Bedingungen (relativ grosse 
Oberfläche und geringe Dicke), und ich glaube darin die Hauptursache 
ihrer häufigen Mumification gefunden zu haben. Diese Auffassung wird 
dadurch unterstützt, dass andere Körpertheile, welche denselben Bedin¬ 
gungen entsprechen, ebenso oft in mumificirtem Zustande angetroffen 
werden, z. B. die Brustwand, die Haut am Brustbein, des Vorderarms, 
um die Hand-, Knie- und Fussgelenke und an den Händen und Fingern. 
Die Haut der Stirn, der Nase, der Ohren, der Augenlider und des be¬ 
haarten Hauptes scheinen hierbei eine Ausnahme zu machen. Man 
bedenke aber, dass die letztgenannten Körpertheile gewöhnlich nicht 
von Kleidern bedeckt sind, dass Fliegen und andere Insecten häufig 
sehr bald nach dem Tode ihre Eier in die Augen- und Mundwinkel 
legen, und dass die erwähnten Theile also mehr als irgend andere der 
vernichtenden Wirkung von Maden u. s. w. ausgesetzt sind. 

Für das behaarte Haupt kommt noch eine andere Ursache 
hinzu; das Haar ist sehr hygroskopisch und wird gewöhnlich sogar 
an ziemlich vollständig mumifieirten Leichen sehr feucht angetroffen. 


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276 Dr. T. Zaaijer, 

Die Mumification der unter den feuchten Haaren befindlichen Haut 
wird also verhindert. 

Ich glaube ferner noch eine andere Ursache für die Mumification 
besonders der Baach- und Brustwand gefunden zu haben in der An¬ 
wesenheit wollener Kleider und wollener Gürtel um den Bauch (23, 56). 
Ich hatte es schon früher für wahrscheinlich gehalten, dass diese 
wollene Bedeckung den Mumificationsprozess beeinflusst. Durch die 
schon erwähnte Beobachtung Kiene’s, der an arsenikfreien Cadavern 
mumificirte Hautstücke fand unter wahrscheinlich wollenen Strümpfen, 
wird diese Auffassung in hohem Maasse unterstützt. — 

Bei der Besprechung meiner eigenen Beobachtungen kann ich 
nach dem am Schlüsse des dritten Capitels darüber Mitgetheilten 
sehr kurz sein. 

Die 13 begrabenen Leidener Leichen hatten alle unter denselben 
Bedingungen verkehrt, was die Art der Kirchhöfe betrifft. Beachtet 
man den Zeitverlauf nach dem Tode, so war, unabhängig von der 
An- oder Abwesenheit und von der Quantität des in den Leichen Vor¬ 
gefundenen Arseniks, wenig Unterschied im Verlaufe der Fäulniss zu 
bemerken. Nur unsere Beobachtung VIII macht hiervon eine Aus¬ 
nahme, deren Erklärung schon früher gegeben wurde. Die Muraifica- 
tion der Hände (VII, XII) lässt sich leicht erklären aus dem, was 
ich über die Ausdunstung der Körpertheile mit relativ grosser Ober¬ 
fläche und relativ geringer Dicke auseinandergesetzt habe. 

Ueber die nahezu vollständige Mumification der Leiche des 
Johannes Lepelaar (XIV) ist noch zu bemerken, dass die dem Boden 
des Sarges zugekehrten Hauttheile weich und weiss waren und stellen¬ 
weise vollkommen frisch aussahen. Es verdient noch Erwähnung, dass 
die in der Leber Vorgefundene Arsenikmenge geringer war, als in 
anderen nicht mumificirten Leichen, und zum Schlüsse, dass eine 
aridere Leiche (XVI), welche keine Spur des Arseniks enthielt, deut¬ 
lich mumificirt war. 

Als controlirende Beobachtung ist unsere Beobachtung XVIII 
höchst interessant. Unter günstigen Bedingungen (trockenes Grab, 
dicker, wohl geschlossener Sarg, viel wollene Kleider, Tod mitten im 
Winter) mumificirte hier die arsenikfreie Leiche der jungen, corpulenten 
Frau in 2 Jahren nahezu vollständig. 

Man hat vielfach behauptet, dass besonders der Magen und die 
Gedärme unter dem Einflüsse des beigebrachten Arseniks besser er¬ 
halten bleiben; ich verweise in dieser Beziehung auf die wichtigen 

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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 


277 


Resultate in unserer Beobachtung XV. Hier waren in einer arsenik- 
freien Leiche, welche vom 3. Juli 1882 bis zum 10. Januar 1884 (also 
gut IV', Jahre) unter der Erde gelegen hatte, der Magen und die 
Gedärme so gut erhalten geblieben, dass sogar mit Gewissheit zu 
entscheiden war, welche Nahrung der Mann zuletzt zu sich genommen 
hatte. — 

Wir sind also zu den nachfolgenden Schlüssen gelangt: 

Der Fäulnissgrad der arsenikhaltenden Leichen wird in den ersten 
Tagen nach dem Tode (vor der Bestattung) hauptsächlich von Tem¬ 
peraturverhältnissen beherrscht. 

In einzelnen Fällen schreitet die Verwesung im Grabe schnell, in 
anderen dagegen langsam fort. Mit Ausschliessung des Einflusses des 
Arseniks konnte die langsame Zersetzung in beinahe allen Fällen hin¬ 
reichend erklärt werden. 

Für viele Fälle ist es bewiesen, dass der beigebrachte Arsenik die 
Verwesung und die Mumification nicht beeinflusst und in beinahe allen 
übrigbleibenden Fällen war die muthmassliche Ursache der Mumification 
anderswo zu finden. — 

Ich halte mich für berechtigt, meine Ergebnisse folgenderweise 
zu formuliren: 

1) Die Leichen-Mumification kommt sehr häufig vor. 

2) Anderer und meine eigenen Controle-Beobachtungen 
beweisen, dass arsenikfreie Leichen unter denselben 
Bedingungen als arsenikhaltige ebenso gut erhalten 
bleiben und auch mumificiren. 

3) Die relativ häufige Mumification der Bauch- und Brust¬ 
wand, der Haut um die Hand-, Knie- und Fussgelenke 
und der Haut der Hände und Finger (Füsse und Zehen) 
ist, unabhängig von dem Einflüsse des Arseniks, sehr 
gut zu erklären. 

4) Es giebt (namentlich für die toxischen Dosen) keine 
sog. Arsenik-Mumification. 

5) Die Leichen-Mumification ist gerichtlich-toxikologisch 
ohne Bedeutung. 

Leiden, 25. Januar 1886. 


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2 . 


Znn Tad des Neugeborenen durch Abgehneiden des Halses 
und durch fragliche Sturxgebnrt. 

Erörterung bemerkenswerther Leichenbefunde unter Zugrunde¬ 
legung zweier gerichtsärztlicher Fälle. 

Von 

Dr. BKorlte Frey er, 

Kreisphysikus in Darkehmen. 


Die beiden gerichtsärztlichen Fälle, die meinen nachstehenden 
Erörterungen zu Grunde liegen, boten in ihren Einzelheiten einige 
bemerkenswerthe Leichenbefunde dar, die ich theils zur Bereicherung 
der einschlägigen, besonders in dem ersteren Falle nicht sehr grossen 
Casuistik der Veröffentlichung werth, theils für die ßeurtheilung ähn¬ 
licher Fälle ebenso von wissenschaftlichem, wie von wesentlich prakti¬ 
schem Interesse halte. 

Ich werde mich zur Erörterung jener Befunde der Darlegung der 
beiden Fälle in der Weise bedienen, dass ich ihren sachlichen Hergang 
in kurzen Zügen schildere und unter Reproducirung der bezüglichen 
Sectionsbefunde deren gutachtliche Motivirung nebst den mir sonst noth- 
wendig erscheinenden Bemerkungen damit verbinde. 

L Tod des Neugeborenen durch Abschneiden des Halses. 

Kindesmord durch Abschneiden des Halses wird im Ganzen selten 
beobachtet. Blumenstok') beschreibt einen Fall, in welchem er 
nicht mehr aus der Beschaffenheit der Halsschnittwunde — denn das 
Kind war in viele Theile zerstückelt und diese waren mit Erde, die 
erst fortgewaschen werden musste, incrustirt — auf deren vitale Ent¬ 
stehung schliessen konnte, sondern erst durch den Nachweis des Ver¬ 
blutungstodes überhaupt zu folgern im Stande war, dass die Hals¬ 
schnittwunde den Verblutungstod hervorgerufen hatte und dass sie 
mithin dem Kinde noch im Leben beigebracht worden war. Meistens 
sind ja in allen diesen Fällen die wichtigen in Betracht kommenden 
Reactionserscheinungen theils durch Fäulniss, theils durch andere 


*) Wiener medic. Wochenscbr. 1875. No. 21 u. 22. 


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Tod des Neugeborenen durch Abschneiden des Halses. 


279 


Momente, wie auch in dem vorliegenden Falle neben der Fäulniss 
ebenfalls durch erdige Incrustirung, mehr oder weniger erheblich ver¬ 
wischt, und da es in dem einzelnen Falle immerhin auf den Nachweis 
vitaler Reaction ankomrat, so dürfte für die Beurtheilung ähnlicher 
Fälle jede einschlägige Erscheinung von Wichtigkeit sein. Eine solche 
besondere Erscheinung bot der vorliegende Fall in der Gewebsretraction 
eines bestimmten Organs, der Trachea, dar, und auf diesen Befund die 
fachwissenschaftliche Aufmerksamkeit besonders hinzulenken, erscheint 
der nachstehende Fall mir durchaus von Werth. 

Die Angeschuldigte erzählt über den Geburtsvorgang und den Tod 
des Kindes Folgendes. 

Um die Geburt zu verheimlichen, sei sie Abends spät, als sie den Beginn 
der Geburt gemerkt, hinter die Scheune gegangen und habe, als der Kopf des 
Kindes aus den Geschlechtstheilen herrorgetreten, denselben erfasst und das Kind 
hervorgezogen. Dasselbe habe gleich geschrieen. Sie habe es dann aufgenommen, 
in den anstossenden Garten getragen und, mit ihrer Schürze bedeckt, unter einen 
Strauch gelegt. Das Wetter sei kalt und windig gewesen. Am folgenden Morgen, 
zwischen 5 und 7 Uhr, sei sie nach dem Kinde sehen gegangen, und da sie be¬ 
merkt, dass es noch gelebt, habe sie aus der Stube ein Messer geholt und das¬ 
selbe dem Kinde „in den Hals gesteckt“, worauf es nach wenigen Minuten 
unter Zuckungen zu leben aufgehört habe. Hierauf habe sie es unter demselben 
Strauche verscharrt, drei Tage später jedoch auf dem Kirchhofe bestattet. 

Die Angeschuldigte hatte zwei Jahre vorher schon einmal geboren. 
Die 13 Tage später ausgeführte Section der Kindesleiche ergab unter 
Fortiassung der auf das Gelebthaben, die Reife und den Tod des Kindes 
bezüglichen Befunde folgendes Bemerkenswerthe: 

1) Die Leiche des neugeborenen Kindes ist männlichen Geschlechts und an 
seiner gesammten Körperoberfläche von einer schwarzen, 2—4 Mm. dicken, 
harten, trocknen Erdkruste überzogen, so dass der Leichnam eine unförmliche 
schwarze Masse darstellt. Um einen Einblick in die Beschaffenheit der Oberfläche 
der Körperhaut gewinnen zu können, ist es nothwendig, dass die fest ange¬ 
trocknete Erdkruste mit kaltem Wasser erweicht und heruntergewaschen wird. 
Bei dieser Prozedur ist es nicht zu verhüten, dass die Epidermis in Fetzen sich 
loslöst und mit heruntergewaschen wird; es ist ferner nicht zu vermeiden, dass in 
den an der Vorderfläche des Halses befindlichen, weiter unten zu beschreibenden 
Hautdefect, der sich augenscheinlich oberhalb des Brustbeins nach der Brust¬ 
höhle hin in die Tiefe fortsetzt, Wasser hineinfliesst und bei Druck auf den 
Brustkasten mit Luftblasen gemengt zurücksprudelt. 

8) Beim gänzlichen Zurückschlagen des Kopfes in den Nacken präsentirt 
sich an der Vorderfläche des Halses ein Defekt, welcher in der Richtung vom 
Kinn nach dem oberen Rande des Brustbeins 9 Ctm., von rechts naoh links 6 Ctm. 
beträgt. Die Ränder dieses Defektes werden von der mit einer dicken Fettschicht 
versehenen Haut gebildet und sind ringsherum scharf und glatt. Der Grund des 


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280 


Dr. M. Freyer, 


Defektes erscheint zerklüftet, während sich in demselben unregelmässig geformte 
Muskelmassen, sonstigeGewebsfetzen, Fettklümpchen und sandige Erde bemerkbar 
machen. Ein Biudegewebsstrang spannt sich von oben nach unten über den Grund 
des Defektes. In dem leizteren lässt sich bei genauerer Besichtigung foststelien, 
dass der Kehlkopf unterhalb der Basis des Kehldockels quer durchschnitten ist, 
so dass der Kehldeckel zugleich mit der Zunge nach dem Boden der 
Mundhöhle zurückgesunken ist, während der übrige Kehlkopf nach 
der Brusthöhle hin zurückgesunken ist. Die Durchtrennungsflächo lässt 
sich, soweit dieselbe durch das knorplige Gerüst des Kehlkopfes geht, als eine 
absolut glatte Fläche erkennen, in der sich die Durchschnittsflächen der einzelnen 
Kehlkopfsknorpel, speciell die der Giessbeckenknorpel, ganz besonders markiren; 
zwischen den letzteren, soweit dieselben dem oberen, zum Kehldeckel gehörigen 
Theilo des Kehlkopfes angehören, spannt sich eine 1 Ctm. lange, haarfeine, 
strangförmige Membran, unterhalb welcher die Stimmbänder und zwischen ihnen 
die sogen. Morgagni’sche Tasche frei zu Tage liegen. Weiter in der Tiefe zeigt 
sich auch die Speiseröhre durch einen haarscharfen Rand ringsum quer durch¬ 
trennt. und noch weiter in der Tiefe befinden sich zwei Einschnitte in die Wirbel¬ 
körper und zwar der obere, etwa im Bereich des dritten Halswirbels gelegene, 
quer durch die Wirbelkörper gehende, ist 4 Ctm. lang, beginnt am äussersten 
Ende des linken Seitenfortsatzes des Wirbelkörpers und geht bis in den rechten 
Processus mastoideus hinein, in der Mitte des Wirbelkörpers 1 Ctm. tief, während 
die ebenfalls 1 Ctm. auseinanderklaffenden Schnittflächen wiederum absolut glatt 
sind und die noch knorplige Beschaffenheit der einzelnen Theile des durch¬ 
schnittenen Wirbelkörpers erkennen lassen. Der zweite, tiefer liegende Schnitt 
befindet sich etwa in Höhe des 6. Halswirbels, läuft dem ersten parallel, ist 
2 Ctm. lang, etwa 3 / 4 Ctm. tief, klafft 1 Ctm. auseinander und verläuft nur 
innerhalb des Wirbelkörpers. Wie weit Blutgefässe und Nerven zu beiden Seiten 
des Halses mitverletzt sind, lässt sich bei der äusseren Besichtigung nicht er¬ 
kennen. Am Nacken ist nichts Abnormes zu bemerken. 

27) Die Venen am Halse sind blutleer; dieselben werden in ihrem ganzen 
Verlaufe vom Herzen an freipräparirt und zeigen sich etwa in der Mitte des 
Halses, im Bereich des vorher beschriebenen Halsdefektes quer durchtrennt und 
von unregelmässig zackig geformten, fetzigen Rändern umgeben; ganz dasselbe 
ist von den Schlagadern und grossen Nerven am Halse zu sagen, welche ebenfalls 
quer durchtrennt in dem Defekt frei endigen. 

Nach dem vorläufigen Gutachten hatte das Kind 

1) gelebt und geathmet, 

2) war es reif und lebensfähig gewesen, 

3) war es an Verblutung gestorben, und 

4) war der Verblutungstod durch die Schnittwunde am Halse 
herbeigeführt worden. 

Die ersten drei Punkte Hessen sich durch die bezüglichen Sections- 
befunde leicht motiviren, nur musste beim dritten Punkte in Betracht 
gezogen werden, dass ein Theil der Blutarmuth der Leiche auf Rech¬ 
nung der recht weit vorgeschrittenen Fäulniss zu setzen, dass jedoch 


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Tod des Neugeborenen durch Äbschneiden des Halses. 


281 


bei dem Fehlen einer anderen Todesursache gegenüber dem Vorhanden¬ 
sein der grossen Verletzung am Halse der Verblutungstod als sicher 
anzuerkennen war. 

Bei der Motivirung des vierten Punktes war der ursächliche Zu¬ 
sammenhang zwischen Verblutungstod und Halsverletzung des Näheren 
zu erörtern, wobei zunächst festzustellen war, dass die letztere erstens 
in der That eine Schnittwunde bildete, und zweitens dem Kinde 
noch während des Lebens zugefügt worden sei. 

Das Erstere war nach Beschaffenheit der gesammten Wunde, wie 
sie sich beim Zurückschlagen des Kopfes in den Nacken präsentirte, 
nicht schwierig zu beweisen. Die scharfen und glatten Wundränder 
der Haut, sowie die glatten Schnittflächen im Bereich des Kehlkopfes 
und der Wirbelkörper, ferner der geradlinige Verlauf der Wunde und 
ihre nach der Tiefe hin sich trichterförmig verjüngende Form Hessen 
über die Natur der Wunde als einer Schnittwunde keinen Zweifel. 
Zog man nun neben der glatten und geradlinigen Beschaffenheit der 
Wundränder noch die abnorme Tiefe und Ausdehnung der Wunde selbst 
in Betracht, mit der dieselbe sogar einen Centimeter tief in die Knochen¬ 
substanz der Wirbel und seitwärts selbst bis in den rechten Zitzen¬ 
fortsatz eingedrungen war, so dürfte weiter gefolgert werden, dass der 
Kopf bei Zufügung der Wunde nach hinten übergebeugt, die 
vordere Halshaut also gespannt gewesen sein musste, da bei Neigung 
des Kopfes nach vorn und bei Erschlaffung der vorderen Halshaut 
leicht mehrere Schnittlinien, ähnlich dem bekannten Schnitte am zu¬ 
sammengefalteten Tuche, hätten entstehen können, zweitens dass der 
Schnitt mit erheblicher Kraft und, bei dem Vorhandensein eines 
zweiten, in Höhe des 6. Halswirbels befindlichen parallelen Schnittes, 
in der Tiefe wenigstens, doppelt geführt gewesen ist. 

Mehr Schwierigkeiten machte dagegen die Erörterung der zweiten 
Frage, ob die Wunde dem noch lebenden Körper oder etwa 
erst der Leiche beigebracht worden sei. Denn es wäre denkbar 
gewesen, dass die Angeschuldigte, da sie angeblich erst am nächsten 
Morgen zu dem Gewaltakte geschritten sein wollte, das Kind für lebend 
gehalten, während es bereits todt gewesen, und nun dem schon todten 
Kinde die Halswunde beigebracht habe. Der Umstand, dass Verblutung 
als Todesursache angenommen werden konnte, überhob uns der Erörte¬ 
rung dieser Frage keineswegs. Denn die allgemeine Blutleere musste, 
wie schon angedeutet, zum Theil wenigstens auf Rechnung der Fäulniss 

VUrtelJ ahnsehr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 2. |<j 


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282 


Dr. M. Freyer, 


gesetzt werden, sie konnte aber auch aus der ununterbunden 
gefundenen Nabelschnur zu Stande gekommen sein. Es musste 
also für die Entstehung der Halsschnittwunde während des Lebens 
erst der Beweis geführt werden, und hierzu schien mir vorwiegend ein 
Befund geeignet, wie ich ihn weder in den gangbaren Lehrbüchern 
speciell hervorgehoben, noch in dem einen von Blumenstok') be¬ 
schriebenen Falle angedeutet gefunden habe. 

Bekanntlich werden Für die Begründung der vitalen Reaction ge¬ 
wöhnlich zwei Eigenschaften angeführt: die vitale Retractionsfähigkeit 
der durchschnittenen Weichtheile und die Blutung. Die letztere konnte 
in dem vorliegenden Falle wenig in Betracht kommen, da ein Ein¬ 
gedrungensein von Blut zwischen die durchtrennten Gewebsschichten 
an der Leiche nicht zu constatiren gewesen ist und auch nicht vor¬ 
handen gewesen zu sein brauchte. Denn bei grossen Schnittwunden, 
bei denen das Blut in schnellem Strome nach aussen sich ergiesst, 
pflegt es zu einem Eindringen von Blut in die Gewebsschichten meistens 
gar nicht zu kommen. Gesetzt aber, es wäre in dem vorliegenden 
Falle dazu gekommen gewesen, so konnte das etwa vorhanden gewesene 
Blut theils durch die innige Berührung der Wunde mit dem Erdreich, 
mit dem sie bedeckt gewesen, theils durch das Wegwaschen des letzteren 
bei der Section mitentfernt worden sein. In Betreff der vitalen Re- 
traction der Weichtheile dagegen kamen hier verschiedene Gebilde von 
mehr oder weniger grossem Werthe in Betracht. Ein Klaffen der Haut¬ 
ränder war als nur wenig charakteristisch heranzuziehen, weil dasselbe 
durch Lage und Stellung, des Halses nach dem Tode noch leicht raodi- 
ficirt sein konnte, je nachdem eben der Kopf gebeugt oder zurück¬ 
geschlagen wurde. Bei der Section wurde er nach vorn und etwas 
zur linken Seite gebeugt gefunden. Etwas mehr Werth schien mir der 
Befund der durchschnittenen Muskeln zu haben, die als „unregelmässig 
geformte Muskelmassen“ sich am Grunde der Wunde bemerkbar ge¬ 
macht hatten; sie konnten aber ebensowohl als aktiv rotrahirt. wie 
als postmortal zusammengedrückt angesehen werden. Den grössten 
Werth mit Bezug auf vitale Retraction glaube ich jedoch dem Zu¬ 
stande der durchtrennten Luftröhre beimessen zu müssen. Die 
Luftröhre war im oberen Theile des Kehlkopfes quer durchtrennt, und 
während die obere Partie des letzteren dicht unter der Zunge am Boden 
der Mundhöhle gefunden wurde, konnte die untere Partie desselben 


*) l. c. 


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Tod des Neugeborenen durch Abschneiden des Halses. 


283 


nebst den übrigen Theilen der Luftröhre erst nach längerem Suchen 
hinter dem oberen Rande des Brustbeins entdeckt werden. Die beiden 
Theile der Luftröhre waren somit um 8—9 Ctm. auseinandergewichen, 
und in diesem bedeutenden Auseinandergewichensein er¬ 
blickte ich und erblicke ich noch ferner ein ganz wesent¬ 
liches Merkmal vitaler Reaction. Denn unter allen Gebilden 
des Körpers, die Gefässe miteingeschlossen, dürfte kaum ein anderes 
vermöge seines anatomischen Baues sowohl, als auch seiner anato¬ 
mischen Lage eine solche Elasticitat an sich und eine so bedeutende 
Retractionsfähigkeit im Ganzen besitzen, als eben die Luftröhre. Durch 
elastische Faserbänder aneinandergekettet, werden die einzelnen C-förmi- 
gen Knorpel noch durch organische Muskelfasern an ihren Enden ver¬ 
bunden, während eine elastische Faserhaut das Innere der Luftröhre 
auskleidet und nach Luschka longitudinale Muskelfasern auch längs 
der hinteren Wand herabziehen. Dazu kommt, dass die gesammte 
Luftröhre seitlich nirgends fixirt ist, sondern in einem der von den 
Halsfascien gebildeten Schläuche, von laxem, grossblättrigem Binde¬ 
gewebe umgeben, gewissermassen lose darinsteckt. Dementsprechend 
lehrt auch die Erfahrung, dass bei Verletzungan, durch welche die 
Luftröhre vollständig quer durchtrennt wird, die beiden Enden der¬ 
selben weit auseinanderweichen und besonders das untere Ende sich 
bis in das Jugulum retrahiren kann ‘). Die Retraction konnte in dem 
vorliegenden Falle in um so ausgedehnterem Maasse statthaben, als 
gleichzeitig sämmtliche Nachbargebilde und vor Allem die Speiseröhre, 
mit der die Luftröhre noch am festesten zusammenhängt, mit durch¬ 
trennt waren. Ich stehe daher nicht an, diese ausgiebige Retractions¬ 
fähigkeit der Luftröhre als ein recht werthvolles Merkmal vitaler 
Reaction ganz besonders hervorzuheben, zumal wenn die übrigen Merk¬ 
male in dieser Beziehung Charakteristisches zu bieten weniger geeignet 
sind. Denn auch diejenigen Gebilde, die hier noch weiter in Betracht 
zu ziehen gewesen sind, die durchschnittenen Gefässe, zeigten sich bei 
genauerer Präparation wol quer durchtrennt, doch an ihren Enden 
theilweise unregelmässig zackig und fetzig auseinandergezerrt, jeden¬ 
falls nicht genügend charakteristisch, um für den Beweis vitaler 
Reaction verwerthet werden zu können. Immerhin wird daher unter 
denjenigen Körperthcilen, deren vitale Retraction sich intensiv 

*) Koenig, Lehrbuch der spec. Chirurgie, I. 13d. 1. Aufl. p. 430. 

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Dr. M. Freyer, 


zu äussern pflegt, künftighin nicht nur auf das Verhalten der 
Arterien und gewisser Aponeurosen, worauf die Lehrbücher hinweisen, 
sondern auch auf das der Luftröhre hinzuweisen sein. 

IL Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt 

Es hat den Anschein, als ob sich neuerdings eine Strömung kund¬ 
geben sollte, bei fraglichen Kindesmordsfällen überhaupt und gar bei 
fraglicher Sturzgeburt noch ganz besonders die Gerichtsärzte in der 
Auffassung des Falles misstrauisch zu machen. Der neueste Autor 
auf diesem Gebiete, Prof. Winckel in München, der eine Uebersicht 
über 216 präcipitirte Geburten zusammengestellt hat, sagt in dieser 
Beziehung am Schlüsse seiner Arbeit ganz ausdrücklich, man müsse 
„beträchtliche“ Knochenbrüche als einfache Folgen solcher Sturz¬ 
geburten immer mit Misstrauen auffassen. Dieses Misstrauen wird 
allerdings einestheils durch die Thatsache gerechtfertigt, dass wir natur- 
gemäss nur über eine geringe Anzahl authentisch beobachteter Fälle 
verfügen, weil Sturzgeburten an und für sich selten sind und die 
meisten dazu noch bei heimlichen Geburten angegeben werden, 
anderntheils durch den Umstand, dass die einschlägigen, mit Kindes¬ 
leichen angestellten Experimente, da sie den natürlichen Vorkomm¬ 
nissen doch nur annähernd entsprechen, auch nur als unter¬ 
stützende Beweismomente dienen können. Wir werden daher gerade 
bei der Sturzgeburt nach wie vor darauf angewiesen bleiben, in jedem 
gegebenen Falle ganz genau zu individualisiren und, handelt es sich 
gar um eine complicirtere Schädelfractur, das Pro et Contra auf 
Grund bekannter wissenschaftlicher Erfahrungen um so gewissenhafter 
abzuwägen. Keinenfalls aber wird man, etwa von der bekannten 
Hohl’schen Voraussetzung, nach welcher alle Angaben solcher Ange¬ 
schuldigten als „reine Lügen“ betrachtet werden müssen, ausgehend, 
unter den „beträchtlichen“ Knochenbrüchen im Sinne Winckel’s schon 
jede complicirtere Schädelfractur verstehen und dieselbe ohne Weiteres 
als absichtliche Verletzung ansehen dürfen. Vielmehr wird man 
hier noch mehr als bei jedem anderen Falle von Kindesmord ohne 
Voreingenommenheit durch Hohl’sche Auffassung von den Angaben 
der Angeschuldigten auszugehen und dieselben an der Hand der ob- 
jectiven Befunde auf ihre Wahrscheinlichkeit zu prüfen haben, wobei 
man zuweilen unter Combinirung der fach wissenschaftlichen Erfah¬ 
rungen mit Ueberlegungen mehr physikalischer Natur zu dem Resultat 
gelangen kann, in einer complicirteren Schädelfractur, die beim ersten 


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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt. 


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Anblick leicht für eine absichtlich erzeugte gehalten werden könnte, 
noch die Folgen einer Sturzgeburt zu sehen. So war es in dem vor¬ 
liegenden Falle, der zwischen den Obducenten und dem Medicinal- 
Collegium zu einer Meinungsverschiedenheit, auf die ich weiter unten 
zurückkommen werde, geführt hat, und den ich daher mit Bezug auf 
denjenigen objectiven Befund, um den sich die Hauptfrage, die Frage 
nach der Sturzgeburt, dreht, nämlich die Vorgefundene Schädelfractur, 
der weiteren fach wissenschaftlichen Beurtheilung zur Verfügung zu 
stellen nicht für unwerth halte. 

Ueber den Vorgang der Geburt giebt die Angeschuldigte an, sie habe 
Abends, als sie bereits zu Bett gegangen, Sohmerzen verspürt, sei dann aufge¬ 
standen und habe die nächsten Stunden theils umhergehend, theils mit der Stirn 
gegen den Ofen gelehnt dastehend zugebracht. Dann sei ihr plötzlich eine 
grössere Menge Flüssigkeit aus den Gescblechtstheilen abgegangeu und eine halbe 
oder ganze Stunde später, während welcher Zeit die Schmerzen ununterbrochen 
angedauert hätten, sei sie, als sie eben wieder mit der Stirn gegen den Ofen 
gelehnt dagestanden, unter heftigem Schmerz plötzlich besinnungslos zusammen¬ 
gestürzt. Wie lange sie an der Erde gelegen, wisse sie nicht, sie wisse nur. dass 
sie beim Erwachen auf dem Rücken gelegen, mit den Füssen nach dem Ofen, mit 
dem Kopfe nach der Mitte des Zimmers hin, und dass neben ihr, zur Rechten, 
das neugeborene Kind, mit den Füssen nach ihr, mit dem Kopfe nach der seit¬ 
wärts stehenden Wiege, mit dem Gesicht, wie sie glaube, zur Erde gekehrt, mit 
durchtrennter Nabelschnur dagelegen habe. Unter dem Kinde habe sich eine grosse 
Lache theils flüssigen, theils geronnenen Blutes befunden, und auch auf der einen 
Wiegengangel, in deren Nähe der Kopf des Kindes gelegen, habe ein Klumpen Blut 
gelagert, während zu beiden Seiten der Gangei das Blut hinuntergelaufen gewesen 
sei. Das Kind sei ihrer Meinung nach todt gewesen; sie habe es dann in die 
Schürze gewickelt und anfangs im Kasten, dann im Keller verborgen gehalten. 

Als die Sache etwa 14 Tage später ruchbar wurde, brachte die 
An geschuldigte den Leichnam zum Physikus nach der Stadt uud ver¬ 
langte eine private Besichtigung der Leiche und ein Attest darüber, 
dass das Kind eines natürlichen Todes gestorben sei. 

Eine private Besichtigung wurde natürlich abgelehnt, und es fand 
die gerichtliche Section statt, die mit Bezug auf die fragliche Schädel¬ 
verletzung folgenden Befund ergab: 

No. 56 d. S,-P. Die bedeckenden Weichtheile werden durch einen Schnitt 
von einem Ohr zum anderen durchtrennt und abgezogen. Es zeigt sich dabei 
auf der Innenfläche der Kopfhaut, hauptsächlich entsprechend dem Hinterhaupts¬ 
bein, ein bedeutendes Quantum dunkel geronnenen Blutes, welches die Gegend 
der oberen Hälfte des ganzen Hinterhauptsbeines einnimmt und zwischen Bein¬ 
haut und weicher Kopfbedeckung in einer Dicke von */ 2 Ctm. lagert. Der ganze 
Bluterguss hat eine Ausdehnung von 5 */ 2 Ctm. Breite und 4 Ctm. Höhe. Ferner 
befindet sich ein zweiter Bluterguss über der medianen Hälfte des linken Scheitel- 


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286 


Dr. M. Frcyer, 


beines und zwar unterhalb der Beinhaut, nach deren Entfernung sich die hintere 
Ecke des betreffenden Scheitelbeines, welche an die kleine Fontanelle anstösst, 
in einer Ausdehnung von 2 , / J Ctm. Durchmesser schräg abgebrochen erweist. 
Der Bruchrand bildet eine halbmondförmige, feinzackige Linie, die Bruchfläche 
verläuft schräg von hinten aussen nach vorn innen. Ein zweiter Bruch befindet 
sich in demselben Scheitelbein, und zwar verläuft die eine Bruchlinie, am me¬ 
dianen Rand des Scheitelbeines in der Nähe des hinteren Winkels der grossen 
Fontanelle beginnend, in einer Länge von 5 Ctm. nach dem Scheitelbeinhöcker 
hin, die andere Bruchlinie, 2 Ctm. weiter nach hinten beginnend, etwa 4 Ctm. 
weit nach demselben Scheitelbeinhöcker hin, ohne daselbst die erste Bruchlinie 
vollständig zu erreichen; es ist somit aus dem Scheitelbein ein dreieckiges 
Segment von 2 Ctm. Basis und 5 Ctm. Höhe herausgebrochen und nur an dem 
Scheitelbeinhöcker durch eine 4 Mm. breite Brücke mit dem Scheitelbein noch in 
Verbindung. Während die erstbeschriebene Bruchlinie quer durch den Knochen ! ) 
durchgeht und im Ganzen eine etwas zackige Linie bildet, verläuft die zweite 



Hin U'rhauptsbcin 


Stirnbein 


Linkes 

Scheitelbein 


Rechten 

Scheitelbdn 


l ) soll bedeuten: senkrecht durch die Dicke des Knochens. 


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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt. 


287 


Bruchlinie von vorn aussen nach hinten innen ebenfalls in einer unregelmässig 
zackigen Linie. Endlich befindet sich ein Knochenspalt in dem Hinterhaupts¬ 
beine und zwar an der kleinen Fontanelle beginnend, 2 Ctm. lang nach dem 
Hinterhauptshöcker verlaufend. 

57) In der Kopfschwarte erweist sich das Gewebe besonders in der Gegend 
des Hinterhauptes und des linken Scheitelbeines ziemlich gleichmässig mit Blut 
durchsetzt. 

61) Auf dem Gehirn lagert entsprechend dem linken Seitenwandbein und 
auf dem vorderen Lappen eino dünne Schicht dickflüssigen, dunkeln Blutes. 

62) Nach Entfernung des Gehirns .... zeigt sich auch am ganzen Schädel¬ 
grunde eine dünne Schicht zähflüssigen, dunkeln Blutes. 

64) Verletzungen der Knochen am Schädelgrunde sind nicht zu constatiren. 

65) Das durch Brüche beschädigte linke Scheitelbein wird in Asservation 
genommen. 

Von demselben ist die angefügte Zeichnung nach der Natur gefertigt 
worden. 

Mit Bezug auf die übrigen Sectionsbefunde konnten wir sowohl 
in unserem vorläufigen, als auch später in dem motivirten Gutachten 
begründen: 

1) dass das Kind nach der Geburt gelebt und geathmet hatte, 

2) dass es reif und lebensfähig gewesen, 

3) dass es an Blutung in die Hirnhöhle gestorben, und 

4) dass die tödtliche Blutung derselben Gewalteinwirkung ihre 
Entstehung zu verdanken gehabt, durch welche die Schädel¬ 
verletzung erzeugt worden. 

Denn wenngleich ein direkter Zusammenhang zwischen den internen 
Blutergüssen und den Fracturen, resp. den dieselben umgebenden Blut¬ 
ergüssen durch die Obduction nicht nachzuweisen war, so war ihr 
indirekter Zusammenhang doch ein ganz augenscheinlicher. Erstens 
waren die Blutergüsse vermöge ihrer Reichlichkeit und theilweise ge¬ 
ronnenen Beschaffenheit als während des Lebens entstanden an¬ 
zusehen, zweitens correspondirten dieselben mit Bezug auf den Ort der 
Affection — linkes Scheitelbein, linke Hirnhälfte — so auffallend, 
dass aus diesen Umständen auf ihre gemeinsame Entstehungsursache 
geschlossen werden musste. 

Somit lag eine tödtliche Schädelverletzung vor, deren Entstehungs¬ 
ursache nach der Schilderung des GeburtsVorganges seitens der An¬ 
geschuldigten in einer aus dieser Schilderung zu folgernden Sturz¬ 
geburt zu suchen war. 

In Betracht konnten dagegen noch kommen: intra partum ent¬ 
standene Schädelverletzung und vorsätzliche Schädelverletzung nach 
der Geburt. 


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288 


Dr. M. Freyer, 


Von dem Vorliegen einer Schädelverletzung intra partum durfte 
füglich abgesehen werden, da weder die Geburt nach Schilderung des 
Herganges bei derselben als eine abnorm schwere anzusehen war, 
noch nach dem Ergebniss der nachträglichen Beckenuntersuchung etwa 
abnorme Beckenenge und demgemäss ein räumliches Missverhältniss 
zwischen mütterlichem Becken und Kindesschädel constatirt worden ist, 
noch an dem letzteren endlich Ossificationsdefecte oder sonst abnorm 
brüchige Stellen an den einzelnen Knochen gefunden worden sind. 

Dagegen sprach für eine vorsätzliche Schädelverletzung nach der 
Geburt im Allgemeinen zunächst die Mannigfaltigkeit der Schädel¬ 
knochenverletzung. 

Um die Frage nun, ob vorsätzliche Schädelverletzung oder Sturz¬ 
geburt als vorliegend anzunehmen sei, zur Entscheidung zu bringen, 
mögen wir uns die Form und Ausbreitung der Verletzung etwas 
genauer ansehen und dann prüfen, wie weit dieselbe mit der einen 
oder anderen Annahme in Einklang zu bringen ist. 

Die Verletzung am Schädel betraf drei verschiedene Stellen: auf 
der Mitte des linken Scheitelbeins befanden sich die beiden radiär vom 
Scheitelbeinhöcker zum Pfeilnahtrande zwischen den Ossificationsstrahlen 
verlaufenden Fissuren a und bb nebst einer kleinen Nebenfissur c, die 
übrigens erst nach dem Trocknen des Knochens erkennen Hess, dass 
der letztere an dieser Stelle auffallend dünn war; ferner an der 
hinteren oberen, der kleinen Fontanelle angrenzenden Ecke desselben 
Scheitelbeins die zackige, schräg über die Ossificationsstrahlen hinweg¬ 
ziehende Bruchlinie d, längs welcher die gesammte Ecke in schräger 
Richtung von vorn innen nach hinten aussen vom übrigen Knochen 
abgebrochen war; und endlich am Hinterhauptsbein die von der Spitze 
nach dem Höcker desselben verlaufende, 2 Ctra. lange Fissur e. 

Hält man dieser Mannigfaltigkeit der Verletzungen dasjenige gegen¬ 
über, was Skrzeczka und andere Autoren mit Bezug auf Verletzung 
der Kopfknochen durch Kindessturz sagen, so scheint die vorliegende 
Verletzung in den Rahmen der durch Kindessturz für gewöhnlich 
entstehenden Schädelknochenverletzungen auf den ersten Blick nicht 
hineinzupassen. Skrzeczka 1 ) sagt nämlich mit Bezug auf den 
Kindessturz: 

„Ist der Schädel verletzt, was hei mangelhafter Ossifioation besonders leicht 
der Fall sein wird, so findet man den Brach an einem oder dem anderen Seiten¬ 
wandbein, seltener am Hinterhaupt. Der Bruch ist einfach, spaltförmig, meistens 

') Uaschka, Handbuch der gerichtlichen Medioin, Bd. I. p. 967. 


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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt. 


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vom Knochenrande nach dem Verknöcherungspunkt verlaufend; seltener gehen 
vom letzteren zwei Knochenbrüche aus; zwei verschiedene Knochen kön¬ 
nen nur verletzt werden, wenn von einem Punkte einer Naht aus 
ein Bruch in die beiden sie begrenzenden Knochen hineingeht.“ 

Auch Hofmann*) sagt in dieser Beziehung: 

„Am häufigsten findet man einen Sprung, der vom Pfeilnahtrande, meist 
gegen die Mitte zu, beginnt, zwischen den Ossificationsstrahlen radiär zum 
Scheitelhöcker hinzieht und von da aus unter einem nahezu rechten Winkel aber¬ 
mals radiär entweder gegen die Kranznaht oder gegen die Lambdanaht sich fort¬ 
setzt. Auch nur eine einfache solche Fissur kann sich bilden.' Seltener sahen 
wir wirkliche zackige Fracturen entstehen, indem der Knochensprung 
schräg über die Ossificationsstrahlen hinwegzog, immer den inneren Theil des 
Seitenwandbeins betreffend. Zweimal fanden wir in dem einen Scheitelbein eine 
winklige Fissur, im anderen eine zackige Fractur, aber in allen Fällen hatten 
die betreffenden Schädelbrüche eine solche Beschaffenheit, dass sie deutlich ihre 
Entstehung aus plötzlicher Gompression der Wölbung des Schädels erkennen liessen. 
Eine unregelmässige oder mehrfache Zertrümmerung der Schädelkno- 
cben kann sich nur bei Sturz aus grosser Höhe bilden, während 
solche Beschädigungen bei absichtlicher Tödtung des Kindes leicht Vorkommen 
können . . 

Und endlich heisst es bei Casper-Liman 2 ): 

„Mehrfache Fracturirungen verschiedener Schädelknochen, die gleich¬ 
zeitig vorgefunden werden, z. B. eines oder beider Scheitelbeine und des Stirn¬ 
oder eines Schlaf- oder des Hinterhauptbeins lassen die Annahme eines zu¬ 
fälligen Kindessturzes um so weniger zu, als blosser Contrecoup bei der Nach¬ 
giebigkeit des Schädels des Neugeborenen nicht stattfinden kann.“ 

Wir sehen also alle Forscher mit Bezug auf den Kindessturz an ' 
die Form der Schädelknochenverletzung gewisse Bedingungen knüpfen, 
sofern sie möglichst einfachen, radiären Verlauf der Bruchlinien, vor¬ 
wiegend Beschränkung auf das Scheitelbein und vor Allem eine gewisse 
Einheitlichkeit der Verletzung an sich verlangen. Sind jedoch 
mehrere Verletzungen an einem oder gar an zwei verschiedenen 
Knochen vorhanden, so werden die Bedingungen noch strenger, indem 
nach Skrzeczka 3 ) die Verletzungen alsdann von einem Punkte einer 
Naht aus in die beiden sie begrenzenden Knochen hineingehen müssten, 
nach Hofmann 4 ) der Sturz mindestens aus grosser Höhe stattgefunden 
haben müsste, und nach Casper-Liman 3 ) die Annahme einer Sturz¬ 
geburt alsdann überhaupt nicht zulässig sei. 

') Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin, II. Aufl. 1881. p. 689. 

*) Casper-Liman, Prakt. Handb. der gerichtlichen Medicin, 6. Aufl. 1876, 

II. Bd. p. 955. 

*) L c. «) 1. c. *) 1. c. 


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Dr. M. Freyer. 


Von diesen Bedingungen finden wir nun an der Knochenverletzung 
des vorliegenden Falles durchaus nicht alle erfüllt, und dennoch wird, 
wie wir sehen werden, die Entstehung der vorliegenden Verletzungen 
durch Kindessturz durch Form und Nebenumstände nicht nur in das 
Bereich der Möglichkeiten, sondern zum Mindesten in das der grössten 
Wahrscheinlichkeit gerückt. 

Wir haben es hier mit einer dreifachen Schädel Knochen¬ 
verletzung zu thun, und zwar unter Betheiligung zweier ver¬ 
schiedener Knochen (des linken Scheitel- und des Hinterhaupts¬ 
beines) und zweier verschiedener Stellen desselben Knochens 
(Mitte und hinterer Ecke des medianen Theiles des linken Scheitel¬ 
beines). Es handelt sich also um eine complicirte, mehrfache Zer¬ 
trümmerung der Schädelknochen, bei der neben zwei zwischen den 
Ossificationsstrahlen radiär zum Scheitelbeinhöcker hinziehenden Fissu¬ 
ren (a und bb ) eine dritte Fractur (d) schräg über die Ossifications¬ 
strahlen desselben Knochens hinwegzieht, ohne dass diese letztere 
mit der Fissur des benachbarten Knochens, des Hinterhauptbeins (e), 
einen direkten Berührungspunkt besitzt. 

Bei dieser Mannigfaltigkeit der Verletzung wird daher in erster 
Linie die Einheitlichkeit ihrer Entstehung zu prüfen sein. 
Denn, sollen alle diese einzelnen Knochenverletzungen mit der An¬ 
nahme einer Sturzgeburt in Einklang gebracht werden können, so 
müsste die gesammte Verletzung auf einmal, durch eine einmalige 
Gewalteinwirkung, wie sie die Sturzgeburt bedingt, entstanden sein 
können. Und das ist nach meiner Auffassung durchaus der Fall. Es 
lässt sich, wie ich eben meine, für die Entstehung dieser complicirten 
Verletzung durch Kindessturz eine einfache und ungezwungene Erklä¬ 
rung geben. 

Ich stelle mir nämlich vor, dass beim Aufschlagen des Schädels 
auf den harten Fussboden das eine etwa in der Näho des Höckers 
getroffene Scheitelbein, hier das linke, an seiner Wölbung eingedrückt, 
der schalenförmige Knochen also expandirt werden wird, wobei er von 
seiner Wölbung aus nach dem Rande hin oder in umgekehrter Rich¬ 
tung in der hier constatirtcn Weise radienförmig leicht ein- oder mehr¬ 
mals einplatzen kann. Bei der durch den Stoss bewirkten starken 
Ucber- und Untereinanderschiebung der einzelnen Knochen und der 
dadurch bedingten Niveauverschiebung der letzteren wird danu das 
getroffene Scheitelbein sich unter das andere Scheitelbein und auch 
unter das Hinterhauptsbein, das sonst unter jenes geschoben zu sein 


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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt. 2t) t 

pflegt, hinunterschieben, die hintere Ecke dos Scheitelbeins wird sich 
gegen die nun emporgerichtete Spitze des Hinterhauptsbeins anstemmen 
und, wenn die Kraft des Stosses ausreicht und vielleicht gerade mehr 
nach dieser Ecke hin gerichtet ist, sogar abbrechen, während die 
Hinterhauptsspitze, die nicht weiter nach hinten ausweichen kann, in 
Folge der Zerrung, der sie hierbei unterworfen ist, nur einplatzt. 
Dieses Einplatzen wird vielleicht noch durch den Umstand begünstigt, 
dass an dieser Stelle des Hinterhauptsbeins der Sitz einer spaltförmigen 
Ossificationslüeke zu seiu pflegt. So ist es mir durchaus denkbar und 
erscheint mir auch mit den Gesetzen der Physik in Einklang stehend, 
dass alle Verletzungen auf einmal, durch eine einmalige 
Gewalteinwirkung, also auch durch Sturzgeburt entstanden 
sein können. 

Was nun die Form und Natur der einzelnen ßruchlinicn anlangt, 
so sind nach vorstehender Erklärung die beiden, zwischen Höcker und 
Pfeilnaht gefundenen Fissuren a und bb als direkt durch den Stoss 
erzeugte anzusehen, welche Auffassung der an wirklich beobachteten 
Sturzgeburten und durch Experimente mit Leichen gewonnenen Erfah¬ 
rung entspricht, nach der bei direkter und plötzlicher Einwirkung der 
Gewalt auf das Scheitelbein Fissuren und zwar zwischen den Ossifica- 
tionsstrahlen verlaufende Fissuren entstehen. Ob ihre Entstehung vom 
Rande nach dem Scheitelhöcker oder in umgekehrter Richtung vor 
sich geht, hängt nach v. Hofmann') von der Stelle der Gcwalt- 
einwirkung ab, indem beim Ein wirken der Gewalt auf die Scheitel¬ 
höhe, also auf die Gegend der Fontanelle, in Folge allzu starker 
Wölbung der Knochen und Verkürzung ihres sagiltalen Durchmessers 
der Knochen vom Höcker nach dem Rande hin einplatzt, während bei 
Einwirkung der Gewalt auf den Höcker selbst oder dessen nächste 
Nähe in Folge der Erweiterung des Spannungsbogens die Ossifications- 
lücken gewissermassen fächerartig auseinandergespreizt werden, die 
Fissuren also vom Rande aus beginnen, ln dem vorliegenden Falle 
würde der gegebenen Erklärung entsprechend letzterer Vorgang statt¬ 
gefunden haben, womit auch der Umstand leichter übereinstiramen 
würde, dass die Fissuren nach demselben Nahtrande ausliefen und 
nicht, wie es sonst auch beobachtet wird, nach verschiedenen Nähten 
divergirten. 

Die zackige Fractur d an der Fontanellecke dagegen ist als eine 


') Siehe die in der Anmerkung unten citirte Schrift desselben. 


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Dr. M. Freyer, 


indirekte, durch plötzliche Unterbrechung der Expansion des Kno¬ 
chens entstanden, aufzufassen, wofür zunächst die schräg von vorn 
innen nach hinten aussen verlaufende Richtung der Bruchlinie spricht. 
Analogieen für diese Form der Verletzung, sofern dieselbe eine in¬ 
direkte Verletzung neben der direkten Verletzung desselben 
Knochens darstellt, bieten die einschlägigen Beobachtungen nicht dar; 
nach dem obigen Citat sah Hofmann wol, wenn auch selten, wirk¬ 
liche zackige, schräg über die Ossificationsstrahlen hinwegziehende 
Fracturen des einen Scheitelbeins; alsdann befanden sich aber die 
zwischen den Ossificationsstrahlen verlaufenden Fissuren in dem an¬ 
deren Scheitelbein. Dennoch sehe ich in meiner Auffassung über die 
Entstehung dieser zackigen Fractur als einer zugleich mit der direkten 
Verletzung desselben Knochens entstandenen indirekten Fractur nichts 
Gezwungenes; man darf nur berücksichtigen, dass es sich um eine 
ziemlich spitz auslaufende Ecke des Knochens handelt, die in Folge 
der Expansion desselben dem Hinterhauptsbein näher gerückt und in 
Folge des an dem letzteren gefundenen Widerstandes in der Nähe 
des Widerstandspunktes — die grösste Entfernung von der Spitze 
des Knochens zur Mitte der Bruchlinie beträgt nach nachträglicher 
Messung 18 Mm. — abgebrochen ist. Anders wäre es vielleicht, läge 
die Bruchlinie von der Fontanellecke weiter entfernt und mehr nach 
der Mitte des Scheitelbeins hin. 

Der Spalte in der Hinterhauptsspitze endlich ist möglicherweise aus 
einer bereits präformirt gewesenen Ossificationsspalte hervorgegangen, 
doch übertraf er dieselbe, da eine solche in der Regel nur 1—1V 2 Ctm. 
lang zu sein pflegt, alsdann um %—1 Ctm. an Länge. Seine Entstehung 
ist dann ebenfalls eine indirekte, allerdings entgegen der Auffassung 
von Casper-Liman 1 ), die eine gleichzeitige Fracturirung eines oder 
beider Scheitelbeine neben der der Hinterhauptsschuppe als einer 
Fractur par Contrecoup nicht gelten lassen, dagegen in Uebereinstim- 
mung mit Hofmann 2 ), der das Vorkommen indirekter Fracturen, im 
anderen Scheitelbein wenigstens, anerkennt, und mit Skrzeczka 3 ) in¬ 
sofern in Uebereinstimmung, als man wenigstens die Gegend der kleinen 
Fontanelle als den gemeinsamen Ausgangspunkt der indirekten Gewalt¬ 
einwirkung für Spalt e und Schrägbruch d gelten lassen kann. *) 


') 1. c. *) 1. c. *) 1. c. 

4 ) Wie sehr übrigens meine theoretischen Erwägungen mit Bezug auf die 
Deutung einzelner Fracturen als indirekter, sowie meine Annahme der Entstehung 


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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt. 


293 


War somit dio Möglichkeit der Entstehung sämmtlicher Schädel- 
knochenfracturen durch Sturzgeburt gegeben, so wurde die Wahr¬ 
scheinlichkeit dieses Geburtsvorganges in dem vorliegenden Falle 
noch durch folgende Umstände offenbar. 

Von Seiten des Kindes war zu bemerken, dass die Nabelschnur 
in der Nähe des Nabels (10 Ctm. von demselben entfernt) durch- 
rissen und ununterbunden gefunden wurde. Die am Hinterkopf 
constatirte Kopfgeschwulst, die bei Sturzgeburten übrigens ebensowol 
fehlen, als vorhanden sein kann, sprach durch ihr Vorhandensein 
ebensowenig gegen die Annahme einer Sturzgeburt, wie der Umstand, 
dass der Schädel nach dem Sitz der Kopfgeschwulst am Hinterhaupte 
mit diesem voran zur Geburt in’s Becken sich eingestellt haben musste. 
Denn deswegen brauchte derselbe beim Hervorstürzen nicht gerade mit 
dem Hinterhaupte auf den Fussboden aufzuschlagen; beim Hinunter¬ 
stürzen ändert der Körper vermöge der verschiedenen möglichen Körper¬ 
haltungen seinen Schwerpunkt so mannigfach, dass der Schädel eben¬ 
sowol mit dem Hinterhaupte, wie mit einem oder beiden Scheitelbeinen 


sämmtlicher Fracturen durch einmalige Gewalteinwirkung, also auch durch Auf¬ 
stürzen des Schädels gerechtfertigt erscheinen, entnehme ich nachträglich aus 
v. Hofmann’s neuester Schrift über die Entstehung sogenannter „löffelformiger“ 
Eindrücke 1 ), indem derselbe einen Fall beschreibt, in welchem sich neben einem 
löffelförmigen Eindruck des linken Scheitelbeins ein klaffender, feinzackiger, zwischen 
den Ossificationsstrahlen nach dem Höcker und von diesem nach der hinteren äusse¬ 
ren Ecke verlaufender Knochensprung im rechten Scheitelbein befand. Auf Grund 
nach dieser Richtung hin mit Leichen Neugeborener angestellter Versuche gelangte 
v. H. entgegen seiner vorherigen gutachtlichen Aeusserung neben der Hauptfrage 
nach der künstlichen Erzeugung löffelförmiger Eindrücke für den fraglichen Fall 
zu der weiteren Schlussfolgerung, dass Impression und Winkelfissur nicht durch 
zwei verschiedene, sondern durch eine Gewalt entstanden seien, und zwar erstere 
auf direktem, letztere auf indirektem Wege, ferner dass beide Läsionen durch Auf¬ 
stürzen des Schädels entstanden sein können. Er nimmt also auf Grund seiner 
Experimente indirekte Entstehung von Fracturen neben direkter Entstehung der¬ 
selben ausdrücklich an und findet, dass unter Umständen beide Läsionen durch 
eine Gewalteinwirkung entstanden sein können, Schlussfolgerungen, auf die ich 
am Schlüsse meiner Ausführungen vorwiegend auf Grund theoretischer Erwägungen 
ebenfalls hinausgekommen bin. 

! ) E. v. Hof mann, Zur Casuistik der intrauterinen Verletzungen der Frucht 
und der Befunde, die dafür gehalten werden können. Versuche, betreffend die 
Entstehung von sog. löffelförmigen Eindrücken am Schädel des Neugeborenen und 
Bemerkungen über Brüche der letzteren. Separat-Abdruck aus der Wiener medic. 
Presse, 1885, No. 18, 20, 21, 24, 26 und 28. 


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Dr. M. Frey er, 


aufschlagen kann, welches letztere erfahrungsgemäss sogar häufiger 
geschieht. Ferner waren sämmtliche Schädeldurchmesser, sowie auch 
die übrigen Körpermaasse als normale, keineswegs übermässig grosse 
zu bezeichnen, und die stellenweise unvollkommene Luftfüllung der 
Lungen war ebenfalls eher geeignet, die Annahme einer Sturzgeburt 
zu stützen, da diese den Tod meist rasch herbeizuführen pflegt. 

Von Seiten der Mutter kamen in erster Linie die Beckenmaasse 
in Betracht, die nach dem Resultat der vorgenommenen Untersuchung 
sich als durchaus normale und zu den Maassen des Kindskopfes in 
einem solchen Verhältnis stehend sich erwiesen, dass sie der Annahme 
einer stattgehabten Sturzgeburt nicht widerstreiten durften. Eine flache 
Narbe am Damm der Angeschuldigten als Zeichen eines beim Geburts- 
vorgange entstandenen Einrisses durfte ferner für ein stürmisches 
Hindurchgetretensein des Kindskopfes durch die Geschlechtswege und 
somit ebenfalls für Sturzgeburt sprechen, desgleichen der Umstand, 
dass die Gebärende in dem vorliegenden Falle Erstgebärende war, 
da Sturzgeburten erfahrungsgemäss häufiger gerade bei Erstgebärenden 
Vorkommen. 

In Betreff der allgemeinen Umstände endlich, die der Fall 
darbot, war hervorzuheben, dass weder die lokalen Verhältnisse, noch 
die Schilderung des ganzen GeburtsVorganges mit allen seinen Neben¬ 
umständen irgend etwas Unwahrscheinliches darboten, vielmehr durchaus 
einem Vorgänge entsprachen, wie er beim Statthaben einer Sturzgeburt 
sich abspielen kann. Der anfangs zögernde Geburtsverlauf, die Unruhe, 
die die Kreissende thcils durch Umhergehen, theils durch Stehen neben 
dem Ofen zu bemeistern sucht, der Abgang des Fruchtwassers kurz 
vor Eintritt der Katastrophe, das ohnmächtige Zusammensinken beim 
Eintritt derselben, die Situation, in der sich die Mutter beim Erwachen 
aus der, Ohnmacht neben dem Kinde an der Erde findet, der harte, 
gedielte Fussboden, vielleicht gar die eine mit Blut besudelte Wiegen¬ 
gangel, auf die das Kind mit dem Schädel aufgestürzt sein mochte: 
alles dieses waren Momente, die den Vorgang als den einer Sturz¬ 
geburt durchaus plausibel erscheinen Hessen. 

Weniger leicht lässt sich nun nach meiner Meinung Form und 
Ausbreitung der Schädelknochenverletzung mit der Annahme einer 
absichtlichen Tödtung in Einklang bringen. Und hiermit komme ich 
auf die abweichende Auffassung des Falles seitens des Medicinal- 
Collegiums. 

Ausgehend von der Erfahrung, dass Sturzgeburten überhaupt 


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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt. 


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selten seien und tödtlich verlaufende Sturzgeburten noch seltener, 
wurde die Ausdehnung der Knochenverletzungen doch so gross ge¬ 
funden, dass für die Entstehung derselben eine stärkere Gewalt¬ 
einwirkung vorausgesetzt wurde, als sie die Sturzgeburt zu bedingen 
pflegt. Ferner wurde mit Bezug auf die Mannigfaltigkeit der Ver¬ 
letzungen die Vorstellung für schwer zulässig gehalten, dass die drei 
von einander entfernt liegenden Knochensprünge im Scheitelbein -- 
von dem Spalt im Hinterhauptsbein wurde ganz und gar abgesehen, 
da derselbe ohne Weiteres für einen Verknöcherungsspalt angesehen 
wurde — durch ein Aufstossen des Kindes bei einer Sturzgeburt her¬ 
vorgerufen sein sollten, zumal das andere Scheitelbein ganz intakt 
geblieben war. Endlich wurde auch den verschiedenen Nebenumständen, 
die in Betracht zu ziehen waren, eine von der meinigen abweichende 
Deutung beigelegt: die stellenweise unvollkommene Luftfüllung der 
Lungen wurde noch für zu ausgiebig gehalten, als sie bei einem durch 
so ausgedehnte Knochenverletzungen und Gehirnblutungen bedingten 
schnellen Tode hätte sein dürfen; Vorhandensein der Kopfgeschwulst 
und Sitz derselben am Hinterhaupte sollten ebenfalls mehr gegen die 
Sturzgeburt sprechen, ersteres, weil es eine verhältnissraässig lange 
Dauer der Geburt bekundete, letzterer, weil das Kind, da es nach 
diesem Sitz mit dem Hinterhaupte voran sieh zur Geburt eingestellt 
haben musste, beim Hervorstürzen wahrscheinlicher mit diesem und 
nicht mit dem Scheitelbein aufgeschlagen sein sollte; und endlich 
sollte die Einrissnarbe am Damm als Zeichen des stärkeren Wider¬ 
standes, den die Weichtheile dem Vordringen des Kindes entgegen¬ 
gesetzt, weniger für ein stürmisches Hindurchtreten, als für eine 
Verzögerung der Geburt überhaupt sprechen. So wurde schliesslich 
das Resultat gewonnen, dass alle Befunde in ihrer Gesammtheit ihre 
einfache Erklärung darin fänden, dass das Kind durch Schläge mit 
einem stumpfen Werkzeuge gegen den Kopf getödtet und dass bei 
dieser gegen das linke Scheitelbein gerichteten Gewalt dieser Knochen 
zersplittert worden sei. 

Es muss allerdings die Möglichkeit zugegeben werden, dass die 
Verletzung, wie sie hier vorlag, auch durch einen mit einem stumpfen 
Werkzeuge gegen den Kindesschädel geführten Schlag oder durch ein 
Schleudern des Schädels gegen den harten Fussboden erzeugt sein konnte. 
Allein auffallend bliebe alsdann die Mässigung, mit der dies geschehen 
sein müsste, da bekanntlich bei absichtlicher Tödtung die Gewaltein¬ 
wirkung eine mehr rohe, weit über das Maass hinausgehende, die Ver- 


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Dr. M. Freyer, 


letzung demgemäss auch eine ausgedehntere zu sein pflegt und die hier 
vermissten Verletzungen anderer Körpertheile nicht zu fehlen pflegen. 
Ausserdem ist aber auch die Form der Knochenverletzung an sich nicht 
die bei absichtlicher Tödtung gewöhnlich vorkommende. Es muss 
hier ganz besonders betont werden, dass die beiden Spalte in der Mitte 
des Scheitelbeins, die, welche Gewalteinwirkung hier auch angenommen 
werden mag, für die Hauptverletzung anzusehen sind, zwischen den 
Ossificationsstrahlen verliefen; die Erfahrung lehrt aber, dass 
bei absichtlich erzeugten Schädelknochenverletzungen die Form der 
Fissuren eine vorwiegend unregelmässige, den Verlauf der Strahlung 
nicht durchaus einhaltende zu sein pflegt. Die Mannigfaltigkeit der 
Verletzungen, die anfangs für absichtliche Tödtung zu sprechen schien, 
ist hier nur eine scheinbare; sie wäre thatsächlich nur dann vorhanden, 
wenn die Entstehung der Verletzungen in ihrer Gesammtheit durch 
eine einmalige Gewalteinwirkung nicht zu erklären wäre. Hier lässt 
sich aber eine solche Erklärung ganz ungezwungen geben. Auch der 
Umstand, dass die Verletzungen sich vorwiegend auf das eine Scheitel¬ 
bein beschränkten, spricht nach meinem Dafürhalten eher für ihre 
Entstehung durch Sturz, als durch absichtliche Gewalteinwirkung. Es 
ist mir plausibeler, dass beim Aufschlagen des Schädels durch Sturz 
nur das eine Scheitelbein und dieses, gerade an seiner Wölbung als 
dem am meisten vorspringenden Punkte getroffen, nur bis zum Rande 
zerbricht, ohne dass der Bruch über denselben hinaus auf das andere 
Scheitelbein übergeht, als dass bei Schlägen mit einem stumpfen Werk¬ 
zeuge, als welches hier füglich nur ein Stock oder ein Stück Holz zu 
denken wäre, gerade der eine Knochen allein getroffen werden sollte. 
Auch würden in letzterem Falle Sugillationen unter die Haut und 
Epidermisabschürfungen eher zu erwarten sein, als nach einem ein¬ 
maligen Aufstürzen des Schädels. 

Mögen diese Erwägungen jedoch einer jeweilig verschiedenen sub- 
jectiven Auffassung unterliegen: objectiv bleibt immerhin für den vor¬ 
liegenden Fall zu Gunsten der Sturzgeburt der Umstand von 
Entscheidung, dass die als Hauptverletzung anzusehenden Knochen¬ 
spalte den Verlauf der Ossificationsstrahlen einhielten und im Verein 
mit den Nebenverletzungen durch eine einmalige Gewalteinwirkung 
erklärt werden können, während für die Annahme einer absichtlichen 
Tödtung die Form der Schädelverletzung ein positives Merkmal nicht 
darbietet. 

Somit tritt zu der Möglichkeit einer vorliegenden Sturzgeburt 


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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt. 


297 


noch die Wahrscheinlichkeit einer solchen, über die hinaas jedoch 
bei dem Fehlen jedes positiven Beweises füglich nicht gegangen 
werden darf. 

Wenngleich ein solcher positiver Beweis auf keine Weise zu er¬ 
bringen ist, weder durch das freisprechende Urtheil der Geschworenen 
und Richter, noch durch ein nachträgliches Betheuern der Angeschul¬ 
digten, in keiner Weise Hand an das Kind gelegt zu haben, so bleibt 
von praktischem Werthe für die Beurtheilung dieses und ähnlicher Fälle 
immerhin die Thatsache, dass eine dreifache Schädelknochen¬ 
verletzung, bei der zwei verschiedene Knochen (Scheitel-und 
Hinterhauptsbein) und der eine davon an zwei verschiedenen 
Stellen fracturirt vorgefunden worden sind, die Annahme 
eines zufälligen Kindessturzes unter gewissen Umständen 
noch zulässt. Als weitere Folgerung würde mit Bezug auf die den 
Kindessturz betreffenden, oben angeführten Citate der genannten gerichts¬ 
ärztlichen Autoren sich ferner ergeben, dass bei mehrfacher Zer¬ 
trümmerung der Schädelknochen neben direkten auch in¬ 
direkte Fracturen, selbst gleichzeitig an ein und demsel¬ 
ben Knochen, in Betracht kommen können. 


3. 

Erstickung des neugeborenen Kindes durch EinhAllen in einen 
Rock und Vergraben in Sunde, 


Von 

Dr. Chlumgky, 

Kreisphyiikm in Zielontig. 


Dem Königl. Amtsgericht verfehlen wir nicht, in der Vorunter¬ 
suchungssache gegen die unverehelichte Pauline S. aus A. wegen Kindes¬ 
mords das erforderte motivirte Gutachten unter Rücksendung der Acten 
nachstehend ergebenst zu erstatten. 

Am 12. Juli 1885 wurde in der Warthe bei A. die Leiche eines Neugebor- 
nen angeschwemmt gefunden, welches, wie spätere Recherchen ergaben, von der 
19 Jahre alten unverehelichten Dienstmagd Pauline S. in der Nacht vom 7. zum 
8. ej. ohne irgendwelchen Beistand geboren worden war. 

Die Pauline S., die seit Weihnachten 1883 bei dem Eigenthümer H. in A. 
in Diensten stand, und die ihrer eigenen Angabe zufolge bald nach Weihnachten 


Vierteljahr*, ehr. f. gor. Med. N. P. XLTV. 3 . 


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Dr. Chlumsky, 


1884 mit dem za jener Zeit angezogenen Dienstkneoht P. in geschlechtlichen 
Verkehr gerathen war, nach Angabe des letzteren jedoch solchen bereits vorher 
mit dessen Vorgänger im Dienste gepflogen hatte, hat ihre Schwangerschaft, an 
die sie selbst nicht geglaubt haben will, verheimlicht, bezw. dieselbe noch im 
Anfang Juni 1885 auf Befragen ihrer Dienstherrschaft in Abrede gestellt. 

Sie habe sich stets wohl gefühlt, and nur am Abend des 7. Juli habe sie 
starke Kreuzschmerzen and Athembeschwerden bekommen, welche sie übrigens 
auf eine 2 Tage zuvor beim Heuabladen stattgefundene Ueberarbeitung bezogen, 
und derentwegen sie den p. P. ersucht habe, sie zu ziehen, was jener, indem er 
seine Knie in ihr Kreuz stemmte, gethan, ohne dass sie eine Linderung der 
Schmerzen empfunden hätte. 

Ueber den Geburtshergang selbst macht sie nun die summarische Angabe, 
dass, nachdem sie an jenem Tage Abends 11 Uhr sich in ihrer Kammer mit 
Kleidern auf das Bett gelegt und sich w unter den furchtbarsten Schmerzen bis 
V 2 3 Uhr früh wie ein Wurm gewunden“ hätte, zu dieser Stunde die Geburt 
erfolgt sei, nachdem sie noch vor dem Act selbst sich umkleidete und ihr Bett 
vor die Thür geworfen hatte. Das Fenster habe offen gestanden und der Zug 
sei ihr über den Körper gegangen. 

Sie habe vielfach und lange andauernd während der Geburtswehen um 
Hülfe gerufen, ohne dass Jemand ersohien. 

Hach Austritt des Kindes sei sie zunächst völlig ohne Bewusstsein gewesen, 
bis sie dann durch das Gefühl des Frierens wieder zu sich gekommen sei. Als 
sie dann das Kind, welches auch im Bett lag, berührte, habe sie bemerkt, dass 
es ganz kalt und ohne Leben sei. 

Sie habe sich nun, um Kräfte zu sammeln, eine kleine Weile wieder nieder¬ 
gelegt, habe das Kind mit einem alten Rocke überzogen, sei, in höchstem Maasse 
angegriffen und mit zitternden Knieen aufgestanden und an die Scheune gegangen 
und habe das Kind dort im Sande verscharrt. 

Am Abend des 8. Juli habe sie, da ihr der Gedanke, dass die Hunde heran- 
gehen könnten, Ekel eingeflösst habe, das Kind wieder ausgescharrt, den Rock 
an Ort und Stelle zurückgelassen und die Leiche nackt am Ende einer Buhne 
in die vorbeifliessende Warthe gelegt und dem Wasser überlassen. 

Sie selbst sei demnächst wieder in ihren Dienst gegangen, den sie überhaupt 
an keinem der Tage unterbrochen habe. 

Am 14. Juli 1885 haben wir die Leiche des Kindes in R. obducirt 
und darüber Folgendes zu gerichtlichem Protokoll erklärt. 

A. Aeussere Besichtigung. 1) Die weibliche Leiche ist 49 Ctm. lang 
und 1520 Qrm. schwer und gehört einem Neugebornen an. — 2) Dieselbe ist 
von leidlich kräftigem Körperbau, das Fettpolster an den Oberschenkeln gut ent¬ 
wickelt, die Hautdecken glatt. — 3) Leiohenstarre ist nirgends vorhanden. — 
4) Die Leiche ist am ganzen Körper reichlich mit Sand und Schlamm beschmutzt, 
ganz besonders reichlich findet sich Sand am Kopf und Gesicht. An vielen 
Stellen des Körpers finden sich zahllose kleine Maden vor, an der Innenseite des 
linken Oberschenkels sitzt eine gewöhnliche Wasserschnecke auf. — 5) Die Farbe 
des Körpers erscheint nach Abspülung des Schlammes im Allgemeinen als ein 
blasses Blaugrün, so namentlich am Rumpf, während am Kopfe dieser Färbung 


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Erstickung des neugeborenen Kindes. 


299 


eine mehr röthliche Nuance beigemischt ist. Am Rücken erscheint die Farbe im 
Allgemeinen als ein dunkleres Grün, aus welchem schmutzigdunkelbläuliche und 
schmutzigbraunröthliche Partien hervortraten. — 6) Die Oberhaut ist am ganzen 
Körper, am Kopf wie Rumpf, vielfach abgelöst und zumeist nur noch in Fetzen 
vorhanden, die unter dem Wasserstrahle flottiren. — 7) Eine Veränderung der 
ad 5 beschriebenen Verfärbung ist durch Fingerdruck nirgends zu erzielen. Bei 
Einschnitten in die verschiedensten Verfärbungsstellen, von denen sich die dunkel¬ 
bläulichen und die dunkelbraunröthlichen am Rücken etwas härtlich anfühlen, 
tritt Blut aus durchschnittenen Gefässen fast nirgends hervor, und zeigt sich nur 
das Gewebe überall vollkommen gleichmässig schmutzigblauröthlich, stellenweise 
mit einem Stich ins Rosafarbene, durchtränkt; nirgends findet sich ins Gewebe 
ausgetretenes Blut. — 8) Irgendwelche Spuren von käsigem Ueberzug der Haut 
sind am ganzen Körper nicht vorhanden. — 9) Am Kopf, der, soweit die Ober¬ 
haut noch erhalten ist, mit ungefähr 1.5 Ctm. langen, anscheinend dunkelblonden 
Haaren spärlich besetzt erscheint, beträgt der gerade Durchmesser 9,5, der quere 
Durchmesser 8,0 und der diagonale 10,5 Ctm. Die Schädeldecken erscheinen 
von der knöchernen Unterlage weit abgehoben und bieten dem Finger das Gefühl 
der Schwappung und vollkommen schwammigen Consistenz; durch dieselben hin¬ 
durch sind die Kopfknochen als leicht beweglioh und übereinandergeschoben 
hindurchzufühlen, insbesondere scheint das Stirnbein unter die Seitenwandbeine 
verschoben zu sein. In den Ohrmuscheln finden sich beiderseits ebenfalls leicht 
abspülbare Spuren von Sand und Schlamm, die Nasenöffnungen zeigen sich frei 
von fremden Körpern. — 10) Die Ohrknorpel sind von durchaus weicher Be¬ 
schaffenheit, ohne jede Spur von knorpeliger Resistenz. Auch die Nasenknorpel 
sind vollkommen weich, nachgiebig, und die Nase vollkommen zusammengefallen. 

— 11) Die Augenlider sind halb geöffnet, die Augen quellen beiderseits als 
lividbläuliche Blasen von etwa Haselnussgrösse vor, die getrübt und gänzlich 
undurchsichtig erscheinen, so dass von dem etwaigen Vorhandensein einer Pu¬ 
pillenmembran nichts mehr constatirt werden kann. — 12) Der Mund steht halb 
offen, die Lippen sind vollkommen blass, resp. z. Th. schmutziggrünlich, genau 
von der nämlichen Farbe, wie die nächste Umgebung derselben; die Zunge ist 
1,5 Ctm. weit vor den Kiefern vorgelagert und mit der Spitze in einer Falte 
nach aussen und rückwärts zurückgelegt; fremde Körper sind auf der Zungen¬ 
spitze, ausser ein ganz klein wenig Schlamm von derselben Beschaffenheit wie 
am übrigen Körper, nicht vorhanden. — 13) Der Hals normal beweglich, die 
Oberhaut an demselben gut erhalten und vollkommen glatt, ohne jede Faltung. 

— 14) Der Querdurchmesser der Schultern beträgt 10,25 Ctm.; Wollhaar ist 
an den Schultern, wo die Oberhaut fast vollständig fehlt, nicht wahrzunehmen. — 
15) Der Brustkorb erscheint mässig gewölbt und bietet sonst nichts zu bemer¬ 
ken. — 16) Der Bauch ist mässig aufgetrieben und bietet sonst nichts Auffal¬ 
lendes. — 17) Am Nabel, der als solcher noch nicht formirt erscheint und sich 
nur undeutlich von der Nabelschnur selbst abhebt, befindet sich ein 11 Ctm. 
langer Rest einer vollkommen weichen und feuchten, im Allgemeinen grauweiss- 
röthlichen, z. Th. auch, mehr nach dem Nabel hin, schmutzigblaugrünlichen 
Nabelschnur, an der noch 2 Windungen deutlich zu unterscheiden sind, und die 
am freien Ende eine ziemlich scharfe Trennungsfiäche zeigt; ein Unterbindungs- 

20 * 

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Werkzeug ist an denselben nicht vorhanden. — 18) Die äusseren Geschlechts- 
theile sind regelmässig gebildet, die kleinen Schamlippen liegen vollkommen frei 
zu Tage, von den grossen gar nicht verdeckt. — 19) Die Nägel an den Fingern 
und Zehen sind von etwas weicher, nachgiebiger Consistenz, erreichen an den 
Zehen nicht vollkommen deren Spitzen und überragen dieselben nioht an den 
Fingern, an letzteren die Spitzen knapp erreichend. — 20) Der After steht offen 
und quillt aus demselben ein etwa haselnussgrosses Stück schmutziggrünlicher 
Mastdarmschleimhaut ohne jede Spur von Kindspech hervor. — 21) Nach kunst¬ 
gerechter Blosslegung des unteren Endes des rechten Oberschenkelknochens wer¬ 
den von demselben feine, parallele Scheiben desKnorpels nacheinander abgetrennt 
und dabei das vollständige Fehlen eines Knochenkerns constatirt, ebenso voll¬ 
ständig fehlt der Knochenkern in dem knorpligen Ende des linken Oberschenkel¬ 
knochens. — 22) Aeussere Verletzungen sind an dem Körper der Leiche nirgends 
vorhanden. 

B. Innere Besichtigung. I. Eröffnung der Brust- und Bauch¬ 
höhle. 23) Durch die vorläufige Eröffnung der Bauchhöhle durch einen Schnitt 
vom Kinn bis zur Schamfuge wird festgestellt, dass der höchste Stand des 
Zwerchfells beiderseits der 4. Rippe entspricht. — 24) Die Lage der Bauch¬ 
eingeweide bietet nichts Regelwidriges, die ganze Oberbauchgegend wird ein¬ 
genommen von der dunkelschwärzlichen Leber, erst nach deren Rücklagerung 
zeigt sich der braungrünliche Quergrimmdarm und dahinter der ebenfalls schwärz¬ 
lich erscheinende, wenig ausgedehnte Magen. Ausserdem liegen vor zahlreiche 
Schlingen des schmutziggrauröthlichen Dünndarms und die ziemlich ausgedehnte 
verwasohen blassrothe Harnblase, und erst nach Aufhebung der Dünndarm¬ 
schlingen sieht man beiderseits dunkelgrünliche, offenbar Kindspech enthaltende 
Schlingen des auf- und absteigenden Dickdarms. Das Netz vollkommen zart, 
mässig fetthaltig, seine Gefässe nur äusserst spärlich gefüllt. Alle vorliegenden 
Theile sind reichlich mit Maden besetzt, und an den Darmschlingen, wie am 
Bauchfell, zeigen sich einzelne Fäulnissluftblasen von Erbsengrösse und darüber. 
Fremder Inhalt ist in der Bauchhöhle nicht vorhanden, 

a) Organe der Brusthöhle. 25) Nach vorschriftsmässiger Unterbindung 
der Luftröhre oberhalb des Brustbeins und Eröffnung der Brusthöhle erscheinen 
die Brusteingeweide in regelmässiger Lage, der obere Theil des Miltelfellraumes 
ist von der mässig grossen Thymusdrüse eingenommen, im unteren liegt der 
Herzbeutel in grosser Ausdehnung vor. Die Lungen füllen den Brustkasten 
ziemlich gut ans, und sind so ausgedehnt, dass sie mit ihren vorderen Rändern 
den Herzbeutel gerade erreichen, so zwar, dass ihre vorderen Ränder um 5 Ctm. 
von einander entfernt bleiben; die rechte Lunge erscheint relativ etwas mehr 
ausgedehnt als die linke. — 26) Die vorliegenden Lungentheile sind linkerseits 
von schmutzigrosarother, rechterseits mehr dunkelbläulichrother Farbe, die aber 
auch rechterseits einen leisen Stich, ins Rosafarbene zeigt. Dieselben fühlen sich 
etwas weich, elastisch an, knistern jedoch bei Berührung nur in kaum wahrnehm¬ 
barer Weise. — 27) Die Brustfellsäcke sind leer, das Brustfell beiderseits von 
verwaschen röthlicher Farbe, feucht. — 28) Am Herzbeutel und z. Th. auch an 
den Lungen, namentlich der linken, einzelne Fäulnissluftblasen vorhanden. Die 
grossen Gefässe der Brusthöhle erscheinen äusserlich nur wenig gefüllt. —- 
29) Der Herzbeutel, der äusserlich eine ziemlich gute Fettauflagerung zeigt, ist 


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Erstickung des neugeborenen Kindes. 


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an der Innenfläche vollkommen zart, von grauröthlicher Farbe, und erscheint 
nach der Eröffnung vollkommen leer. Dabei zeigt sich, dass der reohte Seiten¬ 
rand des Herzens mit mehreren über haselnussgrossen Fäulnissluftblasen besetzt 
ist. — 30) Das Herz, von der Grösse der Faust der Leiche, ist vollkommen 
schlaff, wenig gewölbt, von blassbraunrother Farbe, die Kranzadern desselben 
fast leer. — 31) Beim Aufschneiden des Herzens sind die linke Kammer, deren 
Musculatur von matscher Gonsistenz, und die linke Vorkammer vollkommen leer; 
die Vorhofskammermündung zeigt nichts Regelwidriges. Desgleichen ist die 
rechte Kammer und Vorkammer vollkommen leer, die Vorhofskammermündung 
zeigt nichts Regelwidriges. — 32) Der Botalli’sche Gang ist offen, die grossen 
Blutaderstämme sind vollkommen leer. — 33) Die Thymusdrüse, 2,5 Gtm. breit 
und 2,5 Ctm. hoch, ist von blassbraunröthlicher Farbe, auf dem Durchschnitt 
des Gewebes matsch, grauroth, blutarm. — 34) Die Schilddrüse von gewöhn¬ 
licher Grösse ist auf dem Durchschnitt blass. — 35) Der Kehlkopf und die 
Luftröhre oberhalb der Unterbindungsschlinge enthalten ziemlich reichlich eine 
blassgrauröthlicbe, übrigens homogene Flüssigkeit, in welcher körperliche Elemente 
nicht wahrzunehmen sind, ihre Schleimhaut ist von verwaschen blassröthlicher 
Farbe. — 36) Nachdem die Luftröhre oberhalb der Unterbindungsschlinge 
durchschnitten worden, werden die Lungen in Verbindung mit dem Herzen und 
dem unteren Theil der Luftröhre herausgenommen. Die Oberfläche der Lungen 
erscheint uneben, ihre Farbe ist auch an den hinteren Partien im Ganzen die 
nämliche, wie vorn, nur am mittleren und unteren Lappen der rechten Lunge 
zeigen sich einzelne schiefrige Nuancen. — 37) Die Lungen werden dann, zu¬ 
nächst in Verbindung mit dem Herzen und dann nach Abtrennung desselben, in 
einem 20 Gtm. hoch mit reinem kaltem Wasser gefüllten Eimer auf ihre Schwimm¬ 
fähigkeit untersucht, wobei sich ergiebt, dass dieselben in beiden Fällen sich auf 
der Oberfläche des Wassers ausbreiten, schwimmen und den Wasserspiegel über¬ 
ragen. — 38) Beim Einschneiden lassen beide Lungen überall ein ganz leises 
Knistern wahrnehmen, und auf der Schnittfläche tritt bei Druck eine blutig¬ 
schaumige Flüssigkeit in massiger Menge, relativ am reichlichsten in den unteren 
Lappen, hervor. — 39) Bei Einschnitten in verschiedene Theile der Lungen 
unterhalb des Wasserspiegels steigen Luftblasen empor. — 40) Die Luftröhre 
unterhalb der Unterbindungsschlinge und ihre Verzweigungen sind leer, die 
Schleimhaut feucht, von blassröthlicher Farbe. — 41) Die einzelnen Lappen 
beider Lungen, von einander getrennt, schwimmen auf dem Wasser, und von den 
einzelnen Stückchen, in welche die Lappen zerschnitten werden, deren Gesammt- 
zahl ungefähr 20 beträgt, schwimmen die bei weitem meisten, mit Ausnahme von 
2 oder 3 Stückchen aus dem mittleren Lappen der rechten Lunge, welche langsam 
untersinken. — 42) Bei Herausnahme der Halseingeweide zeigt sich die Mund¬ 
höhle frei von fremden Körpern. Zunge und Mandeln sind ohne krankhafte Ver¬ 
änderungen, die letzteren ein wenig gross. Schlund und Speiseröhre sind leer, 
ihre Schleimhaut blass. — 43) Die HalsgeTässe sind leer. — 44) Sonst bietet 
die Untersuchung der Brusthöhle und des Halses nichts Bemerkenswerthes. 

b) Organe der Bauchhöhle. 45) Das Bauchfell, von schwärzlich grün¬ 
licher Farbe, ist feucht, das Netz massig fetthaltig, blass. — 46) Die Milz bildet 
bei der Herausnahme einen schwarzschiefrigen, zerfliesslichen Brei, so dass die 


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Dimensionen gar nicht mehr zu bestimmen sind. — 47) Die linke Nebenniere 
ohne krankhafte Veränderung. — 48) Die linke Niere ungelähr 3 Ctm. lang und 
2 Ctm. breit, 0,5 Ctm. hoch, ist von blassbraunrother Farbe, die Oberfläche ge¬ 
lappt, sonst glatt, die Consistenz vollkommen matsch zerfliesslich, daher das 
Organ einer weiteren Untersuchung nicht zugänglich. — 49) Die rechtsseitige 
Nebenniere und Niere zeigen dieselbe Beschaffenheit wie links. — 50) Die Harn¬ 
blase ist vollkommen leer, ihre Schleimhaut ist blass. — 51) Gebärmutter, Eileiter, 
Eierstöcke und Scheide bieten nichts Regelwidriges. — 52) Der Mastdarm ist 
vollkommen angeföllt mit dunkelgrünem Kindspech, seine Schleimhaut von grün¬ 
licher Farbe, blass. — 53) Der Zwölffingerdarm ist leer, seine Schleimhaut blass. 
— 54) Der Magen ebenfalls leer, seine Schleimhaut von dunkelschiefriger Farbe, 
blass; die grösseren Blutgefässe des Magens sind leer. — 55) Der Gallengang 
ist wegsam, die Gallenblase zusammengefallen, ohne Inhalt, die Pfortader bietet 
nichts zu bemerken. — 56) Die Leber misst von rechts nach links etwa 10, 
von vorn nach hinten etwa 6 und in der grössten Dicke etwa 1.5—2.0 Ctm., ist 
von dunkelschwarzgrünlicber, wie schiefriger Farbe, glatter Oberfläche und voll¬ 
kommen matscher, zerfliesslicher Consistenz. — 57) Bauchspeicheldrüse blass, 
zeigt nichts Regelwidriges. — 58) Das Gekröse zart, ziemlich fetthaltig, die 
Gekrösdrüsen zeigen nichts Regelwidriges. — 59) Der Dünndarm enthält Spuren 
graulichen Schleims, seine Schleimhaut ist blass. — 60) Der Dickdarm enthält 
ziemlich reichlich grünliches Kindspech von geringerer Consistenz als im Mast¬ 
darm, seine Schleimhaut grünlich, blass. — 61) Die grossen Gefässe der 
Bauchhöhle sind leer. — 62) Wirbelsäule und Beokenknochen bieten nichts 
zu bemerken. 

II. Eröffnung der Kopfhöhle. 63) Nach Trennung der weichen Schä¬ 
deldecken von einem Ohr zum andern, wobei die Knochen des Schädels sich stark 
gegen einander verschieben, werden dieselben zugleich mit der Beinhaut des 
Schädels nach vorn und hinten zurückgesohlagen und erscheinen dabei feucht 
und in dem ganzen Umfange des Schädeldaches in nach rückwärts abnehmender 
Intensität von einer blutig-sulzigen, zwischen der Schädelhaube und der Beinhaut 
gelegenen, die letztere nicht mitdurchtränkenden, blassröthlichen Flüssigkeit 
durchsetzt. — 64) Gleichzeitig mit der Trennung und Zurückschlagung der 
Schädeldecken weichen sämmtliche Knochen des Schädeldaches spontan aus¬ 
einander, und fliesst das gesammte Gehirn in Gestalt einer graubraunröthlichen, 
etwa weinhefenfarbigen dünnen Flüssigkeit aus, so dass nur der leere Sack der 
harten Hirnhaut verbleibt. — 65) Die Grösse der grossen Fontanelle konnte dem¬ 
nach nicht mehr bestimmt werden. — 66) Die einzelnen Schädelknochen sind 
von Gartonblattstärke, blassgelbröthlicher Farbe, mässig durchscheinend, überall 
unverletzt. 

Auf Grund der Obduction haben wir folgendes vorläufige Gut¬ 
achten abgegeben: 

1) Das Kind ist ein der Reife zwar nahes, aber nicht völlig aus- 
getragenes gewesen. 

2) Dasselbe hat in oder nach der Geburt geathmet und insofern 
gelebt. 


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Erstickung des neugeborenen Kindes. 303 

3) Der Tod desselben ist höchst wahrscheinlich durch Erstickung 
erfolgt. 

4) In welcher Weise diese Erstickung herbeigeführt worden ist, 
darüber werden wir uns erst dann aussprechen können, wenn 
uns die vor dem Tode des Kindes stattgehabten Vorgänge und 
insbesondere auch der Geburtshergang bekannt sein werden. 

Dieses vorläufige Gutachten begründen und ergänzen wir wie folgt. 

ad 1. Dass das Kind ein der Reife zwar nahes, aber nicht völlig ausge¬ 
tragenes gewesen, ergiebt sich aus den Thatsachen, welche im Obductions- 
Protokoll ad 1, 2, 9, 10, 13, 14, 18, 19 und 21 verzeichnet sind. 

Für nahezu vollendete Reife spricht insbesondere die Länge der Kindes- 
leiche von 49 Ctm., welches Maass, namentlich beim weiblichen Geschlecht, 
selbst von ganz reifen Kindern häufig nicht überschritten, sogar des Oefteren 
nicht einmal erreicht wird; sodann der gute Ernährungszustand derselben, der 
sich durch die Glätte der Hautdecken (2, 13) und die Entwickelung des Fett¬ 
polsters an den Oberschenkeln (2) dokumentirt. Ferner sprechen dafür die 
Durchmesser des Kopfes (9) von 9,5—8,0 und 10,5 Ctm., welche Zahlen nur 
um ein Weniges hinter den in den Casper-Liman’schen Tabellen als durch¬ 
schnittliche Minima für reife Kinder angegebenen bezüglichen — 9,8—7,8 und 
11,7 Ctm. — Zurückbleiben, ja dieselben sogar in Hinsicht des queren Durch¬ 
messers noch um 0,2 Ctm. übertreffen; sodann auch das 1,5 Ctm. lange Kopf¬ 
haar (9) und in demselben Sinne, wie die Kopfdurchmesser, der Querdurchmesser 
der Schultern (14) und einigermassen auch das gänzliche Fehlen von Wollhaar 
an den letzteren, soweit hier die Oberhaut erhalten war. 

Dass aber das Kind ein nicht völlig ausgetragenes gewesen ist, geht, ausser 
aus den durchschnittlich um etwas geringeren eben angeführten Maassen, noch 
aus der weichen Beschaffenheit der Ohr- und Nasenknorpel (10), der nachgiebig 
weichen Consistenz der Nägel und insbesondere dem Umstande, dass die letzteren 
die Fingerspitzen nicht überragen, resp. an den Zehen dieselben nicht ganz er¬ 
reichen (19), ferner aus dem Unbedecktsein der kleinen Schamlippen durch die 
grossen (18) und aus dem vollständigen Fehlen des Knochenkerns (21) in dem 
unteren Ende der Oberschenkelknochen auf beiden Seiten hervor. Gegenüber 
dem auffallend geringen Gewichte der Kindesleiche (1) ist aber zu bemerken, 
dass dasselbe — an sich minder constant als z. B. das Längenmaass — im vor¬ 
liegenden Falle durch die nach Ausweis des ganzen Obductions-Protokolls weit 
vorgeschrittene und offenbar durch die stattgehabte Exponirung in drei verschie¬ 
denen Medien wesentlich geförderte Fäulniss — welche sich namentlich kundgab 
durch Ablösung der Oberhaut und blaugrünliche Verfärbung der mit zahllosen 
Maden besetzten Oberfläche, Maden in der Bauchhöhle, Luftblasen im Darm, 
Bauchfell, Herzbeutel, Lungen und Herz, das gänzliche Verschwinden des Blutes 
aus den Gefässen, sowie die mehr oder weniger matsche, zerfliessliche Consistenz 
der hauptsächlichsten Organe, resp. die völlige Decomposition des Gehirns — 
stark verändert, beziehungsweise im Sinne der Verminderung beeinflusst worden ist. 

Gleicherweise kann es nicht zweifelhaft sein, dass auch die Weichheit und 
Nachgiebigkeit der Ohr- und Nasenknorpel, sowie der Nägel an Fingern und 


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Dr. Chlamsky, 


Zehen za einem nicht unwesentlichen Theile auf Rechnung der Vorgeschrittenen 
Fäulniss, resp. der Maceration im Wasser zu setzen ist. 

Die völlig unerwiesene Angabe der p. S., dass ihr die Regel erst nach 
Weihnachten weggeblieben sei, erscheint gegenüber dem objectiven Befunde von 
nur untergeordneter Bedeutung., um so mehr, als die Fälle von Fortdauer der Men¬ 
struation in den ersten Monaten der Schwangerschaft keineswegs sehr seltene sind. 

Der ganze Habitus der Kindesleiche machte für den Sachverständigen den 
Eindruck der nahezu erreichten Reife, und schliessen wir hiernaoh und nach der 
vorstehenden Erörterung der bezüglichen Einzelbefunde, dass das Kind entweder 
Ausgangs des 9ten oder im Anfänge des lOten Schwangerschaftsmonates ge¬ 
boren worden ist. 

ad 2. Dass das Kind in oder nach der Geburt geathmet und insofern ge¬ 
lebt hat, geht mit Bestimmtheit aus der Ausdehnung und Beschaffenheit der 
Lungen (25, 26, 36), beziehungsweise den Ergebnissen der Lungenprobe (37, 
38, 39 und 41) hervor. 

Der Stand des Zwerchfells war zwar ein relativ hoher, indem er beiderseits 
der 4ten Rippe entsprach (23), jedoch erscheint dieser Umstand im Vergleich 
zu den übrigen Befunden und insbesondere den Ergebnissen der Lungenprobe 
irrelevant und wird durch die Thatsache vollständig erklärt, dass in der Bauch¬ 
höhle in Folge vorgeschrittener Fäulniss eine Gasentwickelung stattgefunden 
hatte (16). durch welche das Zwerchfell in die Höhe gedrängt worden ist. 

Dagegen waren die Lungen so ausgedehnt, dass sie den Brustkasten ziem¬ 
lich gut ausfüllten und mit ihren vorderen Rändern den Herzbeutel erreichten (25). 
Die vorliegenden Lungentheile waren links von schmutzig rosarother, rechts von 
mehr dunkelbläulichrother Farbe, die aber auch rechterseits einen leisen Stich 
in’s Rosafarbene zeigte (26), und auch an den hinteren Partien war die Farbe 
der Lungen im Ganzen die nämliohe wie vorn (36). Die Lungen fühlten sich 
etwas weich elastisch an und knisterten leise bei der Berührung (26): ihre Ober¬ 
fläche erschien uneben (36), und nach der Herausnahme schwimmen dieselben 
nicht nur nach Abtrennung des Herzens, sondern auch schon im Zusammenhänge 
mit demselben in der Art, dass sie sich auf der Oberfläche des Wassers aus¬ 
breiteten und den Wasserspiegel überragten (37). Beim Einschneiden liessen 
beide Langen überall ein leises Knistern wahrnehmen und auf der Schnittfläche 
bei Druck eine blutig-schaumige Flüssigkeit hervortreten (38), und bei Ein¬ 
schnitten in verschiedene Theile der Lungen unterhalb des Wasserspiegels stiegen 
Luftblasen empor (39). Die einzelnen Lappen beider Lungen, von einander ge¬ 
trennt, schwammen ebenfalls auf dem Wasser, und von den einzelnen etwa 20 
Stückchen, in welche die Lappen zerschnitten wurden, schwammen die bei Weitem 
meisten, und nur 2—3 aus dem mittleren Lappen der rechten Lunge sanken 
langsam zu Boden (41). 

Die hiernach erwiesene umfängliche Lufthaltigkeit beider Lungen konnte 
aber durch Fäulniss nicht bedingt sein. Denn es war die letztere insbesondere 
an den Lungen, welche erfahrungsgemäss zu der Reihe der sog. spätfaulenden 
Organe gehören, keineswegs in besonders erheblicher Weise vorgeschritten, und 
wurden vielmehr nur gemäss No. 28 des Obd.-Prot. gleich nach Eröffnung der 
Brusthöhle am Herzbeutel und zum Theil auch an den Lungen, namentlich der 
linken, einzelne Fäulnissluftblasen constatirt. 


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Erstickung des neugeborenen Kindes. 


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Diese Fäulnissluftblasen würden aber jedenfalls eventuell nur die Schwimm¬ 
fähigkeit der von ihnen zunächst occupirten Theile, hier der vorderen Lungen¬ 
ränder, haben beeinflussen können, während bei der Schwimmprobe sich die linke 
Lunge in ihren sämmtlichen Theilen gleichmässig und auch die rechte Lunge 
nahezu in allen Abschnitten schwimmfähig erwies. Ueberdies spricht die Farbe 
der Lungen, sowie namentlich die unebene Oberfläche derselben (36) mit Bestimmt¬ 
heit dafür, dass die Lungenzellen selbst durch Luft ausgedehnt gewesen sind. 

Da aber ferner nach Lage des ganzen Falles hier weder von einem etwa 
stattgehabten Luftathmen in der Gebärmutter, noch von einer künstlichen Luft¬ 
erfüllung nach der Geburt die Rede sein kann, so kann die in den Luogen nach¬ 
gewiesene Luft nur durch den Athmungsprozess hineingelangt sein, das Kind hat 
demnach in und gleich nach der Geburt geathmet und gelebt. 

Wie lange dieses Athmen gedauert habe, lässt sich mit Sicherheit nicht an¬ 
geben, der Befund von wenn auch sehr wenig umfänglichen nicht-lufthaltigen 
Partieen im mittleren Lappen der rechten Lunge deutet darauf hin, dass dasselbe 
sehr bald nach der Geburt behindert, beziehungsweise sistirt worden ist. 

ad 3. Bezüglich der Todesursache haben wir in unserem vorläufigen Gut¬ 
achten uns dahin ausgesprochen, dass der Tod höchst wahrscheinlich durch 
Erstickung erfolgt sei. 

Wenn wir in dieser Beziehung unser Urtheil damals auf eine hohe Wahr¬ 
scheinlichkeit beschränken mussten, weil positiv beweisende materielle Unterlagen 
für eine bestimmte, alle anderen ausschiiessende, Todesart sich aus der Section 
selbst nicht in ausreichendem Maasse unmittelbar ergaben, so sind wir nunmehr 
nach Kenntniss der vor dem Tode, resp. nach der Geburt des Kindes stattgehabten 
Vorgänge in der Lage, uns bestimmter dahin auszusprechen, dass das Kind durch 
Erstickung gestorben ist. 

Denn da das Kind gesundheitsgemäss veranlagt war, und an den Organen 
desselben keine krankhaften Veränderungen bestanden, durch welche seine Lebens¬ 
fähigkeit beeinträchtigt worden wäre, und da ferner an dem Körper desselben 
irgendwelche Verletzungen nicht vorgefunden worden sind (22. 66, 68), so 
kommen als mögliche Todesursachen nur Verblutung aus der nicht unterbunde¬ 
nen Nabelschnur oder Erstickung in Betracht. 

Was die erstere Todesursache anbetrifft, so ist es an sich zwar zweifellos, 
dass eine Verblutung aus der nicht unterbundenen Nabelschnur erfolgen kann, 
aber ebenso zweifellos, dass sie thatsächlich, namentlich nach eingeleiteter 
Athmung, äusserst selten erfolgt, weil durch die bei Beginn der Athmung ein¬ 
tretende physiologische Umwandlung der Blutumlaufsverhältnisse der Blutstrom 
von den fötalen Bahnen abgelenkt wird. 

Im vorliegenden Falle aber sind bei der Obduction besondere Befunde, 
welche die Annahme eines Verblutungstodes rechtfertigen könnten, überhaupt 
nicht erhoben worden. 

Denn wenn auch die Herzhöhlen und die grossen Blutaderstämme blutleer 
gefunden worden sind, so ist diese Erscheinung, wie bereits oben bemerkt wurde, 
hier lediglich als Folge des weit vorgeschrittenen Verwesungsprozesses aufzufassen 
und aus derselben allein ein Verblutungstod um so weniger zu vermuthen oder zu 
erschliessen, als gerade in den Lungen, in welchen beim Verblutungstode die 
Anaemie ganz besonders — bis zu aschgrauer Färbung derselben — ausge- 


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Dr. Chlumsky, 


sprochen za sein pflegt, eine irgend erhebliche Blutleere, wie sich aas der ad 26 
and 36 constatirten Farbe derselben and dem Aastritt blutig-schaumiger Flüssig¬ 
keit auf der Schnittfläche (37) ergiebt, nicht vorgefanden worden ist, and auch 
die Färbung der sonstigen Einzelorgane nicht dafür spricht, dass sie früher, 
d. h. vor Eintritt der daroh die Fäulniss bedingten Veränderungen, in erheb¬ 
lichem Grade blutleer gewesen sind. 

Ueberdies steht es noch gar nicht fest, dass die Nabelschnur überhaupt 
nicht unterbunden worden ist, da das Fehlen einer Unterbindungsschlinge bei der 
Obduction dies nicht unbedingt beweist , vielmehr die Möglichkeit offen bleibt, 
dass die Ligatur — insbesondere beim Aufenthalt in fliessendem Wasser oder 
anderweitig — verloren gegangen sein kann. 

Somit sind aus dem objectiven Gesammtbefunde irgendwelche Unterlagen 
für die Annahme eines Verblutungstodes aas der etwa nicht unterbunden ge¬ 
wesenen Nabelschnur nicht zu entnehmen. 

Was den Tod durch Erstickung anbetrifft, so sind zunächst zwar eine Reihe 
wesentlicher denselben charakterisirender Erscheinungen, diejenigen nämlich der 
besonderen Blutvertheilung, namentlich in der Brust- und Schädelhöhle, und der 
Beschaffenheit des Blutes, im vorliegenden Falle durch den vorgeschrittenen Ver¬ 
wesungsprozess verwischt, beziehungsweise der Wahrnehmung entrückt, indem 
die Fäulniss es nicht nur, wie bereits wiederholt hervorgehoben wurde, zu Wege 
gebracht hat. dass in der Leiche Blut als solches fast überall nicht mehr ange¬ 
troffen und namentlich die Herzhöhlen und grossen Blutaderstämme der Brusthöhle 
blutleer gefunden worden sind, sondern auch, dass bezüglich der Eingeweide der 
Schädelhöhle eine nähere Untersuchung überhaupt nicht mehr möglich gewesen ist. 

Ein um so grösseres Gewicht ist aber deshalb auf anderweitige etwa vor¬ 
handene Symptome zu legen, die als mehr oder weniger charakteristisch für den 
Erstickungstod erfahrungsgemäss anzusehen sind. Als solche sind aber zu nennen, 
resp. waren im vorliegenden Falle vorhanden, vornehmlich eine gewisse relative 
Blutfülle der Lungen, die sich durch die rosarothe, z. Th. dunkelbläulichrothe 
Farbe derselben (26 und 36), sowie durch den Austritt von blutig-schaumiger 
Flüssigkeit auf der Schnittfläche namentlich in den unteren Lappen (38) zu 
erkennen gab; ferner die blassröthliche Färbung der Luftröhrenschleimhaut 
(35 und 40) und der Befund einer ziemlich reichlichen blassgrauröthliohen 
Flüssigkeit im Kehlkopf und dem oberen Theile der Luftröhre (35); endlich 
auch die erhebliche Vorlagerung der Zunge vor den Kiefern (12), welche letztere 
Erscheinung, an sich zwar nicht beweisend, in Verbindung mit den vorgenannten 
Symptomen immerhin von Bedeutung namentlich insofern ist, als dieselbe bei 
anderweitigen Todesarten doch nur äusserst selten beobachtet wird. 

Wenn somit schon auf dem Wege der Ausschliessung anderweitiger Todes¬ 
arten die Annahme des Erstickungstodes als wahrscheinlichste ersohien, so wird 
dieselbe ausserdem durch eine Reihe charakteristischer Symptome in positiver 
Weise begründet, und gelangen wir nach alledem zu dem Urtheile, dass das Kind 
den Tod durch Erstickung gestorben ist. 

ad 4. Was schliesslich die specielle Art und Weise anbetrifft, in welcher 
der Erstickungstod des Kindes herbeigeführt worden ist. so sind für Beanwortung 
dieser Frage in den Angaben der p. S. genügende Anhaltspunkte enthalten. 

Denn danaoh hat dieselbe, wie bereits Eingangs erwähnt, nachdem die 


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Erstickung des neugeborenen Kindes. 


307 


Geburt in der Nacht vom 7. zum 8. Juli er. früh um 2'/ 2 Uhr erfolgt war, das 
auf dem Bette liegende Kind, an welchem sie kein Lebenszeichen wahrgenommen 
haben will, mit einem alten Rocke überzogon, an die Scheune getragen und 
dort mit dem Rocke im Sande verscharrt. Dass ein solches Verfahren nothwendig 
den Tod des Neugeborenen durch Erstickung zur unmittelbaren Folge haben 
musste, kann nicht zweifelhaft sein, indem darin mehr als ausreichende Momente 
gegeben sind, geeignet sowohl den Zutritt der Luft zu den Athmungsöffnungen 
zu behindern und abzusperren, als auch die Athembewegungen mechanisch zu 
hemmen, so dass der Tod durch Erstickung nothwendig eintreten muss. 

Ob das Kind noch lebend in die Erde gelangt ist, lässt sich mit Sicherheit 
nicht entscheiden, weil Zeichen von Aspiration erdiger Theile bei der Obduction 
nicht vorgefunden worden sind (9 und 42). und auch — da das Kind in den 
Rock eingehüllt vergraben wurde — nicht vorgefunden werden konnten. Die 
bei der Obduction (ad 12) auf der vorgelagerten Zungenspitze constatirte Spur 
von Schlamm, von der nämlichen Beschaffenheit wie am übrigen Körper, kommt 
in dieser Beziehung nicht in Betracht und ist lediglich als eine während des 
Verweilens der Leiche in fliessendem Wasser erfolgte Absetzung anzusehen. 

Mit Rücksicht auf die noch nicht vollendete Reife und die danach zu ver- 
muthende geringere Lebensenergie des Kindes erscheint die Möglichkeit nicht aus¬ 
geschlossen, dass dasselbe bereits durch das Einhüllen in den Rock an Erstickung 
zu Grunde gegangen und somit schon todt war, als es vergraben wurde. 

Ob das Kind Lebenszeichen, beziehungsweise in welchem Umfange von sich 
gegeben habe, und ob diese von der Mutter bemerkt worden sind, kann unserer¬ 
seits nicht festgestellt werden. 

Nachdem wir durch die vorstehenden Erörterungen unser vor¬ 
läufiges Gutachten begründet und ergänzt haben, resumiren wir unser 
definitives Gutachten nachstehend wie folgt: 

1) Das Kind der Pauline S. ist ein der Reife zwar nahes, aber nicht 
völlig ausgetragenes gewesen. 

2) Dasselbe hat in und gleich nach der Geburt geathmet und gelebt. 

3) Der Tod desselben ist durch Erstickung erfolgt. 

4) Die Erstickung ist dadurch herbeigeführt worden, dass das Kind 
unmittelbar oder bald nach der Geburt in einen Rock eingehüllt 
und in diesem vergraben worden ist. 

5) Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, dass das Kind durch 
die Einhüllung in den Rock bereits erstickt war, bevor es ver¬ 
graben worden ist. 

Die Anklage wurde nur wegen fahrlässiger Tödtung erhoben und die Be¬ 
schuldigte in der Strafkammer-Sitzung vom 30. October 1885 unter Freispre¬ 
chung hiervon schliesslich wegen Beiseiteschaffung eines Leichnams zu 4 Wochen 
Haft (durch die Untersuchungshaft verbüsst) und Tragung der Kosten verurtheilt. 


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4. 


Drei Fälle th Yerletzmng des Herzens, resp. des Bnllins 

aertae. 

Mitgetheilt von 

Kreiswundarzt Dr. Schulte in Hörde. 


Perforirende Verletzungen des Herzens oder solche der grossen Blutgefässe 
innerhalb des Herzbeutels sind kein seltenes Vorkommen auf dem Sectionstische 
des Gerichtsarztes. Tod durch Verblutung ist ihre gewöhnliche Folge, und der 
Befund des Verblutungstodes mit seinen charakteristischen Merkmaleu ihr gewöhn¬ 
liches Ergebniss bei der Leichenöffnung. 

Derartige Verletzungen können aber in Fällen, in denen der Herzbeutel 
entweder gar nicht oder in einer Weise geöffnet ist, dass der Austritt des Blutes 
aus demselben in hohem Grade oder gänzlich behindert ist, so dass mit der voll¬ 
ständigen Füllung des Herzbeutels die Blutung stehen muss, im Allgemeinen 
nicht die Bedeutung und die Wirkung haben, dass dadurch der Tod durch Ver¬ 
blutung eintreten muss, namentlich dann nicht, wenn es sich um kräftige Per¬ 
sonen handelt, die einen Verlust von 6—800 Cctm. Blut — eines Quantums, 
das der Capaoität des Herzbeutels im Allgemeinen entspricht, wol ertragen 
können. Die Verletzuug wird unter solchen Umständen dadurch verhängnisvoll, 
dass die in den Herzbeutel ausgetretene Blutmasse innerhalb desselben alsbald 
einen solchen Grad von Spannung erreicht, dass der an sioh nicht sehr hohe 
Druck des dem Herzen zufliessenden venösen Blutstromes nicht mehr genügt, die 
Vorkammern diastolisch auszudehnen und zu füllen. Der Zufluss zum Herzen 
kommt ins Stocken und die Girculation zum Stillstand. Der Verletzte stirbt als¬ 
dann aber nicht den Verblutungs- sondern den Erstickungstod. 

Da der ganze Vorgang von dem Momente der Verletzung ab bis zu dem¬ 
jenigen des Stillstandes der Girculation sich nicht auf einmal vollzieht, sondern 
einiger Zeit bis zu seiner Vollendung bedarf, und da während dieser Zeit in 
Folge der, im Verhältniss zur Anschoppung des Herzbeutels zunehmenden Gom- 
pression des Herzkörpers, der Zufluss zum Herzen mit jeder folgenden Diastole 
mehr und mehr abnimmt, so entsteht in Folge dessen eine wachsende Abnahme 
in der Füllung der Arterien und durch Rückstauung eine wachsende Zunahme 
in der Füllung der Venen. 

Ein mit Blut strotzend gefüllter Herzbeutel, Blutleere sämmtlicher Herz¬ 
höhlen und der grossen Arterien, und Blutfülle in den Venen beider Kreisläufe 
werden die besonderen Befunde in derartigen Fällen abgeben. 

Im Kreise Dortmund hatten der Kreisphysicus Herr Dr. Hagemann und 
ich in diesem Jahre Gelegenheit in drei derartigen, in ihrer Art durchaas ver¬ 
schiedenen Fällen die gerichtliche Obduction zu machen. Ihre charakteristischen 
Eigenthümlichkeiten mögen hier eine kurze Mittheilung finden. 


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Drei Fälle von Verletzung des Herzens, resp. des Bulbus aortae. 309 


1) Ein 53 jähriger Viehhändler S. war auf einem seiner unerlaubten Gänge 
zu einer verheiratheten Frau von dem Ehemanne derselben, der ihm in feind¬ 
seliger Absicht nachgegangen war, angeblich und ohne Zeugen in dessen Wohnung 
todt aufgefunden worden. Section 2 Tage p. m. Kräftig gebauter Körper mit 
starkem Fettpolster; Verwesungserscheinungen gering; Todtenflecke über die 
ganze Rückseite des Rumpfes verbreitet; nirgends eine Spur einer Verletzung 
oder eines Blutaustritts ins Gewebe; an beiden Seiten des Rumpfes und an den 
Oberschenkeln unzählbare, punktförmige Petechien; die Venen der Weicbtheile 
des Kopfes und die Blutleiter der Schädelhöhle stark mit Blut gefüllt; die Venen 
des Halses gefüllt, die Arterien daselbst leer; der intacte Herzbeutel prall gefüllt 
mit einer theils flüssigen, theils geronnenen Blutmasse im Gehalte von ca. 
800 Gotm.; Herzkörper schlaff, zusammengedrückt, mit einer dicken Fettlage 
überzogen; sämmtliche Herzhöhlen leer; Herzfleisch mürbe und graugelb; sämmt- 
liche Herzhöhlen, namentlich der linke Ventrikel, erweitert; das Aortenostium 
bedeutend erweitert, die Semilunarklappen daselbst nicht schliessend, der Bulbus 
aortae bis auf einen Umfang von 13 Gtm. erweitert, seine Wandung verdünnt, 
wenig elastisch, seine Innenfläche zum Theil gelblich verfärbt; an seiner hinte¬ 
ren Seite ein 2 Gtm. langer, querverlaufender durchdringender Riss, mit zackigen, 
leicht sugillirten Rändern. Brust- und Bauchaorta und Pulmonalarterien leer; 
die grossen Venen der Brust- und Bauchhöhle gefüllt; die Lungen in ihren un¬ 
tern Lappen blauroth und stark bluthaltig. 

Der vorliegende Fall bot noch insofern ein besonderes Interesse, als in 
keinerlei Weise und auch nicht durch die Obduotion hatte ermittelt werden 
können, was diesen entarteten Bulbus aortae grade in dem kritischen Momente 
des Zusammentreffens des S. mit dem erzürnten Ehemanne zum Platzen gebracht 
hatte. War es, was nach Lage der äusseren Umstände zu vermuthen nahestand, 
eine gewaltthätige Einwirkung, die zu einer Sugillationsbildung durch den 
raschen Eintritt des Todes nicht mehr die nöthige Zeit fand, oder war es der 
vernichtende Einfluss eines hier leicht erklärbaren psychischen Affects, oder war 
es das Spiel des Zufalls, was hier als nächste Veranlassung angesehen werden 
musste. 

Der Tod war bewirkt durch eine Ruptur des Bulbus aortae und diese 
Ruptur bedingt durch eine krankhafte Entartung dieses Organs. Die Obduotion 
aber halte keinerlei Befunde ergeben, welche eine gewaltthätige Einwirkung als 
im ursächlichen Zusammenhänge mit der Todesursache stehend, annehmen Hessen. 

Mit diesem Votum hatte der Fall auch gerichtlicherseits seine Erledigung 
gefunden. 

2) In einem Streite um ein Frauenzimmer hatte der in den mittleren Lebens¬ 
jahren stehende L. aus nächster Nähe 2 Revolverschüsse in die Brust erhalten 
und War nach Verlauf von '/ 2 Stunde unter den Erscheinungen von Gyanose, 
Athemnoth und Lungenödem verschieden. 

Section 3 Tage p. m. Körperbau kräftig; Verwesungserscheinungen mässig; 
Todtenflecke über die ganze Rüokseite verbreitet; auf der linken Seite der Brust 
zwei, 8 Ctm. auseinander, in gleicher Höhe liegende, je 6 Mm. im Durchmesser 
haltende Oeffnungen der Haut mit braunschwärzlichen Rändern, von denen die 
eine dicht am Sternum durch den 5. Rippenknorpel, die andere durch den 
4. Zwischenrippenraum in der Warzenlinie in die Brusthöhle hineinging. Nach 


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310 


Dr. Schulte, 


Entfernung des Brustbeins lag dicht hinter dem durchbohrten Rippenknorpel auf 
dem, in massigem Umfange mit ausgetretenem Blute leicht durchsetzten Zell¬ 
gewebe des vorderen Miltelfellraumes eine Revolverkugel von dem kleinen, 
7 Mm. haltigen Calibcr; ein gleichbeschaffenes Geschoss steckte entsprechend 
dem Sitze der zweiten Eingangsöffnung mit seiner Basis in der vorderen Wand 
des, ad maximum ausgedehnten und schwappend prall anzufühlenden Herzbeutels. 
Das Zellgewebe in der Umgebung des Projectils in massigem Grade mit aus¬ 
getretenem Blute durchsetzt; kein Blutaustritt in die Brustfellsäcke oder sonst 
in den Brustraum. Der Herzbeutel enthält ca. 600 Cctm. theils flüssiges, theils 
zu einer derben, filzigen Masse zerronnenes Blut; sämmtliche Herzhöhlen leer; 
Herzfleisch derb und grauroth; Klappenapparate von gewöhnlicher Beschaffen¬ 
heit; die vordere Wand des linken Ventrikels nahe an der Herzspitze durchbohrt 
von einem Wundcanal im Durchmesser von ca. 5 Mm., dessen an der Innenwand 
des Herzens gelegene Oeffnung von einem unverletzten breiten Papillarmuskel 
verdeckt und erst nach dessen Entfernung sichtbar wurde. Brust- und Bauch- 
Aorta und Pulmonalarterien leer; die grossen Venen der Brust- und Bauchhöhle 
und die des Halses stark gefüllt; Blutleiter der Schädelhöhle und Venen der Pia 
gefüllt. Die Lungen in ihren unteren blaurothen Lappen viel rothe wässerige 
Flüssigkeit enthaltend. 

Im vorliegenden Falle hatte das Steckenbleiben der Revolverkugel in der 
Herzbeutelöffnung den Austritt des Blutes aus dem Herzbeutel verhindert und 
dadurch eine Verblutung nicht zustande kommen lassen. Das erst so späte, 
V 2 Stunde nach stattgehabter Verletzung erfolgte Eintreten des Todes findet 
seine Erklärung in dem Umstande, dass der die innere Oeffnung des Wundkanals 
im Herzen überdeckende Papillarmuskel nach Art einer Ventilklappe den Austritt 
des Blutes aus dem Herzen in hohem Grade behinderte und dadurch bewirkte, 
dass die Anschoppung des Blutes im Herzbeutel erst nach so langer Zeit ihren 
verhängnissvollen Grad erreichen konute. 

3) Nach einem kurzen Wortwechsel erhielt der in den 20er Jahren stehende 
P. einen Messerstich in die Brust; er verfolgte noch eine Strecke von ca. 
15 Schritt den Thäter und brach dann todt zusammen. Obduction 3 Tage p. m. 
Leiche von kräftigem Körperbau und guter Ernährung. Verwesungserscheinungen 
in mässigem Grade vorhanden. Todtenflecke in grosser Ausdehnung über die 
ganze Rückseite verbreitet. Im 5. Zwischenrippenraume dicht neben dem linken 
Brustbeinrande eine 5 Ctm. lange, glattrandige, in die Brusthöhle hineingehende 
Durchtrennung der Weichtheile; im linken Brustfellsacke 50 Cctm., zum Theil 
geronnenes Blut. Der prall gefüllte Herzbeutol hat an der am meisten hervor¬ 
gewölbten, in ihrer natürlichen Lage noch von dem linken Rande des Brustbeins 
überdeckt gewesenen Stelle der vorderen Wand eine 3 Ctm. lange, glattrandige 
Oeffnung, deren Ränder wie verklebt dicht aneinanderliegen. Der Herzbeutel 
enthält ca. 600 Cctm. theils flüssiges, theils geronnenes Blut; die vordere Wand 
des rechten Ventrikels in ihrer Mitte in einer Länge von 3 Ctm. glatt durch¬ 
trennt. Sämmtliche Herzhöhlen leer. Brust- und Bauchaorta und Pulmonalarterie 
leer. Die grossen Venenstämme der Brust- und Bauebhöhle stark gefüllt; die 
Lungen, namentlich in ihren unteren Lappen beiderseits stark bluthaltig; die 
Schleimhaut der Luftröhre und deren Aeste mit einem grauröthlichen Schleim 


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Drei Fälle yon Verletzung des Herzens, resp. des Bulbus aortae. 311 

überzogen; die Venen des Halses, die Blutleiter der Schädelhöhle und die Pia- 
venen stark mit Blut gefüllt. 

Die geringe Ausdehnung der Stichwunde im Herzbeutel und ihre relative 
Lage zum Brustbein, welches mit zunehmender Ausdehnung des Herzbeutels 
einen verstärkten passiven, dem Blutaustritte entgegenwirkenden Druck auf 
diese Stelle ausüben musste, hatten es im vorliegenden Falle bewirkt, dass der 
Tod nicht durch Verblutung, sondern durch Erstickung in Folge Compression 
des Herzens erfolgte. 


5. 

Ob Dmeitii paralytica «der geistige Gesundheit? 

Leidensgeschichte eines für unheilbar geisteskrank gehaltenen 

Mannes, 

dsrgestellt vom 

Sanitätsrath Dr. Beckmann, 

Kreisphysikus au Harburg. 


(Fortsetzung.) 

Im December 1880 hatte sich Herr R. nochmals an Herrn Dr. L. 
zu A. gewandt, in Folge dessen ich unterm 26 . December 1880 von 
dem Collegen einen zweiten Brief erhielt, in welchem er sich dahin 
aussprach, die Erfahrung, dass alle bisherigen Gutachten und sonstige 
Schreibereien gänzlich unnütz gewesen, mache ihn bedenklich, ohne 
Weiteres auf den Wunsch des Herrn R., über seinen Zustand nochmals 
ein Gutachten abgeben zu wollen, einzugehen, er halte es vielmehr für 
unumgänglich nöthig, dass dieses Gutachten nur dann abgegeben werde, 
wenn es zur Erreichung des Zwecks nütze. Da ich sehr gut wisse, in 
welcher heillosen Lebenslage Herr R. stecken geblieben, so ersuche er 
mich, ihn durch ein Paar Zeilen belehren zu wollen, auf welchem Wege 
man glauben könne, von einem abermaligen Privat-Zeugnisse, das ja 
ohne behördliche Aufforderung nur zu geben sei, Nutzen erzielen könne. 
Er befürchte, dass man sich nur Aerger durch abermaligen Misserfolg 
und unnütze Kosten machen würde. 

Ja, wenn Herr R. geradeswegs auf die Sache losgehen, sich zur Beurtei¬ 
lung den Gerichtsärzten in H. stellen wolle, so wäre die Sache bald zu erledigen; 
er sei jedoch zu sehr erzürnt über alles, was ihm widerfahren, als dass er sich 
solches zu thuc überwinden könnte, und sei das Bedenken nicht fern zu halten, 
dass er mit seinem aufbrausenden Naturell und seinem Magen voll Gift und Galle 


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312 


Dr. Beckmann, 


aaf H.’sche Gerechtigkeit nicht etwa die ganze Untersuchung durch zornige Auf¬ 
wallungen vereiteln würde. Darin liege ein bedenklicher Punkt. Denn so ver¬ 
ständig er in allen übrigen Lebensfragen denke und spreche, so exaltirt erscheine 
er, wenn die Juristen und Staatsbehörden zu H. Gegenstand der Verhandlung 
würden. gez. L. 

Meine Antwort lautete dahin, dass ich keinen anderen Ausweg 
wisse, als dass Herr R. sich der Commission zu H. stellen müsse, und 
dass ich diesem meine Ansicht bereits mitgetheilt hätte. Er sei auf 
meinen Rath vor längerer Zeit auch in Berlin gewesen und habe dort 
vom Herrn Geheimrath W. denselben Bescheid erhalten. 

Wenn Herr R. sich dennoch nicht entschliessen könne, vor der 
Commission zu erscheinen, so müsse er hinsichtlich sonstiger zu er¬ 
greifender Massregeln einen bewährten Rechtsanwalt in Rath nehmen, 
und zwar einen solchen, der mehr Interesse für seine Sache hege, als 
Dr. St., der Nachfolger des Dr. Rle., bisher an den Tag gelegt. Auch 
müsse er bei der Vormundschaftsbehörde in H. beantragen, dass ihm 
ein anderer Curator, als sein mit ihm verfeindeter Schwager H., be¬ 
stellt werde. 


In Folge dessen wandte sich nun Herr R. an Dr. jur. W. zu H., der ihm 
den R&th ertheilte, vor allen Dingen sich zu bemühen, ein für ihn günstig 
lautendes Gutachten von irgend einer psychiatrischen Autorität, z. B. von der 
Direction einer provinzialständischen Irrenanstalt der Provinz H., zu erhalten. 
Zu diesem Zweck empfahl er ihm den Director Dr. G. M. zu 0. Da Herr R. aber 
der Ansicht war, dass Dr. M. seinen Wunsch um so gewisser erfüllen werde, wenn 
er eine Instruction und eine Empfehlung des Kreisphysikus Dr. L. zu A. mit¬ 
brächte, so wandte er sich wiederum an diesen mit der hierauf bezüglichen Bitte. 
Herr Dr. L. war auch bereit, eine solche Empfehlung auszufertigen und an Dr. M. 
abzusenden, hegte indessen die Ansicht, dass diese um so mehr Naohdruck haben 
würde, wenn auch Dr. jur. W. den Herrn Dr. M. instruirte und um Ausstellung 
des gewünschten Gutachtens ersuchte. 

Um solches zu erlangen, richtete Herr Dr. L. an Herrn Dr. W. 
zu H. folgendes ausführliches Schreiben: 


, , _ A., den 6. October 1881. 

Hochgeehrter Herr! 

Ihr Client, Herr Uhrmacher R., ist nun. von N. hierher zurückgekehrt, wie 
seit 6 Jahren ganz verständig. Er hat mir die Mittheilung gemacht, Sie seien 
überzeugt, die verfahrene Sache bei den Gerichten zu H. zum Austrag bringen 
zu können, wenn er das Zeugniss einer psychiatrischen Autorität über seine 
Gesundheit vermöge beizubringen. Auf Zureden des Herrn Dr. G. zu N. hat er 
nun sich entschlossen, anfangs nächster Woche nach 0. zu reisen und sich dem 
Herrn Director der provinzialständischen Irrenanstalt zur Untersuchung und Beob¬ 
achtung zu stellen, um von ihm das betreffende Zeugniss zu erlangen. Er hat 
mich als seinen Begutachter im Jahre 1874 und späteren alljährlichen Beobachter 


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Dementia paralytica oder geistige Gesundheit? 


313 


ersucht, Herrn Sanitätsrath H. zu 0. über meine bisherigen Beobachtungen Mit¬ 
theilung zu maohen, wie ich denn auch gerne gethan habe in einem ausführ¬ 
lichen Sohreiben. 

So gross der Skandal ist, dass ein von aller Welt hier, auf N. und in Hbg. 
als verständiger, ordentlicher, mässiger, freundlicher, fleissiger und ruhiger Mann 
bekannter Mitbürger von dem Gerichte zu H. noch fortwährend der Disposition 
über sein Vermögen verlustig gehalten bleibt, so sehe ich doch ein, dass das 
Haupthinderniss seiner Rehabilitirung in R.’s Weigerung liegt, sich denselben 
Sachverständigen jetzt zur Untersuchung zu stellen, welche ihn damals für 
unheilbar geisteskrank erklärt hatten und ihn in der Irrenanstalt internirt 
hielten, als seine damalige Krankheit (vielleicht Delirium potatorum?) längst ge¬ 
hoben war. Wenn Andere auch ruhiger darüber denken, so ist ihm dooh nicht 
zu verargen, dass er diesen Herren nicht traut, und deswegen würde der Ausweg, 
wie Sie ihn vorgeschlagen haben, durch das Zeugniss einer auswärtigen Autorität 
den Beweis zu führen, mit grosser Bereitwilligkeit aufzunehmen sein, indem auch 
R. sich ohne Umstände entschlossen hat. 

Aber ich hoffe Ihre Entschuldigung zu finden, wenn ich mir im Interesse R.’s 
ein paar Bedenken vorzutragen erlaube. 

Erstlich ist die grosse Frage, ob Herr Director Dr. M. auf private Veran¬ 
lassung, auf den eigenen Antrag R.’s auf die Beurtheilung etc. eingehen wird. 
Ich sehe voraus, dass er ohne behördlichen Auftrag sich für incompetent, die 
Begutachtung für unnütz erklären wird. 

Zweitens sehe ich nicht ein, wie es zu ermöglichen wäre, vom Gerichte zu H. 
einen Auftrag für Herrn Director M. in dieser Beziehung direkt oder auf in¬ 
direktem Wege zu erzielen. 

Drittens wird das Gericht zu H. ein auf privatem Wege erlangtes Zeugniss 
schwerlich respectiren. 

Sie, Herr Doctor, wissen das ja besser zu beurtheilen, und überlasse ich 
Ihnen gern die nöthigen Schritte. Wofern Sie aber auf ein von R. erbetenes 
und von Herrn Director Dr. M. abgegebenes Gutachten über R.’s gegenwärtigen 
Geisteszustand Werth legen, den versumpften Prozess damit wieder in Schuss zu 
bringen Aussicht haben, so würde, meiner unmassgeblichen Meinung nach, es sehr 
wünschenswerth oder eigentlich wol unerlässlich sein, wenn Sie als R.’s Anwalt 
dem Herrn Director M. das Ersuchen stellten, auf den Antrag des nächste Woche 
dort Erscheinenden einzugehen, wofern es ihm möglich ist. Das würde doch R. 
bei seinem Ansuchen viel wirksamer unterstützen, als die von mir und Herrn 
Dr. G. an ihn gerichteten Privatbriefe, und das Eingehen des Herrn Directors M. 
auf sein Ersuchen möglicherweise bestimmen, jedenfalls aber dahin führen, dass 
derselbe die Gründe der eventuellen Ablehnung mittheilt und die zu erfüllenden 
Bedingungen des Eingehens angiebt. Ohne Ihre Vermittelung sehe ich vorher, 
dass R. eine vergebliche Reise machen und danach wieder in vermehrtem Masse 
muthlos wird. 

Ich habe ihm vor Ausfertigung meines Schreibens nochmals wieder eindring¬ 
lich zugeredet, tapfer in des Löwen Rachen zu rennen, sich den Medioinalbeamten 
in H. zur Untersuchung zu stellen, da es ganz unmöglich sei, dass die Herren ihn 
jetzt noch wieder in’s Irrenhaus stecken könnten; sein Hass gegen diese Herren 
ist aber so gross und unauslöschlich, dass er hierzu nicht zu bewegen ist. 


VierMljahi-Mohr. f. ger. M«d. N. F. XUV. 3. 

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314 


Dr. Beckmann, 


„Lieber jedem Anderen, ab diesen Medioinalbeamten zu H.“, das ist seine 
feste Antwort. — Er ist auf die Herren zu verbittert und 6 bis 7 Jahre, in denen 
er doch in der allgemeinen Beurtheilung seiner Verhältnisse ausserordentlich riel 
ruhiger geworden ist, haben diese Erbitterung nicht zu tilgen vermocht. Wenn 
Sie können, kommen Sie dem unglücklichen Manne, der sich für ein Opfer der 
Justiz hält, weil er den genauen Zusammenhang juristischer Formalitäten nicht 
einsieht, zur Hülfe; er verdient es wol, denn er ist hier allgemein geschätzt und 
geachtet. Mit vorzüglicher Hochachtung ganz ergebenst 

Dr. L., Sanitätsrath, Kreisphysikus. 

R. hat sich darauf auch wirklich zu Herrn Dr. M. in 0. begeben 
und diesen um ein Superarbitrium ersucht, ist aber abschläglich be- 
schieden worden, mit dem Bemerken, dass Herr Dr. R. in F. bei H. 
ein viel zu kluger Mann und ein zu guter College sei, als dass er es 
wagen möge, denselben durch ein vielleicht dessen Ansichten entgegen¬ 
stehendes Gutachten zu betrüben. 

Herr R. ist daher auch von 0. unverrichteter Sache zurückgekehrt. 

Nachdem also auch dieser Versuch fehlgeschlagen, war das Be¬ 
streben des Herrn-Rechtsanwalts Dr. W. dahin gerichtet, den Behörden 
zu H. die Sache aus den Händen zu nehmen und dem Königlichen 
Amtsgerichte zu Hbg. z,ur Beurtheilung zuzuwenden. 

Er stellte daher unter dem 30. November 1881 bei dem hiesigen 
Amtsgerichte folgenden Antrag: 

An Königliches Amtsgericht za Harburg. 

Antrag 

auf Wiederanfhebnng der Entmündigung in Sachen und abseiten des Uhrmachers 
J. C. R. zu Hbg., Imploranten, — vertreten durch Rechtsanwalt Dr. W. zu H. — 

mit Anlage 1—6. 

P. P. 

Impetrant beantragt die Wiederaufhebung der im Jahre 1873 zu H. über 
ihn verhängten Gura perpetua. 

Sein Antrag begründet sioh folgendermassen: 

Impetrant ist im Jahre 1873 in H. als seinem damaligen Wohnsitze auf 
Veranlassung seiner Frau und seines ihm verfeindeten Schwagers, des Maklers 
W. H., wegen Geisteskrankheit unter Cura perpetua des Letzteren gestellt worden, 
nachdem er vorgängig in die Irrenanstalt zu F. geschafft worden war. 

Im Jahre 1874 entwich er von dort, da er sich für gesund hielt, und begab 
sich über Hbg. nach seinem Heimathsorte A. 

Nachdem eine Wiedereinlieferung in die Irrenanstalt durch Intervention des 
Herrn Oberamtsrichters G. und Landdrost v. Z. in A. gescheitert war, betrauten 
die Behörden zu H. den dortigen Physikus Herrn Sanitälsrath Dr. L. mit Beob¬ 
achtung des Imploranten, als dessen Resultat nach 6monatlicher Dauer sich 
ergab, dass Herr Physikus in einem ausführlichen Gutachten den Imploranten 
für dispositionsfähig erklärte. Weit entfernt aber sich diesem Gutachten anzu- 


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Dementia paralytica oder geistige Gesundheit? 


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schliessen und nunmehr den Imploranten als einen Wiedergenesenen ?on der Cura 
zu befreien, beschieden die Behörden zu H. den Impetranten dahin, er habe sich 
in H. zur Untersuchung zu stellen, vorher könne von einer Aenderung in der an¬ 
geordneten Cura nicht die Rede sein. Dies geschah 1875 und es begann damit 
ein hoffnungsloser Kampf gegen das formelle Recht, das den Behörden in U. zur 
Seite stand. Die Einzelheiten dieses vergeblichen Ringens ausführlich zu referiren, 
ist überflüssig, da die Curatelacte hierüber genügend Auskunft giebt. Aller Orten, 
wo sich Impetrant seitdem aufgehalten hat, hat er sich von praktischen Aerzten 
beobachten lassen und hat von Allen ausnahmslos die besten Zeugnisse seiner 
Geistesklarheit erhalten, in A. vom Sanitätsrath Dr. Sch. und Obergeriohts- 
Hülfsphysikus Dr. W., in Harburg vom Kreisphysikus Sanitätsrath Dr. Beck¬ 
mann, und im Seebade N., wo Impetrant 1875, 1876 und 1877 während der 
Badesaison ein Uhrmachergeschäft etablirte, von den Badeärzten Herrn Medicinal- 
rath Dr. G. und Herrn Sanitätsrath Dr. Fr. aus B., ferner die zahlreichsten 
Zeugnisse von angesehenen Privatpersonen über seine moralische Führung und 
seine geistige Tüchtigkeit. 

Dass Impetrant sich nicht in H. zu einer Untersuchung stellen wollte, war 
abseiten desselben keine grundlose Marotte, sondern die sehr erklärliche Soheu, 
Aerzten gegenüber, die ihn für unheilbar geisteskrank erklärt und keinen Anstand 
genommen, dies Urtheil zu einer Zeit zu wiederholen, wo Impetrant bereits aus der 
Irrenanstalt entflohen und ihrer Beobachtung nicht mehr zugänglich war u. s. w. 

Trotz der unsäglichsten Anstrengungen gelang es dem Impetranten nicht 
nach alledem, die Behörden in H. zu bewegen, sich dem Urtheile auswärtiger 
Aerzte zu unterwerfen, und so würde er wol sein Leben lang die ihm auferlegten 
Fesseln dulden müssen, wenn nicht eine unerwartete Hülfe ihm in der Reform der 
Reiohsgesetze entstanden wäre. Indem die Civilprozessordnung (§.617, — §. 84 
a. 0.) das Verfahren auf Wiederaufhebung der Entmündigung vor das Amts¬ 
gericht, des allgemeinen Gerichtsstandes des Entmündigten verweist, sieht sich 
Impetrant endlich in der Lage, das zu erreichen, was man ihm in unglaublicher 
Starrheit Jahre lang verweigert hat, nämlich eine Untersuchung von Aerzten, 
die mit seinem Wesen durch Beobachtung vertraut sind und durch keinerlei 
Rücksichten und frühere eigene Urtheile oder solche von Berufscollegen desselben 
engen Kreises beeinflusst werden könnten, und er ist mit Freuden bereit, sich 
dem Urtheil dieser Aerzte zu unterwerfen. 

Impetrant überreicht in Anlage 1—2 die erwähnten Gutachten des Herrn 
Kreisphysikus Sanitätsraths Dr. Beckmann und des Herrn Sanitätsraths Dr. Sch. 
zu A. in mit den Originalen gleichlautenden Copien. 

Anlage 3. Abschrift eines Briefes des Herrn Kreisphysikus Dr. L. an 
Herrn Dr. Beckmann. 

Anlage 4. Ein die zuletzt von dem Impetranten unternommenen Schritte 
illustrirendes, an den imploratorisohen Anwalt gerichtetes Schreiben desselben 
Herrn. 

Anlage 5. Ein charakteristisches Schreiben des Oberarztes der Irrenanstalt 
zu F. an Dr. Beokmann. 

Im Uebrigen muss sioh Impetrant bezüglich der weiteren Producenda auf 
die Curatelacte der Behörde zu H. beziehen, welche alle erwähnten Gutachten 
originaliter und das gesammte sonstige Material enthält. 


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Dr. Beckmann, 


Um Requisition dieser Acte von der Vormundschafts-Behörde 
zu H. wird gebeten. 

Obigen Ausführungen zufolge dürfte es nicht unangemessen sein, bezüglich 
der Frage der Zuständigkeit des rom Impetranten angegangenen Königl. Amts¬ 
gerichts eine kurze juristische Deduction hinzuzufügen, sei dies auch nur eine 
überflüssige Vorsicht gegenüber dem möglichen Auftauchen kaum zu erwartender 
Bedenken. 

Die Zuständigkeit gründet sich auf den Gerichtsstand des Wohnsitzes. 

Dass Impetrant faktisch seinen Aufenthalt und den Mittelpunkt seiner 
ganzen Thätigkeit in den Bezirk des Königl. Amtsgerichts verlegt hat und Willens 
ist dort zu domiciliren, wird nicht in Zweifel zu ziehen sein; zweifelhaft dagegen 
könnte e3 — wenigstens auf den ersten Blick — erscheinen, ob Impetrant selbst 
(vorausgesetzt seine geistige Wiedergenesung), so lange er unter Cura steht, den 
zur Verlegung des Domicils unentbehrlichen juristischen Animus domicilii zu 
haben fähig ist. Diese Frage hängt von der allgemeinen Frage ab, ob die be¬ 
stehende Cura als solche die Handlungsfähigkeit des Curanden ausschliesst. 
Erfährt dieselbe nun zwar in verschiedenen Rechtssystemen eine verschiedene 
Beantwortung, wie z. B. eine Vergleichung der gemeinrechtlichen Sätze mit der 
Vorschrift des Preussischen Landrechts Tit. 4. §. 25 ergiebt, so ist jedenfalls 
die Theorie des gemeinen Rechts auf das Zweifelloseste präoisirt in der Lex 6 
Cod. de cura pep. (5, 70), welche den Zustand der Dispositionsunfähigkeit der 
Wahnsinnigen nicht, wie jene Vorschrift des Landrechts, an die gerichtliche 
Interdiotion, sondern an den thatsächlichen Krankheitszustand knüpft. 

Ist Impetrant demnach, wie behauptet wird, geistig gesund, so konnte er 
sein Domicil verlegen und das Königl. Amtsgericht ist zuständig. 

Eine Prüfung der Zuständigkeit, getrennt von einer Cognition in der Haupt¬ 
sache, ergiebt sich aus alledem als unmöglich. Mit der Anerkennung der that¬ 
sächlichen Unterlagen des impetrantischen Antrages in der Hauptsache ergiebt 
sich von selbst aber auch die Begründung der Zuständigkeit. 

Im Aufträge des Impetranten (siehe Vollmacht Anlage 6) 

gez. Dr. W., Rechtsanwalt. 

Vorstehenden Antrag sandte das Königl. Amtsgericht brm. s. p. r. an die 
Vormundschafts-Behörde in H. mit der ergebensten Anfrage, ob wol dieselbe 
geneigt sei, im Hinblick auf die erfolgte Wohnungsänderung des Mündels, die 
Vormundschaft hierher abzugeben. Falls dieses der Fall sei, dürfe das Unter¬ 
zeichnete wol um gefällige Uebersendung der Acte ersuchen. 

Hbg., den 14. December 1881. 

Königliches Amtsgericht, gez. v. J. 

Auf diese Anfrage erwiderte die Vormundschafts-Behörde zu H: 

In Veranlassung eines von dem hier unter Cura perpetua stehenden J. C. R. 
an das Königliohe Amtsgericht gerichteten Gesuchs um Wiederaufhebung der im 
Jahre 1873 von dem vormaligen hiesigen Obergericht über ihn verhängten Cura 
perpetua hat Königliches Amtsgericht an uns die Frage gerichtet, ob wir geneigt 
wären, die Cura perpetua dahin abzugeben. 

Ehe wir über diesen Antrag Beschluss fassen, ersuchen wir um gefällige 


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Dementia paralytioa oder geistige Gesundheit? 


317 


Auskunft, ob wir den Antrag dahin richtig auffassen und verstehen, dass König¬ 
liches Amtsgericht zur Zeit seine Competenz, den von dem R. gestellten Antrag 
— der nicht auf eine Uebertragung, sondern auf eine Aufhebung der Curatel 
abzielt — zu erledigen, bezweifelt, und seine Zuständigkeit, auf den Antrag 
selbst zu entscheiden, erst dann als begründet anseben würde, wenn ihm von 
uns diese Curatel übertragen würde. 

Die Vormundschafts-Behörde, gez. A. 

H., den 23. December 1881. 

Hierauf hat das Königl. Amtsgericht zu Hbg. folgenden Bescheid 
ertheilt: 

An die Vormundschafts-Behörde zu H. 

Auf das gefällige Schreiben der verehrlichen Vormundschafts-Behörde vom 
23. d. M., die für J. C. R. angeordnete Curatel betreffend, nehme ich keinen 
Anstand zu erwidern, dass ich allerdings, wie es wol kaum eines Beweises wird 
unterliegen können, mich erst dann für zuständig und befugt erachten würde, 
ein Gesuch um Aufhebung der Curatel in Erwägung zu ziehen oder darüber 
Beschluss zu fassen, wenn etwa die verehrliche Vormundschafts-Behörde auf 
einen von dem oder den Betheiligten etwa direkt oder durch Vermittelung des 
hiesigen Gerichtes dorthin gerichteten Antrag sich veranlasst finden würde, die 
Vormundschaft nicht mir zu übertragen, sondern an mich abzutreten. 

gez. v. J. 

Die Vormundschafts-Behörde erwiderte alsdann: 

Dem Königlichen Amtsgericht II. zu Hbg. erwidern wir anf die gefällige 
Anfrage vom 14. December 1881. betreffend Uebergabe der hiesigen R. 'sehen 
Curatelsache, dass wir keine Veranlassung sehen, die bei uns seit 1873 anhängige 
Curatel, die einen hiesigen Bürger betrifft, der sein juristisches Domicil hier hat, 
dessen Curator, wie dessen Vermögen sich hier befindet, abzugeben. Zugleioh 
remittiren wir die Eingabe des Dr. W. 

Die Vormundsohafts-Behörde. gez. M., Seoretair. 

H., den 4. Januar 1882. 

Königliches Amtsgericht fand sich bewogen, folgende Antwort 
zu ertheilen: 

In der Angelegenheit, die über den Uhrmacher J. C. R. angeordnete Curatel 
betreffend, bin ich, nachdem ioh naoh Empfang des gefälligen Sohreibens vom 
4. d. M. die Sache nochmals in Ueberlegung gezogen habe, zu der Ueberzeugung 
gelangt, dass die in meinem Schreiben vom 27. December v. J. ausgesprochene 
Ansicht doch wohl nicht zutreffend ist. 

Ich bin damals von der Voraussetzung ausgegangen, dass die Bestimmung 
des §.617 der mir der Zeit nicht vorliegenden Reichs-Civil-Proces-Ordnung, dass 
für das Verfahren in betreff von Anträgen auf Wiederaufhebung der Entmündi¬ 
gung das Amtsgericht des Wohnorts des Entmündigten allein zuständig sei, sich 
nur auf den Fall beziehe, dass die Entmündigung im Wege der gerichtlichen 
Klage angefochten wird. Bei einer neuerdings vorgenommenen Prüfung des 
Absatzes des fraglichen Paragraphen bin ich jedoch zu der Ueberzeugung gelangt, 


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318 


Dr. Beckmann, 


dass derselbe auch auf derartige Anträge im Wege der vormundschaflsgericht- 
lichen Verwaltung Anwendung finden soll. Hiernach stellt sich dafür, ob das 
Unterzeichnete Amtsgericht sich im vorliegenden Falle für zuständig zu erklären 
hat, die Frage als massgebend dar, ob der hiesige Ort als der Mittelpunkt der 
bürgerlichen Thätigkeit des Petenten anzusehon ist. Indem ich mich daher 
veranlasst finde, von meiner früheren. Auffassung zurückzutreten, behalte ich mir 
weitere Beschlussnahme vor. gez. v. J. 

Fiat. Ladung des p. R. zu seiner Vernehmung auf Donnerstag, den 27. d. M. 

gez. v. J. 

Geschehen Amtsgericht Hbg. den 27. Januar 1882. 

Auf gerichtsseitige Ladung erschienen, wurde vernommen der Antragsteller 
J. C. R.: 

Ich heisse (wie angegeben), bin geboren zu A. den 21. Mäiz 1827 als Sohn 
des Uhrmachers R. daselbst. 

Nachdem ich in L. das Uhrmachergeschäft erlernt und dann länger in H. 
conditionirt hatte, habe ich im Jahre 1852 ein Uhren-, Chronometer* und Juwelen- 
Geschäft dort etablirt und bis Ostern 1873 demselben vorgestanden. 

Ich machte sehr gute Geschäfte. 

Ich war verheirathet mit der Tochter des Kammfabrikanten Hr. E. zu H. 

Ostern 1873 bin ich bei der Confirmation meiner zweiten Tochter, Helene, 
in der Kirche von einem Schlaganfall betroffen und bewusstlos zu Haus gebracht. 

Nach mehrwöchiger Krankheit, von welcher ich keine Erinnerung habe, 
bin ich in die Irrenanstalt zu F. gebracht. Ich will nicht bestreiten, dass ich 
um jene Zeit geisteskrank gewesen sein mag. Kurz nachher war ich aber ganz 
vernünftig. 

Gleichwohl wurde ich in der Anstalt festgehalten, bis ich im April 1874 
heimlich aus derselben entwich, und, nachdem ioh mich hier in Hbg. bei einem 
Freunde, jetzt in H., einige Tage verborgen gehalten, zu Fusse über St. und 
Stbg. nach Bm. und von da weiter nach E. per Bahn und dann per Post weiter 
nach A. gefahren. Nachdem ich hier von meinem damals noch lebenden Vater 
freundlich und unter Bezeigung grossen Erstaunens über meine Schicksale em¬ 
pfangen worden, wurde ich nach einigen Tagen auf Requisition der Vormund- 
schaftsbehörde zu H. verhaftet, sodann aber, nachdem mein Vater mit seinem 
ganzen Vermögen für mein ruhiges Verhalten einstehen zu wollen, erklärt hatte, 
von dem Oberamtsrichter 0. sofort wieder auf freien Fuss gesetzt. 

Auf Veranlassung der Behörde zu H. wurde vom Magistrate zu A. der 
Kreisphysicus Dr. L. mit meiner Beobachtung beauftragt; ich selbst unterwarf 
mich freiwillig der Beurtheilung des Medicinalraths Sch. und des Obergeriohts- 
physicus (Hülfsphysicus) Dr. W. zu A. Nachdem ich mich etwa 1 ‘/ 2 Jahr nooh 
in A. aufgehalten, ging ich, weil ich wünschte, wieder in der Nähe von H. zu 
leben, nach Hbg. und liess mich von dem Sanitätsrath Dr. Beckmann beob¬ 
achten. Zugleich arbeitete ich als Volontair im Geschäfte des Uhrmachers P. 
Im Sommer 1876 ging ich zuerst nach dem Seebade N. und etablirte dort für 
die Dauer der Saison ein Geschäft als Uhrmacher und Mechaniker, welches mir 
im ersten Jahre eine Brutto - Einnahme von 1011 Mark einbrachte. Dies habe 
ich seitdem alljährlich fortgesetzt und betreibe das Geschäft noch jetzt. loh habe 


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Dementia paralytica oder geistige Gesundheit? 


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unter Anderen für das Königliche Badecommissariat an der Telegraphenleitung 
gearbeitet und habe für dieselbe die Uhren in den Königlichen Gebäuden in 
Ordnung gehalten. Seit etwa 2 Jahren habe ich angefangen, mich an dem 
Geschäfte von P. in Hbg. zu betheiligen, ich beabsichtige aber hier ein selbst¬ 
ständiges Uhrmachergeschäft zu begründen. 

Ich lebe von einem von der Vormundschaftsbehörde aus den Aufkünften 
meines etwa 42000 Mark betragenden, unter Curatel stehenden Vermögens, mir 
ausgesetzten Oompetenz von monatlich 120 Mark und dem, was ich mir verdiene 
und bewohne ein Logis bei dem Schlächtermeister M. hier, wo ich mich von 
meinem Hauswirthe speisen lasse. Ich bezahle für Wohnung und Mittagstisch 
monatlich 45 Mark. Frühstück und Abendessen muss ich mir selbst halten. 
Bei M. wohne ich etwa 2 Morate. Vordem wohnte ich 2 Jahre lang ganz in 
denselben Verhältnissen wie bei M. beim Gastwirth de W. und noch früher beim 
Gastwirth P., ebenfalls auf dieselbe Weise. 

V. G. 

und ist Gomparent entlassen. 

Zur Beglaubigung gez. v. J. 

Notiz: Der Curande hat auf den Rath des Unterzeichneten die Einreichung 
eines Nachweises darüber in Aussicht gestellt, dass er hier das Uhrmacherband¬ 
werk und zwar zunächst als Gehülfe betreibe. 

Hbg., 29. Januar 1882. gez. v. J. 

Am 6. Februar 1882 legte der Hausmakler H., Curator des 
Herrn R., folgenden Protest ein: 

Verwahrun g 

abseiten des Hausmaklers C. M. W. H., wohnhaft zu H., als Curator perpetuus 

des J. Ch. R. 

Zufolge von der Vormundschaftsbehörde zu H. ihm gewordenen Weisung 
legt der Unterzeichnete Curator perpetuus des J. Ch. R. hierdurch Verwahrung 
ein gegen die Zuständigkeit des Königlichen Amtsgerichts Hbg. über einen Antrag 
auf Wiederaufhebung der Entmündigung zu beschliessen. 

Der §. 617 der C.-P.-O., Abschn. 1, kann solche Zuständigkeit nioht be¬ 
gründen. Der daselbst in Bezug genommene allgemeine Gerichtsstand, welcher 
nach §.13 der C.-P.-O. durch den Wohnsitz bestimmt wird, ist für den Curan- 
den, welcher nach eingetretener Entmündigung und damit constatirter Handlungs¬ 
unfähigkeit rechtlich ausser Stande ist, die Absicht eines Domicilwechsels zu 
fassen, ausschliesslich H. was dauernd oder vorübergehend der Aufenthaltsort 
des Curanden sein mag. 

Eventuell beansprucht der Unterzeichnete auf Grund §.617 und §.597 
in der Saohe gehört zu werden. 

H., den 6. Februar 1882. C. M. W. H. 

als Curator perpetuus des J. Ch. R. 

Die Vormundschaftsbehörde ging auf das Gesuch des Curators 
ein und decretirte unterm 15. Februar 1882: 


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320 


Dr. Beckmann. 


dass an Stelle des anf sein Ansuchen and vorbehaltlich seiner Rechnungs- 

pflichtigkeit zu entlassenden Curators H. nunmehr von Amtswegen der 

Rechtsanwalt Dr. jur. H. zum Curator perpetnus zu ernennen sei. 

Der Secretair der Vormundschaftsbehörde. 

(L. S.) gez. M. 

Unterm 28. Februar 1882 stellte Herr Dr. jur. W. beim Königl. 
Amtsgericht zu Hbg. folgenden Antrag auf Wiederaufhebung der Ent¬ 
mündigung des J. Ch. E.: 

Obgleich die dem gehorsamst Unterzeichneten nunmehr zu Händen gekom¬ 
mene Verwahrung des früheren Curators des R. vom 6. Februar durchaus dem 
Rahmen des von der Civilprozessordnung vorgeschriebenen prozessualen Ver¬ 
fahrens entfällt und um so gegenstaudsloser etscheint, als der Verfasser nach 
seiner am 15. Februar von der Vormundschaftsbehörde decretirten Entlassung 
ein durchaus unbetheiligter geworden ist, soll zur möglichsten Förderung der 
Angelegenheit doch nicht unterlassen werden, auf das in der gedachten Ver¬ 
wahrung hervorgehobene Zuständigkeitsbedenken, welches Unterzeichneter in sei¬ 
nem früheren Anträge bereits anticipando zu beseitigen versuchte, mit wenigen 
Worten einzugehen. 

Die Verwahrung sagt: Der Gerichtsstand des Wohnsitzes sei für den 
Curanden, welcher nach eingetretener Entmündigung und nach constatirter 
Handlungsunfähigkeit rechtlich ausser Stande ist, die Absicht eines Domicil- 
Wechsels zu fassen, ausschliesslich H. etc. 

Der Verfasser geht damit von dem Standpunkte aus, dass der Zustand der 
gerichtlichen Interdiction genüge, um jede rechtliche Disposition des Curanden 
auszuschliessen. Dies ist nach gemeinem Rechte zweifellos verkehrt, und sind 
Handlungen, welche nicht in thatsächlichem Krankbeitszustande vorgenommen 
worden sind, sofern dies nur erweislich ist, trotz der Interdiction rechtsverbindlich. 

Dass in H. entgegengesetzte particularrechtliche Normen, sei es im Statut, 
sei es in der Vormundschaftsordnung gegeben seien, ist ebenso unerfindlich, als 
dass etwa eine derogirende Gerichtspraxis bestände, vielmehr ist überhaupt kein 
Erkenntniss, welches das Gegentheil ausspräche, aufzufinden. Danach kann über 
Geltung der gemeinrechtlichen Grundsätze kein Zweifel herrschen und muss ein 
Domicilwechsel, vorausgesetzt die geistige Wiedergenesung des Curanden, als 
rechtswirksam angesehen werden. 

Der gehorsamst Unterzeichnete darf einer baldigen nunmehrigen Entschei¬ 
dung auf den von ihm gestellten Antrag auf Wiederaufhebung der Entmündigung 
entgegensehen. 

Hb., den 28. Februar 1882. Der Rechtsanwalt, gez. W. 

(Schluss folgt.) 


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6 . 


Beitrag xar Casaistik der Blödsiaas-SiMilatiea. 

Yon 

Dr. Hngo Wiedemann in Praust. 


Am 26. August 1881 wurde ich von der Königl. Staatsanwalt¬ 
schaft zu D. unter Uebersendung eines Actenfascikels aufgefordert, den 
Handelsmann Julius B. in C. zu besuchen, ihn auf seinen Geisteszustand 
zu untersuchen und darüber ein Gutachten abzugeben. 

Geschichtliches. 

Aus dem ziemlich umfangreichen Actenmaterial') ergab sich, dass B. be¬ 
schuldigt war, vor länger als einem Jahre in Gemeinschaft mit einem Andern 
ein Schwein aus dem Stalle gestohlen zu haben. Sein Mitangeklagter war zur 
Rechenschaft gezogen worden, hatte gestanden und war zu mehrwöchentlicher 
Gefängnissstrafe verurtheilt worden, die er mittlerweile schon verbüsst hatte. 
B. indessen, der zur Zeit des Diebstahls in W. als Arbeiter und Kartoffelhändler 
wohnte, verschwand plötzlich und wurde mehrere Monate steckbrieflich verfolgt 
und vergeblich gesucht, während welcher Zeit er sich ohne festen Wohnsitz 
hernmgetrieben zu haben soheint. Endlich wurde man seiner im Mai 1881 in C. 
habhaft, und er nach dem zuständigen Amtsgericht zu S. zur Untersuchungshaft 
verbracht. Hier begann er nach zwei- oder dreitägiger Haft plötzlich zu toben. 

Der dortige Gefängnissarzt, Sanitätsrath Dr. F., besuchte ihn im Gefängnisse 
und begutachtete, dass B. zur Zeit „an Wahnsinn“ litte und nicht vernehmungs¬ 
fähig sei. Dieser wurde nun nach C. zu seiner Familie entlassen. 

Nach Verlauf eines Vierteljahres wurde, nachdem Dr. F. inzwischen ver¬ 
storben war, ich aufgefordert, mich von dem Zustande des B. zu überzeugen und 
ein Gutachten darüber abzugeben, ob B. noch an „Wahnsinn“ litte und noch 
nicht vernehmungsfähig sei. Der weitere Verlauf der Sache ergiebt sich aus 
dem Folgenden. 

Gutachten. 

In Folge Anschreibens der Königl. Staatsanwaltschaft zu D. vom 
26. v. M. habe ich mich der ärztlichen Untersuchung des Handels¬ 
mannes Julius B. in Dorf C. in Bezug auf seinen Geisteszustand 
wiederholt unterzogen. 


') Leider steht mir dasselbe heute nicht mehr zu Gebote. Da ich mich erst 
jetzt zur Veröffentlichung des folgenden Gutachtens entschlossen habe, kann ich 
die obigen Angaben nur aus dem Gedächtnisse machen und muss darum auf 
genauere Details verzichten. 


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322 


Dr. H. Wiedemann, 


Bei meiner ersten Reise nach G. am 3. September d. J. Nachmittags fand 
ich den B. nicht zu Hause; derselbe war nach Aussage seiner Ehefrau in Be¬ 
gleitung einer Frau aus L. nach D. zum Markt gefahren, um Kartoffeln zu ver¬ 
kaufen. Seine Frau sowohl wie deren gleichfalls anwesende Mutter schilderten 
den B. als völlig geistesschwach, und gaben auf meine Frage, wie er denn in 
diesem geistigen Zustande sein Kartoffelgeschäft abmachen könne, an, dass eben 
darum jene Frau aus L. mitgefahren sei, da die eigene Frau vor erst drei Tagen 
entbunden war. Auf weitere Fragen wurde mir erzählt, dass er häufig mit der 
Polizei in D. in Conflict komme, und dass er erst seit seiner Untersuchungshaft 
in S. so verwirrt sei. Seine Hausgenossen schilderten ihn gleichfalls als stets 
unzurechnungsfähig und zeitweisen Wuihanfällen unterworfen. Während der¬ 
selben werde er sich und andern Menschen nicht gefährlich, wol aber schlage er 
auf Thiere blindlings los und habe in einem solchen Anfalle seinem einzigen 
Pferde ein Auge ausgeschlagen. 

Der Ortsschulze, Gastwirth Z., hingegen hält ihn für völlig geistesgesund 
und meinte erst auf Entgegen halten der seiner Ansioht widersprechenden, eben 
erwähnten Angaben, dass es dann auch wol so sein könne; er wisse nichts 
Genaueres darüber. 

In der Wohnung und an den Hausgerätben des B. fand ich Nichts, was in 
irgend welche Beziehung zu etwa bestehender Geisteskrankheit hätte gebracht 
werden können. — 

Montag, den 5. d. M., Nachmittags traf ich wieder in G. ein und fand den 
B. auf Anordnung des Ortsschulzen zu Hause, aber auch auf mein Erscheinen 
vorbereitet. Ich fand in ihm einen etwas über mittelgrossen, mageren jungen 
Mann von bleicher Gesichtsfarbe mit hohlen Wangen; häufige Hustenstösse von 
nicht langer Dauer unterbrachen die nun folgende Unterredung. Nach allem 
diesem machte er äusserlich den Eindruck eines brustkranken Menschen; die 
physikalische Untersuchung ergab spärliche Rasselgeräusche in beiden oberen 
Brusthälften, besonders aber der linken, ohne deutliche Verdichtungserschei¬ 
nungen. Die Zahl der Athemzüge betrug 40 in der Minute. Puls und Tempe¬ 
ratur waren normal. 


Aus der Unterredung, welche ich an diesem Tage mit B. führte, 
und welche etwas über eine halbe Stunde währte, ergab sich der 
oberflächliche Eindruck, als sei B. in hohem Grade schwachsinnig. 
Inwieweit dieser Eindruck einer schärferen Kritik Stand hält, wird 


sich aus dem Folgenden ergeben, 
besonders in der Erinnerung haften 
haltung herausheben: 

Nun, heute treffe ich Sie also zu 
Hause? 

Hat er Ihnen gesagt, dass ich kom¬ 
men würde? 

Wissen Sie, wer ich bin? 

Sie sehen so elend aus; sind Sie 

krank? 


Zunächst will ich einzelne, mir 
gebliebene Bruchstücke der Unter- 

Ja, der Schulz hat mir gesagt, ich 
soll zu Hause bleiben. 

(Keine Antwort.) 

Das weiss ich nicht. 

Ja, ich bin krank. 


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Beitrag zur Casuistik der Blödsinns-Simulation. 


323 


Was fehlt Ihnen denn? 


Wie alt sind Sie? 

Wann sind Sie geboren? 

Wann ist denn Ihr Gebartstag? 

Wo sind Sie geboren? 

Leben Ihre Eltern noch? 

Wo sind Sie denn hier? 

Wo waren Sie vordem? 

Waren Sie nicht einmal in W.? 3 ) 

Kennen Sie S.? 4 ) Sind Sie nicht 
auch in S. 4 ) gewesen? 

Ist dies Ihr Haus, in demSie wohnen? 

Wem gehört es denn? 

Wie viel Miethe zahlen Sie denn? 

Wo wohnt Ihre Tante? 

Lebt Ihre Matter noch? 

Lebt Ihr Vater noch? 

Haben Sie noch lebende Geschwister? 

Haben Sie noch eine Schwester oder 
einen Bruder? 

Das ist Ihr Bruder? Haben Sie denn 
einen Bruder? 

Was ist das, was Sie sich da aus- 
ziehen? (auf ein blaues Wollhemde 
deutend.) 

Die Jacke sieht aber sehr lang aus. 
Ist das wirklich eine Jacke. 

Wie viel Knöpfe haben Sie da an 
der Jacke? 

Na zählen Sie einmal. 

Wie viel Finger haben Sie denn an 
der Hand? 


Ich weiss nicht, ich hab’ immer 
Kopfschmerzen. 

23, im 24sten. ') 

Das weiss ich nicht. 

(Pause) Das weiss ich nicht. 

In M.') 

Weiss ich nicht. 

(Pause) In R. 2 ) 

Weiss ich nicht. 

Nein. — Das weiss ich nicht. 

Weiss ich nicht. 

Nein. Das ist nicht mein Haus. 
Meiner Grossmutter in D. 

Das weiss ich nicht. Das bezahlt 
alles meine Tante für mich. 

In Berlin. Die ist sehr reich. 

Weiss ich nicht. 

Das weiss ich nicht. 

(Keine Antwort.) 

Ist das nicht mein Bruder da? (aus 
dem Fenster auf eine Person auf dem 
Felde deutend.) 

Das weiss ich nicht. 


Jacke. 


Das ist eine Jacke. 

Weiss ich nicht. 

Dreizehn. (Nach kurzem Zaudern, 
ohne einzeln zu zählen.) 

Hundert. 


') Entspricht der Wahrheit. 

*) Name eines fast 2 Meilen entfernten Dorfes. 
*) Sein Wohnsitz zur Zeit des Diebstahls. 

4 ) Ort der Untersuchungshaft. 


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324 


Dr. H. Wiedemann, 


Wie heisaen Sie eigentlich? Weiss ich nicht. — Wischnewski.') 

Und mit Vornamen? Vornamen? Das weiss ich nicht. — 

Wischnewski. 

Die Frau des B. erklärte anf Befragen, dass ihr Mann von seiner jetzt ver¬ 
storbenen Matter als kleines Kind an fremde Leute abgegeben sei. Der Vater 
sei nicht bekannt, die Matter sei aach schwachsinnig oder geisteskrank gewesen. 
Geschwister existirten nicht. Ihr Mann sei erst aas S. krank zurückgekommen; 
vordem sei er ganz gesund gewesen. Er leide häufig an Krampfanfällen, während 
welcher er bewusstlos sei; nach denselben sei er dann immer auffällig schwach¬ 
sinnig. Auch gerathe er häufig, namentlich Naohts in Aufregung und reisse 
dann die Betten auseinander. 

Während sich so im Allgemeinen das Bild eines ziemlich aas¬ 
geprägten Schwachsinns darbot, welches dadurch noch ergänzt wurde, 
dass B. während der ganzen Dauer an derselben Stelle stehen blieb 
und in eigentümlich monotomem, nichtssagendem Tone sprach, mussten 
verschiedene Einzelheiten Verdacht erregen. Auffallend war zunächst 
der Unterschied zwischen dem letzten Sonnabend, an dem B. noch eine 
Geschäftsreise nach D. machen konnte, und dem in Rede stehenden 
darauffolgenden Montag, an dem eine so tiefe Demenz zu Tage trat. 
Auffallend war die häufige Wiederkehr der stereotypen Redensart: 
„das weiss ich nicht.“ Ein allmälig in die Leere des Blödsinns Ver¬ 
sinkender ist sich seines geistigen Schwächezustandes kaum so deut¬ 
lich bewusst, dass er darüber wiederholt Rechenschaft geben sollte. 
Er schweigt vielmehr oder giebt eben eine „blödsinnige“ Antwort, 
hilft sich aber nicht dauernd durch das Geständniss, dass er keinen 
Bescheid zu geben wisse. 

Hier ist zugleich wol der Ort, auf die Natur der etwa voraus¬ 
zusetzenden Psychose einzugehen. Die Ausbeute an ätiologischem 
Material ist minimal. Aus der Jugend des B. ist gar nichts bekannt. 
Die Mutter soll schwachsinnig gewesen sein nach Angabe ihrer Schwieger¬ 
tochter. Indessen will ich hier gleich bemerken, dass die Angaben der 
Frau einen nichts weniger als glaubwürdigen Eindruck auf mich ge¬ 
macht haben; sie schien wol volles Verständniss für die Bedeutsam¬ 
keit der Situation zu haben. Es bleibt sonach nur übrig, dass B. vor 
3 Monaten plötzlich aus der Untersuchungshaft als „an Wahnsinn 
leidend“ nach Hause gebracht worden ist. Nach Angabe der Frau 
ist er in der Haft köpf krank geworden: „er hat sich das so zuge- 


*) Ganz willkürlicher Name ohne jede Beziehung. 


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Beitrag zar Casuistik der Blödsinns-Simulation. 


325 


zogen, weil er doch unschuldig ist.“ Von sogenanntem „Gefangenen¬ 
wahnsinn“ kann hier indess wol nicht die Rede sein; denn es fehlen 
die melancholische Verstimmung, die hallucinatorischen Erscheinungen, 
die Wahnideen. Auch hätte die Krankheit aller Wahrscheinlichkeit nach 
durch eine Haft von nur wenigen Tagen nicht so bedeutend werden 
können, dass sie bei ihrer erfahrungsgemäss guten Prognose nicht in 
einem Vierteljahre verschwunden sein oder doch bedeutend gebessert 
hätte erscheinen müssen. Anders steht es mit der Frage, ob ein bis 
dahin latentes Seelenleiden durch die Haft zum Ausbruch gebracht sei. 
Spricht einerseits auch hier die Kürze der Haft sowohl, wie der doch 
kaum sehr deprimirende Eindruck gerade einer Untersuchungshaft 
auf einen Menschen so niederer socialer Stellung gegen eine solche 
Annahme, so tritt andererseits die Frage an uns heran, ob den Aus¬ 
sagen der Frau soweit Glauben zu schenken sei, dass ein epilepti¬ 
sches Leiden mit Wuthausbrüchen und Stupor-Anfällen anzunehmen sei. 
Indessen auch das Bild eines postepileptischen Stupor, d. h. Betäubung, 
ist nicht im Mindesten hier zu erkennen; dasselbe besteht vielmehr 
in vollständigem Schweigen, das wol mitunter „durch abrupte Aeusse- 
rungen eines vag-religiösen Deliriums unterbrochen“') wird. Auch eine 
Verwirrtheit, wie sie wol mitunter nach epileptischen Anfällen vor¬ 
kommt, ist in unserem Falle nicht zu erkennen. Die ziemlich un- 
motivirt in dem allgemeinen Auffassungs- und Erinnerungsdefekt her¬ 
vorspringenden Angaben über seine reiche Berliner Tante und seine 
Grossmutter in D., die vielleicht hier angezogen werden könnten, 
machen vielmehr einen überaus plumpen Eindruck, da sie eben in das 
Bild des sonst zur Erscheinung gebrachten Schwachsinns gar nicht 
hineingehören. Angeborener Schwachsinn ferner ist nach den eigenen 
Angaben der Frau ausgeschlossen; für erworbenen Blödsinn fehlt jeder 
Anhaltspunkt einer etwa voraufgegangenen psychischen Störung. Tiefe 
Melancholie oder schwere Tobsuchtsanfälle, die wol in terminalen Blöd¬ 
sinn endigen, sind in keiner Weise angegeben worden oder vorauszu¬ 
setzen. Vielmehr erzählte die Frau ausdrücklich, ihr Mann sei die 
ganzen drei Monate so gewesen wie jetzt. Auf die intercurrenten 
angeblichen Aufregungszustände mit Bettzerreissen u. s. w. scheint sie 
selbst als unbedeutend kein Gewicht zu legen. 

Passt sonach das oben geschilderte Krankheitsbild des B. in den 
Rahmen keiner einzigen Geisteskrankheit so recht hinein, so ist das 


*) Schüle, Geisteskrankheiten. 2. Aufl. S. 381. 


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326 


Dr. H. Wiedemann. 


noch immer kein zwingender Beweis für geistige Integrität und ab¬ 
sichtliche Täuschung. Mein Verdacht war allerdings hinlänglich erregt, 
zumal die Frau des B. ein gelegentliches Schmunzeln während meiner 
Auskultation nicht ganz unterdrücken konnte, und die Art und Weise 
ihres Eingehens auf meine Fragen durchaus den Eindruck eines be¬ 
gierigen Studiums der Symptomatologie psychischer Krankheit machte. 

Da ich in Erfahrung gebracht hatte, dass B. auf dem Bezirks- 
Amt S. ein oder mehrere polizeiliche Verhöre bestanden hatte, so 
wandte ich mich persönlich an Herrn Amtsvorsteheher D. und erfuhr 
von ihm und seinem Amtsschreiber, dass er auf Beide durchaus den 
Eindruck völliger Geistesklarheit gemacht hatte. Herr D. war so gütig, 
mich zu einem auf Montag, den 12. d. M., 11 Uhr Vormittags ange¬ 
setzten Termin einzuladen, an dem ich ungesehen einem mit B. durch 
Herrn D. anzustellenden Verhöre beiwohnen sollte. Der Erfolg war 
überzeugend. Die kurze Unterredung zwischen Herrn D. und ß., deren 
Inhalt ich füglich übergehen kann, lieferte den untrüglichen Beweis, 
dass B. wie jeder geistesgesunde Mensch über seine persönlichen Ver¬ 
hältnisse Rede zu stehen und die an ihn gestellten Fragen schnell 
und sicher zu beantworten weiss, prompter und präciser vielleicht 
als viele andere Menschen aus seiner Gesellschaftsklasse. B. hatte am 
5. d. M. offenbar simulirt. Ob er ausserdem thatsächlich an Epilepsie 
leidet, würde nur eine dauernde Beobachtung durch Sachverständige 
endgültig entscheiden können. 

Demnach formulire ich mein Gutachten dahin: 

Der Handelsmann Julius B. in C. ist zur Zeit nicht „an 

Wahnsinn“ krank. 


Die dann folgende weitere Entwickelung der Sache bestätigte die Diagnose 
auf Simulation. 6. wurde wieder zur Untersuchungshaft eingeliefert, gestand, 
wurde verurtheilt und verbüsste einige Wochen Gefängnisshaft. Er lebt noch 
heute als Instmann in C., und man hat nie wieder Etwas von Krämpfen oder 
geistiger Störung an ihm bemerkt. Im Gegentheil stellt ihm sein Gutsherr das 
Zeugniss aus. dass er einer der anstelligsten und schlauesten unter seinen 
Leuten sei. 


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7. 


Sind Draak and Beckmann geisteskrank! 

Offener Brief an Herrn Dr. Mendel in Berlin 

ron 

Dr. WalUehs in Altona. 


Sehr geehrter Herr Professor! 


Sie haben sich die Freiheit genommen, an zwei meiner gerichts¬ 
ärztlichen (ungedruckten) Gutachten eine Kritik zu üben, welche durch 
die Druckschriften eines gewissen Draak, auf dessen Geisteszustand 
sich das erste dieser Gutachten bezieht, an die Oeflfentlichkeit gelangt 
ist. Von diesen Druck- oder vielmehr Schmähschriften fährt die 
erste den Titel: „Eine Hetzjagd auf Menschen, oder: Wie man 
einen geistig völlig gesunden Menschen seines Geldes wegen und aus 
Rache ins Irrenhaus zu sperren versuchte und wie der Plan misslang.“ 
— Bei dieser Affaire sind betheiligt: die Aerzte Dr. Ebert und Dr. 
Heidemann in Wandsbeck, Dr. Wallichs in Altona, Geh. Med.-Rath 
Dr. Wolff in Berlin und Dr. Jessen in Hornheim, ferner acht 
Advokaten, unter diesen Wex in Hamburg, Hey mann in Altona etc., 
mehrere andere Amtspersonen und eine Menge falscher Zengen. — 
Zur Warnung des Publikums veröffentlicht. 

In diesem geschmackvollen Werk ist Ihres Gutachtens auf S. 19 
nun in der Weise Erwähnung gethan, dass Sie (mit anderen überein¬ 
stimmend) festgestellt hätten, „zu einer Untersuchung auf Geistes¬ 
krankheit habe medicinischerseits nicht die geringste Berechtigung 
Vorgelegen,“ und auf S. 9: „wonach bei mir (Draak) niemals auch 
nur eine Spur von Geisteskrankheit vorhanden gewesen sei.“ 
Ob dies wörtlich so ausgesprochen, ist mir allerdings bei der Zuver¬ 
lässigkeit und Wahrheitsliebe des Schriftstellers nicht ganz sicher, 
jedenfalls haben Sie ihn für geistig gesund erklärt. — Doch nicht 
dies Zeugniss hätte mich zu einer öffentlichen Aeusserung veranlasst. 
Ein zweites ist von Ihnen einem gewissen Beckmann ausgestellt, der 
von mir gleichfalls gerichtsärztlich begutachtet war, dessen Anfechtung 
der Entmündigung vom Landgericht verworfen ist, der dann auf An¬ 
ordnung des Oberlandesgerichts noch vom Provinzial-Medicinal-Colle- 


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Dr. Wallichs, 


gium gleichfalls persönlich untersucht und, wie von mir, zweifellos 
geisteskrank gefunden worden ist. Dieser Beckmann ist aus der 
Irrenanstalt entwichen, ist den Spuren Draak’s gefolgt, und hat 
gleichfalls das Glück, von Ihnen ein Zeugniss (vom 3. November 1885) 
zu besitzen, welches sich — ich darf annehmen, wörtlich — abgedruckt 
findet in einer andern (der dritten) Schmähschrift Draak’s, deren Titel 
nur darin verändert ist, dass an die Stelle der „Hetzjagd auf Men¬ 
schen“ moderne Menschenjagd getreten ist, und unter den Verschwö¬ 
rern noch der Amtsgerichtsrath Bähr und der (verstorbene) Land- 
gerichtsdirector Römer genannt sind. Die „fünfte Auflage“ davon 
ist natürlich in Berlin gedruckt. Ob es Ihrer Neigung zusagt, an 
solcher Stelle Ihre Auslassung abgedruckt zu finden? Jedenfalls 
werden Sie mir darnach die Berechtigung nicht bestreiten können, 
die Angriffe, welche Sie gegen meine amtliche Thätigkeit richten, 
einmal öffentlich abzuwehren, öffentlich sage ich, aber in einer Fach¬ 
schrift und nicht in einem Pamphlet. — Sollten Sie die Verantwortung 
dafür ablehnen wollen, dass Ihr Zeugniss an solcher Stelle steht, so 
erinnere ich Sie daran, dass Sie darauf völlig gefasst sein mussten, 
wenn Sie es dem Untersuchten in die Hand gaben. Sie kannten doch 
seine Beziehungen zu Draak. 

Von diesem letztgenannten Herrn muss ich jedoch den Lesern, 
denen der Gegenstand dieses Handels fremd ist, das zum Verständniss 
Nöthige berichten. Er ist im Jahre 1881 von mir gerichtsärztlich 
untersucht worden. Bei der Art des Mannes war die Aufgabe, die 
mir amtlich oblag, weder leicht noch angenehm. Die Sache zog sich 
lange hin, — es wurden noch andere Sachverständige befragt, so der 
Kreisphysicus Heidemann in Wandsbeck (durch ihn auch der Ober¬ 
arzt der Irrenanstalt Friedrichsberg Reye), das Provinzial-Medicinal- 
Collegium in Kiel (Ref. Jessen-Hornheim) auf Grund der Acten uud 
unserer Gutachten, endlich der Geh. Med.-Rath Wolff in Berlin, der 
gleichfalls ein ausführliches Gutachten abgegeben hat. Auf Grund 
aller dieser im Wesentlichen übereinstimmenden Urtheile wird Draak 
am 29. Juni 1883 entmündigt. Die Anfechtungsklage beim Land¬ 
gericht zog er vor dem entscheidenden Termin zurück, weil er (bezw. 
sein Anwalt und Vormund, der Rechtsanwalt Kaufmann in Berlin) 
deren Verwerfung voraussah. Er veröffentlichte nun — im November 
1884 — die Druckschrift, deren vollen Titel ich oben angegeben habe, 
welche die unglaublichsten Schmähungen und Schimpfworte, Ver¬ 
dächtigungen und Unwahrheiten enthält, und den Character des wahn- 


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Offener Brief an Herrn Dr. Mendel. 


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sinnigen Querulanten m. E. so zweifellos zu Tage treten lässt, dass 
selbst Sie, Herr Professor, doch, wie ich hoffe, an Ihrem mit leichtem 
Herzen abgegebenen Urtheil irre geworden sein müssen. Soll ich das 
noch näher nach weisen? Genügt der Titel nicht schon? Sechs Aerzte, 
acht Anwälte, eine Anzahl Richter, falsche Zeugen haben sich ver¬ 
schworen einen Menschen, der fast alle die genannten Personen nicht 
das geringste anging, ins Irrenhaus zu bringen! Aber ich will Ihnen 
noch weiter dienen, — nur vorher kurz meine Erzählung beenden. — 
Die „Hetzjagd“ ward in Hamburg-Altona, in nahem und weitem Um¬ 
kreise, in vielen tausend Exemplaren, verkauft, das grosse Publikum 
liebt ja den Skandal, und es musste an den Beschuldigungen wohl 
etwas wahr sein, hatten doch eine Reihe von Aerzten, darunter nam¬ 
hafte Berliner Professoren und Fachmänner, dem Verfasser bezeugt, 
dass er mit Unrecht für geisteskrank erklärt sei! — Was war da¬ 
gegen zu thun? — Es ist selbst für den durch allerlei Erfahrungen 
Abgehärteten nicht angenehm, seinen guten Namen so in den Koth 
der Presse gezerrt zu sehen. War der Thäter auch gering zu schätzen, 
— Sie und andere Collegen stützten ihn in etwas. — Die Behörden 
pflegen ja aus eignem Antrieb nicht gegen solchen Unfug einzu¬ 
schreiten. Ich stellte also Strafantrag gegen den Drucker und die 
Verbreiter der Broschüre, — der Verfasser stand als geisteskrank 
unter Vormundschaft, war deshalb nicht zu fassen. — Gedruckt ist 
sie in Berlin, verbreitet hauptsächlich in Hamburg. Ob in Berlin 
ein Verfahren gegen den Drucker eingeleitet ist bezw. Erfolg gehabt 
hat, ist mir noch jetzt nach einem Jahr nicht bekannt geworden, — 
in Hamburg sind die Verbreiter soeben zu je 20 Mark Geldstrafe 
verurtheilt! allerdings eine grosse Genugthuung! 

Inzwischen hat sich das Merkwürdige begeben, dass Draak — 
natürlich mit Zustimmung seines Vormunds und Anwalts — seinen 
Wohnsitz nach Stargard in Pommern verlegt hat und von dem dortigen 
Amtsgericht die Entmündigung unterm 9. Juni d. J. aufgehoben ist! 
Wunderliche Rechtszustände! — Nachher hat er nun zwei neue 
Pamphlete (das dritte habe ich schon oben erwähnt) drucken lassen, 
in denen eine stete Steigerung des gemeinsten Schimpfens bemerkens- 
werth ist. Aus diesen Producten will ich Ihnen jetzt einige Stil¬ 
proben und zugleich noch einige weitere Beweise dafür, dass Draak 
an Verfolgungswahn leidet, liefern. 

Intriguen der gemeinsten Art — aus Gewinnsucht und Rache — 
haben wir gegen ihn geübt. Er nennt uns „ehr- und gewissenlose 

Vierteljahnsohr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 2. 22 


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Dr. Wallichs, 

Menschen, nicht viel anders als eine organisirte Räuberbande,“ — 
unser Gutachten „schmutzig“. „W. ist und bleibt ein gemeingefähr¬ 
licher Mensch, der sogar im Stande ist, unschuldigen Leuten nach 
dem Leben zu trachten, wenn er die von ihm verübten Schurken¬ 
streiche damit decken kann.“ — Wolff und ich haben durch „vor 
Gericht eidlich falsch abgegebenes Zeugniss“ uns der Verläumdungen 
gegen ihn (Draak) schuldig gemacht, um seine Ueberführung in ein 
Irrenhaus zu erzielen und unsern gegen ihn verübten Schwindel damit 
zu decken. — »Wie weit diese ehr- und gewissenlossen Aerzte ihr 
schmutziges Handwerk treiben — — u. s. w.“ 

Alle diese Liebenswürdigkeiten werden mir gesagt, weil ich als 
öffentlich bestellter Sachverständiger mein motivirtes Gutachten un¬ 
parteiisch und gewissenhaft, wie ich eidlich verpflichtet bin, dahin 
abgegeben habe, dass Draak geisteskrank sei. — Dazu kommt noch, 
dass seine Handlungsweise gegen seine Frau, deren Verwandte, den 
Arzt auf solche Art die für ihn günstigste Auslegung erfuhr. Hätte 
ich ihn gesund gehalten, so wären wohl andere Massregeln gegen ihn 
in Anwendung gekommen. Motiv für mein Urtheil war dieser Umstand 
natürlich nicht. 

Nun habe ich Ihnen ausser dem Titel, den Schimpfworten, noch 
einige andere Beweise für Draak’s Geistesstörung aus seiner Broschüre 
zu bringen. Auf S. 5 findet sich folgender Passus: „Zu jener Zeit 
bewohnte ich in Ottensen ein Gartenhaus. Längere Zeit hindurch 
wurde dasselbe, wie meine Nachbarn mir mittheilten, fast Abend für 
Abend von Unbefugten umstellt; bald aber wurde mir klar, dass es 
auf einen directen Ueberfall gegen mich abgesehen war. Als ich 
nämlich eines Abends spät meinen Garten betrat — —, stellten sich 
mir mehrere mit dicken Stöcken bewaffnete Kerle entgegen, die — 
ferner auf S. 9: „Eine Intrigue nach der andern wurde gegen mich 
in Scene gesetzt, das Treiben artete schliesslich in eine wahre Ver- 
folgungswuth aus. Auf offner Strasse sogar versuchte man mit mir 
Streit anzufangen, mit Hohnreden wurde ich überschüttet, man wollte 

mich eben zu einer Thätlichkeit-provoziren u. s. w.“ — S. 15: 

„Eines Tages kam einer der rohesten Gesellen aus der Mitte meiner 
Gegner in belebter Strassengegend mit einem Gegenstand, wie es 
schien einem Messer, in der Hand auf mich zu und machte Miene, 
handgreiflich gegen mich zu werden — —. Drei andere haben mir, 
wie mir glaubwürdig mitgetheilt wurde, zwei Tage und zwei Nächte 
hintereinander aufgelauert — —.“ 


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Offener Brief an Herrn Dr. Mendel. 


331 


Damit mag es genug sein. Ich brauche kaum hinzuzufügen, dass 
von diesen angeblichen Nachstellungen und Angriffen kein Wort wahr 
ist, so wenig wie von dem Zusammenhang seiner Hamburger Processe 
mit der Entmündigung, wie von dem Ehebruch, den er seiner Frau 
vorwirft, dem Complott gegen ihn, kurz, von dem ganzen Inhalt seiner 
Schmähschrift von Anfang bis Ende. Ich habe diesen Dingen nahe 
genug gestanden, um ein Urtheil darüber zu besitzen, ich habe sämmt- 
liche Betheiligte gesehen, gehört, den gerichtlichen Verhandlungen 
beigewohnt, kurz, mich sehr lange und eingehend mit dieser uner¬ 
quicklichen Untersuchung beschäftigt, und Sie dürfen es mir glauben, 
ich stand ihr völlig unbefangen gegenüber. — Sie dagegen haben 
allein aus der trüben (Sie werden es einräumen müssen: sehr trüben) 
Quelle des Draak selbst geschöpft, dessen Angaben sammt und son¬ 
ders bewusste oder unbewusste Unwahrheiten sind, Delirien oder 
Phantasiegebilde. Zu Ihrer Ehie muss ich annehmen, dass Sie den 
Draak, wenn Sie seine Schriften gelesen haben, nicht mehr für geistes¬ 
gesund halten können, und von Ihrer Ehre fordere ich dann, dass Sie 
es einräumen. Weil Sie ihm ein unrichtiges Zeugniss 1 ) ausgestellt 
haben, sind Sie in gewissem Betracht mitschuldig an der skandalösen 
Verläumdung, die er gegen viele unbescholtene und angesehene Per¬ 
sonen verübt hat. — 

Es ist mir völlig unbegreiflich, dass Sie nach Einsammlung sol¬ 
cher Lorbeeren Ihre Dienste auch noch dem Gesinnungsgenossen und, 
wie es scheint, Freunde des Draak, dem Beckmann aus Eidelstedt, 
gewidmet haben. Meine Betheiligung an seinen Schicksalen ist wiederum 
genau dieselbe. Ich habe ihn als „berufener“ Gerichtsarzt untersucht, 
ihn häufig gesehen, seine Frau, seine Schwägerin, seine Schwieger¬ 
mutter, fast alle Zeugen in der Sache theils vorher, theils bei den 
Verhandlungen vor Gericht gesehen, befragt, ich habe in Eidelstedt, 
dem Wohnort des Entmündigten, Erkundigungen eingezogen, die Schrift¬ 
stücke geprüft, und endlich nach reiflicher Ueberlegung mein gewissen¬ 
haftes Urtheil dahin abgegeben, dass Beckmann geisteskrank sei. 
Auch hier wieder — der Fall ist dem des Draak in mancher Be¬ 
ziehung analog — musste diese Auffassung in moralischer Beziehung 
als die dem Beckmann günstigste erscheinen 2 ). — Sie dagegen haben 


') „Nie sei auch nur eine Spur ron Geisteskrankheit an ihm vorhanden 
gewesen?“ 

*) In dem Erkenntniss des Landgerichts vom 10. März v. J. heisst es: „Es darf 
nicht unerwähnt bleiben, dass einzelne der Handlungen des Klägers, wenn sie von 

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Dr. Wallichs, 


wiederum nur aus der trüben (sehr trüben) Quelle der eignen An¬ 
gaben Beckmann’s geschöpft. Auch bei ihm ist es schwer zu trennen, 
was er mit Bewusstsein, was mit gutem Glauben Falsches aussagt. 
Aber unwahr ist er gleichfalls durch und durch. Auch über seinen 
Geisteszustand stehe ich mit meinem Urtheil nicht allein. Zu den 
Unwahrheiten darf ich auch wohl rechnen, dass Jemand wichtige 
Dinge verschweigt. So hat Ihnen Beckmann verschwiegen, dass seine 
Berufung gegen die Entmündigung verworfen ist, dass er von dem 
Provinzial-Medicinal-Collegium in Kiel, dessen Mitglieder ihn untersucht 
haben, mit grosser Entschiedenheit für geisteskrank erklärt worden ist. 
Damit könnte ich schon zufrieden sein, — allein ich hoffe, Ihnen 
auch in diesem Fall den Nachweis zu liefern, dass Sie wiederum sich 
geirrt haben, als Sie Beckmann für geistesgesund erklärten. Zwar 
bin ich nicht ausserordentlicher Professor der Psychiatrie und eben¬ 
sowenig „eine der ersten forensisch-psychiatrischen Autoritäten der 
Gegenwart“, wofür Herr A. Eulenburg, der gleichfalls Draak so¬ 
wohl wie Beckmann geistige Gesundheit bezeugt hat, Sie hält, aber 
ich habe doch auch einige Erfahrung in Beurtheilung von Geistes¬ 
zuständen, habe hunderte von Gutachten darüber erstattet, davon 
manche sehr schwieriger Art, die durch alle Instanzen gegangen sind, 
und habe bisher niemals darin geirrt. Keineswegs bin ich aber so 
thöricht, mich für „unfehlbar“ zu halten, wie in einer Anmerkung 
zu Ihrem Gutachten vom 3. November 1885 mir vorgeworfen wird. 
Wenn ich von „unberufenen“ Attestausstellern gesprochen habe, so ist 
selbstverständlich damit nur der Gegensatz zwischen dem amtlich dazu 
berufenen Beurtheiler und dem Privatarzt, der auf Wunsch und gegen 
Bezahlung des Betreffenden ihm bescheinigt, dass er geistesgesund sei, 
gemeint, und nur eine übelwollende Auslegung kann etwas anderes 
darin finden. Noch möchte ich bei dieser Gelegenheit bemerken, dass 
mein „Verrücktmachungssystem“ (Draak) doch mehrfach solche Leute, 
die geisteskrank zu sein Vorgaben oder Geisteskrankheit simulirten, 
als gesund bezw. als Simulanten hat erkennen lassen. 

Gern würde ich meine Gutachten in beiden Sachen wörtlich ab- 
drucken lassen und damit dem öffentlichen Urtheil unterbreiten, aber 
ich habe nach der Minist.-Verf. vom 13. März 1822 nicht das Recht 


einem zurechnungsfähigen Individuum begangen waren, unter das Strafgesetz fallen 
würden.“ Als solche Handlungen werden dann „mehrfache Verleitung zum Meineid“ 
und „falsche Denunciation“ bezeichnet 


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Offener Brief an Herrn Dr. Mendel. 


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dazu, und muss mich daher begnügen, die Stellen, welche Sie (in 
Ihrem Attest) zusammenhangslos herausgerissen und kritisirt haben, 
zu vertheidigen. Es ist bekanntlich nicht schwierig, in solcher Weise 
Kritik zu üben. 

Zunächst soll ich also mein Urtheil — ich komme auf die Nutz¬ 
anwendung zurück — abgegeben haben ohne selbst im Stande zu sein, 
aus eigner Wahrnehmung, aus selbstständigem Befund von Wahn¬ 
vorstellungen u. s. w. die bestehende Krankheit nachzuweisen. — Nun, 
Sie sind in diesom Stück schwer zu befriedigen, wenigstens von mir. 
Andere Psychiater werden, denke ich, aus meinem Beweismaterial 
andere Schlüsse ziehen. — Beckmann hält sich für verfolgt, von 
einem Complott') umgarnt, man sucht mit ihm Streit, seine Nachbarn 
kränken ihn und legen falsches Zeugniss gegen ihn ab, seine nächsten 
Angehörigen weigern sich, zu seinen Gunsten die Wahrheit auszu¬ 
sagen, seine Frau, die Mädchen bestehlen ihn, verschleppen Gegen¬ 
stände in das Haus der Schwiegermutter, die Zeugen in seinen Pro¬ 
cessen, die zu seinen Ungunsten aussagen, sind meineidig, die Richter 
urtheilen parteiisch und ungerecht, — er selbst ist friedfertig u. s. w. 
— Wenn nun durch beeidigte Zeugenaussagen vor Gericht nachgewie¬ 
sen ist, dass das grade Gegentheil von all diesem die Wahrheit ist, 
hat dann Beckmann Wahnvorstellungen oder nicht? und habe ich sie 
damit nicht nachgewiesen 2 )? In einem Stück habe ich mich freilich 
nicht correct ausgedrückt, das muss ich Ihnen einräumen. Ich habe 
erklärt, dass Beckmann sehr viel Selbstbeherrschung gegenüber dem 
untersuchenden Arzte besitzt, dass er die tollen Ausbrüche seiner 
leidenschaftlichen Empfindung unterdrückt, und dass er seine Wahn¬ 
ideen „wenn er deren hat“ nicht hervorkehrt, sondern zu verbergen 
sucht. — Ich hätte sagen sollen, statt „wenn er deren hat“, welche 
er hegt. Ich war aber zu vorsichtig, — denn ich habe ja zur 
Genüge nachgewiesen, dass er falsche Vorstellungen hat. — Ich setzte 
in der That nicht voraus, dass auch dies mein gerichtsärztliches Gut- 


*) Landgericht. Erkenntniss: „Der Wahn, dass ein Complott gegen ihn ge¬ 
schmiedet sei, ist das Axiom, von welchem alle seine Gedanken aasgehen. Seine 
Schwägerin, die Anstifterin, gilt ihm als die grösste Verbreoherin des Jahrhunderts, 
seine Frau ist wahnsinnig, die Zeugen bestochen." 

*) Erwähnen will ich noch, dass Beckmann eine Menge Postkarten mit den 
tollsten Anschuldigungen gegen den Rechtsanwalt seiner Frau, diese selbst, seine 
Schwägerin in die Welt geschickt hat. — Ueberhaupt ist Obiges nur eine Probe 
aus der Fülle des Beweismaterials. 


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Dr. Wallichs, 


achten unter Ihr Secirmesser gelangen würde, und ich bin doch ganz 
zufrieden, dass Sie nicht schlimmere Ausstellungen zu erheben ver¬ 
mochten. Allerdings haben Sie noch einige Zweifel an thatsächlichen 
Verhältnissen, aber auch mit denen haben Sie kein Glück. Sie haben 
doch zu viel Zutrauen in Beckmann’s Wahrheitsliebe gesetzt. 

Sie wollen nicht zugeben, dass seine Streit- und Processsucht 
notorisch sei. Ich lasse die Entscheidungsgründe des Landgerichts, 
das doch wohl ein Urtheil darüber haben kann, reden: „Der Versuch 
des Klägers, die Annahmen des Königlichen Amtsgerichts über seine 
Streit- und Processlust zu widerlegen, muss als verfehlt betrachtet 
werden. Es kommt hier nicht so sehr die Zahl der Streitsachen und 
bezw. der Ausgang der einzelnen Processe und Privatklagesachen als 
vielmehr der Umstand in Betracht, dass die Streitigkeiten nach dem 
Zeugniss seiner Umgebung während der letzten Jahre fast den aus¬ 
schliesslichen Inhalt seines geistigen Lebens bildeten.“ 
Dies wird noch weiter ausgeführt. 

Ferner: Beckmann bestreitet, was ich berichtet hatte, dass er in 
einem Sühnetermin bei dem Pastor Rohde nicht erschienen sei. Auf 
Ihre Erkundigung hat der genannte Pastor erwidert, er erinnere sich 
dessen nicht genau, B. sei wohl einmal zu späterer Zeit gekommen. 
Damit wollen Sie darthun, dass meine Behauptung, die sich auf eine 
sehr positive und durchaus glaubwürdige Aussage der Ehefrau Beck- 
mann’s gründet, nicht erwiesen sei! Das ist doch zu naiv, mehr als 
naiv! An sich ist die Sache ja unwichtig, aber sie wirft auf Ihre 
Taktik kein gutes Licht. 

Nicht besser steht es mit dem Bestreiten des Schimpfens auf 
Vorübergehende. Sie haben sich wieder die Mühe gegeben, an den 
Oberstabsarzt Dr. Becker deswegen zu schreiben. Er gehört zu der 
Serie von Aerzten, die Draak und Beckmann Gesundheitszeugnisse 
ausgestellt haben. Nach seinen Erfahrungen war in Eidelstedt nichts 
darüber bekannt. — Das glaube ich gern. Hören wir aus dem Er¬ 
kenntnis des Landgerichts die beeidigten Zeugenaussagen. „Während 
derselben Zeit (es war von Beschimpfungen und Misshandlungen der 
Hausgenossen die Rede, von förmlichen Wuthanfällen, bei denen ihm 
der Schaum vor den Mund trat) konnte Kläger nicht unterlassen, 
vorübergehende ihm völlig fremde Personen durch höhnende oder doch 
neckende Zurufe zu reizen (die einzelnen, z. Th. kindischen Ausdrücke 
sind nicht in das Protokoll aufgenommen).“ 

Genügt Ihnen dies, Herr Professor, um Ihren Glauben an Beck- 


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Offener Brief an Herrn Dr. Mendel. 


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mann wankend zu machen? Soll ich Ihnen noch über die Summen, 
welche das Prozessiren gekostet, über die erbliche Belastung Nachweise 
bringen? Ich denke, wir verzichten darauf, um noch ein Wort über 
die Form der Krankheit anzufügen. Sie meinen vorübergehende 
maniakalische Erregung (wenn überhaupt), nicht Verfolgungswahn. 
Ich aber meine beides, Eines schliesst ja das Andere nicht aus, — 
Beckmann leidet an fixirten Wahnvorstellungen, — ich könnte auch 
der Systematik des Herrn Prof. Eulonburg den Gefallen thun zu 
sagen: an Paranoia, — sogen. Verfolgungswahn; und diese meine An¬ 
sicht glaube ich mit guten Gründen gestützt zu haben. Vielleicht 
interessirt Sie noch ein Satz aus dem öfter angezogenen Erkenntniss: 
„Auch eine Neigung des Klägers zu Gewaltthätigkeiten muss als 
erwiesen angesehen werden. Kläger hat bereits mehrfach erhebliche 
Misshandlungen begangen und erscheint die Besorgniss begründet, dass 
er sich zu noch schwereren Gewaltthaten fortreissen lassen wird!“ 

Und nun wiederhole ich einen Satz aus meinem Gutachten, der 
Sie unangenehm berührt hat: „Es würde allerdings möglich sein, dass 
ein Arzt, der sich herbeilässt über den Geisteszustand Jemandes nur 
nach dem persönlichen Eindruck, also ohne Kenntniss seines Vorlebens 
und etwa actenmässig ermittelter Vorgänge, zu urtheilen, und der dies 
in Beckmann’s Fall thäte, denselben für gesund erklärt, und zwar 
auch ein solcher, der auf dem Gebiet der Psychiatrie nicht unerfahren 
ist. Ich halte es aber auch nicht für zulässig, nicht für Sache eines 
gewissenhaften Arztes, ein derartiges Urtheil, zumal ein unberufenes, 
wie es in dem dem Königlichen Amtsgericht wohlbekannten Fall 
Draak’s mehrfach geschehen ist, ohne genaue Kenntniss des Voran¬ 
gegangenen zu fällen.“ 

Dass meine Anschauung über diesen Punkt durch die nun in der 
That auch in dem Beckmann’schen Fall gemachte überraschende Er¬ 
fahrung sich nicht geändert hat, brauche ich wohl nicht erst zu ver¬ 
sichern. Es sind auch zu mir oft Leute gekommen, die z. B. in 
Hamburg entmündigt waren und haben mich um Untersuchung ihres 
Geisteszustandes gebeten. Ich habe eine solche stets abgelehnt, nicht 
allein wegen der Schwierigkeit, die in vorstehendem Absatz ausge¬ 
drückt ist, sondern ebenso sehr wegen der üblen Verwicklungen, die 
aus derartigen „unberufenen“ Attestirungen hervorzugehen pflegen. Es 
stehen dem Entmündigten ja die Instanzenwege offen, und Sache der 
Gerichte ist, Sachverständige, ja ganze Collegien von Experten mit 
derartigen Untersuchungen zu beauftragen. Vorkommnisse, wie die- 


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Dr. Wallichs, 


jenigen, zu denen Sie und eine Reihe anderer Aerzte jetzt mitgewirkt 
haben — es sind deren mir auch aus früherer Zeit erinnerlich —, 
schädigen das öffentliche Interesse und schädigen den ärztlichen Stand. 
Sollten Sie die Rolle eines Ritters der Unterdrückten in Anspruch 
nehmen, so sehen Sie sich doch Ihre Schützlinge einmal näher nach 
der Seite an. 

Ein Antrag auf Entmündigung pflegt nicht gestellt, noch weniger 
eine solche verhängt zu werden, wenn nicht dringende Gründe sie 
erfordern. Nicht weil Jemand geisteskrank ist, wird er unter Vor¬ 
mundschaft gestellt, sondern wenn er als Geisteskranker Störungen 
verursacht, sein Vermögen verbringt, gemeingefährlich ist u. s. w. 
Draak verläumdete ehrenwerthe Personen, misshandelte seine Frau 
und liess sie darben; Beckmann desgleichen, vernachlässigte überdies 
seinen Besitz, wollte mit seinen Werthpapieren nach Amerika ent¬ 
weichen u. s. w., — deshalb stellten beide Ehefrauen, und wie stets 
in solchen Fällen erst nach langem Dulden und Zögern, den Antrag 
auf Entmündigung, — beide nur mit allzu viel Grund. 

Ueber diese Angelegenheiten, die in ähnlicher Weise nur allzu 
oft Vorkommen und die ein öffentliches Interesse an sich nicht haben, 
ist durch die Draak’schen Schandschriften natürlich auch in den Press¬ 
organen niederster Gattung viel Lärm gemacht worden. Ganze Stösse 
derselben mit wohlwollenden Aeusserungen über meine Thätigkeit sind 
mir in’s Haus geschickt, — von Postkarten und Briefen mit Drohungen 
und anderen Bosheiten nicht zu reden. Heftige Angriffe sind dabei 
auch gegen das Gerichtsverfahren gerichtet worden, durch welches 
einem Einzelrichter und einem Medicinalbeamten so gefährliche Macht 
in die Hände gelegt werde. Ich bin nun freilich auch kein besonderer 
Verehrer des für unsere Provinz neuen Entmündigungsverfahrens, und 
schliesse aus meinen Erfahrungen, dass unser früheres besser war, — 
aber jene Besorgniss ist durchaus unbegründet. Aus den vorstehenden 
Mittheilungen geht zur Genüge hervor, dass diejenigen, welche glauben, 
dass ihnen Unrecht geschieht, Gelegenheit genug haben, sich dagegen 
zu wehren, und dass gerade in den beiden fraglichen Fällen eine 
ganze Anzahl Sachverständiger gehört worden sind. 

Sehr mangelhaft erscheint mir dagegen die Einrichtung, dass ein 
Entmündigter, wenn sein Vormund ihm dabei behülflich ist und das 
Vormundschaftsgericht ihn gewähren lässt, sich ein Gericht auswählen 
kann, von dem er einen ihm günstigen Spruch erwartet; oder dass, 
wenn ein gemeingefährlicher Geisteskranker entweicht oder in anderer 


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Offener Brief an Herrn Dr. Mendel. 


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Weise Unheil anrichtet, das Vormundschaftsgericht nicht den Vormund 
zur Ergreifung von Sicherungsmassregeln zwingt. Ich habe, als Draak 
seine Schmähschriften zu veröffentlichen anfing, in denen er nicht 
allein mich, sondern eine Menge angesehener Personen verunglimpfte, 
wiederholte Eingaben an das zuständige Berliner Amtsgericht abge¬ 
sandt, es möge den Vormund anhalten, den Draak in irgend einer 
Weise von diesem gemeinschädlichen Treiben abzuhalten, oder einen 
anderen Vormund bestellen, aber — nichts erreicht. Beckmann ist 
aus einer Irrenanstalt entwichen, und hat, ebenso wie Draak, und 
noch ein dritter wahnsinniger Querulant — es scheint System in der 
Sache zu sein — bei dem Herrn Cultusminister eine Schrift mit einer 
Reihe von ärztlichen Attesten über seine geistige Gesundheit einge¬ 
reicht, worin dieselben bitten, man möge mich vom Amte entfernen, 
Disciplinaruntersuchung gegen mich einleiten, auch auf meinen Geistes¬ 
zustand untersuchen lassen u. s. w. — Mich wundert nur, dass nicht 
gleich Sie, Herr Professor, und Ihr College Eulenburg als Sach¬ 
verständige dazu in Vorschlag gebracht sind. 

Und nun zum Schluss will ich Ihnen noch den Grund sagen, 
warum ich diesen Brief an Sie gerichtet habe. Es wird Ihnen viel¬ 
leicht nicht darum zu thun sein, ihn zu hören, aber das ist wiederum 
kein Motiv für mich, ihn zu verschweigen: Von den zahlreichen Attest¬ 
ausstellern in den „Affairen Draak und Beckmann“ waren Sie nach 
dem, was ich von Ihnen wusste und auch von Anderen hörte, am 
meisten ernsthaft zu nehmen, und ich habe von Collegen, auch Ihres 
Spezialfaches, vielfach Verwunderung darüber äussern hören, dass Sie 
in dieser Schaar sich fanden. — 

Wenn ich diesen Brief nicht sine ira geschrieben habe, so war 
das nach dem Anlass desselben wohl nicht anders möglich, doch hoffe 
ich, die Grenzen einer anständigen und zulässigen Polemik nicht über¬ 
schritten und, wie es meine Absicht war, den Gegenstand sachlich, 
nicht persönlich behandelt zu haben. 

Im November vorigen Jahres gelangte das in dem Draak'schen Pamphlet 
„Moderne Hetzjagd“, 5te Aufl. (?), abgedruckte Gutachten des Herrn Professor 
Mendel zu meiner Kenntniss. Mitte December habe ich die obige Abwehr eines 
Angriffs auf meine gerichtsärztliche Thätigkeit an den Herrn Herausgeber dieser 
Zeitschrift gelangen lassen, doch konnte sie erst im Aprilheft gedruckt werden. 
Das Recht auf eine derartige öffentliche Vertheidigung wird man mir zugestehen 
müssen, insbesondere nachdem ich ein Jahr lang geschwiegen und den zweiten 
eclatanten Fall abgewartet habe. W. 


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8 . 


Offene Antwort 

auf den offenen Brief des Herrn Dr. Wallichs in Altona 

von 

Dr. B. Hendel in Berlin. 


Sehr geehrter Herr Kreisphysikus! 

Ob die am Schlüsse Ihres offnen Briefes ausgesprochene Hoffnung 
in Erfüllung gegangen ist, darüber mögen die Leser entscheiden. Ich 
selbst bekenne offen, dass ich von sachlicher Kritik sehr wenig, um 
so mehr persönliche Angriffe gefunden habe. Sie brauchen nicht zu 
fürchten, dass ich in dem von Ihnen angeschlagenen Tone antworten 
werde. 

Vorerst muss ich jedoch das Compliment, das Sie mir anschei¬ 
nend machen wollen, in dem Sie mich „am meisten ernsthaft“ unter 
der „Schaar“ der „Attestaussteller“ nehmen, im Interesse meiner 
Collegen zurückweisen. 

Wenn es auch erklärlich ist, dass derjenige, der ausschliesslich 
ein Specialfach betreibt, in diesem Specialfach besonders bewandert 
ist, und ich dies für mich in Bezug auf die Psychiatrie in Anspruch 
nehme, so habe ich doch nie gemeint, dass, so oft ich auch im 
Dissens mit Collegen war, diese ihre divergirende Ansicht und gerichts¬ 
ärztlichen Gutachten nicht ernsthaft genommen hätten. 

Ihnen aber muss ich vor Allem den Vorwurf machen, dass Sie 
mit Ihrem Briefe nicht so vorsichtig zu Werke gegangen sind, wie es 
Ihr Beruf, Ihre Stellung und der versuchte Angriff erfordert hätten. 

Sie halten den Draak für einen Geisteskranken, Sie geben an, 
„dass seine Angaben sammt und sonders bewusste oder unbewusste 
Unwahrheiten sind, Delirien oder Phantasiegebilde,“ trotzdem nehmen 
Sie als im Wesentlichen richtig an, was er über mich geschrieben, 
donn wozu sonst Ihre langen Ausführungen über seine Schmähschriften? 
Ich soll erklärt haben, dass bei Draak zu einer Untersuchung auf 
Geisteskrankheit nicht die geringste Berechtigung Vorgelegen, dass 
niemals eine Spur von Geisteskrankheit bei ihm vorhanden gewesen sei. 

Davon ist nun kein Wort wahr. 


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Offene Antwort auf den offenen Brief des Herrn Dr. Wallichs. 339 


Ich habe nach ca. 6 wöchentlicher Beobachtung des Draak, der 
im Sommer in Pankow in meiner nächsten Nähe bei einer Familie 
wohnte, von der ich speciell noch fast täglich Erkundigungen einzog, 
bescheinigt, dass er zurZeit meiner Beobachtung keine krank¬ 
hafte Störung der Geistesthätigkeit gezeigt habe. 

Sie behaupten, Draak war auch damals geisteskrank; dies sei 
durch seine Schmähschrift bewiesen. Ich habe dieselbe nicht gelesen, 
auch kein Verlangen danach, sie kennen zu lernen. Die weit aus¬ 
gedehnten Proben in Ihrem Briefe genügen mir. Aber Sie irren, 
wenn Sie glauben, dass Draak dieselbe verfasst. Die Worte „Hetzjagd, 
Menschenjagd“ u. s. w. finden sich wörtlich in einer gegen mich ge¬ 
richteten Schmähschrift, aus dem Anfang der 70er Jahre; dieselbe ist 
zu Wahlzwecken von den Anhängern einer gegnerischen politischen 
Partei, die Sie sicher nicht für geisteskrank erklären würden, 1878 
neu aufgelegt worden. Die Fabrik dieser Schriften ist hier in Berlin. 

Es würde zuerst zu untersuchen sein, wie sich Draak zu dem 
Inhalt der Schmähschrift stellt, mir gegenüber hat er sich — auch 
hierauf lege ich aber keinen grossen Werth — über Sie ganz anders und 
zwar objectiv ausgesprochen. Aus der Schrift, die Draak nicht verfasst 
hat, kann also eine Entscheidung darüber nicht getroffen werden, ob 
derselbe geisteskrank war, es wäre leichtfertig von mir gehandelt, 
wenn ich Ihrem Verlangen nachgeben und lediglich daraufhin zugeben 
würde, dass ich mich geirrt und dass Draak auch zur Zeit meiner 
Beobachtung geisteskrank war. Ich würde mich aber schon des¬ 
wegen hüten, den Draak jetzt für geisteskrank zu erklären, da ja am 
9. Juni 1885, wie Sie angeben, die Entmündigung über ihn aufgehoben 
ist. Durch meine „unberufene“ Erklärung würde ich dann wieder, wie 
mit Ihnen, in Conflict mit dem „berufenen“ Arzte kommen, auf dessen 
Urtheil hin das Gericht Draak für geistesgesund erklärt hat. l ) 

Ihre Ausführungen in Bezug auf Draak beruhen demnach, soweit 
Sie mich betreffen, zum grössten Theil auf irrigen Voraussetzungen über 
angeblich von mir geschehene Aeusserungen, wobei ich annehme, dass 
Sie mir die Competenz (§. 597) und die Fähigkeit nicht absprechen, 


*) Ihre Auffassung von „berufenen“ und „unberufenen“ Aerzten beruht auf 
einer mangelhaften Kenntniss des Wesens des Civilprozesses, den Sic, wie ich schon 
in meinem Gutachten ausführte, mit dem Strafprozess verwechseln. Zur Belehrung 
über den Unterschied diene der Vergleich des §. 73 der Strafprozessordnung mit 
dem §. 597, resp. 617 der Civilprozessordnung. 


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Dr. E. Mendel, 


ein Zeugniss für die Zeit meiner Beobachtung über Gesundheit oder 
Krankheit des Beobachteten auszustellen. 

Demnach ist auch der erste Satz Ihres Briefes, dass ich an zwei 
Ihrer gerichtsärztlichen Gutachten Kritik geübt habe, unrichtig. 

Ganz anders liegt die Sache mit Beckmann. 

Vorerst hier die Richtigstellung einiger Irrthümer, die Ihnen 
auch hier untergelaufen sind. Es ist vor Allem nicht richtig, wie Sie 
behaupten, dass ich lediglich „aus der trüben Quelle der eignen 
Angaben des Beckmann geschöpft.“ Bei Abfassung meines Gutachtens 
haben mir Vorgelegen: 

1) Beglaubigte Abschrift des Beschlusses in Betreff des Entmün¬ 
digungsverfahrens gegen Beckmann des Amtsgerichts, Abthlg. II. 
Altona, vom 15. November 1884. 

2) Die Klage gegen die Kgl. Staatsanwaltschaft. 

3) Eine Reihe von Zeugnissen von Bekannten des pp. Beckmann. 

4) Eine Reihe von Attesten verschiedener Aerzte, welche die 
geistige Gesundheit des pp. Beckmann constatiren. 

5) Ein ausführlicher, auf mein Ersuchen mir erstatteter Bericht 
des Herrn Oberstabsarztes Dr. Becker. 

6) Ein auf mein Ersuchen von Herrn Pastor Rhode gegebener 
Bescheid. 

7) Vor Allem aber Ihr eigenes, sehr umfangreiches motivirtes 
Gutachten. 

Gerade das letztere war es, das mich durch den Passus, den Sie 
selbst in Ihrem Briefe citiren, und der im Wesentlichen darin gipfelt, 
dass Sie diejenigen, die in dem Fall Draak ein anderes Urtheil, als 
Sie, abgaben, nicht für „gewissenhafte Aerzte“ hielten, veranlasste, 
Ihr eignes Gutachten auf das Sorgfältigste zu prüfen. Sie mögen nun 
sagen, was Sie wollen, hübsch, collegial ist es nicht, solch’ schwere 
Verdächtigungen auszusprechen, zumal an einer Stelle, an der die 
Angeschuldigten gar nicht zu Worte kommen können. 

Durch Ihre Vertheidigung in Ihrem Briefe wird die Sache nicht 
besser, und wenn ich mich nicht überzeugt hätte, dass Sie — Sie 
nehmen mir dies nicht übel, man kann ja in der Medicin nicht überall 
zu Hause sein — in der Literatur der Psychiatrie nicht allzu bewan¬ 
dert sind, so könnte ich in Ihrer Bezeichnung: „Ritter der Unter¬ 
drückten“ eine Anspielung für mich auf jenen geisteskranken Querulan¬ 
ten Bayerns finden, der einen Verein der Unterdrückten gründete und 
dem Könige Mittheilung von der Gründung machte, und würde dann 


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Offene Antwort auf den offenen Brief des Herrn Dr. Wallichs. 


341 


vorsichtigerweise Ihren Gerichtssprengel in Zukunft sorgfältig zu 
meiden haben. 

Ihr Gutachten bringt nicht den Beweis, dass Sie selbst an dem 
p. Beckmann Wahnvorstellungen haben nachweisen können, nur den, 
dass die Aussagen Beckmann’s denen einer Anzahl von Zeugen, vor 
Allem denen seiner Frau, seiner Schwägerin, seiner Schwiegermutter, 
seiner Dienstmädchen widersprechen, und Sie haben vollständig Recht, 
wenn Sie in Ihrem Gutachten sagen: „Immerhin, sofern er Wahn¬ 
vorstellungen hat, beherrscht er sie einigermassen, und es gelingt nicht, 
ihn zum Ausdruck derselben, ausser etwa in dem Uebelreden von an¬ 
deren Menschen zu bringen.“ 

Das ist der cardinale Vorwurf, den ich Ihnen mache, 
dass Sie den p. Beckmann für geisteskrank erklärt haben, 
indem Sie sich lediglich auf Zeugenaussagen beriefen. Dies 
ist im Entmündigungsverfahren, in dem es sich um Gegenwart und 
Zukunft handelt, durchaus unzulässig; ist man nicht im Stande, die 
Wahnvorstellungen oder die geistige Schwäche u. s. w. bei dem Kranken 
selbständig — ja ohne Anamnese, Zeugen u. s. w. — festzustellen, 
vermuthet aber doch die Krankheit, dann prorogire man; aber im 
Gegensatz zu dem Verfahren im Strafprozess, in dem in erster Reihe 
die „Zeit der Begehung der Handlung“, die Vergangenheit in Betracht 
kommt, die durch Zeugenaussagen aufgeklärt werden muss, darf im 
Entmündigungsverfahren das Vernehmen von Zeugen nur eine unter¬ 
geordnete Rolle spielen; sie können eine durch die Untersuchung ge¬ 
wonnene Ueberzeugung stützen, nie darf ein wissenschaftliches Gut¬ 
achten in der Weise von den Zeugenaussagen ausgehen, wie es in 
dem Ihrigen der Fall ist. 

Aber auch Ihre Zeugen selbst sind nicht einwandsfrei; ich will 
nicht die moralische Seite erörtern, inwieweit die Frau berechtigt war, 
dem Manne das Geld wegzunehmen, ich will nicht auf die Lehre von 
der Schwiegermutter, die hierbei auch in Betracht zu ziehen wäre, 
eingehen, thatsächlich hat aber die Königl. Staatsanwaltschaft selbst 
in der Berufungsinstanz Ihre Erhebungen bemängelt, indem sie (Er¬ 
kenntnis der 2. Civilkammer des Königl. Landgerichts zu Altona, 
d. d. 9. 3. 85.) anheimgab, „eine theilweise Erneuerung der vor dem 
Amtsgericht stattgehabten Beweiserhebung, weil von den vernommenen 
Zeugen mehrere nicht vereidigt sind, und weil der Sachverständige 
(d. h. Sie) Thaturastände bei seiner Begutachtung berück¬ 
sichtigt hat, welche nur auf seinen Erkundigungen bei 


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Dr. E. Mendel, 


dritten als Zeugen nicht gerichtlich vernommenen Personen 
beruhen.“ 

Hätten Sie, wozu Sie meiner Ansicht nach verpflichtet waren, 
auf Grund eigener Wahrnehmung die Geisteskrankheit nachgewiesen, 
dann wäre die Vernehmung der Zeugen überhaupt unerheblich gewesen. 

Das einzig Thatsächliche, was ich in dieser Beziehung in Ihrem 
Gutachten finde, ist Folgendes: „Sein (Beckmann’s) Aeusseres macht 

einen recht unerfreulichen Eindruck-. Der Ausdruck seiner Züge 

ist trotz seiner mir bekundeten Höflichkeit ein unangenehmer; die 
letztere hat zu viel Absichtlichkeit.“ Sie werden mir zugeben, dass 
dies wissenschaftliche Angaben nicht sind, vielmehr handelt es sich 
hier um Geschmackssachen. 

Die Angaben Ihrer Zeugen werden übrigens zum Theil durch 
Angaben Anderer widerlegt, wie ich dies aus den Briefen von Herrn 
Pastor Roh de und Herrn Oberstabsarzt Dr. Becker nachweisen kann. 

Sie sagen aber in Ihrem Briefe, Sie hätten „zur Genüge nach¬ 
gewiesen, dass er (Beckmann) falsche Vorstellungen hat.“ Sie be¬ 
kunden damit, dass Ihnen nicht vollständig klar ist, worauf es über¬ 
haupt ankommt. Nicht darauf kommt es an, dass B. falsche Vor¬ 
stellungen hat, sondern dass er Wahnvorstellungen hat. Der Unter¬ 
schied zwischen beiden gehört zu den elementaren Dingen in der 
Psychiatrie: Es kann Jemand bei gesundem Geist massenhaft falsche 
Vorstellungen haben. Wären die falschen Vorstellungen entscheidend, 
würde kaum Jemand sich finden, den man nicht unter Curatel stellen 
könnte. 

Während diese falsche Vorstellung Ihrerseits in Bezug auf den 
springenden Punkt von principieller Bedeutung ist, halte ich die 
Präcisirung der speciellen Form der Geistesstörung für nebensächlich. 
Hier ist selbst noch keine Einigkeit unter den Psychiatern von Fach. 
Darüber aber dürften Alle einig sein, dass Ihr Beckmann nicht an 
Querulantenwahnsinn leidet. An psychiatrisch wissenschaftlichen De¬ 
finitionen kann auch die Entscheidung eines Landgerichts — selbst 
des zu Altona — nichts ändern, die Sie für Ihre Auffassung in 
Anspruch nehmen. 

Zum Querulantenwahnsinn gehört das Queruliren, d. h. das Ein¬ 
bringen von Klagen, Eingaben, Beschwerden u. s. w. Nun ist gericht- 
licherseits nachgewiesen, dass B. im letzten Jahre nur 4 Prozessfälle 
gehabt hat; in 2 Fällen ist die von ihm erhobne Klage vom Gericht 
als berechtigt anerkannt worden, in den beiden anderen Fällen war 


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Offene Antwort anf den offenen Brief des Herrn Dr. Wallichs. 343 


B. aber der Verklagte. Von Eingaben, abgesehen von denen, die 
sich auf das Entmündigungsverfahren beziehen, ist nichts bekannt. 
Nicht die Thatsache, „dass eine Streitsache den ausschliesslichen 
Inhalt seines geistigen Lebens bildet“, macht, wie das Landgericht 
irrthümlich meint, den Querulanten Wahnsinn, vielmehr kommt diese 
Thatsache bei Melancholikern, bei Paranoikern, bei Paralytikern, bei 
Dementia senilis, bei anderen Dementen u. s. w. vor. 

Doch wollte ich all die Einzelheiten hier erwähnen, die in Ihrem 
Gutachten vom psychiatrischen Standpunkt nicht vollständig zu recht- 
fertigen sind, so würde ich weit über die Grenzen einer Antwort auf 
einen Brief gehen; es mag genügen, wenn ich zum Schluss nur wie¬ 
derhole, dass ich trotz längerer und sorgfältiger Beobachtung an 
Beckmann nichts Krankhaftes finden konnte, und dass, wenn ich auch 
nicht bestreiten will, dass zur Zeit Ihrer Untersuchung derselbe 
geisteskrank gewesen sein kann und dies auch in meinem dem Beck¬ 
mann übergebenen Gutachten ausgedrückt habe, in Ihrem Gutachten 
für mich nicht der wissenschaftliche Nachweis für diese Thatsache 
beigebracht ist. 

Hätte ich übrigens vorher gewusst, dass Sie, wie Sie in Ihrem 
Briefe mittheilen, „Hunderte von Gutachten erstattet und sich nie¬ 
mals geirrt hätten“, so hätte ich Sie für den hervorragendsten 
Psychiater gehalten — denn die hervorragenden haben sich we¬ 
nigstens ein Mal geirrt, — nachdem ich aber aus Ihrem Briefe 
ersehen, wie Sie die Schmähschrift eines Mannes, den Sie für geistes¬ 
krank halten, aus Ruhe und Fassung bringt, muss ich leider sagen: 
Sie haben sich die Sporen in der Psychiatrie noch nicht verdient. 
Wären Sie ein richtiger Psychiater, so würden Sie jenem schmähen¬ 
den Schriftsteller, wie jener österreichische Irrenanstaltsdirector, Ihre 
Photographie übersandt haben, damit er dieselbe in der nächsten 
Auflage zum Titelkupfer benutzen möge. 


NB. Den zweiten Brief des Dr. Wallichs in dieser Sache s. S. 442. 

D. Red. 


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II. Oeffentliches Sanitätswesen. 


l. 

Gutachtliche Aeusserung 

der Kgl. wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen 

über 


die prophylaktische Behandlung der Augeneatzündung 

Neugeborener. 

(Erster Referent: Schräder.) 


Ew. Excellenz beehren wir uns die durch hohen Erlass vom 
19. November a. er. von uns erforderte gutachtliche Aeusserung über 
die prophylaktische Behandlung der Augenentzündung Neugeborener 
unter Rücksendung der Beilagen hierdurch zu erstatten. 

1. Dass das Crede’sche Verfahren der Einträufelung einer 2% 
Höllensteinlösung in die Augen der Neugeborenen als ausführbar und 
zweckmässig zu erachten ist, geht aus den mitgetheilten Beobachtungen 
und Erfahrungen unzweifelhaft hervor. Die Manipulation ist eine ein¬ 
fache, die auch von Hebammen zuverlässig und ohne dauernden Nach¬ 
theil für das kindliche Auge ausgeführt werden kann. Ob dies mittels 
Glasstäbchens oder Tropfgläschens ausgefdhrt wird, darauf können wir 
einen besonderen Werth nicht legen. Wenn auch örtliche Reizerschei¬ 
nungen an der Bindehaut der Augen als eine nicht seltene Folge der 
Einträufelung dieser differenten Lösung sich zeigen, so muss man doch 
anerkennen, dass dieselben üblere Folgen nicht haben, sondern aus¬ 
nahmslos spontan wieder verschwinden. Dass aber diese durch die 
Einträufelungen hervorgerufenen Reizerscheinungen Anlass bieten kön¬ 
nen, dass Hebammen wirkliche gefahrdrohende Blennorrhoen mit ihnen 
verwechseln und deswegen bei den letzteren die rechtzeitige Herbei¬ 
ziehung der ärztlichen Hülfe versäumen, ist zuzugeben und muss es 
als wünschenswerth erscheinen lassen, dass ein anderes Mittel gefunden 
wird, welches in geringerem Grade oder gar nicht die Reizerschei¬ 
nungen hervorruft und denselben Grad der Zuverlässigkeit darbietet. 


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Gutachtliche Aeusserung der K. Wissenschaft!. Deputation. 


345 


Dass in letzterer Beziehung — nämlich was die Zuverlässigkeit 
anbelangt — die 2% Höllensteinlösung ein vortreffliches Mittel ist, 
hat die Erfahrung in genügender Weise gezeigt. Alle Berichte stim¬ 
men darin überein, dass die Anzahl der Erkrankungen bei der pro¬ 
phylaktischen Anwendung dieses Mittels sehr erheblich gesunken ist, 
so dass dabei nur noch von fast 0 pCt. bis höchstens 2 pCt. Er¬ 
krankungen vorgekommen sind. Auch bei dieser Anzahl handelte es 
sich vielfach noch um Späterkrankungen, die gegen die Schutzkraft 
des Verfahrens, welches nur gegen eine Infection bei der Geburt, nicht 
aber gegen spätere Ansteckungen schützt, nicht angeführt werden 
können. 

Ein welch’ bedeutender Fortschritt hierin gegen früher liegt, wird 
ausdrücklich in einem Bericht mit Zahlen belegt und auch wol von 
allen anderen anerkannt. Freilich muss man berücksichtigen, dass 
früher den Augen der Neugeborenen, so lange sie nicht erkrankt 
waren, fast überall eine sehr geringe Berücksichtigung zu Theil ge¬ 
worden ist. Es waren deswegen, um die Frage entscheiden zu können, 
wie gross der Vortheil dieser prophylaktischen Behandlung gegenüber 
der sorgfältigen Reinhaltung der Augen sei, Controlversuche nöthig. 
Diese sind in der Berliner Universitäts-Frauenklinik angestellt worden. 
Sie haben ergeben, dass bei Einträufeln von destillirtem Wasser in 
die Augen die Erkrankungen auf 4 pCt. stiegen, während das blosse 
Auswischen der Augen mit einem reinen Tuch nur 1,3 pCt. Erkran¬ 
kungen brachte. Wenn auch die Zahlen, auf denen diese procentischen 
Angaben beruhen, noch nicht genügend gross sind, so kann man es 
doch wol zunächst als gültiges Resultat bezeichnen, dass, wenn auch 
durch einfache Reinigung der Augen die Erkrankungen sich sehr 
erheblich vermindern lassen, die prophylaktische Behandlung mit 
Höllensteinlösung noch etwas bessere Resultate ergiebt. 

2. Ob eine schwache Sublimatlösung — etwa 1:5000 — den 
Vorzug vor der 2% Höllensteinlösung verdient, lässt sich nach den 
bisher vorliegenden Erfahrungen noch nicht endgültig entscheiden. Da 
wo sie angewendet worden ist, hat sie sich durchaus bewährt, so dass 
sie an Zuverlässigkeit hinter der Höllensteinlösung nicht zurückstehen 
dürfte, während sie den Vorzug hat, dass sie weniger leicht Reiz¬ 
erscheinungen macht. Auf jeden Fall verdient die Sublimatlösung 
weitere eingehende Prüfung. 

3. Die allgemeine Einführung eines prophylaktischen Verfahrens 

VI«rtolJ»hrssehT. f. grr. Med. N. F. XLIV. J. 23 


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346 


Gutachtliche Aeusserung der K. wissenschaftl. Deputation, 


in die gebnrtshülflichen Kliniken und Hebammen-Lehranstalten obliga¬ 
torisch zu machen und die zweckmässigste Art desselben vorzuschreiben, 
halten wir für unnöthig und nachtheilig. Für unnöthig deswegen, weil 
wol überall ein prophylaktisches Verfahren bereits eingeführt ist, und 
für nachtheilig, weil die obligatorische Einführung eines bestimmten 
Verfahrens weitere Erfahrungen über andere Methoden ausschliessen 
und den Fortschritt, der jedenfalls auf diesem Gebiete noch zu er¬ 
streben ist, hemmen würde. 

Bei dem Fehlen der Findelanstalten im preussischen Staate kann 
nur von den Entbindungsanstalten die endgültige Lösung dieser Frage 
erwartet werden. Auch die Vorstände der ophthalmologischen Kliniken 
stimmen dem ausdrücklich zu. Wenn aber weitere Erfahrungen durch¬ 
aus wünschenswert!) sind — und die Nothwendigkeit derselben haben 
wir schon betont und werden noch wieder darauf zurückkommen — 
so muss man den Entbindungsanstalten freies Feld zu weiterer Forschung 
lassen. 

4. Von der Ausdehnung eines prophylaktischen Verfahrens auch 
auf die Hebammenpraxis glauben wir ebenfalls entschieden abrathen 
zu müssen. Denn einmal ist das Auftreten bösartiger Blennorrhoen 
ausserhalb der Anstalten nicht gerade häufig, und dann handelt es 
sich hier fast ausnahmslos um einzelne Fälle, niemals um wirkliche 
Epidemien. Die Blennorrhoe ist zwar exquisit ansteckend, die An¬ 
steckungsfähigkeit ist aber an körperliche Stoffe, die von einem Auge 
in das andere übertragen werden, gebunden. Deshalb ist es ganz 
gewöhnlich, dass von einem erkrankten Auge aus das andere ange¬ 
steckt wird, dass der eine von Zwillingen den anderen in demselben 
Bett schlafenden ansteckt, deshalb verbreiten sich in Anstalten, wo 
eine grössere Anzahl von Neugeborenen zusammen liegt, die Augen¬ 
entzündungen oft genug, wenn nicht streng isolirt wird, von einem 
Kind zum anderen, — deshalb ist es aber auch sehr selten, und 
kommt fast nur bei ungewöhnlich schmutzigen Hebammen vor, dass 
in der Hebammenpraxis die Krankheit verschleppt wird. 

Es handelt sich bei dieser Krankheit also nicht um das Bedürfniss, 
die Gesammtheit vor der Ansteckung durch inficirte Individuen zu 
schützen, sondern nur darum, den Ausbruch der Erkrankung, die 
übrigens bei rechtzeitiger ärztlicher Hülfe regelmässig einen günstigen 
Ausgang nimmt, von einzelnen Individuen abzuhalten. Es dürfte sich 
also wol keinesfalls rechtfertigen lassen, eine allgemeine prophylak- 


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betr. die Prophylaxis der Augenentzündung Neugeborener. 


347 


tische Massregel obligatorisch einzuführen, doch aber dürfte es wün- 
schenswerth erscheinen, gerade bei den bedrohten Individuen auf die 
Wichtigkeit der Prophylaxe aufmerksam zu machen. Leider genügen 
die bisherigen Erfahrungen noch nicht, um die wichtige Frage, welche 
Kinder von der Blennorrhoe bedroht sind, als endgültig gelöst er¬ 
scheinen zu lassen. 

Nach den uns mitgetheilten, in der Berliner Universitäts-Frauen¬ 
klinik angestellten Beobachtungen wären zwei Formen der Augen¬ 
entzündung scharf zu unterscheiden: eine gutartige mit dünnem Secret 
einhergehende, auch ohne Therapie bald günstig verlaufende Entzün¬ 
dung der Conjunctiva, ähnlich der, wie sie auch nicht selten nach 
Einträufelung der 2% Höllensteinlösung auftritt, und eine bösartige 
mit fibrinös eitriger Secretion verlaufende und zur Erosion der Cornea 
tendirende Form. Nach den mikroskopischen Untersuchungen, die in 
der genannten Anstalt an den erkrankten Augen der letzten 1700 
Neugeborenen vorgenommen wurden, fanden sich in den ersteren Fällen 
keine Mikroorganismen im Secret, während in den letzteren, schon 
klinisch deutlich unterscheidbaren Fällen ausnahmslos die Diplokokken 
der Gonorrhoe gefunden sind. Man darf darnach annehmen, dass die 
eigentliche Blennorrhoe der Neugeborenen — wenn man von gut¬ 
artigen, schnell vorübergehenden Reizerscheinungen der Conjunctiva 
absieht — ausnahmslos durch gonorrhoische Infection hervorgerufen 
wird. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass die Ansteckung der kind¬ 
lichen Augen regelmässig durch das Genitalsecret der Mütter erfolgt. 
Leider ist der Nachweis der Diplokokken, der im Secret der kind¬ 
lichen Augen, in dem es sich regelmässig um eine Reincultur der¬ 
selben handelt, sehr leicht zu führen ist, in dem Wochenfluss der 
Mutter, in dem es von Mikroorganismen und auch von ganz ähnlichen 
Diplokokken wimmelt, sehr schwer zu erbringen. 

Immerhin ist es nach dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens 
sehr wahrscheinlich, dass es sich bei der bösartigen Form der Blen¬ 
norrhoe Neugeborener, die allein bei prophylaktischen Massregeln in 
Betracht kommen kann, stets um eine gonorrhoische Infection handelt. 
Wenn dies richtig ist, so sind in der Hebammenpraxis nur die Kinder 
von Müttern, welche an Gonorrhoe leiden, der Krankheit ausgesetzt, 
und schwerlich dürfte sich unter diesen Verhältnissen die allgemeine 
obligatorische Einführung eines prophylaktischen Verfahrens als em- 
pfehlenswerth erweisen. 

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Gutachtliche Aeusflerung der K. wissenschaftl. Deputation. 


Wir fassen zum Schluss noch einmal unsere Ansicht dahin zu¬ 
sammen : 

dass das Credß’sche Verfahren sich als ausführbar und zweck¬ 
mässig bewährt hat, dass aber die Auffindung eines ebenso 
zuverlässigen, aber weniger reizenden Verfahrens wünschens- 
werth ist, 
sowie 

dass die obligatorische Einführung eines prophylaktischen Ver¬ 
fahrens weder für die Entbindungsanstalten, noch für die all¬ 
gemeine Hebammenpraxis empfehlenswerth ist. 

Berlin, den 16. December 1885. 


2 . 

Zar aaimalea Vaccination. 

Von 

Sanitätsrath Dr. Rieel, 

Vorsteher des Königl. Frovinzial-Impfinstltuts zu Halle VS. 


Die Fortschritte, welche die animale Vaccination während der 
letzten Jahre ausserhalb Italiens und namentlich in Deutschland ge¬ 
macht hat, sind recht erhebliche. Waren noch vor gar nicht langer 
Zeit die Versuche, ihre Leistungsfähigkeit auch ausserhalb des Kälber¬ 
stalles zu erproben, nur schüchterne und wenig Vertrauen erweckende, 
so ist man jetzt im Stande, den thierischen Impfstoff der Art zu 
conservieren, dass der allgemeinen Verwendung desselben im Interesse 
des Impfzwanges kaum noch wesentliche Hindernisse entgegenstehen 
dürlten. 

Es beginnen diese Fortschritte mit dem Versuche, die festen 
Bestandtheile der Kälberpustel als Impfstoff zu verwerthen, wie er 
zuerst im Jahre 1871 von dem Holländer Bezeth ausgeführt wurde. 
Bezeth’s Neuerung indessen, mit der für Mitteleuropa die in Italien 
seit Decennien gebräuchliche Art des Abimpfens in ihrem wesentlichen 
Theile neu entdeckt war, konnte, obgleich die auffällige Besserung 
der Impferfolge in Holland den besten Beweis für ihren Werth abgab, 
doch nur langsam Platz gewinnen neben dem von La noix im Jahre 
1865 angegebenen Verfahren (Lanoix, Etüde sur la vacc. anim , 


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Dr. Risel. 


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Paris 1866, p. 28), welches lediglich den mit der Quetschpincette 
ausgepressten Gewebssaft zu verwerthen trachtet. Gegenwärtig kommt 
sie, unter dem Namen der holländischen Methode, in einigen Modi- 
ficationen, welche sämmtlich durch Schaben und Kratzen mit einem 
stumpfen Instrumente den Impfstoff in Form einer breiartigen Masse 
von der Pustel gewinnen, bei uns nur noch in Betracht 1 ) und hat 
wohl überall die italienische Methode in ihrer ursprünglichen Gestalt 
verdrängt. Letztere bietet ihr gegenüber auch nicht den mindesten 
Vortheil. Sie schädigt das Impfthier in ganz unnöthiger Weise durch 
das Ausschneiden der Pusteln und bringt dadurch viel unnützes Ma¬ 
terial in den Impfstoff, dass sie das Abschaben der Pusteln dem 
Ausschneiden derselben folgen lässt. Das die Pustel tragende Haut¬ 
stück ist ja vollkommen blutleer, und demzufolge ist es ganz un¬ 
möglich, beim Abschaben die Pustel von ihrer Umgebung derart zu 
unterscheiden, dass man ihre Grenzen nach der Breite und Tiefe hin 
nicht überschreitet. So nimmt man leicht Theile von der unverän¬ 
derten Haut, Epidermis wie Corium, mit hinweg. Wenigstens fand ich 
in mehreren Proben einer aus Mailand bezogenen Lymphconserve 
ganze Convolute normaler Bindegewebsfasern und grössere Schollen 
von Epidermis mit den darin steckenden Haarstümpfen, letztere nicht 
selten zu zwei und drei nebeneinander 2 ). 

Nach Bezeth’s Vorschrift geschieht das Abimpfen in der Weise, 
dass man die Pustel so stark in die Quetsch pincette einklemmt, dass 
sie platzt, und lässt dann das Abschaben folgen. Zur Gewinnung 
eines tadellosen Impfstoffes ist indessen die Anwendung der Quetsch- 
pincette ganz unnöthig. 


') In Frankreich verwendet man aach gegenwärtig noch hier und da das — 
man darf wohl sagen, zum Schaden für die Entwicklung der animalen Vaccination 
erfundene — Verfahren Lanoix’. So in der Ecole de Val de Gräce bei den 
Rekrutenimpfungen nach den Berichten Vaillard’s (Arcb. de m6d. mil. 1884. 
No. 16 u. 17, Virchow-Hirsch’s Jahresb. f. 1884, II, 41). Auch das belgische 
Landes-Impfinstilut befasst sich noch damit, neben anderen rationell hergestellten 
Präparaten den Presssaft der Kälberpustel als animale Lymphe zu versenden 
(üffelmann, Berl. kl. Wschr. 1885, No. 23). 

*) Die ausserdem in der Lymphe gefundenen Kohlenpartikelchen, Pflanzen¬ 
fasern und andere Verunreinigungen sprechen nicht gerade zu Gunsten der in 
Mailand auf das Abimpfen verwendeten Sorgfalt. Auoh der Einschluss in ganz 
rohen Federkielen, in denen die Lymphe von dort verschickt wird, entspricht 
nicht im Entferntesten unseren Begriffen von Reinlichkeit, geschweige denn von 
Antisepsis. 


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Dr. Risel. 


Wenn es bisher auch nicht gelungen ist, den das Contagium der 
Vaccine darstellenden Mikroorganismus zu isolieren und weiter zu 
züchten •), mithin auch noch der Beweis fehlt, dass die Vaccine eine 
durch Bacterien bedingte Krankheit ist, so drängen doch zahlreiche 
Analogien zu dieser Annahme. Man hat somit vielleicht ein gewisses 
Recht, das Contagium der Vaccine in dem Verbreitungsbezirke des 
Mikroorganismus — in diesem Falle ein Mikrokokkus — zu suchen, 
den man im Gewebe der Kälberpustel regelmässig an trifft, und wird 
erwarten dürfen, dass die Theile der Pustel den besten Impfstoff 
liefern werden, welche jenen in grösster Menge einschliessen. Die 
Erfahrung hat dieser Erwartung vollkommen entsprochen. — Durch 
die mikroskopische Untersuchung ist nachgewiesen, dass der betreffende 
Mikrokokkus in dem die Pustel in ihrem wesentlichen Theile bilden¬ 
den Granulationsgewebe, welches die oberen Schichten des Corium 
neben dem Rete Malpighi einnimmt, sich massenhaft vorfindet. Dieses 
Granulationsgewebe haftet nun aber nur sehr locker an den un¬ 
veränderten tieferen Schichten des Corium. Am leichtesten überzeugt 
man sich hiervon, wenn man von der in Alkohol gehärteten Pustel 
Schnitte zu mikroskopischen Präparaten an fertigt. Gebraucht man 
nicht besondere Vorsichtsmassregeln, so löst sich fast regelmässig 
die eigentliche Pustel von ihrer Unterlage ab und es bleibt nur eine 
dünne Schicht des Granulationsgewebes noch am Corium haften. Auch 
am lebenden Gewebe vollzieht sich diese Trennung mit gleicher 
Leichtigkeit, und die das Contagium bergenden Theile lassen sich 


*) leb glaube nicht, dass die in Rede stehende Frage durch die anscheinend 
zu positiven Ergebnissen gelangenden Arbeiten gelöst ist. Bisher ist kein Fall 
bekannt, in dem die Vaccine anders als nach Uebertragung von Individuum zu 
Individuum sich entwickelte. (Das angeblich vollkommen spontane, von jeder 
Infection unabhängige Auftreten der originären Kuhpocken, wie es z. B. in Würt¬ 
temberg vielfach behauptet wird, wäre die einzige Ausnahme. Aber unzweifelhaft 
ist doch nicht alles das Vaccine, was als originäre Kuhpocken bezeichnet wird.) 
Dieser Umstand drängt zu der Vermuthung, dass die Vaccine ein obligater Parasit 
im Sinne de Bary’s und ihr ein saprophytes Wachsthum — mit dem jene 
Arbeiten ausschliesslich rechnen — versagt ist. Da nun ferner die Erfahrung 
lehrt, dass die Vaccine nur bei einer geringen Zahl von Warmblütern haftet und 
gedeiht, dass sie in ihrer Entwicklung durch intercurrente Ernährungsstörungen des 
Geimpften, wie sie z. B. Magendarmkatarrhe und Infectionskrankheiten bedingen, 
in der auffälligsten Weise beeinflusst wird, wird man nicht umhin können anzu¬ 
nehmen, dass sie in den Bedingungen ihrer Ernährung sehr schwierig gestellt ist, 
und nur unter ganz besonders glücklichen Umständen für sie ein Nährboden 
ausserhalb des Thierkörpers zu finden sein wird. 


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Zar animalen Vaooination. 


351 


ohne jedes besondere Hülfsmittel und ohne besonderen Kraftaufwand 
leicht und vollständig entfernen. 

Zu einschlägigen Erfahrungen gab zunächst die eigenthümliche 
Art des Aberntens flächenhaft angelegter Pusteln Veranlassung, welche 
von Pfeiffer (Jahrb. f. Kinderheilk. N. F. Bd. XIX.) als „Aus¬ 
waschen“ der Pusteln bezeichnet und dadurch bewirkt wurde, dass 
unter beständigem Auftropfen von Glycerin so lange mit einem Knochen¬ 
spatelchen auf der Impffläche hin und her gestrichen und gerieben 
wurde, bis diese dunkelroth erschien, das Corium also blossgelegt und 
somit die ganze Masse der Pustel abgelöst war. Dass das auf diese 
Weise gewonnene Material einen tadellosen Impfstoff abgiebt, geht aus 
Pfeiffer’s Erfahrungen, welche durch die meinigen aus den Jahren 
1882 und 1883 voll bestätigt werden, unzweifelhaft hervor. 

Sicherer und zielbewusster als Pfeiffer ging Reissner (Deutsche 
med. Wochenschr. 1881, No. 30 u. 48) beim Abimpfen vor. Er ver¬ 
zichtet, wozu Pfeiffer die Ausdehnung seiner Impfflächen nöthigte, 
auf die Anwendung jeder Quetsch Vorrichtung, spannt vielmehr nur 
die Haut straff an und macht sie dadurch ziemlich blutleer. Als¬ 
dann kratzt er mit dem scharfen Löffel unter kräftigem Drucke 
die Pustel ab und entfernt so in einem Zuge Alles, was dem 
Corium an wirksamem Materiale aufsitzt. Handelt es sich um das 
Abernten von Impfflächen, so ersetzt man das chirurgische Schabeisen 
am einfachsten durch einen scharfkantigen Kaffeelöffel und hat dann 
die beste Gelegenheit zu beobachten, wie leicht sich Alles entfernen 
lässt — Das Reissner’sche Verfahren des Abimpfens muss als das 
einfachste und bequemste bezeichnet werden. Ich selbst habe das¬ 
selbe seit dem Jahre 1883, wo ich es in Darmstadt kennen lernte, 
ausschliesslich geübt. Es erfordert nicht den durch das Einklemmen 
jeder einzelnen Pustel bedingten Zeitverlust und gestattet, da rund 
um die Pustel kein Raum für die Application der Quetschpincette. 
ausgespart zu werden braucht, die Pusteln auf der Impfstelle viel 
dichter neben einander und die einzelne Pustel selbst in Form eines 
beliebig langen Impfstriches anzulegen. Das einzelne Impfthier kann 
infolge dessen in beträchtlich ausgiebigerem Masse als bei dem hol¬ 
ländischen Verfahren ausgenutzt werden. Der so gewonnene Impfstoff 
steht in keiner Weise nach. Ausser Reissner’s eigenen Erfahrungen 
(1. c.) beweisen dies die Mittheilungen Hager’s (Deutsche med. 
Wochenschr. 1883, p. 490), Wesche’s (ebenda 1885, No. 21) und 
Fickert’s (Deutsche Vjsohr. f. öff. Gespfl. Bd. XVI, p. 425), sowie 


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Dr. Risel, 


die Beobachtungen Pfeiffer’s und Widenmann’s (Stuttgart) und 
endlich die des Schreibers dieser Zeilen vorn Jahre 1883 an. 

Von den Methoden, die auf die eine oder andere Weise gewon¬ 
nene Substanz der Kälberpustel in ihrer Wirksamkeit zu erhalten, vor 
Zersetzungsvorgängen zu schützen und in eine für die Versendung 
wie für die Ausführung von Massenimpfungen gleich geeignete Form 
zu bringen, kommt die Eintrocknung und die Vermischung mit Gly¬ 
cerin ausschliesslich in Betracht. 

Die Eintrocknung, von Laurin, einem Thierarzt, angegeben (dell’ 
Acqua e Grancini, il vaccino animale e il vacc. umanizzato, Milano 
1879, p. 170) und zuerst in Italien, dann in Holland (Roll, Wien, 
med. Wochenschr. 1877, No. 13—15), in Wien von Hay (Hay, Er¬ 
fahrungen üb. Impf, mit Kühl., Wien 1878) und in Leipzig von Fürst 
ausgeführt, ist von Reissner seit dem Jahre 1882 in allgemein 
bekannter Weise im Grossen angewendet worden. Das auf diesem 
Wege gewonnene grauweisse Pulver äudert, auch ausserhalb des 
Exsiccators in gut verkorkten Gläsern aufbewahrt, jahrelang seine 
physikalischen Eigenschaften nicht und büsst monatelang nichts von 
seiner Wirksamkeit ein. Zum Gebrauche muss es in Glycerin sorg¬ 
fältig aufgeweicht werden und kommt dann wie die flüssigen Lymph- 
conserven zur Verwendung. — Die äusserst zähe und hornartige 
Beschaffenheit der getrockneten Pustelmasse mancher Kälber erschwert 
zuweilen das Pulverisieren ungemein. Ferner scheint die Aussicht auf 
Gewinnung einer wirksamen Conserve bei diesem Verfahren nicht mit 
gleicher Regelmässigkeit wie sonst gegeben zu sein. Wie Meinel 
(Deutsche Vjschr. f. öff. Gespfl. XVI, p. 270) sind Pfeiffer und mir 
bezügliche Versuche zu verschiedenen Malen missglückt. Am meisten 
ist aber zu Ungunsten desselben der Umstand ins Gewicht fallend, 
dass es jedem einzelnen Impfarzt überlassen bleiben muss, sich selbst 
das Präparat zur Verwendung fertig herzurichten. Und in welch’ 
unglaublicher Weise zuweilen schon mit den zum Gebrauche fertig 
übersandten Conserven umgegangen wird, habe ich nur allzu oft 
erfahren müssen. Da überdies das Impfpulver wohl kaum den Vorzug 
einer längeren Dauer seiner Wirksamkeit hat, sind die eben erwähnten 
Umstände die Veranlassung gewesen, dass die Eintrocknungsmethode 
in Deutschland ausserhalb des Grossherzogthums Hessen nicht gerade 
zahlreiche Anhänger gefunden hat. Auch in Italien, wo sie vor etwa 
10 Jahren viel in Gebrauch war, scheint man von ihr zurückzukommen. 
So erhielt ich im Februar 1884 von Margotta in Neapel, der sie 


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Zur animalen Vaccination. 


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früher mit besonderer Vorliebe cultivierte (dell’ Acqua e Grancini, 1. c. 
p. 169), eine Glycerinemulsion, die derselbe gegenwärtig ausschliesslich 
herstellt. 

Das Glycerin, dessen Fähigkeit, thierisches Gewebe vor Zer¬ 
setzungsvorgängen zu schützen und die Vaccine lebensfähig zu erhalten, 
allgemein bekannt ist, hat die ausgedehnteste Anwendung zur Con- 
servierung auch der animalen Lymphe gefunden. — Immer ist es 
nothwendig, um die Gewebsmasse der Pustel möglichst fein zu zer- 
theilen und in innige Berührung mit dem Glycerin zu bringen, eine 
ausgiebige Verreibung beider vorzunehmen, die so lange fortzusetzen 
ist, bis die ganze Masse — ganz abgesehen von ihrer Consistenz — 
ein vollkommen homogenes Aussehen angenommen hat. Je nach der 
Menge des in dem fertigen Präparate enthaltenen Glycerins zeigt 
ersteres verschiedene physikalische Eigenschaften. Mit geringem Gly¬ 
ceringehalt stellt es eine dicke, zähe Masse dar — ungefähr von dem 
Aussehen des Ceruraen — die bei uns von ihrer ältesten Bezugs¬ 
quelle, dem Gomitato Milanese di vaccinazione animale (Mailand, via 
Vigentina, No. 2) her Mailänder Paste genannt, als trefflicher Impf¬ 
stoff bekannt ist. Seit einigen Jahren wird ein dem Mailänder dem 
äusseren Ansehen nach vollkommen gleiches Präparat von dem 
Apotheker Aehle in Burg a. d. Wupper versendet. Ob es auch sonst 
mit dem Mailänder identisch ist, ist mir unbekannt, da mir eine 
chemische Analyse des letzteren fehlt. Die Aehle’sche Lymphe 
enthält neben dem Glycerin eine reichliche Menge von schwefelsauren 
Salzen, welche Schenk seit mehreren Jahren als das beste Mittel 
zur Conservierung der Vaccine empfiehlt (Deutsche Vjschr. f. öff. 
Gespfll. 1874, Bd. VI, p. 58 und Berl. klin. Wochenschr. 1885, No. 17), 
ohne dass ihnen nach den Erfahrungen Anderer hierin ein Vorzug 
beizumessen wäre. 

Mit reichlicheren Mengen von Glycerin verrieben giebt die Pocken¬ 
substanz eine emulsionsartige Masse von graugelblicher, in Folge 
geringer Beimengung von Blut zuweilen bräunlicher Farbe, die man, 
ohne ihre Wirksamkeit zu beeinträchtigen, durch weiteren Glycerin¬ 
zusatz etwa bis zur Syrupsconsistenz verflüssigen kann. Dieses Präparat 
ist von mir seit dem Jahre 1883 ausschliesslich hergestellt worden, 
und es beziehen sich meine weiter unten raitgetheilten Erfahrungen 
lediglich auf dasselbe. Es lässt sich ohne Mühe in weitere Capillaren 
aspirieren und so bequem in einzelne Portionen theilen, wie sie der 
Privatarzt für einzelne Impfungen bedarf. Handelt es sich um Massen- 


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Dr. Risel, 


impfungen, so versendet man die Emulsion am bequemsten in kleinen 
Reagensgläschen, deren Verschluss ein guter Kork in vollkommen 
ausreichender Weise bewirkt. 

Die Wirksamkeit der so eingeschlossenen Lymphe scheint auch 
ein langer Transport während der heissen Jahreszeit nicht erheblich 
zu beeinträchtigen. Wenigstens wurde mir über zwei von verschiede¬ 
nen Kälbern stammende Proben, welche ich Anfangs Juli v. J. auf 
Veranlassung des Herrn Medicinalraths Reiche in Aurich nach Trans¬ 
vaal sandte, raitgetheilt, dass „dieselben durchaus ihre Schuldigkeit 
thaten und die Pocken bei allen Geimpften gut aufgingen.“ 

Ohne irgendwie die Wirksamkeit dieser wie jeder anderen Glycerin- 
conserve zu beeinträchtigen, kann man das sie enthaltende Gefäss 
wiederholt öffnen und, je nach dem Bedarf verschiedener Impftermine, 
zum Thcil entleeren, wenn man es nur immer wieder gut verschliesst, 
in der Zwischenzeit an einem kühlen Orte aufbewahrt und seinen 
Inhalt binnen wenigen Tagen verbraucht. 

Die von Pissin, dem verdienten Förderer der animalen Vacci- 
natiou in Deutschland, im Jahre 1881 (Berl. klin. Wschr. 1881. No. 44) 
empfohlene Glycerinconserve wird abweichend von den übrigen dadurch 
hergestellt, dass man den Pustelbrei durch wiederholtes sorgfältiges 
Zerrühren und Mischen mit Glycerin auslaugt und durch mehrstündiges 
Stehcnlassen die festen Bestandtheile aus dem Gemische scheidet. 
Die obenstehende, nahezu klare Flüssigkeit wird dann als Impfstoff 
aufgesammelt. Da die mikroskopische Untersuchung der zu Glycerin¬ 
emulsion verarbeiteten Pustel, bei der das stattgehabte Verreiben wohl 
annehmen Hesse, dass die Mikroorganismen mechanisch von den zelligen 
Elementen getrennt seien, ergiebt, dass dies nur in sehr unvollkommener 
Weise geschehen ist, erscheint es bei dem Pissin’schen Verfahren, 
bei dem eine solche mechanische Trennung gar nicht stattfinden kann, 
unzweckmässig, dass gerade die wirksamsten Theile des Rohmaterials 
gar nicht in das fertige Präparat gelangen. 1 ) 


*) Nach dem Berichte Uffelmann’s (I. c.) stellt man in Brüssel ein dem 
Pissin’schen ähnliches, als „Vaocin liquid“ bezeichnetes Präparat in einer Weise 
her, welche als Beispiel dafür dienen mag, wie man eine recht einfache Sache 
durch vielgeschäftige Spitzfindigkeit recht umständlich machen kann. Uffelmann 
schreibt: „Das Vaccin liquid wird aus der. eingeklemmten Pustel nach Abscbaben 
der Pulpa gewonnen. Es sickert eine seröse Flüssigkeit aus, welohe aufgesammclt 
wird. (Io Deutschland würde sich Niemand um diesos fast werthlose Serum küm¬ 
mern. R.) Um sie wirksamer zu machen, vermischt man sie mit etwas frischer 


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Zur animalen Vaccination. 


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Vielfach begnügt man sich bei Zubereitung der Glycerin-Conservcn 
nicht mit der Verwendung des blossen Glycerins, sondern setzt neben 
demselben noch sog. antiseptische Substanzen wie Borsäure, Salicyl- 
säure, Thymol den Präparaten zu. Zu welchem Zwecke dies geschieht, 
ist eigentlich nicht recht klar. Einmal genügt chemisch reines Gly¬ 
cerin, in ausreichender Menge mit dem Gewebe der Pustel innig ver¬ 
mischt, vollkommen, um dasselbe bei jeder Temperatur vor Zersetzungs¬ 
vorgängen auf unbegrenzte Zeit zu schützen. Verschiedene Proben der 
Glycerinemulsion, die seit dem Sommer 1883 im meinem Schreibtische 
liegen, zeigen auch heute noch in Bezug auf Consistenz, Geruch und 
Reaction nicht die geringste Veränderung. Nur die Farbe hat einen 
mehr bräunlichen Ton angenommen, der sich bei den pasteartigen 
Gonserven schon ziemlich früh einstellt und die Folge des Wasser¬ 
verlustes des thierischen Gewebes an das Glycerin ist. — Zudem be¬ 
sitzt keine der zahlreichen Arten von Mikroorganismen, welche die 
animale Lymphe enthält, die Fähigkeit, septische Zustände oder eine 
der landläufigen Entzündungen hervorzurufen. Zahlreiche Versuche 
haben mir und Anderen ergeben, dass die Glycerinemulsion in der 
Menge mehrerer Cubikcentimeter in die Bauchhöhle von Warmblütern 
(Kaninchen, Kälbern, Hunden) injiciert nicht mehr als eine ganz circum- 
scripte Peritonitis hervorruft, welche das Allgemeinbefinden in irgend 
nennenswerther Weise nie zu beeinflussen scheint. 

Sollen aber die in Rede stehenden Stoffe allein thierisches eiweiss¬ 
reiches Material vor Fäulniss schützen oder irgendwie von irgend wel¬ 
chen schädlichen Beimengungen befreien, so müssen sie in solcher 
Concentration sich in den Präparaten befinden, dass sie Mikroorga¬ 
nismen zu tödten im Stande sind. Denn die Vorgänge, deren Eintritt 
man verhüten will, werden eben durch Mikroorganismen eingeleitet und 


Pulpa, setzt eine der aufgesammelten serösen Flüssigkeit gleiche Menge von Gly¬ 
cerin hinzu, bringt die sorgfältig verriebene Masse auf ein sehr feines Metz von 
Kupferdraht, fängt das Filtrat auf und bringt es in Capillaren.“ 

Das bisher Unerreichte an unnützer Spielerei wurde in dem städtischen Impf- 
Institut zu Lyon geleistet. Nach Chambord (Lyon m6d. 1884. No. 8) wird dort 
„die Pocke dicht über der Klemmpincette abgeschnitten, der flüssige Inhalt der¬ 
selben ausgesogen und die Pusteln abgekratzt. Die Pockenpusteln werden dann 
mit Glycerinwasser abgewaschen und mit Zucker im Mörser gepulvert. Hierzu wird 
die ausgekratzte Masse und das in der abgesogenen Flüssigkeit inzwischen ent¬ 
standene Gerinnsel, sowie etwas Tragacanthgummi und eine Mischung von Glycerin 
und Wasser zu gleichen Theilen zugesetzt“, so dass eine breiartige Masse entsteht 
(Yirchow-Hirsch’s Jahresb. f. 1884, II. 40). 


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Dr. Risel, 


unterhalten. Nimmt man aber an, dass das Contagium der Vaccine 
ein Mikroorganismus ist, so wird man auch weiter vorläufig annehmen 
müssen, dass dasselbe die gleichen Lebensbedingungen hat und in 
gleicher Weise desinficicrenden Einwirkungen unterliegt wie die übrigen 
Mikroorganismen. Man darf daher, ohne Gefahr zu laufen die spe- 
cifischc Vaccine zu tödten, beim Zusatz jener Stoffe zu den Lyroph- 
conserven eine gewisse niedrige Grenze nicht überschreiten. Dann 
bleiben aber auch die Fäulniss- etc. Organismen unbehelligt und der 
beabsichtigte Zweck unerreicht. — ln Bezug auf das Thymol habe 
ich dies in den ersten Jahren meiner amtlichen Thätigkeit zu ver¬ 
schiedenen Malen selbst erfahren. Die damals von mir ausschliesslich 
verwendete Thymollymphe, aus gleichen Theilen concentrirter wässriger 
Thymollösung und Kinderlymphe hergestellt, zeigte trotz aller Sorgfalt 
bei der Zubereitung u. s. w. zuweilen einen auffälligen Fäulnissgerucb. 
Auch die schwefelsauren Salze verhalten sich nicht anders. An einigen 
im Juli v. J. untersuchten Proben der Aehle’schen Lymphe, in der 
ja im Vergleich zu anderen Glycerinconserven die Menge der eiweiss¬ 
artigen Substanzen erheblich überwiegt, fiel ein eigenthümlicher Geruch 
auf, der von verschiedenen competenten Beurtheilern mit Bestimmtheit 
von stattgehabten Fäulnissvorgängen abgeleitet wurde. Die chemische 
Untersuchung ergab auch das Vorhandensein von Fäulnissproducten, 
wenn auch nur in äusserst geringen Mengen und nicht in der Form 
von Fäulnisspeptonen. l ) 

Ist somit auf der einen Seite von dem Zusatz antiseptischer Sub¬ 
stanzen kein Vortheil zu erwarten, so machen auf der anderen Seite 
eine Reihe von Erfahrungen sogar eine schädliche Einwirkung der¬ 
selben auf die Vaccine bei längerer Aufbewahrung der Conserven sehr 
wahrscheinlich. 

Von nicht ganz frischer Thyroollymphe ist ja bekannt, dass die 
mit ihr erzeugten Schutzpocken mit auffällig geringen Entzündungs¬ 
erscheinungen einhergehen. In ähnlicher Weise verlaufen ja auch die 
von animaler Lymphe stammenden Pusteln während der ersten Woche. 
Um den 9. oder 10. Tag aber, auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, 
sind diese Pusteln von einer Röthung und Schwellung der ganzen Impf¬ 
stelle und von Fiebererscheinungen begleitet, wie man sie nach der 
Impfung mit der bei uns landläufigen humanisierten Lymphe nur aus- 


*) Herr Professor Robert in Dorpat, damals in Strassburg, hatte die Güte, 
die betreffenden Untersuchungen auszuführen. 


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Zur animalen Vaccination. 


357 


nahmsweise zu sehen bekommt. Auch der Abfall der Krusten erfolgt 
erheblich später, nicht selten erst in der Mitte der vierten Woche. — 
Wesentlich anders gestaltet sich dagegen die weitere Entwicklung der 
„Thymolpustel“. Wie der Anfang, so ist auch der Höhepunkt ihrer 
Entwicklung durch gleich geringe und kurzdauernde allgemeine und 
örtliche Entziindungserscheinungen charakterisirt. Der Inhalt der 
Thymolpustel pflegt frühzeitig, nicht selten schon am 7. Tage, eitrig 
zu werden, und mit dem 10. Tage die Areola ganz verblasst und die 
Anschwellung der Impfstellen nahezu verschwunden zu sein. Auch 
stossen sich die Krusten schon vor dem Ende der dritten Woche ab. 
Die Beobachtungen Stern’s (Breslauer ärztl. Ztschr. 1879 No. 8 und 
1880 No. 11) sind hierin mit den meinigen in vollem Einklang. — 
Der milde Verlauf der „animalen Pustel“ in der ersten Woche ist 
mithin nur durch Verzögerung der Entwicklung bedingt, der ein den 
Organismus in ungewohnter Weise ergreifendes Stadium folgt. Bei der 
Thymolpustel erfährt der milde Verlauf der ersten Woche auch später¬ 
hin keine Steigerung, sondern besteht vom Anfang bis zum Ende fort. 
Demzufolge erscheint die Geringfügigkeit der Entzündungserscheinungen 
bei der Thymolpustel, welche man vordem als einen Vorzug derselben 
rühmte, als eine Abschwächung der Wirkung der Vaccine, die viel¬ 
leicht als durch vorzeitiges Absterben zahlreicher Einzelindividuen des 
specifischen Mikroorganismus bedingt aufzufassen ist und einer Ver¬ 
ringerung der Menge des eingeimpften Contagiums gleichkäme. Die 
Einwirkung des Thymols auf die Vaccine würde somit als eine Benach- 
theiligung ihrer immunisierenden Wirkung, als eine direkte Schädigung 
erscheinen. 

Dass die übrigen Substanzen aus dieser Reihe sich in gleicher 
Weise wie das Thymol verhalten, ist nach den Beobachtungen Pott’s, 
welche Frey (H. Frey, Ueber den Vaccineverlauf bei Impfungen mit 
aseptischer Lymphe. Dissertat. Halle 1881.) über Bor-, Carbol- und 
Salicylsäurelymphe veröffentlichte, wohl als sicher anzunehmen. Er 
fasst das Resultat dieser Beobachtungen in dem Satze zusammen: 
„Die Entwicklungszeit dieser Pustel wird abgekürzt; dieselbe beginnt 
später, und die nach dem 7. Tage entnommene Lymphe zeigt sich 
schon eiterhaltig und trübe. Das Fieber wird herabgesetzt und ist von 
kürzerer Dauer und die entzündliche Schwellung des Armes geringer.“ 
Und weiter: „Das Impferysipel, welches constant jede Eruption der 
Pocken begleitet (soll heissen „die Areola“, R.), verliert bedeutend 
an Intensität bei Anwendung aseptischer Lymphe, es muss also die 


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Dr. Risel, 

Erysipel erzeugende Kraft der Lymphe (im Sinne Bohn’s, R.) ver¬ 
mindert werden.“ 

Die Verwendung antiseptischer Substanzen zum Zwecke der Rein¬ 
haltung der Lymphe im Allgemeinen und der animalen Lymphe im 
Besonderen scheint mir daher in einer zweckentsprechenden und die 
Vaccine nicht schädigenden Weise nur auf der Impfstelle vor dem 
Abimpfen und an den in Gebrauch kommenden Instrumenten stattfiuden 
zu können, als Zusatz zu den Lymphconserven selbst aber aufzugeben 
zu sein. Es kommt ja nicht darauf an, den Verlauf der Vaccine bei 
den Impflingen möglichst milde zu gestalten, sondern einen Stoff zu 
verimpfen, der am sichersten Immunität gegen Variola zu schaffen im 
Stande ist. 

Neben der Beschaffenheit der Lymphe ist für den Ausfall des 
Impferfolges die Art und Weise ihrer Verimpfung ein sehr wesentlicher 
Factor. Auch ich muss, wie es von vielen Seiten bis in die neueste 
Zeit geschehen ist 1 ), ausdrücklich betonen, dass die animale Lymphe 
eine andere Impftechnik erfordert, als man sie von der humanisierten 
her gewohnt ist, namentlich dass sie in ausgiebigeren Contact mit der 
Impfwunde gebracht werden muss als diese. Die in den Conserven 
enthaltenen Mikroorganismen sind ja allerdings zum Theil in dem 
Glycerin suspendiert, aber wohl bei Weitem der grössere Theil derselben 
haftet, wie bereits oben erwähnt, an den zelligen Elementen. Letztere 
müssen nun von den glatten Rändern einer mit der Nadel oder scharfen 
Lanzette erzeugten Impfwunde abgestreift werden und gelangen gar 
nicht in die Tiefe derselben. Allseitige Erfahrung hat diese Voraus¬ 
setzung bestätigt und die Stichmanier bei der animalen Vaccination 
verworfen. Die gebräuchlichen Impflanzetten erscheinen daher im All¬ 
gemeinen wenig zweckmässig. Ciaudo 2 ) und Chalybaeus 3 ) haben 
für die animale Lymphe besondere Lanzetten angegeben, die sich durch 
stumpfe, bezw. abgerundete Spitzen auszeichnen. Die von mir seit 
mehreren Jahren gebrauchte Nickellanzette 4 ) hat dieselbe Eigenthüm- 
lichkeit. Ihre Länge gestattet sie wie eine Schreibfeder zu fassen und 
erleichtert dadurch ihre Handhabung bei längeren Impfterminen unge¬ 
mein, und die Resistenz ihres Materials gegen chemische und mecha- 


*) So auch unausgesetzt von dem Mailänder Comite. 

*) Ciaudo, du Yaccin de gänisse. Nice 1881. 

*) Deutsche med. Wschr. 1884. No. 15. 

4 ) Vom Instrumentenmacher Hellwig in Ualle zum Preise von 1 Mark zu 
beziehen. 


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Zur animalen Vaccination. 


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nische Einwirkungen sichert die Sauberkeit und Unversehrtheit ihrer 
Schneide. — Jedenfalls ist es nothwendig, die animale Lym¬ 
phe in der Weise zu verirapfen, dass man mit einer mög¬ 
lichst stumpfen Lanzette seichte, nicht blutende, lineare 
Ritze mehr durch Kratzen als durch Sch neiden erzeugt. Die 
Lymphe gelangt so sicher in reichlicher Menge in die Impfwunde 1 ). 
Was von ihr auf die unversehrte Haut gerathen ist, mag man getrost 
wegnehmen und anderweit verwenden; Nutzen bringt es dort doch 
nicht. So wird der Verbrauch der Lymphe ein ziemlich sparsamer, 
und eine Anzahl der von mir versorgten Irapfärzte pflegen mit einem 
Cubikcentimeter Glycerinemulsion, der von mir als die für 100 Im¬ 
pfungen berechnete Menge abgegeben wird, 200 und 300, ja 500 Kinder 
mit dem besten Erfolge zu impfen. 2 ) 

Es hat immer etwas Missliches, aus einer langen Reihe von Einzel¬ 
beobachtungen Folgerungen nur nach Anhalt des Gedächtnisses oder 
oberflächlicher Notizen zu ziehen. Die nach der einen oder anderen 
Richtung stattgehabten Eindrücke bleiben oft unter dem Einfluss ganz 
fremder Dinge haften und werden dann bei der Formulierung der so¬ 
genannten Erfahrungen massgebend. Und wie weit diese von dem 
Thatsächlichen abweichen, haben spätere genauere Untersuchungen nur 
zu oft ergeben. Um ein möglichst objectives Urtheil über die Ver- 
werthbarkeit der Glycerineraulsion zur Ausführung der obligatorischen 
Impfungen im Grossen zu gewinnen, habe ich die Irapfärzte veranlasst, 
selbst auf Zählkarten, deren Schema sich in dieser Zeitschrift (N. F. 
Bd. 42. p. 129) findet, über die mit jeder Lymphsendung gewonnenen 
Erfolge — personelle wie Schnitterfolge — zu berichten. Ich habe mich 
der zeitraubenden Arbeit unterzogen, alle eingegangenen Zählkarten, 
gleichviel ob sie die besten oder die dürftigsten Resultate enthielten, zu 
verrechnen, und glaube, man wird meiner Statistik nicht den Vorwurf 
machen können, dass die Zahl der Einzelbeobachtungen zu klein sei. 

Die oben behauptete Abhängigkeit des Irapferfolges von der 


*) Die pasteartigen Glycerinconserven pflegen auch in der Hand des weniger 
Geübten verhältnissmässig befriedigende Erfolge zu geben. Der Grund hierfür ist 
nur in dem Umstande zu suchen, dass die vor dem Gebrauche vorzunehmende 
Verflüssigung sich nicht an allen Stellen des Präparates in gleichmässiger Weise 
vollzieht, vielmehr zahlreich krümliche und bröckliche Massen Zurückbleiben, deren 
Verimpfung ganz unabsichtlich und unbewusst zur Herstellung zweckmässiger Impf¬ 
wunden führt. 

*) Vogel, Deutsche Medicinalzeitung 1885. No. 100. 


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Dr. Risel, 


Impftechnik ergiebt sich aus den Zählkarten unwiderleglich. Zunächst 
gestaltet sich derselbe verschieden, je nachdem dieselbe Lymphe in 
Capillaren oder kleinen Reagensgläschen versendet, also zu Einzel¬ 
oder Massenimpfungen und dem entsprechend mit grösserer oder ge¬ 
ringerer Sorgfalt verwendet wurde. Ebenso ergiebt dieselbe Lymphe 
aus demselben Gefäss von verschiedenen Impfärzten ziemlich zu 
derselben Zeit verimpft so ungleichartige Resultate, dass man nach 
den nackten Zahlen annehmen könnte, dieselben bezögen sich auf 
ganz verschiedene Lymphsorten. — In der Regel sind die ersten 
Versuche, animale Lymphe zu verwenden, von nur mässigem Erfolge 
begleitet; derselbe bessert sich aber auffällig, sobald die Ueberzeugung 
gewonnen ist, dass die gewohnte Impftechnik unzureichend ist. Aller¬ 
dings giebt es ja auch Collegen, deren Klagen über die „miserable 
Lymphe“ kein Ende finden. Aber in den Händen dieser ewig Un¬ 
zufriedenen erwies sich vordem auch die beste und frischeste humani¬ 
sierte Lymphe gleich miserabel. Auf der anderen Seite finden sich 
aber auch Collegen in nicht geringer Zahl, die von vornherein und 
regelmässig die besten Resultate zu verzeichnen haben. Wie sich die 
Verwendung der Conserve in der Hand sorgfältiger Irapfärzte bei dem 
öffentlichen Impfgeschäft gestaltet, mögen die Zahlen des Landkreises 
Erfurt aus den Jahren 1884 und 1885 zeigen, zu denen ich bemerke, 
dass die Erfurter Collegen von Weimar her seit Jahren animale 
Lymphe, wenn auch nicht zu Massenimpfungen, zu verwenden gewohnt 
sind. Es wurden im Landkreise Erfurt ausgeführt: 

Erstimpfungen. 

1884 bei 801 Impflingen mit 4672 Schnitten 1 personeller Erfolg 100 pCt. 

Erfolg - 800 - - 4464 Pusteln / Schnitterfolg 95,54 - 

1885 bei 634 Impflingen mit 3615 Schnitten 1 personeller Erfolg 98,26 pCt. 

Erfolg - 623 - - 3273 Pusteln / Schnitterfolg 90,53 - 

Wiederimpfungen 

1884 bei 654 Impflingen mit 3328 Schnitten 1 personeller Erfolg 99,54 pCt. 

Erfolg -651 - - 3003 Pusteln / Schnitterfolg 90,23 - 

1885 bei 501 Impflingen mit 2574 Schnitten 1 personeller Erfolg 96,60 pCt. 

Erfolg - 484 - - 1553 Pusteln / Schnitterfolg 60,33 - 

In solchen Händen hat auch die animale Lymphe „erfahrungs- 
gemäss absolut sicheren Erfolg.“ Wenn derselbe aber in lymph- 
händlerischen Anzeigen für irgend ein Präparat reclamiert wird, so 
vergesse man nicht, dass für die Verimpfung animaler Lymphe vor 
Allem der Satz gilt, „si duo faciunt idem, non est idem.“ — Unter¬ 
hält man bei den Impfärzten den Glauben, die Verimpfung der ani- 


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Zur animalen Vaccination. 


361 


malen Lymphe bedürfe besonderer Aufmerksamkeit nicht, so kommt 
das öffentliche Interesse nur zu Schaden. Unachtsamkeit kann nur 
die Impferfolge mangelhaft ausfallen lassen, und die Auto re vaccination 
ist ein Mittel von sehr zweifelhaftem Werth für ihre Aufbesserung. 
Sie kann nur dazu führen, einem grösseren Bruchtheile der Bevölke¬ 
rung nur einen unzureichenden Schutz vor Variola zu geben und so 
die obligatorische Impfung in Misscredit zu bringen. 

Die Nachfrage nach animaler Lymphe ist in den letzten Jahren 
in nahezu geometrischer Progression gestiegen. Waren es im Jahre 
1883 nur einzelne Impfärzte oder Ortschaften, an die ich sie abgab, 
so wurden 1884 in den Kreisen Erfurt, Naumburg und Wittenberg, 
und 1885 in den Kreisen Erfurt, Naumburg, Wittenberg, Gardelegen, 
Liebenwerda, Oschersleben, Weissenfels und Zeitz sämmtliche und von 
einer beträchtlichen Anzahl einzelner Impfärzte innerhalb und ausser¬ 
halb der Provinz Sachsen die ihnen übertragenen öffentlichen Impfun¬ 
gen mit der von mir gelieferten Lymphe ausgeführt. Dementsprechend 
wurde abgegeben 1883 das Material für 3000, 1884 für 22800 und 
1885 für 42000 Impfungen. Das Resultat der Verimpfung stellt sich 
nach den ausgefüllt an mich zurückgekommenen Zählkarten folgender- 
massen. Es wurden ausgeführt: 

Ersti mpfungen. 

1883 bei 1727 Impflingen mit 10934 Schnitten 1 personeller Erf. 82,76 pCt. 

Erfolg - 1429 - - 6106 Pusteln / Sehnitterfolg 55,82 - 

1884 bei 8817 Impflingen mit 52752 Schnitten 1 personeller Erf. 95,57 pCt. 

Erfolg - 8331 - - 41098 Pusteln / Schnitteifolg 77,90 - 

1885 bei 16953 Impflingen mit 91628 Schnitten \ personeller Erf. 92,48 pCt. 

Erfolg - 15679 - - 68940 Pusteln / Schnitterfolg 75,23 - 

Wiederi mpfungen. 1 ) 

1883 bei 493 Impflingen mit 2693 Schnitten \ personeller Erf. 88,23 pCt. 

Erfolg - 435 - - 1518 Pusteln / Sehnitterfolg 52,65 - 

1884 bei 7100 Impflingen mit 36823 Schnitten \ personeller Erf. 86,95 pCt. 

Erfolg - 6174 - - 22753 Pusteln 1 Schnitterfolg 61,79 - 

1885 bei 12570 Impflingen mit 67870 Schnitten \ personeller Erf. 87,64 pCt. 

Erfolg - 11017 - - 37706 Pusteln / Schnitterfolg 55,55 - 


Im Juni 1885 revaccinirte ich mit 2 Tage alter Glycerinemulsion in be¬ 
sonderen Impfterminen 521 Schulkinder mit 2605 Schnitten, davon erfolgreich 
519 Kinder mit 2184- Pusteln. Der Erfolg zeigte sich bei 270 von ihnen in voll¬ 
kommen entwickelten Pusteln, die zum grössten Theil denen der Erstimpflingc 
glichen, bei 164 in deutlichen Pusteln mit vorzeitigem Eitrigwerden und Ein¬ 
trocknen des Inhalts, und bei 85 in Form von Schorfen mit entzündlicher Röthung 
an den Impfstellen. Der Erfolg kam mithin dem einer Revaccination von Arm 
zu Arm vollkommen gleich. 

VierteljnhräBchr. f. ger. Med. N. F. XL1V. 2. 94 


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362 


Dr. Risel, 


In der Hamburger Staatsimpfanstalt hatte man im Jahre 1884 
nach Voigt’s Mittheilungen (Deutsche med. Wochenschr. 1885, No. 12) 
bei 2863 Erstimpfungen einen personellen Erfolg von 97,78 pCt. und 
bei 1231 Wiederimpfungen von 74,3 pCt. Erwägt man, dass diese 
Impfungen von Aerzten vorgenommen wurden, welche mit der ani¬ 
malen Lymphe vertraut sind, so wird man den in meinem Wirkungs¬ 
kreise in den beiden letzten Jahren bei den Erstimpfungen erreichten 
Erfolg von 95,5 bezw. 92,4 pCt. — die Wiederimpfungen in Parallele 
zu stellen verbietet der Mangel eines einheitlichen Kriteriums — wohl 
als sehr befriedigend bezeichnen dürfen. Gab es doch in jedem Jahre 
eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Impfärzten, welche die animale 
Lymphe zum ersten Male in die Hand bekamen und deren Verimpfung 
erst lernen mussten! Der Schnitterfolg lässt ja noch immer viel zu 
wünschen übrig, aber die Zahlen der Erfurter Collegen zeigen, wie er 
sich ändert, wenn man die ersten Versuche hinter sich hat. Letztere 
sind auch die Ursache, dass sich bisher eine stete Besserung des 
personellen Erfolges nicht geltend machen konnte. Aber auch sie 
wird nicht ausbleiben, wenn die Impftechnik nach und nach allgemein 
eine zweckmässigere geworden ist. Die Tabellen, in welchen dell’ 
Acqua (Artikel „la vaccination animale en Italie“ des Sammel¬ 
werkes „Les institutions sanitaires en Italie“, Milan 1885, p. 227 bis 
235) die Erfolge der animalen Vaccination in ganz Italien für die 
Jahre 1869—1880 zusammengestellt, ergeben, dass er auch anderwärts 
von denselben Bedingungen abhängig ist. So betrug er z. B. in 
Mailand bei den Erstimpfungen im ersten Jahre (1869) nur 83 pCt., 
stieg im zweiten Jahre auf 95,2 pCt., um von 1878—1880 constant 
sich auf 99,8 pCt. zu halten. 

Die örtlichen Entzündungserscheinungen, welche, wie bereits oben 
erwähnt, die von animaler Lymphe stammenden Schutzpocken auf 
der Höhe ihrer Entwicklung zeigen, imponieren den mit den Verhält¬ 
nissen nicht Vertrauten gar häufig als Erysipel. Nach Bohn’s Lehre 
würde eine derartige Auffassung auch vollkommen gerechtfertigt sein. 
Hat doch Bohn (Handb. der Vaccination, Leipzig 1875, p. 174) den 
Satz aufgestellt: „Die reine, klare Lymphe eines Jenner’schen Bläs¬ 
chens besitzt eine Erysipel erzeugende Kraft.“ Obschon Bo hn’s Nei¬ 
gung, eine Entstehung specifischer Krankheitsprocesse aus nicht spe- 
cifischen, eine Transformation der Producte eines traumatischen oder 
chemischen Reizes in ein Contagiura anzunehraen, auch z. B. bei seiner 


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Zur animalen Vaccination. 


363 


Besprechung des Pemphigus neonatorum (Gerhardt, Handbuch der 
Kinderkrankh. Nachtrag. Tübingen 1883, p. 191) wieder hervortritt, 
so macht doch seine Darstellung der Lehre vom Impferysipel in ihrer 
Gesamratheit nicht den Eindruck, als ob er selbst „den jede legitim 
verlaufende Impfung begleitenden Rothlauf“ als seinem Wesen nach 
identisch mit dem Erysipel auffasse. Aber mag Bohn’s persönliche 
Stellung zu der Frage sein, wie sie will, jedenfalls ist durch obigen 
Satz eine grosse Unklarheit in die Anschauungen der Aerzte über das 
Impferysipel gebracht worden — bezeichnet man doch bereits die 
Areola der Vaccinepusteln als „normales Impferysipel“ —, deren prak¬ 
tische Consequenz Unsicherheit im Bewusstsein der Verantwortlichkeit 
in dieser Beziehung bei den Impfärzten sein muss. Um dem entgegen¬ 
zutreten, muss, wie es bereits Pfeiffer (L. Pfeiffer, Die Vaccination. 
Tübingen 1884, p. 58) auf meine Veranlassung that, auf das Be¬ 
stimmteste betont werden, dass die Areola der legitim verlaufenden 
Vaccinepusteln ihrem Wesen nach mit dem Erysipel absolut nichts 
gemein hat, höchstens nur nach gewissen Aeusserlichkeiten eine ent¬ 
fernte Aehnlichkeit mit ihm besitzt. Die langsame Entwicklung der 
Areola, ihr typischer, man möchte sagen an concentrische Etappen 
gebundener Verlauf und ihr typisches Verschwinden, die sich mit 
grösster Regelmässigkeit abspielen, fehlen dem Erysipel vollständig. 
Für letzteres ist gerade das Atypische in dem ganzen Verlaufe, das 
Fortschreiten auf der einen, der plötzliche Nachlass auf der entgegen¬ 
gesetzten Seite im hohen Grade charakteristisch. Vor allem aber 
spricht die Zeit des Auftretens der Areola nach der Impfung gegen 
jeden causalen Zusammenhang mit dem Erysipel. Durch die Unter¬ 
suchungen Fehleisen’s ist man ja in der Lage, alle das Erysipel 
betreffenden Fragen experimentell festzustellen, und bezüglich der 
Incubation des Erysipels theilt Fehleisen selbst (Fehleisen, Die 
Aetiologie des Erysipels. Berlin 1883, p. 21) 6 Fälle von Verimpfung 
des Erysipelmikrokokkus auf den Menschen mit, welche keinen Zweifel 
über die Dauer derselben lassen. Sie betrug kürzestens 15, längstens 
61 Stunden, vom Momente der Impfung an bis zum Auftreten des 
initialen Frostes berechnet, welcher mit dem Erscheinen der Röthung 
ziemlich genau zusammenfällt. Tillmanns (Verh. d. deutsch. Ges. 
f. Chirurgie, Bd. VII, p. 164) berechnet nach klinischen Erfahrungen 
die Dauer der Incubation auf 19—50 Stunden. Eigener Beobachtung 
aus dem ehemaligen Stadtkrankenhause zu Halle entnehme ich fol¬ 
gende Fälle, in denen sie sich in gleicher Weise verhielt. 

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Dr. Risel, 


a) Mann von 51 Jahren wnrde wegen offenen Tnmor albus des Kniegelenks 
im unteren Drittel des Oberschenkels amputiert, nachdem ein von den Fisteln 
ausgegangenes Erysipel der Kniegegend seit 2 Tagen verblasst und die Tempe¬ 
ratur nahe zur Norm gesunken war. Von der vom Erysipel nicht befallen ge¬ 
wesenen und gründlich desinficierten Haut der Wadengegend des amputierten 
Gliedes werden Nachmittags 3 Uhr mehrere Stücke auf ein mit kräftigen Granu¬ 
lationen bedecktes Unterschenkelgeschwür eines im besten Wohlsein befindlichen 
jungen Menschen transplantiert. Nach einem Schüttelfrost in der Nacht zeigt 
Letzterer am nächsten Morgen bei einer Temperatur von 40,2° ein deutliches 
Erysipel in der Umgebung des Geschwürs, dessen Granulationen missfarbig und 
gequollen, zum Theil hämorrhagisch erscheinen.' 

b) In der Untersuchung eines eben eingebrachten Falles von Erysipelas cruris 
Abends zwischen 5 und 6 Uhr unterbrochen, vergesse ich die Hände zu desinfi- 
cieren und betaste nach kurzer Zeit eine fast verheilte, oberflächliche Wunde auf 
der Wange eines vollkommen gesunden Mannes. Schon in der folgenden Nacht 
hat dieser einen Schüttelfrost und am nächsten Morgen bei hohem Fieber ein 
Erysipel auf der Wange. 

c) Nachm. 4 Uhr werden einem Manne die chronisch infiltrierten, mit unver¬ 
sehrter Haut bedeckten Inguinaldrüseu in der Chloroformnarcose entfernt, nach¬ 
dem der operierende Arzt zuvor eine unreine Wunde an der Hand eines anderen 
Kranken verbunden hat. In der nächsten Nacht zwischen 12 und 1 Uhr Frost, 
Vormittags hohes Fieber und Erysipel in der Umgebung der Operationswunde. 

Dass sich bei dem eigentlichen Impferysipel, dem sog. Frühery¬ 
sipel, die Incubationsdauer nicht anders verhält als bei dem chirur¬ 
gischen Erysipel, beweisen eine ganze Anzahl in der Literatur ver- 
zeichneter Fälle. In Sinnhold’s 4 Fällen (Jahrb. f. Kinderheilk. 
N. F. Bd. IX, p. 383) trat es 16 — 24 Stunden, in Lyman’s Falle 
(Boston raed. Journ. 1873, Jan. 23) 24 Stunden, in Vergely’s drei 
Fällen (le Bordeaux m6d. 1878, No. 4 — 6) 20—24 Stunden, in 
Strahler’s Fällen (Verh. d. deutschen Ges. f. Chirurgie, Bd. VII, 
p. 106) in den ersten 24 Stunden und in den 59 Fällen, über welche 
Meissner (Beob. über vaccinales Früherysipel. Dissertat. Halle 1880) 
berichtet, 12—48 Stunden post vaccinationem auf. In einer Reihe 
von Fällen, welche im Jahre 1880 in der Praxis eines Impfarztes im 
Regierungsbezirke Merseburg vorkamen, wurden die Kinder früh Mor¬ 
gens über Land zu dem Arzte mit Erysipel um die Impfstellen ge¬ 
bracht, nachdem sie am vorhergehenden Tage Nachmittags geimpft 
und zum Theil schon Abends erkrankt waren. Uebrigens erkrankte 
hier einmal bei Impfung von Arm zu Arm der Stammimpfling gleich¬ 
zeitig mit den Impflingen an Erysipel. 

Diese Thatsachen beweisen auf das Bestimmteste das Grundlose 
der Bohn’schen Lehre. Die in der Umgebung der Vaccinepustel 
auftretende, typisch verlaufende Dermatitis hat mit dem Erysipel 


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Zur animalen Vaccination. 


365 


nichts gemein, und die Vaccine als solche ist niemals im Stande 
Erysipel zu erzeugen, die animale Lymphe ebensowenig wie jede 
Vaccine anderer Herkunft. Diese Thatsachen zeigen aber auch, dass 
für die sogen. Späterysipele eine während des Impfactes stattgehabte 
Infection gar nicht in Betracht kommen kann, und mahnen zu grosser 
Vorsicht, für die nach Ablauf von 3 mal 24 Stunden post vaccina- 
tionem auftretenden Erysipele diese Entstehungsursache anzunehmen. 

Die ihrer schützenden Decke beraubte Vaccinepustel kann zu 
jeder Zeit mit Erysipel inficiert werden: darin steht sie jeder anderen 
Hautverletzung gleich. Aber auch bei den unzweifelhaft während des 
Impfactes selbst gesetzten Infectionen wird man ohne Weiteres nicht 
behaupten dürfen, dass der specifische Mikrokokkus des Erysipels 
schon vor deren Verimpfung in der verwendeten Lymphe enthalten 
war. Das wäre efst immer nachzuweisen oder wenigstens wahr¬ 
scheinlich zu machen. Denn die Uebertragung von Mensch zu Mensch, 
durch directe Berührung oder durch Vermittlung von Instrumenten u.dgl., 
ist nicht die einzige oder auch nur gewöhnliche Art der Erysipel- 
infection. Vielmehr ist gar nicht zu bezweifeln, dass die specifischen 
Mikrokokken sich auch ausserhalb des menschlichen und thierischen 
Körpers fortpflanzen und nur gelegentlich ihre Entwicklung auch in 
letzterem durchlaufen. Es ist festgestellt, dass sie für ihr Gedeihen 
nicht einmal thierisches Material und Blutwärrae bedürfen. Wie 
Fe hl eisen fand, lassen sie sich nicht nur auf erstarrtem Blutserum 
und Nährgelatine, sondern auch auf Kartoffeln züchten und zwar 
schon bei gewöhnlicher Zimmertemperatur (1. c. p. 84). Nach der Art 
des Auftretens der Epidemien und dem Gebundensein des häufigen 
Vorkommens von Erysipel an bestimmte Oertlichkeiten muss man 
annehmen, dass ihre ekanthrope, saprophyte Fortpflanzung und Ent¬ 
wicklung die gewöhnliche und regelmässige ist. 

Gegen derartige gelegentliche Infectionen der Impfwunde oder der 
zerstörten Impfpusteln kann natürlich auch die animale Lymphe nicht 
schützen. Reinlichkeit des Körpers, der Kleider und der Wohnung 
des Impflings, der Hände und Instrumente des Impfers, sowie des 
Impfraumes werden allein im Stande sein, diese bei weitem wichtigste 
unter den Coraplicationen des Impfverlaufes zu verhüten. Hier ist 
Alles das am Platze, was man als antiseptische Massregeln zu be¬ 
zeichnen pflegt. Hier werden aber auch nach allgemeiner Einführung 
der animalen Vaccination die Impfärzte eine grosse Verantwortlichkeit 
nach wie vor voll zu tragen haben. 


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3. 


Heber die sanitätspolizeiliehe (Jeberwachung der Heilquellen. 

Von 

Dr. Ernst Lehmann in Oeynhausen (Rehme). 


Der staatliche Heilquellenschutz ist besonders in letzter Zeit in unserem 
Vaterlande Gegenstand der öffentlichen Discussion gewesen. Ich verweise hier 
nur auf die Verhandlungen des 8. und 9. schlesischen Bädertages'), die Sitzungs¬ 
berichte der balneologischen Section 1880 und 1882 2 ), sowie auf die in dieser 
Zeitschrift erschienene Arbeit von Kribben 3 ). 

Bei der Unvollkommenheit der für die staatliche Heilquellenüberwachung 
in Deutschland bestehenden gesetzlichen Bestimmungen war es naturgemäss, 
für gesetzgeberische Vorschläge die ausländische Gesetzgebung zu beachten. — 
So entstanden lobenswerthe Uebersetzungen namentlich der französischen und 
spanischen Heilquellenschutzgesetze, die dann als Grundlage unseres Heilquellen¬ 
schutzes dienen sollten. 

Studirt man aber die betreffende Literatur eingehender, so wird man bald 
zur Ueberzeugung gelangen, dass die gesetzlichen Bestimmungen für Heilquellen¬ 
überwachung in keinem Lande ausreichen. 

Ich möchte dieses gerade hier Kribben gegenüber betonen, der die spa¬ 
nische Gesetzgebung „durchaus erschöpfend“ nennt. — Was die letztere aber 
über den eigentlichen Heilquellenschutz besitzt, hat sie, wie es mir scheint, den 
französischen bezüglichen Gesetzen nachgebildet. Zum grössten Theil aber 
handeln die spanischen Bestimmungen über Organisation der Kuranstalten, die 
Pflichten der Inspectoren etc. und können daher für unsere Betrachtung kein 
weiteres Interesse beanspruchen. 

Das einzige ausserdeutsche Land, welches, wenn auch durchaus kein aus¬ 
reichendes, so doch einigermassen eingehendes Specialgesetz über Heilquellen¬ 
schutz hat, ist Frankreich. 

Die ersten Anfänge der bezüglichen französischen Gesetzgebung datiren 


') Denglcr, Ueber den Schutz der öffentl. Heilquellen. — Gesammelte Vortr. 
u. Verhandl. des VIII. u. IX. schles. Bädertages. Reinerz, 1881. 

*) Beissei, Ueber den gesetzlichen Schutz der Heilquellen. Veröffentl. der 
balneolog. Section der Gesellsch. für Heilkunde in Berlin, 1880. p. 69—78; und 
Noetzel, Ueber eine Petition des Colberger Magistrats, betr. Schutz von Sool- 
bädern. Ebendas. 1882. p. 52. 

*) Ueber den gesetzlichen Schutz der Mineralquellen in den verschiedenen 
Culturstaaten, mit bes. Rücksicht auf Spanien. Diese Zeitschrift 1881, Bd. 34, 
mir Vorgelegen in Balneolog. Ausstellungs-Zeitung 1881. Frankf. a./M. 
No. 15-22. 


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Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Heilquellen. 


367 


schon ans den Jahren 1781 und 1823 (Ord. royal du 18. Juin) 1 ). Die Heil¬ 
quellen werden als im Besitze des Staates, der Gemeinden und der öffentlichen 
Wohlthätigkeitsanstalten angesehen. 

Ein weiteres Gesetz vom 8.—10. März 1848 setzt zum ersten Male einen 
für jede Heilquelle obligatorischen Schutzbezirk (perimetre de protection) 
gegen Bohrarbeiten etc. fest. 

Durch Gesetz vom 14. Juli 1856 wird dieser Bezirk facultativ. Zugleich 
werden die Heilquellen als mit dem Charakter der „Oeffentlicbkeit“ ausgestattet 
erklärt (Döclaration d’interet public), ein Ausdruck, auf den wir noch zurück¬ 
kommen werden. 

Das Gesetz regelt dann noch andere für den Heilquellenschutz wichtige 
Fragen. Wir ziehen es der Uebersichtlichkeit wegen vor, an anderer Stelle auf 
dieselben zu recurriren. 

In Deutschland bestehen ausser Specialgesetzen für die nassauischen 
Bäder (Ems, Wiesbaden, Sohwalbach etc.) zum Schutze der Heilquellen nur 
polizeiliche Vorschriften. So sind in Preussen die Quellen gegen Bergwerks¬ 
arbeiten durch das Berggesetz vom 24. Juni 1865 in Schutz genommen. (Aehn- 
liche Gesetze existiren auch im übrigen Deutschland.) §. 4 des erwähnten Ge¬ 
setzes verbietet das Schürfen auf Grundstücken, wenn Gründe des öffentlichen 
Interesses entgegenstehen. §§. 196 und 197 gestatten den Oberbergämtern, 
durch Bergpolizeiverordnung besondere Schutzmassregeln, eventuell durch Ab¬ 
grenzen von Schutzbezirken zu treffen (vgl. auch die Interpretationen dieser 
Paragraphen durch Klostermann und Berghauptmann Brassert) 2 ). 

Dass diese in unserem Vaterlande bestehenden gesetzlichen Bestimmungen 
nicht ausreichend sind,' die Heilquellen zu schützen, wie vom Standpunkt der 
Volkswirthschaft und der öffentlichen Gesundheitspflege gewünscht werden muss, 
hat die Erfahrung gezeigt. Nichtsdestoweniger sind bisher alle in diesem Sinne 
an die betreffenden Behörden und das Abgeordnetenhaus gerichteten Petitionen 
ohne Erfolg gewesen. Es wurde die Bedürfnissfrage einer bezüglichen Erweite¬ 
rung der gesetzlichen Bestimmungen nicht anerkannt; man verwies auf die 
bestehenden Gesetze. 

Der Zweck der folgenden Zeilen ist nun, diejenigen Verhältnisse und 
Ereignisse kurz zu berühren, die erfahrungsgemäss vorgekommen sind als Ge¬ 
fahren für Aufkommen und Bestand von Heilquellen und, daran anknüpfend, 
Vorschläge für Schutzmassregeln zu machen. 

Als mächtigster und, weil weit verbreitet, gefährlichster Feind der Heil¬ 
quellen ist wohl unstreitig der Bergbau anzusehen. — Es beweisen dies die 
zahlreichen Beispielo, wo lange Zeit, ja Jahrhunderte bestehende Quellen durch 
den Bergbau zum Versiegen gebracht oder doch sehr beeinträchtigt worden sind. 

Ich erinnere hier nur an die gänzliche Quellenversiegung in Altwasser im 
Jahre 1869 und die momentane Versiegung der Ursprungsquelle von Baden bei 
Wien (durch Anlage eines Stollens in dem ziemlich weit vom Ausfluss der Quelle 


*) Labarthe, Les eaux minörales et bains de mer de France. Paris 1873. 
Reinwaid & Cie. p. 21 ff. 

*) cf. D engl er 1. c. p. 9 ff. 


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368 


Dr. E. Lehmann. 


entfernten Schoberberg), welche jedoch nach Zuscbüttung des Stollens langsam 
ihren früheren Wasserspiegel wieder erreichte 1 ). 

Namentlich verweise ich aber auf die so grosses Aufsehen machende Kata¬ 
strophe der Teplitzer Quellen im Jahre 1879. Dieselbe wurde hervorgerufen 
durch den Betrieb der Kohlenbergwerke von Dui und Ossegg, indem die Gesteine, 
aus welchen nach Ansicht der Geologen die genannten Quellen ihren Ursprung 
nehmen, an einer tieferen Stelle als die natürliche Quellenmündung liegt, „ge¬ 
schlitzt“ wurden. 

Dem Berichte nach standen bei der Katastrophe in wenigen Minuten die 
tieferen Kohlengruben von 19000 Cbmtr. unter Thermalwasser. 2—3 Tage 
nach dem Eintritt des Unglücks waren in Teplitz die Quellen verschwunden 2 ). 

Beweist dies zuletzt genannte Ereigniss einerseits die Möglichkeit des 
leichten Entstehens eines die Existenz der Heilquelle bedrohenden Unglücks 
durch Bergbauarbeiten, so erhellt andererseits aus dem Angeführten, wie un¬ 
zureichend der Heilquellenschutz in Oesterreich ist. 

Letzteres Land schützt seine Heilquellen gegen Bergbauarbeiten nach 
Massgabe des dort gütigen Berggesetzes. Nach §. 222 desselben werden analog 
wie in Frankreich für gewisse Orte, die nicht gefährdet werden sollen, Schutz¬ 
bezirke abgegrenzt. Dass dieser Schutzkreis nicht genügend immer schützen 
kann, beweist ebenfalls das Teplitzer Unglück. 

Der Schacht, in welchem der Wassereinbruch erfolgte, liegt ca. eine Meile 
von der Teplitzer Urquelle entfernt. — Es hätte demnach ein Schutzkreis von 
einer Meile Radius nicht ausgereicht. 

In Preussen bieten, wie schon erwähnt, §§. 196 und 197 des Berggesetzes 
eine Handhabe zur Beschützung der durch Bergbauarbeiten bedrohten Heilquellen. 

Die Existenz dieser Handhabe soll auch nicht geleugnet werden. Jedoch 
liegt der Uebelstand darin, dass dieselbe Persönlichkeit, welche die Bergbau¬ 
interessen wahrnehmen soll, berufen ist, im Fall eine Beschützung der Heil¬ 
quellen nöthig ist, jenen hinderlich in den Weg zu treten. — Trotz des Strebens 
nach möglichst objectivem Urtheil ist die Collision hier gegeben. 

Es fehlt hier ein neu zu schaffendes Element, welches nur die Interessen 
der Heilquellen wahrzunehmen hat. — Wie dasselbe zu schaffen ist — Heil¬ 
quellen-Amt—, wird unten angegeben werden. 

Diesem Heilquellen-Amt müsste vorzüglich obliegen, die Quellen genau zu 
beobachten, ihre Ergiebigkeit, Fassung, Temperatur und deren Schwankung etc. 
zu studiren, um durch Beobachtung der benachbarten Bergbauarbeiten jeden 
Vorläufer einer den Heilquellen drohenden Katastrophe frühzeitig genug zu ent¬ 
decken und vorbeugende Massregeln zu treffen. 

In Teplitz hätte man z. B. durch Beachtung der Vorläufersymptome der 
Katastrophe Vorbeugen können. — Denn in den betreffenden neu getriebenen 
Strecken der Duxer Bergwerke wurden die „aufgedeckten Gesteinschichte“ immer 
nässer, die Grubenwässer nahmen von Monat zu Monat zu und zeigten eine 
höhere Temperatur als gewöhnlich. Die wegen der bedeutend grösseren Wasser¬ 
zuflüsse aufgesetzten Pumpen zogen im Döllinger Schacht schon 18° R. warmes 
Thermalwasser. „Die in der Nähe des Schachtes befindliche warme Rieseuquelle, 


') Den gier 1. o. *) ibid. 


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Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwachang der Heilquellen. 


369 


deren Zusammenhang mit den Teplitzer Quellen man schon vor dem Grubenbau 
angenommen hatte, blieb, jemehr die Pumpen hoben, vorübergehend aus, bis sie 
im Juni ganz versiegte.“ '). 

Es fragt sich, ob das hereinbrechende Unglück nicht frühzeitig genug zur Ab¬ 
wehr erkannt worden wäre, wenn tüchtige und fachmännisch gebildete Beobachter 
lediglich zum Schutz der Heilquellen die Bergbauarbeiten zeitweise controlirthätten. 

Noch eine zweite Frage ist hier zu erörtern, ob die Festsetzung eines obli¬ 
gatorischen Schutzbezirks von bestimmter Grösse für jede öffentliche Heil¬ 
quelle den in Preussen und jetzt auch in Frankreich gültigen Bestimmungen 
vorzuziehen, nach welchen der Umfang des Schutzbezirks je nach der Lage des 
Falles festgesetzt wird resp. werden kann. 

Der schlesische Bädertag ist seiner Zeit wieder für Einsetzung eines Schutz¬ 
bezirks, der eine bestimmte Minimalgrösse haben muss, eingetreten 2 ) und hat sich 
damit der anfänglichen französischen Gesetzgebung genähert. Letzteres hat den 
Vorlheil, dass unter Umständen Irrthümer seitens der Behörden ausgeschlossen 
sind, und innerhalb des bestimmten Bezirks keine Gefährdung der Quellen durch 
Bergbau eintreten kann. 

Der Nacbtheil liegt, wie auch v. Cuny als Berichterstatter in der Justiz¬ 
commission über Petitionen im preussischen Abgeordnetenhaus im Jahre 1882 83 
richtig sagt 3 ), darin, „dass eine allgemein gleiche Bemessung des Schutzbezirks 
möglicherweise einzelnen Quellen nicht den ausreichenden Schutz gewährt“ 
(Teplitz), während sie für andere Orte vielleicht weit über das Bedürfniss hinaus¬ 
gehen und dem Bergbau unnöthige volkswirthschaftlich schädliche Beschränkun¬ 
gen auferlegen würde. 

Es erhellt dieses ja a priori aus der Betrachtung, dass Quellen, die aus 
grosser Tiefe entspringen, durch Bergbau. der nur mittlere Schichten freilegt, 
nicht, andere dagegen durch schon relativ unbedeutende „Einschnitte“ gefährdet 
werden können. 

Nach unserer Ansicht muss man daher im Falle einer Spezialgesetzgebung 
zum Heilquellenschutz von einer einheitlichen Feststellung der Grösse des 
Schutzbezirks für alle Heilquellen als unzweckmässig absehen. Dagegen müsste 
eine jede öffentliche Heilquelle nach sachverständiger (geologischer, hydro¬ 
logischer, topographischer) Beurtheilung entweder mit einem ihr angemessenen 
Schutzbezirk umgeben oder als eines solchen nicht bedürftig ausdrücklich erklärt 
werden. — An die Gefahren, welche den Heilquellen durch Bergbauarbeiten 
drohen, schliessen sieb diejenigen an, welche durch andere unterirdische 
Arbeiten (Anlegen von Steinbrüchen, von Gruben zur Gewinnung von Material 
oder Wasserbrunnen gegraben, Fundamentirung von Häusern, Einschnitte zur 
Anlage eines Weges) entstehen können. 

Hierher gehören auch die „Concurrenzbestrebungen “ in Bädern, wo 
Adjacenten benachbarter Quellen, sei es zu Neugewinnung solcher oder zur 
Verbesserung schon bestehender auf Kosten der anderen Quellen auf eigenem 


*) Den gl er 1. c. pg. 57. 

*) ibid. pg. 47. §.11. 

*) Erster Bericht der Commission für das Justizwesen über Petitionen. I. Session 
der 15. Legislatur-Periode 1882—83 des preuss. Abgeordnetenhauses, No. 56, 


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Dr. E. Lehmann. 


Grand and Boden Neu- resp. Tiefbohrungen vornehmen. — Es ist dieses u. A. 
in Neuenahr 1858 vorgekommen, wo die Augusta- und Victoriaquelle durch be¬ 
nachbarte Bohrungen geschwächt und in ihrer Temperatur herabgesetzt wurden 1 ). 
Ebenso verweise ich zur Illustration der durch selbst relativ unbedeutende unter¬ 
irdische Arbeiten möglicherweise entstehende Gefährdung von Heilquellen auf 
das von Kribhen und Beissel 2 ) erwähnte Ereigniss in Burtscheid. 

Im letzteren Orte wurde im Jahre 1873 wegen eines Strassenprojects (NB.) 
ein 30 */ 2 Fuss tiefer Schacht abgeteuft und durch Pumpwerke eine Zeit lang 
leer gehalten. Die Burtscbeider Quellen verloren immer mehr an Ergiebigkeit, 
bis sie gänzlich versiegten. 

Alle Eingaben und Petitionen der Geschädigten und der ev. zukünftigen 
Schaden fürchtenden Quellenbesitzer an die competenten Behörden um Erlass 
von Schutzmassregeln gegen solche hier besprochene Gefahren, haben, so drin¬ 
gend die Nothwendigkeit des Schutzes allgemein anerkannt wurde, nicht zum 
Erlass eines betreffenden Spezialschutzgesetzes geführt. — Den sioh näher dafür 
Interessirenden verweisen wir auf die citirten Arbeiten vonKribben undBeissel. 

Wie sind nun die Heilquellen gegen die durch unterirdische Arbeiten aller 
Art entstehenden Gefahren zu schützen, da das Berggesetz hierbei nicht heran¬ 
gezogen werden kann? 

Bei Beantwortung dieser Frage sei darauf hingewiesen, dass die nassaui- 
sehen Bäder durch ein, wie wir oben erwähnten, dort noch bestehendes Spezial- 
geseiz im Allgemeinen gegen die besprochenen Gefahren geschützt sind. 

So war es naturgemäss, dass der schlesische Bädertag, welcher die Ange¬ 
legenheit des Heilquellenschutzes eingehend discutirte, eine Petition an das 
preussische Abgeordnetenhaus um Erlass von Spezialgosetzen (ähnlich den in 
Nassau bestehenden) richtete. Die Forderung wurde aber auch hier als unnötnig 
und unausführbar abgewiesen 3 ). 

Kribben schlug vor, dass die Heilquellen eine gewerbliche Concession 
beantragen sollten, nach deren Erlangung die Königliche Regierung befugt wäre, 
in einem bestimmten Umfange andere ähnliche Anlagen und sonstige schädigende 
Arbeiten zu verbieten, und ebenso dem Concessionar Bedingungen aufzuerlegen, 
wodurch andere schon bestehende benachbarte Quellen vor Schaden bewahrt 
würden. — Diese ursprünglich für Aachen und Burtscheid aufgestellte Forderung 
könnte unserer Ansicht nach gesetzlich verallgemeinert werden. — Der Staat 
schützt alle öffentlich erklärten und so privilegirten Heilquellen in 
ihrem Bestand gegenüber Dritten, welche auf ihrem Eigenthum durch die oben 
namhaft gemachten Arbeiten die Existenz der Quelle bedrohen. — Mit dem neu- 
geschaffenen Recht treten natürlich auch neue Pflichten (Schadenersatz etc.) für 
die Heilquellen in Kraft. 

Es kann bei diesem Vorschläge nicht verkannt werden, dass unter Umstän¬ 
den grosse Eingriffe in Privatrechte erfolgen müssen. — Diese Schattenseite tritt 
aber hier nicht anders, wie bei den übrigen, dem öffentlichen Wohle dienenden 
Einrichtungen und Schöpfungen auf. — Volle Entschädigung der Betroffenen 


') 1. c. *) 1. c. 

*) cfr. Petitionsbericht 1882/88 No. 5G. Berichterst. v. Cuny. 


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Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwaohung der Heilquellen. 371 

and, wenn diese es fordern, selbst Expropriation des fraglichen Besitzes müsste 
gewährleistet werden. — 

Kurz sei hier sodann auf die Bedeutung des Waldscbutzes für die Er¬ 
haltung der Heilquellen hingewiesen. 

Es ist eine schon von Aristoteles ausgesprochene Ansicht, dass die 
Quellen ihren Wasserreichthum den Feuchtigkeitsniederschlägen der Atmosphäre 
verdanken 1 ). — Der Waldbestand befördert nun einerseits die Menge der Luft¬ 
feuchtigkeit, besonders auch des Regens einer Gegend 2 ). Andererseits verhin¬ 
dert der Wald durch seinen Schatten die Verdunstung der von ihm beschützten 
Erdoberfläche und setzt durch die Wurzeln der Bäume und die Vegetation im 
Walde dem Abfluss der aus der Atmosphäre niederfallenden Miederschläge ein 
wesentliches Hinderniss entgegen. Dengler 3 ) sagt ganz recht: Die Wälder sind 
„die Condensatoren der in der Luft vorhandenen unsichtbaren Wassermassen.“ — 
Die Bedeutung des Waldes für den Quellenreichthum eines Landes steht daher 
wohl heute ausser allem Zweifel. 

Scholz 4 ) führt an, dass die Quellen derjenigen Sohweizercantone, wo man 
die Berge ganz abholzte, versiegt seien. — Die Sanitätspolizei hat demgemäss 
sicher im Interesse des Wasserbestandes der Heilquellen ein wachsames Auge 
auf den Waldbestand zu üben. 

Da in unserem Vatorlande für die Cultur und Pflege der Wälder, sofern sie 
Gemeinden, öffentliche Anstalten, Kirchen und sonstige Corporationen als Eigen- 
thümer haben, und ebenso für die Neu-Cultivirung bisher nicht beforsteter Flächen 
im allgemeinen Landesinteresse duroh die bestehende Gesetzgebung hinreichend 
gesorgt ist, so interessirt besonders die Frage, wie es mit den in Privatbesitz 
befindlichen Wäldern zu halten, falls der betreffende Besitzer aus pecuniärem 
Vortheil ohne Rücksichtnahme auf das etwa bedrohte Allgemeinwohl dieselben 
vernichten will. — Dengler weist auf die Möglichkeit hin, das Gesetz über 
Enteignung von Grundeigenthum d. d. 11. Juni 1874 und §. 9 der preussiscben 
Verfassungsurkunde in solchen Fällen zur Anwendung zu bringen. — Sollte 
letzteres vom juristischen Standpunkt möglich sein, so wäre eine weitere Gesetz¬ 
gebung nicht erforderlich. — Im anderen Falle müsste beim Erlass eines Heil¬ 
quellenschutzgesetzes darauf Rücksicht genommen und den Heilquellen das Recht 
zur Expropriation von Waldungen, die für ihren Bestand von Werth, zugesprochen 
werden. — 

Während die bisher besprochenen Gefahren, welche den Heilquellen drohen, 
von aussen liegenden Verhältnissen ausgingen, so haften einige Gefahren den 
Heilquellen selbst an. — Man hat die Erfahrung gemacht, dass Heilquellen 
sich selbst überlassen, dadurch geradezu versiegen können, dass ihr Ausfluss 
sich durch sedimentirende Salze verstopft. 

Es ist wahrscheinlich, dass dieses Ereigniss hauptsächlich, vielleicht aus¬ 
schliesslich, bei künstlich durch Bohrung entstandenen Quellen eintreten kann. 
Erforderlich ist, dass der Salzgehalt der Quelle ein beträchtlicher und durch Ver- 


') Uhle, Das Weltall. 3. Aufl. 1859. p. 357. 
*) v. Humboldt, Kosmos II. 1847. p. 322. 

•) I. c. p. 6. 

4 ) ibid. p. 50. 


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Dr. E. Lehmann, 


flüchtigang der im Wasser enthaltenen Gase zn Sedimentirung geeigneter ist. — 
Anfangs, wenn die Quelle erbohrt worden ist, wirkt der mächtige hydrostatische 
Druck und die eventuell binzukommende gewaltige Gasspannung, um das Wasser 
rapide zu Tage zu fördern. Allmählich und kaum merklich lässt der Druck und 
die Gasspannnng nach, und die Schnelligkeit des Wasserausflusses wird dem¬ 
gemäss langsamer. Hiermit geht gleichzeitig eine Absetzung von Salzen an die 
Quellenwandungen einher. Dieselben machen die lichte Weite des Bohrloches 
geringer nnd verstopfen endlich dasselbe gänzlich, wenn keine Abhilfe geschieht. 

Es war dieses der Fall in Oeynhausen (Rehme). Seit fast 20 Jahren 
konnte man eine stetig wachsende Abnahme der Quellenergiebigkeit beobachten. 
Statt dem Uebel durch Reinigung des Bohrloches, welches jedes Jahr zu wieder¬ 
holen, abzuhelfen, ignorirte man anfänglich den Uebelstand und legte zur Hebung 
des letzteren ein neues Bohrloch an. dem ein drittes bald folgte. Man erhielt 
aber weder eine vermehrte Ergiebigkeit noch eine der alten gleichwerthige. wenn 
man die Wassermengen aus allen 3 Quellen zusammennahm. — Das Uebel wurde 
immer schlimmer, bis Anfangs der 70er Jahre die Hauptquelle dem Versiegen 
nahe war. Die Noth war gross. Jetzt ging man daran, das alte 1. Bohrloch zu 
„räumen“, die alten Quellenwege neu zu erbohren, was denn auch von zufrieden¬ 
stellendem Resultat begleitet war. 

Hach dieser Erfahrung droht also den erbohrten Heilquellen eine Gefahr, 
wenn sie sich selbst überlassen werden. Die officiell stattfindende Beobachtung 
ist hier dringend nöthig. Die Abhilfe liegt in der regelmässigen „Reinigung“ 
des Bohrloches. — 

Besondere Rücksicht hat die Sanitätspolizei sodann auf event. Vergeudung 
und Verschlechterung der Heilquellen zu nehmen. Erstere entsteht dadurch, 
dass das Wasser der betreffenden Quelle Tag und Nacht, Winter und Sommer 
auch ohne Kurzweck abfliesst. und die Wassermengen abnehmen. 

Wenn nicht technisch oder hydrologisch zu begründende Schwierigkeiten 
entgegenstehen, darf dieses beständige zwecklose Abfliessen nicht stattfinden. 
Hier wird eine genaue Beobachtung der Ergiebigkeit, die eine Constanz oder 
Abnahme erkennen lässt, frühzeitig an prophylactische Massregeln denken lassen 
können. 

Eine Verschlechterung kann dadurch entstehen, dass die Fassung resp. 
Leitung der Heilquelle eine ungenügende ist. — Es können dann leicht „wilde“ 
Wasser zu den Quellen treten und dieselben in ihrer physikalischen und chemi¬ 
schen Zusammensetzung alteriren. 

In Oeynhausen z. B. constatirte man vor der „Verrohrung“ des Bohr¬ 
loches No. 1 bis auf ca. 1900 Fuss Abnahme der Temperatur und Verschlechte¬ 
rung des Thermalwassers, welches zum Theil dem Zutritt „wilder“ Wasser zuzu¬ 
schreiben war. 

Die Beaufsichtigung nach diesen den Heilquellen drohenden Gefahren ist 
also nicht zn vernachlässigen. — Abhilfe ist ja nach den bestehenden Verhält¬ 
nissen mehr oder minder leicht zu schaffen. — 

Als eine der wichtigsten Aufgaben der sanitätspolizeilichen Heilquellen- 
Ueberwachnng erscheint die Sorge für zweckmässige Verwendung der 
Heilquellen. 

Es ist einleuchtend, dass eine Heilquelle, welche ihrer Zusammensetzung 


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Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Heilquellen. 373 


nach von grösstem Werth ist, nie eine solche Wirksamkeit für die Allgemeinheit 
erlangt, wie es vom Standpunkt der öffentlichen Gesundheitspflege zu wünschen, 
wenn der Heilquellenbesitzer, sei es aus Mangel an Einsicht, oder an den nöthi- 
gen Geldmitteln, sei es aus reinem Eigensinn, es unterlässt, diejenigen Einrich¬ 
tungen für die Benutzung der Quelle zu treffen, welche vom Standpunkt der 
Wissenschaft zu fordern. 

Nach dem französischen Gesetze vom Jahre 1848 (Titr. 1 Art. 12) 1 ) steht 
in solchen Fällen dem Staat das Recht zu, die Heilquelle und die zu ihrer Be¬ 
nutzung nothwendigen Zugehörigkeiten zu expropriiren. 

In unserem Lande fehlt bis jetzt eine derartige Bestimmung. Dass aber 
eine solche durchaus nothwendig, erhellt nicht nur aus dem Gesagten, sondern 
wird auch dadurch bewiesen, dass man, wie die Geschichte der Bäder beweist, 
in unserem Vaterlande zur Expropriation in einem Falle geschritten ist, auf 
Grund eines Erkenntnisses des damaligen preussischen Obertribunals. 

Es sei gestattet, diesen Fall, der häufig besprochen, hier kurz mitzutheilen: 

In den Jahren 1829—45 hatte in Oeynhausen eine Bohrarbeit, welche 
Steinsalz aufsuchen wollte, stattgefunden und eine Tiefe von über 2000 Fuss 
erreicht. Hierbei war die noch heute berühmte Thermalsoole zu Tage getreten. 
Der Eigenthümer des Bohrterrains, ein westfälischer Bauer, nahm in seinem 
Eigensinn allen Anerbietungen gegenüber die erbobrte Quelle als sein Eigenthum 
in Anspruch. — Die Analyse der letzteren hatte ergeben, dass das Wasser seiner 
Zusammensetzung nach ein besonders seltenes und heilkräftiges war. Umsomehr 
war der Wunsch der Behörde gerechtfertigt, die Heilquelle als eine dem allge¬ 
meinen Wohle dienende auch zur vollen Wirksamkeit zu bringen. — Der betr. 
Bauer aber gab au, diese Wirksamkeit im eigenen Nutzen anzustreben, liess 
einige rohe Bretterverschläge herrichten und Bäder an Heilsuchende aus der 
Nachbarschaft verabreichen. 

Dass diese Art der Verwendung eines so seltenen und heilkräftigen Wassers 
den zu machenden Anforderungen nicht entsprach, liegt auf der Hand. — Oeyn¬ 
hausen wäre mit diesen Badeeinrichtungen nur immer ein Bad für die nähere 
Umgebung geblieben, sicher aber nicht ein Weltbad geworden. 

In Folge dieser Erkenntniss suchte der Fiskus dem bäuerlichen Eigenthümer 
das Bohrterrain abzukaufen, doch vergeblich. — So machte sich der Wunsch 
nach Expropriation dringend fühlbar. Das Recht zu einer solchen hätte zweifellos 
bestanden, wenn das Ziel Salzgewinnung gewesen wäre; aber die 4procentige 
Soole erschien nicht siedewürdig. — Für eine Heilquelle bestand aber und 
besteht ja noch heute keine Befugniss zur Expropriation. — Dennoch verklagte 
die Behörde den Bauer, damit er verurtheilt würde, in die Expropriation willigen 
zu müssen. Der Bauer gewann jedoch in 2 Instanzen. Erst in der 3. Instanz, 
vom damaligen Obertribunal, wurde dem Fiskus das Recht der Expropriation 
zugesprochen. 

Es ist nicht unsere Aufgabe, zu forschen, auf welche juristische Grundlage 
hin das Urtheil gefällt wurde. — Die Tbatsache, dass der höchste preussische 
Gerichtshof in einem Spezialfall ein Urtheil auf Expropriation fällte, beweist wohl 
die Nothwendigkeit des Erlasses eines allgemein giltigen Gesetzes, wonach dem 


1 ) Labarthe 1 c. 


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Dr. E. Lehmann, 


Staate das Hecht zusteht, in analogen Fällen den Besitz der Heilquelle an sich 
zu nehmen. 

Es sei nebenbei erwähnt, dass schon früher Mo hl') für eventuelle Zwangs- 
Expropriation eingetreten ist. 

Ob die von einem Heilquellenbesitzer getroffenen Einrichtungen dem Heil¬ 
werth und somit den vom Gesichtspunkt der Gemeinnützigkeit zu machenden 
Anforderungen entsprechen, darüber steht dem „Heilquellen-Amt“ die Ent¬ 
scheidung zu, gegen die ein Reccurs beim zuständigen Minister zulässig ist. 

Das Interesse, welches die Allgemeinheit an Heilquellen haben kann, macht 
es dringend nothwendig, das Berggesetz vom 24. Juni 1865 in einem Punkte 
abzuändern resp. zu ergänzen. — Dieses bestimmt nämlich, dass Soolqueilen 
innerhalb der beliehenen Felder dem Bergwerkseigenthümer gehören, selbst wenn 
dieselben auch von fremder Hand aufgedeckt worden sind und von ihm zur Salz¬ 
gewinnung nicht benutzt werden, vielleicht auch des zu geringen Salzgehaltes 
wegen nicht benutzt werden können. 

Es war dieses in Golberg der Fall, wie u. A. aus dem dritten Bericht der 
Commission für das Justizwesen über Petitionen in der Session 1882 des preuss. 
Abgeordnetenhauses hervorgeht. — In genanntem Badeorte hatten 2 Private auf 
Grund erlangter Muthung auf eine Soolquelle eine Gewerkschaft zur Gewinnung 
von Steinsalz gebildet. Die gegründete Gewerkschaft „Joachim-Nettelbeck“ 
besass das Muthungsrecht auf einem fast 2V 2 Millionen Quadratmeter betragen¬ 
den Grund und Boden, welcher den grössten Theil der Stadt Colterg und des 
zwischen ihr und dem Meere gelegenen Terrains einnahm. — Nachdem die Bohr- 
versuclie als aussichtslos eingestellt, wurden nicht allein die neu erbohrten, son¬ 
dern auch die früher schon vorhandenen Soolquellen als „unbenutzbar“ auf¬ 
gegeben und weder salinische noch Badezwecke angestrebt. 

Nichtsdestoweniger beanspruchten die Bergwerksbesitzer ein Recht auf 
alle innerhalb ihres zur Muthung gehörigen Bezirkes befindlichen Soolquellen, 
auch wenn dieselben von anderen Privaten erbohrt und schon vor der erhaltenen 
Muthung zu Bädern benutzt worden waren. — Sie forderten demgemäss für die 
Benutzung dieser Quellen zu Badezwecken unverhältnissmässig hohe Pachtsum¬ 
men und hinderten selbst Hospitäler die auf deren eigenem Grund und Boden 
befindlichen Heilquellen zu benutzen. — Nachdem die verschiedenen Instanzen 
zu Gunsten der Bergwerksbesitzer auf Grund der gesetzlichen Bestimmungen ent¬ 
schieden, wandten sich Magistrat und Stadtverordnete der Stadt Colberg mittelst 
Petition an das Abgeordnetenhaus um Abänderung des Berggesetzes v. J. 1865. 

In der Commission, in der diese Petition berathen, nahm die Mehrheit die 
Möglichkeit an, die bestehende Gesetzgebung in dem Sinne des §. 57 des Berg¬ 
gesetzes dahin auszulegen resp. zu erweitern, dass der Bergwerkseigenthümer 
verpflichtet werde, diejenigen Soolquellen, welche er nicht bergmännisch ver- 
werthe, gegen Erstattung seiner Gewinnungskosten dem Grundeigentümer behufs 
Anlage von Heilbädern zu überlassen. In diesem Sinne wurde die Petition der 
Regierung zur Erwägung überwiesen. 

Wir schliessen uns aus ganzer Ueberzeugung dieser Auffassung an, indem 
wir es für nothwendig halten, dass diese Verpflichtung gesetzlich ausgesprochen 


') Schürmayer, Handb. der med. Polizei. 1856. p. 386 Anm. 


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Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Heilquellen. 375 

und so bei jeder Mutbung dem betreffenden Erwerber selbstredend auferlegt 
wird. — 

Nachdem wir bisher die Gesichtspunkte kennen gelernt, auf welche sioh die 
sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Heilquellen zu erstrecken hat; nachdem 
wir versucht haben, einer solchen Ueberwachung kurz die Mittel und Wege vor¬ 
zuzeichnen. auf denen die Aufgabe zu erreichen, erübrigt es nunmehr anzugeben, 
wer denn die Ueberwachung ausüben soll. 

Vorher ist es jedoch nothwendig, auf eine wichtige Frage aufmerksam zu 
machen. Da der Heilquellenschutz, wie wir in der obigen Abhandlung gesehen, 
— soll er überhaupt wirksam sein — oft tief einschneidende Massnahmen dem 
Privateigenthum oder Institutionen von gemeinnützigem Charakter gegenüber 
erfordert, so entsteht nothwendig die Frage, ob alle Heilquellen ohne Unter¬ 
schied den gleichen sanitätspolizeilichen Schutz gemessen sollen. — Man ist 
anfänglich leicht geneigt, diese Frage ohne Weiteres zu bejahen. Bei näherem 
Studium wird man jedoch bald einsehen, dass es einen Unterschied giebt, ob 
Heilquellen bereits seit langer Zeit in Wirksamkeit waren, oder ob sie erst eine 
solche beginnen wollen, oder ob sie trotz ihres Werthes vernachlässigt worden 
und gar nicht zur Wirksamkeit gelangen. 

Daher ist es dringend nöthig, eine irrthumsfreie Vorstellung von den Forde¬ 
rungen zu gewinnen, welche der Staat in erster Linie an die Heilquellen stellen 
muss, denen er seinen vollen Schutz angedeiben lassen will. Hierfür bedürfen 
wir eines in dem bezüglichen Sinne, so viel uns bekannt, von L. Lehmann 1 ) 
zuerst gebrauchten und auch in dieser Abhandlang bisher häufiger angewandten 
Attributs der Heilquellen, nämlich des Attributs „öffentlich“. 

Alle öffentlichen Heilquellen müssen einen gleichwerthigen sanitäts¬ 
polizeilichen Schutz geniessen, während die nicht öffentlichen der Ueberwachung 
nicht entbehren sollen, aber in Fällen widerstreitender Interessen nicht gleich* 
werthigen Schutz zu verlangen berechtigt sind. 

Indem wir dasjenige, was wir unter „öffentlich“ verstehen, noch näher 
auseinandersetzen werden, muss hier bemerkt werden, dass bisher in allen über 
Heilquellenschutz existirenden Abhandlungen „öffentlich“ als mit dem Begriff 
„gemeinnützig“ identisch aufgefasst wurde. — So sind z. B. die gesammelten 
Vorträge von Dengler’-) zwar betitelt: „Ueber den Schutz der öffentlichen 
Heilquellen.“ In den Vorträgen selbst dagegen ist nur von „gemeinnützig“, 
„Gemeinnützigkeitserklärung“ u. s. w. die Rede. Ebenso in dem Bericht der 
Justizoommission über die vom schlesischen Bädertage eingereichte Petition, den 
Erlass eines Gesetzes zum Schutz „gemeinnütziger“ Heilquellen betreffend. 3 ) 

Es scheint das Wort „gemeinnützig“ aus der Uebersetzung des französischen 
„intöröt public“ hervorgegangen zu sein. 

„Gemeinnützig“ und „öffentlich“ sind aber keine sich deckenden Begriffe. 
Es giebt z. B. gemeinnützige Einrichtungen, Anstalten, welche nicht „öffentlich“ 
sind. So sind Schulen, Krankenhäuser doch sicher gemeinnützig, aber nicht alle 
Schulen, nicht alle Krankenhäuser sind öffentlich: es giebt Privat-Krankenhäuser, 
Privat-Schulen. Der Unterschied beider Attribute beruht darin, dass in dem 


*) Eulenberg’s üandb. d. öffentl. Gesundheitswesens. 1881. I. p. 241. 
*) 1. c. *) 1. c. 


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Dr. E. Lehmann, 


Falle der Oeffentlichkeit der Staat neben bestimmten Forderungen bestimmte 
Garantien, in dem anderen Falle die Forderung, ohne seinerseits Garantien zu 
bieten, stellt. Heilquellen, die nicht gemeinnützig sind, kenne ich nicht. 
Aber nicht alle sind öffentlich. 

Da nun, wie wir sagten, nur die öffentlichen Heilquellen in allen 
Fällen vollen Anspruch auf staatlichen Schutz erheben dürfen, so muss eine 
Heilquelle, welche einen solchen Schutz verlangt, in erster Linie nach weisen, 
dass sie zu den als „öffentlich“ anerkannten gehört. — Diese Forderung stellte 
mit Recht schon L. Lehmann 1 ), ohne auf die Erfordernisse einer Oeffentlich- 
keits-Erklärung näher einzugehen. 

Bevor nun Heilquellen öffentlich werden können, bedarf es des Nachweises 
bestimmter zu prüfender Eigenschaften. — Letztere sind: 

1) die chemische Zusammensetzung; 

2) die physikalischen Eigenschaften; 

3) gewisse technische Fertigstellung, als Quellenfassung, Leitung; 

4) die geologischen Verhältnisse der Heilquelle; 

5) die topographischen Verhältnisse, und zwar: 

a) Umfang des Besitzes und des Eigenthums, in welchem die Heil¬ 
quelle aufgeschlossen; in welchem Abstand die nächsten Grund¬ 
stücke Dritter; 

b) Charakter der Oertlichkeit der Heilquelle und ihrer Umgebung, 
ob gesund oder nicht, ob die Nähe grosser Stadt, ob Grossindustrie 
und Bergbau etc. benachbart. 

Alle diese Punkte müssen sorgfältig geprüft werden. 

Dass auch der 5te Gesichtspunkt sehr wesentlich ist, möge ein Beispiel 
beweisen: Gesetzt, dass in unmittelbarer Nachbarschaft von Elberfeld—Barmen 
eine Heilquelle erschlossen würde, so dürfte dieselbe nicht öffentlich erklärt 
werden. Es würde einerseits der hygienische Charakter der Nachbarschaft für 
eine mustergültige Benutzung der Heilquelle an Ort und Stelle ungeeignet sein. 
Andererseits müssten die einer öffentlichen Heilquelle zu gewährenden Privilegien 
voraussichtlich zu vielen Collisionen und begründeten Einsprachen der lange Jahre 
daselbst bestehenden Industrie, der Ernährerin der gesammten dortigen Bevölke¬ 
rung, führen. 

Die passende Oertlichkeit ist eine unerlässliche Forderung für die 
Oeffentlichkeitserklärung einer Heilquelle. — Doch müsste im eben besprochenen 
Falle die Benutzung der Heilquelle, wenn ihr Bositzer auf „Oeffentlichkeit“ für 
dieselbe verzichten will, diesem ungestört anheimgegeben bleiben, ohne Präjudiz 
für berechtigte Einspraohen Dritter. — 

Es entsteht nun die Frage, wer denn die berührten Punkte vor der Oeffent- 
iichkeitserklärung zu prüfen hat. 

Da die Prüfung grosse Sachkenntniss in den verschiedensten Specialfächern 
erfordert, so ist es nicht thunlich, einem Beamten die Aufgabe zuzuweisen. Es 
ist vielmehr ein Collegium von Fachmännern als eine eigens zu diesem Zwecke 
zu schaffende Behörde anzuempfehlen. 

Die letztere muss bestehen aus einem Mitglieds, welches Chemie und Physik, 


*) Eulenberg’s Handbuch 1. c. 


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Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Heilquellen. 


377 


einem, welches Bergbau und Geologie, einem, welches Balneologie und Hydro¬ 
logie vertritt, und deren Berathungen unter Vorsitz des Reichsgesundheitsamts- 
Directors stattfinden. 

Hiermit ist schon angedeutet, dass die genannte Behörde einen Theil des 
Reiohs-Gesundheits&mts ausmacht. Als Bezeichnung dürfte sich Heil¬ 
quellen-Amt empfehlen. 

Ich bemerke, dass auch L. Lehmann 1 ) auf eine aus dem Reichs-Gesund¬ 
heitsamt hervorgehende, die Quellen beaufsichtigende Commission hinweist. 

Das Heilquellen-Amt stellt die überwachende Behörde sämmtlicher 
öffentlicher Heilquellen dar. 

Wird nun eine beantragte Heilquelle als für die OeffentlichkeitserkläruDg 
geeignet beurtheilt, so wird darüber ein Zeugniss vom Heilquellen-Amt ausge¬ 
stellt. Unter Beifügung dieses Zeugnisses wird der Antrag auf Oeffentlichkeits- 
erklärung der betreffenden Heilquelle beim Landraths-Amte gestellt, welch 
letzteres nun das für Concession gewerblicher Unternehmen in der Gewerbe¬ 
ordnung d. d. 31 v 6. 1869 festgesetzte Verfahren einzuleiten und durchzu¬ 
führen hat. 

Vorher hat jedoch noch der die Concession der Oeffentlichkeit nach¬ 
suchende Heilquellen-Besitzer die bindende Verpflichtung einzugehen, nach der 
erfolgten Oeffentlichkeitserklärung diejenigen Einrichtungen zu treffen, welche 
nach dein Gutachten des Heilquellen-Amts als dem Zweck der Quelle entsprechend 
angesehen werden müssen. — Hat der Heilquellen-Besitzer nicht die erforder¬ 
lichen Mittel hierzu, oder unterlässt er nach erlangter Oeffentlichkeits-Concession 
seinen Pflichten nachzukommen, so ist das Heilquellen-Amt binnen einer Prä- 
clusivfrist berechtigt, den Erwerb der Quelle auf Kosten des Staates, sei es 
durch freiwilligen Verkauf oder durch Expropriation, zu beantragen. 

Dasselbe kann stattfinden, wenn eine Quelle von grossem Heilwerth ge¬ 
funden, deren Besitzer aber nicht zu bewegen, einen Gebrauch derselben zu 
bewerkstelligen. — 

Es empfiehlt sich sodann nach Vorgang der Franzosen Heilquellen- 
Register anzulegen, in welche alle als öffentlich erklärten Heilquellen einge¬ 
tragen werden 2 ). Die Register befinden sich in den Registraturen der König¬ 
lichen Regierungen. 

Mit der Eintragung in das officielle Register erhält die Heilquelle die für 
sie nolhwendigen Privilegien und Rechte, auf die wir im Laufe der Abhandlung 
als nothwendig schon hingewiesen und die durch ein eigenes Quellenschutz- 
Gesetz festzustellen sind. 

Diese den Heilquellenschutz darstellenden Rechte sind im Zusammenhänge 
folgende: 

1) Die Befugniss, das Eigenthum eines Dritten zu expropriiren, wenn dieses 
für die Benutzung der Quelle nothwendig. 

2) Macht die Fassung oder Leitung einer Quelle die Benutzung des Terrains 
Dritter nothwendig. so darf diese (natürlich gegen volle Entschädigung) nicht ver¬ 
weigert werden. 


') 1. c. p. 242. 

s ) Eulenberg’s Handb. p. 245 (L. Leh mann). 

Vi«r».rlj^hrsKchr. i. Rer. Med. N. F. XLIV. 2. 25 


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Dr. E. Lehmann. 


3) In einem gesetzlich näher festzustellenden Quellenbezirke sollen gleiche 
oder ähnliche Heilquellen nicht den Charakter der Oeffentlichkeit erhalten, da es 
wünschenswert ist. die der Concurrenz eigene Zwietracht in diesem Falle fern¬ 
zuhalten. 

4) Jede öffentliche Heilquelle wird vom Heilquellen-Amt unter Zuziehung 
des Oberbergamts auf die Notwendigkeit und eventuell notwendige Grösse eines 
Schutzbezirks gegen Bohrungen, Bergbau etc. geprüft. Erhält eine Quelle einen 
solchen Schutzbezirk und ergiebt die officielle Beobachtung die Unzulänglichkeit 
desselben, so wird der Bezirk nachträglich erweitert. 

5) Das Heilquellen-Amt ist befugt, zu den Bergbau-Arbeiten in der Nahe 
von Heilquellen einen die Verhältnisse beobachtenden Beamten zu senden, der über 
jedes aussergewöhnliche Vorkommen sofort Bericht zu erstatten hat. Die Requi¬ 
sitionen des Heilquellen-Amts bei den Oberbergämtern müssen sofort Erledigung 
finden. 

6) Werden in der Umgebung von öffentlichen Heilquellen andere unter¬ 
irdische Arbeiten vorgenommen, so ist das Heilquellen-Amt befugt, die Sistirung 
derselben auf Antrag des Besitzers sofort anzuordnen. Macht die folgende Prü¬ 
fung es klar, dass die Heilquelle durch jene Arbeiten beeinträchtigt wird in 
ihrem Bestände, so dürfen dieselben nicht wieder aufgenommen werden. Der 
gehemmte Unternehmer wird natürlich entschädigt; auf Wunsch des Letzteren 
muss sein Terrain expropriirt werden. 

7) Das Heilquellen-Amt lässt durch sachverständige Beamte jede öffentliche 
Heilquelle nach ihrer constanten und variirenden Beschaffenheit beobachten. — 
Beobachtet werden namentlich einmal jährlich Temperatur, spec. Gewicht, Ergiebig¬ 
keit der Heilquelle und was sonst an derselben sich Auffälliges erkennen lässt. 
Es empfiehlt sich, über jede Heilquelle laufende Tabellen fortzuführen. 

Alle Streitigkeiten werden auf dem Wege des * Verwaltungsstreitverfahrens* 
entschieden. — 

Für diese den öffentlichen Heilquellen gewährten Privilegien haben die 
Besitzer folgende Verpflichtungen zu übernehmen: 

1) Eine Contribution zu den öffentlichen Fonds, aus welchen die Besoldung 
der für sie neugeschaffenen Organe bestritten wird, zu leisten. 

2) Die Zustimmung zur Beaufsichtigung des Staates in einer ähnlichen Weise 
zu geben, wie sie bereits für Apotheken-Revisionen besteht. Der revidirende 
Beamte ist ein vom Heilquellen-Amt dafür zu deputirender, für die Sache der 
betreffenden Heilquelle instruirter Beamter. 

3) Die öffentlichen Heilquellen sind niemals ohne Zustimmung des Heil¬ 

quellen-Amts und des zuständigen Ministers ihrer öffentlichen Bestimmung zu 
entziehen. — Ein Vermerk dieses Inhalts ist im Grundbuche des betreffenden 
Besitzers einzutragen.- 

Es ist der Erlass eines specieilen Heilquellenschutz-Gesetzes nach den 
in dieser Arbeit entwickelten Principien dringend erforderlich. 


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4. 


Die artesischen, Floss-, Duell- and Pamp-Wässer ven Hamborg 

ond Umgegend. 

(II. Abhandlung.) 

Von 

Dr. Niederstadt in Hamburg. 


Die ersten Anfänge zur besseren Versorgung der Stadt mit Trinkwasser 
sind, soweit es bekannt ist, im 15. Jahrhundert gemacht. Es bildeten sich 
Interessenschaften, welche gemeinschaftlich Trinkwasserleitungen durch Röhren¬ 
leitungen in die Stadt hineinlegten. — Von diesen sogenannten Feldbrunnen¬ 
leitungen existiren bis auf die heutige Zeit nur noch zwei, beide etwa im 
15. Jahrhundert angelegt: der Rödingsmarkt-Feldbrunnen und der Dammthor- 
Feldbrunnen, welche ein stark verunreinigtes, namentlich salpelersäurehaltiges 
Wasser liefern. — Es wurden Wasserkünste, mit Wasserrädern getrieben, in alter 
Zeit angelegt und das Wasser dazu aus der Alster entnommen. Diese Wasser¬ 
künste gingen durch den grossen Brand von 1842 zu Grunde. In St. Pauli, 
auf dem Grasbrook wurden in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts Wasserwerke 
in Betrieb gesetzt, welche aus der Elbe schöpften. Nach der Einrichtung der 
jetzigen Stadtwasserkunst in den fünfziger Jahren wurden die gesammten An¬ 
lagen von der städtischen Wasserkunst übernommen, welche im Jahre 1844 be¬ 
schlossen wurde, 2 Kilometer oberhalb der Stadt in Rothenburgsort anzulegen. 
Nach 4 Jahren war der Bau dreier Ablagerungsbassins, der Bau des Maschinen¬ 
hauses und des Wasserthurmes in Angriff genommen. Ein jedes der jetzt vor¬ 
handenen Bassins misst 220,000 Qu.-Fuss Oberfläche und hat bei vollständiger 
Füllung eine Wassertiele von etwa 12 Fuss. Das Wasser wird nun bei der Elbe 
in die Bassins gelassen und fliesst ohne jede Hinderung direkt von der Elbe ein. 
Der Consum des Wassers hat seit 1857 von 6 l / 2 Million Cub.-Meter auf 
30 Millionen Cub.-Meter sich vergrössert. Während in den ersteren Jahren eine 
8 tägige Ablagerung sich vollzog, die feineren erdigen Theile sich in dieser Zeit 
zu Boden setzen konnten, ist bei dem jetzigen grossen Consum eine Klärung des 
Wassers nicht mehr möglich, und findet es sich mit allen organischen und un¬ 
organischen Theilen verunreinigt, welche der Strom selbst mit sich führt. Der 
Wasserverbrauch ist durch die Nichtanwendung von Wassermessern zu einer 
Vergeudung geworden, welche nur ihre Erklärung durch die ausgedehnte An¬ 
wendung der Schwemmsiele findet, da hierdurch der Abfluss der bedeutenden 
Wasserquantitäten stattfindet. 


Hamburg verbrauchte 

1873 pro Kopf täglich 193 Liter, 

London 

145 - 

Berlin 

- - - 80 - 

Breslau 

- - - 81 - 

Altona 

- - - - 87 - 


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25* 


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380 


Dr. Niederstadt, 


Die Stadtwasserkanst hat jetzt 6 Dampfmaschinen mit 17 Dampfkesseln 
and 1000 Pferdekräften im Betriebe, und 4 Kornwall-Pumpmaschinen treiben 
das Wasser in das Steigerohr und in den Thurm, welcher in der Mitte den ge¬ 
meinschaftlichen Schornstein für die gesammten Dampfkessel-Anlagen enthält, 
wo das Wasser je nach Zweckmässigkeit Tags bis 40 Meter. Nachts bis 60 Meter 
in die Höhe gepumpt wird und von wo sich endlich das Wasser in vier Haupt¬ 
speiseleitungen vertheilt. 

Das Elbwasser, welches unseren Hausleitungen entströmt ohne jede Reini¬ 
gung, kann nicht ohne Filtration zum Hausgebrauch verwendet werden und 
wird es fast überall vorher durch geeignete Filtrationsvorrichtungen gereinigt. In 
dem Zustande, worin es sich befindet, ist es nicht geradezu gesundheitsschädlich, 
nur unappetitlich, durch Filtration werden eine Menge suspendirter Thontheilchen 
beseitigt und die organischen gelösten und ungelösten Theile auf eine geringe 
Menge, 6—7 Theile in 100,000 Theilen, herabgemindert. Es wird eine Fil¬ 
tration durch Sand nach vorheriger Ablagerung beabsichtigt, welche etwa 
6'/ 2 Millionen Mark inclusive aller Anlagekosten, der Hochreservoire, Filter- 
anlagon. Röhrennetze kosten wird. Da jetzt Wassermesser nicht vorhanden, die 
Wohnungen je nach dem Miethspreis lediglich zum Wassergeld beisteuern, ist 
die oben bezeichnete Wasservergeudung, welche alle anderen Städte übersteigt, 
möglich. Die grössere Menge der Brunnen, welche lange von der Bevölkerung 
zu Trinkzwecken benutzt und als Gesundheitswässer bezeichnet wurden, sind als 
stark verunreinigt längst bekannt, theils ganz ausser Benutzung gesetzt, und 
dient das Elbwasser, welches durch Sandfiltration ein gesundes weiches Wasser 
liefern würde, fast ausschliesslich jetzt der Benutzung. 

Es sind hier eine Anzahl Brunnen und Quellen derartig gelegen, dass sie 
entweder unmittelbar aus inficirtem Erdreiche entspringen oder auch Schichten 
durchströmen, welche stark verunreinigt sind. Im Band XL. dieser Zeitschrift 
(S. 123 u. f.) befinden sich Quellen wie die im botanischen Garten beschrieben, 
bei der Gesagtes stattfindet. 

Unsere 11 Hauptkircbhöfe, die 16,5 Hectar Raum umfassen und unmittelbar 
dicht aneinander vor dem Thore liegen, enthalten einige Brunnen, bei denen die 
Verunreinigung mehr oder weniger stattgefunden bat. Es folgen hier: 

1) Der Brunnen vom Catharinen-Kirchhof: 


Datum der Probenahme: 

4. August 1885. 

Temperatur des Wassers: 

13°C. 

Specifisches Gewicht: 

1,002231. 

Chlornatrium . . . . 

.... 16,31 

Chlorkaiium . . . . 

.... 18,77 

Kohlensaurer Kalk . , 

.23,14 

Schwefelsaurer Kalk . 

.... 87,41 

Schwefelsäure Magnesia .... 7,50 

Salpetersaures Natron 

.... 14,88 

168,01 

Organische Substanzen 

.... 37,90 

205,91 


Ammoniak 
Salpetrige Säure 


in quantitativ nicht bestimmbarer Menge. 


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Original frnm 

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Die artesischen etc. Wässer von Hamburg und Umgegend. 


381 


Das Wasser zeichnet sich durch seine bedeutende Härte, grössere Menge 
Salpetersäure und organischer Stoffe aus; auch wird die stattgehabte Verun¬ 

reinigung durch Leichentheile. durch die Menge des Magnesiasalzes klar erwiesen. 
Das Wasser ist klar und geruchlos und hat einen geringen Bodensatz. Die mikro¬ 
skopische Untersuchung ergab eine Menge Krystallisationen von Qips, keine 
Bacterien, keine Bacillen. 

2) Der Brunnen vom St. Petri-Kircbhof: 

Datum der Probenahme: 4. August 1885. 

Temperatur des Wassers: 13,5°C. 

Specifisches Gewicht: 1,000701. 

Chlornatrium. 3,52 

Chlorkalium. 4,47 

Kohlensaurer Kalk.14,11 

Schwefelsaurer Kalk ..... 8,97 

Schwefelsäure Magnesia . . . 6,81 

Salpetersaures Natron .... 12.35 

50,23 

Organisohe Substanzen . . . . 17.70 

67,93 

Eisenoxyd und Thonerde \ 

Ammoniak > in Spuren. 

Salpetrige Säure t 

Dieses Wasser beweist eben seine starke Verunreinigung durch die Menge 
der Salpetersäure und die grössere organischer Körper, welche sich in ihr befindet. 
Es ist daher als Trinkwasser zu verwerfen, und höchstens zum Sprengen und 
Giessen zu verwenden. Das Aussehen desselben ist klar und farblos. Die mikro¬ 
skopische Untersuchung ergab keine lebenden Organismen. 

3) Der Brunnen auf dem St. Nicolai-Kirchhof: 


Datum der Probenahme: 21. August 1885. 


Temperatur des Wassers: 14°C. 

Specifisches Gewicht: 1,000972. 

Chlornatrium. 

8,75 

Chlorkalium. 

. 5.29 

Kohlensaurer Kalk. 

. 19.65 

Schwefelsaurer Kalk .... 

. 36,45 

Schwefelsäure Magnesia . . . 

3,84 

Schwefelsaures Natron . . . 

2,41 

Salpetersaures Natron . . . 

7,26 

Eisenoxyd und Thonerde . . 

0,82 

Kieselsäure. 

. 0,85 

Organische Substanzen . . . 

85,32 
. 16,67 

Ammoniak . 

101,99 

1,31 

Salpetrige Säure. 

0,71 


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Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 
















382 


Dr. Niederstadt. 


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In diesem sehr harten Wasser finden sich viel salpetersaure Salze, salpetrige 
Säure und Ammoniak, was auf sehr starke Verunreinigung durch Zersetzung 
organischer S.ofle schliessen lässt. Es eignet sich daher nicht zum Genuss. Das 
Wasser ist färb- und geruchlos und wenig getrübt durch suspendirte Flocken, 
welche sich beim Stehen absetzen. Die mikroskopische Untersuchung ergab 
wenige undeutliche Krystalle und einzelne Bacillen und Bacterien. 


4) Der Brunnen auf dem St. Gertrud-Kirchhof: 


Datum der Probenahme*. 

21. August 1885. 

Temperatur des Wassers: 

1 3.5°C. 

Specifisches Gewicht: 

1,001062. 

Chlornatrium . . . . 

.... 3,35 

Chlorkalium . . . . 

.... 1,91 

Kohlensaurer Kalk . . 

.... 31.93 

Schwefelsaurer Kalk . 

.... 40,52 

Schwefelsäure Magnesia ... 3.36 

Schwefelsaures Natron 

.... 6,23 

Salpetersaures Natron 

.... 11.32 

Eisenoxyd und Thonerde . . . 1,40 

Kieselsäure . . . . 

.... 0,78 

100,80 

Organische Substanzen 

.... 17,91 

118,71 

Ammoniak . . . . 

.... 0,30 

Salpetrige Säure . . 

.... 0,42 


Dieses Wasser ist ebenfalls durch viel salpetersaure Salze, salpetrige Säure 
und Ammoniak stark verunreinigt und muss als Wasser zum Genuss für Menschen 
verworfen werden. Es ist färb- und geruchlos und getrübt durch suspendirte 
Flocken, die nach längerem Stehen einen starken Bodensatz bilden. Die mikro¬ 
skopische Untersuchung ergab Krystallisationen von Gips, wenig organische Ge¬ 
bilde. keine lebenden Organismen. 


5) Der Brunnen auf dem Kath. Begräbnissplatz: 

Datum der Probenahme: 21. Aug. 1885. 
Temperatur des Wassers: 12,5°C. 


Specifisches Gewicht: 1,001106. 


Chlornatrium. 

3,81 

Chlorkalium. 

4,84 

Kohlensaurer Kalk. 

7,11 

Schwefelsaurer Kalk. 

44,03 

Salpetersaurer Kalk. 

5,82 

Schwefelsäure Magnesia . . . 

5,85 

Salpetersaures Natron .... 

11,04 

Eisenoxyd und Thonerde . . . 

0.90 

Kieselsäure. 

0,75 


84,15 


Organische Substanz . 


Gck igle 


. . 11,06 
95,21 

Original frn-m 

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Die artesischen etc. Wässer von Hamburg und Umgegend. 


383 


Ammoniak. 0,55 

Salpetrige Säure. 0,02 


Dieses Wasser ist auch durch salpetersaure Salze, Ammoniak und salpetrige 
Säure verunreinigt und zum Genuss nicht zu verwenden. Es ist klar, färb- und 
geruchlos und hat organischen Bodensatz. Die mikroskopische Untersuchung 
ergab zahlreiche Krystalle von Gips und sehr viel organische Stoffe in fein zer- 
theiltem Zustande; Bacillen, Bacterien und lebende Körper sind nicht vorhanden. 

6) Brunnen bei Schiewer, Grindel-Allee 71: 

Datum der Probenahme: März 1885. 


Temperatur des Wassers: 13°C. 

Specifisches Gewicht: 1,00143. 

Chlornatrium. 5,265 

Schwefelsaurer Kalk .... 19,040 

Kohlensäure Magnesia .... 2,255 

Schwefelsäure Magnesia . . . 0,349 

Kohlensaures Natron \ . , 

Kohlensaures Kali / ’ * * ' ’ 

Eisenoxyd und Thonerde . . . 0,800 

Kieselsäure. 0,650 


43,444 

Organische Substanzen . . . 3,476 

46,920 

Die Zusammensetzung dieses Wassers zeigt, dass es weiter nicht inficirt ist. 
Der hohe Gehalt an Gips bewirkt die Härte desselben. Die sonstigen Merkmale 
für ein durch jauchige Abflüsse verunreinigtes Wasser sind nicht vorhanden. Es 
ist nicht zu beanstanden. Obgleich es mit dem Dammthor-Feldbrunnen, der 
durch Magnesia, salpetrige und Salpeter-Säure stark verunreinigt ist, in der¬ 
selben geognostischen Schicht liegt, zeigt es nicht dieselben Eigenschaften. Die 
mikroskopische Prüfung ergab Abwesenheit von lebenden Organismen und zeigte 
nur organischen Absatz. Das Wasser ist klar und farblos. 

7) Pumpbrunnen bei Heeschen, heim kleinen Schäferkamp. Das Terrain 
in dieser Gegend ist meist Sand. Circa 13 Meter tiefes Wasser: 

Datum der Probenahme: Februar 1885. 

Temperatur des Wassers: 12°C. 


Specifisches Gewicht: 1,0009269. 

Chlornatrium. 4,680 

Schwefelsaurer Kalk .... 12,240 

Schwefelsäure Magnesia . . . 3,000 

Schwefelsaures Natron . . . 3,170 

Kohlensaures Natron ) R{ ,„ 

Kohlensaures Kali / * * ’ b,byd 

Eisenoxyd und Thonerde . . . 0,650 

Kieselsäuie. 1,150 


31,583 

Organisohe Substanzen . . . 2,844 

34,427 


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384 


Dr. Niederstadt, 


Mikroskopischer Befund: amorphe organische Substanzen, keine lebenden 
Organismen. Das Wasser ist klar und farblos. 

8) Pumpbrunnen von Holst, Altona, Holstenstr. 77: 

Die Bohrungen in dieser Gegend ergaben folgendes Resultat: bis 33 Mtr. 
Thon, dann eine 2'/ 2 Mtr. starke Schicht Sand mit Wasser, darauf bis 61 Mtr. tief 
Thon und bis 125 Mtr. Thon theils fest, theils mit Sand, bis 150 Mtr. feiner und 
grober Sand, in dem eine Braunkohlenschicht eingeschlossen ist. 

Datum der Probenahme: Marz 1885. 


Temperatur des Wassers: 14°C. 

Specifisches Gewicht: 1,00103. 

Chlomatrium. 5,850 

Schwefelsaurer Kalk .... 19,844 

Kohlensaurer Kalk. 7,113 

Kohlensäure Magnesia .... 1,900 

Kohlensaures Natron \ _ . _ _ 

Kohlensaures Kali / ' ’ ’ >0 

Eisenoxyd und Thonerde . . . 2,400 

Kieselsäure. 1.200 

45,760 

Organische Substanzen . . . 3,950 


49,710 

Die mikroskopische Untersuchung ergab: organische amorphe Körper, orga¬ 
nischen Absatz und Krystalle der Salze des Wassers, welches klar und farblos ist. 

9) Wasser aus dem Brunnen am Heiligen Geistfeld, Eimsbiittelerstrasse: 

Die in jener Gegend vorgenommenen Bohrungen ergaben bis 160 Mtr. Thon¬ 
schichten mit Sand und festerem Gestein abwechselnd, darauf 1 5 Mtr. Sand mit 
einer Braunkohlenschicht von 1,5 Mtr. Dicke. 

Datum der Probenahme: Ende Juni 1884. 

Temperatur des Wassers: — — 

Specifisches Gewicht: — — 


Chlornatrium .. 

2,210 

Kohlensaurer Kalk .... 

8,460 

Kohlensäure Magnesia . . . 

0,060 

Schwefelsaures Natron . . . 

9.840 

Kohlensaures Natron . . . 

8,460 

Eisenoxyd und Thonerde . . 

1.400 

Kieselsäure. 

0.600 

31.030 

Organische Substanzen . . 

1,900 

32,930 

Ammoniak. 

0,0 

Salpetersäure ) . 0 

Salpetrig. Säure / ,n S P ur ™ 

vorhanden. 


Mikroskopischer Befund: humusartige, organische, zusammenhängende 
braune Substanzen, reichliche Krystallisationen. 

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Die artesischen etc. Wässer von Hamburg und Umgegend. 


385 


10) Quelle am Müllernthor, auf dem Platz der Gartenbau-Ausstellung: 


Datum der Probenahme: Ende Juni 
Temperatur des Wassers: — — 
Specifisches Gewicht: — — 

1884. 

Chlornatrium. 

1.210 

Kohlensaurer Kalk. 

9,400 

Kohlensäure Magnesia .... 

3.200 

Kohlensaures Natron .... 

9,350 

Schwefelsaures Natron . . . 

9,210 

Eisenoxyd und Thonerde . . . 

1,300 

Kieselsäure. 

0,500 


34,170 

Organische Substanzen . . . 

1,580 


35,750 

Ammoniak. 

0,0 

Salpetersäure \ . _ 

Salpetrige Säure J in P uren> 


11) Trinkwasser von Borgfelde, sog. Gesundbrunnen an der Borgfelderstr.: 

Datum der Probenahme: Ende Mai 
Temperatur des Wassers: 12°C. 
Specifisches Gewicht: — — 

1884. 

Chlornatrium. 

10.50 

Schwefelsaurer Kalk .... 

29.10 

Schwefelsäure Magnesia . . . 

6.30 

Salpetersaure Magnesia . . . 

0,50 

Kohlensäure Magnesia .... 

16,40 

Eisenoxyd und Thonerde . . . 

1,20 

Kieselsäure. 

1.80 


65,80 

Organische Substanzen . . . 

5.0 


70,80 

Mikroskopischer Befund: sehr geringe organische Gebilde, keine Bacterien, 

keine lebenden Organismen. Kryslalle von Gips. 


12) Wasser aus dem Brunnen dicht am Lübecker Bahnhof, am Schienenstrang: 

Die Bohrungen in der Nähe dieser Gegend 

hatten folgendes Resultat: bis 

8 Mtr. Lehm, von da bis 25 Mtr. Sand, dann bis circa 70 Mtr. Thon, in dem 
Braunkohlen enthalten; bis 90 Mtr. wieder Thon mit Sand, in dem sich zahl¬ 
reiche Muscheln, auch ein Stück Bernstein fanden; bei 90 Mtr. ist Wasser, bis 
180 Mtr. Sand und Thon, von dort bis zu einer Tiefe von 200 Mtr. Sand, der 

mit viel compacter Braunkohle durchsetzt ist. 



Datum der Probenahme: 7. Juli 1884. 
Temperatur des Wassers: 11°C. 


Specifisches Gewicht: — — 

Chlornatrium. 1,20 

Kohlensaurer Kalk. 8,20 


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386 


Dr. Niederstadt, 


Kohlensäure Magnesia .... 0.60 

Kohlensaures Natron. 6,90 

Schwefelsaures Natron .... 7,40 

Eisenoxyd und Thonerde . . . 1.00 

Kieselsäure. 0.50 


25.80 

Organische Substanzen .... 2,00 

27.80 

Ammoniak. 0,0 

Salpetersäure 
Salpetrige Säure 

Mikroskopischer Befund: keine organisohen Gewebe, keine Baclerien und 
lebenden Organismen. Das Wasser ist klar. 



Im Anschluss an diese Wasser-Untersuchungen möchte ich auf einen Uebel- 
stand aufmerksam machen, nämlich die Verunreinigung der Alster durch die ver¬ 
schiedensten Abflusswässer der Fabriken, Brennereien u. s. w., die bei zweck¬ 
mässigen Einrichtungen noch nutzbringend sein können, wie man dies leicht aus 
den Anlagen des Herrn Helbing in Wandsbeck ersehen kann. 

Die Abflusswässer der Brennerei jenes Herrn hinter Wandsbeck an der Zoll¬ 
strasse flössen früher direkt in die Wandse ab. Dieses weisslich aussehende, mit 
trübem, flockigem Inhalt versehene Hefewasser, welches in Folge der Hefe in 
Gährung tritt und einen unangenehmen Geruch verbreitet, enthält die Eiweiss¬ 
stoffe in einer für die Pflanzen leicht assimilirbaren Form, wie diese Eiweissstoffe 
auch in der Ernährungslehre der Thiere eine so wichtige Rolle spielen. 

Die Untersuchung dieses Hefewassers ergab in 100 Theilen 0,0945 Grm. 
Rückstand, bestehend aus organischen Stoffen, namentlich Hefebestandtheilen 
und Stärketheilchen mit einem Stickstoffgehalt von 0,184 Grm. und 0,006 Fett 
und folgenden anorganischen Bestandtheilen: 


Chlornatrium . . 

0.00468 

Kalk . 

0,01130 

Schwefelsäure . . 

0,00567 

Phosphorsäure . . 

0,00169 

Kali . 

0,00430 

Magnesia .... 

0,00131 


Dieses Wasser mit so vielen Nährstoffen wird nun mittels einer Dampf¬ 
maschine von 8 Pferdekräften auf das sog. Königsland, ein Grundstück jener 
Brennerei, abgeleitet, welches wie die Rieselfelder vieler Städte im Grossen, so im 
Kleinen angelegt ist. Der Boden absorbirt die meisten Nährstoffe und das aus 
den Drains abfliessende Wasser ist nur noch von schwacher Farbe, frei von 
salpetriger und Salpeter-Säure, mit nur wenigen Spuren Ammoniak und derart 
von organischen Stoffen befreit, dass es auf seinem Verlauf nicht mehr schädlich 
wirken kann. Unter diesen Einrichtungen, welche das überschüssige Wasser 
stets abführen, die richtige Zuführung von Nahrung an die Pflanzen also veran- 


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Die artesischen etc. Wässer von Hamburg und Umgegend. 387 

lassen, unter Vermeidung des schädlichen Einflusses eines zu feuchten Bodens, 
gedeihen aui diesem Ackerland alle möglichen Feldfrüchte aufs Besto. 

Auch sind seitens des Staates einige Anlagen gemacht, z. B. bei der Straf¬ 
anstalt in Fuhlsbüttel, bei dem Krankenbans in Friedrichsberg, dem Werk- und 
Armenhaus in Barmbeck, um die Abwässer zu verwerthen, jedoch haben diese 
Anlagen in Folge nicht zweckmässiger Einrichtungen und ungünstiger Boden¬ 
verhältnisse bis jetzt nicht den gewünschten Erfolg. 

Es schliesst sich hier an eine Untersuchung des Seewassers an der Düne 
von Helgoland von der Oberfläche entnommen, welche sich anderweitigen Unter¬ 
suchungen der Nordsee ähnlich verhält. 

Dieses Salzwasser hat eine tiefblaue Farbe, ist klar und brechen sich die 
Wogen weiss schäumend an dem Strand. Es sind eine Menge zoologischer Specia- 
litäten dort vorhanden, Infusorienthierchen etc. Der Salzgehalt ist wechselnd 
beim Meerwasser, abhängig von den Zuflüssen, sich vermindernd in der Nähe des 
Festlandes, selbst an den Küsten kleiner Inseln; nimmt in vielen Fällen mit der 
Tiefe des Meerwassers an Gehalt zu. 

Das Resultat ist: 

Temperatur des Wassers: 15°C. 

Specifisches Gewicht: 1,0258. 

Trockenrückstand in 100,000 Theilen: 3504 Theile. 

100 Ccm. Wasser enthalten: 

2,672 Theile Chlornatrium, 

0,488 - Chlorcalcium, 

0,042 • Schwefels. Kalk, 

0,156 - - Magnesia. 

0,136 - - Kali, 

0,010 - Bromnatrium, 

3,504 

Es finden sich eine Anzahl Algen, besonders Fucus-Arten, dort reichlich, 
welche Jod absammeln. 


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5. 


Die verschiedenen Bestattnngsarten menschlicher Leichname) 
vom infange der Geschichte bis heute. 

Von 

Medicinalrath Dr. Friedrich Küchenmeister. 


(Fortsetzung.) 


2. Abschnitt: Die LeielienVerbrennung in festen, mehr weniger voll¬ 
kommen pyrotechnisch construirten Verbrennungsöfen. ') 

1. Abtheilung. 

1. Periode: Spuren solcher Oefen in der römischen Kaiserzeit. 

Ich halte es für am geeignetsten, zunächst folgende Notiz in 
Uebersetzung mitzutheilen aus „Atti della B. academia dei Lincei 
(der Luchse), anno CCLXXVII. 1879/80, Serie Terza; Memorie della 
classe di scienzi morali, storiche e filologiche Vol. V, Roma oovitypi 
del Salviucci 1880, p. 87, 88, Tafel VIII, Fig. 13, 14.“ „Notice dagli 
scavi di antichitä nel mense di octobre 1879, von G. Fiorelli.“ 

„VII. Cenisola (di Calice, Ligurien, bei Podenzana): Ausgrabungen vor 
1878. Allo Gräber waren Behälter für Asche (cenerarii = Urnengräber); sie 
waren aus 6 Platten eines am Orte befindlichen thonigen Gesteines construirte 
Hohlbauten (costrutti a cassetta), mit Ausnahme von zweien, welche, anstatt aus 
Platten aus 6 grossen Ziegeln von der gewöhnlichen, römischen Form angefertigt 
waren. Die Platten waren etwa ebenso gross wie die Ziegel und diese sowol wie 
jene derartig angeordnet, dass eine don Boden, die andere den Deckel und die 
Seitenwnnde des Grabes bildeten. Alles war umgeben und bedeckt mit einem 
Steinhügel, der nach allen Richtungen etwa */ 2 Mtr. erreichte; über den Steinen 
war etwas Erde ausgebreiiet. Weder in den Gräbern, noch um dieselben fanden 
sich Ueberreste von einem Rogus mit Ausnahme der in den Urnen befindlichen 
verbrannten Knochen. Aber immer machte sich ein grosser Stein auf des Feldes 
Oberfläche bemerk lieh, der einem darunter befindlichen Grabe entsprach. Aus 
allen diesen Umständen ersieht man, dass bei der Bestattung eine 1 — 1 ’/ 2 Mtr. 
im Quadrat breite und eine ca. 1 Mtr. tiefe Grube gegraben wurde. Id der Mitte 


') Zufällige Verbrennungen bei Häuser- oder Strassenbrändeu sind nicht mit 
eilige:eiht. Man hat sie als Zu- und Unglücksfälle zu betrachten. Nach den 
meisten Berichten findet man die Leichen unter dem Brandschutt als zusammen¬ 
geballte, unkenntliche Kohlenkluinpen wieder. Es hat also hier nur Verkohlung, 
nicht Verbrennung stattgefunden. 


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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname. 


389 


dieser Grube errichtete man den Begräbnissraum (la cassa sepolcrale), den man 
aussen mit Steinen umgab. Nachdem die Urne nebst den andern sie begleitenden 
Gegenständen auf den Boden gesetzt und das Grab (la cassa) mit der letzten 
grossen Platte (lastrone) bedeckt war, wurde die Grube mit anderen Steinen 
(sassi) und endlich mit Erdo überschüttet. Hierauf brachte man auf denselben 
einen grossen Gedenkstein (pietra), um den Ort für die von den Hinterlassenen 
darzubringenden Werke der Pietät (pietä) zu bezeichnen. 

Die Gräber waren weder in regelmässigen Reihen, noch in gleichen Ent¬ 
fernungen von einander angeordnet, sondern hier und da in Gruppen vertheilt: 
einige von ihnen waren zu gleichem Zwecke in die Felswand eingelassen, die 
von W. her den Begräbnissplatz einscbliesst. Oie 2 Ziegel befanden sich da, 
wo die grössere Zahl von ihnen vorhanden war, fast im Centrum. Das Erdreich 
der Gräber enthielt weder Scherben (cocci), noch Thierknochen; und es ist daraus 
ersichtlich, dass hier keine Leichenmale (pasti funebri) abgehalten wurden. Auch 
Kohlen waren hier selten; doch fanden sie sich an ca. 3—4 Stellen zwischen den 
Gräbern angehäuft. Der auf der Westseite bemerkenswertheste Haufen füllte bis 
zur Hälfte ein rundes, concaves Loch (buca), das ca. 1 Mtr. Durchmesser und 
etwa eine gleiche Tiefe hatte. Unter den Kohlen lag Asche, über denselben 
Steine und Erdo. 

Es könnte dieser Kohlenbehälter (carbonaia) späteren Datums als die 
Gräber sein. obgleich niemals etwas auch nur Aehnliches in ihrem Innern ge¬ 
funden worden war (sebbene mai simil cosa siasi trovata lä intorno); es 
fanden sich jedoch an der entgegengesetzten Seite, gegen Osten, offenbar 
Spuren eines Ofens, den man als antik ansehen muss (Taf. VIII, 
Fig. 13, 14). Er halte eine viereckige Form, ca. V 2 Meter per Seite 
und wurde von 3 Seiten von einer etwas über 1 2 Meter hohen Wand 
von Steinen eingeschlossen, die noch Sp uren (Zeichen) von Feuer 
an sich trugen. Im Innern fand sich sehr schwarze und schmierige 
Erde; auf dieser lagen Stücke einer 3 Ctm. dicken, aus gebranntem 
Thon bestehenden, schwarzen Platte (lastra cotta), die so con- 
sistent waren, dass keine Kraft ausreichte, sie mit den Händen zu 
zerbrechen. Diese Platte war von vielen kleinen Löchern durch¬ 
bohrt; wahrscheinlich hatte sie auf den Steinen geruht, und war 
der Rost des Ofens, über welchem sich eine Schicht Kohlen und 
dann Erde hinzog. so dass der Bau bis zur Tiefe von ca. 1 Meter 
hinabreiebte (sieche la costruzione discendeva alla profondita di oa. 1 metro). 
Ein Ofen zum Kochen von Speisen konnte auf diese Weise (cosi) nicht unter der 
Erde eingescblossen sein; auch konnte Fiorelli aus der Beschreibung 
der Ausgrabenden nicht folgern, dass das Terrain vor ihm offen 
gewesen wäre. An einer andern Stelle habe ich schon bemerkt, dass Leichen- 
schmause auf dem Bestattungsplatze nicht abgehalten wurden. Ich halte 
dieses Oefchen (Fornello) daher für ein Ustrinum. Der Rost konnte dazu 
gedient haben, die weichen Theile des Leichnams abfliessen zu lassen und die 
Reste der zu sammelnden Knochen (über der Rostplatte) zurückzuhalten. Die 
Aschen und Kohlenmassen konnte man in ein Loch, wie es vorhin beschrieben 
worden (buca), begraben oder sie mittelst der vom Regen entstehenden Strömung 
nach abwärts hinunter spülen lassen.“ 


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390 


Dr. Fr. Küchenmeister, 


Wenn ich diesen Ofen in die Kaiserzeit und zwar die Nero’s 
setzte, so geschah dies deshalb, weil auf p. 86, wo Ausgrabungen in 
Cenisola von 1877 besprochen wurden, Fiorelli bei den in den da¬ 
selbst besprochenen Gräbern gefundenen Münzen von einer der Sage 
nach versenkten „Corona di Nerone“, wenn auch scherzend, spricht. 
Castelfranco scheint, wenn ich ihn richtig verstanden habe, auch an 
die Möglichkeit von Leichen Verbrennungen in deren aufrechter (verti- 
caler) Stellung im Alterthume zu denken. In verticaler Stellung 
verbrannte man in den Culinen die an den in deren Mitte befind¬ 
lichen Mastbäumen mit Nägeln befestigten Leichen. Es wäre also 
immerhin möglich, dass die Alten auch in einem besonderen Ofen 
obiger Art die Leichen vertical zu verbrennen gesucht hätten *). 

2. Periode: Verbrennungsöfen zu Begräbnisszwecken im Mittelalter. 

Man vergleiche (S. 325 des vorigen Bandes) die kurze Notiz Pini’s 
über das Crematorium, das 1298 bei dem Hospital „Utini“ in Udine 
bestand. Auch in Hostin in Böhmen ist ein einem Backofen ähn¬ 
licher Ofen wahrscheinlich aus gleicher Zeit aufgefunden worden, der 
jedenfalls zu Leichen Verbrennung gedient hatte. 

3. Periode: Die Verbrennung in Oefen mit zerkleinertem Holze und 
durch chemische, sich selbst im Feuer entzündende Substanzen; 
die kurze Zeit von 1869 bis Mitte 1873. 

Am 10. März 1869, am 20. Januar, 18. und 25. Februar, sowie 
am 15. März 1870 stellte Ludovico Brunetti, Prof, der patholo¬ 
gischen Anatomie zu Padua, seine ersten Versuche von Verbrennung 
menschlicher Leichen in seinem, mit kleingespaltenem Holze gespeisten 
Reverberirofen an. Dadurch dass Brunetti ein Modell seines Ofens 
und die bei seinen Versuchen gewonnene Asche auf der Wiener Welt¬ 
ausstellung 1872 ausstellte und daselbst seine kleine Schrift: „La 
cremation des cadavres“, an deren Spitze sich die Worte des 19. Verses 
des 3. Capitels des I. Buch Mosis 2 ): „Pulvis es, et in pulverem re- 
verteris“ und das Distichon Occioni’s: 


*) Ich benutze diese Stelle, um ausdrücklich zu betonen, dass, wenn man 
auch in Cenisola und anderwärts Urnen-Nccropolen errichtete, die Urnenfelder der 
einst in Mitteldeutschland wohnenden und Leichen verbrennenden Völker ganz 
anders construirt waren. Hier stellte man die Urnen gruppenweise nebeneinander 
in Ein Urnengrab. 

*) Der mosaische Spruch lautet wörtlich: „Und im Schweisse Deines Angesichts 
sollst Du Dein Brod essen, bis dass Du kehrest zur Adamah, von der Du genom- 


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Die verschiedenen Bestattungsarten der menschlichen Leichname. 391 


Vermibns erepti puro consumimur igne, 

Indocte vetitum mens renovata petit') 

befanden, an die Besucher vertheilen liess. wurde gerade er der Haupt¬ 
verbreiter der Lehre von der Feuerbestattung. 

1871 hatte Golfarelli sich für die Feuerbestattung ausgesprochen. 

1872 am 12. Juni und 12. Septbr. hatten Jean Polli, der be¬ 
rühmte Professor der Chemie, und Prof. Claricetti thierische Körper- 
theile im Leuchtgase verbrannt und zwar nach einer eigenen Modification 
der Verbrennung und hiervon Mittheilung an das Lombardische Institut 
der Wissenschaften gemacht. Letzteres schrieb in Folge dessen am 
1. August 1872 einen Preis über die Leichenverbrennungsfrage aus, 
(dessen ersten Polli, der sich selbst bei der Preisbewerbung betheiligt 
hatte, im Jahre 1877 erhielt, d. i. 844 Lire für den Preis Secco Comneno). 

1872 am 16. Decbr. wendete sich Polli an die italienische Regie¬ 
rung mit dem Gesuche: „es möge Italien mit der Feuerbestat¬ 
tung, diesem wirklichen Fortschritte der Civilisation, den 
anderen Ländern vorangehen.“ 

1872 (am 9. April, 17. und 20. August und 7. Septbr.) verbrannte 
Paul Gorini in Lodi Theile menschlicher Leichname in seinem geheim 
gehaltenen „Liquide plutonique.“ 

Schon Ende 1871 hatte ich (K.) in meinem „Lehrbuche von der 
Verbreitung der Cholera“ die Feuerbestattungsfrage in Deutschland von 
Neuem angeregt, und empfahl sie besonders bei Epidemien, wie Cholera, 
als Schutz gegen die Weiterverbreitung der Seuchen, bezüglich daran 
Verstorbener, sowie ich auch rieth, die flüssigen Dejecte bei Cholera, 
Ruhr, Typhus in Sägespänen und die Borken und Desquamations- 
producte bei Hautkrankheiten durch Zusaramenkehren zu sammeln und 
zu verbrennen, und dabei von Gestattung facultativer Feuerbestattung 
sprach. 

Im selben Jahre treten für die Feuerbestattung ein: J. E. Neild, 
E. A. Parkes (in seiner Hygieine), Gaetan Pini (Gazette de Milano 


men bist; denn Du bist Aphar, und Apbar sollst Du werden (oder zu Aphar kehrest 
Du zurück). 1 * Nun ist aber Adamah der aus seinen Atomen congloraerirte feste 
Erdboden und Aphar sind die Erdatome = der Erdstaub, der den festen Erdboden 
zusammensetzt. Es biesse also etwa so viel, als: Du, Mensch bist lebend ein 
festes Conglomerat von Erdatomen, und sollst sterbend wieder zerfallen in Erd¬ 
atome (Staub). 

1 ) „Den Würmern entrissen werden wir in reinem Feuer verzehrt; der wieder 
erneuerte (erweckte) Verstand erstrebt das ohne Klugheit Verbotene.“ 


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392 


Dr. Fr. Küchenmeister, 


und la Sant6 de Genes), Antoine Moretti (Annalen der Chemie, 
dieser selbst als Dichter), Flavio Valeroni, Cesar Musattis, 
Ayr, du Jardin. 

1872 Novbr. interpellirle Amato Amati den Mailänder Stadtrath 
über seine Stellung zur Feuerbestattungsfrage. 

1873 adoptirte zwar die italienische Kammer den neuen Code 
sanitaire nicht, aber Maggiorani hatte doch bei den Verhandlungen 
im Senate trotz der Gegenreden Lanza’s und Burci’s erreicht, dass 
der Antrag auf facultative Feuerbestattung im Princip genehmigt und 
an eine Commission verwiesen wurde. 

Unter den Italienern sind weiter ausser den Genannten zu nennen: 
Anelli, Giacchi, del 1 ’ Acqua, de Pietra Santa, Laura, ein 
Ungenannter in »Salute Genova“, Polizzi, Ferrari. 

Auch in Deutschland wurde der Kampf lebhafter in „für“ und 
„gegen“ durch Kräl (philosophische Betrachtungen über die Auf¬ 
erstehung), Mauchot (Prediger in Bremen), Fleck (Kirchhofwässer); 
in England wurde durch Thompson, und selbst in Australien 
durch Neil in Melbourne die Frage gleichfalls angeregt. 

4. Periode: Die Verallgemeinerung der Feuerbestattung in Folge von 
Verwendung von Gasen und erhitzter atmosphärischer Duft; 
von Mitte 1873 bis heute. 

1874. Nachdem am 13. Juli Betti und Teruzzi nach dem 
Systeme Dujardin eine menschliche Leiche verbrannt hatten, wurde 
durch Gesetz vom 22. Juni 1874 die Feuerbestattung in Italien als 
erlaubt anerkannt und in’s Reglement vom 6. Septbr. 1874 eingestellt; 
doch musste für jeden Einzelfall die Erlaubniss der Feuerbestattung 
vom Minister des Innern eingeholt werden. 

Wir begegnen i. J. 1874 21 Schriftstellern für Feuerbestattung: 
Ayr, Bondielli, Grosoli, Montegazza, Boceardo, Cajus Pey- 
rani, Charles Foldi, Bernardin Biondelli, Melscns, Musatti, 
Roboletti, de Tedesco, Brunetti, deil’ Acqua, Pisani, Rodolfi, 
de Pietro Santa, Montegazza, Delitala und einem Uebersetzer 
meiner Schrift. 

Besonders treten nun die Deutschen (23) in den Vordergrund 
mit Ullersperger, Baginsky, Bernstein, Elischer, E. Richter, 
Volkmann (Begräbniss), Roth (2mal Begräbnissplätze), Unger, 
Reel am (4mal in Gartenlaube, wie seine Arbeit auch in’s Französische 
übersetzt wurde), Althert (Pfarrer), ich selbst (6mal und einmal 
in’s Italienische übersetzt), Moschkau, Stein mann (mit einem Ver- 


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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname. 


393 


brennungsapparate), v. Dücker (gegen Feuerbestattung), desgleichen 
v. Hellwald, v. Steinbeiss (mit einer neuen Bestattungsart), Katz 
(Stellung der Juden zur Feuerbestattung), Lange (Prof, der kathol. 
Theologie in Bonn), Brunnhofer, Stanek (neue Bestattungsart), 
Mohr (Schrift gegen Feuerbestattung), Fischer, Scholl und ein Paar 
Ungenannte in Schriften aus Rahmer’s Verlag, die Leipz. illustr. Zeitung, 
Siesta, Beiblatt zum Frankfurter Beobachter, sowie Fleck (Kirchhof¬ 
wässer, Gräbergase, Beiträge zur Leichenverbrennungsfrage). Mehrere 
der Autoren sind mehrmals vertreten. 

In der Schweiz wurde die Feuerbestattungsfrage besonders da¬ 
durch angeregt, dass auf dem Kirchhofe „an der hohen Promenade 
in Zürich“ die Leichen in ihren Gräbern unverwest und in Adipocire 
verwandelt gefunden wurden. Von Autoren sind zu nennen: Weg- 
mann-Ercolani, Weith, Goll, Lang, Heim und der Züricher 
Congress der Freunde der Feuerbestattung vom 7. und 10. März 1874. 

In Oesterreich behandelte der Wiener Gemeinderath am 6. Febr. 
1874 (und später wiederholt, wie auch der Landtag des Erzherzog¬ 
thums Oesterreich) die facultative Feuerbestattung bei Gelegenheit der 
Errichtung eines neuen Friedhofes in Wien; kurz darauf that dies auch 
die kaiserliche Academie der Medicin. Am lebhaftesten verwendeten 
sich unter den 7 Autoren dafür der Bezirksarzt (Kreisphysikus) von 
Wien Dr. Innhäuser, Dr. Vitlacil, Adler, Neustadt, Lanisi, 
Stanek und ein gewisser H—n. 

In England finden wir 12 Autoren: Sir Henry Thompson 
(3mal), Eassie, Frazer, Holland, Bernays, Blyth, den angli- 
canischen Bischof Wordswoth von Lincoln (in seinen Predigten), 
Touth Suker, A. Rolleston, Wheelhouse und Autoren in ver¬ 
schiedenen Nummern der Medical Times and Gazette. 

Von französischen Autoren sind zu nennen: Prosper de 
Pietra Santa, Sales-Girons, Devreux, Temtarier, Fossa- 
grives, Fonteret, du Camp, Dorvant, Cherean, Bouchardat, 
ein Uebersetzer Reclam’s und verschiedene Artikel in Union me- 
dicale und Annales d’hygiene, sowie ein Bericht über die Feuer¬ 
bestattungsfrage an den Minister Waddington. 

In Belgien finden wir ausser Cröteur, Henri Berge und 
M. A.Prins; in Holland: van der Heggezij ven, einen Uebersetzer 
Wegmann’s und die Zeitschriften Genees Courant und Neve 
Rotterdamske Courant; in Spanien: de Monilla, Vergas, 
Gilroann; in Nord-Amerika: Hoffmann (Philadelphia), Brinton, 

VierteIJahrucbr. f. ger. Med. N. F. XL1V. 2. 26 


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394 


Dr. Pr. Küchenmeister, 


Bayles, wie auch die Medic. Times and Gazette einen Bericht 
über die Cremation in Amerika gaben; in Süd-Amerika beschäftigt 
sich damit die: Revue med. e quir. Buenos-Ayres. 

Praktisch greift zuerst diese Frage Italien an durch 
die öffentliche Verbrennung der Leiche des Baron Albert Keller 
(verstorben am 23. Januar 1874 in Mailand), der testamentarisch 
verlangt hatte, dass man seine Leiche im Feuer bestatte und der der 
Stadt Mailand eine beträchtliche Summe für Errichtung eines Crema- 
torium und Columbarium ausgesetzt hatte. Das Gesuch Polli’s und 
einer grossen Anzahl von Freunden, sowie der Familie von Keller’s um 
Gestattung der Feuerbestattung wurde vom Ministerium abgeschlagen, 
man ging zur vorläufigen Einbalsamirung des Baron Keller über und 
schickte sich in Mailand an, unter Leitung Polli’s, Claricetti’s 
und des Baumeisters Maciachini einen Verbrennungstempel auf 
einem von dem Mailänder Magistrat geschenkten Terrain auf dem 
Monumental-Kirchhof zu errichten. Am 6. April petitionirte eine 
Versammlung von 600 Freunden der Feuerbestattung in Mailand beim 
Ministerium um die Genehmigung der Feuerbestattung. Die Antwort 
lautete verneinend und dauerte es 2 Jahre, bis man unter dem frei¬ 
sinnigen Ministerium Nicotera die Erlaubniss erhielt, und was hier 
gleich eingeschaltet werden soll, am 22. Januar 1876 die Leiche des 
Baron Keller verbrennen konnte. 

Inzwischen war man in Deutschland weiter vorgegangen. 

Professor Reclam in Leipzig hatte sich an den Dresdner Pyro¬ 
techniker Steinmann mit der Anfrage „über die geeignetste Art der 
Verbrennung von Leichnamen?“ gewendet und war von Letzterem an 
Friedrich Siemens in Dresden gewiesen worden, in dessen Eta¬ 
blissement für Glasfabrikation sich ein Gas - Regenerationsofen in 
Thätigkeit befindet. Nachdem Herr Siemens daran einen Feuer¬ 
bestattungsofen angebaut hatte, wurden seit dem 2. Juli 1874 Theile 
von Thiercadavern (200 Kilo Pferdecadaver in kleine Theile zerlegt), 
am 6. August ein Pferdecadaver, am 10. ein ganzes Schwein und am 
15. August 3 Hammel verbrannt. 

Da ich an allen einzelnen Versuchen von Anfang an Theil ge¬ 
nommen, berichtete ich hierüber in No. 44 u. 48 der deutschen Klinik 
von 1874. 

Am 9. October 1874 wurden diese Versuche auch auf Verbren¬ 
nung eines menschlichen Leichnams, des der Frau Dr. Thilenius, 
daselbst ausgedehnt. 


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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname. 


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Um allen Weiterungen aus dem Wege zu gehen, und in Gemässheit 
des Princips, auf dem ich stelle (wo möglich stets vorherige Section des 
zu verbrennenden Individuum, so lange wir keine „coroner“ haben), 
hatte ich bei der obersten Behörde ausgewirkt, dass zuvor die Section 
der Leiche durch den Stadtbezirksarzt vorgenommen würde. Dieser 
ersten, ebenfalls in der deutschen Klinik von 1874 von mir be¬ 
schriebenen Verbrennung wohnte Prof. Reel am ebenfalls bei. Es 
fanden noch 2 dergleichen Feuerbestattungen bei Siemens statt, bis 
die Behörde weitere Verbrennungen untersagte und nur noch zu Demon¬ 
strationszwecken die eines Selbstmörders seitens der Militär-Sanitäts- 
Direction erfolgte. Noch würde für 1874 zu erwähnen sein, dass am 
18. Juli und 15. August 1874 (wie später nochmals im Februar 1875) 
Polli, Claricetti und der Ingenieur Venini Versuche anstellten, 
um (wie schon früher Hermann Eberhard Richter in der Garten¬ 
laube gerathen hatte), Thiercadaver in Leuchtgas zu verbrennen. 

Es mag dabei hier zugleich noch erwähnt sein, dass nach dem 
Systeme Polli die erste Leichen Verbrennung in Italien, die des Baron 
Keller, vorgenommen worden ist. Man benutzte es hierauf noch zwei 
Mal. Dann wurde das System gänzlich verlassen. 

Das Jahr 1875: Der Hauptführer der Be- und Gegenbewegung 
wurde jetzt Deutschland. Wir begegnen hier 19 Autoren: Fischer 
(2 Mal), ich selbst (K.) 2 Mal, Neumann, Schneider, Lion sen., 
Engelmann (in Strassburg, französisch geschrieben), Winkler, 
Reclam, Arthes, Roth, Pfarrer Albrecht, Ullersperger, Heil¬ 
mann (Kirchhofgeschichte), Reichardt, Ecker, Mohr, Wittmeyer, 
die Leipziger illustrirte Zeitung (Verpackung der Leichen aus 
St. Francisco nach China), wie auch Haweis ins Deutsche übersetzt 
wurde; der grössere Theil der Autoren für, der kleinere gegen Feuer¬ 
bestattung. Unter den Italienern finden wir Guidini, dell’Acqua, 
Cloetta, Palasciano, Rota, Delitala, Da Camino, Bevizzardi, 
Rodolfi; unter den Holländern: Schneider, Prediger Thoden, 
v. Velzen, Beijer, Plantenga, Hartogh, Heiss van Zoute- 
veen, Harting, Adrairaäl; unter den Engländern: Hadcn, Haweis 
(auch in’s Deutsche übersetzt), Eassie, Castle, Lowndes, Yan- 
dell, Traill-Green; ausserdem noch Schweizer: ein Winterthurer 
Techniker, Wegmann-Ercolani, Kopp, Wyss, Goll, Zehnder; 
Nord-Amerikaner: Adams, Cole, Leconte (über Bestattungs¬ 
weisen der nordamerikan. Indianer), Berraiogham; Franzosen: 
Pages, Martin-Barbet; Oestcrreichcr: Rozsay, Nowack; den 

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t)r. Fr. Küohenmeister, 


Dänen: Hornemann und den Russen: Smelet. Vom prakti¬ 
schen Gesichtspunkte aus ist für dieses Jahr noch zu erwähnen: 

In Paris hatte sich die Commission für Errichtung des neuen 
Kirchhofs von Mery sur Oise schon am 17. August 1874 zu Gunsten 
der Crümation ausgesprochen und auf den Antrag Levels der Com- 
munal-Conseil 1875 einen Preis für den besten Apparat ausgesetzt und 
dabei verlangt, dass: 

1) der Apparat geruchlos und ohne Rauch und ohne schädliche 
Gaserzeugung wirke; 

2) dass die Identität der Person bei der Verbrennung gesichert 
werde; 

3) dass man die Asche rein und ohne alle Beimischung fremder, 
fester Substanzen (die vom Brennmateriale stammen) erhalte; 

4) dass das anzuwendende Brennmaterial, wie der Apparat selbst, 
leicht zu haben und billig sei, und endlich 

5) dass der Verbrennungsact selbst nicht die religiösen Gebräuche 
tangire. 

Man stellte 3 Preise von 25, 15 und 10000 Frcs. 

Der Concurs unterblieb in Folge einer Verordnung vom 15. Fe¬ 
bruar 1875. 

Als 1875 die Feuerbestattungsgesellschaft in London einen 
Feuerbestattungsofen in London errichten wollte, erhielt sie zwar die 
Erlaubniss hierzu, der Bischof von London aber setzte es durch, dass 
der schon begonnene Bau auf einem ihr auf dem grossen Septentrional- 
Kirchhof überlassenen Platze sistirt werden musste. 

Im Jahre 1875 verliess endlich noch Gorini sein bisheriges 
chemisch-pyretisches System und stellte den Plan eines neuen Ofens 
fertig, der, nachdem er auf Stadtkosten auf dem Kirchhof Aiolo in 
Lodi errichtet und am 6. September 1877 in Gebrauch gesetzt worden 
war, jetzt unter dem Namen „Crematorio Lodigiano“ in Italien der 
allgemein verbreitetste geworden ist. 

Das Jahr 1876. Es zeigt sich nahezu eine gleiche schriftstelle¬ 
rische Thätigkeit unter den Franzosen mit Marmier, Bertheraud, 
Janssens, Prunieres, Devergie (neue Bestattungsart), Dela- 
siauve, Peres, Baube-Bouchardat-Boussingault und Troost, 
Gannal, Galopin, Mermier, wie auch ein Ungenannter in Annöe 
müdical und eine Uebersetzung von Steinbeiss, und unter den 
Deutschen: Pastor Weber (als Gegner der Feuerbestattung), Wett¬ 
meyer, G. Vogt (neue Bestattungsweise), Gerstel, Reclam (mehr- 


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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname. 


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raals), Jacob, Gottfried Kinkel, Kopff, Wasserfuhr (Elsässer), 
Verhandlungen des 1. europäischen Congresses der Freunde der 
Feuerbestattung, illustrirte Zeitung: Pieperund Lilienthal, 
Bach (Gräbergase); und nahezu gleich Viele unter den Italienern: 
Belletrino, Jardin, Gabba und Valsuani, Musatti, Pini (wie¬ 
derholt), San Roman, Pace, Gorini, de Pietra Santa. Weiter 
begegnen wir den Oesterreichern: Schneller, Popper, Kronfeld; 
dem Russen: Schuchoff; den Spaniern: Salcedo y Ginestal und 
de la Vögas; den Holländern: van Harset, Franchiment 
(Leyden) und Abhandlungen in Mededeelingen der Vereenigung 
von Lijkverbrending; den Engländern: Tiffeny, Haweis und 
Sanitary Review; den Nord-Amerikanern: Hoffmann (Indianer¬ 
bräuche), Le Moyne, Adams, Oeker, Pittsburger Rep. Bd. 
Health und Boston med. and surg. Journal; den Süd-Ameri¬ 
kanern: Papper (Chile) und Cruis (Brasilien); sowie über Japan 
Dönitz (2mal) berichtete. 

Das Wichtigste aber in diesem Jahre und das, was zugleich dies 
Jahr 1876 zu dem wichtigsten in der neueren Geschichte der Feuer¬ 
bestattung macht, sind die praktischen Vorgänge. Dass am 22. Jan. 
1876 die Leiche des Baron Keller in Mailand im Feuer bestattot 
wurde, ist schon erwähnt. 

Am 25. Februar 1876 wurde von Neuem in Frankreich über die 
Feuerbestattung verhandelt und der Conseil beschloss, dem Anträge seiner 
Commission (Baube, Bouchardat, Troost, Boussingault) gemäss: 

1) durch bei der Metallurgie angewendete, ähnliche Gasöfen kann 
geruchlos verbrannt werden; 

2) die Creraation ist dem Begräbniss in Fosses communes vor¬ 
zuziehen, in denen jeder Leichnam ungenügenden Platz hat; 

3) nur von der medicinal-crirainellen Seite gebe es Bedenken und 
deshalb auch solche für die öffentliche Sicherheit (welch letzteren Punkt 
auch die Sociöte fran<jaise de raedecine legale betonte). — 

Im Juni (6. und 7.) 1876 wurde der internationale Congress 
für Feuerbestattung in Dresden abgehalten, auf welchem die 
Schweiz, Holland, England und Frankreich vertreten waren; Italien 
aber fehlte, weil (wie Pini sich beschwert) bei der Einladung Italien 
vergessen worden war (was unter allen Verhältnissen, wenn dies ge¬ 
schehen, unabsichtlich geschehen war). Nachdem Kinkel eine be¬ 
geisterte Rede (die später in der Augsburger allgemeinen Zeitung er¬ 
schienen ist) über die Feuerbestattung gehalten hatte, ergriff ich selbst 


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398 


Dr. Pr. Küchenmeister, 


(damals Vorsitzender des Congresses) zur Einleitung in die Debatte 
das Wort, und indem ich erklärte, dass die Hauptsache sei, einen 
Feuerbestattungsofen in Deutschland zu errichten, wozu sich in Gotha 
die Gelegenheit biete, wenn die nöthigen Geldmittel bereit gestellt 
würden, legte ich 100 Mark auf den Directorialtisch hierzu nieder. 
Sofort wurden von Frau Bontems-Riebe aus Leipzig 3000 und 
von Herrn Privatus D....ch ebenso 3000 Mark gezeichnet, und durch 
eine sofort angefertigte Liste theils in der Sitzung, theils bald nachher 
nahe an 20000 Mark gezeichnet und dem Stadtrath von Gotha als 
Beitrag zum Bau offerirt. So entstand der Feuerbestattungsofen nach 
Siemens’schen System in Gotha, indem die Stadt Gotha selbst 
60000 Mark für den Bau gewährte. Das nachgebaute Cinerarium 
(Columbarium) wurde von der Stadt errichtet, nachdem die ebengenannte 
Dame auch hierzu eine weitere Summe nachgesteuert hatte. Es sei 
hier gleich noch erwähnt, dass die erste Verbrennung in Gotha am 
10. Decbr. 1878 stattfand. 

Das ist die Geschichte der Entstehung dieses Ofens, der bis zum 
15. März 1886 in Summa 316 Mal benutzt worden ist. Leider macht 
jede Einzel Verbrennung zur Zeit noch sehr erhebliche Ausgaben, weil — 
wie der pyrotechnische Ausdruck heisst — das immer neue Ausblasen 
des Ofens und sein neues Anblasen nicht unbeträchtliche Kosten macht, 
die nur dann aufgehoben werden, wenn der Ofen unausgesetzt im 
Brande bleiben kann. 

1876 veranstaltete endlich noch Reclam bei der Naturforscher- 
Versammlung in Breslau die Verbrennung einer ohne alle Angehörigen 
im „Allerheiligen Spitale“ verstorbenen Pfründnerin im Leuchtgas- 
Ofen (in einer Leuchtgas-Retorte). Leider hatte er unterlassen, zuvor 
die Erlaubniss der Behörden hierzu einzuholen und sich nur mit der 
Hospitals-Direction in Einvernehmen gesetzt. Was ich, sobald ich dies 
gehört, aussprach, traf ein. Der Vorgang erregte den lebhaftesten 
Widerspruch der Behörden und lauten Tadel. 

Ich werde nun zunächst von 1877 an die literarische Thätigkeit 
verfolgen. 

Das Jahr 1877. In Deutschland zeigt sich eine fortgesetzte 
Thätigkeit. Wir begegnen: Schwarz (Geschichte), Fischer, Reiner, 
Essek, Schultze (Victor), Reclam (mehrmals Berichte über Feuer¬ 
bestattung in der deutschen und französischen Schweiz, Deutschland 
und Frankreich); neue Verfügungen der Stadt Gotha über 
Feuerbestattungen; Nägeli, Schneider, Wasserfuhr (Elsässer, 


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Die verschiedenen Bestatlungsarten menschlicher Leichname. 


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über Kirchhöfe); Zeitschrift Urne; Vierteljahrssehrift für öffent¬ 
liche Gesundheitspflege; Thüringer medic. Correspondenz- 
blatt. Gleiches beobachtete man in Frankreich durch Becquerel, 
Cadets, Decroix, duMesnil, Level, Lacassagne und Dubuis- 
son, Feroci (Kirchhofsfrage), und darüber der Belgier Nirrahc; ferner 
rühren sich in Südamerika: Lockrridge (Louisville), Vinelli (Rio- 
Janeiro); Nordamerika: Reyes (Mexico), Ottersoon (Brooklyn), 
Saturday Review (Leichenverbrennung in Amerika). In Oester¬ 
reich finden wir: Wittelshöfer (Kirchhoffrage) und Mittheilungen 
des Vereins der Aerzte für Niederösterreich; während die Thätigkeit 
nachliess in Italien: dell’ Acqua; in Holland: Harting; in der 
Schweiz: Schmidt; und in England: Eassie, Day; wie auch noch 
Ercolani in’s Spanische übersetzt wurde. Neu tritt Schweden ein: 
Wallis. 

Im Jahre 1878 nimmt die Behandlung der Frage der Feuer¬ 
bestattung im Ausland etwas ab; aber sehr thätig wird darüber in 
Deutschland verhandelt: Sonntag, Spiess, Thaler; Beschreibung 
des Systems von Friedrich Siemens (auch französisch); Ecker, 
Reclam (mehrmals), Schuchardt (über Gotha), Senft, Engel 
(Pfarrer), Kerchsteiner, Thaler, Berger (Kirchhoffrage). In 
Frankreich finden wir: Prunieres, Riant, Zaberowski, Ueber- 
setzung von Friedrich Siemens, Vallin, Rochu, Beau. In 
Italien, in dem man an immer mehr Orten Feuerbestattungsöfen 
errichtet hat, begegnen wir: Gasparotte, de Christoforis und 
Pini, Panizza, Breccia; in England: Eassie (3 Mal) und 
Parkes; in Oesterreich: Presl und Kratter (Adipocirung); in 
Spanien und Nord-Amerika: Genesta und Smart. 

Von 1879 an tritt an die erste Stelle Frankreich: Maunoury, 
de Pietra Santa, Forfer über Kerchensteiner, Morin, Talmy, 
Lacassagne und Dubuisson, Ladreit de Lacharriere, Napias- 
Gallard-Lagneau-Riant, Morin, Lauth (Assanirung der Kirch¬ 
höfe), de Pietra Santa, de Medici, Kuborn und Jacques, 
Gambetta, A. Cadet, Cousin, Max du Camp, E. Lacan, Tis- 
sandier, Vivieu, Salomon, Napias, Prat, Leriche, Maret 
und vor Allem der frühere Elsässer, jetzige Maire des IX. Pariser Arron¬ 
dissement: Köchlin-Schwartz. In Italien finden wir: Gorini, 
Caporali und Ungenannte in der Gaz. med. ital., prov. Venete, in 
Giorn. della Soc. Ital. d’Hygiena, Giorn. d’Hyg., Venelli, in Eng¬ 
land: Richardson, Williams, Wakley (2 Mal), Gross und 


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400 


Dr. Fr. Küchenmeister, 


Artikel in: Med. Presse and Circul, Sanit. Rec., Lancet (mehrmals), 
Sanit. Record; in Deutschland und in der Schweiz: Schultze 
(M. V.), Reclam, C. Vogt, Wiss, Uffelmann; in Süd-Amerika: 
Dupont (Buenos-Ayres), de Sonza (Lima), Dupont; in Spanien: 
Creus (Barcelona), übersetzt von Schütz; in Nord-Amerika: 
Rachel. 

Im Jahre 1880 überwiegt Frankreich alle Länder an Schrift¬ 
stellern: H. Molliere, Fassy, Riant, Ladreit de Lacharriere, 
Perr ineile, Norm and (über den 8. Congress d’Hyg. in Turin), 
Robinet (Gegner); Referat über Vinelli in Ann. d’Hyg. publ.; 
Journ. d’Hyg.: über Polli’s Verbrennung; Vallin, Revue d’Hyg., 
Cyrnos. Dann folgt Deutschland mit Friedländer, Wernher, 
Fleck (Bodendurchlässigkeit auf Kirchhöfen), Wiesemes (Anlage 
der Kirchhöfe); niederrh. Corresp.-Blatt für öffentl. Gesundheitspflege; 
Italien: Pini und Giorn. della Soc. Ital. igica; Schweiz: 
Cossier (Kirchhoffrage); Nord - Amerika: Yarrow, Petersen; 
über Japan: Beukema und Plügge. 

Im Jahre 1881 wird es in der Literatur noch ruhiger und fast 
nur in Frankreich findet man unsere Frage betreffende Schriftsteller: 
de Fournes, * de Pietra Santa und de Nansouty, Martin, 
du Mesnil (Sanirung der Kirchhöfe), Vallin (dasselbe); in Deutsch¬ 
land nur Hampe (Grundsätze für Friedhofanlage); in Italien: 
Colombo und Guidini; in Dänemark: Hornemann und Hosp. 
Tid.; in Schweden: Linroth; in Oesterreich: Die Leichen Verbren¬ 
nung in Wien und Schmid (Kirchhofsanlage); in Nord - Amerika: 
Yarrow und Purdy; über Japan: de Pietro Santa. 

Im Jahre 1882 finden wir fast alleinige Thätigkeit in Italien: 
Lussana, Vitali; Statut der Gesellschaft Paolo Gorini (in Co- 
dogno), der in Modena und der in Domo Dossola; Conferenz der 
Professoren Sormani, Gentile, Zenoni e Cantoni; sul’ incine- 
rimento dei cadaveri (Pavia); in Frankreich: Arnold (Bull, 
möd. du Nord), Verrier, Gosse; in England: Eassie (W.), Mayr. 
Leach; in Nord-Amerika: Um burial (New-York), Cobb, Gil- 
man; in Deutschland: Eulenberg, Kuby, Böhm, Schuster 
(sämmtlich über Beerdigungswesen). 

Literarisch noch stiller verläuft 1883. Vor Allem finden wir 
Italiener: Ambrosioni, Turpitulini, Ellero, Mandelli, Porro, 
Maestri, Rota, Giani, Cucaro, Cantoni; dann in Frankreich: 
Monin, Brouardel, Gavien, Malo, de Pietra Santa; in Deutsch- 


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Die verschiedenen Bestatlungsarten menschlicher Leichname. 


401 


land: Hensch und Bericht des Berliner Feuerbestattungs-Vereins; in 
Oesterreich: Hlavac v. Rechtwall. 

Im Jahre 1884 begegnen wir der grössten Thätigkeit in England: 
Williams, Haden, Lambert, Fairland (über Indien), Eassie, 
Fowler (New-England), und London med. Rec.; und in Nord- 
Amerika: verschiedene Zeitschriften: The legal aspect of cre- 
mation (New-Orleans med. and surg. Journal), Beugless (Sanitarina 
New-York), Formento (Transact. of the Louisiana med. Soc.), The 
Lancaster crematorium (med. and surg. Report. Philadelph ), ferner 
Cremation versus interment (San. Engin.), United States Cre- 
mation Company (New-York, Brooklyn), und Wiekes: ßegräbniss- 
geschichte. Dann folgen noch Italiener: Venuncio, Prieto, Bru- 
netti, Moretto, und die Statuten für Leichenverbrennung in Brescia 
und Mailand; Franzosen: Chevee-Leroy, Thouvenet (Kirchhöfe 
und Verbrennung), Brouardel, der Progres med., und der Belgier 
van den Carput; und in Süd-Amerika: Gache (Buenos-Ayres). 

1885 endlich sind zu nennen: Italiener: • Pini, Bezi, Buti; 
Deutsche: Anderl, ich selbst (K., diese Zeitschrift), und der 
Uebersetzer Pini’s; Engländer: Hutton, S. Wells, Cremation 
Society of England: in Nord-Amerika: Boneil, Keating, 
Marble (mehrmals), Davey (Bristol); in Süd-Amerika: erste Ver¬ 
brennung in Buenos-Ayres; in Dänemark: Ugesk. f. Laeger (Ko- 
penbagefi), Budde; in Schweden: Hamberg. Hauptgegner der 
Missionspriester: Giacomo Scurati, Mailand. 

Ueber Verbrennung von Thierleichen und Assanirung von 
Schlachtfeldern: 

Diese Frage wird, nachdem die Russen schon 1814/15 Thierleichen bei 
Paris verbrannten, angeregt 1830 von den Franzosen: Parent-Duchatelet; 
und Trebuchet spraoh über das Begräbniss der im Jahre 1814/15 Gefallenen. 
Praktischen Werth erhielt die Frage erst im 1870/7 ler Kriege. Wir begegnen 
da 1870 dem Deutschen: Schultz-Schultzenstoin; dann 1871 zunächst 
besonders Belgiern: Orloff und Guillery, Dupuy, Tardieu, Cröteur, 
dem Gonseil sup. d’Hygiöne de Belgique, dem Bericht in Gaz. heb- 
domad.; im Jahre 1872: Döle und Pein (Belgier und Franzose), dann den 
Deutschen: W. Roth, Frölich (beide Militärärzte in Sachsen), M. Hirsch; 
1875: Friedrich Siemens (Feldverbrennungsofen in meinem Handbuch der 
Lehre von der Verbreitung der Cholera); 1876: Marmier (These, Paris), 
Kuborn und Jacques (Belgier, Journ. d’Hyg.) und Kuborn allein (Bull. deP 
Acad. de Med., Belg.); 1878: Duroux (Thöse, Paris); 1879: Erisman, Des- 
infection der Schlachtfelder im russisch-türkischen Kriege. — 


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402 


Dr. Fr. Küchenmeister, 


Verfolgen wir nun endlich die praktische Seite der Aus¬ 
breitung der Feuerbestattung nach einzelnen Staaten, so ergiebt sich 
bezüglich Italiens: Im Jahre 1877 milderte Nicotera die Bestim¬ 
mung vom 22. Juni 1874 (Einholung der Erlaubniss für jeden Fall 
direkt beim Minister) dahin ab, dass dieselbe stets nur beim Bürger¬ 
meister (Präfect) einzuholen sei. In Folge dessen ist die Feuer¬ 
bestattung in vielen Städten Italiens (cfr. infra) eingeführt 
worden. 

Das mit den Präfecten vereinbarte und vom Conseil provincial 
sanitaire genehmigte Reglement wurde am 1. October 1878 eingeführt 
und am 2. April 1880 nochmals revidirt. 

Bei der Wichtigkeit, welche Mailand in der Geschichte der Feuer¬ 
bestattung spielt, mögen die Vorgänge in Mailand hier im Zusammen¬ 
hänge folgen. 

Bis April 1876 benutzte man in Mailand zunächst das System 
Polli Claricetti; dann auf ganz kurze Zeit das System Betti- 
Terruzzi; dann bis Mitte 1880 das System II Gorini’s (das des 
Crematorio Lodigiano); seitdem dessen Verbesserung durch Verini. 
Gleichzeitig baute man das Columbarium um, zu dessen Vergrösserung 
die Stadt 40000 Frcs. beisteuerte. Man stellte ausser dem einen für 
Einheimische benutzten, noch einen zweiten Apparat auf für zugeführte 
Fremde und für an ansteckenden Krankheiten Verstorbene. Es gilt 
der Mailänder Apparat als eine Musteranstalt und wird viel besucht 
von Technikern und Hygienisten, sowie bei Congressen (Congres inter¬ 
national d’Hygiene in Turin, der günstigen Bericht darüber gab, 
12. Septbr. 1880) und bei Ausstellungen (z. B. der Nationalausstellung 
daselbst 1881). Man stellte eine Taxe für die Verbrennung, Aschen¬ 
sammlung und Transport an den Sterbeort auf. 

Was noch hierüber bis heute zu berichten wäre, ist Folgendes. 
Mailand wurde auf dem Congress der Vereine und Freunde der Feuer¬ 
bestattung 1883 84 zum Vorort und Sitz des Präsidiums und Bureaux 
der Commission über die Feuerbestattungsfrage gewählt, nachdem die 
Freunde der Feuerbestattung einen Congress in Modena abgehalten, 
der Congres international d’Hygiene am 7. Novbr. 1882 über Feuer¬ 
bestattung verhandelt und am 9. Septbr. 1883 zu Gunsten der Feuer¬ 
bestattung gestimmt hatte. Man sucht vornehmlich Bestimmungen über 
die AschenaufbeWährung zu treffen und macht in Italien sich immer 
von Neuem an das Studium der criminalistischen Bedenken und deren 
Widerlegung. 


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Die verschiedenen Bestattangs&rten menschlicher Leichname. 403 

Da der Minister (und mit vollem Rechte, K.) einem Herrn Cam- 
berti die Aufbewahrung der Asche seiner Tochter in seinem Hause 
abgeschlagen hatte, suchte der Mailänder Feuerbostattungsverein um 
die Erlaubniss nach, die Asche in Wohlthätigkeitsanstalten (z. B. im 
Institut der Rhachitischen), Kirchen oder in anderen dem Cultus ge¬ 
weihten Gebäuden aufbewahren zu dürfen, und führten die Verhandlungen 
endlich dazu, dass der Mailänder Verein ein Cinerarium oder Colum- 
barium selbst errichtete. Loria beantragte, um den criminalistischen 
Bedenken gerecht zu werden, dass die Anlegung eines Sectionszimmers 
mit Zubehör (Mikroskop etc.) im Crematoriura und dass die Section 
jedes zu verbrennenden Leichnams hier oder im pathologisch-anato¬ 
mischen Laboratorium durch den städtischen pathologischen Anatom 
vorgenommen werde (was Beides genehmigt wurde). Ausserdem setzte 
Loria einen Preis (1000 Lire 5% Rente) für Widerlegung der ge¬ 
richtlichen Bedenken aus. 1 ) 

In England trat der Congress des Sanitary Institut of Great- 
Britain 1877 in Lemington in lebhafte Verhandlung über die Feuer¬ 
bestattung, und beschloss 1879 auf dem Congress in Manchester mit 
Polli und Claricetti über den Apparat zu verhandeln; man berief 
jedoch Gorini, um auf dem grossen Kirchhof in Wolking ein Creraa- 
torium nach seinem System zu bauen. Den Bau führten Turner und 
Easie aus, doch richteten sie Coaksfeuerung ein. 

Inzwischen spielte sich in England ein eigentümlicher Prozess ab. 
„Sterbend hatte ein gewisser Grokenden bestimmt, verbrannt za werden, und 
seine Freundin Miss Elise Williams beauftragt, der Verbrennung seiner Leiche 
beizuwohnen, die Asche zu sammeln und nach Belieben mit ihr zu verfahren. 


') Was die Affaire Garibaldi anlangt, so hatte dieser in seinem Testament 
vom 30. Juli 1881 und Codicill vom 9. Septbr. ej., eröffnet 1882 in Codigno, be¬ 
stimmt: „Mein Leichnam soll verbrannt werden mit Holz von Caprera an dem 
Orte, den ich durch eine eiserne Stange bezeichnet habe, und eine volle Hand 
(Faust) voll Asche soll in einer Graniturne im Grabe meiner Töchter unter der 
dort stehenden Acazie plaoirt werden. Meine sterbliche Hülle soll das rothe Hemd 
umhüllen; das Haupt soll im Sarge oder auf dem kleinen Eisenbette mit dem 
Rücken gegen die Mauer (gegen N.) liegen mit verhülltem Gesicht, die Füsse gegen 
die Stange. Die Füsse des Sarges oder kleinen Eisenbettes sollen mit kleinen 
Eisenketten festgehalten werden, der eine am andern. — Man hat meinen Tod 
nicht eher dem Syndaco anzuzeigen, als bis mein Körper verbrannt sein wird.“ 
Der Minister entsandte Pini und die Professoren To dar o und F. Crispi 
unmittelbar nach Garibaldi’s Tode nach Caprera; aber schon hatte Professor 
Albanese die Einbalsamirung begonnen und Pini kehrte am 13. Juni unver¬ 
richteter Sache zurück. 


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404 


Dr. Pr. Küchenmeister, 


Die Verwandten nahmen jedoch die Lerche und begruben sie an einer Stelle bei 
B re mp ton, die zwar nicht consecrirt, aber durch einen katholischen Geistlichen 
benedicirt worden war; Alles trotz des Protestes der Miss, die nach 3 Monaten 
die Exhumation des Crokenden unter der Angabe durchsetzte: „sie wolle die 
Leiche an einem schicklicheren Platze (in der Grafschaft Montgommery) beisetzen 
lassen.“ Zur Feuerbestattung hatte der Staatssecretär die Erlaubniss nicht er- 
theilt. Die Miss aber entführte die so erlangte Leiche nach Mailand, wo sie am 
11. April 1878 verbrannt wurde. 

Das Gericht sprach in einem von der Miss gegen Crokenden’s Verwandte 
angestrengten Prozesse ihr die Restituirung der durch die Feuerbestattung er¬ 
wachsenen Unkosten nicht zu. sondern verurtheilte sie in alle Unkosten, da die 
Wegführung der Leiche nach Mailand illegal und ein Betrug gewesen sei. Denn 
„es könne ein Individuum nicht über seinen Leichnam Bestimmung treffen, und 
die Feuerbestattung sei vom englischen Gesetze zur Zeit noch nicht anerkannt.“ 

Das iu Mailand errichtete Columbarium wird Cinerarium genannt. 

Belgien, v. Carabergh erstattete in der Commission centrale 
de santö de Bruxelles dahin Bericht, dass trotz einiger Bedenken vom 
criminellen Gesichtspunkte aus die Incineration die vernünftigste und 
nützlichste Bestattungsroethode sei, in Rücksicht auf die Zersetzung 
des Körpers. 

Schweiz. Am 26. Juli 1877 nahm der Staatsrath von Zürich 
Bestimmungen über Feuerbestattung in das neue Gesetz über öffent¬ 
liche Hygieine auf. Man sammelt jetzt in der Schweiz für und ver¬ 
handelt mit Mailand über die Errichtung eines Verbrennungsofens nach 
dem System: Gorini-Venini. 

Nordamerikanische Freistaaten (und zwar nördliche Hälfte). 
In Folge der 1874 75 eingeleiteten Bewegung fing man an, nach dem 
Systeme Lemoyne (ähnlich dem von Betti und Torussi), das sehr 
mangelhaft, langsam wirkend und sehr theuer ist, im Feuer zu be¬ 
statten und zwar in grosser Zahl in New-York und Philadelphia. So 
wurden bestattet: Baron Palm, Lemoyne selbst (16./X. 1879), Jane 
Pittmann etc. Man baut jetzt in vielen Städten Crematorien. 

Frankreich. Den hier, besonders lebhaft seit 1877 entbrannten 
Kampf beschreibe ich besonders nach Pini’s Zusammenstellung, der 
ich die gefälligen Mittheilungen des „Fräulein Jenny Nereschko, 
Redacteur“, mit Dank für dieselben einflechte. 

Im Ausstellungsjahre 1878 wollte der Vorstand des Vereins für 
Feuerbestattung in Paris die letztere dadurch praktisch beweisen, dass 
er (bei der für Franzosen fehlenden behördlichen Erlaubniss zur Feuer¬ 
bestattung) eine in Italien von deren Angehörigen erworbene Leiche 
mit Zustimmung der Verwandten nach Paris bringen liess, um sie 


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Die verschiedenen Bestattungsarien menschlicher Leichname. 


405 


daselbst in einem errichteten Apparate zu verbrennen. Das Gouver¬ 
nement aber verweigerte die Erlaubnis dazu. 

In demselben Jahre verhandelte man über die Feuerbestattungs¬ 
frage auf dem Congres international d’hygiene und in der Sociötö 
franQaise de mödecine legale. Man führte dagegen insbesondere nur 
criminelle Gesichtspunkte an, obwohl der Wiener Arzt Dr. Pichl be¬ 
tonte, dass bei 673,580 in Wien innerhalb 25 Jahre stattgefundenen 
Begräbnissen die Exhumation nur 2 Mal (und wie mir früher schon 
persönlich mitgetheilt worden war, nebenbei bemerkt, ohne Resultat 
für die Criminaljustiz, K.) vorgenommen werden musste. 

Obgleich man seitens der Behörden schon damals und bis in das 
gegenwärtige Jahr in Frankreich für die facultative Feuerbestattung die 
Erlaubnis verweigerte (gestützt theils auf die Gutachten des Conseil 
d’hygiene de France und des Conseil de salubritö du döpartement de 
la Seine, die sich auf criminalistische Gründe beriefen, theils auf die 
Einsprüche von Juristen, welche angaben, ein Decret vom 23. Prairial 
des Jahres XII [1803] verbiete jede unter irgend welchem Vorwände 
vorgenommene andere Bestattung, als im Erdgrabe, und erheische die 
Erlaubniss zur Feuerbestattung ein besonderes für sie günstiges Gesetz), 
wiederholte doch Morin im Conseil provincial seinen früheren Antrag 
auf Erlaubniss der Feuerbestattung wieder am 8. Mai 1879 und im 
Juli 1880. Der internationale Congres d’flygiene in Turin und Genua 
im Septbr. 1880, sprach sich, nachdem er das Crematorium Mailand’s 
in Augenschein genommen, dafür aus, besonders auch, weil es immer 
mehr an Orten fehle, in denen eine schnelle und vollständige Zersetzung 
der Leiche stattfinde; auch ein neuer gleicher Congress nahm eine 
gleiche Resolution an: aber der Siegelbewahrer Cazot verweigerte die 
Erlaubniss theils wegen des genannten Decretes, theils wegen Stellen im 
Code civil und penal, und der Minister des Innern, Constans, sah 
sich genöthigt, dem Seine-Präfecten zu verbieten, dass man Versuche 
mit Verbrennung von Leichen Secirter in Anatomien und Kranken¬ 
häusern vornehme. Man sträubte sich auch gegen Letzteres deshalb, 
weil eine solche Erlaubniss den Eintritt Kranker in’s Krankenhaus 
beeinträchtigen würde. Obgleich der frühere Minister des Innern 
Lepere die Errichtung eines Feuerbestattungsofens im Seine-Departe¬ 
ment erlaubt und in einem Schreiben an den Generalrath der Seine 
und den Municipalrath von Paris für einzelne besondere Fälle gestattet 
hatte (weil ja auch nach dem Kriege 1870/71 und nach den Tagen 
der Commune Leichenverbrennungen Gefallener vorgenommen und der 


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406 


Dr. Fr. Küchenmeister, 


Radjah von Kellapore verbrannt worden war), so bestätigte doch 
Constans die Ansichten Lepere’s nicht und schlug alle Anträge des 
Stadtraths (19. Octbr. 1880) und des Seine-Präfecten vom 24. Decbr. 
1880 rund ab. 

Die Gesellschaft für Leichenverbrennung in Paris wendete sich 
nach dem Sturze des Ministeriums Gambetta an den neuen Minister 
Goblet. Letzterer erklärte, er wolle nicht principiell opponiren, aber 
die Sache müsse durch ein besonderes Gesetz geregelt werden, man 
möge Vorschläge zur Abänderung der alten Gesetze einbringen. 

Paul Casimir Pörier legte einen von 19 Mitgliedern, darunter 
Gambetta, unterstützten Gesetzentwurf vor, dahingehend: 

1) Jeder kann sich verbrennen lassen in Folge testamentarischen Wunsches, 
oder des der Familie oder Beauftragter. 

2) Erhebt sich Opposition, so kann der Local-Friedensrichler das Begräbniss 
auf 24 Stunden hinausschieben oder auch interimistische Beerdigung an¬ 
ordnen. 

3) Wird der Verdacht eines Verbrechens erhoben, oder verlangt der Minister 
des Innern die Section. so muss die Section gemacht oder event. interi¬ 
mistisch begraben werden. 

4) Es ist ein besonderes Regulativ über Alles zu erlassen. 

5) Alles, was der Erlaubniss der Feuerbestattung im alten Gesetz widerspricht, 
ist aufzuheben. 

Die Commission beschloss: Jeder hat das Recht, über seinen Leichnam 
Bestimmung zu treffen; die Cremation hat historische Rechte und wird gegen¬ 
wärtig an manohen anderen Orten erneuert; sie ist ein Erforderniss der öffent¬ 
lichen Gesundheitspflege, Hygieine und socialen Oeconomie; sie hat nichts Be¬ 
leidigendes für die Religion, noch Respectwidriges gegen die Todten oder Heilig¬ 
keit der Familie; sie macht die Gefahr präcipitirter Inbumationen schwinden; 
deshalb ist der Perier’sche Gesetzentwurf in Erwägung zu ziehen. 

Statistisch wurde noch bemerkt: In 10 Jahren kamen in Frankreich 
617 Vergiftungsfälle vor; fast immer begann die Verfolgung des Verbrechens 
24 Stunden nach dem Tode des Vergifteten; 512 wurden ausgeübt mit dem bei 
Verbrennungen nachweislichen Arsen, Kupfersulfat und Vert de gris (Grünspan); 
mehrere mit dem allerdings im Feuer unnachweislichen Phosphor; 105 mit 
dem ebenso im Feuer unnachweislichen Nicotin, Cantharidin, Digitalin; hätte 
man Sectionen gemacht, würde man sie haben entdecken können; auch würde 
man sie bei längerem Liegen im Erdgrabe auch nicht haben entdecken können, 
so dass die Exbumation (an sich in ihren Resultaten wissenschaftlich oft sehr 
fraglich) auch nutzlos gewesen sein würde. Zählt man die Fälle mit, wo die 
Nachweisung des Giftes unmöglich ist, dann kommen auf etwa 4 Millionen Menschen 
je eine solche Vergiftung. Man soll das Werk der Criminaljustiz nicht stören; 
aber soll man wegen eines so problematischen, hypothetischen und beschränkten 
Interesses willen auf die Leichenverbrennung überhaupt verzichten? 


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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname. 


407 


Dieser Bericht (aas dem man ersieht, dass die Commission die 
feste Ueberzeugung hatte, dass Morde durch mechanische äussere Gewalt 
mittels einer wohlgeordneten, allerdings nothwendigen Leichenschau 
erkannt werden können und müssen, da die Commission nur die Ver¬ 
giftungen in den Kreis ihrer Betrachtungen zieht, K.) gelangte, als die 
Cholera 1882 drohte, und nachdem der Genfer internationale Congress 
für Verwundungen im Kriege und für Hygieine sich für die Feuer¬ 
bestattung ausgesprochen hatte, und in Folge eines neuen Gesuches 
bei der Pariser Präfectur, (unterm 17. Juli 1883) an die Kammer. 

Der Municipalrath forderte den Seine-Präfecten auf, von den Aus¬ 
nahme-Verordnungen vom 12. Messidor des Jahres VIII (30. Juni 1798) 
und 3. Brumaire des Jahres IX (9. Nov. 1798) Gebrauch zu machen, 
und bei der Regierung gleichzeitig die nöthigen Schritte zu thun, da¬ 
mit die Stadt Paris die Befugniss erhalte, auf dreien der grössten Kirch¬ 
höfe Crematorien errichten zu können, die vorläufig nur beim Ausbruch 
einer Epidemie benutzt werden sollten. Mit dem Gutachten über diese 
Anträge wurde seitens des Conseil d’Hygiene des Seine-Departements 
und seitens der Präfectur Brouardel betraut, doch stellte derselbe 
der Sache einen so entschiedenen Widerspruch entgegen, dass der 
Präfect die Sache ruhen liess. Der Municipalrath beruhigte sich dabei 
nicht, sondern sandte eine Extradeputation unter Führung des schon 
genannten Köchlin-Schwartz am 26. August 1883 an die Präfectur 
ab, welche betonte, dass Brouardel ein principieller Gegner der 
Feuerbestattung und deshalb sein Urtheil ein präjudicirtes sei. 

Der Behauptung Brouardel’s, die Auffindung von Vergiftungs¬ 
fällen werde durch die Feuerbestattung unmöglich gemacht, trat 
Köchlin-Schwartz (selbst ein bewanderter Chemiker) mit den im 
Vorhergehenden schon angedeuteten Angaben über die in der Asche 
nachweislichen Gifte und über die Unmöglichkeit „organische Gifte“ 
im Erdgrabe nachzuweisen und damit entgegen, dass man in Italien 
im Gegentheil der Ansicht sei, die Feuerbestattung beeinträchtige die 
Criminaljustiz nicht. 

Man verlangte, „wenigstens mit den Resten der in Spitälern zu 
medicinischen Zwecken freigegebenen Leichen die Feuerbestattung vor¬ 
nehmen zu dürfen, und weiter die facultative für Solche, deren An¬ 
gehörige hierzu die Erlaubniss des Präfecten (jedesmal von Fall zu 
Fall) eingeholt hätten“, bemerkte auch dabei: „es sei unwahr, dass 
man mehr Personal bei der Feuerbestattung nöthig habe; das Personal 
für die Einsenkung der Leichen in das Erd- und Feuergrab sei der 


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Dr. Fr. Küchenmeister, 


Zahl nach dasselbe; der Feuermann entspräche dem Todtengräber, wel¬ 
cher Letztere ausserdem noch Gehülfen habe; die Angabe Brouardel’s, 
dass eine einzelne Feuerbestattung 4 Stunden dauere, sei unwahr; im 
Apparat Gorini dauere sie nur eine reichliche Stunde (bei Siemens 
etwa auch, höchstens l l / 2 Stunde, K.); bei Errichtung mehrerer Oefen 
vermöge man in 24 Stunden 100 Leichen zu verbrennen; die schnelle 
Zersetzung bedinge keinen Schaden für die Lebenden, die Verbrennung 
zerstöre sogar epidemische Infectionsstoffe. “ 

Der Seine-Präfect Paubelle verwies die Angelegenheit, da sie 
Paris allein und nicht das ganze Seine-Departement angehe, an den 
Polizei-Präfecten von Paris (Camescasse), der sich deshalb an den 
Minister des Innern wendete. Dieser hatte nichts gegen den Antrag 
an sich, und gestattete, Versuchs-Crematorien zu errichten, deren Platz 
das Comite consultatif d’hygiene de Paris auszusuchen oder wenig¬ 
stens zu genehmigen hätte. Die Freunde der Feuerbestattung wurden 
an das Handelsministerium gewiesen, und ersuchten dies, das Weitere 
zu veranlassen. 

Camescasse sagte zu, die oben gestellten, fraglichen Punkte 
untersuchen zu lassen, und erliess das nachfolgende Schreiben an den 
Seine-Präfecten Pau belle, indem er zugleich die beigefügten Pläne 
für Crematorien von Bartel, Ingenieur der Wege und Anpflanzungen, 
untersuchen liess: 

„Mein Iheurer Herr College! Durch Depesche vom 21. März beauftragt mich 
der Handelsminister, Ihnen mitzutheilen, dass er meinen Vorschlag betreffs In¬ 
stallation eines Crematioiis-Apparates in einem unserer grossen Kirchhöfe (der 
Ostgegend) dem berathenden Comite des Gesundheitsamtes von Frankreich unter¬ 
breitet hat. Der Herr Minister lässt mich zu gleicher Zeit wissen, dass genanntes 
Comite nach genauem Studium aller Fragen beschlossen hat, die erhöhten Stellen 
des Ostfriedhofes zu dem von uns erbetenen Zwecke zu überlassen, und das 
Urtheil gefällt hat, dass die von dem Polizei- und Seine-Präfecten gut geheissene 
Art der Leichenverbrennung keine Gefahren für die öffentliche Gesundheitspflege 
in sich schliessen dürfe. Würde jedoch die Cremation in einem Ofen vorgenommen, 
in dem nicht ein permanentes Feuer unterhalten würde, so könnte zu Anfang der 
Operation eine Entwickelung schädlicher, übelriechender Gase vor 6ich geben. 
Deshalb wünsche das Comite, dass man um des gemeinen Wohles willen sich 
blos eines Ofens mit ununterbrochener Feuerung bedienen solle.“ 

Auf Antrag der 2. Commission des Municipalrathes wurden der 
Ingenieur Bartel und der Stadtbaumeister (Architect) der Stadt Paris 
Förmige beauftragt, einen geeigneten Bauplan vorzulegen. Sie be¬ 
reisten Deutschland und Italien und entschieden sich für den in Mai¬ 
land und Rom bräuchlichen nach dem System Gorini (II). Das 


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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname. 409 

Brennmaterial sind Holzscheite, die erzeugte Hitze übersteigt nicht 
600°C.; übler Geruch bei der in 1—1V 2 Stunde vollendeten Ver¬ 
brennung fehlt. Kosten für jede Verbrennung in Paris 15 Frcs. incl. 
Verbrennungsmaterial, Dienstpersonal und kleine Aschenurnen. 

Der für den Verbrennungsapparat ausgcwählte Platz ist die 
87. Division des Kirchhofes Pere Lachaise, gerade gegenüber dem 
neuen Eingang, auf einer noch unbenutzten, kahlen Höhe. 

Das „berathende Gesundheitscomitö von Frankreich“ hat nach 
erfolgter Prüfung Alles genehmigt und nur den Wunsch ausgesprochen, 
einen Ofen mit unausgelöschtem Brande zu errichten. 

Bartel und Formigö reichten nun zwei verschiedene Pläne ein. 

Erster Plan, bestimmt für allgemeine Feuerbestattung: Das Ge¬ 
bäude besteht aus einem Erdgeschoss mit gewölbten Gallerien, welche die Urnen 
derjenigen, die kein Erbbegräbnis besitzen (Commission perpötuelle), aufnehmen 
sollen. Darüber befinden sich die Säle für das Publikum, die in drei Halbkreise 
(Hemicyclen) ausmünden, deren jeder einen sarkophagähnlichen Verbrennungs- 
Apparat enthält. Eine die Schornsteine verdeckende Kuppel überwölbt Alles. 
Das Gebäude hat also einen monumentalen Charakter, und will man dadurch 
dem Apparate alles Abschreckende und an Fabrikgebäude Erinnernde nehmen. 
Kosten des Baues 629,774 Frcs. 

Zweiter Plan, beschränkt auf die Verbrennung von Spitals- 
abgängen (und acceptirt): Allo monumentalen oder architectonischen Zier¬ 
rathen fehlen. Es finden sich einfach die drei Oefen, die von einer Ziegelmauer 
umgeben sind. Bei einem regelmässigen Dienste von täglich 8 Stunden können 
in ihnen täglich 12 Cremationen (im Jahre also die von 4380 Leichen, was 
ungefähr mit der Zahl der Spitalsleichen übereinstimmt) vorgenommen werden. 
Vermehrung der Arbeitsstunden und grössere Geschwindigkeit in den Einzel¬ 
verbrennungen könnten diese Ziffer steigern. Erbauungspreis 45,975 Frcs. 

Weiteres ist bis dahin nicht vorgesehen. 

Auch Brouardel hatte im Laufe der Zeit seinen principiellen 
Einspruch fallen gelassen, oder wenigstens wesentlich gemildert. 

Dr. Bourneville benutzte nun, nachdem durch Beschluss des 
Municipalrathes vom 28. Juli 1885 die Ausführung des 2. Planes ge¬ 
nehmigt worden, die gegebene Erlaubniss, die Leichenreste vou auf 
der Anatomie benutzten Leichen, sowie die aus der pathologischen 
Anatomie der Hospitäler erhaltenen Leichname zu verbrennen. 

Der in Paris geführte Kampf beruhigte sich hierdurch nur schein¬ 
bar; aber die Hauptführer der Bewegung: Köchlin - Sch wartz, 
Pietra Santa und Max de Nansonty suchen die Erlaubniss zu 
einer Verallgemeinerung der Feuerbestattung und zwar die Erlaubniss 
zur facultativen Feuerbestattung überhaupt zu erlangen. 

Vlerlelj&hrsschr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 2. 27 


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410 


Dr. Pr. Küchenmeister, 


Dies ist der Stand der betreffenden Frage in Frankreich im Sep¬ 
tember 1885. 

Ich gehe über zur Darstellung des Standes der Angelegenheit in: 

Deutschland und Oesterreich. Es steht fest, dass die erste, 
freilich nur als Versuch zu betrachtende Feuerbestattung in Deutsch¬ 
land bei uns in Dresden im Siemens’schen Ofen versuchs¬ 
weise unternommen worden ist, bis nach 3maliger Ausführung 
die Behörde weitere Verbrennungen untersagte. 

Hierauf wurde die Feuerbestattungsfrage im hiesigen Stadtverord- 
neten-Colleg ventilirt, ein entscheidendes Resultat aber nicht bei der 
Abstimmung erzielt. 

Auf eine Interpellation des Abgeordneten zur 2. sächs. Stände¬ 
kammer Herrn Rechtsanwalt Emil Lehmann vom 15. Juni 1876 ver¬ 
hielten sich die Herren Minister des Innern und der Justiz ablehnend. 
Wenn aber die Rede war, dass nicht Jeder reich genug sei, um sich 
ein Columbarium im eignen Hause zu bauen, so hat die Dresdener 
Feuerbestattungsgesellschaft dies nie angestrebt, da sie immer darauf 
gedrungen hat, dass den Angehörigen die Asche nur zur Aufbewahrung 
im Columbarium des Friedhofs oder in einem ermietheten Einzel- oder 
Familiengrab, aber nicht zur Aufbewahrung im Wohnhaus und zur 
Herumschleppung bei Umzügen übergeben werde — was ernste Freunde 
der Frage für eine Ungehörigkeit betrachten. 

Die weiteren Vorgänge in dieser Angelegenheit in Sachsen sehe 
man weiter unten, ebenso wie das, was über Gotha zu sagen ist. 

In Oesterreich, besonders in der Reichshauptstadt Wien, fing 
man noch während der Zeit der Versuche in Dresden an — vorbereitet 
durch die Wiener Weltausstellung, auf der der Brunetti’sche Ofen 
ausgestellt war — sich lebhaft für die Feuerbestattung zu interessiren. 
Die Behörden der Stadt Wien und der Landtag von Niederösterreich 
erklärten sie mindestens für die Grossstadt Wien für ein Bedürfniss. 
Erstere hatten ihre Medicinalbeamten zu den Dresdener Versuchen 
delegirt, und diese hatten sehr günstigen Bericht erstattet; aber die 
Ausführung stiess stetig auf Widerspruch in den höheren Instanzen. 
Graf Taafe hatte einer Deputation, die um Behebung des Wider¬ 
spruches bat, erklärt, die Regierung habe nichts principiell dagegen 
einzuwenden, aber es hänge die Einführung der Feuerbestattung vom 
Reichsrathe ab. Der Sanitätsreferent im Ministerium des Innern, Hof¬ 
rath Dr. Schneider, erklärte sich entschieden, wenigstens für Wien 
dafür. Nachdem aber eine Vernehmung dieses Ministerium mit dem 


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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname. 


411 


der Justiz und des Cultus stattgefunden, wurde das Gesuch um Feuer¬ 
bestattung im Mai/Juni 1885, selbst bezüglich der facultativen, zurück¬ 
gewiesen. Eine eigentliche Motivirung der Gründe für diesen Bescheid 
habe ich in den Zeitschriften nicht finden können; man berief sich 
hauptsächlich „auf das im grossen Publikum dagegen herrschende 
Vorurtheil.“ Also dieselbe Stellung, die in dem Gespräch zwischen 
Minutius Felix und Octavius sich findet (cfr. pag. 316 vorigen 
Bandes). 

Ueber den Stand der Frage in Ungarn bin ich ohne Mittheilungen 
geblieben. 

(Fortsetzung folgt) 


III Verschiedene Mittheilungen. 


Entscheidung des Reichsgerichts, betreffend die Haftpflieht des Gewerbe-Unter¬ 
nehmers für die einem Arbeiter entstandene Beschädigung beim Cansalsnsam- 
menbang derselben mit einer sam relativen Sehutie geeigneten Vorrichtung. 

Gewerbeordnung §. 120. 

In Sachen des Kupferschmieds Tb. zu H., Klägers und Revisionsklägers, 
wider den Fabrikanten K., jetzt dessen minderjährige Kinder, vertreten durch 
ihre Mutter, dieWittwe K. zu H., Beklagte und Rerisionsbeklagte, hat das Reichs¬ 
gericht, Dritter Civilsenat, am 14. November 1884 für Recht erkannt: 

das Urtheil des Ersten Civilsenates des K. pr. Ober-Landesgerichts zu G. vom 
23. Mai 1884 wird aufgehoben und die Sache zu anderweiter Verhandlung 
und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen; die Entscheidung 
über die Kosten der Revisionsinstanz bleibt dem Endurtheil Vorbehalten. 

Thatbestan d. 

Gegen das seine Berufung wider das die Klage abweisende Urtheil des 
Königlichen Landgerichts zu Stade vom 17. Januar 1881 verwerfende Unheil 
des Königlichen Ober-Landesgerichts zu Celle vom 23. Mai 1884 hat der Kläger 
die Revision eingelegt.- 


En tscheidungs gründe. 

Der Berufungsrichter stellt auf Grund der erhobenen Beweise fest: dass der 
Kläger am 31. Mai 1880 bei einer ihm von dem Werkmeister des Beklagten 
aufgetragenen Arbeit durch das Abspringen eines Eisensplitters eine Verletzung 
des linken Auges erhalten und in Folge davon die Sehkraft dosseiben ein- 
gebüsst habe, dass bei dieser Arbeit die Augen der Gefahr, durch absprin¬ 
gende Splitter beschädigt zu werden, ausgesetzt waren, und dass diese Gefahr 


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412 


Verschiedene Mitteilungen. 


durch die Anwendung von Schutzbrillen vermindert, insbesondere im vorlie¬ 
genden Falle voraussichtlich die Verletzung dadurch vermieden sein würde, 
da der Splitter, welcher den Kläger verletzt habe, nicht von der Grösse gewe¬ 
sen sei, dass er eine Brille, mochte sie von Glas oder Draht sein, habe durch¬ 
bohren können. Der Berufungsrichter verneint trotzdem die Verpflichtung des 
Beklagten zum Ersätze des dem Kläger durch die Verletzung entstandenen 
Schadens, weil er sich über den Werth der Schutzbrille für einen Gewerbe¬ 
betrieb, wie den des Beklagten, noch nicht klar sei und mit Rücksicht auf die 
widersprechenden Gutachten der Sachverständigen sich nicht davon habe 
überzeugt halten können, dass die Lieferung von Schutzbrillen an die Arbeiter 
des Betriebes eine im Sinne des §. 120 der Reichs-Gewerbeordnung nothwen- 
dige Einrichtung gewesen, noch weniger aber folgeweise davon, dass die 
Nichtlieferung dem Beklagten als haftbar machendes Verschulden anzurech¬ 
nen sei. 


Diese Entscheidung verletzt die Bestimmungen in §. 120 der Reichs- 
Gewerbeordnung. 

Nach der aus dem Dienstmiethvertrage sich ergebenden, in §. 120 cit. ge¬ 
setzlich geregelten Verpflichtung des Gewerbeunternehmers für die Sicherung von 
Leben und Gesundheit der von ihm beschäftigten Arbeiter Sorge zu tragen, liegt 
demselben allgemein ob, alle diejenigen Einrichtungen herzustellen und zu 
unterhalten, welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbe¬ 
betriebes und der Fabrikstätte zur thunlichsten Sicherung der Arbeiter gegen 
Gefahr für Leben und Gesundheit nothwendig sind, und er haftet für den durch 
Verletzung seiner Arbeiter entstandenen Schaden, sobald die zur Sicherung des¬ 
selben gegen die mit den ihnen aufgetragenen Arbeiten verbundenen Gefahren 
nothwendigen Schutzvorkehrungen von ihm nicht getroffen sind, vorausgesetzt, 
dass ein Gausalzusammenhang zwischen diesem Mangel der Schutzvorrichtungen 
und dem eingetretenen Unfall anzunehmen ist, und dass nicht besondere Um¬ 
stände vorliegen, aus denen sich ergiebt, dass auch bei Aufwendung aller Sorg¬ 
falt und Sachkunde, welche ein ordentlicher Gewerbetreibender besitzen und an¬ 
wenden muss, die zum Schutze der Arbeiter bei der betreffenden ihnen auf¬ 
getragenen Arbeit geeigneten Schutzvorrichtungen zur Zeit des Unfalls nicht 
getroffen werden konnten. Nach dem Gutachten der vernommenen Sachverstän¬ 
digen und den Feststellungen des Berufungsgerichts kann es nun keinem Zweifel 
unterliegen, dass eine Schutzbrille eine geeignete Vorkehrung ist, um gegen die 
Gefahr der Verletzung des Auges, welche mit der dem Kläger am 31. Mai 1880 
aufgetragonen Arbeit vermöge ihrer besonderen Beschaffenheit verbunden ist, 
Schulz zu gewären, und es wird die Annahme, dass die Lieferung von Schutz¬ 
brillen bei Arbeiten, wie den hier in Frage stehenden, eine nothwendige im Sinne 
des §. 120 der Reichs-Gewerbeordnung sei, dadurch nicht ausgeschlossen, dass 
die Schutzbrillen nicht unter allen Umständen den mit dieser Arbeit beschäftig¬ 
ten Arbeitern einen absoluten Schutz gegen die Verletzung ihrer Augen durch 
abspringende Eisensplitter gewähren, da nach §. 120 der Gewerbeunternehmer 
auch zur Herstellung der nur einen relativen Schutz gewärenden Schutz mass- 
regeln verpflichtet ist. Irrig ist es ferner, wenn das Ober-Landesgericht deshalb 
die Nothwondigkeit der Lieferung einer Schutzbrille an den Kläger bei Vornahme 
der ihm aufgetragenen Arbeit für ausgeschlossen erachtet, weil mit Rücksicht 


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Verschiedene Mittheilungen. 


413 


darauf, dass mit dem Gebrauche von Schutzbrillen in dem Gewerbebetriebe der 
Eisen- und Stahlindustrie auch Nachtheile und Gefahren verbunden seien, in den 
Kreisen der betheiligten Fabrikunternehmer Meinungsverschiedenheit über den 
Werth der Schutzbrillen herrsche, ein Theil derselben den Nutzen, ein Theil die 
Nachtheile für überwiegend erachte. Wesentlich ist nur, ob die Schutzbrille ein 
geeignetes Mittel ist, um gegen die mit der betreffenden Arbeit, bei deren Vor¬ 
nahme der Arbeiter verletzt ist, verbundene Gefahr für Gesundheit und Leben 
Schutz zu gewähren, mag sie auch nicht geeignet sein, gegen die mit anderen in 
diesem Gewerbebetriebe vorzunehmenden Arbeiten verknüpften Gefahren zu 
schützen oder deren Gebrauch bei diesen sich nicht empfehlen. Da nun nach 
den Feststellungen des Berufungsgerichts an dem Causalznsammenhange zwischen 
der Nichtlieferung der Schutzbrille an den Kläger und dem eingetretenen Unfälle 
nicht zu zweifeln ist, auch sonstige besondere Umstände nicht vorliegen, welche 
geeignet wären, die aus der Nichtlieferung der Schutzbrille entstehende Ver¬ 
pflichtung des Beklagten zum Schadensersätze zu beseitigen, so muss diese als 
feststehend erachtet werden. Das angefochtene Urtheil war daher aufzuheben. 
Dem Anträge des Revisionsklägers auf Zusprechung der Klage konnte jedoch nicht 
deferirt werden, weil über den dem Kläger durch die erlittene Verletzung ent¬ 
standenen Schaden die erforderlichen Feststellungen noch nicht getroffen sind, 
es musste vielmehr die Sache zu diesem Zwecke zur anderweiten Verhandlung 
und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden. 


Entscheidung des Reichsgerichts, betreffend die Verantwortlichkeit des Fabrik¬ 
herrn für vorsätzliches wie fahrlässiges Znlassen der Beschäftigung ven Rin¬ 
dern unter 12 Jahren in der Fabrik. Gewerbeordnung §§. 135, 146, No. 1. 

ln der Strafsache wider den Fabrikbesitzer M. F. H. zu F. hat das Reichs¬ 
gericht, Zweiter Strafsenat, am 12. December 1884 für Recht erkannt, 

dass auf die Revision des Staatsanwalts das Urtheil der Strafkammer bei dem 
K. pr. Amtsgerichte zu S. vom 27. October 1884 nebst den demselben zu 
Grunde liegenden thatsächlichen Feststellungen aufzuheben und die Sache zur 
anderwoiten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht der ersten Instanz 
und zwar an das K. pr. Landgericht zurückzuverweisen. 

Gründe. 

Die Revision des Staatsanwalts, welche Verletzung der §§. 135 Abs. 1 und 
146 Abs. 1 Nr. 2 der Reichs-Gewerbeordnung (Reichs-Gesetzblatt 1883, S. 177) 
rügt, muss für begründet erachtet werden. 

In der dem Angeklagten und seinem Bruder W. H. gehörigen, von beiden 
gemeinschaftlich geleiteten Tuchfabrik zu F. arbeitet der Tucbmacbergeselle St. 
gegen stückweise Bezahlung. Die noch nicht 12 Jahre alte Tochter desselben, 
Elisabeth St., hat, wie der Vorderrichter der für durchaus glaubhaft erklärten 
Doposilion des Zeugen Zwirners A. H. entnimmt, seit Sommer 1883 bis März 
1884 dem Vater fast täglich das Mittagessen in die Fabrik gebracht und ist 
dann fast immer bis 8 Uhr Abends in der Fabrik geblieben, in welcher sie für 
ihren Vater die Pfeifen aufsteckle. Während der Schulzeiten war sie nicht in 
der Fabrik, kam aber dann wieder und setzte die Arbeit fort, ging dann ab und 
zu auch vor 8 Uhr nach Hause. Nach einer am 24. October 1883 stattgehabten 


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414 


Verschieden« Mittheilungen. 


polizeilichen Revision der Fabrik verbot der Angeklagte dem St. das fernere 
Mitbringen seiner Tochter mit den Worten: „er wolle das nicht haben; wenn 
etwas passire, würde er für nichts anfkommen.“ Die Elisabeth St. blieb dann 
auch einige Zeit fort, kam aber wieder nnd arbeitete weiter. Ihrer Angabe, dass 
der Angeklagte sie, als sie Fäden angeknüpft, einmal gesehen und bei dem 
Einpacken von Pfeifen zu ihr gesagt habe, „sie solle sie recht sauber einpacken“, 
schenkt der Vorderrichter keinen Glauben. Derselbe erachtet zwar für erwiesen, 
dass die Elisabeth St. im Sommer 1883 bis März 1884 zu F. in der H.scben 
Fabrik zeitweise ihrem Vater auf dessen Wunsch in der Arbeit geholfen hat, 
und zwar durch Anknüpfen von Fäden und Einpacken von Pfeifen, 
dagegen für nicht erwiesen, 

dass der Angeklagte das Alter der Elisabeth St. gewusst und dass er ihr 
überhaupt Beschäftigung in seiner Fabrik zu F. gegeben hat. 

Im Weiteren erklärt der Vorderrichter: 

Es sei Sache des Werkführers E. gewesen, so oft er Mädchen, von deren Alter 
er sich nicht überzeugt, in der Fabrik arbeitend betraf, dasVerbot zu arbeiten 
auszusprechen. Ihn treffe daher eigentlich die Schuld des Unterlassens des 
Verbots an die Elisabeth St. nnd deren Vater; denn er (E.) sei, wie aus dem 
ganzen Vorfälle hervorgehe, der Fabrik als Aufseher und Werkführer vor¬ 
gesetzt gewesen, während der Angeklagte als Fabrikherr unmöglich in der 
Lage sich befinde, selbst wenn er dies wollte, tagtäglich, ja stündlich die 
Fabrik zu diesem Zwecke zu untersuchen und zu revidiren, zumal der dieses 
Verbot enthaltende Anschlag in den Fabrikräumen zu Jedermanns Kenntniss 
angebracht sei. Ausserdem stehe aber fest, dass der Angeklagte dem St. das 
Mitbringen, beziehentlich Arbeiten seiner Tochter geradezu untersagt habe, 
ohne dass er ihr Alter, wohl aber wusste, dass sie noch schulpflichtig war . . 
habe aber der Angeklagte der Elisabeth St. Beschäftigung im Sinne des 
§.146 Abs. 1 Nr. 2 der Gewerbeordnung nicht gegeben, so könne er, selbst 
wenn der Vorfall, den die Elisabeth St. angebe, richtig gewesen wäre, dafür 
nicht gestraft werden. 

Die so begründete Freisprechung des Angeklagten beruht in mehrfacher 
Beziehung auf Rechtsirrthum. 

Der §. 135 der Gewerbeordnung enthält in Abs. 1 das allgemeine Verbot, 
dass Kinder unter zwölf Jahren in Fabriken nicht beschäftigt werden dürfen, 
und gestattet in den folgenden Absätzen in Ansehung der Kinder unter vierzehn 
Jahren und der jungen Leute zwischen vierzehn und sechszebn Jahren, welche 
beide Kategorien der §. 136 unter der Bezeichnung „jugendliche Arbeiter“ zu¬ 
sammenfasst, sowie in Ansehung der Wöchnerinnen die Beschäftigung in Fabri¬ 
ken nur unter gewissen, durch §. 136 noch erweiterten Beschränkungen. In 
§. 146 Abs. 1 Nr. 2 werden mit Strafe bedroht: Gewerbetreibende, welche den 
§§. 135, 136 zuwider Arbeiterinnen oder jugendlichen Arbeitern Beschäftigung 
geben. 

Es kann nun zunächst keinem Zweifel unterliegen, dass diese Strafsatzung 
auch auf das in §. 135 Abs. 1 enthaltene Verbot Betreffs der Kinder unter zwölf 
Jahren sich bezieht und dass darin der Ausdruck „jugendliche Arbeiter“ nicht 
in dem beschränkten Sinne des §. 136, sondern in dem weiteren Sinne von Per¬ 
sonen bis zu sechszehn Lebensjahren verstanden ist. 


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Verschiedene Mittheilnngen. 


415 


Mit der Strafe sind bedroht vorab Gewerbetreibende, das heisst nach dem 
Sprachgebrauche der Gewerbeordnung die Personen, welche das Gewerbe selb¬ 
ständig betreiben und daher durch den Betrieb des Gewerbes die in Beziehung 
darauf gesetzlich begründeten Verpflichtungen überkommen haben. Gewerbe¬ 
treibender im Sinne des §. 146 Abs. 1 Nr. 2 ist vorliegend daher der Angeklagte 
und dessen Bruder, als Inhaber der Tuchfabrik, die sie auf ihren Namen und 
für ihre Rechnung betreiben, nicht der Werkführer E., wenn derselbe auch von 
jenen der Fabrik „als Aufseher und Werkführer“ vorgesetzt war. Der letztere 
erhielt dadurch namentlich nicht die Eigenschaft eines Stellvertreters im Sinne 
der §§. 45, 151 der Gewerbeordnung, sondern blieb ein Gehülfe in dem von dem 
Angeklagten und dessen Bruder betriebenen Gewerbe (Entscheidungen in Straf¬ 
sachen Band 2 S. 321, Band 4 S. 307). Deshalb konnte sich E. des Vergehens 
gegen den gedachten §. 146 Abs. 1 No. 2 als Thäter oder Mitthäter nicht 
schuldig machen, sondern nur wegen Anstiftung oder Beihülfe strafbar sein, 
wenn die Voraussetzungen der §§. 48 oder 49 des Strafgesetzbuchs Vorlagen und 
daher insbesondere das Delict von dem Gewerbetreibenden dolos begangen 
wurde. Die Verantwortlichkeit des Angeklagten und seines Bruders für die 
Erfüllung der auf den Betrieb der Fabrik bezüglichen gesetzlichen Verpflichtun¬ 
gen bestand nach der Bestellung des E. zum „Aufseher und Werkmeister“ im 
ganzen Umfange fort. Dieselben waren und blieben verpflichtet, dafür zu sorgen, 
dass in ihrer Fabrik dem gesetzlichen Verbote, wonach Kinder unter zwölf Jahren 
darin nicht beschäftigt werden durften, nicht zuwider gehandelt wurde und 
machten sich strafbar, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig — das Gesetz hat 
beide Arten der Verschuldung im Auge — unterliessen, dem Verbote Geltung zu 
schaffen. Es ist daher die Ausführung des Vorderrichters, dass es Sache des 
Werkführers E. gewesen sei, der Elisabeth St. und deren Vater das Arbeiten der 
ersteren zu verbieten, und dass den E. eigentlich die Schuld des Unterlassens 
des Verbots treffe, sofern damit die Verantworlichkeit des Angeklagten aus¬ 
geschlossen oder eingeschränkt werden soll, rechtlich unzutreffend, und auoh die 
weitere Ausführung, dass der Angeklagte als Fabrikherr unmöglich sioh in der 
Lage befinde, selbst wenn er dies wollte, tagtäglich, ja stündlich die Fabrik in 
Rücksicht auf die Zulässigkeit der darin arbeitenden Personen zu untersuchen 
und zu revidiren, wird durch den Rechtsirrthum beherrscht, als habe der An¬ 
geklagte durch die Bestellung des E. zum Aufseher und Werkmeister seinen 
gesetzlichen Obliegenheiten in Ansehung der Zulassung jugendlicher Arbeiter 
genügt. Die letztere Ausführung enthält keine den concreten Thatsaohen ent¬ 
nommene Feststellung, dass der Angeklagte in Beziehung auf die Beschäftigung 
der Elisabeth St. weder dolos noch auch fahrlässig gehandelt hat. Vorliegend 
kam es darauf an, das Verhalten des Angeklagten nach den concreten Umständen 
zu prüfen, insbesondere daher zu prüfen, was der Angeklagte bezüglich der ihm 
obliegenden Aufsicht über die Fabrik gethan bat, welche Anordnungen und 
Vorkehrungen zur Verhütung der Beschäftigung unzulässiger jugendlicher Ar¬ 
beiter getroffen waren, und ob diese und die sonstigen Umstände zu der Annahme 
führen, dass dem Angeklagten die fortgesetzte Beschäftigung der nicht zwölf 
Jahre alten Elisabeth St. in der Fabrik, wenn er um dieselbe nicht wusste, doch 
ohne dass ihn der Vorwurf der Fahrlässigkeit trifft, habe verborgen bleiben 
können (Entscheidungen in Strafsachen Baud 4 S. 307). In dieser Beziehung 


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Verschiedene Mittheilungcn. 


ist der die Bestimmungen über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter enthal¬ 
tende Ausbang in den Fabrikräumen, welchen das Gesetz unter besonderer Straf¬ 
androhung vorschreibt (§§. 138, 149 Nr. 7 der Gewerbeordnung), ohne Be¬ 
deutung, und wenn der Angeklagte nach der am 24. October 1883 geschehenen 
polizeilichen Revision der Fabrik dem St. auch das Mitbringen seiner Tochter 
Elisabeth und deren Beschäftigung untersagt hat, so kommt doch die lange Zeit 
der trotzdem bald wieder aufgenommenen, bis in den März 1884 fortgesetzten 
Beschäftigung der Elisabeth St. sowie der Umstand in Betracht, dass der An¬ 
geklagte. soviel bis jetzt erhellet, das Verbot nur dem St. gegenüber erklärt und 
den Werkführer E. demgemäss zu instruiren unterlassen hat. Wenn der Vorder¬ 
richter hervorhebt, dass der Angeklagte zur Zeit jenes Verbotes das Alter der 
Elisabeth St. nicht kannte, wohl aber wusste, dass sie noch schulpflichtig war, 
so blieb zu erwägen, ob nicht auch des Angeklagten Nichtkenntniss, dass die St. 
noch nicht zwölf Jahre alt war, auf Fahrlässigkeit beruht. Denn nach §. 137 
a. a. 0. in der Fassung des Gesetzes vom 22. Juli 1878 ist die Beschäftigung 
eines Kindes in Fabriken, soweit sie nach §. 135 überhaupt zulässig, also eines 
Kindes von zwölf bis vierzehn Jahren nicht gestattet, wenn dem Arbeitgeber nicht 
zuvor für dasselbe eine (Jahr und Tag der Geburt enthaltende) Arbeitskarte der 
Ortspolizeibehörde eingehändigt ist. und nach Artikel 15 (vergl. Artikel 13) des 
Gesetzes vom 1. Juli 1883. betreffend Abänderung der Gewerbeordnung (Reichs- 
Gesetzblatt S. 159) gilt vom 1. Januar 1884 ab das Gleiche auch hinsichtlich 
der noch zum Besuche der Volksschule verpflichteten jungen Leute zwischen 
vierzehn und sechszehn Jahren. Es kann daher davon nicht die Rede sein, dass 
der Angeklagte ohne Verletzung der ihm gesetzlich obliegenden Pflichten über 
das Alter der Elisabeth St. hätte im Unklaren bleiben können. 

Wenn der Vorderrichter aber die Freisprechung des Angeklagten ferner 
darauf stützt, dass derselbe der Elisabeth St. Beschäftigung in seiner Fabrik 
überhaupt nicht gegeben habe, so gebt auch dieser Entscheidungsgrund nicht 
minder rechtlich fehl. Kinder unter zwölf Jahren dürfen in Fabriken nicht be¬ 
schäftigt werden. Beschäftigung giebt diesen der Fabrikbesitzer, welcher ihre 
Beschäftigung iu der Fabrik und für deren Zwecke, sei er vorsätzlich oder fahr¬ 
lässig, zulässt. Es ist gleichgültig, ob der Fabrikbesitzer selbst mit denselben 
in ein Vertragsverhältniss tritt und ihnen den Lohn zahlt, oder ob ein Arbeiter 
der Fabrik dieselben zu seiner Hülfe bei dem von ihm in der Fabrik und für die 
Fabrik zu leistenden und ihm zu lohnenden Arbeiten annimmt (vergl. Entschei¬ 
dungen in Strafsachen Band 9 S. 102 und das Urtheil vom 21. October 1882 in 
der Rechtsprechung des Reichsgerichts Band 4 S. 753). Das Verbot, dass Kin¬ 
der unter zwölf Jahren in Fabriken nicht beschäftigt werden dürfen, beruht auf 
einer Vorsorge des Gesetzgebers für deren Wohl und Gedeihen, und richtet sich 
gerade gegen den Inhaber der Fabrik, — den Gewerbetreibenden — der, wie er 
allein dazu in der Lage, so auch verpflichtet ist, die Beschäftigung solcher Kinder 
in der Fabrik zu hindern, und sich strafbar macht, wenn er vorsätzlich oder 
fahrlässig ihre Beschäftigung in der Fabrik zulässt und ihn6n damit Beschäfti¬ 
gung giebt. Es ändert darin auch nichts, dass vorliegend die Elisabeth St. von 
ihrem Vater zu seiner Hülfsleistung in der Fabrik bei seinen Akkordlohnarbeiten 
herangezogen ist. Eine solche Disposition des Vaters über die Arbeitskraft seines 
nicht zwölf Jahre allen Kindes verbielet das Gesetz, und es war gerade Sache 


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Verschiedene Mitlheilungen. 


417 


des Angeklagten, als Mitinhabers und Leiters der Fabrik, die Beschäftigung des 
Kindes in der Fabrik nicht zuzulassen und zu gewähren. 

Dass den Angeklagten in Bezug hierauf ein Verschulden, insbesondere 
Fahrlässigkeit, nicht trifft, hat der Vorderrichter jedenfalls nicht auf Grund 
lediglich thatsächlicher Erwägungen, sondern von Rechtsirrthum beeinflust an¬ 
genommen. 

Gemäss der §§.393, 394 der Strafprocessordnung war deshalb auf die 
Revision des Staatsanwalts das angefochteue Urtheil mit den demselben zu 
Grunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur anderweiten 
Verhandlung und Entscheidung in die erste Instanz zurückzuverweisen, und zwar 
an das Königl. preuss. Landgericht zu G. 


Entscheidung des Reichsgerichts, betreffend die strafreehtliehe Yerantwertlieh- 
keit eines Fabrikbesitzers wegen der dnreb den mangelhaften Zustand einer 
Treppe im Fabrikgebäude veranlassten Körperverletzung eines Arbeiters. 

Strafgesetzbuch §. 230 Abs. 2. Gewerbeordnung §. 120 Abs. 3. 

In der Strafsache wider den Fabrikanten M. in B. hat das Reichsgericht, 
Zweiter Strafsenat, am 9. Januar 1885 für Recht erkannt, 

dass die Revision des Angeklagten gegen das Urtheil der Vierten Strafkammer 
des K. pr. Landgerichts I zu B. vom ll.October 1884 zu verwerfen und 
dem Beschwerdeführer die Kosten des Rechtsmittels aufzuerlegen. 

Gründe. 

Die Revisionsbeschwerden erweisen sich als ungerechtfertigt.- 

Die dem Wortlaut des §. 230 des Strafgesetzbuchs Abs. 1 und 2 ent¬ 
sprechende Schlussfeststellung ist vom ersten Richter auf folgenden, für erwiesen 
erachteten Sachverhalt gestützt. Der Angeklagte betreibt eine Photographie¬ 
rahmen- und Goldleistenfabrik mit etwa 400 Arbeitern in einem mehrstöckigen 
Gebäude zu B. 

Zu dem Arbeitssaal in der ersten Etage führt eine Treppe, deren Geländer 
nur aus einer Griffstange (Holm) bestand und keine Verbindung mit den Treppen¬ 
stufen durcli Sprossen besass. 

Am 9. December 1883 stolperte beim Niedersteigen der 15jährige Arbeits¬ 
bursche H. auf der Treppe, glitt mehrere Stufen herab, stürzte durch die offene 
Lücke im Geländer auf den Treppenabsatz des Erdgeschosses und rollte von da 
noch über einige Stufen in den Hausflur. Er erlitt erhebliche Kopfverletzungen 
und blieb 11 Wochen in ärztlicher Behandlung. Der Sturz war dem Zustand 
des Treppengeländers zuzuschreiben.- 

Der erste Richter hat für dargethan erachtet, dass der Angeklagte die 
Verletzung des H. verursacht hat, indem er zu der Aufmerksamkeit, welche er 
aus den Augen setzte, vermöge seines Gewerbes besonders verpflichtet war. Es 
ist angenommen, dass es zu den gewerblichen Pflichten desselben, als Unter¬ 
nehmers gehörte, die zum Erreichen und Verlassen der oberen Arbeitsstätten für 
die Fabrikarbeiter bestimmte Treppe in solchem Zustande zu erhalten, dass ihre 
Benutzung thunlichst ohne Gefahr für Leben und Gesundheit erfolgen konnte. 
Es ist Bezug genommen auf §. 120 Abs. 3 der Reichs - Gewerbe¬ 
ordnung. 


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418 


Verschiedene Mittheilungen. 


Diese Vorschrift verpflichtet die Gewerbeunternehmer, alle diejenigen Ein¬ 
richtungen herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf die beson¬ 
dere Beschaffenheit des Gewerbebetriebes und der Betriebsstätte zu thunlichster 
Sicherheit gegen Gefahr für Leben und Gesundheit nothwendig sind. 

Die Revision bekämpft die Heranziehung dieser Vorschrift mit der Aus¬ 
führung, dass durch die Anlage der Treppe eine „besondere Beschaffenheit“ der 
Betriebsstätte im Sinne jener Vorschrift nicht gegeben sei; dass damit nur die 
Beschaffenheit der inneren, durch die Zwecke der Gewerbeart gebotenen Anlage 
bezeichnet werden sollte unter Ausschliessung von nützlichen, indess zur Aus¬ 
übung des Gewerbes nicht unbedingt unentbehrlichen Nebenanlagen; also auch 
von Treppen, die nur zur Betriebsstätte hinführen. 

Diese Ausführung verkennt den Begriff der Betriebsstätte. Darunter ist 
nicht blos der Maschinenraum, der Arbeitssaal, oder die Arbeitsstelle jedes ein¬ 
zelnen Arbeiters, sondern die Räumlichkeit in ihrem vollen Umfange zu verstehen, 
in welcher ein Gewerbebetrieb stattfindet. In diesem Sinne ist der Ausdruck in 
der Reichs-Gewerbeordnung durchweg gebraucht; vergleiche §§. 3, 16, 25, 27, 
147. -Zur Theilung der zum Gewerbebetrieb gehörigen Anlagen in Haupt- und 
Nebenanlagen bietet der Wortlaut des Gesetzes in §. 120 a. a. 0. keinen Anhalt. 
Sie würde auch mit dem Zweck desselben, denjenigen Personen, welche in ge¬ 
werblichen Betriebsstätten verkehren und arbeiten, Schutz gegen körperliche 
Gefährdung zu sichern, in Widerspruch treten. 

Erheischte die besondere Beschaffenheit der Fabrikanlage des Angeklagten 
ein Betreten verschiedener Stockwerke durch die Arbeiter, so bedurfte es keiner 
besonderen Ausführung darüber, dass die Einrichtung von genügend bewährten 
Treppen einen nothwendigen Besiandtheil der Einrichtung der Betriebsstätte bil¬ 
dete, und der Angeklagte zu ihrer Unterhaltung in genügend schützendem 
Zustande verpflichtet blieb. 

Mit Recht sind die hieraus erhellenden Pflichten als dem Angeklagten ver¬ 
möge seines Gewerbes besonders obliegend bezeichnet und der Vorschrift des 
Abs. 2 des §. 230 des Strafgesetzbuchs unterstellt. Die Einwendung der Revi¬ 
sionsbegründung. dass hier unter „besonderen“ Verpflichtungen nur solche zu 
verstehen seien, welche durch die wesentliche Bestimmung des Gewerbes, durch 
dessen Gegenstand begründet werden, und sich als unmittelbaren Ausfluss der 
Gewerbthätigkeit characterisiren lassen, trägt in die obige Gesetzesbestimmung 
eine unzulässige, überdies jeder sichern Begrenzung unzugängliche Unterschei¬ 
dung. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass in einer Goldleistenfabrik die ge¬ 
werblichen Pflichten nicht erst mit dem Augenblick und nur für diejenigen 
Thätigkeilen ihren Anfang nehmen, mittels deren das Holz zu Leisten hergestellt 
und vergoldet wird, dass vielmehr die dazu erforderlichen vorbereitenden oder 
begleitenden Thätigkeiten gleichfalls innerhalb des Gewerbebetriebes und der 
damit verbundenen Pflichten liegen. 

Im Hinblick auf die Sachlage bedarf es einer weiteren Erörterung darüber 
nicht, dass, auch wenn §. 120 Abs. 3 der Reichs-Gewerbeordnung nicht bestände, 
der erste Richter zur Anwendung des Absatzes 2 des §. 230 des Strafgesetzbuchs 
doch ohne Rechtsirrthum hätte gelangen können. Die im §. 120 a. a. 0. präcisir- 
ten Verpflichtungen folgen im Wesentlichen schon aus allgemeinen Rechtsregeln. 
Eröffnete der Angeklagte einen Gewerbebetrieb, der die Arbeiter zur Benutzung 


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Verschiedene Mittheilnngen. 


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von Treppen nötbigte, so übernahm er damit auch die besondere Verpflichtung, 
ihnen durch deren Zustand keine Gefahr zu bereiten, andernfalls nicht nur civil- 
reohtlich, sondern in jeder Richtung für mittelbare Folgen ihrer gefährdenden 
Beschaffenheit einzustehen (Allgemeines Landrecht Theil I Tit. 3 §.5, 10) und 
auch diese Verpflichtung knüpfte sich im Sinne des §. 230 Abs. 2 des Straf¬ 
gesetzbuchs an den Betrieb des Gewerbes. 

Da auch in anderen Richtungen, insbesondere bezüglich der Strafzumessung 
dem erstrichterlichen Urtheil Bedenken nicht entgegenstehen, so war die Revision 
zu verwerfen, und wegen der Kosten nach §. 505 der Strafprocessordnung zu 
erkennen. 


Reiehsgcrlehtliehe Entscheidungen als Beiträge sar gerichtlichen Iffedieia. Zu¬ 
sammengestellt vom Oberstabsarzt Dr. H. Frölich zu Möckern bei Leipzig. 

I. 

Die Fleischer G.’schen Eheleute zu V. sind vom Landgericht aus §.10 des 
Nahrungsmittel-Gesetzes vom 14. Mai 1879 verurtheilt. Nach dem fest¬ 
gestellten Beweisergebnisse haben die Angeklagten Hamburger, d. h. amerikani¬ 
sches Schmalz zerlassen, unter Zusatz einer Zwiebel mit Schweinefett von frisch 
geschlachteten Schweinen vermischt und diese Mischung an das Publikum als 
„Schweinefett“ oder „Schmeerfett“ verkauft, während das Publikum in der 
dortigen Gegend unter dem Namen „Schweinefett“ oder „Schmeerfett“, wenn 
es diese Waare kauft, das Schmeerfett von Schweinen versteht und verlangt, die 
im Lande frisch geschlachtet worden sind, solches Fett und amerikanisches Fett 
im gemeinen Verkehr als Nahrungsmittel von verschiedener Güte gelten, die 
daher auch einen verschiedenen Preis haben, und diese Verkehrsansicht objectiv 
ihren Grund in dem Umstande bat, dass es für den Consumenten etwas Anderes 
ist, ob er frisches Fett von Thieren, die im Inlande unter Beobachtung der in¬ 
ländischen sanitätspolizeilichen Vorschriften geschlachtet worden sind, oder ob 
er Schweinefett erhält, dessen Ursprung er nicht kennt, und von dem er nicht 
weiss, ob es nicht schon Monate oder Jahre alt ist. 

Die Revision der Angeklagten wendet ein, dass die von ihnen verkaufte 
Waare weder nachgemacht, noch verfälscht sei, denn der Begriff „verfälschen“ 
setze eine Verschlechterung der Qualität des Nahrungsmittels voraus, und er¬ 
fordere der Begriff „nachmachen“, dass der Schein einer anderen Sache hervor¬ 
gerufen werde. 

Das R.-G. III. Strafsenat hat am 4. Juni 1883 die Revision verworfen, da 
dieselbe von einem rechtlich irrigen Ausgangspunkte ausgeht. Die gesetzlichen 
Begriffe „nachmachen“ und „verfälschen“ im §. 10 des Nahrungsmittel-Gesetzes 
setzen eine gewisse Norm voraus, an welcher diejenige Waare zu bemessen ist, 
um deren Nachahmung oder Verfälschung es sich bandelt; diese Norm besteht 
jedoch nicht in deijenigen Beschaffenheit der Waare, welche dem Einzelnen 
nach seinen subjectiven Zwecken oder seinem subjectiven Ge¬ 
schmack e als die wünschenswerthe erscheinen mag, und auch nioht, oder 
doch nur unter besondern, hier nicht in Betracht kommenden Verhältnissen, in 
einer objectiv absolut festen und ein für allemal bestimmbaren 
Beschaffenheit der Waare, sondern regelmässig in derjenigen Beschaffenheit, 


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Verschiedene Mittheilungen. 


welche nach Zeit und Ort der redliche gutgläubige Verkehr bei der 
Waare fordert und die demgemäss das Publikum erwartet und zu erwarten 
ein Recht hat, wenn es die Waare unter der im Verkehr hergebrachten Be¬ 
zeichnung oder äussem Form und Gestalt fordert und kauft. Dass die Ange¬ 
klagten eine dieser Norm nicht entsprechende Waare lieferten, als sie 
ihre Mischung unter dem Namen „Schweinefett“ oder „Schmeerfett“ in den Ver¬ 
kehr brachten, hat das Landgericht in deutlichster Weise auseinandergesetzt und 
festgesteilt. Gleichzeitig ergiebt sich aus den Urtheilsgründen, dass, gegenüber 
dieser Norm, die Abweichung der von den Angeklagten verkauften Waare 
nicht nach der Seite einer Verbesserung, sondern nach der einer Ver¬ 
schlechterung derselben ging, theils insofern, als die Käufer, statt der er¬ 
warteten zweifellos frischen, eine hinsichtlich ihres wirklichen Alters 
nicht controlirbare Waare erhielten, theils sogar insofern, als, nach dem 
Obigen, die verkaufte Waare zum Theil an sich schlechter als frischo 
und erst durch eine besondere Manipulation scheinbar der frischen gleich- 
gemacht worden war, (Leipz. Tageblatt v. 23. Nov. 1883.) 

II. 

Der Bauergutsbesitzer N. zu W. ist vom Landgericht wegen fahrlässigen 
Verkaufs eines verdorbenen Nahrungsmittels verurtheilt, weil fest¬ 
gestellt war, dass derselbe im December 1882 auf dem Markte zu Halberstadt 
an die Ehefrau des Postsecretairs Weisker für den höchsten Marktpreis eine 
geschlachtete und gerupfte Gans verkauft, von welcher er auf Befragen der 
Käuferin versicherte, dass sie jung und gesund sei, deren Fleisch sich jedoch 
bei der am folgenden Tage stattgehablen thierärztlichen Untersuchung als in 
hohem Grade verfault und für den Genuss von Menschen ungeeignet 
erwies, während die Eingeweide breiartig und stinkend waren und die Haut grün¬ 
liche Verwesungsflecke zeigte. — Der Angeklagte will die Gans erst zwei Tage 
vor dem Verkaufe geschlachtet und von dem verdorbenen Zustande derselben zur 
Zeit des Verkaufs keine Kenntniss gehabt haben. Das Landgericht hat auch 
diese Wissenschaft des Angeklagten nicht für erwiesen erachtet, wohl aber an¬ 
genommen, dass derselbe bei dem Verkaufe der Gans, deren Fleisch als verdor¬ 
ben bezeichnet wird, fahrlässig gehandelt habe. Diese Annahme gründet 
sich auf die Erwägungen, dass nach dem Gutachten des Thierarztes die am 
14. December 1882 in einem so vorgeschrittenen Verwesungszustande befundene 
Gans entweder vor dem 11. desselben Monats geschlachtet worden oder schon 
beim Schlachten krank gewesen sein müsse, und dass dem Angeklagten, welcher 
sich geständlich mit dem Aufziehen, Schlachten und Verkaufen von Gänsen 
beschäftige, bei gehöriger Aufmerksamkeit nicht hätte entgehen können, dass die 
fragliche Gans zur Zeit des Verkaufs bereits verdorben war. indem 
schon der faulige Geruch derselben ihn zu dieser Annahme hätte führen müssen. 

Der Angeklagte wendet in seiner Revision ein, dass das Landgericht den 
Rechts begriff der Fahrlässigkeit verkannt habe. Das R.-G., III. Strafsenat, 
hat am 17. September 1883 die Revision verworfen, da die Fahrlässigkeit des 
Angeklagten darin gefunden ist, dass er ein im hohen Grade verdorbenes 
Nahrungsmittel auf öffentlichem Markte verkaufte, wiewohl er bei gehöriger 
Aufmerksamkeit das Verdorbensein hätte erkennen und demzufolge von dem 
Verkaufe hätte abstehen oder dem Käufer von der wahren Beschaffenheit der 


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Verschiedene Mittheilungen. 


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Waare Mittheilung machen müssen. Das Landgericht ist dabei zweifellos von 
den durchaus zutreffenden Annahmen geleitet worden, dass der Angeklagte als 
gewerbsmässiger Verkäufer von dergleichen Nahrungsmitteln die besondere 
Verp flieh tung gehabt habe, sich über den Zustand der zum Verkauf gebrachten 
Gegenstände durch sorgsame Prüfung zu vergewissern und dass bei solcher 
Prüfung der verdorbene Zustand der Gans für den sachkundigen Angeklagten 
ohne Weiteres erkennbar gewesen sein würde. Wenn in letzterer Beziehung der 
faulige Geruch der Gans als Erkonnungsmittel speciell hervorgehoben ist, so liegt 
hierin zugleich die von der Revision vermischte Feststellung, dass zur Zeit des 
Verkaufs ein derartiger Geruch vorhanden und leicht wahrnehmbar gewesen sei. 
Die letzterwähnte Annahme erscheint aber auch ohnehin unbedenklich und einer 
specielleren Motivirung nicht bedürftig, wenn man die schon am Tage nach dem 
Verkaufe constatirte hochgradige Verwesung des Fleisches und die damals 
herrschende niedrige Temperatur der Luft in Betracht zieht, bei welcher die 
Fäulniss nur langsam vorschreitet. Angesichts dieser den Thatbestand des §.11 
des Gesetzes vom 14. Mai 1879 erschöpfenden Feststellung war es ohne Erheb¬ 
lichkeit und konnte daher unentschieden gelassen werden, ob der Grund des 
Verdorbenseins in der einen oder der anderen der von dem ThieraTzte auf¬ 
gestellten Alternativen zu suchen sei. Denn dem Angeklagten wird nicht zur 
strafbaren Verschuldung zugerechnet, dass er ein krankes Thier geschlach¬ 
tet und verkauft, oder dass er nicht schon beim Schlachten den Einfluss der 
von da bis zum Verkaufe verlaufenden Zeit auf die Beschaffenheit des Fleisches 
sich richtig vorgestellt, sondern dass er es unterlassen habe, sich im Zeitpunkte 
des Verkaufs von dem Zustande der Gans diejenige Kenntniss zu verschaffen, 
welche man von ihm fordern durfte. (Leipz. Tagebl. vom 14. Januar 1884.) 

III. 

Wegen wissentlichen Feilhaltens gesundheitsschädlichen Flei¬ 
sches ist der Fleischer Anton T. und dessen Ehefrau zu L. vom Landgericht 
verurtheilt. Nach dessen Feststellung hat die angeklagte Ehefrau das Fleisch 
oiner von ihrem Ehemanne gekauften und geschlachteten Kuh, welche an der 
Perlsucht gelitten hatte, am 3. Februar 1883 nach Deutsch-Eylau auf den Markt 
gefahren, dasselbe dort zum Verkauf ausgestellt, auch ein Wenig davon verkauft. 
An der Brust dieser von der Angeklagten zum Verkaufe ausgestellten Kuh hat 
der Zeuge, Fleischer W., kleine gelbe Bläschen bemerkt, auch der Stadtwacht¬ 
meister K. kleine gelbe oder weisse Bläschen an den Rippen constalirt und den 
Weiterverkauf des Fleisches inhibirt. Das von der Angeklagten aus Deutsch- 
Eylau zurückgebrachte Fleisch dieser Kuh hat sodann der Angeklagte zu Löbau 
in seinem Geschäft verkauft. 

Dem Gutachten des Kreisphysicus Dr. W. folgend, nimmt das Landgericht 
an, dass der Genuss von rohen, mit den der Perlsucht eigenthümlichen Knöt¬ 
chen durchsetzten Fleisch-, Lungen- oder Eingeweidetheilen bei Mensohen Scro- 
pheln and selbst Tuberculose hervorrufen kann, wohingegen der Genuss 
der nicht mit diesen Knötchen behafteten Theile auch perlsüchtiger Thiere, sowie 
der Genuss der von der Perlsucht ergriffenen Theile, wenn letztere gekocht, d. h. 
längere Zeit mindestens einer Temperatur von 70° C. ausgesetzt sind, nicht 
schädlich ist. Den Umstand, dass hiernach die für die Gesundheit ge¬ 
fährlichen Wirkungen des Genusses von Fleisch- und sonstigen Theilen perl- 


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Verschiedene Mittheilungen. 


süchtiger Thiere durch Absonderang der inficirten Stellen oder durch Kochen 
verhütet werden können, erachtet das Landgericht für die Anwendbarkeit des 
§. 12 des Gesetzes vom 14. Mai 1879 als unerheblich, weil insbesondere Rind¬ 
fleisch auch im rohen oder halbrohen Zustande zur Nahrung verwandt 
werden könne und nicht selten verwandt werde. Endlich erklärt das Landgericht 
in näherer Begründung für feststehend, dass beiden Angeklagten die von den 
Zeugen bekundeten Krankheitserscheinungen nicht entgangen sind, dass sie 
wussten, dass dieselben auf Perlsucht schliessen liessen und auch 
wussten, dass die von der Perlsucht ergriffenen Theilo für Menschen 
nicht geni essbar, d. h. ihr Genuss unter Umständen der Gesundheit schädlich 
ist. Bei diesen thatsächlichen Unterlagen hat das Landgericht die Anwendung 
des §. 12 No. 1 des Gesetzes vom 14. Mai 1879, wonach zu bestrafen ist, wer 
wissentlich Gegenstände, deren Genuss die menschliche Gesundheit zu 
beschädigen geeignet ist, als Nahrungs- oder Genussmittel ver¬ 
kauft. feilhält oder sonst in Verkehr bringt, gegen die beiden Angeklagten 
für gerechtfertigt erachtet. 

Hiergegen macht die Revisionsschrift der Angeklagten geltend, dass unter 
den Gegenständen, deren Genuss die menschliche Gesundheit zu schädi¬ 
gen geeignet sei, im Sinne jenes Gesetzes nicht alle Gegenstände zu ver¬ 
stehen seien, welche überhaupt einmal schädlich werden können, sondern 
nur solche, welche bei dem gewöhnlichen und ordnungsmässigen Ge¬ 
brauche schädlich auf die Gesundheit einwirken. Das Letztere treffe nach 
dem Gutachten des Kreisphysicus Dr. W. hier nicht zu; denn der allgemeine 
Gebrauch gehe dahin, Rindfleisch nur in gekochtem Zustande zu verzehren, 
in welchem es eben nicht schädlich sei. 

Das R. G., II. Strafsenat, hat am 26. Februar 1884 die Revision verworfen, 
da vom Landgericht thatsächlich festgestellt ist. dass Rindfleisch nicht selten 
auch im rohen oder halbrohen Zustande zur menschlichen Nahrung 
verwendet wird, so dass von dem behaupteten „allgemeinen Gebrauch “ 
oder auch nur von einem „gewöhnlichen und ordnungsmässigen Ge¬ 
brauch“, Rindfleisch nur in gekochtem — d. h. längere Zeit mindestens 
einer Temperatur von 70° C. ausgesetzten — Zustande zu verzehren, hier nicht 
die Rede sein kann. Das Gesetz will aber auch überhaupt vorbeugend wirken 
gegen jede Beschädigung der menschlichen Gesundheit, welche Gegenstände, die 
als Nahrungs- oder Genussmittel verkauft, feilgehalten oder sonst in 
Verkehr gebracht werden, durch ihren Gebrauch als Nahrungs- oder 
Genussmittel bereiten. Es kommt deshalb jede mögliche von dem Ver¬ 
käufer u. s. w. voraussehbare Art des Gebrauchs in Betracht, welche der den 
Gegenständen gegebenen Bestimmung, als Nahrungs- oder Genussmittel 
zu dienen, entspricht. (Leipziger Tagebl. vom 20. Juli 1884.) 

IV. 

Der Gutsbesitzer R. zu B. ist vom Landgericht aus §. 12 des N ahrungs- 
mittelgesetzes vom 14. Mai 1879 verurtbeilt, weil er wissentlich Ochsen¬ 
fleisch. dessen Genuss die menschliche Gesundheit zu beschädigen geeignet war, 
als Nahrungsmittel verkauft hat. Nach dem zu Grunde gelegten Sachverhalt 
wurde am 15. Juni 1883 auf Gut B., auf welchem der Angeklagte R. Verwalter 
ist, ein bereits seit längerer Zeit kranker, überaus abgemagerter Ochse, nachdem 


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Verschiedene Mittheilungen. 


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er zerlegt war, an den Fleischer F. verkauft, welcher Theile davon weiter ver- 
äussert hat. Der Ochse war, wie die spätere Untersuchung des Fleisches durch 
den Kreisthierarzt ergehen, an ausgeprägter Lungenschwindsucht und an sogen. 
Franzosenkrankheit crepirt und zweifellos erst, nachdem der Tod eingetreten, 
geschlachtet, unter diesen Umständen aber der Genuss des Fleisches absolut 
gesundheitsschädlich. Die Verkaufsverhandlungen waren in Abwesenheit des 
Angeklagten R. von dessen Ehefrau durch Vermittlung des Amtsschreibers M. 
mit dem Fleischer F. geführt und so der Handel auf 10 Pfg. pro Pfund zwischen 
beiden abgeschlossen. F. begab sich darauf von dem Gute B. nach Hause, um 
sich Fuhrwerk und Geld zu beschaffen. Als er am Nachmittag zurückgekehrt 
war, wog in seiner Gegenwart der Schreiber M. den zerlegten Ochsen auf 
370 Pfund ab, erklärte aber, dass F. denselben für 30 Mark habe solle. F. 
zahlte die 30 Mark an M. und bat diesen, das Geld dem Angeklagten R., welcher 
inzwischen zurückgekehrt war, mit dem Ersuchen zu übergeben, ihm, dem F., 
eine Bescheinigung zu ertheilen, dass er das Fleisch weiter verkaufen dürfe. Er 
erhielt hierauf eine von dem Angeklagten R. in seiner Eigenschaft als Amts* 
Vorsteher ausgestellte und unterschriebene Bescheinigung, wonach er „vom 
hiesigen Dominium einen ganzen geschlachteten Ochsen gekauft“ hat, und begab 
sich mit dieser Bescheinigung und dem Ochsen auf den Heimweg. 

Der Angeklagte R. hat wegen seiner Verurtheilung Revision eingelegt, in 
welcher er geltend macht, dass das Gesetz vom 14. Mai 1879 in §. 12 keines¬ 
wegs erfordere, dass die gesundheitsgefährlichen Gegenstände durch einen 
rechtsgiltigen Verkauf weiter voräussert seien, sondern nur, dass die Weiter- 
verausserung durch ein Rechtsgeschäft erfolgt sei, welches den formellen Erfor¬ 
dernissen des Kaufs entspreche. Daraus folge, dass das Vergehen gegen §. 12 
jenes Gesetzes bereits durch den, wenn auch rechtsungiltig von der Ehefrau des 
Angeklagten abgeschlossenen Verkauf des Ochsen vollendet gewesen sei, und 
weiter, dass der Angeklagte in Folge seiner nachträglichen Genehmigung nicht 
als Thäter des bereits durch einen Anderen vollendeten Vergehens betrachtet 
werden könne. 

Das R.-G., II. Strafsenat, hat am 26. Februar 1884 die Revision verworfen 
und dabei ausgeführt: Wenn der §.12 No. 1 des Gesetzes vom 14. Mai 1879, 
welches den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genussraitteln und Gebrauchs- 
gegenständen betrifft, denjenigen mit Strafe bedroht, wer wissentlich Gegenstände, 
deren Genuss die menschliche Gesundheit zu beschädigen geeignet 
ist, als Nahrungs- oder Genussmittel verkauft, feilhält oder sonst in 
Verkehr bringt, so wird das Verkaufen solcher Gegenstände als Nahrungs¬ 
oder Genussmittel nur als eine besondere Gestaltung des Inverkehrbringens 
aufgefasst, welches, aus welchem Grunde es auch erfolgen möge, an sioh strafbar 
ist. Das Inverkehrbringen des gesundheitsschädlichen Fleisches legt vor¬ 
liegend das Landgericht dem Angeklagten R. zur Last, weil derselbe in Geneh¬ 
migung des von seiner Ehefrau in Vertretung seiner Person mit dem Fleischer F. 
abgeschlossenen Kaufsvertrags und zu dessen Erfüllung das Fleisch dem F. über- 
liess. Das Thun des Angeklagten R. war auch mit Recht als ein Verkaufen 
zu bezeichnen, weil durch seine Genehmigung des abgeschlossenen Ver¬ 
trages, welchen er auch überdies durch Uebergabe in Vollzug setzte, zwischen 
ihm und F. das Rechtsverhältniss eines Verkäufers und Käufers hergestellt 


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Verschiedene Mittheilnngen. 


war. Dass die Ehefrau des Angeklagten R., als sie mit F. den Kaufvertrag über 
das Fleisch abschloss, wusste, dass dessen Genuss die menschliche Gesund¬ 
heit zu beschädigen geeignet war, ist nicht festgestellt. Es kann daher 
nicht davon die Rede sein, dass sie das Vergehen gegen §. 12 No. 1 des Gesetzes 
vom 14. Mai 1879 begangen, oder auch nur strafbar versucht hatte, als der 
Angeklagte den geschlossenen Kauf genehmigte und in Vollzug setzte. Richtig 
aber ohne Bedeutung für vorliegende Sache ist die Behauptung der Revisions¬ 
schrift, dass der §.12 des Gesetzes vom 14. Mai 1879 auf die civile Rechts¬ 
gültigkeit des geschlossenen Kaufes kein Gewicht legt. Es hat dies eben darin 
seinen Grund, dass der Verkauf lediglich in Rücksicht auf den Zweck und Erfolg 
des Inverkehrbringens betrachtet wird. Es kommen deshalb auch die als verletzt 
bezeichneten Grundsätze des preussisohen allgemeinen Landrechts über die Per- 
fection eines Vertrages hier nicht weiter in Betracht. Nach den festgestellten 
Thatsachen liegt der Thatbestand des Vergehens gegen den gedachten §. 12 No. 1 
bezüglich des Angeklagten R. vor. (Leipziger Tagebl. v. 22. Juli 1884.) 

V. 

Der Wurstfabrikant R. zu L. ist vom Landgericht aus §. 12 des Nahrungs¬ 
mittelgesetzes vom 14. Mai 1879 wegen Feilhaltens gesundheitsschäd¬ 
lichen Fleisches verurtheilt. Der Sachverhalt war folgender: Der Angeklagte 
kam am 27. April 1882 Abends mit seinem einspännigen Wagen in den Gasthof 
zur Stadt Aachen in B. Auf diesem Wagen befanden sich die vier Viertheile 
eines geschlachteten Rindes, dessen Fleisch einen auffallenden Fäulnissgeruch 
verbreitete und vollständig verdorben war. Der Angeklagte schickte sodann 
einen Mann in die Wohnung des Wurstfabrikanten M. und liess durch diesen die 
Ehefrau M., welche allein zu Haus war, auffordern, sie möge doch das Fleisch 
aus der „Stadt Aachen“ holen lassen. Auf die Frage dieser Frau, welche der 
Meinung war, ihr Ehemann habe das in Frage stehende Fleisch käuflich erwor¬ 
ben, von wem dasselbe gekauft sei, erwiderte dieser Mann, es sei von dem 
Fleischermeister R., ihr Mann werde es schon behalten und er werde sich am 
nächsten Morgen den Bescheid holen. Als die Ehefrau M. daraufhin ihren Lehr¬ 
ling mit einem Handwagen zur Abholung des Fleisches nach der „Stadt Aachen“ 
schickte, traf dieser den Angeklagten und einen andern Mann, welche gemein¬ 
schaftlich mit ihm drei Viertheile des Rindes von dem Einspänner des Angeklag¬ 
ten herabnahmen und auf den Handwagen des M. schafften. Als der Lehrling 
mit seinem Handwagen aus dem Thorweg herausfuhr, wurde er von einem 
Schutzmann betroffen, der das Fleisch mit Beschlag belegte. Der mit der 
Untersuchung des Fleisches beauftragte Sachverständige erklärte, dasselbe sei 
zweifellos schon am 27. April 1882 höchst übelriechend und verdorben und des¬ 
halb in einem Zustand gewesen, dass dessen Genuss die menschliche Gesundheit 
beschädigen konnte und musste. Das Landgericht hat auf Grund dieses Sach¬ 
verhalts als thatsächlich festgestellterachtet, dass der Angeklagte wissentlich 
Gegenstände, deren Genuss die menschliche Gesundheit zu schädigen 
geeignet sei, als Nahrungsmittel feilgehalten und in Verkehr gebracht 
hat, indem es als erwiesen ansah, der Angeklagte habe, als er das Fleisch zum 
Kauf anbot. davon Kenntniss gehabt, dass dasselbe verdorben sei und 
annahm, derselbe habe als früherer Fleischer und Wurstfabrikant auch wissen 


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Verschiedene Mittheilungen. 425 

müssen, dass der Genuss solchen Fleisches der menschlichen Gesundheit 
Gefahr bringe. 

Die von dem Angeklagten gegen seine Verurtheilung eingelegte Revision ist 
vom R.-G. I. Strafsenat am 31. März v. J. verworfen und hierbei Folgendes aus¬ 
geführt: Die Annahme, dass der Angeklagte das verdorbene Fleisch feilgehal¬ 
ten habe, ist damit begründet, dass er dasselbe dem Wurstfabrikanten M. durch 
einen Dritten hat zum Kauf anbieten lassen. In Verkehr gebracht hat 
der Angeklagte das Fleisch auch dadurch, dass er sich an dem Transport dessel¬ 
ben auf dem Handwagen von M. betheiligte, indem durch dieses Wegschaffen die 
Möglichkeit geschaffen wurde, dass das Fleisch nun von dritten Personen 
verzehrt werden konnte. Durch die thatsächlichen Feststellungen des land¬ 
gerichtlichen Urtheils ist der Thatbestand des in §. 12 Ziff. 1 des Gesetzes vom 
14. Mai 1879 vorgesehenen Vergehens erschöpft. Auch lässt sich nicht erken¬ 
nen, dass denselben ein Reohtsirrthum zu Grunde liegt. Insbesondere ist ein 
solcher in der Annahme nicht zu finden, das Anbieten des Fleisches zum 
Zweck des Verkaufs sei als ein Feilhalten im Sinne des Gesetzes anzu¬ 
sehen. Die Feststellung, dass der Angeklagte das verdorbene Fleisch als Nah¬ 
rungsmittel feilgehalten hat, obgleich er wusste, dass dessen Genuss 
geeignet sei, die menschliche Gesundheit zu schädigen, genügt aber, 
um die Anwendung des §. 12 Z. 1 des angeführten Gesetzes zu rechtfertigen. 

Es kommt deshalb nicht darauf an, ob der Angeklagte dieses Fleisch auch 
noch in anderer Weise in Verkehr gebracht hat, wie das Landgericht an¬ 
nahm, denn das blosse Feilhalten ist ebenso wie der Verkauf als ein „In¬ 
verkehrbringen“ im Sinne des §. 12 anzusehen. (Leipziger Tageblatt vom 
19. Augnst 1884.) 


ler VI. Jahreseoagress des Vereins für öffentliche Gesundheitspflege in 

England wurde vom 25. — 29. September 1883 in Glasgow abgehalten. Mit 
demselben war, wie bisher, auch diesmal eine Hygiene-Ausstellung verbunden. 

Der Vorsitzende, Professor G. M. Humphry, eröflfnete in einer allgemeinen 
Versammlung die Verhandlungen mit einem einleitenden Vortrag über „Gesund¬ 
heit“. Am Schlüsse desselben betonte er die Wichtigkeit der Bildung eines 
besonderen Ministeriums für Gesundheitspflege, zu dessen Ressort a) die 
Oberaufsicht über den sanitären Zustand der Städte und Landgemeinden, der 
Marine und Armee, der Schiffe und Hauslhiere; b) die Einführung sanitärer 
Verbesserungen; c) die Ausbildung und Prüfung der Medicinalbeamten und der 
Sanitätspolizei - Inspectoren gehören müsste. Der Vortragende bezeichnet die 
Errichtung eines besonderen Ministeriums für Gesundheitspflege als eine drin¬ 
gende Zeitfrage, nach deren Verwirklichung ernstlich gestrebt werden müsse. 
Eine entschiedenere und zahlreichere Vertretung der Aerzte und Hygieniker in 
dem Parlamente würde diesem Ziele näher führen. 

In der Section für Gesundheitspflege und Prophylaxis wurden 
6 Vorträge gehalten, welche in einem kurzen Referate besprochen werden sollen, 
insoweit sie ein allgemeines Interesse beanspruchen. 

Professor Gairdner sprach über Verhütung der Krankheiten. Ein¬ 
leitend betonte derselbe, dass die mediciniscbe Prophylaxis zu oft als werthlos 


Vierteljährlich!-, f. ger. Med. N. F. XLIV. 2. 


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Verschiedene Mittheilungen. 


betrachtet würde, nicht allein von dem grösseren Publikum, weil dieselbe nichts 
eintrage, sondern auch weil sie in Erwägung der grossen Schwierigkeiten, welche 
die Feststellung der Aetiologie bereite, unsicher sei und wenig praktische Erfolge 
aufweisen könne. Entgegen der letzteren Auffassung constatirte der Vortragende 
auf Grund der medicinal-statistischen Untersuchungen von Dr. Farr die Ver¬ 
minderung der Mortalität an Cholera und Pocken im Zusammenhang mit der 
eingeleiteten Prophylaxis. Bei Typhus und Recurrens seien die Erfolge der 
letzteren bis jetzt weniger bemerkbar. Gairdner weist ferner darauf hin, dass 
nicht allein gegen die Infectionskrankheiten, sondern auch gegen entzündliche 
und chronische Erkrankungen der Lungen, welche in den grossen Städten auf 
die Höhe der Mortalitätsziffer nicht minderen Einfluss ausüben, propbylactische 
Massregeln zu ergreifen seien. Als solche bezeichnet er Ventilation und Rein¬ 
haltung in den Wohnungen der Armen und Verminderung der Volksdichtigkeit. 

Dr. James Christie sprach über Cholera-Epidemie, ihre Aetiolo¬ 
gie, Art der Ausbreitung und Prophylaxis, mit besonderer Bezug¬ 
nahme auf Quarantaine. Die schlechteste Methode, einer Cholera-Epidemie 
entgegenzutreten, sei die, zu warten, bis sie uns erreicht habe, und sie dann erst 
zu bekämpfen. Die grösste Schwierigkeit läge immer darin, die Regierung und 
die Lokalbehörden in Bewegung zu bringen. Die Prophylaxis gegen Cholera 
falle zusammen mit der Hebung des allgemeinen Gesundheitszustandes. Mit einer 
von der Quelle bis zum Ausfluss rein erhaltenen Wasserleitung und einem einiger- 
massen rationellen Abfuhrsystem würde die Gefahr der Ausbreitung in erheb¬ 
lichem Grade vermindert. Bezüglich der Quarantaine ist der Vortragende der 
Meinung, dass die durch diese hervorgerufene häufige Störung des indischen 
Handels zur Untersuchung der sanitären Zustände in Indien und zu Verbesserun¬ 
gen daselbst Veranlassung geben müsste. Im concreten Falle müsste allerdings 
jedes Schiff, welches Kranke an Bord habe, einer sachverständigen Inspection 
unterzogen und eventuell unter Qnarantaine gestellt werden, d. h. es müsse mit 
dem Schiffe, seiner Ladung und seinen Passagieren gerade so verfahren werden, 
wie im Falle von Infectionskrankheiten mit seinem Hause und seinen Bewohnern 
in einer übervölkerten Stadt. Gesunde und Kranke müssen getrennt und letztere 
in einem besonderen Krankenhaus untergebracht, um dieses aber ein sanitäts¬ 
polizeilicher Cordon gezogen werden. In der Zwischenzeit müsse das Schiff 
gerade so, wie ein inficirtes Haus, gereinigt und desinficirt werden. Würde die 
Quarantaine und Sanitäts-Cordon in dieser Weise gehandhabt, dann würde der 
Ausbreitung der Cholera in Indien wie in Europa vorgebeugt. Egypten und alle 
Länder, welche sich in einem unsanitären Zustande befinden, müssten von Zeit 
zu Zeit von Cholera-Epidemien heimgesucht werden. Ein Specificum für die 
curative Behandlung der Cholera gäbe es nicht, dagegen aber ein specifisches 
Prophylacticum, welches darin bestände, ihre Nester und Schlupfwinkel — den 
Schmutz — wegzuräumen, und sanitäre Zustände zu schaffen. 

In der Discussion betonte Prof, de Chaumont, dass die Quarantaine 
allein unwirksam sei, wenn nicht der menschliche Verkehr, durch welchen die 
Cholerakeime von Ort zu Ort verschleppt würden, wirksam inhibirt würde. Er 
exemplificirte auf die letzte Cholera-Epidemie in Egypten. Rings um Alexandrien 
war ein sanitäts-polizeilicher Cordon gezogen, um das Einlaufen der Eisenbahn¬ 
züge in die Stadt zu verhindern, dagegen wanderten die schmutzigen Araber un- 


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Verschiedene Mittheilungen. 


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gehindert zu Fuss ein, die Krankheit in die Stadt einschleppend. Quarantaine 
störe den Handel empfindlich, dagegen sei der durch sie zu gewährende Schutz 
häufig ein illusorischer. Um dies zu beweisen, erinnert Redner an die Mittheilun¬ 
gen eines Sohiffeigenthümers auf dem Oongresse in Amsterdam, welcher die 
erhebliche Schädigung des Handels durch die Quarantaine hervorhob, auf der 
anderen Seite aber auch behauptete, dass er in jedem Hafen der Welt durch Be¬ 
zahlung eines „backsheesh“ die Belästigungen der Quarantaine umgehen könne. 

Redner erachtete die Hebung der Gesundheitspflege im Allgemeinen für wich¬ 
tiger zur Bekämpfung der Ausbreitung der Cholera, als die unnützen Versuche, 
welohe mit Quarantaine und sanitätspolizeilichen Cordons gemacht würden. 

Dr. J. F. Sutherland sprach über Typhus, dessen Aetiologie und 
Prophylaxis. Der Vortragende ging davon aus, dass der ätiologische Zusam¬ 
menhang des Typhus mit Canälen, Aborten und Senkgruben eine unbestrittene 
Thatsache sei, und forderte demgemäss eine vollständige Umänderung der Bau¬ 
polizei auf dem Wege der Gesetzgebung, namentlich mit Bezug auf die Haus¬ 
und Zimmerdrainage und den pro Kopf der Bewohner erforderlichen Cnbikraum. 

Die Section für Ingenieure und Architeoten wurde von dem 
Vorsitzenden, Prof. Roger Smith, mit einem Vortrag über die Wohnungs¬ 
verhältnisse in London eröffnet. Derselbe schilderte die in sanitärer Be¬ 
ziehung äusserst ungünstige Beschaffenheit der Häuser in vielen der älteren 
Stadttheile, tadelte indess auch die neuen, mit Prachtaufwand errichteten Ge¬ 
bäude, sowie die hygienische vieler Villen in den Vorstädten, namentlich mit 
Bezug auf mangelnde Drainage und Wasserzufubr. Am gesündesten seien die 
für die Arbeiterclasse in den Vorstädten erbauten Häuser, welche meist nur für 
2 Familien mit je 3 Zimmern eingerichtet seien, ein Gärtchen vor dem Hause 
und genügenden Hofraum hinter demselben hätten, und daher Licht und Luft in 
ausreichendem Masse enthielten. Redner erachtete eine Aenderung der Baupolizei 
auf dem Wege der Gesetzgebung nicht für nothwendig, die ausreichend sei, wenn 
nur die Bevölkerung im Allgemeinen mehr Sinn fiir hygienische Wohnungs¬ 
einrichtungen als für schöne Tapeten und äusseren Zierrath habe. Redner gab 
ferner eine Uebersicht über die Verbesserungen der Arbeiterwohnungen in den 
letzten 50 Jahren und rühmte insbesondere die segensreiche Thätigkeit der 
Vereine und Gesellschaften, welche es sich zur Aufgabe gemacht, gesunde Ar¬ 
beiterwohnungen herzustellen. Allein im Sommer 1881 seien durch diese für 
11000 Familien bessere Wohnungen mit einem Kostenaufwand von Lstr. 1.900000 
geschaffen worden. 

In der Discussion führte Dr. B. W. Richardson aus, dass in den 
Häusern der besseren Gesellschaftsclassen die Dinge meist noch schlimmer lägen, 
als in jenen der unteren Classen. und es sei kaum zu begreifen, wie unter sol¬ 
chen Umständen London nur eine Mortalitätsziffer von 22 auf 1000 und das 
Jahr habe. Prof. Smith wies darauf hin, dass der niedrige Stand der Mortali¬ 
tätsziffer zum grossen Theil durch die Bevölkerungszunahme, bezw. durch den 
enormen Zuzug von Aussen zu erklären sei. Der grösste Theil der Zuziehenden 
hätte die Krankheiten und Gefahren der ersten Lebensjahre hinter sich und 
stände meist im kräftigsten Alter, und London befände sich thatsächlicli nicht 
in einem sanitär so günstigen Zustande, wie man dies aus dem Studium der 
Mediciualslatistik allein schiiessen könnte. 


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Verschiedene Mittheilungen. 


Prof, de Chaumont führte aus, dass die geschilderten ungünstigen Woh- 
nungsverhältnisse Londons in den meisten englischen Grossstädten anzutreffen 
seien. — 

Dr. Wallace hielt einen Vortrag über den „Bau der Wohnungen in 
sanitärer Beziehung.“ Mit Uebergehung der Hausdrainage, deren hygieni¬ 
sche Construction er als bekannt voraussetzte, besprach Redner die übrigen Be¬ 
dingungen eines gesunden Wohnhauses, insbesondere die baulichen Vorkehrungen, 
um demselben volles Licht und soviel als möglich reine und trockne Luft zu 
verschaffen. Auf dem Wege der Gesetzgebung müsse eine Norm für das richtige 
Verhältniss der Höhe der Häuser zu der Breite der Strassen geschaffen werden. 
In unseren Breitegraden dürfte die Höhe des Hauses zwei Dritttheile der Strassen- 
breite nicht überragen, das würde für eine 45—55 Fuss (3 englische Fuss = 
0,914 Meter) breite Strasse eine Höhe von 3 Stockwerken, und bei 60—70 Fuss 
Strassenbreite 4 Stockwerke ergeben. Der Vortragende betont, dass diese Maasse 
nicht allgemein gültig, sondern für unsere Breitegrade berechnet seien, indem 
z. B. eine Strasse von 15—20 Fuss Breite in Cairo in den unteren Stockwerken 
besser beleuchtet sei, als eine 40—50 Fuss breite Strasse in Stockholm. 

Bezüglich der Richtung einer Strasse sei die nord-südliche vorzuziehen. 
Gin auf der Westseite einer solchen Strasse gelegenes Haus erhalte Sonnenlicht 
vom Morgen bis Mittag in der Front, und vom Mittag bis Abend an der hinteren 
Seite. In einer Strasse dagegen mit ost-westlicher Richtung erhalten die Häuser 
auf der Südseite nur spärliches, und im Winter gar kein Sonnenlicht in der 
Front, während derselbe Mangel in der Hinterfront der auf der Nordseite gelege¬ 
nen Häuser bestände. Kein W'ohnraum könne als ein vollkommen gesunder 
erachtet werden, der nicht zeitweise am Tage direktes Sonnenlicht habe. Sei eiu 
Zimmer so situirt, dass ihm das direkte Sonnenlicht fehle, so könnte durch die 
Anlage möglichst grosser Fenster einigermassen Ersatz geschaffen werden, da sie 
wenigstens so viel als möglich Tageslicht einlassen. 

Ganz reine Luft könne nur in vollständig trockenen Wohnräumen erwartet 
werden. Ein Uebermass von Feuchtigkeit entstehe aber durch Absorption von 
Wasser sowohl vom Boden aus als von den porösen Mauersteinen. Eine weitere 
Quelle der Luftverderbniss bilde die Schwammbildung oder Trockenfäule, welche 
das Holzwerk nicht allein in den unteren Stockwerken, wie man gewöhnlich an¬ 
nehme, angreife, sondern hauptsächlich da, wo die Balkenenden in porösem Stein 
ruhen. Als ein Mittel hiergegen würden „Schuhe“ aus glasirtem Thon oder 
ähnlichem Material empfohlen, welche, in das Mauerwerk eingelassen, die Enden 
der Balken umfassen. Die einzelnen Arten von Bausteinen seien mehr oder 
minder porös. Dr. Wallace hat in einer früheren Arbeit auf experimentellem 
Wege festgestellt, dass der härteste und beste Sandstein in 100 Theilen 
annähernd 8 Theile Wasser absorbire, und geringere Sorten 12 —15 Theile. 
Hiernach würde ein Cubikfuss Stein 5 — 9 Pfund Wasser absorbiren. Die Ab¬ 
sorptionsfähigkeit gewisser Steinarten träte so rasch in Wirksamkeit, dass bei 
leichtem Regen die ganze Masse des Niederschlages imbibirt würde. Ein grosser 
Tlieil verdampfe wieder von der Oberfläche des Steines, ein anderer Theil aber 
nähme seinen Weg in das Innere, der um so grösser sei, je mehr die Oberfläche 
des Steines durch Regen feucht erhalten würde. 

Eine andere Eigenthümlichkeit des Sandsteins bestände darin, dass er für 


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Verschiedene Mitteilungen. 


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Luft und andere Gase durchlässig sei. Mehr oder weniger bestände diese Fähig¬ 
keit, Luft zu diffundiren, bei allen zum Bau benutzten Steinarten, ein Umstand, 
der auf die Beschaffenheit der Lnft in einem Wohnhause von grossem Einfluss 
sei. Wenn ein Sand- oder Backstein mit Wasser gesättigt sei, dann bliebe für 
die Dauer der Sättigung die Absorptionsfähigkeit für Luft aufgehoben, oder wenn 
noch ein Bestandtheil Luft diffundirt würde, so wäre dieser mit Wasserdampf 
überladen und daher in sanitärer Beziehung von geringerem Werth als hei nor¬ 
malem Feuchtigkeitsgrade. Durch das Anstreichen der Steine mit Oel, Oelfarbe, 
mit einer Auflösung von kieselsaurem Natron oder mit ähnlichen Mitteln würde 
zwar der Absorption des Regenwassers vorgebeugt, allein es würde hierdurch 
gleichzeitig der Eintritt von reiner Luft in das Haus, und der Austritt der un¬ 
reinen Luft aus demselben verhindert. Die einzige Möglichkeit, deD geschilderten 
Uebelständen vorzubeugen, bestände darin, doppelte Wände mit einem mehrere 
Zoll breiten Zwischenraum anzubringen. Die äussere Wand müsste an Decke 
und Boden 3 Quadratzoll grosse, 6 Fuss von einander entfernte, nach oben 
gerichtete Oeffnungen für den Ein- und Austritt der Luft enthalten, die innere 
Wand könne von Backsteinen in der Dicke von 4‘/ 2 — 9 Zoll entsprechend der 
Höhe hergestellt werden, und beide Wände müssten durch dicke Eisenstangen 
miteinander verbunden sein. 

Bezüglich des Anstreichens der Zimmerwände sei das Tünchen mit Kalk 
oder Wasserfarben mehr zu empfehlen als der Oelanstrich, weil durch diesen der 
freie Luftaustausch verhindert würde. Auch Tapeten seien in dieser Beziehung 
dem Oelanstrich. ersteren aber wieder der Anstrich mit Kalk oder Wasserfarben 
noch aus anderen sanitären Gründen vorzuziehen. 

Die übrigen acht in dieser Section gehaltenen Vorträge und die an dieselben 
anknüpfende Discussion, sowie die Arbeiten der Section für Chemie, Meteorologie 
und Geologie lieferten ein eingehendes Material zur Verwertbung für die Förde¬ 
rung der Gesundheitspflege in ihren einzelnen Zweigen. Da sie indess vorwiegend 
lokale Interessen berühren, auch vielfach die englische Gesetzgebung und die 
dem Parlamente vorzulegenden Entwürfe streifen, so muss ich mir ein näheres 
Eingehen auf dieselben an dieser Stelle versagen, und erwähne nur noch, dass 
das Octoberheft 1883 des Sanitary Record ein ausführliches Referat über die 
gesammten Verhandlungen des Congresses enthält. Die wichtigeren Vorträge 
sind im Wortlaut mitgetheilt. Ebertz (Weilburg). 


Der Jahresbericht über das Sanitätswesen im Staate Leuisiana für das 
Jahr 1881. (Sanitary Record, Sept. 1883.) — Die geographische Lage, Klima 
und Handelsbeziehungen von Louisiana verleihen diesem Berichte ein besonderes 
Interesse, namentlich bezüglich der Lösung einzelner Fragen der Aetiologie und 
Prophylaxis der tropischen Fieber und Pocken. 

Louisiana gehört zu den Vereinigten Staaten von Amerika, mit der Haupt¬ 
stadt Neu-Orleans, und wird zum grossen Theil von dem Delta des Mississipi 
durchflossen. Trotzdem zeigt Louisiana in tellurischer Beziehung grosse Ver¬ 
schiedenheiten, weite Lagunen und Sümpfe wechseln mit bewaldeten Hügeln 
Prärieen, geschlossenen Wäldern und bebautem Land. N 

Während die Sommertemperatur derjenigen von Vera Cruz oder Havannah 


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Verschiedene Mitlheilungen. 


gleicht, sind Winter und Frühjahr um 6—11°F. (3,4—6°C.) kälter als dort. 
In einigen Districten ist der Regenfall im Sommer, in anderen im Winter grösser; 
derselbe variirt im ganzen Jahre von 40 —100 Zoll, und die Feuchtigkeit von 
80—88° je nach der Jahreszeit. Die Vegetation ist üppig. 

Die Gesundheit der Bevölkerung ist, wenn keine Epidemieen herrschen, im 
Allgemeinen eine gute. Die Sommerhitze wird durch frische Winde gelindert, 
während im Winter durch leichte Fröste und Schneefall das Klima die Gesund¬ 
heit fördert. 

Das gelbe Fieber erfordert zu seiner Entstehung und Ausbreitung eine 
Temperatur von 70 — 85°F. (,21—29.5°C.) wie sie in den heisseren Monaten 
ziemlich constant ist Sobald kühleres Wetter eintritt, erfolgt Nachlass, und der 
Winter bringt vollständigen Stillstand, so dass bei aller Intensität eine Epidemie 
doch nie einen endemischen Charakter annimmt. 

Uebrigens hängt die Entstehung und Ausbreitung des gelben Fiebers nicht 
allein von der hohen Temperatur ab, indem gerade einzelne der heissesten 
Sommer der letzten Jahre frei von Gelbfieber blieben. Noch weniger aber ist die 
Annahme zutreffend, dass zwischen dem Quantum des Regeufalles und der 
Zu- oder Abnahme des Fiebers irgend ein Causalneius bestände. 

Durch ein sorgfältiges Studium der Epidemieen der letzten 20 Jahre ist 
Dr. Jones, der Director des Gesundheitsamtes zu dem Resultat gekommen, dass 
die Einschleppung des gelben Fiebers durch eine rigoros durcligeführte Quaran- 
taine. in Verbindung mit anderen Vorsichtsmassregeln, verhütet werden kann. 
Wird ein ankommendes Schiff in einem unreinen Zustande getroffen, oder sind 
an Bord desselben Krankheitsfälle während der Reise vorgekommen, so muss 
eine gründliche Reinigung und Desinfection der Schiffsräume mit Carbolsäure 
vorgenommen und hierauf das ganze Holzwerk getheert werden. In keinem Falle 
aber dürfen auch anscheinend gesunde Personen in die Stadt eintreten, bis der 
Termin der Absperrung (10 Tage) verstrichen ist. 

Das Gelbfieber hat ein Incubationsstadium von 6—9 Tagen, welches für 
die Dauer der Quarantaine in Anschlag zu bringen ist. 

Mit den Vertretern des Handelsstandes lebt das Gesundheitsamt bezüglich 
der Quarantaine in beständigem Kampf. So oft in einer längeren Periode von 
Immunität eine gewisse Laxität in der Befolgung dieser Massregeln, namentlich 
bezüglich der Dauer der Retention und der Ausführung der Desinfection, einge¬ 
treten war, folgte nach der Prognose von Dr. Jones regelmässig eine heftigere 
Epidemie von Gelbfieber. Dies war der Fall im Jahre 1858, als nach zwei¬ 
jähriger Dauer einer verhältnissmässigen Immunität 2855 Personen an Gelb¬ 
fieber starben, und ebenso im Jahre 1878 mit 3107 Todesfällen. 

Malariafieber fehlen nie und stehen, wie überall, in Beziehung zur 
Temperatur. 

Die Höhe der Mortalitätsziffer in Neu-Orleans hängt, abgesehen von 
aussergewöhnlichen Fluctuationen, von dem Bestehen oder Nichtbestehen der 
Epidemieen von Gelbfieber, Cholera etc. ab. In den Fieberjahren stieg sie auf 68, 
einmal sogar bis 99 auf 1000 und das Jahr. Dagegen ging sie in den gewöhn¬ 
lichen fieberfreien Jahren nicht über 23—30 hinaus, eine Mortalität, wie sie 
derjenigen anderer Grossstädte mit gemässigtem Klima in der alten und neuen 
Welt gleichkommt. Wenn man alle Todesfälle an Gelbfieber ausschliesst, hat die 
Mortalität 47 auf 1000 und das Jahr nie überschritten. 


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Verschiedene Mittheilungen. 


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Die periodischen Inundalionen des Mississipi soheinen auf den allge¬ 
meinen Gesundheitszustand einen ungünstigen Einfluss nicht auszuüben, ein 
Beweis für die Reinheit des Flusswassers. Nachdem dasselbe die erdigen Massen 
abgesetzt, bleibt nur ein Rückstand von 11,9 Gran auf den Gallon (3,785 Liter), 
der meist aus kohlensaurem Kalk und Chlornatrium besteht, während organische 
Beimischungen in kaum bestimmbarer Menge vorhanden sind. 

Obwohl die weisse Bevölkerung, ausgenommen im Jahre 1858, immer 
schwerer an Gelbfieber erkrankt, als die Schwarzen, so übersteigt dooh seit dem 
Jahre 1853 die allgemeine Mortalität unter den Letzteren diejenige der weissen 
Bevölkerung im Verhältniss von 5:4, und bisweilen noch mehr. 

Unter den niederen Volksklassen in Neu-Orleans herrscht grosse Armuth. 
Man kann dies schon daraus schliessen, dass ein Dritttheil aller Todesfälle in 
Hospitälern, Arbeitshäusern und unter der aus öffentlichen Mttteln unterstützten 
Bevölkerungsklasse vorkommt. Ein Fünftheil sterben ohne jede ärztliche Behand¬ 
lung und Pflege. 

Yaws (Frambösi) und Aussatz sind in Louisiana keine seltenen Krank¬ 
heiten. Ein Hospital für Aussätzige besteht in Neu-Orleans bereits seit dem 
Jahre 1778. Der Aussatz ist auch einheimisch in Neu-Braunschweig und Canada, 
und mehrere der letzten Fälle von Aussatz in Louisiana werden auf die Einwan¬ 
derung von dort gekommener französischer Ansiedler bezogen. Uebrigens kommt 
der Aussatz nicht allein bei der armen und schmutzigen Bevölkerung, sondern 
auch in besser situirten Familien vor. Die Annahme ist unter den amerikanischen 
Aerzten eine ziemlich allgemeine, dass der Aussatz auf dem Wege des Contagiums 
übertragen werde. 

Die Pocken waren in den 70er Jahren in Neu-Orleans sehr verbreitet. In 
den 10 Jahren von 1868—77 waren von 6 Personen 1 an den Pocken erkrankt, 
und dies gerade in einer Periode, wo die Inspection und Desinfection der Woh¬ 
nungen in rigoroser Weise ausgeführt wurde. Die stärkste Pocken-Epidemie 
herrschte in Neu-Orleans (216000 Einw.) im Jahre 1877 mit 4263 Erkran¬ 
kungen und 1727 Todesfällen. Seitdem ist die Vaccination und Revaccination 
als Zwangsmassregel eingeführt worden, nachdem man sich von der Nutzlosigkeit 
aller übrigen prophylactischen Massregeln zur Bekämpfung der Krankheit über¬ 
zeugt hatte. Die Wirkung der eingeführten Zwangsimpfung war eine augenschein¬ 
liche, indem in den letzten 3 Jahren die Pocken beinahe ganz verschwanden. Im 
Jahre 1879 war kein, und in den Jahren 1880—81 nur je 1 Todesfall an Pocken 
registrirt worden. 

Die Aborteinrichtungen und Entfernung der Fäcalien sind in 
Neu-Orleans noch primitiver Natur. Erst in der letzten Zeit hat sich eine Gesell¬ 
schaft zur Einführung der Canalisation gebildet. Der Canalisationsplan von 
Memphis soll als Muster dienen und wird von dem Gesundheitsamt und anderen 
sachverständigen Autoritäten befürwortet. 

Die Schwierigkeiten bezüglich der Gesetzgebung über den Handel mit 
Giften werden ausgiebig erörtert. 

Zum Schlüsse folgen statistische Tabellen, meist nur von lokalem 
Interesse. Ebertz (Weilburg). 


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Verschiedene Mittheiluugen. 


Sehwefelräueheraugen. — Wie Lewy de Mericourtin der Sitzung der 
Acad. de med. vom 23. September d. J. za Paris (Gazette des Höpitaux 1884, 
No. 111) mittheilte, stellte er, wenngleich die von Vallin angestellten Unter¬ 
suchungen mit Schwefelräucherungen in Bezug auf deren desinfioirende Wirkung 
weitere überflüssig gemacht hätten, trotzdem solche noch einmal, um ganz sicher 
zu sein, in folgender Weise an: 

In einem 51 Cubikmeter grossen Zimmer wurden eine Bettmatratze, ein 
Kopfpolster, ein Federkissen und zwei wollene Decken, von welchen die eine 
16 fach zusaminengelegt und die andere aufgerollt und mit einem Stricke fest 
umwunden war, aufgehängt und an verschiedene Stellen diesen Gegenständen 
Stückchen blaues Lakmuspapier, das bekanntlich die Eigenschaft hat, sich bei 
der geringsten Berührung mit Schwefeldämpfen zu röthen, gelegt. 

Hierauf wurden auf den Fussboden jenes Zimmers drei Gefasse mit so viel 
Schwefel, dass hiervon 20 Grm. auf ein Cubikmeter kamen, gestellt und 
angezündet. 

Die nach 24 Stunden angestellte Untersuchung wies überall, die innerste 
Partie der wohl zu fest zusammengeschnürten wollenen Decke ausgenommen, 
eine rothe Färbung des blauen Lakmuspapiers nach. 

Nach Feststellung dieses Vorganges kam es noch darauf an zu erforschen, 
wie es sich in dieser Hinsicht mit den Wohnräumen verhält. 

Zu diesem Zwecke kam jetzt das fragliche Desinfectionsverfahren in einem 
in Holz erbauten Isolirpavillon des Marinehospitals in Rochefort, nachdem in 
demselben vom 23. December bis zum 21. März 35 Pockenkranke gelegen hatten, 
mit dem Erfolge zur Verwendung, dass jener Raum vom 18. Mai ab Masernkran¬ 
ken unbeschadet als Aufenthalt diente. 

Ebenso verhielt es sich mit einem anderen am 1. Mai derselben Behandlung 
unterworfenen Pavillon, der während der Monate Februar, März und April Kranke 
derselben Art beherbergt und wegen Mangels an Raum schon am 5. Mai verwun¬ 
dete Soldaten aufgenommen hatte, sowie mit einem Saal, auf welchem mehrere 
Fälle von Diphtheritis zur Entwicklung gekommen waren und welchen alsbald 
geleert und ausgeschwefelt 2 Monate nachher ohne weiteren Nachtheil Kranke 
bezogen hatten. 

Der Gesundheitsrath von Paris (Gaz. des Höp. 1884, No. 66) empfiehlt 
besonders die Schwefelräuchernngen in Zimmern, in denen Diphtheritiskranke 
verweilt haben, während die während der Krankheit getragenen Kleidungsstücke, 
die Leib- und Bettwäsche nach einem längeren Verbleiben in Lauge mit einer 
desinficirenden Lösung (1 Grm. Thymol auf 1 Liter Wasser) auszuwaschen sind. 
Die übrigen Theile des Bettes werden ebenfalls der Durchräucherung unterworfen. 

_ Pauli (Cöln). 


Vorschläge rar Verbesserung der Luge Geisteskranker. — ln der Sitzung 
der Acad. de med. vom 18. März d. J. zu Paris (Gaz. des Höp. 1884, No. 34) 
theilt Blanche, nachdem er den von einigen Seiten gemachten, die forensische 
Intervention betreffenden Vorwurf deshalb als ungerechtfertigt zurückgewiesen 
bat, weil dem Arzt nur die Behandlung des Geisteskranken, die Entziehung der 
Freiheit desselben und die Vertretung seiner materiellen Interessen aber dem 


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Verschiedene Mittheilungen. 


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Richter zusteht, folgende Vorschläge, wie sie von der zur Verbesserung der Lage 
jener Kranken niedergesetzteD Commission gemacht worden sind, mit: 

1) Das Gesetz vom 30. Juni 1838, so wohlthätig sich dasselbe auch bei 
seinem Erscheinen erwies, entspricht heute nicht mehr den Anforderungen. 

2) Da jede Geisteskrankheit fast immer die Freiheit des betr. Individuums 
mehr oder weniger in Frage stellt, so soll, mag dasselbe in einer öffentlichen 
oder privaten Anstalt untergebracht sein, dessen gerichtliche Interdiction nach 
Vortrag des Arztes alsbald ausgesprochen werden. 

3) Die Aufnahme eines Alinirten in eine Anstalt findet nur nach Ausstel¬ 
lung zweier besonderen ärztlichen Atteste oder auch nur eines, aber von zwei 
Aerzten unterschriebenen statt, woraus die Natur des Leidens und die Nothwen- 
digkeit eines solchen Aufenthalts hervorgeht. Derselbe, anfänglich ein proviso¬ 
rischer, wird erst später auf Grund eines besonderen richterlichen Ausspruchs 
zu einem dauernden. 

4) Im Interesse der öffentlichen Sicherheit erscheint es geboten, die Be¬ 
dingungen der Aufnahme möglichst zu vereinfachen, damit letztere rasch in's 
Werk gesetzt werden kann. 

5) Interdicirten Personen steht das Recht zu, sich behufs Wiedererlangung 
ihrer Freiheit direkt an das zuständige Gericht zu wenden. 

6) Es empfiehlt sich, alle Geisteskranke betreffenden Angelegenheiten dem 
Ministerium des Innern und zwar einer besonderen Ablheilung desselben mit 
einem Collegium zu überweisen, sowie 

7) besondere Anstalten für geisteskranke Strafgefangene, die nur nach 
gerichtlicher Entscheidung in Freiheit gesetzt werden dürfen, einzuricbten. 

Alle diese Vorschläge wurden nach Abstimmung angenommen. 

_ Pauli (Cöln). 

, Eile UagdtHernde •hnmeht. Von Edward Berdoe. (The Lancet, 1885, 
20. Juni.) — B., von der Polizei beauftragt, einen in einem der Armenhäuser 
Edinburgh befindlichen 74 Jahre alten Mann zu untersuchen, fand denselben am 
29. April c. besinnungs- und gefühllos auf dem Fussboden liegen. Soine daneben¬ 
sitzende Frau erklärte auf Befragen, dass er, von einer Ohnmacht ergriffen und 
zu Boden gestürzt, sich schon seit sechs Tagen, ohne etwas zu sich genommen 
zu haben, in dieser Lage befinde. 

Als man ihn aufhob und in das Bett legte, klebte die Haut der betreffenden 
Gesichtshälfte so fest am Fussboden, dass sie theilweise an demselben hängen 
blieb, und die Stelle, wo der Körper gelegen hatte, durch die von der Haut aus¬ 
geschwitzte Feuchtigkeit markirt wurde. 

Unfähig zu schlucken lebte hiernach der Mann noch 14 Stunden. 

Die gerichtlich angeordnete Section ergab allgemeine hochgradige Abmage¬ 
rung, Gangrän aller der Körperpartien, welche mit dem Fussboden in Contact 
gewesen, das bekannte durch Hungertod bedingte Aussehen der inneren Organe, 
enorme Hypertrophie und Dilatation des Herzens, allgemeine atheromatöse Ent¬ 
artung und ein grosses Aneurysma des Arcus Aortae. Pauli (Cöln). 


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Verschiedene Mittheilungen. 


SelbstMtrdversuehe mH Petnlen. Von Duguet. (Gaz. des Höp. 1885. 
No 69.) — Die dem Alcoholismus ergebene 48jährige Näherin Rosa B. trank 
in der Absicht, den schon seit längerer Zeit gehegten Gedanken an Selbstmord 
in’s Werk zu setzen, am 8. Mai d. J. ungefähr ' 2 Liter käufliches Petroleum, 
das, sofort Brennen im Munde und Magen hervorrufend, die Aufnahme in das 
Hospital Lariboisiere nothwendig machte. Hier verordnete man auf Grund dieser 
Angabe und des Geruchs nach dieser Flüssigkeit aus dem Munde 2 Grm. Ipeoa- 
cuanhapulver und, um den Breohact zu erleichtern, reichlichen Milchgenass. Die 
so herausbefördorten Massen, sowie der durch ein purgirendes Lavement entleerte 
Stuhl rochen nicht nur deutlich uach Petroleum, sondern liessen dasselbe auch 
leicht erkennen, was auch in besonders markirter Weise der abgesetzte Urin that. 

In der darauf folgenden Nacht verscheuchten die psychische Aufregung der 
Kranken, sowie Schmerzen im Kopfe und Magen den Schlaf; trotzdem waren bei 
dem fortgesetzten Milchgebrauche bis auf die Kopfschmerzen, die indess alsbald 
einigen Gaben schwefelsauren Chinins wichen, eine bedeutende Besserung und 
nach Verlauf von 10 Tagen ein völlig normaler Zustand eingetreten. 

Der Petroleumgeruch der Excrete dauerte, täglich schwächer werdend, 
4 Tage an. Ebenso verhielt es sich mit den Epiihelien der Nierencanälchen und 
dem Eiweiss im Urin, der in der ganzen Zeit normal reagirte, aber 10 Tage 
stehen gelassen noch nicht die ammoniakalische Gäbrung zeigte. 

(Dieser günstige Ausgang kommt jedenfalls auf Rechnung des Umstandes, 
dass das Petroleum mit so viel Harnwassor die Nieren passirte, dass es in den¬ 
selben ausser einer leichten Aufquellung und Lockerung der Glomerulusepiihelien 
eine stärkere deletäre Wirkung nicht zu veranlassen vermochte. Anders war es 
in dem von Lassar mitgetheilten Falle (Virchow’s Arch. LXXII. p. 132). wo 
mehrere Wochen vor dem Tode 4 Tage hindurch die ganze Haut mit Petroleum 
eingerieben und dadurch eine wohl constatirte Glomerulo-Nephritis hervorgerufen 
worden war. Ref.) Pauli (Cöln). 


ler lliliu der Belagerung reit Paris auf die wahrend derselben eenei- 
pirtea Kinder schildert Legrand du Saulle (Gaz. des Höpit. 1885, No.49): 
Um jenen Einfluss in seiner ganzen Tragweite zu verstehen, stelle man sich 
einen Ehemann vor, der, in die Nationalgarde eingestellt, seine vielon freien 
Stunden mit unnützen und aufregenden Gesprächen und bei immer knapper wer¬ 
dender Kost mit Trinken verbringt. 

Kann es da Verwunderung erregen, dass am Ende der Belagerung so viele 
Trinker Verfolgungswabnsinn, Gesichtshallucinationen, melancholische Augst¬ 
zustände, Selbstmordideen etc. darboten? 

Andererseits dessen Ehefrau, die Morgens einen schwachen Kaffee trinkt 
und dazu ein Stück gelieferten Schwarzbrodes zu essen versucht. Zitternd vor 
Kälte verlässt sie dann ihre Wohnung, um an den bezeicbneien Stellen ihre Brod- 
und Pferdefleischportion in Empfang zu nehmen. 

Doch Schwäche und Kälte machen es ihr unmöglich, hier so lange zu 
warten, bis die Reihe an sie kommt, sie kehrt mit leeren Händen nach Hause 
zurück und, preisgegeben der bittersten Noth, verfällt sie bald in einen Zustand 
von Erschöpfung, zu der sich Sinneshallucinalionen und selbt momentane Manie 
gesellen. 


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Verschiedene Mittheilnngen. 


435 


Hierzu kommen noch beide Ehehälften zugleich treffende Schädlichkeiten: 
patriotische Emotionen, demüthigendes Gefühl der Niederlage, das Pehlen jeg¬ 
licher Nachrichten. Steht unter diesen Umständen schon a priori eine missliche 
Nachkommenschaft zu erwarten, so bestätigt diese Voraussetzung auch die Er¬ 
fahrung, denn von 120 im Jahre 1871 geborenen Kindern, deren Eltern während 
der Belagerung Paris bewohnt hatten, war die eine Hälfte mit den verschieden¬ 
sten physischen und psychischen Leiden behaftet und die andere augenscheinlich 
in der Entwicklung zurückgeblieben. 

Aehnliche Beobachtungen haben Bourneville und Ladreit de laChar- 
riöre gemacht. 

Mögen auch nicht alle diese Fehler und Gebrechen auf Rechnung der zeiti¬ 
gen Verfassung der Erzeuger, sondern allgemeiner Familienanlage oder bluts¬ 
verwandtschaftlicher Verbindungen kommen, so trugen sie doch alle den Ausdruck 
der Entartung der Rasse zur Schau. 

Verbessern wir daher dieselbe durch den Kampf gegen den Alcoholismus 
und gegen alle die Factoren, welche den Massregeln der Hygiene zuwiderlaufen. 

_ Pauli (Cöln). 

lauf ge Reeidive v«n Erysipelas beobachtete Verneuil (Gaz. des Höp. 
1885. No. 120) in drei Fällen, bei welchen Erysipelas mehrere Male, in einorn 
144 Mal, ein und dasselbe Individuum heimgesucht hatte, und stellte folgende 
Behauptung auf: 

Erysipelas-Mikrokokken hausen bei vielen Subjecten an gewissen Stellen 
des Körpers, dringen bei gebotener Gelegenheit in denselben ein, — daher die 
grosse Vorliebe dieser Dermatitisform für gewisse Körperstellen, — erzeugen die 
selbe aber nur unter dem Einflüsse gewisser Gelegenheitsursachen: Erkältung, 
Emotion etc. Pauli (Cöln). 


lieber niailt Vaeelaatiaa. — Kreiswundarzt Dr. Bredow zu Predel 
im Kreise Zeitz ist der Ansicht, dass man ohne grosse Kosten die Impfung mit 
Kälberlymphe einführen könne. Derselbe führt hierüber Folgendes aus: Ich selbst 
bin im Grossen und Ganzen ein Verehrer von Verimpfen von guter Menschen¬ 
lymphe, womöglich von Arm zu Arm. Nun da ich aber vor vielen Jahren während 
meiner Militairdienstzeit den traurigen Fall einer Sypbilisüberimpfung bei einem 
Soldatenkinde selbst erlebt, oftmals Impferysipel zwar ohne letalen Ausgang 
beobachtet, so würde auch ich dem Verimpfen mittels Thierlymphe den Vorzug 
geben; auch schon darum würde ich dafür sein, weil es dem Impfer leichter und 
bequemer gemacht und für jede Einzelimpfung die Lymphe geliefert wird. Wer, 
wie ich, alle Jahre die grossen Unannehmlichkeiten und Sorgen des Abimpfens 
durcbgemacht bat, wünschte lieber gar nicht öffentlicher Impfarzt zu sein. Für 
uns öffentliche Impfärzte des Zeitzer Kreises war es daher höchst willkommen, 
im Jahre 1885 die Kosten für das Impfen mittelst Thierlymphe vom Kreistag 
bewilligt zn sehen. Uns war aufgegeben, diese Lymphe vom Königl. Impfinstitut 
zu Halle zu beziehen. Leider waren viele Fehlimpfungen zu verzeichnen und 
stellte sich bei einigen Impflingen Erysipel ein. Bei der darauf folgenden Be¬ 
nutzung der Aehle’schen Lymphe aus Burg an der Wupper entwickelten sich 


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Verschiedene Mittheilangen. 


normale Pastein. Die Lymphe stellt eine braune Paste dar, die in einem Feder¬ 
kiel aufbewahrt ist und mit Glycerin verdünnt werden muss. Die Risel’sche 
Lymphe berechnet sich für die Einzelimpfung auf 13 Pf., die Aehle’sche auf 
10—11 Pf. Jede Portion reichte für 25 Kinder aus und da ihre Handhabung 
sehr bequem ist, so bin ich der Ansicht, dass mit der Aehle’schen Lymphe die 
Impfung mit animaler Lymphe leicht einzuführen ist. Elbg. 


(Jeher Aehle’sche Lymphe. —- Kreisphysikus Dr. Vanselow zu 
Schlawe hat mit der Aehle’schen Lymphe die öffentliche Impfung 
ausgeführt. Es wurden bei Erstimpfungen und Revaccinationen 6 je l / 2 Ctm. 
lange, seichte Schnitte auf dem linken Oberarm applicirt. Am 2. und 3. Juli 
wurden mit der am 30. Juni bezogenen Lymphe 257 Erstimpfungen und 
268 Wiederimpfungen ausgeführt. Die Revision am 9. Tage nach der Impfung 
ergab: 

Bei 58 Erstimpflingen hatten sich mehr als 6 Pusteln entwickelt, 
während bei den übrigen Kindern die Zahl der Pusteln zwischen 1 und 6 
schwankte. Der Personalerfolg betrug 95 pCt., der Schnitterfolg bei den mit 
Erfolg Geimpften 1097 : 1464. 

Unter 268 Revaccinanden wurden 173 mit Erfolg, 98 ohne Erfolg 
geimpft und betrug der Personalerfolg 64,5 pCi., der Schnitterfolg bei den mit 
Erfolg geimpften Kindern 612 : 1038. 

Die entwickelten Pusteln waren kräftig und gross, wobei die Reactions- 
erscbeinungen in der Umgebung gering waren. Die Kosten beliefen sich auf 
10 Pfg. für den Impfling. Elbg. 


Me Dhsera-Epidemie in Jahre 1885 in Regieriagsheiirk Königsberg. 

Von Reg.-Med.-Rath Dr. Nath zu Königsberg. — Der erste Erkrankungsfall im 
Kreise Heilsberg ist auf Einschleppung zurückzuführen. Im 2. Quartal war hier 
die Zahl der Erkrankungen bis zur Höhe von 1895 gestiegen. Demnächst waren 
die Kreise Allenstein. Rössel und Brandenburg, weniger Memel und Heiligenbeil 
bei der Epidemie betheiligt. In der Stadt Königsberg beginnt die Epidemie 
im 2. Quartal und steigert sich dann im 3. Quartal bedeutend. Im Kreise 
Pr.-Eylau erkrankten die Kinder so massenhaft, dass in kurzer Zeit 10 Dorf¬ 
schulen geschlossen werden mussten. Im ganzön Bezirke wurden 120 Schulen 
geschlossen. 

Im 2. Quartal kamen auf 11 Kranke 3 Todesfälle, 

- 3. - - 223 - 1 Todesfall, 

- 4. - - - 5133 - 207 Todesfälle, 

Summa 5368 Kranke 211 Todesfälle. 

Aus den Landkreisen liefern nur die Heilsberger Krankenanzeigen auch 
Todesmeldungen. Von 3336 in 3 Quartalen vorgekommenen Erkrankungen sind 
280 Todesfälle zu registriren. 

Die Einschleppung im Dorfe Sommerfeld, Kreis Heilsberg, erfolgte durch 
einen Soldaten, der aus Potsdam zu Weihnachten 1884 kam und bald darauf 
au den Masern erkrankte, die sich vom 5.—10. Januar auf 6 Mitglieder der 


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Verschiedene Mittheilungen. 


437 


Familie verbreitete. Von dieser Hausepidemie ans verbreitete sich die Epidemie 
auf den ganzen Bezirk. Im 1. Quartal blieb sie auf den Kreis Heilsberg be¬ 
schränkt, endigte erst im 3. Quartal und verbreitete sich im 2. Quartal auf vier 
Kreise des Bisthums Ermland. In Königsberg erkrankte im 1. Quartal nur ein 
Kranker, im 2. Quartal erkrankten 11, im 3. 223 und im 4. 5133. 

Im Kreise Heilsberg war die Epidemie am intensivsten; von 3336 Personen 
starben 280, d. h. 8,4 pCt. In der Stadt Königsberg betrug die Sterblichkeits¬ 
ziffer 3,9 pCt. Hier batte seit Anfang des Jahres 1883 bis Ende 1885, also 
fast 3 Jahre hindurch eine Scharlach-Epidemie geherrscht. Unter 1659 Erkran¬ 
kungen kamen auf der Höhe der Epidemie, in der 46. Woche des Jahres, 22 
(5 pCt.) Sterbefalle vor. Dem Scharlach folgten dann die Masern. Aus dem 
ganzen Regierungsbezirk liegen 14133 Masernerkrankungen vor. Elbg. 


Les transports mertuaires speeialeuent par chemla de fer par le Dr. 

Schoenfeld, President du Comite de salubrite publique ä Saint-Gilles les 
Bruxelles etc. Extrait de la Revue d’hygiöne 1885. Paris 1885. Verf. beab¬ 
sichtigt, den Transport der Leichen auf Eisenbahnen durch den Gebrauch von 
desinficirenden Mitteln zu erleichtern. Er empfiehlt Salicylsäure, Borsäure. Thy¬ 
mol, Naphthalin, Resorcin, um die Fäulniss aufzuhalten. Um den cadaverösen 
Geruch zu beseitigen, hat er sich auch in der Privatpraxis mit Vortheil folgender 
Mischung bedient: Salicylsäure, Aether, Glycerin, Lawendelspiritus ana 30 Grm., 
Weingeist 200 Grm. Nach Besprechung der bekanntesten desinficirenden Mittel 
gelangt Verf. zu folgenden Schlusssätzen: 1) In gewöhnlichen Fällen soll man 
die Leiche und den Sarg mit einer desinficirenden Flüssigkeit abwaschen; wo 
man metallische Gegenstände zu schonen hat, vermeide man Plumb. nitric. 
2) Bei beginnender Fäulniss umgebe man die Leiche mit einem desinfici¬ 
renden und absorbirenden Pulver, wie Holzkohlepulver, Sägespäne, namentlich 
von Mahagoniholz, Eichenlohe, Torf, Kaffeesatz etc., versetzt mit '/ 20 Salicylsäure 
oder Plumb. nitric., nachdem die Waschungen mit den desinficirenden Flüssig¬ 
keiten vorausgegangen sind. 3) In allen Fällen, in denen es sich um Leichen der 
an contagiösen Krankheiten Gestorbener handelt, ist die Sublimatlösung 
(1:2500—5000) am Platze; man wende sie erst an, nachdem die Leiche in 
einen metallenen Sarg gelegt worden ist. 4) Die Bahnhofsbeamten haben darauf 
zu sehen, dass diese Massregeln unter der Aufsicht eines Arztes oder Apothekers 
ausgefuhrt sind und fallen die Kosten dem Absender zur Last. 

Alle Behörden, welche die öffentliche Gesundheit zu überwachen hätten, 
müssten sich mit dem Studium einer rationellen Desinfection befassen und jedes 
Dorf sollte in seinem Gemeindehause einen Vorrath davon besitzen, der ebenso 
wichtig wie die Feuerspritze sei. Elbg. 


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IV. Literatur. 


„Lehrbuch für Heildiener“ mit Berücksichtigung der Wunden¬ 
pflege, Krankenaufsicht und Desinfection. Vom Regierungs¬ 
und Medicinalrath Dr. Werntch. Berlin, 1884. bei Hirschwald. 

Kachdem das Ravoth’sche „Handbuch für Heilgehülfen“ gänzlioh veraltet, 
war es in der Tbat ein dringendes Bedürfniss, für die moderne Krankenbehand¬ 
lung ein leicht fassliches und den jetzigen Anschauungen entsprechendes Lehr¬ 
buch den Heildienern an die Hand zu geben. — Kur zu leicht passirt es dem 
Fachmann, der Bücher für Laien schreibt, dass er zu weit geht und zu viel ver¬ 
langt; denn mehr als anderswo gilt hier das Wort: In der Beschränkung zeigt 
sich der Heister. Es ist aber nicht zu leugnen, dass der Verfasser dieses Lehr¬ 
buches für Heildiener in der Auswahl des zur Sache gehörigen Stoffes, sowie im 
Treffen des seinem Publikum verständlichen Tones der Darstellung äusserst glück¬ 
lich gewesen ist. — Das 1. Kapitel handelt vom Bau des Körpers, seinen Theilen 
und deren Verrichtungen, und bespricht das für den Heilgehülfen Wissenswerthe 
und Verständliche in wahrhaft classischer Kürze. Zehn in den Text eingefügte 
Illustrationen erleichtern das Verständniss. — Im 2. Kapitel werden die bei 
plötzlichen Unglücksfällen erforderlichen Hülfeleistungen vorgeführt; die künst¬ 
liche Athmung wird in verständlicherWeise nach dem Howard’schen Verfahren 
gelehrt; bei den verschiedenen Vergiftungen ist sehr zweckmässig die Anwen¬ 
dung solcher Mittel empfohlen, die stets zur Hand sind; bei den Verstauchungen, 
Verrenkungen und Knochenbrüchen wird die Anlegung der Verbände gelehrt, 
soweit sie Sache des Heilgehülfen ist, und vor der Vielgeschäftigkeit bei diesen 
Veranlassungen gewarnt; bei den Wunden werden zunächst die Blutstillungs- 
Methoden durch Gompression der Arterien an Illustrationen erläutert, und sodann 
die Grundsätze der antiseptischen Verbandmethode in klarer, veiständlicher Dar¬ 
stellung erörtert. — Das 3. Kapitel giebt für den Transport Verletzter und 
Schwerkranker sehr praktische Verhaltungsmassregeln unter Zugrundelegung der 
bewährten, in der Armee gültigen Instruction für Krankenträger. — Im 4. Kapitel 
wird die Hülfeleistung bei den vom Arzte ausgeführten Operationen in zweck¬ 
entsprechender Woise mit Berücksichtigung der Antiseptik besprochen und die 
Anlegung fester Verbände gelehrt. — Im 5. Kapitel, welches von der selbst¬ 
ständigen Thätigkeil des Heildieners im Bereiche der sogen, kleinen Chirurgie 
handelt, hätte vielleicht die Erwähnung der Scarificationen wegbleiben können 
und vielleicht auch die ausführliche Abhandlung über den Aderlass, da dessen 
Ausführung nach den jetzigen Anschauungen den Heildienern wol überhaupt zu 
entziehen sein dürfte. Vorzüglich ist dagegen die Pflege der Zähne und das 
Ausziehen derselben gelehrt und besprochen. — Das 6. Kapitel behandelt die 
Krankenaufsicht und Krankenpflege von dem sehr richtigen Standpunkte aus¬ 
gehend, dass auch der eigentliche Krankenwärterdienst dem Heilgehülfen be¬ 
kannt und geläufig sein muss. An Stelle der etwas zu allgemein gehaltenen 
Besprechung der Massage wäre für eine folgende Auflage des Buches vielleicht 
eine Anleitung zur praktischen Ausführung derselben, an Beispielen erörtert, zu 


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Literatur. 


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empfehlen, wie sie heutzutage bei chronischen rheumatischen Leiden vom 
Publikum verlangt wird. — Besonderen Weith erhalt das Lehrbuch für Heil¬ 
diener durch die im 7. Kapitel enthaltene amtliche Anweisung zur Desinfection, 
die jetzt hervorragende Berücksichtigung verdient. — Das 8. Kapitel giebt eine 
Zusammenstellung der gesetzlichen und behördlichen Verfügungen, Strafbestim¬ 
mungen und Taxen, und zählt die für den Heildiener nöthigen Instrumente, 
Geräthe und Verbandgegenstände auf. — Ein 3 Seiten langer Anhang enthält 
ein alphabetisches Wörterverzeichniss, welches den Heildiener mit den von Aerzten 
am häufigsten gebrauchten Fremdwörtern bekannt macht. 

Der Verfasser hat sich durch die Anfertigung des besprochenen Lehrbuchs 
für Heildiener ein grosses Verdienst erworben. In Berlin ist die Vorzüglichkeit 
des Buches allgemein von competenter Seite anerkannt, und es ist nur zu 
wünschen, dass dasselbe auch sonst im Lande die verdiente Anerkennung und 
Benutzung finde. Dr. H. Becker. 


Die Typhus-Epidemie in Mainz im Sommer 1884. Bericht des 
Grossherzogi. Kreisarztes Geh. Med.-Rath Dr. Helwig. Mainz, 1885. 

Wir sehen von der Beschreibung des Verlaufes der Epidemie, die an der 
Hand eines Stadtplanes näher erläutert ist, ab und heben hier nur hervor, dass 
die Stadt Mainz bis in die neueste Zeit vielfach von Ueberschwemmungen heim¬ 
gesucht worden. Grossartige Uferbaulen am Rhein haben indess den ilochfluthen 
gegenwärtig einen Damm entgegengesetzt; die Anlage der Aborte, der Abfluss 
der Dejectionen wurden geregelt; auch die Canalisation ist schon über die Hälfte 
durchgeführt und eine Trinkwasserleitung vollendet. 

In den letzten 35 Jahren sind durchschnittlich nur 45 Typhuskranke pro 
Jahr im St. Rochus-Hospital behandelt worden. Es wird der Nachweis geliefert, 
dass in Mainz weder ein siechhafter Boden, noch auch derGrundwasserstand, resp. 
die denselben hier bedingenden Wasserstände des Rheins einen bestimmenden 
Einfluss auf die Entstehung des Typhus überhaupt darbieten; vielmehr musste 
die Ursache der Entstehung und Verbreitung der Epidemie in den Monaten Juli 
bis November 1884 auf den Genuss von künstlichem Selterswasser aus einer 
städtischen Fabrik zurückgeführt werden. nachdem von den in das St. Rochus- 
Hospital aufgenommenen 67 Kranken 27 und von den von praktischen Aerzten 
in der Stadt behandelten 59 Kranken 22 den Genuss von solchem Wasser zu¬ 
gegeben hatten. 

Das für die Fabrikation des Selterswassers benutzte Brunnenwasser war 
nachweislich verunreinigt worden. Der Deckel des Brunnenschachtes lag genau im 
Niveau einer Flossrinne und unmittelbar an diese angrenzend. Letztere nahm den 
grösseren Theil eines Pissoirständers und den Auslauf aus einer Waschküche auf. 
Bei stärkerer Füllung der Flossrinne und namentlich bei Regenwetter floss ihr In¬ 
halt über den Kranz undDeckel des Brunnenschachtes und musste bei der defeoten 
Beschaffenheit von Deckel und Einfassung direkt in den Schacht hineinlaufen. 

Das Ergebniss der Arbeit gipfelt in der Annahme der Möglichkeit, dass 
ein verunreinigtes Trinkwasser zur Verbreitung des Typhus beitragen könne und 
der siechbafte Boden nicht als die einzige Bedingung zur Entstehung des Typhus 
aufzufassen sei. 


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Literatur. 


Dr. Felix Schenk , Fabrikant orthopädischer Apparate in Bern, Zur Aetio- 
logie derSkoliose. Vortrag, gehalten in der chirurg. Section der 
58. Versammlung deutscher Naturf. und Aerzte in Strassburg i. E. 
Erweitert durch Beschreibung eines Thoracographen, sowie eines 
Apparats zur Untersuchung u. graphischen Darstellung der Schreib¬ 
haltung bei Schulkindern. Beitrag zur Lösung d^er Sub¬ 
sellienfrage. Mit 10 Abbildungen. Berlin, 1885. 

Der Titel weist auf den wesentlichen Inhalt der Brochüre hin. Dieselbe 
berührt noch schwebende Streitfragen und wendet sich namentlich gegen die 
Schlüsse, welche Berlin und Reinhold aus ihren Messungsergebnissen gezogen 
haben. Die Ursache, dass die neuen Schulbänke allgemeine Anerkennung ge¬ 
funden haben, beruhe darauf, dass die Lehrer sich durch die mit der Minus¬ 
distanz erzwungene aufrechte Stellung täuschen liessen und diese für besser an- 
sehen als eine vorgeneigte, weil ihnen die Bedingungen zur Entstehung der 
Skoliosen unbekannt seien. Die Subsellienfrage befände sich gegenwärtig noch in 
einem traurigen Stadium und dürfe nicht als eine abgeschlossene betrachtet werden. 


Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde. Medic.-chirurg. 
Handbuch. Herausgegeben von Prof. Dr. Albert Eulenburg. Zweite 
vermehrte Auflage. Wien, Urban & Schwarzenburg. 

Wir machen einstweilen darauf aufmerksam, dass auch der 3. Band fertig 
vorliegt und in derselben Weise, wie dies mit den ersten beiden Bänden ge¬ 
schehen ist, vielfache Erweiterungen erfahren hat. Im nächsten Hefte werden 
wir mehr auf Specielles eingehen. 


Illustrirtes Lexikon der Verfälschungen und Verunreinigung 
der Nahrungs- und Genussmittel. Herausgegeben von Dr. Otto 
Dämmer. Leipzig. J. J. Weber. 

Das Werk schreitet in derselben Gediegenheit und Vollständigkeit, welche 
wir bereits bervorgehoben haben, fort und enthält in der 3. Lieferung grössere 
Artikel über Getreide, Grassamen, Gewebe, Hopfen, Kaffee, Tabak etc., die sich 
durch sehr sorgfältige mikroskopische Abbildungen auszeichnen. 


Bericht über die Allgemeine Deutsche Hygiene-Ausstellung 
zu Berlin 1882—83. Berlin, bei Soholtländer. 

Der 2. Band ist erschienen und soll noch ein 3. Band folgen. Hach Voll¬ 
endung des ganzen Werkes werden wir auf die einzelnen Gegenstände zurück¬ 
kommen. 


Ueber die Ausbreitungsweise von Diphtherie und Croup. Von 
Dr. Ernst Alonquut , Hygieniker der Stadt Göteborg. Göteborg, 1885. 

Die Schrift enthält eingehende geschichtliche Studien über die Verbreitung 
und Aetiologie der genannten Krankheiten, und liefert interessante Beiträge zur 
Epidemiologie nebst einer epidemiologischen Karte über Schweden, welche den 
Zustand des Landes hinsichtlich der Diphtherie und des Groups um das Jahr 1860 
erläutert. Bei der Untersuchung der heimgesuchten Wohnungen, Häuser und 


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Literatur. 


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Quartiere gelangt Verf. zu dem Schlüsse, dass Feuchtigkeit, Luftlosigkeit und 
Schmutz der Wohnungen am meisten zur Diphtherie disponiren. Mehrmals habe 
er gesehen, dass dieselben Missstände im Hause sowohl für den „Typhoidpilz 
als für die Diphtherie günstig seien, wobei beide Krankheiten nacheinander oder 
gleichzeitig auftreten könnten. In Wohnungen über Ställen habe er mehrmals 
Diphtherie getroffen. Neue Häuser seien oft gefährlicher als alte, obgleich auch 
viele Fälle gezeigt hätten, dass das neue Haus nicht an und für sich gefährlich sei. 
Nicht nur die Feuchtigkeit der Wände sei für die Diphtherie nöthig, die Krank¬ 
heit brauche wahrscheinlich auch angehäufte alte Schmutzmassen. Quartiere, die 
ganz mit hohen Häusern umgeben waren, wo zugleich die Reinlichkeit viel zu 
wünschen übrig liess, wo die schlechte Luft staute und der enge Hof viele Winkel 
hatte etc., wurden vorzugsweise heimgesucht. Eine rationelle Anwendung 
des freien Raumes der Grundstücke sei von grosser Wichtigkeit. 
Ob der durch gesunde Menschen oder Gegenstände verschleppte Krankheitsstoff 
gleich ansteckend wirke oder zuerst einen Herd im Hause bilde, sei noch nicht 
erwiesen. 

Kritisch beleuchtet ist die Literatur über Contagiosität und die miasmatische 
Verbreitung von Diphtherie und Croup, sowie die Dauer der Incubation. Da die 
deutsche Literatur vollständige Berücksichtigung gefunden hat, so ist das Studium 
der vorliegenden Schrift um so mehr zu empfehlen, als sie eine sehr gute 
Uebersicht des gegenwärtigen Standes der Wissenschaft betreffs der in Rede 
stehenden Krankheiten gewährt und zu manchen Anregungen Anlass giebt. . 


Dr. Hugo Schulz, Prof, in Greifswald, Die officinellen Pflanzen und 
Pflanzenpräparate. Zum Gebrauche für Studirende und Aerzte. 
Wiesbaden, 1885. 

Die Schrift bezweckt, den Studirenden der Medicin Gelegenheit zu bieten, 
sich über Herkommen und Beschaffenheit der officinellen Pflanzen, sowie der aus 
ihnen dargestellten Präparate zu unterrichten. Hübsche Abbildungen erläutern 
die Beschreibung und wäre sehr zu wünschen, dass nicht nur Studirende, son¬ 
dern auch angehende Aerzte die Gelegenheit benutzten, um sich über einen wich¬ 
tigen Zweig der Pharmakognosie zu unterrichten. 


Prof. Dr. Birch-Hirschfeld, Lehrbuch der pathologischen Ana¬ 
tomie. In zweiter Auflage. Leipzig, bei Vogel. 1885. 

Das nun vollständige Werk wird dem praktischen Arzte und Medicinal- 
beamten in seiner gedrängten Zusammenstellung ein klares Bild über das grosse 
Gebiet der pathologischen Anatomie gewähren, zumal sehr sorgfältige Abbildungen 
das Verständniss erleichtern. Für den Medicinalbeamten ist besonders das Kapitel 
über die pathologisch-anatomischen Befunde nach Vergiftungen und bei Staub- 
inhalations-Krankheiten, und nicht minder das über Atelektase der Lungen Vorge¬ 
tragene von Wichtigkeit. Eine wesentliche Bereicherung hat das Werk auch durch 
die Mittheilung der Abbildungen der Hirnwindungen nach Eokear erhalten. Wir 
können dasselbe hiernach in seiner völlig umgearbeiteten zweiten Auflage nur 
wiederholt und angelegentlich empfehlen. Elbg. 


Viertelj&hrsschr. f. ger. lled. N. F. XLIV. 2. 


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Zweiter offener Brief an Herrn Dr. Mendel in Berlin 

von Dr. Wallichs in Altona. 


Sehr geehrter Herr Professor! 

Der Herr Herausgeber dieser Zeitschrift hat mir in dankenswerther Weise 
Gelegenheit gegeben, auf Ihre Antwort noch einige (wie ich hoffe: die letzten) 
Worte über diese Angelegenheit folgen zu lassen. 

Ich habe natürlich nicht erwartet, dass mein Schreiben eine sonderlich 
freundliche Aufnahme bei Ihnen finden würde, und lege darauf auch keinen Werth. 
Jedenfalls haben Sie kein Recht, mir „den angeschlagenen Ton“ vorzuwerfen. 

Zunächst habe ich thatsächlich zu berichtigen, dass ich am Eingang meines 
Briefes (S. 327) ausdrücklich meine Zweifel ausgesprochen habe, ob Ihre angeb¬ 
lichen Aeusserungen, nach denen bei Draak nie eine Spur von Geisteskrankheit 
vorhanden gewesen sei u. s. w., in der That von Ihnen gethan seien, und habe 
ausdrücklich erklärt, dass meine Polemik nicht darauf fusse. Wenn Sie dennoch 
sagen, dass ich dies „als im Wesentlichen richtig annehme“, so trifft das nicht 
zu. Ich habe nur betont, dass Sie ihn für geistig gesund erklärt haben. Eben¬ 
falls ist es unrichtig, dass ich der Angreifer bin. Darüber sagt die Bemerkung 
am Schluss meines ersten Briefes das Nöthige. Meinem Beruf und meiner Stel¬ 
lung habe ich gerade die Abwehr des Angriffs schuldig zu sein geglaubt. 

Mir ist es nun nicht allein und nicht einmal vorzugsweise darauf angekom¬ 
men, die Geisteskrankheit der beiden Personen nachzuweisen, sondern darauf, 
darzuthun, dass aus der Attestausstellung „unberufener“ Aerzte in Fällen, wie 
die fraglichen sind, Schädigung öffentlicher Interessen und des ärztlichen Standes 
erwächst. Nebenbei sind dann noch einige andere mehr juristische Fragen von 
allgemeiner Bedeutung berührt. — Meine Auffassung des ersteren Punktes beruht 
nicht auf einer mangelhaften Kenntniss von dem Wesen des Civilprozesses, den 
ich nicht mit dem Strafprozess verwechsele. In dem §. 597 der Civilprozess- 
Ordnung wird betreffs Vernehmung der Sachverständigen ausdrücklich auf die 
Bestimmungen im achten Titel des ersten Abschnitts hingewiesen, und Sie können 
sich hier aus dem §. 369 „belehren“, dass „die Auswahl der zuzuziehenden 
Sachverständigen durch das Prozessgericht erfolgt“, somit ganz wie im Straf¬ 
prozess. — Meines Wissens sind weder Sie, noch die übrigen Aerzte, welche 
Draak und Beckmann Atteste ausgestellt haben, vom Gericht aufgefordert oder 
vernommen; Sie Alle haben „gerichtsärztliche Gutachten“ nicht ausgestellt, 
sondern privatärztliche. Sie waren also „unberufen“. Und deshalb (nicht weil 
Sie ein anderes Urtheil abgaben) und weil dadurch ein öffentliches Aergerniss 
hervorgerufen ward, halte ich meinen Tadel völlig berechtigt. Dass Ihr Ver¬ 
fahren in dieser Angelegenheit etwa hübsch oder collegial war, will weder mir, 
noch anderen Aerzten, deren Meinung ich gehört habe, einleuchten. 

Dass die Draak’sche „Hetzjagd“ Ihnen unbequem ist, begreife ich. Sie 
suchen deshalb das Beweisstück aus dem Wege zu räumen. Sie haben es nicht ge¬ 
lesen (!), Draak hat es nicht verfasst, die Fabrik soloher Schriften ist in Berlin. — 


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Dr. Wallichs: Zweiter offener Brief an Herrn Dr. Mendel. 


443 


Dagegen habe ich za erinnern, dass, wenn auch ohne Zweifel bei der Ab¬ 
fassung noch andere Kräfte mitgewirkt haben, Draak sich ausdrücklich als den 
Verfasser bezeichnet, die Schrift persönlich verbreitet hat, dass der wesentliche 
Theil des Inhalts nur von ihm herrühren kann, dass die Mittheilungen, auf die 
es hauptsächlich ankommt, nämlich über die angeblichen Verfolgungen (S. 330 
Abs. 2), das Complott u. s. w., in gleicher Weise schon bei der Untersuchung 
von ihm vorgebracht sind. — Sie wollen die Augen schliessen, thun Sie doch 
sie einmal auf und lesen das hübsche Werk! 

Es ist nicht meine Absicht, hier von Neuem in eine Erörterung über die 
Geisteskrankheit Beckmann’s und deren Form einzugehen. — Ihnen lag einiges, 
aber keineswegs alles Material zur Beurtheilung vor. Es ist unrichtig, dass ich 
mich lediglich auf die Zeugenaussagen gestützt habe, und Ihr bezüglicher „cardi- 
naler Vorwurf“ ist ganz hinfällig. Ich habe alles benutzt, was mir zu Gebote 
stand. Die persönliche Untersuchung bot nicht allzu viel, weil der Kranke sehr gut 
zu dissimuliren verstand. Uebrigens ist es unrichtig, dass die wenigen von Ihnen 
aus meinem Gutachten wörtlich angeführten Sätze alles dasjenige enthalten, was 
ich an Beckmann selbst beobachtet habe. — Ausser den Zeugenaussagen lag mir 
ferner z. B. eine Menge Beckmann’scher Schriftstücke vor, und die Gesammtheit 
der Umstände war es, worauf ich mein Urtheil gründete. Ihre (gesperrt gedruckte, 
S. 341 unten) Bemängelung, dass in meinem Gutachten Thatumstände berück¬ 
sichtigt waren, die von nicht gerichtlich vernommenen Zeugen stammen, hat ja 
gar keinen Sinn. Aus rein formalen Gründen ist die nachträgliche Beweiserhebung, 
die jene Aussagen vollauf bestätigte, verfügt. Die Beweise für die vorhandene 
Geistesstörung halte ich nach wie vor geradezu erdrückend, nun — darüber 
mögen Andere urtheilen. 

Welcher Wortklauberei Sie sich dann mit den falschen und Wahnvorstel¬ 
lungen mir gegenüber schuldig machen, das wird bei näherer Ueberlegung 
hoffentlich Ihnen selbst einleuchten. 

Zugestehen will ich gern, dass ich nicht die ganze psychiatrische Literatur 
kenne und den „Ritter der Unterdrückten“ ihr in der That nicht entnommen habe. 
Also deshalb wagen Sie sich immerhin in meine Nähe! — Zugestehen will ich 
ferner, dass ich in der Systematik der Psychiatrie nicht „auf der Höhe“ stehe, — 
ich bin ja nicht Professor und fühle mich frei von Selbstüberhebung, — doch 
nehme ich eine gewisse Uebung und Erfahrung in Beurtheilung von Geistes¬ 
zuständen für mich in Anspruch. Bisher hatte ich das Glück (nicht Verdienst), 
Irrthümern darin zu entgehen; — wenn ich noch etwas lebe, werde ich schwer¬ 
lich stets so begünstigt sein. Begegnet mir ein menschliches Fehlen, so will ich 
mit christlicher Geduld es zu tragen suchen, mit der Ruhe und Fassung, die 
ich nach Ihrer Ansicht durch Draak’s Schmähschrift eingebüsst habe. In andert¬ 
halb Jahren sollte ich sie billig wieder gewonnen und meine Worte reiflich 
erwogen haben. Dass sie auf Unbefangene solchen Eindruck machen, wage ich 
zu hoffen. 


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Offene Antwort auf den zweiten Brief des Herrn Dr. Wallichs 

von Dr. Mendel in Berlin 


ln Bezug auf den mir vorliegenden zweiten offenen Brief des Herrn 
Dr. Wallichs habe ich nur zu bemerken, dass eine weitere wissenschaftlich 
psychiatrische Discussion zwecklos sein würde, da derselbe den Unterschied 
zwischen falschen und Wahnvorstellungen als „Wortklauberei“ bezeichnet. Die 
Polemik des Herrn Dr. Wallichs wird dadurch charakterisirt, dass er in seinem 
ersten Briefe behauptet, ich hätte „nur aus der trüben Quelle der eigenen An¬ 
gaben Beckmann’s geschöpft“, im zweiten, mir hätte „einiges, aber keineswegs 
alles Material Vorgelegen.“ 

Was die technisch-forensische Seite des Streites betrifft, so widerspricht 
es dem Geist, dem Wortlaut, wie der Praxis der Civilprozess-Ordnung, dem Ver¬ 
klagten, d. h. dem zu Entmündigenden die Beweisführung gegen die angestellte 
Klage zu beschränken, und die Sachverständigkeit zu monopolisiren: thatsächlich 
bildet ausserdem den Ausgangspunkt der Klagen auf Entmündigung (§.592 al. 2) 
wie deijenigen für die Wiederaufhebung derselben (§. 619 al. 3) weitaus in der 
Mehrzahl der Fälle ein privatärztliohes Gutachten, d. h. ein „unberufenes“. 


Gtdrnekt bei L. Schumacher in Berlin. 


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