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UNIVERSUM OF IOWA
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gerichtliche Medicin
und
öffentliches Sanitätswesen.
Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation
für das Medicinalwesen im Ministerium der geistlichen,
Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten
hcrausgegeben
Dr. Hermann Enleuberg,
Geh. Ober-Medici nal- and Vortragendem Rath im Ministerium der geistlichen.
Unterricht«- and Medicinal-Angelegenheiten.
Neue Folge. XLIV. Band.
Mit 3 lithogr. Tafeln.
BERLIN, 1886 .
VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD.
NW. 68. UNTER DEN LINDEN.
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Inhalt
8eite
I. Qeriohtliohe Medioln. 1—119. 249—343
1. Superarbitrium der K. wissenschaftl. Deputation für das Medicinal-
wesen in der Yoruntersuchungssache gegen den Bureaudiener R. B.
und den Polizeisergeanten J. U. wegen Körperverletzung mit tät¬
lichem Erfolge. (Erster Referent: Westphal.) . 1
2. Ein Entmündigungsfall. Yon Dr. von Ludwiger zu Plagwitz. . . 19
3. Ob Dementia paralytica oder geistige Gesundheit? Leidensgeschichte
eines für unheilbar geisteskrank gehaltenen Mannes, dargestellt vom
Sanitätsrath Dr. Beckmann, Kreisphysikus in Harburg. (Fortsetzung.) 34
4. Raubmord. Simulation von Geistesstörung. Gerichtsärztliches Gut¬
achten. Mitgetheilt von Prof. v. Krafft-Ebing . 41
5. Beiträge zur gerichtlichen Toxicologie. Yon Dr. Julius Kratter,
Docent und Assistent am Institut für Staatsarzneikunde in Graz.
I. Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung.
(Mit 2 Tafeln.). 52
6. Zum Erstickungstode auf mechanische Weise. Von Dr. Anton Heiden¬
hain, Kreiswundarzt in Cöslin. 96
7 Auffallend verschiedene Verwesungserscheinungen bei zwei Leichen von
Personen, die unter vollkommen gleichen Verhältnissen und zu der¬
selben Zeit gestorben waren. Mittheilung des Kreis - Physikus Dr.
Mayer in Heilsberg.101
8. Beischlafsfähig, nicht zeugungsfähig. Mitgetheilt vom Kreis-Physikus
Dr. Brem me zu Soest ..104
9. Der ärztliche Sachverständige und der Ausschluss der freien Willens¬
bestimmung des §. 51 des Deutschen Strafgesetzbuches. Von Prof.
Dr. E. Mendel. Nach einem Vortrage im Verein der deutschen
Irren-Aerzte in Baden-Baden am 17. September 1885 . 108
• 10. Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. Von Professor
Dr. T. Zaaijer in Leiden.249
11. Zum Tod des Neugeborenen durch Abschneiden des Halses und durch
fragliche Sturzgeburt. Erörterung bemerkenswerther Leichenbefunde
unter Zugrundelegung zweier gerichtsärztlioher Fälle. Von Dr. Moritz
Frey er, Kreisphysikus in Darkehmen.278
12. Erstickung des neugeborenen Kindes durch Einhüllen in einen Rock
und Vergraben im Sande. Von Dr. Chlumsky, Kreisphysikus in
Zielenzig.297
13. Drei Fälle von Verletzung des Herzens, resp. des Bulbus aortae. Mit¬
getheilt von Kreiswundarzt Dr. Schulte in Hörde.308
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IV
Inhalt.
Seite
14. Ob Dementia paralytica oder geistige Gesundheit? Leidensgeschichte
eines für unheilbar geisteskrank gehaltenen Mannes, dargestellt vom
Sanitätsrath Dr. Beckmann, Kreisphysikus zu Harburg. (Fortsetzung.) 311
15. Beitrag zur Casuistik der Blödsinns-Simulation. Von Dr. Hugo Wie-
demann in Praust.321
16. Sind Draak und Beckmann geisteskrank? Offener Brief an Herrn
Dr. Mendel in Berlin von Dr. Wallichs in Altona.327
17. Offene Antwort auf den offenen Brief des Herrn Dr. Wallichs in Altona
von Dr. E. Mendel in Berlin.338
II. OeffentHohes Sanitfitswesen . 120—167. 344-411
1. Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf (geliefert von
Firma Walz & Windscheidt) durch Dr. Fleischhauer in Düsseldorf
und Dr. Mittenzweig, Kreisphysikus in Duisburg.120
2. Bemerkungen über den für die Stadt Düsseldorf bestimmten Desin-
fections*Apparat von H. Merke, Verwaltungs-Director des städtischen
Krankenhauses Moabit.145
3. Die Ergebnisse der neueren Untersuchungen des Schweinefleisches.
Von Dr. Herrmann Eulenberg.150
4. Ueber einige gesundheitliche und landwirtschaftliche Missstände der
Bade-Insel Norderney. Von Prof. Dr. Alexander Müller. 1G2
5. Gutachtliche Aeusserung der Kgl. wissenschaftlichen Deputation für
das Medicinalwesen über die prophylaktische Behandlung der Augen*
entzündung Neugeborener. (Erster Referent: Schröder.).344
6. Zur animalen Vaccination. Von Sanitätsrath Dr. Risel, Vorsteher des
Königl. Provinzial-Impfinstituts zu Halle a/S.348
7. Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Heilquellen. Von
Dr. Ernst Lehmann in Oeynhausen (Rehme).. . 366
8. Die artesischen, Fluss-, Quell- und Pump-Wässer von Hamburg und
Umgegend. (II. Abhandlung.) Von Dr. Niederstadt in Hamburg. 379
9. Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname, vom An¬
fänge der Geschichte bis heute. Von Medicinalrath Dr. Friedrich
Küchenmeister. (Fortsetzung.).388
III. Verschiedene Mittheilungen . 168—179. 411—437
IV. Literatur. . 180—181. 438-441
Erwiederung von Dr. G. Veit — Dr. Win ekel. Schlusswort von Dr.
Birnbaum, Director der Provinzial-Hebammen-Anstalt in Köln, a. D. 1S2
V. Preussischer Medicinalbeamten-Verein. (Mit 1 Tafel.) .... 188
Zweiter offener Brief an Herrn Dr. Mendel in Berlin von Dr. Wallichs. 442
Offene Antwort von Dr. Mendel.‘. . . 444
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I. Gerichtliche Medicin.
1 .
Superarbitrium
der K. wissenschaftl. Deputation für das Medicinalwesen
ii der VerMtersachnagssaehe gegen den Bareaadiener R. B.
aad den Polizeisergeanten J. 0. wegen Körperverletzung Mit
tödtliehem Erfolge.
(Erster Referent: Westphal.)
Behufs Aufklärung der Vorgänge gestatten wir uns, zunächst das
in der Sache erstattete Gutachten des Rheinischen Medicinal-Collegiums
vorauszuschicken.
Geschichtserzählung.
Die Ehefrau des Gastwirths Carl Artz, Josephine zu Altenessen fand am
20. Aug. d. J., Abends 7'/ 2 Uhr, in dem Hausflur ihres Hauses einen unbe¬
kannten Mann — wie sich später ergab — den Schmied Carl Plang aus Scbossow
hinter der offenen Hausthüre eingezwängt stehend, mit dem Rücken nach dem
Flur, mit dem Gesicht der Ecke zugekehrt. Da sie glaubte, der Mann wolle dort
seine Nothdurft verrichten, sprach sie ihn an, erhielt jedoch keine Antwort. Der
Mann drehte sich um, sah die Frau mit ganz verwilderten Blicken an und ging
auf sie los. Die erschrockene Frau rief nun den in der Gaststube anwesenden
Büreaudiener Brand zu Hülfe, welcher ebenfalls keine Antwort erhielt, den Mann
darauf anfasste und denselben unter Sträuben aus dem Hause entfernte.
Zeuge Koch sah dies mit an und bemerkt, dass Plang, nachdem er ge¬
waltsam von Brand zur Hausthür hinausgedrückt worden war, allein die Treppe
hinunter bis an den gegenüber gelegenen Garten ging und sich auf die dort be¬
findliche Mauer setzte. Darauf sah Koch ihn neben Brand frei nach der Woh¬
nung des Polizeisergeanten Ufer zu gehend. In der Nähe dieser Wohnung sah
Zeuge den Plang sich auf die Erde hinwerfen; er wurde wieder aufgenommen
und in die Wohnung des Ufer, wo sich das Polizeigefängniss befand, geführt.
Der Plang machte auf den Zeugen den Eindruck eines nicht ganz zurechnungs¬
fähigen Menschen. Zeuge sah auch, dass Brand nach dem Manne, als er ihn
aus der Arlz’schen Hausthür transportirte, schlug und ihn auch traf.
Zeuge Korth sah den Plang an der Mauer sitzen, mit einem Finger unter
einen dort liegenden 3 Ctr. schweren Stein fassen, denselben aufzuheben ver¬
suchen und hörte die Aeusserung von Plang, seine Bierflasche befinde sich
darunter, er habe dieselbe dort hingelegt und hätten die Kinder den Stein darauf
Vl.rt.ljabn.chr. f. gel*. M.d. N. F. XUV. 1.
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Superarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation,
gelegt. Ebenso habe er in die Tasche gegriffen und gesagt, er habe sein ganzes
Geld verloren, darauf habe er einige Steine aufgehoben, welche er in die Tasche
steckte und geäussert, jetzt habe er sein Geld wieder. Zeuge half sodann dem
Brand, den Plang nach der Wohnung des Ufer bringen. Auf diesem Gange ver¬
langte derselbe wiederholt in’s Wirthshaus einzutreten, um Bier zu trinken, wurde
mit Mühe weiter gebracht und legte sich schliesslich auf den Boden und sagte,
„jetzt gehe ich aber nicht mehr weiter, ich bekomme doch kein Bier.“ Plang
zitterte furchtbar an allen Gliedern, so dass er nicht allein gehen konnnte, son¬
dern geführt werden musste. In der Wohnung des Ufer wurde ihm in einer Tasse
Wasser gereicht und sagte er, „das ist gutes Bier, davon trinke ich noch mehr.“
In eine Arrestzelle geführt, sank er auf einen Strohsack und sagte, „so liege
ich gut.“ Zeuge äussert sich über das Befinden des Plang: „Meiner Ansicht
nach war der Mann entweder betrunken oder geisteskrank oder delirirte in hohem
Grade, denn er zitterte am ganzen Körper, so dass wir ihn vollständig halten
mussten und er nicht im Stande war, allein gehen zu können.“ Zeuge sagte
beim Verlassen der Zelle zu Brand, „ich glaube, dass der Mann morgen nicht
mehr lebt.“
Zeuge Briefträger Bültemann sah den Plang etwa 7 Uhr 40 Min. in seinem
eigenen Hausflur, hielt denselben anfangs für betrunken und frug ihn, was er
wolle, worauf dieser antwortete, „er sei krank und könne nicht leben und nicht
sterben, er wolle zum Doctor.“ Später, 5—10 Minuten vor 8 Uhr sah Zeuge
den Plang geführt von Brand und Korth. Nach Ansicht des Zeugen delirirte
Plang im höchsten Grade, zitterte an allen Gliedern und zeigte einen sehr ver¬
wirrten Blick, auch war die Sprache nicht sehr geläufig.
Die Ehefrau dieses Zeugen Dina, geborene Holte, hatte den ihr bis dahin
unbekannten Plang bereits gegen 6 Uhr auf der nach Essen führenden Chaussee¬
strasse gesehen, wie er mehrmals kleine Kieselsteine aufhob, in die Tasche
steckte und mit der Hand verschiedentlich auf die Tasche schlug.
Zeuge Metzger Bernhard Bauer hat den Plang ebenfalls an der Gartenmauer
sitzen sehen, nachdem er aus dem Artz’schen Hause entfernt worden war, und
schildert die Vorgänge daselbst genau wie der Zeuge Koch. Er half den Plang
in die Ufer’sche Wohnung bringen und hörte, dass derselbe von Brand und Koch
um seinen Namen befragt antwortete, das ginge sie nichts an, und auf die
weitere Frage, wo er denn her sei, entgegnete, das brächte er heute nicht mehr
heraus, das wolle er morgen früh sagen, nachdem er vergeblich versucht gehabt,
einen Namen zu nennen. Auch dieser Zeuge bestätigt das Zittern an allen
Gliedern, und hatte den Eindruck, als ob er krank sei.
Auf den Zeugen Heinrich Knie, welcher den Plang auf dem Transport sah,
machte dieser nicht den Eindruck, als ob er betranken sei, er sei ganz ruhig
und verständig gegangen.
Nachdem Plang in dem Arrestlocale untergebracht war, ging Bureaudiener
Brand zu dem Bürgermeister Peau zu Altenessen, meldete nach seiner Aussage,
dass er einen Mann, welcher betrunken sei und anscheinend delirirte, eingesperrt
habe, worauf der Bürgermeister gesagt habe, dass der Mann, wenn er krank sei,
nicht eingesperrt werden dürfe, sondern in’s Kloster nach Essen gehöre; der
Bürgermeister habe ihn sodann beauftragt, den PJang unter Zuhülfenahme des
Polizcisergeaiiten Ufer nach Essen zu bringen und dort milzulheilen, dass der-
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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge.
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selbe die diesseitige Grenze überschritten habe. Bürgermeister Peau bestätigt
in einem Randschreiben zu den Auslassungen des Brand, dass er den Brand
beauftragt habe, den betrunkenen irrsinnigen Mann unter Zuziehung des Ufer
in das Barmherzige Kloster zu Essen überzuführen und dass er demselben, da
aus einer ihm mitgetheilten Aeusserung des Mannes hervorzugehen schien, dass
er möglicherweise aus Essen sei, aufgetragen, vorher dort auf der Wachtstube
vorzusprechen.
Plang wurde demgemäss aus der Arrestzelle herausgeholt und von Brand
und Ufer auf den Weg nach Essen gebracht. Auf diesem Wege war er von Seiten
dieser seiner Begleiter mannigfachen Misshandlungen ausgesetzt, bis er schliess¬
lich jenseits der Grenze des Weichbildes Altenessen auf Essener Gebiet wahr¬
scheinlich in den Chausseegraben geworfen, dort mit dem Kopfe nach unten, mit
den Beinen nach oben liegen blieb und von seinen Begleitern verlassen wurde.
Die Zeugen bekunden hierüber Folgendes:
Die Zeugen Wilh. Anton an der Brüggen und Hermann Joseph Woettgen
sahen, dass der Brand mit einigen Sätzen auf den ungefähr fünf Schritte vor
seinen Transporteuren hergellenden Plang lossprang und ihm einen derartigen
Stoss gab, dass er in den Chausseegraben stürzte. Der Mann sei dann einige
Secunden im Graben liegen geblieben, dann aber wieder herausgekrochen, sei
aber, als er auf der Strasse einige Schritte weiter gegangen, von Brand ergriffen
nochmals in den Strassengraben geworfen und dann obendrein mit einem Fuss-
tritte tractirt worden. Der Mann soi ruhig seines Weges gegangen, es habe aber
den Anschein gehabt, als wenn derselbe müde oder krank sei, betrunken sei er
ihrer Meinung nach nicht gewesen; derselbe habe keine Silbe gesagt, auch nichts
auf die ihm zu Theil werdende Misshandlung erwiedert.
Bei einem spätem Verhöre modificirt an der Brüggen seine Aussage dahin,
dass er allerdings gesehen, dass Brand den Mann zweimal angefasst und dass
dieser dann jedesmal in den Graben gefallen sei, ob dies aber die Wirkung des
Stosses gewesen, könne er nicht sagen, ebenso verhalte es sich mit dem Fuss-
tritt, er habe nur gesehen, dass Brand eine solche Bewegung mit dem Bein ge¬
macht habe. Zeuge Woettgen dagegen sagt mit Bestimmtheit aus, dass Brand
den Plang zweimal in den Graben gestossen und als er dalag, mit dem Fuss ge¬
treten habe.
Die Ehefrau Hermann Woettgen, Antonie, geb. an der Brüggen, sagt, dass
Brand von Ufer fort- auf den 5 Schritt vor ihnen gehenden Mann lossprang, den¬
selben anfasste und ihn in den Graben warf. Der Mann blieb kaum eine Minute
in dem Graben liegen, stand dann allein wieder auf und ging weiter: als die¬
selben dann ziemlich bis an den Rand der Chausseestrasse gekommen waren, sah
Zeugin, dass der Mann abermals aus dem Chausseegraben aufstand, hatte aber
nicht gesehen, dass er diesmal von den Beamten in den Graben geworfen worden
war. Zeugin wiederholt, dass sie sich nicht geirrt, sondern deutlich gesehen,
dass der Mann das erste Mal in den Graben geworfen worden war.
Zeugin Frau Otto sah, dass Plang entweder von dem einen oder dem
anderen der Begleiter stets mit der Faust in den Rücken gestossen wurde, so
dass derselbe stets zu Boden gefallen war. Diese Aussage bestätigt Bergmann
Ratle und setzt hinzu: „Nachdem der Mann zu Boden und auf die Seite gefallen
und wieder aufgestanden war, wurde er von den Beamten immer wieder von
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Superarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation,
Neuem vorangestossen. Bei dem Fallen hat der Mann laut geschrieen und
äusserte, als er wieder vorangestossen wurde, dass er nicht mehr könne, man
solle ihn doch in Buhe lassen.“ Zeuge rief den Beamten zu, mit dem Manne
doch gelinder und langsamer zu verfahren.
Frau Ellerman sah ebenfalls den Transport des Mannes. Derselbe ging in
gebückter Haltung und wenn er den Körper wieder gerade richtete, wurde er
durch einen Stoss, welcher von beiden Transporteuren applicirt wurde, voran¬
bewegt.
Zeuge Heinrich Tubbesing sah, dass Plang kein Bein mehr ansetzte, viel¬
mehr von den beiden Beamten getragen und geschleppt wurde; dann legten sie
ihn hin, worauf er mit den Händen um sich schlug, als wenn er Krämpfe hätte,
und hörte Zeuge den Brand sagen, das Schwein macht Einem noch die ganzen
Kleider schmutzig; und hörte Zeuge auch, dass es hierauf einige Mal klatschte,
als ob Brand dem Manne in’s Gesicht geschlagen hätte. Zeuge vermag aber
nicht mit Bestimmtheit zu sagen, ob Brand ihn wirklich in’s Gesicht geschlagen
hat. Zeuge giebt nur, weiter an: Als sie nun den Mann nicht weiter bringen
konnten, sagte Brand, sie wollten ihn dort in den Graben werfen. Ufer sagte
hierauf zu einem anwesenden Knaben, er solle mal sehen, ob der Graben trocken
sei. worauf dieser sagte, der Graben sei etwas feucht, worauf einer der beiden
Beamten erwiederte, das schadet nichts, wenn er auch etwas nass wird, dann
wird er auch rasch nüchtern. Darauf fassten sie den Mann, Jeder an einem Arm
und warfen ihn sodann in den Graben, dass er mit dem Kopfe in eine auf der
anderen Seite des Grabens vorhandene Dornhecke flog. — Brand entfernte sich
hierauf, Ufer blieb noch etwa zwei Minuten stehen, entfernte sich dann ebenfalls.
Nach einer Viertelstunde ging Zeuge nochmals hin und war der Betreffende als¬
dann gestorben.
Der Fuhrkneeht Jacob Ludwig sah den ihm unbekannten Plang im Graben
liegen und zwar mit dem Kopfe nach unten in einem Strauche und mit den
Beinen nach oben. Zeuge sprang in den Graben, um ihn aus dieser Lage zu
befreien, fasste und redete ihn an, worauf der Mann ihn bat, ihn doch mit dem
Kopfe hoch zu legen. Zeuge that dieses, der Mann zitterte an allen Gliedern, so
dass man glauben konnte, er liege in Krämpfen, wobei er jammerte und stöhnte.
Nach ungefähr fünf Minuten wurde er ruhig, da dieses auffällig erschien, wurde
Licht gemacht und gefunden, dass der Mann eine Leiche war. —
Die Wegestrecke von der Wohnung des Ufer bis zu der Stelle, wo Plang
den Tod gefunden, beträgt nach einer Mittheilung der Königl. Staatsanwaltschaft
zu Essen vom 30. November 1 ‘/ 2 Kilometer. —
In Bezug auf das Vorleben des Plang erfahren wir aus den Acten Folgendes:
Karl Albert Ulrich Friedrich Plang, am 22. Juli 1845 zu Schlossow ge¬
boren, war vom Jahre 1874 an in der Borsig’schen Fabrik zu Moabit als
Schmied beschäftigt und wird als tüchtiger fleissiger Arbeiter, sowie als guter
Familienvater, der in geordneten Verhältnissen lebte, geschildert. In den letzten
drei Jahren habe er sich jedoch dem Trünke ergeben und wird das täglich
genossene Quantum Schnaps bis zu einem Liter geschätzt. Wegen Trunkenheit
wurde er sodann am 14. August aus der Fabrik entlassen. Zeuge Schmied David
Zarwell, Mitarbeiter des Plang in der Borsig’sohen Fabrik, deponirt. dass er mit
Plang aus genannter Fabrik gleichzeitig entlassen worden und um Arbeit zu
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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge.
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bekommen, sofort am 15. nach Essen gereist sei, woselbst sie am 16. Aug. an¬
gekommen seien. Während es nnn Zarwell gelang, am Freitag den 17. Aug.
bereits in Arbeit treten zu können, fand Plang trotz seines Suchens keine Stelle.
Plang schlief in der Nacht vom 16. zum 17. und vom 17. zum 18. in der
Herberge bei Folke, in den Nächten vom 18. zum 19. und vom 19. zum 20.
mit Erlaubniss des Menagenverwalters bei Zarwell in der Fabrikmenage, da er
kein Geld hatte. —
Dr. Gottschalk zu Essen constatirte den Tod des Plang und äusserte
sich dahin, dass die Leiche nicht die geringste Spur eines Geruches geistiger
Getränke von sich gegeben, dass er constatiren könne, dass der Verstorbene
nicht betrunken gewesen sei. —
Die am 22. August vorgenommene Obduction der Leiche des Plang hatte
in den wesentlichen Punkten folgendes Resultat:
A. Aeussere Besichtigung. 1) Die 170 Ctm. lange Leiche ist die
eines kräftigen, wohlgenährten Mannes von etwa 30 Jahren und zeigt regel¬
mässigen Körperbau. — 6) Der Unterleib eingefallen; über dem obern vordem
Dornfortsatz des hintern Darmbeines findet sich ein 5 Ctm. langer, 3 Ctm. breiter
bräunlicher, sich hart anfühlender und schneidender, aber nirgends blutunter¬
laufener Flecken. 4 Ctm. oberhalb desselben findet sich ein rundlicher, 1 Ctm.
im Durchmesser haltender, schwarzbräunlicher Flecken, der sich beim Ein-
schneiden als Blutunterlaufung herausstellte. — 10) An den oberen, sonst regel¬
mässig beschaffenen Gliedmassen findet sich in der Mitte der vorderen Fläche
des rechten und linken Oberarmes je ein 2 Ctm. langer, 1 Ctm. breiter, röth-
licher Flecken, der sich als Blutunterlaufung bei dem Einschneiden herausstellt.
— 11) An den sonst regelmässig beschaffenen unteren Gliedmassen findet sich
a) auf der Vorderfläche des rechten Unterschenkels 3 Ctm. unterhalb der Knie¬
scheibe ein 6 Ctm. langer, 1 Ctm. breiter, schwarzbräunlicher Flecken, der sich
als eine 1 */ 2 Ctm. dicke Blutunterlaufung herausstellt; b) 3 Ctm. unterhalb des
inneren Randes der linken Kniescheibe eine 2 Ctm. lange, 1 '/ 2 Ctm. breite,
schwarzbräunliche Verfärbung, die sich als eine 1 Ctm. dicke Blutunterlaufung
herausstellt.
B. Innere Besichtigung. I. Eröffnung der Kopfhöhle. 12) Nach
Abtrennung der weichen Kopfbedeckungen zeigt sich deren Innenfläche unver¬
letzt und fällt das ungemein zahlreiche Vorkommen von Blutpunkten auf. Die
äussere Fläche der knöchernen Schädeldecke ist unverletzt. — 14) Die harte
Hirnhaut ist nicht verwachsen; der obere Längsblutleiter ist zur Rundung ange¬
füllt, wie auoh die venösen Gefässe der Aussenfläche. Zurückgeschlagen zeigt
die harte Hirnhaut ein glänzendes Aussehen. Die weiche Hirnhaut ist glänzend,
ihre venösen Gefässe bis zur Rundung gefüllt. — 15) Nach Herausnahme des
Gehirns findet sich am Sohädelgrunde kein ungehöriger Inhalt; harte und weiche
Hirnhaut zeigen gleiches Verhalten wie an der Oberfläche. Die grösseren Arterien
sind fest und leer, die queren Blutleiter wie die des Zeltes und der Schädelgrund¬
fläche sind bis zur Rundung gefüllt. Bei dem Durchschneiden der weichen Hirn¬
haut an der Schädelgrundfläche ergossen sich vier Esslöffel voll wässeriger Flüssig¬
keit. — 16) Das Grosshirn füllt die Schädelhöhle aus, seine beiden Halbkugeln
sind 22 Ctm. lang, 10 Ctm. breit, 8 Ctm. hoch, von fester Consistenz. Mark- und
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Superarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation.
Rindensubstanz sind deutlich getrennt. Auf der Schnittfläche zeigen sich ungemein
viele Wasser- und Blutpunkte, so dass die Masse spiegelt. — 17) Die grossen
Ganglien sind fest, auf der Schnittfläche viele Blutpunkte zeigend, sonst unver¬
ändert. — 18) Die obere Gefässplatte ist streifig, ihre Gefässe gefüllt; in den
Seitenventrikeln je drei Esslöffel wässerige Blutflüssigkeit; die Adergeflechte bis
zur Rundung gefüllt. — 19) Das kleine Hirn ist fest, auf der Schneidefläche sehr
viele Blutpunkte zeigend.
II. Eröffnung der Brust- und Bauchhöhle. 25) Die Milz ist sehr
fettreich, ihre venösen Gefässe bis zur Rundung gefüllt.
a) Brusthöhle. 26) Brustfell sacke leer und von blassem Aussehen. —
27) Der Herzbeutel ist blass und leer. Das Herz ist 12 Ctm. lang. 10 Ctm.
breit und 5 Ctm. dick, blassbraun und schlaff. Ueber dem Herzen findet sich
eine durchschnittlich 2 Mm. dicke Fettauflagerung. Die Kammern und Ventrikel
sind leer, die Vorhofsklappen mittels zweier Finger leicht zu durchdringen. Die
Wandungen des linken Ventrikels waren durchschnittlich 2 Ctm., die des rechten
1 Ctm. dick. Die Fettauflagerung betrug durchschnittlich 2 Mm. Die Muskulatur
war aber glatt, unverändert und gleichmässig bräunlich. Nach dem Heraus¬
schneiden zeigen sich die arteriellen Mündungen gut schliessend und von glattem
Aussehen. — 28) Die aufsteigenden grösseren Arterien sind leer und fest, die
Venen enthalten eine geringe Menge Blut.
b) Bauchhöhle. 40) Der Magen ist äusserlich blass und leer. Die
Schleimhaut schiefergrau und runzlich. — 42) Die Leber ist 30 Ctm. lang.
20 Ctm. breit, bräunlich, fest und glänzend. Die Schnittfläche war glatt, sehr
glänzend; die Leberläppchen aber zu erkennen, Blutgehalt gering. Bei der mikro¬
skopischen Untersuchung fanden sich die einzelnen Leberzellen mit Fetttröpfchen
stark gefüllt. Die Gallenblase ist stark gefüllt. —
Die Obducenten gaben ihr vorläufiges Gutachten dahin ab, dass der
Tod an Gehirnschlagfluss erfolgt sei, und gaben auf Befragen zu, dass es mög¬
lich sei, dass der Schlagfluss durch Misshandlungen, die weiter keine Verletzung
des Schädels bewirkt hätten, hervorgerufen sein könne.
In einem motivirten Gutachten vom 20. Sept. a. c. gaben dieselben
ihr Schlussgutachten in folgenden Sätzen ab:
1) Plang ist an Gehirnschlag gestorben in Folge von Säuferwahnsinn (Deli¬
rium tremens) und war während der Dauer seiner Krankheit hülflos.
2) Wenn Plang auch 1 x / 2 bis 2 Stunden vor seinem Tode eine seinem Zu¬
stande geeignete Pflege gefunden hätte, so kann nicht behauptet werden,
dass der tödtliche Ausgang dadurch wäre abgewendet worden.
3) Plang bat Misshandlungen erlitten, welche geeignet waren, den tödtlichen
Ausgang der Krankheit des p. Plang zu beschleunigen, aber denselben
nicht bewirkt haben. —
Von Seiten der Staatsanwaltschaft zu Essen ist nunmehr das Rheinische
Medicinal-Collegium ersucht worden, sich gutachtlich darüber äussern zu wollen,
ob dasselbe annimmt:
1) dass die Todesursache richtig von den Kreis-Medicinalbeamten angegeben
ist, oder
2) ob der Tod des Plang nicht vielmehr durch die gegen ihn begangene
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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge.
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Aussetzung im Sinne des §. 221 des R -Str.-Gesetzbuches. event. der
ihm applicirten Misshandlungen verursacht ist?
3) Ob der Tod nicht — entgegenstehend der Annahme der Medicinal-
beamten — doch hatte abgewendet werden können dadurch, dass die
Polizeibehörde sofort bei ihrer ersten Kenntnisserlangung von dem Zu¬
stande des Plang geeignete Massregeln zu sanitärer Behandlung er¬
griffen hätte?
Falls letzteres bejaht wird, ersucht die Staatsanwaltschaft namentlich auch
darüber um gefällige Aeusserung:
ob die Abwendung des letalen Ausganges dann hätte erfolgen können,
wenn Bürgermeister Peau bei seiner Kenntnisserlangung sorgfältige An¬
ordnungen getroffen hätte, d. h. mit anderen Worten, ob Königl. Medicinal-
Collegium die Todesursache in dem Verhalten der Polizeibehörde, in Fahr¬
lässigkeit des Bürgermeister Pöau, des Ufer oder des Brand findet?
Gutachten.
Der etc. Plang litt, als er am Abend des 20. August d. J. im Hausflur der
Artz’schen Wirtschaft betroffen wurde, an allgemeiner Schwäche und Kraftlosig¬
keit, an starkem Zittern der Hände und des ganzen Körpers, hatte das Gefüh 1
schweren Krankseins, sprach irre, zeigte Sinnestäuschungen und hatte ein ver¬
störtes, verwildertes Aussehen.
Diese Zustände müssen wir nach ihrem Charakter, nach dem Ergebniss der
Erhebungen über das Vorleben und das Verhalten des Plang in seinen letzten
Lebenstagen, sowie auf Grund des Obductions-Protokolls. als die Folgen der Ent¬
ziehung von Alkohol und mangelhafter Ernährung bei einem seit langer Zeit an
übermässigen Branntweingenuss gewöhnten Menschen ansehen und als Säufer¬
wahnsinn, Delirium tremens, bezeichnen.
Es werden zweierlei Arten von Säuferwahnsinn unterschieden, welche
wesentlich durch die Art der Entstehung, der Heftigkeit der Krankheitserschei¬
nungen und durch ihre Ausgänge verschieden sind.
Beiden Formen sind drei Hauptmerkmale gemeinsam: das Zittern der
Glieder, die Delirien und die Schlaflosigkeit, welche je nach der Heftigkeit des
einzelnen Falles stärker oder schwächer hervortreten.
Die erste Form entsteht durch direkten fortgesetzten Missbrauch von Alkohol
und zeigt in ihren ausgeprägten Fällen meist die heftigsten Erscheinungen,
Zittern aller Glieder bis zu krampfförmigen Bewegungen, Tag und Nacht an¬
dauernde körperliche und geistige Unruhe, Irresein und Sinnestäuschungen.
Dabei besteht Schlaflosigkeit und fehlt bei den aufgeregten Kranken das Gefühl
des Krankseins.
Die andere Form tritt dagegen bei Individuen, welche lange Zeit an Alkohol¬
missbrauch gelitten haben, durch plötzliche Entziehung desselben ein, nament¬
lich wenn ungünstige äussere Momente hinzutreten, wie schlechte Ernährungs¬
verhältnisse oder schwere Verletzungen.
Scheiden wir letztere Complication als nicht hierher gehörig aus, so stellt
diese Art der Entstehung des Delirium tremens eine mildere Form der {Krankheit
dar und unterscheidet sich wesentlich von der erstgenannten durch den meist
günstigen Ausgang. Während bei dem Delirium potatorum durch direkten
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Superarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation,
Alkoholmissbrancb eine grössere Zahl der Fälle tödtlioh endet, tritt bei der
durch Entziehung von Alkohol entstandenen Krankheit unter guter Pflege, Ruhe
und Nahrung meist Heilung ein.
Die Symptome dieser Form sind im Ganzen dieselben wie bei der erst¬
erwähnten. sie erreichen meist jedoch nicht die Stärke und einzelne Merkmale
treten in den Hintergrund.
Dass Plang überhaupt an chronischem Alcoholismus gelitten hat, beweist
in erster Linie das Obductions-Protokoll. Das Herz ist von einer 2 Mm. dicken
Fettschicht umgeben und stellt dio Leber eine sog. Fettleber dar, beides Befunde,
die dem chronischen Alcoholismus zukommen; aber auch das Gehirn zeigt einen
Befund, wie er ganz charakteristisch für diesen Zustand ist. Das ist der reich¬
liche Wassererguss an der Oberfläche und in den Ventrikeln des Gehirns und das
Oedem der Hirnsubstanz. Unterstützt wird diese Ansicht durch das Ergebniss
der Acten. Werkführer Baltzer der Borsig’schen Fabrik giebt an. dass Plang in
den letzten drei Jahren sich dem Trunk ergeben und täglich bis zu einem Liter
Schnaps getrunken habe, weshalb er am 15. Aug. d. J. aus der Borsig’schen
Fabrik entlassen worden sei.
Dass die Krankheitserscheinungen bei Plang durch Entziehung des ge¬
wohnten Alkohol entstanden sind, folgt aus den Aussagen seines Mitarbeiters
Zarwell. Hiernach waren Beide am 15. Aug. aus der Moabiter Fabrik entlassen
worden, reisten sofort, um Arbeit zu bekommen, nach Essen, wo sie am 16.
Morgens ankamen. Während Zarwell bereits am 17. in Arbeit treten konnte,
sab Plang sich vergeblich nach Arbeit um. Plang schlief vom 16. auf den 17.
und 17. auf den 18. August in der Herberge, da er aber kein Geld hatte, vom
18. auf den 19. und vom 19. auf den 20. Aug. bei Zarwell in dem Menagen¬
hause der Fabrik, wo dieser Unterkommen gefunden hatte und ass auch bei
diesem. Am 20. Morgens ging Plang, nachdem er gefrühstückt und zwei Butter-
brode erhalten hatte, wieder auf Arbeitssuche aus, kehrte jedoch nicht wieder
zurück. Es kann hieraus wol mit Sicherheit geschlossen werden, dass Plang in
den letzten Tagen, ven allen Mitteln entblösst, keinen Alkohol zu sich genommen
hat. Dr. Gottschalk constatirte bei der Leichenbesichtigung denn auch die
Abwesenheit von Alkoholgeruch.
Die Erscheinungen, welche Plang in dem Momente, wo er in dem Hausflur
der Artz’schen Wirthschaft betroffen und in das Arrestlocal abgeliefert wurde,
darbot, sind nicht von jener Intensität, wie man sie bei schwereren, tödtlich
endenden Formen von Säuferwahnsinn beobachtot. Plang sprach irre, hatte
Sinnestäuschungen — suchte seine Bierflasche unter einem schweren Stein —
und zitterte heftig an allen Gliedern, aber er hatte ein ausgeprägtes Krankheits¬
gefühl, als ob er nicht leben und nicht sterben könne, er suchte und bat um
Ruhe, er bekundete grosse körperliche Schwäche, knickte mit den Beinen ein,
liess sich fallen, und als er sich auf den Strohsack im Gefängniss fallen Hess,
sagte er: „so liege ich gut.“ Dieses Bild ist ein wesentlich verschiedenes von
jenen schwereren Formen, bei denen der tödtliche Ausgang beobachtet wird.
Erfahrungsgemäss geht denn auch diese Art der Erkrankung durch passende
Pflege. Ruhe, Eintritt von Schlaf und passende Ernährung meist in Genesung über.
Den Grund, dass die Genesung in unserem Falle nicht erfolgt ist. erblicken
wir 1) in dem gewaltsamen Transport des höchst erschöpften Mannes, 2) in den
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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge.
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schwächenden Misshandlungen, denen der Mann auf dem Transport ausgesetzt
gewesen ist, und 3) vor Allem in dem Umstand, dass die Begleiter den in den
Chausseegraben geworfenen Mann mit dem Kopfe nach unten haben liegen lassen
und bülflos verlassen haben.
Für die Wiederherstellung des Plang war sofortige Ruhe und Pflege er¬
forderlich, um den gewöhnlich in Genesung überfübrenden Schlaf zu ermöglichen.
Statt dessen wurde er aus dem Gefängniss wieder herausgeholt und 1 V 2 Kilo¬
meter weiter tbeils geschleppt, theils gestossen. wol auch in’s Gesicht geschlagen
und getreten. Wenn auch einzelne Zeugen in dieser Beziehung sich vorsichtiger
als andere äussern, an der Leiche sind doch eine Anzahl Blutunterlaufungen con-
statirt worden, welche wol auf diese Entstehungsart zuriickzuführen sind. Unter
diesen Verhältnissen musste die bereits vorhandene Erschöpfung schon wesentlich
gesteigert werden. Schliesslich aber wird der Mann, wie wir gegenüber der posi¬
tiven Aussage des Tubbesin nicht anders annehmen können, mit dem Kopfe nach
unten, mit den Beinen nach oben in den Chausseegraben geworfen und dort
hülflos, im Unvermögen seine Lage zu ändern, liegen gelassen. In diesem
letzteren Umstand liegt nun unseres Erachtens hervorragend die unmittelbare
Todesursache des Plang.
Durch die ungünstige tiefe Lage des Kopfes mussten Circulationsstörungen
herbeigeführt werden, welche bei der grossen Hirnerschöpfung im Momente einer
anderen Lagerung, einer Aufrichtung des Kopfes, kritisch werden mussten. Als
daher der Fuhrmann Jakob Ludwig den mit dem Kopfe nach unten liegenden
Plang nach etwa einer Viertelstunde gefunden und den jammernden, stöhnenden
Mann, der so zitterte, dass man glaubte, er liege in Krämpfen, auf seine Bitte
anders gelagert, wurde derselbe plötzlich ruhig und wurde nach 5 Minuten der
Tod festgestellt. Eine solche plötzlich eintretende Todesart wird erfahrungs-
gemäss bei grossen Erschöpfungszuständen nach Lage Veränderungen häufig beob¬
achtet und lässt sich in unserem Falle leicht durch die in Folge der Lageverände¬
rung eintretende arterielle Blutleere des höchst erschöpften Gehirns erklären, und
bezeichnen wir diese Todesart als „Gehirnlähmung“.
In dem motivirten Gutachten haben die ersten Sachverständigen ihr Urtheil
dahin abgegeben: „Der Plang ist gestorben an Gehirnsohlagfluss in Folge von
Säuferwahnsinn.“ Was die Obducenten hier unter Gehirnschlagfluss verstanden
wissen wollen, erklären dieselben im Text des Gutachtens, nachdem sie den
Gehirubefund des Obductions-Protokolls mitgetheilt haben: „Diese ungemein
hochgradige Blutüberfüllung hat den Tod durch Lähmung des Gehirns herbei¬
geführt und bezeichnet man dieselbe als Gehirnschlagfluss.“
Mit der Ansicht der Sachverständigen, der Tod sei „durch Gehirnsohlag¬
fluss in Folge von Säuferwahnsinn“ entstanden, können wir uns in zweifacher
Beziehung nicht einverstanden erklären. Der Tod ist weder durch Gehirn¬
schlagfluss, das ist, wie die Sachverständigen verstehen, durch venöse Blut¬
überfüllung des Gehirns entstanden, welche das Obductions-Protokoll be¬
schreibt, noch ist diese venöse Blutüberfüllung direkt durch den Säuferwahnsinn
herbeigeführt worden. Die venöse Blutüberfüllung des Gehirns ist wesentlich
veranlasst durch die Lage des Körpers mit nach unten gerichtetem Kopfe. Der
Tod ist aber erfolgt bei venöser Blutüberfüllung in Folge der durch das Auf-
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Superarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation.
richten des Kopfes eintretenden arteriellen Blutleere des Gehirns, und hat diese
arterielle Blutleere die tödtliche Gehirnlähmung hervorgebracht.
Wenn die Sachverständigen sich weiterhin dahin aussprechen, es könne
nicht behauptet werden, dass der tödtliche Ausgang abgewendet worden wäre,
wenn Plang 1 2 bis 2 Stunden vor seinem Tode eine seinem Zustand geeignete
Pflege gefunden, so können wir auch hierin denselben nicht beipflichten, sind
im Gegentheil der Ansicht, dass der tödtliche Ausgang dann hätte abgewendet
werden können, wenn die angeführten für die Genesung erforderlichen Bedin¬
gungen erfüllt worden wären.
Wir geben demnach unser Gutachten in Bezug auf die von der Königlichen
Staatsanwaltschaft gestellten Fragen dahin ab:
1) Die Todesursache des Plang ist insofern nicht richtig von den Kreis-
Medicinalbeatnten angegeben, als das Gutachten derselben einen Tod an
Gehirnschlag in Folge von Säuferwahnsinn, der durch ungemein hoch¬
gradige Blutüberfüllung des Gehirns herbeigeführt sei, annimmt. Wir
finden vielmehr die Todesursache in einer Gehirnlähmung, welche bei
bestehendem, die Widerstandsfähigkeit des Gehirns beeinträchtigendem
Alcoholismus in Folge verschiedener schädlicher Einflüsse, wozu wir in
erster Linie das Liegenlassen mit nach unten gekehrtem Kopfe rechnen,
durch arterielle Blutleere herbeigeführt ist.
2) Der Tod des Plang ist nach vorstehender Auffassung durch die gegen ihn
begangene Aussetzung im Sinne des §.221 des R.-Str.-G.-B., beziehungs¬
weise durch die ihm applicirten Misshandlungen, wozu wir in erster Linie
die Lagerung des Plang mit dem Kopfe nach unten rechnen, und durch
Verlassen in dieser hülflosen Lage verursacht worden.
3) Der Tod hätte nach unserer Ansicht, entgegengesetzt der Annahme der
Kreis-Medicinalbeamten. abgewendet werden können dadurch, dass die
Polizeibehörde bei ihrer ersten Kenntnisserlangung von dem Zustande des
Plang geeignete Massregeln zu sanitärer Behandlung ergriffen hätte.
Auf die uns gestellte eventuelle Frage: ob das Medicinal-Collegium die
Todesursache in dem Verhalten der Polizeibehörde, in Fahrlässigkeit des Bürger¬
meister Peau, des Ufer oder des Brand findet, antworten wir:
Wir sind der Ansicht, dass die Todesursache allerdings wesentlich in
der Art und der Ausführung des Transportes des Plang gefunden werden
muss, glauben aber uns einer näheren Beurtheilung des Verhaltens der
Polizeibehörde als nicht zu unserer Competenz gehörig enthalten zu
dürfen.
Coblenz, den 10. December 1883.
Königl. Rheinisches Medicinal-Collegium.
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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge.
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Wir verfehlen nunmehr nicht, das in der Voruntersuchungssache
gegen den Bureaudiener Robert Brand und den Polizeisergeanten Johann
Ufer wegen Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge von uns erforderte
Gutachten nachstehend ganz gehorsamst zu erstatten.
Gutachten.
ln Betreff der Geschichte des vorliegenden Falles dürfen wir uns
auf die Darstellung des Königlichen Medicinal-Collegiums zu Coblenz
in seinem Gutachten vom 10. December v. J. beziehen, welche alle
wesentlichen Thatsachen wiedergiebt. Es geht aus derselben zunächst
mit Sicherheit hervor, dass der p. Plang an dem Tage, an welchem
er nach Essen transportirt werden sollte, den 20. August 1883, an
Delirium tremens litt. Denn es ist nicht nur festgestellt, dass er
sich seit 3 Jahren dem Trünke ergeben hatte (täglich bis zu einem
Liter Schnaps trank) und deshalb aus der Borsig’schen Fabrik am
15. August 1883 entlassen war, sondern es stimmen auch die von
den Zeugen geschilderten an dem Plang beobachteten Krankheits¬
erscheinungen vollkommen mit denen überein, welche für das Deli¬
rium tremens charakteristisch sind; dieselben bestanden einmal in
starkem Zittern der Glieder, das, wie es scheint, zeitweise so stark
war, dass es die Beobachter als „Krämpfe“ beschrieben, sodann in
Delirien, welche ihrem Inhalte nach und in Verbindung mit den sich
daran knüpfenden sinnlosen Handlungen etwas sehr Charakteristisches
haben. So machte Plang Anstrengungen, einen mehrere Centner
schweren Stein fortzuwälzen, von dem er glaubte, dass Kinder ihn
auf seine Bierflasche gerollt hätten, griff in die Taschen, sagte: er
habe sein Geld verloren, und sammelte dann kleine Kieselsteine in
den Taschen unter der Aeusserung, jetzt habe er sein Geld wieder;
später verlangte er dringend nach Bier, liess sich aber durch ihm
gereichtes Wasser täuschen. Die starke Trübung des Bewusstseins,
die sich in diesen Handlungen zu erkennen giebt, stellt in Verbindung
mit dem Inhalte der Delirien, sowie mit dem allgemeinen Zittern ein
so charakteristisches Krankheitsbild dar, dass es, auch wenn nicht
festgestellt wäre, dass Plang ein starker Schnapstrinker gewesen, als
Delirium tremens mit grosser Wahrscheinlichkeit hätte gedeutet werden
müssen; durch die Berichte aus der Borsig’schen Fabrik wird diese
Wahrscheinlichkeit zur Gewissheit. Von blosser sinnloser Trunkenheit
unterschied sich der Zustand wesentlich durch das starke Gliederzittern
und das Fehlen eines eigentlich taumelnden Ganges, denn wenn Denatus
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Superarbitriuiu der K. wissenschaftlichen Deputation,
auch unsicher auf den Beinen und, wie es scheint, leicht zum Fallen
zu bringen war, so wird doch von den Zeugen ein eigenthümlich
taumelnder Gang nicht beschrieben.
Wie weit der Beginn dieses Deliriums zurückreicht, ist mit Sicher¬
heit nicht zu bestimmen; allerdings wäre nach der Aussage seines
Mitarbeiters und Freundes Zarwell der p. Plang am Morgen des
20. August, nachdem er die Nacht in dem Menagehause der Fabrik
mit Zarwell geschlafen und gefrühstückt, ausgegangen um Arbeit zu
suchen, ohne dass Zarwell etwas Auffallendes über sein Benehmen zu
dieser Zeit berichtet; indess muss es zweifelhaft bleiben, inwieweit
die Beobachtungen des Zarwell auf Genauigkeit Anspruch machen
können, da dieser auch den übermässigen Schnapsgenuss Plang’s be¬
streitet und im Widerspruch mit den Berichten aus der Borsig’schen
Fabrik erklärt, dass Plang von dort wegen Arbeitsmangels entlassen
sei. Wenn aber in der That am Morgen des 20. August besondere
Erscheinungen bei Plang noch nicht zu beobachten waren, so würde
anzunehmen sein, dass die Entwicklung des Delirium tremens im
Laufe des Tages stattgefunden habe. Welche Umstände für diese
Entwicklung massgebend waren, lässt sich nicht feststellen; erwägt
man aber, dass Mangel an genügender Ernährung, Mangel des ge¬
wohnten Quantums von Schnaps, Sorgen und Gemüthsbewegungen
häufig als veranlassende Ursachen zum Ausbruch des Delirium tremens
bei Gewohnheitstrinkern nachzuweisen sind, so wird mindestens die
Annahme sehr wahrscheinlich, dass auch in dem vorliegenden Falle
diese Momente, welche nachweisbar vorhanden waren, zusammen¬
gewirkt haben. Wenn indess das Königliche Medicinal-Collegium bei
Untersuchung der möglicherweise wirksam gewesenen Ursachen die
Ansicht ausspricht, dass es zwei Formen des Säuferwahnsinns gebe,
von denen die eine durch fortgesetzten Missbrauch von Alkohol, die
andere durch plötzliche Entziehung desselben, namentlich beim Hinzu¬
treten ungünstiger äusserer Momente, wie schlechte Ernährungsverhält¬
nisse oder schwere Verletzungen, entstehe, und dass letztere Form
sich durch ihre geringere Intensität von ersterer unterscheide, so
können wir diese Ansicht als in der Erfahrung begründet nicht er¬
achten; es hängt vielmehr in dieser Beziehung Vieles von individuellen
Umständen ab und zum Theil von solchen, welche sich der direkten
Beobachtung und Würdigung entziehen. Demgemäss können wir auch
dem Schlüsse, welchen das Königliche Medicinal-Collegium auf Grund
der von ihm gemachten Unterscheidung ziehen zu können glaubt, dass
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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge.
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diese zweite Art der Erkrankung „durch passende Pflege, Ruhe, Ein¬
tritt von Schlaf und passende Ernährung meist in Genesung übergehe“,
nicht beitreten. Wir müssen sogar noch weiter gehen und erklären,
dass die Beobachtung des äusseren Verhaltens eines an Delirium
tremens Erkrankten niemals ein. Urtheil darüber gestattet, ob die
Krankheit einen guten, d. h. zur Genesung führenden oder einen tödt-
lichen Ausgang nehmen wird, denn es sind denjenigen, welche Ge¬
legenheit haben, diese Krankheit häufig zu beobachten, Fälle genug
bekannt, welche, unter scheinbar leichten Symptomen verlaufend, zur
Ueberraschung nicht nur der Umgebung, sondern auch des Arztes selbst,
plötzlich tödtlich enden. Es ist demgemäss nicht zutreffend, wenn
das Königl. Medicinal-Collogiura aus der ohne zureichende Begründung
gemachten Annahme einer milden Form des Delirium tremens bei dem
Plang folgert, „dass der Grund, aus welchem die Genesung in dem
vorliegenden Falle nicht erfolgte“, in den Umständen zu erblicken sei,
unter denen der Transport stattfand, resp. beendet wurde, und „dass
der tödtliche Ausgang dann hätte abgewendet werden können, wenn
die angeführten für die Genesung erforderlichen Bedingungen erfüllt
worden wären.“ —
Bei der Untersuchung der Frage nach der Todesursache des Plang
wird es sich empfehlen, zunächst die Schlüsse zu ziehen, die sich aus
dem Obductionsprotokoll ergeben. Sowohl von den Obducenten, als
auch von dem Königl. Medicinal-Collegium wird in dieser Beziehung
die Blutüberfüllung des Gehirns und seiner Häute betont, nur dass
Erstere den Tod an „Gehirnschlagfluss in Folge von Säuferwahnsinn“
(also direkt durch die Blutüberfüllung) erfolgen lassen, während das
Königl. Medicinal-Collegium annimmt, dass die Blutüberfüllung wesent¬
lich veranlasst wurde durch die Lage des Körpers mit nach unten ge¬
richtetem Kopfe, und der Tod bei venöser Blutüberfüllung in Folge
der durch das Aufrichten des Kopfes eintretenden arteriellen Blutleere
des Gehirns erfolgte, welche letztere die tödtliche Gehirnlähmung zur
Folge hatte. Indess weder die eine, noch die andere Anschauung
kann aus dem Obductionsprotokoll allein genügend begründet werden.
Befunde, wie sie unter No. 12 bis 19 des Obductionsprotokolls ver¬
zeichnet sind, trifft man häufig genug in den Leichen von Personen,
deren Todesart eine ganz verschiedene war, und ist es namentlich
nicht festzustellen, welchen Antheil an der grossen Blutüberfüllung
der venösen Gefässe und der Ausscheidung von' wässriger Flüssigkeit
die Senkung des Blutes nach dem Tode gehabt hat. Es ist deshalb
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Superarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation.
unstatthaft, aus einem sulchen Befunde ohne Weiteres den Schluss zu
ziehen, dass der Tod durch Schlagfluss oder Gehirnlähmung erfolgt
sei. Für die Ansicht des Königl. Medicinal-Collegiums aber, dass
eine Gehirnlähmung bei venöser Blutüberfüllung durch plötzliche ar¬
terielle Blutleere des Gehirns beim Acte des Aufrichtens des Körpers
erfolgt sei, finden sich in dem Obductionsprotokoll selbst keinerlei
thatsächliche Anhaltspunkte, es ist diese Behauptung vielmehr nur eine
Schlussfolgerung, welche aus der Gesehichtserzählung gezogen wird.
Ebensowenig wie über die Todesursache giebt das Obductions¬
protokoll Aufschluss über die Krankheit, an welcher Denatus gelitten
hatte; denn selbst angenommen, die Blutüberfüllung des Gehirns und
seiner Häute wäre bereits bei Lebzeiten vorhauden gewesen, so würde
niemals auch nur mit Wahrscheinlichkeit daraus ein Schluss auf ein
vorhanden gewesenes Delirium tremens gerechtfertigt sein, da weder
venöse, noch arterielle Blutüberfüllung als ein häufiger Befund bei
dieser Krankheit angesehen werden kann.
Da demnach aus den Leichenbefunden als solchen weder ent¬
nommen werden kann, dass ein Verstorbener an Delirium tremens
gelitten, noch dass der Tod an dieser Krankheit erfolgt ist, so muss
der Nachweis dafür wesentlich aus den während des Lebens beob¬
achteten Erscheinungen geführt werden.
Dass nun Denatus in der That von Delirium tremens befallen
war, ist bereits oben gesagt worden, und es erübrigt die Frage, ob
sich aus den während des Lebens beobachteten Thatsachen feststellen
lässt, dass er an dieser Krankheit gestorben, oder dass andere Um¬
stände den Tod bewirkten, welche eventuell auf die Schuld eines
Dritten zurückzuführen sind.
Die Ursache des oft plötzlichen Todes der an Delirium tremens
Erkrankten ist nicht ganz aufgeklärt; in einem grossen Theil der
Fälle bestand indess, wie sich aus der Beschaffenheit des Pulses,
kühlen Extremitäten, veränderter Farbe der Haut und der Schleim¬
häute u. s. w. folgern lässt, eine grosse Schwäche der Herzthätigkeit,
und wahrscheinlich ist es die plötzliche Lähmung der letzteren in
Folge der Gehirnerkrankung, welche den Tod zur Folge hat. Alle
Ursachen, welche geeignet sind, eine besondere Anstrengung der Herz¬
thätigkeit hervorzurufen, sind daher als schädliche Momente zu be¬
trachten und werden um so leichter als solche wirken, je mehr die
Kraft des Herzens bereits herabgesetzt ist. Unstatthaft ist es jedoch,
aus den mehr oder weniger kräftigen Bewegungsäusserungen des
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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge.
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Kranken einen Schluss auf die mehr oder weniger grosse Energie der
Herzthätigkeit zu ziehen, da beide keineswegs Hand in Hand gehen,
und ein plötzlicher Tod durch Lähmung der geschwächten Herzthätig¬
keit sogar mitten in der heftigsten tobsüchtigen Aufregung erfolgen
kann. Es beruht diese auffallende Erscheinung höchstwahrscheinlich
darauf, dass das Krankheitsgefühl durch die Delirien getrübt oder
aufgehoben ist, weshalb die in Wirklichkeit vorhandene Erschöpfung
von dem Kranken nicht wahrgenommen wird.
Von dem Denatus wird berichtet, dass er noch kurz vor seinem
Transport versuchte, einen schweren Stein aufzuheben, dann heisst es
wieder, dass er so stark zitterte, dass er gehalten werden musste,
und nicht im Stande war, allein zu gehen, ein anderes Mal, dass er
ruhig und anständig ging; jedenfalls steht fest, dass er noch zu gehen
und, hingefallen oder hingestossen, wieder aufzustehen vermochte,
wenngleich er Neigung hatte, sich zu ruhen und auch einmal äusserte,
dass er nicht mehr könne, man solle ihn doch in Ruhe lassen. Es
ist, wie gesagt, aus diesem Verhalten kein Schluss auf die grössere
oder geringere Intensität des krankhaften Zustandes, in welchem sich
Plang auf dem Transport befand, zu ziehen; aber der Zwang zu gehen,
das Wiederaufstehen nach dem Hinstürzen, die Stösse, die er angeb¬
lich erhalten haben soll, waren jedenfalls geeignet, eine grössere
Anstrengung der Herzthätigkeit und dadurch schnellere Erschöpfung
zu bewirken, wenngleich der Grad dieser Wirkung sich nicht ab¬
messen lässt.
Ausser dem durch Hinfallen, resp. Hinstossen und Wiederauf¬
stehen unterbrochenen Marsche wirkte noch ein Umstand ein, welchen
auch die vorhergehenden Gutachten specieller berücksichtigt haben:
es ist die Lage mit dem Kopfe nach abwärts, in welcher Denatus auf¬
gefunden wurde. Nach der Aussage des Ludwig lag er im Chaussee¬
graben mit dem Kopfe nach unten in einem Strauche und mit den
Beinen nach oben; nach dem Zeugen Tubbesin fassten ihn Brand
und Ufer Jeder an einen Arm und warfen ihn sodann in den Graben,
so dass er mit dem Kopfe in einen auf der anderen Seite des Grabens
wachsenden Dornstrauch flog. Aus keiner dieser Aussagen ist jedoch
zu entnehmen, welchen Winkel die Längsaxe des Körpers dos Denatus
mit der Horizontalen bildete; wenn man sich die Wände des Chaussee¬
grabens abgeschrägt denkt und den Kopf an der Grundlinie der
gegenüberliegenden Wand liegend, so würden die Füsse auf der der
Chaussee zunächst liegenden Wand des Grabens zu liegen gekommen
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Snperarbitrium der K. wissenschaftlichen Deputation,
sein und der Winkel würde etwa 45 0 betragen haben; dass die Lage
eine vollständig vertikale, mit dem Kopfe nach unten, gewesen sei,
ist nach der Beschreibung jedenfalls sehr unwahrscheinlich. Die Zeit,
welche Plang in dieser Lage zugebracht hat, lässt sich nur annähernd
bestimmen. Der Zeuge Tubbesin, welcher zugegen war, als Plang in
den Graben geworfen wurde, und sich sodann entfernt hatte, kehrte
nach etwa l / 4 Stunde an den Ort der That zurück und fand den Plang
bereits todt; als der Zeuge Ludwig in den Graben sprang, um den
Plang aus seiner Lage zu befreien, lebte dieser noch, redete ihn an,
zitterte aber an allen Gliedern, so dass man glauben konnte, er läge
in Krämpfen, wobei er jammerte und stöhnte; nach ungelähr 5 Mi¬
nuten wurde er ruhig und, als nun Licht gemacht wurde, fand man,
dass er eine Leiche war. Vergleicht man diese beiden Zeitangaben,
so folgt daraus, ihre Richtigkeit vorausgesetzt, dass Plang etwa
10 Minuten mit dem Kopfe nach abwärts im Graben zugebracht hat.
Eine solche Lage und von der genannten Dauer ist nun nicht ohne
Weiteres mit Gefahren für das Leben verknüpft, zumal wenn man
berücksichtigt, dass es sich sicherlich nicht um eine vollständig
vertikale Position des Körpers gehandelt hat; aber selbst ein voll¬
kommen vertikales Herabhängen des Kopfes kann erfahrungsgemäss
während sehr viel längerer Zeit ohne Nachtheil vertragen werdeD.
Als Beweis dafür können u. a. die Fälle von chirurgischen Operationen
gelten, welche bei herabhängendem Kopfe ausgeführt werden, und bei
denen derselbe zuweilen stundenlang in dieser Position verbleibt;
es tritt dabei allerdings eine starke Schwellung der äusseren Be¬
deckungen des Kopfes auf und die Augen bekommen das Aussehen
von Glotzaugen, indess verschwinden diese Erscheinungen bald wieder
nach dem Wiederaufrichten am Ende der Operation und sind von
keinen Nachtheilen für den Operirten begleitet. Allerdings handelt
es sich hier nicht um Delirium-tremens-Kranke, überhaupt nicht um
Kranke, welche an einer Störung der Hirnthätigheit leiden, so dass
aus der Unschädlichkeit der geschilderten Methode in den genannten
Fällen noch nicht folgt, dass auch bei Deliriura-tremens-Kranken das
längere Tieferstehen des Kopfes ohne Nachtheil ist. Indess ist auf
der anderen Seite zu erwägen, dass bei den genannten Operationen
die Chloroformnarkose, und zwar auch zuweilen stundenlang, ange¬
wendet wird und zwar gleichfalls ohne Nachtheile; man sieht also,
dass selbst dann, wenn durch eine eingeführte fremde Substanz eine
so erhebliche Modification der Gehirnthätigkeit erzeugt wird, wie sie
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betreffend Körperverletzung mit tödtlichem Erfolge.
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bei der Chloroformnarkose statthat, und zwar durch eine Substanz,
welche die Herzthätigkeit nachtheilig zu beeinflussen vermag, die
Gehirnfunctionen dennoch durch das Herabhängen des Kopfes in keiner
Weise geschädigt, geschweige denn gelähmt werden. Aus diesen That-
sachen ergiebt sich, dass man keineswegs von vornherein annehmen
darf, dass bei einem Deliriura-tremens-Kranken die Lage mit dem
Kopfe nach abwärts schädlich wirken oder gar den Tod zur Folge
haben müsse. Der Kopf des p. Plang lag aber, wie wir ausgeführt
haben, nicht einmal vertikal nach abwärts, sondern höchst wahrschein¬
lich in einer schrägen Stellung und nur während relativ sehr kurzer
Zeit, so dass noch viel weniger Grund vorhanden ist, dieser Lage
einen besonders schädlichen Einfluss zuzuschreiben; auch liegt uns —
da es beim Aufrichten des Mannes dunkel war — keine Schilderung
des Aussehens seines Gesichts vor, aus der man schliessen könnte,
dass die Erscheinungen, wie man sie bei vertikal nach abwärts ge¬
richtetem Kopfe wahrnimmt, vorhanden gewesen seien. Endlich ist
noch hervorzuheben, dass der Tod des Denatus gar nicht in dieser
Lage erfolgte, er auch nicht einmal das Bewusstsein während der¬
selben verloren hatte, da er an den Zeugen Ludwig die Bitte richtete,
ihn mit dem Kopfe hochzulegen; erst etwa 5 Minuten später erfolgte
der Tod. Hieraus ergiebt sich weiterhin, dass auch die Annahme des
Königl. Medicinal-Collegiums, der Tod habe seinen Grund in der durch
das Aufrichten des Kopfes eintretenden arteriellen Blutleere gehabt,
welche letztere die tödtliche Gehirnlähraung hervorgebracht habe, nicht
zutreffend ist, denn der Tod erfolgte nicht plötzlich beim Auf¬
richten, sondern Denatus zitterte nach demselben (wie schon vorher)
an allen Gliedern, so dass man glauben konnte, er läge in Krämpfen,
wobei er jammerte und stöhnte; erst nach 5 Minuten wurde er —
beim Eintritt des Todes — ruhig.
Wenn nun auch weder nachgewiesen werden kann, dass die Lage
des Denatus im Chausseegraben, noch dass der Transport als solcher
oder die dabei angeblich stattgehabten Misshandlungen den Tod des¬
selben bewirkt haben, so ist doch auf der anderen Seite hervorzu¬
heben, dass das Verfahren, welches bei dem Transport befolgt wurde,
ein unzweckmässiges war. Es wäre erforderlich gewesen, einen Arzt
zu requiriren und dessen Gutachten über die Zulässigkeit des Trans¬
ports, eventuell die Art desselben einzuholen. Der dem Plang auf¬
gezwungene Marsch, die offenbar versuchte Beschleunigung desselben
VierteljabrsBchr. f. ger. Med. N. F. XLIV. I .)
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1 8 Snperarbitriura der K. wissenschaftlichen Deputation.
durch die Transporteure Brand und Ufer, die Anstrengungen, welche
mit dem wiederholten Aufstehen nach dem Niederfallen für den
Kranken verbunden waren, waren geeignet, seine Muskelkraft und
namentlich die Kraft des Herzens in hohem Grade in Anspruch zu
nehmen, und müssen jedenfalls als eine Schädlichkeit aufgefasst
werden. Es ist daher die Möglichkeit nicht auszuschliessen, dass
durch den Transport zu Fusse und die Behandlung bei demselben
eine Schädlichkeit eingeführt wurde, die geeignet war, die Herzthätig-
keit des Plang schneller zu erschöpfen, als es sonst der Fall gewesen
sein würde. Aber diese Möglichkeit zugegeben, so liegen nichtsdesto¬
weniger keine Thatsachen vor, welche zu beweisen vermöchten, dass
in der That durch den unzweckmässigen Transport und die dabei
vorgekommenen Umstände der Tod des Denatus hervorgebracht wäre,
denn es ist immer festzuhalten, dass der Tod in Fällen von Delirium
tremens, analog dem vorliegenden, nicht selten bei der zweckmäßig¬
sten Pflege und unter den denkbar günstigsten Umständen unerwartet
und plötzlich eintritt.
Wir geben daher unser Gutachten dahin ab:
1) Es lässt sich nicht erweisen, dass der Tod des p. Plang auf
die Schuld eines Dritten bei der Einleitung des Transports
von Altenessen nach Essen oder auf die Behandlung während
des Transports und Aussetzung im Sinne des §. 221 Str.-G.-B.
zurückzuführen ist.
2) Der Tod ist wahrscheinlich in Folgo des Delirium tremens
erfolgt.
Berlin, den 5. März 1884.
bv Google
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2 .
Ein Entmfindigungsfall.
Von
Dr. von Ludwiger zu Plagwitz.
In der Häusler Joh. Fr. Jos. MenzePschen Entmündigungssache
von Ober-Harpersdorf hatten sich die Unterzeichneten heute hier in
die Provinzial-lrrenanstalt begeben, um in Folge Ersuchens des Königl.
Amtsgerichts zu Goldberg vom 11. December d. J. den zu Entmün¬
digenden, sowie den Sachverständigen gemäss §. 598 der Civil-Prozess-
Ordnung zu vernehmen.
Die vorgeführte Mannesperson wurde als der Häusler Joh. Fr.
Jos. M. aus Ober-Harpersdorf, Kreis Goldberg, recognoscirt.
Mit dem etc. M. wurde nunmehr folgende Unterhaltung geführt:
Wie heissen Sie?
Wo sind Sie geboren?
Wie heisst der Landrath des Gold¬
berger Kreises?
Wer ist Amtsvorsteher in Harpers¬
dorf?
Wissen Sie, weshalb Sie heute ver¬
nommen werden?
Ist Ihnen der Ortsvorstand feindlich?
Weswegen hat Sie der Ortsvorstand
hierher gebracht?
Sind Sie schon einmal ärztlich unter¬
sucht worden?
Was ist dies für eine Anstalt hier?
Sie sind doch aber ganz bei Ver¬
stände?
Sie müssen aber doch früher krank
gewesen sein?
Sind Sie da ohnmächtig geworden ?
Haben Sie gerast?
Johann Franz Joseph Menzel.
In Ober-Harpersdorf. Kr. Goldberg.
Das kann ich nicht sagen, — ich
weiss nicht, wie der jetzige Herr Land¬
rath heisst.
Der Hauptmann von Kampts, Domi¬
nium Nieder-Harpersdorf.
Ich weiss es nicht, es wird wol we¬
gen meines Leidens sein, wegen wel¬
chem ich von dem Ortsvorstande hier¬
hergebracht worden bin.
Nein.
Ich soll noch einmal ärztlich unter¬
sucht werden, hat er mir gesagt.
Ich bin schon einmal hier gewesen,
es sind 2 oder 3 Jahre her.
Eine Irren-Anstalt.
Ja wohl.
Ich habe an Krämpfen gelitten.
Ja.
Meine Frau, welche stets um mich
war, hat mir gesagt, dass ich gerast
habe, nur in die Zunge habe ich mich
gebissen.
2 *
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UMIVERSITY OF IOWA
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20
Dr. v. Ludwiger,
Haben Sie dabei etwas zerschlagen? Das müssen die wissen, welche in
meiner Umgebung waren.
Sind Sie jähzornig? Nein.
Wie leben Sie mit Ihrer Frau? Ganz gut; sie hat mich schon 2 Mal
besucht, während ich hier bin.
Will Ihre Frau haben, dass Sie für Ich glaube es nicht,
blödsinnig erklärt werden sollen?
Man muss Sie doch in dem Dorfe Das glaube ich nicht, denn ich bin
für blödsinnig gehalten haben? den ganzen Sommer auf Arbeit ge¬
gangen und dann müsste mich doch
der Gutsbesitzer, bei welchem ich ge¬
arbeitet habe, fortgeschickt haben.
Wann hatten Sie denn den letzten Das kann ich nicht sagen. Das muss
Krampfanfall? meine Umgebung wissen.
Haben Sie sich nicht nach den Bisweilen habe ich im Bett liegen
Krampfanfällen krank gefühlt? müssen, bin aber grösstentheils den
andern Tag auf Arbeit gegangen.
Trinken Sie Schnaps? Ja, bei der Arbeit oder in der Gesell¬
schaft, aus Gewohnheit aber nicht.
Können Sie lesen? Ja. (Es wurden ihm einige, nicht
leicht verständliche Stellen zum Lesen
vorgelegt. Er las dieselben sehr fliessend, desgleichen die in denselben vorkom¬
menden zahlreichen Fremdwörter; über den Sinn des Gelesenen befragt, konnte
er denselben, wie sich das nicht besser von seinem Bildungsgrad erwarten liess,
wiedergeben.)
Es wurde hierauf mit dem Fragen seitens des Richters abge¬
brochen und dem Herrn Dr. von Ludwiger das Wort ertheilt.
Sind Sie überhaupt einmal geistes- Das war damals, als ich einen An-
gestört gewesen? fall von Tobsucht batte.
Nun, wann war das? Die Zeit kann ich nicht mehr an¬
geben, das müssen die wissen, welche
in meiner Umgebung gewesen sind.
WissenSie noch, an welchem Tage Sie Ja wohl, es war am vergangenen
Ihre Frau zum letzton Mal besucht hat? Sonnabend, am 27. d. Mts.
Es wird darauf hingewiesen auf die Mittheilungen, welche seine Frau bei
ihrem Besuche über seine Krankheit hier gemacht hat, insbesondere dass er im
Herbst 1883, nachdem er sich vorher betrunken, in Tobsucht gerathen, und dass
diese Tobsucht mit zeitweiligen Nachlässen bis zum Frühjahr 1884 gedauert.
Auf die Frage, ob er dies noch wisse, erwidert er:
Es ist mir noch dunkel in der Erinnerung, aber etwas Sicheres kann
ich darüber nicht sagen. Ich kann mich auf die ganze Zeit nicht be¬
sinnen und weiss nur, dass ich den ganzen Winter über zu Hause ge¬
blieben bin.
Könnte die Frau in dieser Beziehung Das glaube ich nicht, dass sie wird
wol etwas Falsches angegeben haben? mit der Unwahrheit umgegangen sein.
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Ein Entmündigungsfall.
21
Sie sollen damals sich ganz nackt
ausgekleidet und gesagt haben, sie
seien nackt auf die Welt gekommen
und wollten auch jetzt so gehen ?
Haben Sie damals Wärter gehabt?
Haben Sie damals Stimmen gehört
oder Gestalten gesehen?
Ist Ihnen denn jetzt so etwas vor¬
gekommen?
Hat das Schnapstrinken bei Ihnen
Einfluss auf die Krämpfe gehabt?
In welcher Provinz leben Sie hier?
Zu welchem Staate gehört Schlesien?
Seit welchem Jahre besteht denn das
Deutsche Reich?
Was hat Preussen in jüngster Zeit
für Kriege geführt?
Und was kam dann für ein Krieg?
Und zuletzt?
Wie viel Erdtheile giebt es?
Wo sind Sie in die Schule ge¬
gangen ?
Können Sie noch gut rechnen?
Wie viel ist 15 -J- 12 ?
Wenn Sie von 30 vierzehn abziehen,
wie viel bleibt?
Wie viel ist 5X12?
Wie viel ist 7X13?
Wozu sind die Gerichte im preussi-
schen Staate? Was haben wir für Ge¬
richte?
Wie heissen sie jetzt?
Wozu sind die Gerichte?
Was hat denn der Herr Staatsanwalt
zu thun?
Und der Rechtsanwalt?
Wozu sind die Schulen?
Welcher Roligion gehören Sie an?
Wie viel Gebote giebt es?
Das kann ich auch nicht so genau
sagen, es ist mir so dunkel.
Das weiss ich auch nicht mehr genau
anzugeben.
Das kann ich auch nicht genau sa¬
gen, das müssen die wissen, welche da¬
mals in meiner Umgebung gewesen sind.
Nein.
Das glaube ich nicht, weil ich nie
so viel Schnaps getrunken habe.
In der Provinz Schlesien.
Zum preussischen Staat und Deut¬
schen Reiche.
Seit dem Jahre 1871; seit dem
letzten Feldzuge.
1864; war es nicht gegen Schles¬
wig-Holstein?
1866 gegen den Kaiser von Oestreich.
Gegen Frankreich.
Fünf: Europa, Asien, Afrika, Ame¬
rika und Australien oder Neuholland.
In Harpersdorf beim Cantor Kügler,
dann noch bei einem zweiten Lehrer nach
dem Tode des Kügler, dessen Namen
ich jedoch nicht mehr angeben kann.
Ja wohl.
27.
16.
60.
91.
Königliche Kreis-Gerichte.
Amts-Gerichte.
Zur Verhandlung von Streitigkeiten.
Die Klagen nach dem Gesetz zu ver¬
handeln.
Zur Vertretung des Klägors oder des
Verklagten.
’ -UrA den"Kindern das Lesen. Schrei¬
ben , urtd:R?'chnen 'ziT t ei neiig °
Der katholischon. ’ •
Zehn. ■ \
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UNIVERSIT7 OF IOWA
22
Dr. v. Ludwiger.
Hierauf erklärte Herr Dr. von Ludwiger Folgendes:
„Der Tagarbeiter Franz Menzel aus Ober-Harpersdorf, katholisch. 37 Jahro
alt, seit dem 11. November 1884 der hiesigen Anstalt anvertraut, ist zwar auch
hier wiederholt von epileptischen Krampfanfällen und Zuständen leichter Benom¬
menheit heimgesucht worden. Indessen hat er sich gern bei den hiesigen wirt¬
schaftlichen Arbeiten betheiligt, keinerlei Störungen verursacht und auffälligere
Zeichen von Geistesstörung nicht dargeboten. Auch im heutigen Termin zeigte
er ein durchaus angemessenes Verhalten, beantwortete die an ihn gerichteten
Fragen im Allgemeinen zutreffend und erschien hauptsächlich nur insofern auf¬
fällig, als er von der ganzen Zeit seiner tobsüchtigen Erregtheit eine nur sehr
dunkele Erinnerung besass, und insofern er andererseits, wie auch bei andern
Gelegenheiten schon, der Wahrheit entgegen behauptete. dass er schon früher
einmal hier gewesen sei.
Der vorliegende Fall macht demnach bezüglich seiner forensischen Beur-
theilung besondere Schwierigkeiten, so dass ich davon Abstand nehme, schon
heute ein motivirtes Gutachten abzugeben.
Ich bin indessen bereit, ein solches später zu erstatten, und bitte für den
Fall um Zustellung der Acten.“
Plagwitz, den 29. December 1884.
M .... G .. ..
Aerztliches Gutachten
über den Geisteszustand des am 29. December v. J. gerichtlich
explorirten Häuslers Franz Menzel aus Ober-Harpersdorf.
Der Häusler und Tagearbeiter Franz Menzel aus Ober-Harpersdorf im Kreise
Goldberg, seit dem 11. November v. J. der Pflege der hiesigen Anstalt anver¬
traut, ist ein 38 Jahre alter Mann von hoher und breiter Statur, von kräftiger
Musculatur und gutem Ernährungszustände. An der weissen Haut zeigen sich
hie und da einige weisse Narben, über deren Herkunft Nichts zu ermitteln ist.
Puls und Hauttemperatur verhalten sich normal. Das Körpergewicht, welohes
bei der Aufnahme 128 Pfd. betrug, war bis zum 31. v. Mts. bis auf 140 Pfd.
gestiegen.
Der etwas kleine Kopf hat, wie das volle Gesicht, eine mehr rundliche Form
und ist mit dunkelblonden Haaren dicht besetzt. Das Gesicht ist stark geröthet,
nicht selten ebenso wie die grossen Ohrmuscheln etwas bläulich verfärbt und hat
derbe Züge, aber einen geweckten Ausdruck und ein lebhaftes Mienenspiel. Die
blauen Augen reagiren ziemlich gut auf Lichtreiz; die Bindehäute sind lebhaft
geröthet, und das ganze Gesicht hat oft ein leicht gedunsenes Aussehen, so
dass der Blutumlauf am Kopfe nicht ganz regelmässig von Statten geht. Die
Zunge zittert ziemlich^ sta&.und lässt.an ihren Rändern einige tiefere Narben
.*erkeijtfeh!l *.D»e*t5ftitzähne*«ipd.*£Bli jfefect. die vorderen Zähne dagegen noch
V : galten-/ .
I)$r, Hal3;ts£etwa§*ffuke und voll, aber frei von Kropfbildung. Der Brust-
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G<i-gfe\
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Ein Enlmündiguogsfall.
23
kästen ist gut gewölbt, und an den Organen der Brnst und des Leibes sind auf¬
fälligere Abnormitäten nicht nachweisbar. Die Geschlechtsorgane sind im Ver-
hältniss zu dem athletischen Körper nur massig entwickelt. Die Hände sind
gross und ist die Haut daselbst ebenfalls meist bläulich verfärbt.
Das subjective Befinden ist vollkommen befriedigend, und die Körper¬
functionen laufen, abgesehen von den auch jetzt noch mitunter aufgetretenen
Krämpfen, allem Anschein nach im Allgemeinen regelmässig ab. —
Johann Joseph Franz Menzel, am 26. Januar 1847 zu Ober-Harpersdorf
geboren, katholischer Religion, gehört einer Familie an, für welche eine Dispo¬
sition zu Geistes- und Nervenkrankheiten nicht nachweisbar ist. Sein Vater, ein
Tagearbeiter, soll im Herbst 1872 an den Pocken, die Mutter im Frühjahr 1874
an Lungen- und Rippenfellentzündung gestorben sein. Ein Bruder soll todt ge¬
boren, zwei andere Geschwister sollen in den ersten Lebensjahren dem Tode
verfallen sein, so dass Franz, das drittgeborene, als einziges Kind der Eltern
aufwuchs.
Seine körperliche und geistige Entwickelung ist allem Anschein nach gut
von Statten gegangen, und will er von grösseren Krankheiten verschont geblieben
sein. Nach der Confirmation hat er zuerst in Harpersdorf und dann auf verschie¬
denen Bauergütern als Hütejunge, als Kuhhirt, als Kleinknecht nnd als Knecht,
meist an jeder Stelle ein Jahr lang und zur Zufriedenheit seines jedesmaligen
Lohnherrn, gedient. Im December 1869 wurde er bei dem Königs-Grenadier-
Regiment in Liegnitz eingestellt, hat mit demselben im französisch-deutschen
Kriege an den Schlachten bei Weissenburg, bei Wörth und bei Sedan, wie an
der Belagerung von Paris und an dem Siegeseinzuge in Berlin theilgenommen,
und darauf bis zum Tode seines Vaters im Herbst 1872 wieder als Knecht ge¬
dient. Seitdem lebte er bei der Mutter in Harpersdorf, wie der Vater von Tage¬
arbeit sich ernährend, heirathete, nachdem die Mutter im Frühjahr gestorben,
am 1. September 1874 seine jetzige Frau und hat auch in diesem Stande durch
Tagearbeit für sich und die Seinen den nöthigen Unterhalt erworben, was ihm
niobt schwer wurde, da seiner Ehe nur eine, 1876 geborene Tochter entsprossen
ist. Mit seiner Frau soll er zwar mitunter in Streit gerathen, im Allgemeinen
aber doch ganz gut ausgekommen sein. Nach deren Angaben hat er immer gern
Schnaps getrunken und sich auch zuweilen berauscht, ist aber doch kein eigent¬
licher Säufer und überhaupt keiner Leidenschaft in höherem Grade ergeben
gewesen.
Einige Wochen nach der Verheirathung, im October 1874, nachdem er
wieder einmal sinnlos betrunken und sehr aufgeregt gewesen, seien in der Nacht
zum ersten Male epileptische Krämpfe bei ihm ausgebrochen, so dass die An¬
nahme seiner Frau, wonaoh lediglich in dem übermässigen Genüsse von Brannt¬
wein die Ursache für deren Entstehung gegeben sein dürfte, allerdings wohl
hegrÜDdet erscheint. Die folgenden 3 Monate sei er, wie vordem, ganz gesund
gewesen, alsdann hätten sich aber die Krämpfe wiederholt und seitdem seien sio
etwa alle 3—4 Wochen, und zwar meist nur in der Nacht und jedesmal in etwa
einstündlichen Pausen 3—4 mal hintereinander, wiedergekehrt. Auch hierbei
habe der üble Einfluss des Branntweins sich deutlich zu erkennen gegeben, in¬
sofern jeder stärkere Rausch von epileplisohen Krämpfen gefolgt gewesen sei und
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UNIVERSITÄT OF IOWA
24
Dr. v. Ludwiger.
insofern letztere jedesmal häufiger und stärker in den Zeiten grösseren Brannt¬
weingenusses aufgetreten seien. Seine Arbeiten hätte er trotzdem wahrgenommen
und sie nur selten einmal, wenn er von den Krämpfen sehr mitgenommen worden,
auf kurze Zeit ausgesetzt. Manchmal nämlich seien die Anfälle mit nur sehr
gelinden und kaum bemerkbaren, zu anderen Zeiten dagegen mit sehr stürmi¬
schen Erscheinungen, mit dem Ausslossen eines lauten Schreies, mit heftigen
allgemeinen Gonvulsionen, mit dem Hervorsprudeln reichlichen, oft blutigen
Schaumes vor dem Munde und mit lautem Schnarchen am Ende eines Anfalles
verlaufen. Er selbst habe weder von alledem, noch auch von den etwaigen
sonstigen Vorgängen in seiner Umgebung Bewusstsein gehabt; oft habe er nach
einer so mehrfach gestörten Nacht am anderen Morgen nur aus der Anschwellung
und den Verletzungen der Zunge, die er sehr häufig im Krampfe sich zerbeisse,
aus den Kopf- und Gliederschmerzen und aus dem Gefühle allgemeiner Mattigkeit
und Zerschlagenheit geschlossen, dass er wol wieder von Krämpfen müsse heim¬
gesucht worden sein.
Die ersten Zeichen von Geistesstörung seien erst am 8. October 1883, und
zwar wieder in engem Anschlüsse an einen starken Alkoholexcess, an ihm beob¬
achtet worden. Menzel hatte die Arbeitsstätte verlassen und in Gesellschaft des
Dorfbarbiers an Branntwein sich vollständig betrunken. Die suchende Frau fand
ihn gegen Abend halb erstarrt im Mühlengraben liegend, und nur mit grosser
Mühe gelang es ihr, ihn aus dem Wasser, das sich in seinen grossen Ueberrock
hineingesogen hatte, heraus- und auf die Beine zu bringen. Kurz vor seiner
Wohnung war ein schmaler Steg über einen ziemlich breiten und tiefen Graben
zu passiren, und dort fiel er, ausgleitend und die Frau mitreissend, von Neuem
in’s Wasser, aus welchem er sich jedoch schnell herausmachte. Er sah nun sehr
verstört aus, sprach viel durcheinander und die Verwirrtheit und Erregtheit
nahm, als sie nach Hause gekommen waren, mehr und mehr überhand. Obwohl
er wahrscheinlich längere Zeit im Wasser gelegen hatte und dort sehr abgekühlt
worden war, so mochte er doch weder eine ihm gebotene warme Suppe gemessen,
noch auch das Bett aufsuchen. Die nassen Kleidungsstücke legte er zwar endlich
ab, blieb aber völlig nackend und lief anch nackend im Hause und zu anderen
dort wohnenden Frauenzimmern herum, äussernd, dass er nackend auf die Welt
gekommen sei und fortan keiner Kleider mehr bedürfe. Auch die Frau sollte
sich nackend ausziehen, und riss er ihr die meisten Kleidungsstücke vom Leibe.
Darauf erging er sich in vielen Schimpf- und Drohreden, sprach viel mit dem
Tode und Teufel, deren Gestalten er hinter und neben sich zu sehen und deren
Stimmen er zu hören meinte, wiederholte mehrmals, dass er genau um 12 Uhr
in der Nacht sterben oder sich umbringen müsse, traf Anstalten dazu, genau die
Uhr beobachtend, brüllte allerhand verkehrtes Zeug zum Kammerfenster in die
Nacht hinaus, stimmte zwischendurch religiöse Lieder an und war die ganze
Nacht hindurch in fortwährender Bewegung und Erregtheit. Da er auoh am
folgenden Tage so fortwirtbschaftete, so wurden ihm 2 Wächter von der Gemeinde
gestellt, und da auch dann keine Ruhe eintrat, sein Verhalten vielmehr von da
ab den ganzen Winter hindurch bis tief in den Frühling hinein ein mehr oder
minder verwirrtes und tobsüchtiges blieb, so ist er die ganze Zeit hindurch über¬
wacht und zeitweilig, wenn er zu ungestüm und rücksichtslos gegen die Frau
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UMIVERSITY OF IOWA
Ein Entmündigungsfall.
25
und die Wärter losbracb, mit der Zwangsjacke belegt worden. Es wechselten so
fortwährend mehr oder minder erregte Perioden miteinander ab, dazwischen auf¬
tretende Krämpfe hatten auf das Gesammtverhalten keinen nachhaltigeren Einfluss
und erst im Juni 1884 kehrte etwas mehr Ruhe und Sammlung zurück, so dass
er seitdem auch wieder an Feldarbeiten theilnehmen konnte; indessen war er
häufig dabei doch so zerstreut und benommen, dass er einer speciellen Ueber-
wachung bedurfte, weil er sonst leicht unbeabsichtigte oder unzweckmässige
Arbeiten ausgeführt hätte. Die Krämpfe wiederholten sich noch ebenso wie vor¬
dem, alle 3—4 Wochen und zwar meist Nachts, ja mehrere Male hintereinander.
So ging es bis zum 11. November v. J., an welchem Tage endlich die schon
lange vorher vorbereitete Aufnahme in die hiesige Anstalt ausgeführt werden
konnte. Man hatte ihm gesagt, dass er seiner Krämpfe wegen noch einmal eine
gründliche Kur gebrauchen müsse, und war er mit seiner Aufnahme ganz ein¬
verstanden. Er verhielt sich ruhig und angemessen, schlief die erste Nacht ganz
ungestört und wurde schon am nächsten Tage zu einigen Arbeiten zugelassen.
Da er sich auch bei der Arbeit verständig benahm und sich auch in der Folge
immer gern beschäftigen mochte, so konnte er seitdem zu mancherlei Thätig-
keiten im Hause und im Garten verwandt werden und hat sich dabei meist eifrig
und geschickt erwiesen. Nur hin und wieder einmal, wenn er Nachts von
Krämpfen ergriffen worden, Morgens mehr wie sonst benommen war und dann
auoh über Kopfschmerzen und Müdigkeit klagte, blieb er davon fern oder be¬
schäftigte sich nur mit Federnreissen. Seine Körperpflege besorgte er selbständig
und hielt sich in seinem Aeussern und in seiner Kleidung sauber und ordentlich.
Gegen die Wärter und seine Umgebung beobachtete er fortgesetzt ein ange¬
messenes und freundliches Benehmen. Sehr bald stellten sich auch hier seine
Krämpfe ein; indessen wurden ihm, um zunächst seine Krankheit zu studiren,
im November und December noch keine Krampfmittel verabreicht.
In der Naoht vom 15./16. November kamen die ersten beiden Krampf¬
anfälle zur Beobachtung und sind denselben bis zum Ende des Monats noch 7
und ebenso viele im December nachgefolgt. Sämmtliche Anfälle traten in der
Nacht, nicht selten kurz nachdem er sich niedergelegt hatte, auf, und zwar:
in der Naoht
vom
15.
zum
16.
November:
2 Anfälle,
-
-
-
16.
-
17.
-
1 Anfall,
-
-
-
22.
-
23.
-
1 -
-
-
-
24.
-
25.
-
1
-
-
-
25.
-
26.
-
1 -
-
-
-
26.
-
27.
-
1 -
-
-
•
27.
-
28.
-
2 Anfälle,
im
November:
9 Anfälle;
in
der Nacht
vom
5.
zum
6.
December:
1 Anfall,
-
-
-
16.
-
17.
-
2 Anfälle,
-
-
-
17.
-
18.
-
1 Anfall,
-
-
-
19.
-
20.
-
1
-
-
-
26.
-
27.
-
1
-
-
-
29.
-
30.
-
1
im !
December:
7 Anfälle.
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I)r. v. Ludwiger,
2 ß
Diese Anfälle sollen nach Schilderung der in demselben Saale schlafenden
Wärter, denen nach Lage der Umstände übrigens einzelne leicht entgangen sein
können, meist unter ganz gleichen Erscheinungen abgelaufen sein: nachdem der
Kranke schnell einige unverständliche Worte vor sich hin gesprochen, pflege sich
der Körper zu strecken, die Gliedor würden ganz steif und erst, nachdem die
Starrheit einige Minuten angehalten, kehre die natürliche Spannung der Muskeln
zurück. Hierauf folge gewöhnlich ein Husten oder Singen und Pfeifen, das nur
kurze Zeit dauere, und werde dann, nachdem auf diese Weise der Anfall beendet,
der unterbrochene Schlaf, häufig zunächst unter schnarchender Respiration, fort¬
gesetzt. Ein lautes Aufschreien beim Beginn des Anfalles oder ein wildes Umher¬
schlagen mit Armen und Beinen, wie meistens bei Epileptischen, ist bei ihm hier
nicht beobachtet worden; der Krampf trat bei ihm also als tonischer auf, während
derselbe bei der Mehrzahl der Epileptischen zuerst einen clonischen Charakter
besitzt und erst gegen das Ende mehr tonisch wird. Dagegen wurde auch bei
ihm häufig das Hervorsprudeln von Schaum aus dem Munde, ein Zerbeissen der
Zunge, eine Behinderung der Respiration und die charakteristische Aufhebung
des Bewusstseins, resp. eine dementsprechende Lücke des Gedächtnisses für die
ganze Zeit des Anfalles beobachtet. Auch Hessen sich hier weiterhin die gewöhn¬
lichen und auch schon von der Frau wahrgenommenen Nachwirkungen stärkerer
oder in gehäufter Zahl erschienener Anfälle constatiren. So hat der Oberwärter
hiesiger Anstalt wiederholt hervorgehoben, dass Menzel in den frühen Morgen¬
stunden oft mehr oder minder benommen, zerstreut und vergesslich, gleich wie
Jemand, der eben erst aus festem Schlafe aufgeweckt worden, ihm erschienen sei,
und diese Dämmerzustände waren um so stärker ausgeprägt, je mehr die Nächte
gestört gewesen. Am 26. November früh klagte der Kranke selbst zuerst über
heftige Kopfschmerzen und am 27. früh, nachdem die Nacht wieder durch einen
Anfall unterbrochen worden, fühlte er sich so angegriffen, dass er auf sein Bitten
von der Arbeit auf der Krankenabtheilung zurückgelassen wurde. In diesen Zu¬
ständen sprach er langsamer, antwortete oft nach wiederholtem Befragen und
konnte sich nur schwer und unvollständig auf Dinge besinnen, die ihm sonst
ganz geläufig waren. Im Laufe des Tages klärte sich sein Bewusstsein zunehmend
auf, und erschien er alsdann weit theilnehmender, geistesfrischer und gedächtniss-
kräftiger. Seit Januar d. J. gebraucht er regelmässig das jetzt am meisten gegen
Epilepsie empfohlene Mittel (Natr. brornat.) und ist seitdem bis heute (den
22. Februar 1885) nur noch 2 Male, nämlich in der Nacht vom 1. zum 2. und
vom 11. zum 12. Januar, von je einem Anfalle ergriffen worden; auch schien
sein Bewusstsein seitdem im Ganzen etwas freier zu sein, wenngleich dasselbe
auch jetzt noch immer in den frühen Morgenstunden leicht umwölkt zu sein
scheint. — Dreimal hatte er Besuch von seiner Frau, am 23. November, am
27. December und am 9. d. Mts. (Februar). Jedesmal brachte die Frau ihm
mancherlei Erfrischungen mit und zeigte rege Theilnahme für sein Ergehen,
während er bei diesen Besuchon sich auffallend kalt und interessenlos benahm.
Er fragte nur ganz oberflächlich nach dem Befinden seiner Tochter, äusserte, dass
er es hier sehr gut hätte und gern für immer hier bleiben möchte, wenn er nur
etwas Lohn erhielte; wandte sich von der Frau immer bald mit allerhand gleich¬
gültigen Bemerkungen an den Oberwärter, schien mit Ungeduld ihre Ver-
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UNIVERSUM OF IOWA
Ein Entmündigungsfall.
27
abschiedung za erwarten und meinte, als letztere unter vielen Thränen sieb ent¬
fernte, unter Hinweis auf die von ihr mitgebrachten Esswaaren und Erfrischungen
heiter lachend zum Oberwärter, dass man hier ja nicht verderben könne, — in
einer Weise, als ob die Thränen der Frau nicht den geringsten Eindruck auf ihn
gemacht hätten, als ob deren Traurigkeit ihm ganz unerklärlich oder gleich¬
gültig wäre. — Uebrigens hat er die der Frau gegenüber gemachte Aeusserung,
wonach er auch mit einem dauernden Aufenthalte in der Anstalt ganz zufrieden
wäre, falls er nur Lohn erhalten möchte, auch sonst oft genug wiederholt und
deutlich zu erkennen gegeben, dass er sich in der Anstalt hier sehr wohl fühle.
Nur einmal, nämlich am 7. December, sprach er dem Wärter llemp gegenüber
mit einer gewissen unwilligen Erregtheit über seine Zurückhaltung hierselbst,
behauptete, dass es geradezu keine Gerechtigkeit mehr geben würde, wenn man
ihn nicht bald entliesse, und dass seine Entlassung sofort würde herbeigeführt
werden, wenn er nur einmal mit Sr. Majestät, dem Kaiser, persönlich sprechen
könnte. Dieser Unrnuth ging indessen bald vorüber und am nächsten Tage
schien er kaum mehr eine Rückerinnerung davon zu besitzen.
Am 29. December pr. wurde er, nachdem aus diesem Anlass allerdings
schon vorher fast über dieselben Gegenstände wiederholte und eingehende Unter¬
haltungen mit ihm geführt worden waren, gerichtlich explorirt. Er nahm an.
dass in diesem Termine über seine Entlassung oder über seinen Verbleib in der
Anstalt entschieden werden würde, und wollte beweisen, dass er zur Zeit geistig
ganz gesund sei. Seine Aufmerksamkeit war demnach eine recht gespannte, und
es machte ihm sichtlich grosses Vergnügen, wenn er die einzelnen Fragen mög¬
lichst schnell und zutreffend beantworten konnte, wie auch aus der freudigen
Zufriedenheit hervorgeht, die er nach Beendigung des Colloquiums seinen Wärtern
und verschiedenen Personen seiner Krankenabtheilung gegenüber in Bezug auf
den glücklichen Ausfall des überstandenen Examens bekundete. Und hiermit
stimmte ja auch die Wirklichkeit im Grossen und Ganzen überein und wesentlich
nur nach zwei Richtungen hin gaben sich auffallende geistige Abnormitäten, die
übrigens schon vielfach hier beobachtet worden waren, an ihm zu erkennen:
einmal seine gänzliche Unfähigkeit, nicht blos über seine Krämpfe, sondern auch
über jene lange, 8 Monate währende Zeit tobsüchtiger Erregtheit und Verwirrtheit
Bericht zu erstatten, und andererseits seine, auch schon vor dem Termine wieder¬
holt gemachte und fortwährend festgehaltene, der Wahrheit widerstreitende Be¬
hauptung, wonach er schon einmal vor 2 bis 3 Jahren in hiesiger Anstalt seiner
Krämpfe wegen längere Zeit hindurch ärztlich behandelt sein will, obwohl er
selbst einräumt, dass er über diesen behaupteten Aufenthalt fast nichts mehr
anzageben vermöge. Wie ihm über jene tobsüchtige Zeit nur eine ganz dunkele
Erinnerung verblieben, wie er bezüglich derselben allein nur wisse, dass er da¬
mals krank gewesen und deswegen den ganzen Winter hätte zu Hause bleiben
müssen, so wisse er auch von dem mehrerwähnten früheren Aufenthalte in
hiesiger Anstalt eben nur zu erinnern, dass er hier schon einmal ärztlich be¬
handelt worden und dass seine Wärter wahrscheinlich auch damals um ihn be¬
schäftigt gewesen, da sie ihm ganz bekannt vorgekommen seien. Und in ähn¬
licher Weise sollte auch der Richter ihm bereits bekannt gewesen sein, da er
auch während jenes ersten Aufenthaltes hierselbst einen gerichtlichen Termin
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28
Dr. v. Lud w iger,
gehabt, den derselbe Richter abgehalten hätte. Einwendungen dagegen nahm er
seinem im Ganzen bescheidenen Benehmen entsprechend schliesslich schweigend,
mitunter verschmitzt lächelnd hin. gab aber dadurch, dass er auf gegebene Ver¬
anlassung genau in derselben Weise darauf zurückkam, deutlich zu erkennen,
dass dieselben keinen Eindruck auf ihn gemacht hätten. —
Nachdem nun aber Alles übersichtlich zusammengestellt, was über
seine Vergangenheit berichtet und hier an ihm beobachtet worden,
bleibt jetzt noch die Hauptfrage, ob Menzel für dispositionsfähig zu
erachten sei oder nicht, zu erörtern.
Liesse man vor der Hand seine Vergangenheit ausser Betracht
und hielte man sich nur an sein gegenwärtiges Verhalten, so könnte
man nicht abgeneigt sein, die Frage der Dispositionsfähigkeit für ihn
zu bejahen, zumal man wol zugeben mag, dass die forensische Beur-
theilung eines so wechselvollen Krankheitszustandes mit Schwierig¬
keiten zu kämpfen hat, die vielleicht überhaupt nicht zu voller
Befriedigung überwunden werden können.
Menzel leidet, wie dies nun auch hier sicher constatirt worden
ist, an epileptischen Anfällen, aber diese Anfälle sind bisher aus¬
nahmslos nur in der Nacht und unter milden Erscheinungen aufge¬
treten und sie haben sich höchst wahrscheinlich, weil der Kranke hier
vor Schädlichkeiten, insbesondere vor dem übermässigen Genüsse von
Spirituosen, bewahrt ist und weil und seitdem er zugleich ein die
Erregbarkeit des centralen Nervensystems thatsächlich stark herab¬
setzendes, dadurch allgemeine Beruhigung und Schlaf erzielendes,
gegen Epilepsie günstig wirkendes Mittel gebraucht, nur noch selten
wiederholt oder sind ganz ausgeblieben. — Es sind ferner auch jetzt
noch gewisse nervöse, mit der Epilepsie gewöhnlich mehr oder minder
eng verbundene Zustände, Kopf- und Gliederschmerzen, Gefühle allge¬
meiner Ermüdung und Abgeschlagenheit und sodann jene mehr er¬
wähnten Zustände von Umwölkung des Bewusstseins, die dann grössere
Langsamkeit im Ablaufe der Vorstellungen und eine gewisse Hemmung
in deren wahrheitsgetreuer Reproduction, eine gewisse Schwerfälligkeit,
Theilnahmlosigkeit und Abschwächung des Gedächtnisses wie sonst
auch eine gewisse Abschwächung der natürlichen Interessen, Gefühle
und Aflfecte an ihm beobachtet worden. Indessen auch diesen nervösen
Zuständen würde wol kaum eine solche Bedeutung beigelegt werden
können, dass ihm deswegen die freie Dispositionsfähigkeit aberkannt
werden müsste. Was aber die zuletzt erwähnte Abstumpfung der
Intelligenz und dos Gemüths anlangt, so wissen wir allerdings, dass
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Ein Entmündigungsf&U.
29
er nicht nur ohne alle Schwierigkeiten zu einem längeren Aufenthalte
in hiesiger Anstalt und zum Gebrauche einer gründlichen Kur gegen
seine Krämpfe, mithin auch zu längerer Trennung von Weib und Kind
und einer erheblichen Beschränkung seiner Freiheit, sich bestimmen
liess, sondern wir sehen auch, dass er sofort hier heimisch ist, sich
hier ganz zufrieden fühlt, um das Ergehen von Weib und Kind sich
in keiner Weise mehr kümmert, das etwaige Vorhandensein einer
Sehnsucht nach den Seinen ausdrücklich in Abrede stellt und über¬
haupt eine vollständige Sorglosigkeit für die eigene und der Seinigen
Zukunft bekundet. Eine solche Gleichgültigkeit und Interessenlosig-
keit könnte, wenn sie in der beobachteten Weise wirklich vorhanden
wäre, allerdings nur als Ausdruck einer krankhaften Geistes- oder
Gemüthsbeschaffenheit erscheinen und müsste freilich Anlass zu man¬
chen Bedenken geben. Kann denn bei einem Manne, der sich so leicht
von Frau und Kind zu trennen und ohne dieselben zu leben vermag,
ein so warmes Sorgepflichtgefühl vorausgesetzt werden, wie es bei
Gesunden seinesgleichen vorhanden ist und vorhanden sein muss, wenn
Jemand als Mann und Vater seine Pflicht erfüllen will und soll? Viel¬
leicht hat er sich aber nur deshalb so gutwillig in die hiesige Lage
gefügt, weil er erkannte, dass ein Widerstand zwecklos sei; vielleicht
hegt er in seinem Innern Hass und Groll gegen die Frau und den
Schwager, weil er vermuthlich nur durch ihre Ueberlistung hierher
gebracht worden, und vielleicht rührt nur daher seine äussere Kälte
und Interesselosigkeit. Die freie Art seines Auftretens, die that-
sächlich bei ihm nachweisbare Beeinträchtigung seiner Geistesthätig-
keit durch die epileptischen Insulte und die bekannte Thatsache, dass
das lange Bestehen dieser, das Nervensystem so mächtig in Anspruch
nehmenden Krankheit nahezu ausnahmslos zu einer vorschreitenden
Abstumpfung der intellectuelleu und affectiven Thätigkeiten führt,
geben dieser Annahme zwar nur geringe Wahrscheinlichkeit. Gleich¬
wohl bleibt aber eine entfernte Möglichkeit dafür bestehen und könnte
deshalb auch die supponirte geistige Abstumpfung vorläufig noch be¬
zweifelt werden.
Und blickt man noch auf sein sonstiges Verhalten, zieht man in
Betracht, dass er sich von je an in die Ordnung des Hauses gefügt,
dass er sich gegen Jedermann hier freundlich und angemessen be¬
tragen, gern an mancherlei Beschäftigungen theilgenommen und die
Mehrzahl der an ihn gerichteten Fragen richtig, manche sogar mit
aussergewöhnlicher Geläufigkeit beantwortet hat, so könnte man aller-
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Dr. v. Ludwiger.
:to
dings, wie gesagt, geneigt sein, ihm, wenn auch mit einigem Bedenken,
die legale Dispositionsfähigkeit eher zuzuerkennen, als abzusprechen.
Indessen — stösst man schon so, bei mehr oberflächlicher Be¬
trachtung, auf Bedenken, so wird dies um so mehr der Fall sein, je
genauer man zusieht und kritisirt.
Und da muss denn doch zunächst betont werden, dass Menzel
an einer schweren, das geistige Leben immer mehr oder minder beein¬
trächtigenden Nervenkrankheit, an Epilepsie, leidet, dass diese Krank¬
heit schon seit dem Jahre 1874, also seit mehr als 10 Jahren, bei
ihm ununterbrochen angedauert und, wie häufig, so auch bei ihm
endlich, hier allerdings erst unter Hinzukoramen anderweitiger, äusserer
Schädlichkeiten, zu einer deutlich ausgesprochenen Geisteskrankheit
geführt hat.
Wir wissen, dass er am 8. October 1883, nachdem er vorher
stark gezecht und dann längere Zeit im Wasser gelegen hatte, wo¬
durch bei ihm, dem überhaupt zu Störungen der Circulation am Kopfe
Disponirten, derartige Congestionen höchst wahrscheinlich in hohem
Grade und dauernd hervorgerufen wurden, in einen Zustand tobsüch¬
tiger Erregtheit und Verwirrtheit gerieth, dass er während desselben
auch von Gesichts- und Gehörstäuschungen und mancherlei krank¬
haften Vorstellungen beherrscht wurde und viele verkehrte Hand¬
lungen ausführte, sowie dass er in einem solchen, hochgradig geistes¬
gestörten Zustande, welcher permanente Ueberwachung und mitunter
sogar Anlegung der Zwangsjacke erforderte, bis zum Juni v. J., d. h.
etwa 8 Monate hindurch, verblieben ist.
Seitdem hat er sich zwar rnhiger und angemessener verhalten
und auch wieder manche Handarbeiten geleistet, gleichwohl ist er
doch zu einer unbehinderten Geistesfreiheit, die bei ihm allerdings
vielleicht schon lange nicht mehr bestanden haben mag, — zu einem
Zustande wie der, in welchem Leute seiner Bildung und seines Standes
bei ungestörter Geistesthätigkeit sich befinden, — zweifelsohne nicht
mehr gelangt. Denn einmal bedurfte er, wiewohl er gern thätig sein
wollte, bei seinen Arbeiten, wie dies nicht blos seitens der Frau be¬
richtet, sondern auch hier beobachtet worden ist, immer einer speciellen
Ueberwachung, damit die Arbeiten in der gerade gewünschten Weise
vollfuhrt und Nichts dabei übersehen würde, und andererseits können
doch bei genauerer Prüfung mancherlei geistige Abnormitäten an ihm
wahrgenommen werden: nicht blos jene s<*hon erwähnte auffällige
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Ein Entmiindignngsfall.
31
Kälte und Interessenlosigkeit in Bezug auf Weib, Kind und auf seine
eigene gegenwärtige und zukünftige Lage, jene vorübergehenden, bald
mehr, bald minder ausgesprochenen Dämmerzustände und auffälligeren
Stimmungsalterationen, wie sie sich beispielsweise einmal in Bezug auf
seine Entlassung hier kundgegeben, sondern wir können es uns von
ihm wiederholt bestätigen lassen, dass nicht blos für die Vorgänge
der epileptischen Insulte, sondern auch für die 8 monatliche Zeit der
überstandenen tobsüchtigen Exaltation und für alle in derselben aus¬
geführten Verkehrtheiten eine fast leere Lücke in seinem Bewusstsein
vorhanden ist, während umgekehrt einzelne Vorstellungen in demselben
feste Wurzeln geschlagen haben, für welche irgend ein nachweisbarer
Anlass nicht aufgefunden werden kann, und welche demnach den auf¬
fälligsten Wahnideen an die Seite zu stellen sind.
So behauptet derselbe Menzel, welcher sonst so verständig er¬
scheint, mit aller Bestimmtheit, dass er schon vor 2 oder 3 Jahren
ebenfalls seiner Krämpfe wegen hier ärztlich behandelt worden sei,
er will auch schon einen ganz ähnlichen gerichtlichen Terrain damals
durchgemacht und demnach in den hiesigen Verhältnissen die früheren,
in den Wärtern uud in dem Richter bereits ihm bekannt gewordene
Personen wiedererkannt haben. Und dementsprechend vernehmen wir
zuweilen, wenn auch nur selten, Aeusserungen von ihm, welche ähn¬
lich phantastisch begründet zu sein scheinen: so will er vor 2—3
Jahren vom Ortsvorsteher deshalb in die Zwangsjacke gesteckt worden
sein, weil er 3 Mal geschworen hätte, nämlich das erste Mal wegen
einer Wegestreitigkeit, das zweite Mal bei seiner Einstellung beim
Militär und das dritte Mal bei seiner Verheirathung vor dem Altar.
Er erblicke darin einen Gewaltact und habe deswegen 50 Pfennige
pro Sekunde, d. h. auf die Zeit hin, während welcher er die Jacke
getragen, verlangt. Uebrigens beabsichtigt er, den Gemeinde-Vorsteher
auch deswegen zu verklagen, weil er ihn angeblich ohne vorhergegangene
ärztliche Untersuchung habe hierher bringen lassen. — Gegen die An¬
gaben der Frau hegt er kein Misstrauen, wiewohl dieselbe während
der Zeit der Tobsucht und auch noch später ihm mitunter ganz fern-
hleiben musste, weil er wähnte, dass sie ihn vergiftet habe oder dies
noch beabsichtige. —
Menzel ist schon früher von zwei verschiedenen Aerzten wegen
seiner Krämpfe behandelt, und ist ihm ärztlicherseits stets strengstens
der Schnaps verboten worden. Er hat jedoch dieses Verbot nicht
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S2
Dr. v. Ludwiger,
beachtet, und die Kur hat keinen nachhaltigeren Erfolg gehabt. Hätte
er diesen Winter zu Hause bleiben müssen, so würde er demnach mit
dem Nachlass der Arbeiten wieder mehr dem Branntwein zugesprochen
und dann denselben wol ähnlich verbracht haben, wie den vorigen.
Es würden die Krämpfe wol wieder häufiger sich eingestellt haben
und die bei ihm auf Alkoholgenuss schnell eintretende Umnebelung
seiner Sinne würde wol wieder — wahrscheinlich in Folge der da¬
durch herbeigeführten Lähmungen der Gehirngefässe und damit zu¬
sammenhängender Ernährungsstörungen im Gehirn — in Zustände
dauernder Bewusstseinsstörungen, in Tobsucht und Verwirrtheit, über¬
gegangen sein.
Dr. Jensen hat als Director der ostpreussischen Irren-Anstalt Allen¬
berg schon vor Jahren auf einen, auch bei Geistesgesunden mitunter vor¬
kommenden, interessanten Geisteszustand aufmerksam gemacht, welcher
darin bestehe, dass Personen in einer ihnen offenbar neuen Situation
zuweilen doch das lebhafte Bewusstsein haben, als ob sie genau die¬
selbe Situation schon einmal erlebt hätten, als ob die etwa vorhan¬
denen Gegenstände und Personen auch damals schon an derselben
Stelle gewesen und ebenso gesprochen und gehandelt hätten, wie im
derzeitigen Augenblicke, und dass die Betreffenden alsdann leicht zu
der Täuschung verführt wurden, als ob die neuen Verhältnisse ihnen
schon von früher her bekannt seien. Ich selbst habe dieses Phänomen,
welches Jensen unter dem Namen „Doppelwahrnehmungen“ beschrieb
und durch eine Incongruenz der Thätigkeit der sonst gleichzeitig in
Action gerathenden beiden Gehirnhemisphären zu erklären suchte, mit
ihm zusammen beobachtet, habe wie viele Andere, welche dasselbe
freilich lieber als Erinnerungstäuschung oder anders bezeichnen wollten,
von seiner Existenz mich hinreichend überzeugt und möchte glauben,
dass auch in dem vorliegenden Falle die ihrer Entstehung nach sonst
ganz räthselhaften Wahnideen Menzel’s, seinen angeblichen früheren
Aufenthalt hierselbst betreffend, in der geschilderten Weise als durch
Doppelwahrnehmungen hervorgerufen anzusehen seien, zumal der ge¬
nannte Bewusstseinszustand auch in Allenberg bei Epileptikern relativ
häufig und besonders deutlich ausgeprägt gefunden wurde.
Wie dem aber auch sein mag, jedenfalls lassen sich also in
Menzel’s geistigem Verhalten bei genauerer Prüfung mancherlei Ab¬
normitäten nachweisen, welche offenbar auch auf sein Urtheils- und
Sehlussvcrmögen von bedeutendem Einflüsse sein müssen. Wenn er
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Ein Entmündigungsfall.
33
beispielsweise unwillig über die Behandlungsweise ist, die man ihm
während seiner Krankheit habe zu Theil werden lassen, wenn er wegen
des Gebrauches der Zwangsjacke und seiner Unterbringung hierher
Entschädigungsansprüche erheben will, wenn er wirklich vornehmlich
deswegen einen geheimen Groll gegen die Frau und deren Anverwandte
hegen sollte u. dgl., so wird doch mit Rücksicht auf den vorliegenden
Krankheitszustand zunächst der Zweifel entstehen müssen, ob denn
auch wirklich die Dinge sich so verhalten haben mögen, wie Menzel
es angiebt und glaubt? Und ähnlich wird man auch sonst sich
stets zu fragen haben, wie viel Gewicht denn den Worten und
Behauptungen eines Mannes beizumessen sei, dessen Bewusstseins¬
zustand so viele und so weite krankhafte Lücken hat und in dem
wiederum unter dem Einflüsse seiner Krankheit, vielleicht in Folgo
der incongruenten Thätigkeit seiner Gehirnhälften, in jedem Augen¬
blicke Vorstellungen entstehen können, welche mit der Wirklichkeit
nicht übereinstimmen, ohne dass diese Differenz von ihm, wie von
einem Gesunden, berücksichtigt wird? Wie weit sollte man bei
etwaigen gerichtlichen Verhandlungen, bei vorkommenden Verkäufen,
bei verantwortlichen Vernehmungen, bei Errichtung von Testamenten
u. dergl. seinen Aeusserungen Vertrauen schenken, wenn man doch
weiss, dass seine Geistesthätigkeit zu Zeiten mehr wie sonst obnubilirt
ist, dass zu Zeiten ihn Stimmungen beeinflussen, die seinen sonstigen
direkt widersprechen, ja dass seine Krankheit zu jeder Zeit sein
Bewusstsein wie mit einem Schlage ganz verfinstern kann.
Berücksichtigt man endlich noch, dass die Epilepsie nur aus¬
nahmsweise vollständig geheilt wird, dass Heilungen um so seltener
werden, je länger die Krankheit besteht, je glatter sich die Krarapf-
bahnen ausgeschliffen haben, und dass in diesem Falle, in welchem
die Krämpfe nun schon seit 10 Jahren etwa alle 3—4 Wochen sich
wiederholt haben, in dem es thatsächlich zu einem Zustande aus¬
gesprochener Tobsucht mit anscheinend vollständiger Amnesie für
diese ganze Zeit gekommen ist, und in welchem eine anscheinend
unbezwingliche oder doch niemals energisch bekämpfte Neigung zum
Branntwein als der hauptsächlichsten Ursache der Epilepsie und der
epileptischen Geistesstörung besteht, — dass in diesem Falle die
Aussichten für eine vollständige Heilung als ganz ungünstig be¬
zeichnet werden müssen — wenigstens dann, wenn Menzel durch
möglichst baldige Entlassung wieder genügende Freiheit zum Handeln
Vierteljthrsschr. f. ger. Med. N. F. XLIV, 1. 3
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34
Dr. v. Ludwig er.
erhielte, — so komme ich nach allen diesen Erwägungen doch zu
der Ueberzeugung und gebe demnach auch mein Gutachten schliess¬
lich dahin ab:
„dass Menzel, obwohl derselbe seit seinem Aufenthalte in
„hiesiger Anstalt bei oberflächlicher Betrachtung nur wenig
„auffallende Zeichen von Geistesstörung dargeboten hat, den-
„noch in einem so weit abnormen Geisteszustände sich be¬
endet, dass er nicht im Stande ist, die Folgen seiner Hand¬
lungen überall verständig, der Sachlage entsprechend, zu
„überlegen, und erachte ich ihn daher im Sinne des Allg.
„Landrechts für blödsinnig.“
Die Richtigkeit dieses Gutachtens versichere ich unter Berufung
auf den ein für alle Mal geleisteten Sachverständigen-Eid.
Plagwitz, den 24. Februar 1885.
3.
Ob Dementia paralytica «der geistige Gesundheit!
Leidensgeschichte eines für anheilbar geisteskrank gehaltenen
Mannes,
dargestellt vom
Sanitätsrath Dr. HeckmaJin,
Kreisphysikus *u Harburg.
(Fortsetiung.)
Obwohl ich die früheren über Herrn R. abgegebenen officiellen
Gutachten nicht gelesen hatte, weil sie erst später in meine Hände
gelangten, so hielt ich es doch unter den bewandten Umständen für
meine Pflicht, über dessen Zustand folgendes Gutachten privatim
abzugeben:
Harburg, den 9. April 1875.
J. C. R., geboren zu A. in Ostfriesland den 31. März 1827, Sohn des noch
lebenden J. F. R. daselbst, lutherischer Confession, rerheirathet und Vater von
3 Kindern, Uhrmacher, wohnhaft und wohnberechtigt zu H., gegenwärtig in
Hbg. sich aufhaUend, ist auf sein Ersuchen seit dem 26. Januar d. J. von mir
mehrfach beobachtet und ärztlich untersucht worden. Auf Grund dieser Beob¬
achtung und des anliegenden Briefes des Herrn Dr. med. W. zu A. habe ich über
dessen Gesundheits- und Gemüthszustand folgendes Gutachten abzugeben:
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Dr. Beckmann.
35
Herr R. ist von kräftigem und gesundem Körperbau, besitzt ein lebhaftes
Temperament und ist. die Kurzsichtigkeit seiner Augen abgerechnet, vollständig
gesund. Lähmungssymptome sind an keinem Körpertheile wahrzunehmen, viel¬
mehr verräth sein rascher Gang, seine deutlich vernehmbare Sprache und der
regelrechte Vorgang aller Körperfunctionen bei gesunder Gesichtsfarbe, dass der¬
selbe sich einer besonders guten Gesundheit zu erfreuen hat.
In psychischer Beziehung ist zu bemerken, dass derselbe zu der Klasse der
sogenannten Gemüthsmenschen gehört, und dass bei guten Anlagen seine Schul¬
bildung etwas vernachlässigt ist, daher auch seine Briefe, von denen mir einige
vorgelegt wurden, verrathen, dass er nicht im Stande ist, seine Gedanken in
einem einigermassen correcten Stile zu Papier zu bringen.
Bei seinem ersten Erscheinen machte er auf mich den Eindruck eines
exaltirten, leicht erregbaren, nicht mit gehöriger Ueberlegung sprechenden und
bandelnden Menschen. Wie ich von seinen Freunden vernommen, so soll auch
' sein Vater ein gleich lebhaftes Temperament besitzen und soll auch dieser, in
seinem hohen Alter von einigen 70 Jahren, in seinem Benehmen manche Sonder¬
barkeit durchblicken lassen. Es kann nicht in Abrede gestellt werden, dass
Herr R. im Jahre 1873 an Melancholie mit der fixen Idee, den Tod seiner
Mutter betreffend, gelitten hat. Wie lange diese Seelenstörung gedauert, darüber
wage ich nicht zu entscheiden, daher ich mich auch jeglichen Urtheils enthalte,
ob Herr R. in der Anstalt F. bei U. länger, als absolut nöthig gewesen, zurück¬
gehalten wurde. Was seinen jetzigen Zustand anbetrifft, so darf ich nach
längerer Beobachtung offen erklären, dass ich bislang keine Spuren von Geistes¬
störung an ihm wahrnehmen konnte. Sein Gedächtniss sowohl, als auch seine
Urtheilskraft erscheinen völlig intact. Er ist durchaus fähig, über sein früheres
Leben zusammenhängend Bericht zu erstatten, nur ist er genöthigt, in seinem
Berichte eine Lücke zu lassen über die kurze Zeit, in welcher die Geistes-
alienation gedauert und welche die Veranlassung zu seiner Aufnahme in die
Irrenanstalt F. gegeben hat. Ich habe mich gleichfalls bemüht, seinen Zustand
verschiedenen Geistesstörungen juizupassen, und wenn es mir manchmal vorkam,
einzelnen Symptomen, z. B. Ideenflucht, Verfolgungswahn, Grössenwahn u. s. w.
auf der Spur zu seiu, so musste ich mir doch bald sagen, dass ich meinen Ver¬
dacht durchaus nicht begründen könne.
Mit welcher unendlichen Geduld hat der Mann bislang sein trauriges
Schicksal ertragen!
Wenn in seinem Charakter manchmal allzugrosses Misstrauen, selbst gegen
Personen, die es gut mit ihm meinen, Eifersucht und sogar eine Verzweiflung
an der Rechtlichkeit der Behörden zu H. auftauchen, so darf solches Niemanden
befremden, der in die Verhältnisse näher eingeweiht ist.
Wie Herr Oberarzt Dr. R. über Herrn R. das harte Urtheil hat fällen können,
dass er zu der Klasse der unheilbaren Irren gehöre, ist mir wahrlich unbegreiflich.
Nur zu oft habe ich als Physikus in meinem Berufe zu bemerken Gelegenheit ge¬
habt, dass die Herren Irrenärzte mit solchem hartem Urtheile sehr leicht bereit
sind. Ich bin indessen weit entfernt, den Herren solches zum Vorwurf zu machen,
da ja die Diagnose der Geistesstörungen eine so enorm schwierige ist.
Rückfälle sind bei Geistesalienation fast immer zu befürchten. Dieses be-
3*
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Dr. Beckmann,
rechiigt die Irrenärzte aber nicht, die Kranken weit über die Dauer der Seelen¬
störung in den Irrenanstalten zurück zu behalten.
Schliesslich gebe ich mein Gutachten über den Zustand des Herrn R. dabin
ab. dass er gegenwärtig frei von jeglicher Geistesstörung ist. dass die über ihn
verfügte Cura perpetua ohne Bedenken aufgehoben und ihm die freie Disposition
über sein Vermögen wieder überlassen werden kann.
Dass das vorstehende Gutachten von mir der Wahrheit gemäss abgefasst
worden, versichere ich hiermit auf den von mir geleisteten Diensteid.
Der Kreisphysikus.
gez. Dr. med. Beckmann, Sanitätsrath.
Auf Grund dieses Gutachtens, welchem der Brief des Dr. W. und
die Laien-Zeugnisse beigefügt wurden, hoffte nun Herr R. die Auf¬
hebung der über ihn verhängten Curatel zu erreichen. Alle seine
Bemühungen blieben jedoch ohne Erfolg.
Da die Summe, welche ihm sein Curator monatlich auszuzahlen
batte, nicht hinreichte, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sah
er sich genöthigt, für die Wintermonate bei einem hiesigen Uhrmacher
als Gehülfe in Arbeit zu treten und während der Sommermonate im
Seebade zu N. sein Geschäft selbständig zu betreiben.
Nach der ersten dort verlebten Badesaison brachte er folgendes
Zcugniss des K. Bade-Commissars Freiherrn v. V. mit:
N., den 27. September 1875.
Es wird hiermit bescheinigt, dass der Uhrmacher Herr R. aus A. sich wäh¬
rend der diesjährigen Badesaison hier aufgehalten, das Uhrmachergeschäft be¬
trieben und in jeder Hinsicht sich ordentlich betragen hat. gez. v. V.
Um seinen wiederholten Gesuchen bei den Behörden zu H. immer
mehr Nachdruck zu verleihen, hielt Herr R. es für angemessen, sich
auch noch ein ärztliches Gutachten von dem Medicinalreferenten bei der
K. Landdrostei zu A., Herrn Sanitätsrath Dr. Sch., zu verschaffen.
Dieser gab ihm bereitwilligst folgende gutachtliche Aeusserung:
A., den 8. October 1875.
Herr J. C. R., von hier gebürtig, zu H. domicilirt, ist im Laufe des Sommers
von mir beobachtet worden. Er gehört zu den leicht erregbaren Naturen, welche
vorsichtig beurtheilt werden müssen. So oft ich mich mit ihm unterhalten, nie¬
mals habe ich Symptome irgend einer Geistesstörung bei ihm bemerkt, nie Er¬
scheinungon an ihm wahrgenommon, welche auf eine primäre Erkrankung des
Gehirns hätten zurückschliessen lassen. Ich schliesse mich deshalb dem gutacht¬
lichen Berichte des Herrn Collegen Beckmann zu Hbg. und des Dr. W. hier
in allen Theilen an, und halte ebenfalls Herrn R. jetzt für zurechnungs- und
dispositionsfähig. Einen jener nebelhaften Flecke, welche den letzten Abschnitt
der Leidensgeschichte des p.R. verdunkeln, kann ich hier nicht unerwähnt lassen.
Der Oberarzt R. schreibt den 29. Jan. d. J. an einen Collegen (Dr. Beckmann):
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Dementia paralytica oder geistige Gesundheit?
37
Da dieser Schluss (nämlich des Gutachtens des Obergerichtsphysikus Dr. L. zu A.)
an einem inneren Widerspruch leidet, ward nunmehr das Gutachten des Physikus
(Dr. H.) eingebolt, welches darlegte, „dass die Geistesstörung des Herrn R. noch
unverändert fortbestehe.“ Wie konnte Dr. H als beamteter Arzt ein solches Gut¬
achten abgeben, da er den p. R., seit dieser aus der Anstalt entflohen war, gar
nicht wieder gesehen hatte? Das Gutachten befindet sich bei der Vormundschafts-
Deputation. Sapienti sat! gez. D r . Sch., San.-Rath u. Referent bei der
K. Landdrostei zu A. für Medicinalsachen.
Ein Jahr später, nachdem seine Angelegenheiten in H. still ge¬
legen, erhielt Herr R. von dem Bade-Arzte zu N., dem Medicinalrath
Dr. G., ausserdem folgendes günstig lautendes Zeugniss:
N., 20. August 1876.
Herr J. C. R. aus H., seit ein Paar Jahren während der Sommerzeit in N.
thätig, ist mir in der Zeit seines Aufenthalts hierselbst bekannt geworden. Ich
habe ihn täglich gesehen und häufig gesprochen und bescheinige hierdurch, dass
ich an dem Genannten weder ein aufgeregtes melancholisches Wesen, noch andere,
eine geistige Schwäche oder Verkehrtheit verdächtigende Symptome jemals be¬
merkt habe. Ausserdem habe ich mich bemüht. Zeugnisse von anderen Personen,
von seinen Hausgenossen, von Gastwirthen, bei denen Herr R. verkehrte, von
seinen Tischgenossen, die ihn täglich sehen und sprechen, zu erhalten, — und
bezeuge hierdurch, nur Beruhigendes und Günstiges über den Vorbenannten
gehört zu haben. Alle befragte Personen stimmen mit der auch von mir ge¬
wonnenen Ansicht überein, dass Herr R. ein friedfertiger und vollkommen geistes¬
gesunder und geisteskräftiger Mann ist. gez. Dr. G., Medicinalrath.
Bade-Arzt.
Sämmtliche beigebrachte, zu Gunsten des Herrn R. lautende Gut¬
achten und Zeugnisse vermochten die Vormundschafts-Behörde zu H.
nicht zu bewegen, die über ihn verhängte Cura perpetua wieder auf¬
zuheben. Sie verblieb vielmehr bei ihrem Beschlüsse vom 10. März,
die Niedersetzung einer Commission zur Ertheilung eines Superarbitrium
betreffend. Nachdem diese sich constituirt hatte, erstattete sie fol¬
gendes Gutachten:
H., den 13. März 1877.
Gutachten. In Verfolg des Beschlusses der hochlöblichen Vormundschafts-
Behörde vom 22. Januar 1877 hat der Präses des Medicinal-Collegiums in Ge-
mässheit des §. 11 des Gesetzes vom 26. October 1870 die Unterzeichneten
beauftragt, in Sachen des Curanden J. C. R. sich darüber zu äussern, ob die
Commission auch jetzt noch, ungeachtet des seit März 1875 zur Acte gekom¬
menen Materials, die vorherige Sistirung und längere Zeit fortgesetzte Beobach¬
tung des Curanden für die unerlässliche Voraussetzung des abzugebenden Super¬
arbitriums erachte, und im Bejahungsfälle, was die Commission unter den in
dem früheren Schreiben vom 7. April 1875 vorkommenden Ausdrücken: unter
angemessenen Verhältnissen und in geeigneter Umgebung, verstehe, da der
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UMIVERSITY OF IOWA
38
Dr. Beckmann,
Curande aus denselben entnehme, dass die Commission seine abermalige Inter-
nirnng in P. als die zweckmässigste Art and Weise ihn zu beobachten in’s Auge
gefasst habe, und seine Weigerung, sich hier zu sistiren, möglicherweise in der
Befürchtung, dass er zunächst hier wieder internirt werden würde, ihren Ur¬
sprung habe.
Die Acte hat bei den Mitgliedern der Commission circulirt und sind die¬
selben übereinstimmend zu der Ansicht gelangt, dass auch das seit März 1875
zur Acte gekommene Material zur Abgabe eines Gutachters nicht genüge, dass
vielmehr die Begutachtung des Geisteszustandes des R. die persönliche Unter¬
suchung desselben erfordere.
Zu dem Ende muss der p. R. sich bei seiner Sistirung in H. so einrichten,
dass wiederholte längere Unterredungen zwischen ihm und den einzelnen Com¬
missions-Mitgliedern, sei es in deren Privatwohnungen, sei es in R.’s Logis,
resp. mit der vereinten Commission auf dem Medicinalbureau stattfinden können,
während eine neue Internirung des Curanden in F. zur Beobachtung nicht
nöthig erscheint.
Die Commission
zur Ertheilung eines Superarbitrium in Curatelsachen des J. C. R.
gez. Dr. R., Referent.
Dass Herr R. sich nicht dazu entschliessen konnte, sich einer
aus in H. ansässigen Aerzten bestehenden Commission zu sistiren, ist
leicht begreiflich. Mit so vielen zu seinem Gunsten lautenden Gut¬
achten und Zeugnissen ausgerüstet, glaubte er im Wege Rechtens die
Aufhebung der über ihn verhängten Cura erwirken zu können.
Zu dem Zwecke wandte er sich an einen sehr gescheuten Rechts-
Anwalt, Dr. Rle. zu H., dessen Bemühungen jedoch durchaus keinen
Erfolg hatten. Das Obergericht erkannte der Verfügung der Vormund¬
schafts-Behörde gemäss, dass R. sich der Commission zu stellen habe;
eine Appellation an das Ober-Appellationsgericht zu L. blieb deshalb
erfolglos, weil die gesetzliche Frist nicht innegehalten wurde.
Der Schluss des Urtheils des höchsten Gerichtshofs lautete:
.... Dass die wider das Decret des Obergerichts ergriffene Appallation,
wie hiermit geschieht, als desert zu verwerfen sei und sollen nunmehr die Vor¬
acten an das Obergericht zurückgesandt werden.
V. R. W.
L., den 20. October 1877.
Wenige Monate nach Empfang dieses Urtheils starb plötzlich der
Rechtsanwalt Dr. Rle., mit ihm wurde ein grosser Gönner des Herrn R.
zu Grabe getragen. Der Dr. jur. St., welcher die juristische Praxis
des Dr. Rle. übernahm, hatte nicht das rege Interesse für die Sache,
welches sein Vorgänger stets bewahrt hatte. Da Herr R. ausser
Stande war, die Mühewaltungen des Dr. Rle. sofort zu honoriren, wie
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Dementia paralytica oder geistige Gesundheit?
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Dr. St. verlangte, wurden ihm weder die Acten, welche er dem Dr. Rle.
übergeben hatte, ausgeliefert, noch auch sein Prozess gefördert. Die
Sache musste daher vorläufig auf sich beruhen bleiben.
Ich wusste Herrn R. keinen besseren Rath zu ertheilen, als sich
in das Unvermeidliche zu fügen und sich der Commission zu sistiren,
welchem Folge zu geben er sich indessen mit grosser Entschiedenheit
weigerte.
Im Mai 1878 wandte er sich in seiner trostlosen Lage nochmals
an den früheren Ober-Geriohtsphysikus, jetzigen Kreisphysikus Dr. L.
zu A., welcher bekanntlich das von der Vormundschafts-Behörde
beanstandete officielle Gutachten über seine psychische Beschaffenheit
abgegeben hatte. Von diesem erhielt ich folgenden Brief:
_ _ __ _ „ . A., 24. Mai 1878.
Geehrter Herr College!
Auf Ersuchen des Herrn Uhrmacher R. erlaube ich mir, Sie mit einer Bitte
zu behelligen. Herr R. sagt mir, dass Sie sich für ihn interessiren und gewiss
nicht versageu werden, Ihren Rath und etwaige Mitwirkung in seiner Sache
zu
In welcher Lage derselbe nun seit 4 Jahren sich befindet, und wie alle
seine Bemühungen, heraus zu kommen, vergeblich gewesen, wissen Sie, daher
übergehe ich das.
Als er vor einigen Monaten wieder hierhergekommen war, ersuchte er mich,
nochmals für ihn Schritte zu thun, um seine Angelegenheit zu Ende zu bringen.
Ich stellte mich bereit, wusste jedoch vor der Hand nichts zu thun, als seinem
nach Herrn Dr. Rle.’s Tode mit seiner Angelegenheit betrauten Herrn Dr. St in H.
in einem artigen Schreiben zu befragen, was etwa nach dessen Urtheil von hier
aus geschehen könne, wobei ich mich ganz rücksichtslos dahin aussprach, dass
von einem geisteskranken Zustande bei Herrn R. längst keine Rede mehr sein
könne, und dass ich — der vor 4 Jahren auf Ersuchen der Behörde zu H. nach
längerer Beobachtung ein Gutachten über seinen damaligen Geisteszustand ab¬
gegeben, und auch im vorigen Jahre unaufgefordert in einem Privat-Gutachten
bezeugt, dass im Verlaufe der langen Zeit, während welcher Herr R. zu wieder¬
holten Malen länger dauernden Aufenthalt hier genommen, derselbe nicht allein
als völlig Geistesgesunder von mir und Allen, die mit ihm in Berührung ge¬
kommen, erkannt sei, sondern auch in seinem Geschäft mit Erfolg und allgemeiner
Anerkennung hier und im Seebade N. gewirkt habe — gern bereit sei, ihm das
in bündiger Weise abermals zu bezeugen, wenn ich nur wüsste, in welcher Form
und auf welchem Wege das geschehen könne, was ich eben von Dr. St. erfahren
zu können hoffe.
Das Schreiben ist unbeantwortet geblieben und ebenso ein jüngst nochmals
an den Herrn gerichtetes, in welchem ich geradeheraus ihm eröffnete, dass die
Sache des Herrn R. nachgerade zum öffentlichen Scandal geworden sei u. s. w.
Herr R. geht am 6. n. M. wieder nach N. und bleibt die ganze Badezeit
daselbst in Thätigkeit. Dass er inzwischen gern seine Angelegenheit gefördert
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Dr. Beckmann.
sehen möchte, ist ja ganz natürlich. Aus einer diesen Morgen stattgehabten
Berathung ist der Beschluss hervorgegangen. Sie als mit den Verhältnissen Be¬
kannten und dafür sich Interessirenden zu befragen, ob Sie einen Weg angeben
können, wie die Sache zu fördern wäre.
Herr R. war der Meinung, Sie pflegten mitunter nach H. zu kommen, und
würden ihm die Gefälligkeit nicht-abschlagen, von Herrn Dr. St. auf mündlichem
Wege mehr zu erfahren, als es mir schriftlich bisher geglückt ist.
Es ist doch ganz selbstverständlich, dass ein vor 4 Jahren gemachter
Ausspruch des Irrenarztes der Anstalt, Herr R. sei unheilbar, nicht als ewiges
Evangelium betrachtet werden kann, welches für dessen ganze Lebensdauer
unumstössliche Beweiskraft behielte. Ebenso unzweifelhaft erscheint es mir, dass
über einen solchen Ausspruch zur Tagesordnung gegangen werden kann und
muss, wenn Zeit und Umstände das Gegentheil zur Anerkennung gebracht haben,
und dass zur Beurtheilung des gegenwärtigen Zustandes auch andere Leute be
fähigt sind, als allein jener erste Arzt.
Ich schlug bei seiner Ankunft im Frühling d. J. Herrn R. vor, auf Ihre
und auf meine Begutachtung sich zu stützen, da er als von H. seit 4 Jahren
Abwesender Ihnen und auch mir regelmässig vor Augen gekommen. Das würde
er auch mit gutem Vertrauen thun, wenn nur der Weg ausfindig zu machen
wäre, wie die Behörde zu H. diesem Gesuche zugängig zu machen wäre. —
Ich habe die Absicht, darüber die Ansicht eines hiesigen anerkannt tüchtigen
Anwalts zu erfragen.
Bitte recht freundlich um des Herrn R.’s willen durch einige Zeilen mir
Ihre Ansicht gütigst mittheilen zu wollen und empfehle mich
mit collegialischer Hochachtung
' Dr. L.
Den vorstehenden Brief konnte ich leider nur dahin beantworten,
dass kein anderer Ausweg übrig bleibe als der, sich der zu H. ein¬
gesetzten Commission zur nochmaligen Untersuchung zu stellen, mehrere
von mir befragte Rechtsgelehrte seien derselben Ansicht, welches ich
Herrn R. schon längst mitgetheilt hatte. Dieser hege indessen einen
solchen Hass gegen die Aerzte in H., dass er zu diesem Schritte sich
unter keiner Bedingung verstehen wolle. Es bliebe daher die Sache
auf sich beruhen.
(Fortsetzung folgt)
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4.
Raubmord. Simulation von Geistesstörung.
Gerichtsärztliches Gutachten.
Mitgetheilt von
Prof. T. HraflTt-Eblng.
Species facti.
Am 20. Februar 1885 Abends gegen 9 Uhr wurde in einem vereinzelt an
der Strasse gelegenen Hause in der Steiermark die Bäuerin Clara R. ermordet
und ihr Pflegesohn Alois derart verwundet, dass er am 14. März seinen Wun¬
den erlag.
Ausser den Verletzten wohnte in dem einstöckigen, dem Johann R. gehöri¬
gen, in sämmtlichen Parterrelokalitäten vergitterten, nur durch die Hausthüre
von der Strasse aus zugänglichen Wohnhause an jenem Abend der Sohn der
Clara R , der 20jährige Lorenz H., welcher im 1. Stock über dem Wohnzimmer
schlief. Dieser berichtet, dass er am 20. Abends nach 8 Uhr über gellendem Ge¬
schrei des Knaben Alois erwachte und sofort sich dachte, dass es sich um einen
räuberischen Ueberfall handle. Da er sich allein zu schwach fühlte Hülfe zu
bringen, sei er sofort durch das Fenster auf das Dach geklettert und von diesem
heruntergesprungen, um die Nachbarschaft zu alarmiren. Die Spuren dieser Flucht
des Lorenz fanden sich beim Lokalaugenschein im Schnee. Lorenz weckte die näch¬
sten Nachbarn, kehrte mit diesen im Laufschritt zurück und fand die Hausthüre des
R.’schen Hauses verschlossen. Niemand gab anfangs Antwort. Nach einer Weile
erschien der Knabe Alois blutüberströmt am Fenster und theilte mit, die Mutter
sei erschlagen. Aus dem Vorraum des Hauses hörte man das Röcheln der Ster¬
benden. Man holte Verstärkung, hielt indessen die Hausthüre besetzt. Endlich
gelang es. diese zu erbrechen. Nachdem man eingedrungen war, fand man die
Clara R. sterbend im Vorderraum in einer grossen Blutlache. Im Thürschloss
steckte der Schlüssel. Am Schlüsselloch und unterhalb desselben fanden sich
Blutspuren. Auf dem Boden neben der Ermordeten fanden sich Trümmer einer
Petroleumlampe. In der Nähe fand sich ein ziemlich grosser Stein vor, wie man
deren draussen auf der Strasse findet. An der Mauer neben der Thür zur „Werk¬
statt“ , die an das Wohnzimmer anstiess, waren Blutspuren, wie wenn Jemand
dort etwas abgewischt hätte. Am Fenster des Vorderhauses bei der Kellerstiege
lag das Mordinstrument, eine zum Hause gehörige Hacke, mit Blut besudelt. In
der Werkstatt traf man in einem Bette, bis auf’s Hemd ausgekleidet, anscheinend
schlafend, einen fremden Menschen, der aufgerüttelt dergleichen that, als ob er
gerade aus dem Schlafe erwache. Er that verwundert, behauptete von albm Vor¬
gefallenen nichts zu wissen, obwohl beim Einschlagen der Thüre, durch das
Hülfegeschrei des Alois und das Schreien der herbeigeeilten Nachbarn ein grosser
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42
Dr. v. Krafft-Ebing,
Lärm gewesen war und die Lagerstätte des Fremden nur 8 Schritte von der
Hausthüre entfernt sich befanden hatte.
Der aus 6 Kopfwunden blutende 6 jährige Knabe Alois deponirt bei klarem
Bewusstsein und mit dem Eindruck der Wahrhaftigkeit noch am Abend des 20.
sowie bei seiner Vernehmung am 22. Folgendes: Am 20. Abends begehrte der
„Italiener“ Einlass. Die Matter verweigerte ihn lange, liess sich endlich erbitten,
ging mit der Petroleumlampe hinaus und öffnete die Hausthüre. Als der Mann
hereinkam, sperrte er gleich die Hausthüre hinter sich zu und fing an mit einem
Stein, den er in der Hand hatte, auf die Mutter loszuschlagen. Da schrie ich so
laut ich konnte. Er raufte lange mit der Mutter, ging dann in die Werkstatt,
brachte von da eine Hacke mit. Nun hackte er die Mutter nieder. Die Lampe
fiel dieser aus der Hand und erlosch. Ich flüchtete in das Wohnzimmer unter’s
Bett, aber der Italiener erwischte mich und hackte auf mich los. (Im Wohnzimmer
fanden sich mehrere Blutlachen.) Es war dunkel im Zimmer. Es gelang mir
nochmals zu entwischen und mich im Bett zu verkriechen. Darauf ging der Mann
aus dem Zimmer. Nach einer Weile hörte ich den Lorenz rufen „aufmachen“.
Ich hörte zugleich wie der Mann in die Werkstatt ging.
Bei der Confrontation mit dem Fremden am 20. Abends bezeichnet ihn
Alois bestimmt als den Thäter und lässt sich durch den Blick verwegener Bos¬
heit. mit der dieser den Knaben einschüchtern will, nicht beirren. Der Fremde
sagt „ich habe es nicht gethan, du kannst sagen, was da willst“.
Gensdarm Bäck fand bei dem Manne an Händen und Rock Blutflecken.
Die Blutspuren am Rock waren theils horizontal verlaufende Blutspritzer, theils
ausgedehnte Blutflecke an den Aermeln.
Die Section der Leiche der Clara R. ergab 9 Wunden der Weich-
theile des Schädels, Zersplitterung des Hinterhaupts-, rechten Seiten-
und Schläfenbeins mit Austritt von Gehirnmasse, keine sonstigen
Verletzungen am Körper, keine Spuren von Gegenwehr, keine auf ein
versuchtes unsittliches Attentat hindeutende Zeichen.
Die Verletzungen des Alois bestanden in 5 Schädelwunden, davon
eine mit Knochenimpression am Stirnbein.
Die Persönlichkeit des Unbekannten und muthmasslichen Thäters ist Ema-
nuel Oberosler, 30 Jahre alt, ledig, Keuschlerssohn, katholisch, aus Südtirol.
Derselbe wird von seiner Bezirkshauptmannschaft als ein Individuum bezeichnet,
das von früher Jugend an Hang zu Betrügereien, Diebstählen, Schlechtigkeiten
aller Art gezeigt habe. 1874 war er wegen Diebstahls zu 14 Tagen, 1876 zu
3, 1877 zu 12 Tagen, 1878 zu 2 Wochen, 1882 zu 2 Jahren, jedesmal wegen
des gleichen Deliktes verurtheilt worden. Die letzte Strafe verbüsste Oberosler
in der Strafanstalt Gradisca vom 15. Febr. 1883 bis 6. Decbr. 1884. Er be¬
trug sich dort gut, bot nie etwas geistig Abnormes, litt vom Januar bis Februar
1884 an Herzentzündung (Endocarditis). Nach abgebüsster Strafzeit war er nach
Hause abgesohoben worden , von wo er sich nach kurzer Zeit auf Reisen be¬
geben hatte.
Aus den Depositionen des Gemeindevorstehers und des Schullehrers geht
hervor, dass in Oberosler’s Familie niemals geistige Schwäche oder Krankheit
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Raubmord. Simulation von Geistesstörung.
43
vorkaraen, ebenso wenig bei ihm selbst jemals etwas geistig Abnormes beob¬
achtet wurde.
Im ersten Verhör vom 23. Februar giebt 0. seine Generalien richtig an.
Er habe 8 Jahre die Schule besucht. Vor etwa 25 Tagen sei er nach Wien ge¬
reist, um dort ein Bittgesuch bei Sr. Majestät um Unterstützung seiner durch
Elementarereignisse schwer geschädigten Familie zu übergeben (thatsächlich).
Am 12. Februar habe er. nur noch im Besitz von einigen Kreuzern, zu Fuss die
Heimreise angetreten. Am 18. Febr. sei er in die Gegend von St. Michael ge¬
kommen. habe vergebens da und dort um Unterkunft gebeten, bis ihm eine solche
im R.’schen Hause gewährt worden sei. Die Clara R. habe ihm Abendbrot ge¬
geben, sich freundlich mit ihm unterhalten, ihm im Wohnzimmer, das sie mit
dem Knaben Alois bewohnte, ein Strohlager hergerichtet, auf dem er bis zum
Morgen des 19. geschlafen habe. Dass 0. schon am 18. im R/schen Hause über¬
nachtete. ist erwiesen. Am 19. Früh habe er noch Suppe bekommen, sei dann
fort, habe sich nach einigen Stunden Wanderschaft krank gefühlt, nach einem
Spital gefragt, sei an das Leobener-Spital gewiesen worden, habe zu diesem Zweck
den Weg zurück gemacht und sei am 20. Abends wieder zum K.’schen Hause
gelangt. „Auf mein Klopfen öffnete Frau R. die Hausthür, gab mir Abendessen,
wies mir mein Nachtlager in der Kammer (Werkstatt) an. Ich schlief gleich ein,
schlief bis ich vom Gensdarm und den Männern geweckt wurde. Von allem Vor¬
gefallenen weiss ich nichts, denn ich habe die ganze Zeit geschlafen und bin
unschuldig.“
Am Schluss dieses Verhörs weigert sich 0. das Protokoll zu unterschreiben,
da er die fremde Sprache nicht kenne. Wenn man den Math habe, ihn unschul¬
dig einzusperren, so habe man auch wohl den Muth. etwas Anderes niederzu¬
schreiben, um ihn an den Galgen zu bringen. Im Verhör vom 26. Februar bleibt
er dabei, unschuldig zu sein, geschlafen und nichts gehört zu haben, ausser we¬
nige Momente vor dem Erwecktwerden, im Halbschlaf, ein Gemurmel von Stimmen.
Für alle Vorkommnisse vom Zeitpunkte des Erwecktwerdens an hat er ge¬
naue Erinnerung.
Die Blutflecken an seinen Kleidern motivirt er damit, dass im Vorhause ihn
einer der Männer misshandelte und neben der dortigen Blutlache zu Boden ge¬
worfen habe (thatsächlich). Gensdarm B. hat diese Blutspuren aber schon an 0.
wahrgenommen, als er ihn aus dem Bette aufstehen hiess.
Seine Reisedocumente behauptet 0. auf der Rückreise von Wien in Wiener
Neustadt verloren zu haben.
Am 5. März meldet jedoch die Gensdarmerie, dass bei Durchsuchung einer
offenen Truhe in der Werkstatt des R.’schen Hauses der in kleine Stücke zer¬
rissene Reisepass des 0., sowie ein auf dessen Namen lautender, ebenfalls zer¬
rissener Grundbesitzbogen gefunden wurde. In dieser einem gewissen H. gehö¬
rigen Truhe fanden sich 3 frisch gewaschene Hemden desselben vor, an deren
einem Blutspuren ersichtlich waren.
Im Verlauf des Verhörs vom 26. Februar fragt 0. plötzlich, ob man ihn für
den Mörder halte, und als dies bejaht wird, wirft er sich mit dem Ausruf „Ihr
werdet mich nicht lebendig haben“ zu Boden. Von diesem Moment an erscheint
0. geistig als eine ganz andere Persönlichkeit.
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44
Dr. v. Krafft-Ebing,
Die Persönlichkeit des Oberrosler vom 26. Februar bis zum
22. März.
Dr. W. in L. berichtet, dass der am 21. Februar ins Gefangenhaus einge¬
lieferte, mit schwerem Herzfehler behaftete 0. bis zum 26. sich ganz ruhig und
vernünftig benahm. „Von da an geberdet er sich närrisch, macht alle möglichen
sinnlosen Geberden und Handlungen. Er liegt häufig am Boden, lacht ironisch,
zupft am Hemd oder am Strohsack, verzehrt die herausgezupften Fäden, ver¬
richtet seinen Stuhl in die Mütze, lehnt stundenlang beim Ofen, lacht oft auf,
rollt die Augen hin und her. verschmäht manchmal die Speisen, redet mit Nie¬
mand ein Wort. Dem Arzt machen seine Handlungen, Geberden, Mienen den
Eindruck des absichtlich Gemachten, ganz speciell seine durch Nichts motivirte
Stummheit. Nachts schläft er ruhig und tief.“
Die Gefangenaufseher theilen mit, dass 0. in den ersten Tagen der Haft
(vom 21. — 26. Febr.) nicht die geringste geistige Abnormität bot.
Nach dem 2. Verhör änderte er sein ganzes Benehmen. Er lag den ganzen
Tag stumm, theilnahmslos am Strohsack, beantwortete Fragen mit Aechzen und
Stöhnen, verrichtete seine Noth auf den Strohsack, lüllte seinen Koth in die
Mütze, beschmutzte sich im Gesicht damit, beschmierte sein Brod mit dem Koth
und ass dasselbe. Er war bis zu den letzten Tagen sehr gefrässig. verschlang
Brod und Menage, indem er die Hände statt des Löffels benutzte. Die Menage
schüttete er in die Wasserpilsche und verzehrte sie daraus mit den Händen. Ein
andermal spielte er mit zwei Knödeln seiner Menage Ball. Einem Mitgefangenen,
der ihm einen Löffel zum Essen anbot, schleuderte er eine Handvoll Brei ins Ge¬
sicht. Er blieb stumm, liess sich durch die Mithäftlinge an- und auskleiden und
waschen. Cigarrenstummel und Schnupftabak, die ihm unterkamen, ass er.
Am 3. Tage vor seiner Abführung nach Graz (17. März) versuchte er Selbst¬
mord durch Anrennen des Kopfes an die Wand, nach angelegter Zwangsjacke
durch Aufschlagen des Kopfes auf den Boden, wurde jedoch bald wieder ruhig,
so dass die Jacke entfernt werden konnte. Darauf ass er 2 Tage nichts. In der
3. Nacht zehrte er 1 Kilo Brod und die Menageportionen, die sich in der Zelle
vorfanden, heimlich auf. An manchen Tagen war 0. sehr lebhaft, zupfte Fäden
aus Hemd und Strohsack, ass sie, that als wenn er Staub oder Insekten vom Bo¬
den auflese und führte dann die Hand zum Mund. Dann hielt er wieder plötz¬
lich inne. stierte gegen die Wand, machte dabei Lippenbewegungen, wie wenn
er still bete, dann stand er wieder stundenlang ruhig da
Die Mithäftlinge deponiren gleich den Gefangenwärtern; nur habe 0. seiner
Zeit 4 Stunden lang versucht, den Kopf anzustossen. Einmal habe 0. aus Bett-
und Kleidungsstücken die Puppe eines Weibes gefertigt, diese äuf den Strohsack
und sich daneben gelegt, bis (nach l'/ 2 Stunden) ihm diese Puppe entfernt wurde.
Unter Tags habe er öfter ganz entkleidet sich unter die Pritsche gelegt. Manch¬
mal habe er plötzlich auf einen Punkt gestiert, längere Zeit in dieser Stellung
verharrt, wie wenn er eine Vision hätte, sich dann erschreckt gezeigt und con-
fuse Dinge gemacht, z. B. sein Bett in ein Bündel gepackt, auf den Rücken ge¬
nommen und sei damit auf die Thüre zugegangen, wie wenn er sich entfernen
wollte. Zu Zeiten lag er stundenlang auf dem Strohsack und bewegte den Kopf
hin und her. In den Zwischenzeiten habe sein Benehmen jedoch ganz vernünftig
geschienen.
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Raubmord. Simulation von Geistesstörung.
45
Das Verhalten vom 18. März bis zum 25. Abends.
Am 17. März wurde 0. anstandslos dem Landesgericht in Graz überstellt.
Er verzehrt gierig seine Menage, nachdem er sie in einen Topf geleert hat, mit
den Händen; darauf verzehrt er Pappe aus einem in der Nähe befindlichen Papp¬
topf Von der Umgebung nimmt er keine Notiz. Auf Fragen bleibt er stumm.
Die Nothdurft verrichtet er ordentlich. Abends legt er sich angekleidet auf den
Stroh sack.
18. März. Die Nacht hat 0. ruhig schlafend zugebracht. Er rührt sich
Morgens nicht, giebt keine Auskunft. Er bietet eine schmerzlich verzerrte, starre,
blöde Miene, stier glotzende Augen. Gegen passive Bewegung leistet er Wider¬
sland und wenn man ihn aufrichten will, fällt er sofort auf sein Lager zurück.
Bei Berührung der Herzgegend und der rechten Halsgegend zuckt er zusammen
und verzieht schmerzlich das Gesicht unter Stöhnen.
Er thut, wie wenn er von den Vorgängen in der Aussenwelt nichts wahr¬
nähme, sobald aber ein Geräusch von der Thüre entsteht, schaut er nach dieser
Richtung. Auffällig ist, dass, wenn man sich mit ihm zu thun macht, der Puls
rasch in die Höhe geht und die Halsschlagadern heftig pulsiren. Diese offenbar
emotionelle Wirkung auf das Herz verliert sich erst nach einer Weile.
Er weicht dem prüfenden Blick des Beobachters sichtlich aus und wenn
man ihn zwingt, dem Blick Stand zu halten, nimmt er eine ganz blöde, gleich¬
gültige Miene an.
Sein Essen verschlingt er mit Gier und verzehrt ausserdem Stroh, Fäden,
Holz, Pappendeckel, kurz was ihm in die Hände fällt.
Beim Erscheinen des Arztes erschrickt er einen Moment, nimmt aber dann
anscheinend von demselben keine Notiz. Allein gelassen geht er schlaffen, nach¬
lässigen Ganges in der Zelle herum oder lehnt in einer Ecke.
19. März. Gute Nacht. Das gleiche Verhalten wie am Vortag. Wo immer
er Staub und Schmutz findet, steckt er ihn in den Mund. Den Manipulationen
des Waschens, Reinigens u. s. w. setzt er keinen Widerstand entgegen. Wenn
man ihm einen Löffel in die Hand giebt, bedient er sich desselben zum Essen,
aber höchst ungeschickt, so dass er die Speisen verschüttet. Diese Speisontheile
hebt er aber sorgfältig vom Boden auf und verzehrt sie. Es ist kein Zweifel,
dass er die Vorgänge um ihn versteht, auch bringt man ihn auf nachdrückliche
Aufforderung dazu, aufgetragene Bewegungen auszuführen.
20. März. Gleiches Verhalten.
21. März. Am Nachmittag wollte er unvermerkt ein Brod sich aneignen,
als aber der Eigentümer hinschaute, zog er die Hand zurück. Einen ihm ge¬
reichten Holzlöffel zerbricht er.
22. März. Verzehrte heute ein grosses Stück seines Hemdes. Nachdem der
Hausarzt die Bemerkung hatte fallen lassen, dass solche Leute gewöhnlich auf
den Boden uriniren, urinirt 0. in der Nacht auf den Boden, obwohl er kurz vor¬
her auf den Leibstuhl gesetzt worden war. Von da an ist er unrein.
23. März. Der Gang ist von heute an ein auffällig täppischer, schlotternder,
wie bei Idioten, ganz besonders, wenn 0. sich beobachtet weiss.
24. März. Von heute an wird 0. auf schmale Kost gesetzt. Er sitzt wie
blöd da, lässt sich zu Allem nöthigen. Er lispelt oft vor sich hin, schneidet
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Dr. v. Krafft-Ebing,
bald eine lächelnde, bald eine verzweifelte Grimasse. So w r enig wie am Vortag
beanlwortet er die Fragen der Gerichtsärzte. Er thut. wie wenn er keine Notiz
nehme; gelegentlich ertappt man ihn auf einem forschenden Blick. Von der Be¬
obachtung, der er ausgesetzt ist, ist er sichtlich unangenehm berührt. Man sieht
ihm an, wie peinlich ihm die Situation ist. Den Blick der Aerzte meidet er,
schaut stier ins Leere. Ab und zu bietet er ein gezwungenes Vorsichhinlachen.
25. März. Gleiches Verhalten. Hartnäckige Stummheit. Er macht ein recht
einfältiges Gesicht, aber seine Miene verräth geistige Vorgänge. Auf Berührung
der rechten Halsseite zuckt er ostentativ schmerzlich zusammen. Prüfung der
Empfindlichkeit der Haut durch Nadelstiche bleibt unbeantwortet so lange die
Augen offen sind. Bei verbundenen Augen zuckt er aber zusammen. Berührung
der Augen, der Nasenhöhlen löst Reflexbewegungen aus und verzieht sich dabei
sein Gesicht unwillig. Ein ihm gereichtes Brod ergreift er und isst es gierig.
Als man ihm den Rest nimmt, sieht er dem Brod wehmüthig nach. Milch trinkt
er mit Hast und klaubt dann die noch anhaftenden Reste in der Schüssel heraus.
Eine gereichte Cigarre beisst er zur Hälfte ab und verschlingt sie. Darauf trinkt
er gierig aus dem Lavoir. Beim Umhergehen bietet er auffallend plumpen, täp¬
pischen Gang.
Dem 0. wird bedeutet, dass man seine Simulation durchschaue und gera-
then, er möge die Maske fallen lassen. Er blickt womöglich noch dümmer drein,
schneidet Grimassen, wälzt die Augen hin und her. aber es ist kein Zweifel, dass
er den Sinn und die Tragweite der an ihn gerichteten Worte versteht, einen
schweren inneren Kampf kämpft. Gleichwohl bleibt er sich gleich und wird wie¬
der nach der Zelle abgeführt.
Das Verhalten vom 25. März Abends an.
Eine Weile ging 0. noch in der Zelle auf und ab. Darauf rief er nach dem
Krankenmeister, verlangte Essen, er halte es vor Hunger nicht mehr aus. Wenn
er zu essen habe, sage er Alles. —
Der herbeigerufene Hausarzt fand einen mimisch ganz anderen Menschen
vor. 0. war nun ganz klar, sprach vernünftig und fing an in einem Buche zu
lesen. Derselbe Befund wird in einer langen Exploration des 0. am 26. von den
Gerichtsärzten erhoben. Er giobt prompt und willig Antwort, beklagt sich, dass
man ihm die letzten Tage so wenig zu essen gegeben. Das habe ihn zur Ver¬
zweiflung und zum Reden gebracht. Auf die Frage, warum er stumm gewesen,
antwortet er, weil er ungerecht des Mordes beschuldigt wurde. Bezüglich der
Species facti verweist er auf die Verhöre in Leoben. Er habe dort Alles gesagt
und seinen Aussagen nichts mehr hinzuzufügen. Er giebt seine Personalien rich¬
tig an. berichtet, dass er als Knabe von 11 Jahren von einem anderen einen
Steinwurf an den Kopf bekam. Er sei damals 3 Tage in ärztlicher Behandlung
gestanden, habe in der Folge keine Beschwerden von dieser Kopfverletzung ver¬
spürt. Ausser einem fieberhaften Gelenkrheumatismus im 13. Jahr und der Herz¬
entzündung in Gradisca will er nie krank gewesen sein. Er habe leicht gelernt,
könne gut lesen und schreiben. Dem Trünke sei er nie ergeben gewesen, die
Sommerhitze habe er gut vertragen. An geistiger Störung, sowie an Epilepsie
habe er nie gelitten.
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Raubmord. Simulation von Geistesstörung.
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Explorat benimmt sieb von nun an ganz verständig und geordnet. Er isst
mit grossem Appetit, schläft gut.
Am 27. März findet nochmals eine längere Exploration statt. Bezüglich der
Species facti verweist er wieder auf seine Verhöre in Leoben, stellt sich als die
gekränkte Unschuld hin und behauptet von allen Vorfällen am 20. Februar
Abends nichts zu wissen, da er fest geschlafen habe und erst durch die Gens-
darmen erweckt worden sei.* Er behauptet, an jenem Abend zwischen 6 und 7
Uhr ins Haus eingelassen worden und bald zu Bett gegangen zu sein.
Die verfängliche Frage, ob hinter ihm die Hansthüre geschlossen worden
sei, beantwortet er dahin, dass er sich dieses Umstandes nicht erinnern könne.
Eine andere Person als die Frau und den Knaben habe er an jenem Abend im
Hause nicht bemerkt. Der Vorkommnisse nach seinem angeblichen Erwecktwerden
erinnert er sich mit allen Details und kommt wiederholt darauf zurück, dass man
ihn im Vorhause zu Boden geworfen und auf die Nase geschlagen habe. Sein
närrisches Benehmen vom 26. Febr. ab entschuldigt er 1. mit Dummheit, 2. mit
Aerger darüber, dass man ihn für einen Mörder hielt, 3. weil er bei der schmalen
Kost in Leoben nicht habe bestehen können. Er erinnert sich an Alles aus dieser
Episode, ausgenommen, dass er mit Koth geschmiert und als er am 26. Februar
sich za Boden fallen liess, den Ausruf that: „Ihr werdet mich nicht lebendig
haben“. Er sei übrigens damals einfach zu Boden geglitten vor Krankheit, Hun¬
ger und Müdigkeit. Das Stossen des Kopfes an die Wand sei aus Desperation
über seine Lage geschehen. Wenn man ihn verurtheile, so müsse er es sich ge¬
fallen lassen, Christus sei ja auch verurtheilt worden.
Seit der Erkrankung in Gradisca habe er öfter Beklemmung, Athemnoth,
Herzklopfen. Als er am 20. Abends bei R. Einlass begehrte, habe er seine ge¬
wöhnlichen Herzbeschwerden verspürt, im Uebrigen sich jedoch wohl gefühlt,
kein Fieber, keine Angst gehabt. —
Eine nochmalige Durchforschung seinesVorlebens auf Epilepsie fallt negativ
aus. Die sorgfältigste Beobachtung ergiebt nach keiner Richtung bei 0. Spuren
geistiger Krankheit oder geistiger Schwäche. Seine Intelligenz lässt nichts zu
wünschen übrig. Er fasst leicht auf, antwortet fliessend und hüllt sich in Schwei¬
gen da, wo ihm inopportune Fragen gestellt werden.
Der Schädel ist regelmässig in seinem Bau. Narben oder empfindliche
Stellen sind an demselben nicht auffindbar. Die Pupillen sind mittelweit, reagi-
ren normal.
Explorat ist ein kräftig gebauter, in seiner Ernährung reducirter Mensch.
Die Untersuchung des Herzens ergiebt die Erscheinungen eines bisher leid¬
lich compensirten Klappenleidens. Die Herzdämpfung reicht von dem rechten
Sternalrand bis 2 Centimeter über die Brustwarzenlinie hinaus. An allen Ostien
des Herzens sind Geräusche zu vernehmen. Die Halsschlagadern zeigen starke
Pulsation und beim Auflegen der Hand heftiges Schwirren. Der Puls ist hüpfend
durch Hypertrophie des linken Ventrikels.
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48
Dr. v. Kraf ft- Ebing,
Gutachten.
Im Sinne der richterlichen Fragestellung kommen zu entscheiden:
1) der Geisteszustand des Angeschuldigten seit dem 2. Verhör
am 26. Februar;
2) der Geisteszustand zur Zeit der Abgabe des Gutachtens;
3) der Geisteszustand zur Zeit der Oberosler zur Last gelegten
That,
ad 1. Vom 2. Verhör ab ist mit einem Schlage der bisher ge¬
ordnete, vernünftige Angeschuldigte ein geistig ganz Anderer. Das
Bild, welches er bietet, passt in keines der der Wissenschaft bekann¬
ten vollkommen hinein. Im Grossen und Ganzen verhält er sich wie
ein Blödsinniger. Manches an ihm, wie z. B. die täppische plumpe
Geh weise, erinnert an die Erscheinung des Idioten. Dass 0. kein
solcher war und ist, bedarf keiner Erörterung. Erworbene Zustände
von Blödsinn sind die Folge schwerer Gehirninsulte, wie z. B. Kopf¬
verletzung, Schlagfluss, oder sie sind Ausgänge lange bestandener
Geisteskrankheit. Diese Momente sind bei 0. ebenfalls ausgeschlossen.
Dies eigenartige Bild von Blödsinn, welches 0. zur Schau trägt, ist
somit ursächlich nicht motivirt; auch widerspricht seine Entstehungs¬
weise — plötzlicher Beginn — der Entwicklung eines Blödsinns aus
innerer organischer Hirnveränderung. Es giebt Zustände tiefer geisti¬
ger Erschöpfung des Gehirns, sogenannte Stupidität, die bei besonders
Disponirten, körperlich herabgekommenen Individuen allerdings plötz¬
lich, z. B. in Folge einer heftigen Gemüthsbewegung, eintreten und
nach einigen Monaten sich wieder ausgleichen können.
0. war vom 26. Februar bis zum 25. März nicht stupid — er lieferte
Beweise, dass er appercipirte, dachte, handelte; er hatte Hunger, be¬
friedigte ihn; seine Sensibilität, seine Reflexerregbarkeit war nicht ge¬
schädigt; sein Schlaf, seine vegetativen Functionen waren intact. Eine
Stupidität wäre aber auch ursächlich nicht begründet, da er nicht
erblich oder sonstwie zu solcher Krankheit disponirt, körperlich nicht
erschöpft und nicht einer plötzlichen heftigen Gemüthsbewegung aus¬
gesetzt war. Eine solche war z. B. im Moment der Ergreifung und
Erweckung aus dem „Schlaf“ da, nicht aber am 26. Februar, wo die
Situation so zu sagen vom Zaun gebrochen wurde, der spätere Zustand
mit einem theatralischen Eclat anhob und der durch Verhöre in die
Enge getriebene 0. dadurch und durch Stummheit sich vor weiteren
verfänglichen Fragen wohl salvircn wollte. Damit ist schon angc-
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Raubmord. Simulation von Geistesstörung.
49
deutet, dass der ganze Zustand vom 26. Februar bis zura 25. März
ein künstlich angenommener, eine Maske war.
Aber auch bezüglich der Symptome bot der an 0. beobachtete
Zustand ein Zerrbild wirklich vorkommender Krankheitsbilder. Noch
am meisten näherte er sich dem Bilde eines Idioten, deren manchen
0. auf seinen Reisen durch die Alpen gesehen haben mochte, aber
abgesehen davon, dass Jemand nicht im Handumdrehen Idiot werden
kann, war der tölpische Gang kein gleichmässiger, die Stummheit
nicht motivirt. Auch bot 0. neben sinnlosen, läppischen, mitunter
säuischen Handlungen solche, die seine hinter der Maske bestehende
affectvolle, der Situation klar bewusste Gemüthsverfassung bekundeten
— z. B. die Selbstmordversuche, mit denen er gründlich aus der Rolle
fiel und die jedenfalls mit der sonst zur Schau getragenen Apathie
contrastirten.
Ebenso standen im Widerspruch seine ostensible Schmerzhaftig¬
keit an Herzgegend und rechter Halsseite mit der sonst am Körper
(so lange er hinsehen konnte) bekundeten Unempfindlichkeit, seine
Gefrässigkeit mit seiner sonstigen Bedürfnisslosigkeit und Indifferenz
gegen die Aussenwelt. Dass er heftig durch die ärztliche Beobach¬
tung jeweils beeinflusst wurde, somit Person und Zweck der Unter¬
suchung erkannte, beweist die Steigerung der Herzaction und Puls¬
frequenz, sobald die Aerzte sich mit ihm zu schaffen machten.
Dass er willkürlich das von ihm gebotene Bild ändern konnte,
beweist der Umstand, dass er auf den Boden urinirte, nachdem man
ihn, in eine Falle lockend, auf dieses Symptom aufmerksam gemacht
hatte; endlich das Aufgeben der ganzen Rolle mit sofortiger Wieder¬
kehr der früheren mimischen und geistigen Persönlichkeit, nachdem
die Aerzte ihn bedeutet hatten, dass er ein Schauspieler und noch
dazu ein schlechter sei, dass er sich nur irrsinnig stelle. Mit Be¬
stimmtheit lässt sich erklären, dass 0. die Erscheinung eines
Blödsinnigen vom 26. Februar bis 25. März simulirt hat.
ad 2. Simulation schliesst geistige gleichzeitige Störung nicht
aus. Von irgendwelchen Symptomen geistiger Krankheit, während 0.
die Maske der Simulation trug, war nichts zu bemerken und lässt sich
sein ganzes Thun und Lassen auf seine Simulation zurückführen.
0. ist laut Zeugniss der Gemeindevorstehung, Gensdarmerie und des
Lehrers aus geistesgesunder Familie, nie geisteskrank gewesen.
Während einer Haftzeit von 2 Jahren in Gradisca, die bis zum
December 1884 sich erstreckte, hat man nie etwas geistig Abnormes
Vierteljahrsachr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 1. 4
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50
Dr. v. Krafft-Ebing,
an ihm wahrgenommen. Gegen Geistesstörung in der Folge spricht
seine Reise nach Wien, auf welcher er unbeanstandet bis ins Kaiser¬
liche Schloss gelangte, die Wahrnehmungen der Leute, die ihn im
R.’schen Hause am 20. Februar ergriffen, die Wahrnehmungen des
Untersuchungsrichters, der Gefangenwärter und Mitgefangenen.
Ebenso wenig liess sich am 25. März Abends, *ra 26. und 27.
nach eingehender Exploration irgend ein Zeichen abnormer geistiger
Function an 0. entdecken, der wiederholt selbst darum befragt, aus
keiner Zeit seines Lebens von Erscheinungen von geistiger Störung zu
berichten wusste.
Mit Bestimmtheit lässt sich somit erklären, dass 0. weder in
früherer Lebenszeit noch gegenwärtig geistig gestört war
oder ist. Er bietet im Gegentheil die Zeichen eines intelligenten,
besonnenen, seiner Lage klar bewussten Menschen.
ad 3. Ueber das geistige Verhalten des 0. zur Zeit der ihm
imputirten That, finden sich 2 Versionen vor, die des Inculpaten, der
während der ganzen Species facti geschlafen und die Ereignisse erst
nach seiner Erweckung aus dem Schlaf erfahren haben will, anderer¬
seits die Version, welche dem unbefangenen Leser der Acten aus den
Thatumständen, Zeugenaussagen u. s. w. sich nothwendig ergeben muss.
Die Version des 0. wäre nur annehmbar unter der Voraussetzung,
dass sein Schlaf ein krankhaft tiefer gewesen wäre. Ein solcher wäre
denkbar durch eine volle Berauschung oder eine anderweitige Intoxi-
cation oder im Sinne eines epileptischen Sopor. Eine Berauschung
oder Vergiftung, etwa durch Narcotica, ist ausgeschlossen und wird von
0. selbst in Abrede gestellt. Die Möglichkeit eines epileptischen An¬
falles mit folgendem Sopor wäre so zu denken, dass 0. im Bette von
einem epileptischen Anfall überrascht worden und im Sopor oder Coma
längere Zeit darnach gelegen wäre. Aber auch diese äusserste Mög¬
lichkeit an der Version des 0. eine Wahrheit zu finden, ist nicht halt¬
bar. Es fehlt ihr erstens der Nachweis der Epilepsie und zweitens
erfolgte das „Erwecktwerden“ mühelos und sofort. Jedenfalls befand
sich 0. in diesem Moment nicht in einem Coma oder Status epi-
lepticus.
Es lässt sich kein Grund für einen pathologischen Schlafzustand
am Abend des 20. Februar ermitteln und seine Angabe, dass er da¬
mals den Schlaf des Gerechten schlief, muss als unannehmbar be¬
zeichnet werden. Dass ein 30jähriger Mensch, der nicht gänzlich er¬
schöpft oder unter anderweitigen krankhaften Bedingungen schläft,
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Raubmord. Simulation von Geistesstörung.
51
zudem wie 0. gut hörte, durch den fürchterlichen Lärm, wie er mit
dem Einhauen der massiven Thüre nur 8 Schritte von seiner Lager¬
stätte verbunden war, nicht erweckt worden sei und erweckt werden
musste, ist medicinisch nicht denkbar.
Die zweite Version geht dahin, dass 0. der Mörder der Clara R.
und des Knaben ist. Sie legt psychiatrisch die Erwägung nahe, ob 0.
zur Zeit der That nicht in einem Zustand von transitorischer Geistes¬
störung, einer sogenannten Sinnesverwirrung sich befunden habe.
Die Möglichkeit eines pathologischen Alkohol-, eines Intoxica-
tions-, eines Affect- oder Angstzustandes lässt sich vorweg aus-
schliessen. Möglich blieben Mania transitoria und eine epileptische
Sinnesverwirrung.
Von ersterer kann Jeder befallen werden. Sie endigt mit einem
tiefen Schlaf. Die Gewaltthaten in solchem Zustand pflegen so grau¬
sam zu sein wie 0. verfuhr. 0. ist jedoch sicher am 20. Abends
nicht von Mania transitoria befallen gewesen. Diese setzt einen be¬
wusstlosen Zustand voraus, in dem Praemeditation, combinirtes Han¬
deln unmöglich sind. 0. handelte aber praemeditirt und combinirt.
Er kam schon mit einem Stein bewaffnet in das Haus, welches ihm
Gastfreundschaft bot. Er holte eine Hacke, als er sah, dass ihm der
Stein nicht genügte, verfolgte den Knaben, um den Augenzeugen der
That zu beseitigen, ging dann weg, vermuthlich um zu rauben, war
durch das schnelle Erscheinen der alarmirten Nachbarn an der Flucht
gehindert, legte sich nun zu Bett und spielte den Schlafenden, um
eine Ausrede gegenüber der zu gewärtigenden Beschuldigung des Mor¬
des zu finden, nachdem er noch seine Documente zerrissen und ver¬
borgen hatte, um Unklarheit über seine Person zu verbreiten.
Wer so vorgeht, kann nicht an Sinnesverwirrung, speciell an
Mania transitoria leiden. Hätte er die Bäuerin zusammengehauen, in
blindem Wüthen Das und Jenes zerstört und wäre er dann in tiefem
Schlaf an der Stelle des Mordes gefunden worden, dann wäre diese
Vermuthung statthaft. Da wo die Mania transitoria in den kritischen
Schlaf übergeht, ist der Kranke nach wie vor bewusstlos, vermag
nicht zu sehen, dass irgendwo ein Bett steht, geschweige, dass er sich
auszieht und hübsch ins Bett legt.
Die gleichen Einwände müssen erhoben werden, falls Jemand eine
epileptische Sinnesverwirrung an 0. zur Zeit der That finden wollte.
Abgesehen davon, dass Epilepsie weder je früher noch jetzt bei ihm
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52
Dr. v. Krafft-Ebing.
nachweisbar ist, müsste im Sinne obiger Annahme ebenfalls ein be¬
wusstloses, sinnloses Handeln gefordert werden.
Die 3. Frage beantwortet sich somit dahin, dass am 20. Februar
Abends 0. nicht an einer irgendwie gearteten Sinnesverwirrung ge¬
litten hat. _
Am 8. und 9. Mai stand 0. vor dem Schwurgericht. Der Beweis
seiner Schuld wurde erbracht. Die Zeugen erklärten es für unmög¬
lich, dass er während des Einhauens der Thür nicht hätte erweckt
werden müsson. 0. blieb bei seinem Vertheidigungssystem. Seit der
Aufgabe der Simulation hat er keinen bezüglichen Versuch mehr ge¬
macht. Er wurde zum Tode verurtheilt und am 14. Juli hingerichtet.
5.
Beiträge zur gerichtlichen Toxicologie.
Von
Dr. Julius Kratter,
Doceut und Assistent am Institut für Staatsarzneikundc in Graz.
I.
Beobachtungen und Untersuchungen über die
Atropin-Vergiftung.
Mit 2 Tafeln.
Während meiner zehnjährigen Thätigkeit als Assistent an der
Lehrkanzel für Staatsarzneikunde hatte ich Gelegenheit, mehrere Fälle
von Vergiftung durch Belladonna und das Alkaloid derselben, durch
Atropin, zu beobachten und zwar theils selbständig, theils in Ver¬
bindung mit anderen Collegen, indem ich mich an der Untersuchung
durch Ausführung des chemischen Nachweises betheiligte. Diese Fälle
bieten an und für sich schon einiges Interesse dar, und gaben mir
überdies Veranlassung, umfänglichere Studien über die Atropinvergif¬
tung im Allgemeinen anzustellen, und insbesondere Erfahrungen über
den forensischen Nachweis zu sammeln. Wenn auch die Zahl
der bisher beobachteten und beschriebenen Vergiftungsfälle gerade keine
geringe ist, so glaube ich doch, für meine Untersuchungen und Beob¬
achtungen deswegen einiges Interesse erwecken zu können, weil bisher
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Dr. J. Kratter.
53
noch niemals von einem einzelnen Beobachter ein gleich umfängliches
Material von Beobachtungen am Menschen wissenschaftlich verwerthet
werden konnte.
Die nöthigen literarischen Studien, die ich anzustellen mich ver¬
anlasst sah, umfassen so ziemlich das ganze Gebiet der insbesondere
für den forensischen Zweck nothwendigen Materialen.
I. Allgemeines.
Die Tollkirsche, Atropa Belladonna L. der Familie der Solan een
angehörig, ist, wie Mathiolus 1 ) nachgewiesen hat, erst seit etwas
über 3 Jahrhunderten in Europa bekannt. Sie ist eine der wichtig¬
sten unter den europäischen Giftpflanzen.
Von den giftigen Solaneen kannten die Alten nur folgende vier Arten:
1) Solanum hortense = Srpö^og xyxacog, 2) Solanum Halicaoabum = St puyvog
XaAtxdxaßog; ferner 3) Solanum somniferum = Srpu^vog bitv(ort%6e, und endlich
4) Solanum furiosum = Srpu^vog ßavc%6g, auch Solanum Persicum genannt. Das
sind die von Dioskorides aufgeführten und beschriebenen Solaneenarten.
Unsere Pflanze wird zuerst von Mathiolus 2 ) im Jahre 1570 unter dem
Namen Solanum maius sive herba Belladonna beschrieben. Er nennt sie Somnifici
Solani alterum genus und sagt darüber Folgendes:
„Nascitur in agro Goritiensi salvatino monte inter saxa unde aliquot no-
biscum tulimus plantas. Ceterum errant mea quidem sententia, qui eam plantam,
quam herbariorum vulgus Solatrum maius nominat, Veneti vero vulgo herba Bella¬
donna Solanum somniücum Dioskoridis esse existimant. “
Dass Mathiolus thatsächlich die wahre Atropa Belladonna kannte und be¬
schrieb, geht sowohl aus der genauen Schilderung der Pflanze selbst hervor,
sowie aus der Abbildung, die dem Texte beigegeben ist, und namentlich auch
aus dem, was er über die Wirkung derselben sagt. Die diesbezügliche Stelle
lautet:
„Nam baccae ipsae devoratae sumentes dementant et in furorem agunt
adeo, ut demoniaci facti videantur. Inducunt tarnen sumentes qnandoque in ve-
ternum (Collaps). Nam et pueros quosdam ex harum baccarum esu mortuos sci-
mus, qui discriminis ignari eas uvae vice devorarunt. “ 3 )
Auch die Heilwirkuug und zwar in der Anwendung für Augenkrankheiten
war diesem Forscher bereits bekannt. „Contusa folia oculorum palpebrarumque
phlegmonas leniunt.“
Wir theilen beute die Familie der Solanaceen, welche eine Reihe ein¬
heimischer und ausländischer Giftpflanzen in sich schliesst, in vier Unterfamilien
ein und zwar:
*) Petri Andreac Mathioli, Senensis medici Comraentarii in sex libros Pe-
dacii Dioscoridis Anazarbei de medica materia, jam denuo ab ipso autore recog-
niti et locis plus mille aucti. Venetiis ex officina Valgrisiana. MDLXX.
*) a. a. 0. S. 678.
*) a. a. 0. S. 680.
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54
Dr. J. Kratter,
1) Die Solan een, deren wichtigste Repräsentanten Solanum Dulcamara L.,
Solanum tuberosum L., Capsicum (spanischer Pfeffer, Paprika) und Physalis
Alkekengi L., die Schlutte oder Judenkirsche sind.
2) Die Atropeen mit der Atropa Belladonna L., dem Lycium barbarum L.
(Teufelszwirn) und der Mandragora Juss., von welcher Pflanze die Wurzel früher
officinell und wegen ihrer eigenthümlichen Form unter dem Namen Alraun,
Alraunmännchen, Alruniken ein bekanntes Zaubermittel im ganzen Mittel-
alter war.
3) Die Hyoscyameen mit der Datura Stramonium L., dem Stechapfel,
und Hyoscyamus niger, dem Bilsenkraut, und endlich
4) Die Cestrineen mit Nicotiana tabacum L. und Nicotiana rustioa L.,
welche beide, die letztere besonders im Orient cultivirt, den bekannten und un¬
entbehrlichen Tabak liefern •).
Dazu kommt noch die zu den Solaneen gerechnete Gattung Duboisia, die
in Australien einheimisch ist und erst in allerjüngster Zeit in Europa bekannt
wurde und von welcher die von Holmes 2 ) und Lanessan 3 ) beschriebene Du¬
boisia myoporoides R. Brown ein von Gerrard und Petit dargestelltes Alca-
loid das sog. Duboisin enthält, das in seinen chemischen Eigenschaften sowohl,
wie auch in Bezug auf die physiologische Wirkung dem Alcaloid der Belladonna,
dem Atropin ganz ähnlich ist, jedoch viel energisoher als dieses wirkt.
In der ganzen Gruppe der Solanaceen hat die Belladonna weitaus die
grösste Bedeutung.
Vergiftungen mit dieser Pflanze, welche in allen ihren Theilen gifthaltig
ist, sind, seitdem wir die Pflanze überhaupt genauer kennen, zahlreich vorge¬
kommen und beschrieben worden. Wie schon oben erwähnt, hat Mathiolus 4 )
selbst Beispiele von zufälligen Vergiftungen durch die Beeren der Tollkirsche
kennen gelernt. Nicht selten mögen auch Vergiftungen vorgekommen sein durch
den bei den Venetianern üblichen Gebrauch der Belladonna für kosmetische
Zwecke. Stammt ja doch der Name Belladonna von dieser Anwendung her. Ma¬
thiolus erwähnt auch einer die etwas eigenthümlichen Sitten seiner Zeit oha-
rakterisirende Anwendung der Belladonna zu absichtlichen Vergiftungen leich¬
terer Art. Er erzählt nämlich und zwar nach einer Mittheilung von Francisous
Calceolarius Veronensis, dass man Wein mit Belladonna versetzte zu dem
Zwecke, um gefrässigen Gästen bei einem reichen Gastmahle das Mahl zu ver¬
leiden. Es stellten sich nämlich die bekannten Schlingbeschwerden ein, so dass
die Leute, welche von dem Weine tranken, nicht mehr weiter essen konnten.
Diese von unserem Zeitalter wohl nur als barbarische Sitte zu bezeichnende Art
der Anwendung einer Giftpflanze bezeichnet er als einen grossen Spass, indem
er sagt:
„ Jocus est magnus, ubi quis gulosis parasitis hoc apposuerit vinum cum
mensis optimis cibis refertis assidentes nihil prorsus cibi ingerere queant.“
') Luerssen, Medicinisch-pharmaceut. Botanik. Leipzig 1882. II. Band.
S. 973 u. ff.
*) Pharm, journ. et transact. Bd. 8.
*) Bull. gön. d. thörap. 1878.
4 ) a. a. 0. S. 680.
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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 55
Von Gaulthier de Clanbry wird ein Fall berichtet, wo ein Detaohement
französischer Soldaten, 160 Mann, im Jahre 1813 in der Umgebung von Pirna
durch den Genuss von Tollkirschen in mehr oder weniger intensiverWeise vergiftet
wurde. Im vorigen Jahrhundert müssen wol zahlreiche solche zufällige Vergif¬
tungen, meist aus Unkenntniss hervorgehend, vorgekommen sein; namentlich
waren es nicht selten Kinder, welche auf diese Weise zu Schaden kamen, wol
auch wiederholt zu Grunde gingen. So hat Frank ') Beobachtungen zusammen¬
gestellt, welche 11 Erwachsene und 37 Kinder betreffen, darunter 3 Todesfälle
von 2 Erwachsenen und 1 Kinde; auch Gmelin berichtet solche Fälle.
In neuerer Zeit haben Trapenard 2 ), Kürner 3 ) und Seaton 4 )
solche Fälle zusammengestellt, die 18 Individuen betreffen im Alter
von 7—25 Jahren, von denen 2 Knaben starben; ferner F. A. Falck 5 )
112 Intoxicationen, die sich innerhalb von 12 Jahren ereigneten und
jüngstens dessen Schüler Feddersen 6 ), der 103 Fälle von reinen
Atropinvergiftungen in der Zeit von 1850—1884 in einer verdienst¬
vollen Arbeit gesammelt hat.
Wie häufig namentlich zufällige Vergiftungen vorgekommen sind, das geht
aus den zahlreichen Verordnungen hervor,[[welche die Regierungen verschiedener
Staaten zu dem Zwecke erliessen, um theils durch Ausrottung der Tollkirsche in
den Wäldern, theils durch Belehrung den Unglücksfällen dieser Art vorzubeugen.
Wir kennen bezügliche Verordnungen für Böhmen von J. D. John 1 ) für Oester¬
reich von Ferro 8 ), für Preussen durch Liebeke 9 ) und Augustin 10 ), für die
verschiedenen anderen deutschen Staaten und Freistädte wie Stettin, Cöslin,
Würtemberg u. s. w. durch Berg 11 ) und Ehrhart 12 ).
Dass auch heute noch Vergiftungen mit den Beeren der Tollkirsche zur
Beobachtung kommen, beweist ein von mir weiter unten zu beschreibender Fall.
‘) Frank’s Magazin. I. 202, 384, 694; II. 47, 349, 646; III. 115, 447,712;
IV. 45, 466.
*) L’Union. 1859. p. 147.
*) Württemberg. Correspondenzbl. 1856. No. 35.
4 ) Med. Times and Gaz. 1859. Dec. 3.
*) F. A. Falck, Lehrb. der prakt. Toxicologie. Stuttgart 1880. S. 248.
*) J. M. Feddersen, Beitrag zur Atropinvergiftung. Inaug.*Diss. Berlin 1884.
T ) J. D. John, „Leiicon der k. k. Medicinalgesetze.“ Bd. I. S. 521. (Verordn,
für Böhmen vom 18. April 1788.)
®) P. J. von Ferro, „Sammlung aller Sanitätsverordnungen im Erzherzogth.
unter der Enns.* I. S. 99 u. I. S. 236.
*) Liebeke, „Auszüge aus den Königl. Preuss. Polizeigesetzen in Beziehung
auf Gesundheit und Leben der Menschen.“ Magdeburg 1805. S. 47.
,# ) F. L. Augustin, „Die Königl. Preuss. Medicinaiverfassung.“ Bd. I. S. 409.
n ) Berg, „Handbuch des deutsch. Polizeirechts.“ Th. VI. Bd. I. S. 557.
ll ) Ehrhardt, „Polizeigesetzbuch.“ Bd. III. S. 411.
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56
Dr. J. Kratter,
Viel zahlreicher als die Vergiftungsfälle mit den Beeren der Toll¬
kirsche selbst sind die mit den in der Arzneikunde in Verwendung
stehenden Präparaten derselben, die sog. Medicinalvergiftungen.
Es vergeht kein Jahr, in welchem uns nicht einige derartige Fälle
durch die Literatur bekannt gemacht werden. Und gewiss nicht ganz
klein muss die Zahl der Fälle angenommen werden, welche nicht zu
unserer Kenntniss gelangen. Mit allen üblichen Belladonnapräparaten
und in jeder Anwendungsweise sind schon Vergiftungen bekannt ge¬
worden, theils durch Verwechslung in der Apotheke, theils durch die
Schuld des Patienten, indem die verschriebenen Medicamente nicht in
der richtigen Weise genommen wurden u. s. f.
Ich führe hier nur einige Beispiele aus der neueren Literatur an:
Raymond 1 ) berichtet über die Vergiftung eines siebenjährigen Kindes
mit dem in Frankreich officinellen Belladonnasyrup; Meredith 2 ) über eine Ver¬
giftung durch Belladonnaliniment, wovon aus Versehen ein Esslöffel voll einge¬
nommen worden war; Schüler 3 ) über eine solche durch Anwendung von Suppo-
sitorien, wie denn überhaupt keine nur denkbare Anwendung bekannt ist, welche
nicht schon zu Vergiftungen geführt hätte, gar nicht zu gedenken der zahlreichen
Fälle von unglücklichen Verwechslungen in Apotheken, sowie von leichtsinnigem
Gebahren mit verordneten Medicamenten seitens des Publicums. Welche geradezu
unglaublichen Zufälle hierbei Vorkommen können, dafür dient als ein klassischer
Beleg der von Schauenstein 4 ) jüngst mitgetheilte Fall: Ein junger Mann er¬
krankte dadurch unter den Symptomen einer Atropinvergiftung nach dem Ge¬
nüsse von schwarzem Kaffee, dass von der Köchin zur Filtration des Kaffeeauf¬
gusses ein Leinwandlappen benutzt worden war, der vor längerer Zeit als Ueber-
schlag aufs Auge für ein atropinhaltiges Collyrium gedient hatte und der dann
als unnütz weggeworfen, von der Köchin aber als für besagten Zweck noch
dienlich erachtet, aufbewahrt und ungewaschen in Anwendung gezogen wor¬
den war.
') Bullet, de therapeut. T. 88. (Ann. 44.) p. 174.
*) British med. Journ. Jahrg. 1876. No. 830. p. 533.
*) Berl. klin. Wochenschr. Jahrg. 1880. S. 658.
*) Sohauenstein in Maschka’s Handb. d. ger. Medicin. Tübingen 1882.
II. Bd. S. 653. — Interessant ist auch ein anderer Fall, den Schauenstein
berichtet (a. a. 0. S. 636), wo ein Pferd durch „Wolfswurzel“ (Belladonna) zu
Grunde ging. Der Knecht, welcher dem Pferde täglich von der Wurzel ver¬
abreichte, um es „recht feurig und gut aussehend zu machen“, nahm selbst
jedesmal ein wenig von der Wurzel, folgend dem landläufigen Aberglauben, ein
Gift wirke nur auf ein Thier, wenn der Wärter desselben selbst etwas davon
gleichzeitig geniesse. Deswegen auch sind unsere steierischen Arsenikesser
meist Pferdeknechte oder Bauern, die Pferde halten. Den Pferden wird Arsenik
gereicht, um sie schön und feurig zu machen und damit dieser wirkt, nascht der
Knecht auch mit.
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Beobachtangen and Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 57
Die grössere Zahl der in neuerer Zeit zur Beobachtung kommen¬
den Vergiftungsfälle ereignet sich wol nicht mehr mit der Pflanze
und deren galenischen Präparaten, sondern mit dem namentlich in
der Augenheilkunde in so vielfacher Anwendung stehenden Alkaloide
derselben, dem Atropin.
Das Atropin wurde nach den Angaben der toxicologischen Lehrbücher,
wie Husemann '), v. Ziemssen 2 ), F. A. Falck 3 ) und Anderen im Jahre 1831
von Mein 4 ) und fast gleichzeitig 1833 von Geiger und Hesse 5 ) entdeckt.
Ich kann nicht umhin, an dieser Stelle darauf aufmerksam zu machen, dass die
erste Entdeckung des Alkaloides der Belladonna in eine frühere Zeit und zwar
ins Jahr 1820 fällt. In diesem Jahre hatte Brandes 6 ) in den Blättern der
Belladonna eine salzfähige Basis nachgewiesen, die er Atropin nannte. Später
(1825) hat Runge 7 ) nach anderer Methode das Atropin erhalten, ohne von der
Entdeckung Brandes’, die er vielleicht auch gar nicht kannte, etwas zu er¬
wähnen. Seit dieser Zeit, also viel vor dem Jahre 1831 beziehungsweise 1833,
wird das Atropin wiederholt in der Literatur erwähnt 6 ), und glaube ich dem¬
nach wenigstens das Verdienst der Namengebung Brandes und Runge unbe¬
stritten zuerkennen zu müssen, und sollte es in Hinkunft wol gerechterweise nicht
mehr schlechtweg heissen, das Atropin wurde 1833 von Geiger und Hesse
entdeckt. Dass es vor dieser Zeit schon bekannt war, erhellt namentlich auch
noch daraus, dass Marx 9 ) in seinem umfänglich angelegten, leider unvollendet
gebliebenen Werke der Giftlebre, welches im Jahre 1829 in Göttingen erschien,
das Atropin kennt und daselbst die Namen seiner Entdecker nennt.
Immerhin aber bleibt den erstgenannten Forschern das Verdienst, das Alka¬
loid durch Anwendung eines exacten Verfahrens rein dargestellt zu haben. Sie
haben nämlich zur Darstellung desselben sich der von Mein vorgeschlagenen,
von ihnen selbst verbesserten Methode bedient, wonach der weingeistige Auszug
der Belladonnawurzel mit Kalkhydrat versetzt wird, welches das primäre Atropin¬
salz zerlegt und einen grossen Theil der in Lösung befindlichen organischen
Säuren und andere färbende Stoffe ausscheidet.
Aus dem Filtrate, welches man nach dem Uebersättigen mit Schwefelsäure
durch möglichst rasches Eindampfen bei niederer Temperatur vom Alkohol be-
*) Husemann, Handb. der Toxicologie. Berlin 1S62. S. 468.
*) v. Ziemssen, Handb. d. spec. Path. u. Ther. XV. Bd.: „Intoxicationen“
von Boehm, Naunyn und v. Boeck. Leipzig 1876. S. 351.
*) F. A. Falck, Lehrb. der prakt. Toxicologie. Stuttgart 1880. S. 246.
4 ) Annal. d. Pharmac. VI. Bd. S. 67.
*) Geiger und Hesse, Darstellung des Atropins. Ann. d. Pharm. V. S. 43;
VI. S. 44; VII. S. 269 u. 272.
*) Schweigg. Journ. Bd. XXVIII. S. 9.
7 ) Annales de Cbim. et de Phys. XXVII. p. 35.
8 ) Vergl. Berzelius’ Jahresber. 1822. Bd. I. und 1826. Bd. V. S. 243 u. ff.
*) Marx, „Die Lehre von den Giften in medicin.-gerichtl. und polizeilicher
Hinsicht.“ I. Bd. „Geschichte der Giftbasen.“ II. Abth. Güttingen 1829. S. 371.
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58
Dr. J. Kratter,
freit, scheidet sich auf Zusatz einer concentrirten LösuDg von kohlensaurem Kalk
im Verlauf von 12—24 Stunden das Atropin im unreinen Zustande aus, welches
durch Behandlung mit Blutkohle und wiederholtes Umkrystallisiren gereinigt wird.
Immerhin aber glaube ich, dass bei der Erwähnung der Entdeckung des
Atropins jene ersten Forscher, welche sich mit der Darstellung und Isolirung des
wirksamen Princips der Belladonna befasst haben, nicht vergessen werden dürfen;
umso weniger als sie es waren, welche der neuen Substanz den auch von späte¬
ren Forschern beibehaltenen Namen Atropin gegeben haben.
In neuerer Zeit wurden ziemlich eingehende Versuche über die mydriatisch
wirkenden Alkaloide von einer Reihe von Forschern angestellt, und es ergiebt
sich der gegenwärtige Stand der Dinge nach diesen Untersuchungen folgender-
massen:
Die mydriatisch wirkenden Alkaloide sind nach A. Ladenburg 1 ) unter ein¬
ander isomer. Sie haben sämmtlich die Formel: C n H 23 N0 3 . Das Atropin
findet sich in Atropa Belladonna und Datura stramonium und spaltet sich in
Tropasäure C 9 H 10 O 3 und Tropin C 8 H 15 NO. Das Hyoscyamin findet sich in
Atropa Belladonna, Datura stramonium, Hyoscyamus niger und Duboisia myopo-
rides und spaltet sich ebenfalls in Tropasäure und Tropin; das Hyoscin findet
sich in Hyoscyamus niger und spaltet sich in Tropasäure und Pseudatropin
C 8 H 15 NO. Ausserdem hat Ladenburg 2 ) aus mandelsaurem Tropin das Homa-
tropin synthetisch dargestellt und wurde dasselbe experimentell und therapeu¬
tisch bei Thieren und Menschen geprüft von Volkers 3 ), Tweedy 4 ) und Rin¬
ger 5 ). Paulinsky 6 ), Bertheau 1 ), Fronmüller 8 ) und Anderen 9 ). Es besitzt
im Ganzen dieselben Wirkungen, wie das Atropin, unterscheidet sic.h aber von
ihm dadurch, dass eine giftige Wirkung erst nach grösseren Dosen eintritt und
rascher vorübergeht.
Nach Planta 10 ) sind Atropin und Daturin identisch, nach Subeiran 11 )
nur isomer; auch Ehrhardt 12 ) hat auf die Verschiedenheit der Krystallform der
beiderseitigen Salze aufmerksam gemacht. Desgleichen spricht sich A. Poehl >s )
*) „Berichte der deutsch, ehern. Gesellschaft.“ 12. Jahrg. 1880. S. 131 und
„Jahresber. über d. Fortschritte der Pharmacognosie, Pharmacie u. Toxicologie.“
N. F. 16. u. 17. Jahrg. II. Hälfte. 1884. S. 639.
*) Ber. d. deutsch, ehern. Gesellsch. 1880. S. 131.
*) Verhandl des physiol. Vereins in Kiel 23. Jan. 1880.
4 ) Lancet. 1880. No. 21.
5 ) Ebenda.
*) Klin. Monatsblätter f. Augenheilkunde. XVIII. S. 343.
7 ) Berl. klin. Wochenschr. 1880. No. 41. S. 582.
8 ) Memorabilien. 1880. S. 298.
*) Vergl. Jahresber. über die Fortschritte der Pharmacognosie, Pharmacie u.
Toxicol. N. F. XV. Jahrg. 1880. S. 262 u. 263.
,# ) Annal. ehern. Pharm. 74. S. 252.
*•) Handwörterbuch der Chemie. I. S. 901.
**) Neues Jahrb. der Pharmacie. 1866.
**) Chem. Centralbl. 1878. S. 107.
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I
Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 59
gegen die Identität beider Alcaloide aus. Schmidt *) spricht für die Identität
derselben; Ladenburg und G. Meyer 2 ) behaupten die Identität von Daturin,
Hyoscyamin und Duboisin und später weist Ladenburg nach, dass in Atropa
Belladonna 2 Alkaloide, ein schweres und ein leichtes vorhanden seien; ersteres
sei identisch mit dem von Mein, Geiger und Hesse entdeckten Atropin, letz¬
teres mit dem Hyoscyamin. Jetzt zeigt auch E. Schmidt 3 ) das Vorkommen vou
Atropin und Hyoscyamin, resp. Daturin im käuflichen Atropin an. Regnault
und Valmont 4 ) veröffentlichen eine pharmakologische Arbeit, in welcher sie zu
nachfolgenden Schlussfolgerungen kommen:
Das officinelle Atropin besteht in veränderlichen Verhältnissen aus zwei iso¬
meren krystallisirbaren Alkaloiden, welche mit den gleichen therapeutischen
Eigenschaften ausgestattet sind. Das eine ist das Atropin a (Atropin Laden¬
burg), das andere sollte Atropin b oder noch besser Atropidin genannt wer¬
den; es ist das Hyoscyamin Ladenburg’s.
Das Atropidin existirt in solchen Mengen in der Belladonna, dass es etwa
zwei Drittel des krystallisirten Atropins der Pharmakopoe ausmacht. Das Atro
pidin ist das gemeinschaftliche Alkaloid aller Pupillenerweiterung bewirkenden
Solaneen.
Mag sich die Frage nach der Wesenheit der mydriatisch wirken¬
den Alkaloide wie immer endgültig entscheiden, so haben wir doch in
dem im Handel vorkommenden und als Medicament so viel gebrauchten
Atropin einen Körper von bestimmter Zusammensetzung und ganz
wohl charakterisirten physiologischen Eigenschaften vor uns, und wir
werden bei der Betrachtung der durch dasselbe hervorgerufenen Ver¬
giftungserscheinungen von dieser hier angedeuteten chemischen Frage
umso mehr Umgang nehmen können, als das Atropin in derjenigen
Form, wie es bisher immer dargestellt wurde, auch zur therapeu¬
tischen und toxischen Verwendung gekommen ist und auch gegen¬
wärtig noch kommt.
Die bis jetzt zur Beobachtung gekommenen Vergiftungsfalle mit
dem reinen Alkaloid, dem Atropin und dessen Salzen sind in jüngster
Zeit in einer dankenswerthen Arbeit von Meinhard Feddersen 8 )
gesammelt worden.
Die Vergiftungsfälle mit Atropin beginnen mit dem Jahre 1850,
kurze Zeit nachdem White Cooper im Jahre 1844 die Einführung
*) Ber. der deutsch, chem. Gesellsch. 13. Jahrg. S. 370.
*) Ebenda. S. 380.
*) Journ. de Chem. et Pharm. 208. 1883. p. 196
4 ) Journ. de Chem. et Pharm. Ser. 5. Tome IV. p. 5.
*) Ingwer Meinhard Feddersen, «Beitrag zur Atropinvergiftung.“ Aus
dem Laborat. der pharmacol. Sammlung in Kiel. Inaug.-Diss. Berlin 1884.
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Dr. J. Kratter,
desselben in die Therapie als Ersatz für die Belladonnapräparate em¬
pfohlen hatte. Der erste von Seils') beobachtete Fall wird von
Taylor mitgetheilt und betrifft einen jungen Mann, welcher durch
2 grains = 0,1296 Grm. Atropin einen Selbstmord ausführte. Nach
der von Feddersen 2 ) zusaramengestellten Tabelle ist die Zahl der
Vergiftungen mit Atropin bisher 103. Die aus diesen Fällen be¬
rechnete Mortalität beläuft sich auf 11,7 pCt., was im Vergleich mit
derjenigen anderer Intoxicationen als eine sehr geringe bezeichnet
werden muss.
Was die Aetiologie der Atropinvergiftungen anbelangt, so ergiebt
sich aus diesen Untersuchungen Folgendes:
19 absichtliche
84 zufällige
t Giftmorde.9
l Selbstmorde . . . .10,
/ ökonomische.... 43
1 medicinale.41,
davon durch Schuld des Arztes ... 26
* * „ des Apothekers 2
* „ „ der Patienten . 13.
In Bezug auf die Form, in welcher das Atropin genommen
wurde, vertheilen sich diese 103 Vergiftungsfälle folgendermassen:
ln Form von Pulver.
„ „ von Pillen.
„ „ des Suppositoriums.
, „ der Salbe.
„ „ des Linimentes.
„ „ des Syrups.
„ * der Lösung in Wasser. . . .
5 mal,
7 *
1 *
2 *
86 „
und diese vertheilen sich weiter auf:
Tropfen innerlich zu nehmen.3 *
Lösung in den Gehörgang zu appliciren 1 „
„ zur subcutanen Injection . . . 4 „
Augentropfen.53 *
Unbestimmt (wahrscheinlich Collyrien) 25 „
Diese sehr anschauliche und übersichtliche Zusammenstellung er¬
giebt mehr, als jede immerhin nicht vollständige Auswahl von Bei-
*) Siehe Taylor, „Die Gifte.“ Bd. 3. S. 378.
*) a. a. 0. S. 29.
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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung.
61
spielen vermöchte, ein deutliches Bild von der Art und Weise, wie
durch arzneiliche Anwendung des Atropins Vergiftungsfälle zu Stande
kommen. Wir ersehen daraus vor Allem mit grosser Deutlichkeit,
dass namentlich der unvorsichtige Gebrauch und die zu wenig sorg¬
fältige Hintangabe von Augenwässern an die Patienten Veranlassung
zur Vergiftung giebt.
Auch F. A. Falck 1 ) hat eine Zusammenstellung von Vergiftun¬
gen mit Belladonna, Hyoscyamus niger und Datura stramonium für.
12 Jahre gemacht und während dieses Zeitraumes 112 Fälle dieser
Art gesammelt. Dieselben vertheilen sich zu 38 auf das reine Alka¬
loid, 1 Fall auf das in der letzten Zeit ebenfalls therapeutisch be¬
nutzte Duboisin, 44 auf galenische Präparate der Atropa Belladonna,
18 auf Datura stramonium und 11 auf Hyoscyamus niger.
Nach der Zusammenstellung von Falck beläuft sich das Mor¬
talitäts-Percent fast ganz genau dem von Feddersen für die reine
Atropinvergiftung berechneten auf 11,6. Unter diesen Fällen sind
absichtliche Vergiftungen 10, und zwar ein Giftmord, 9 Selbst¬
vergiftungen.
Von den zufälligen Vergiftungen werden 30 als ökonomische
bezeichnet, 33 als solche, welche zwar auch den ökonomischen beizu¬
zählen sind, deren Entstehen aber nur ermöglicht ist durch die um¬
fangreiche medicinale Anwendung der fraglichen Präparate und endlich
39 als rein medicinale Vergiftungen, so dass sich aus dieser Zusam¬
menstellung ergiebt, dass die weitaus überwiegende Zahl der
durch giftige Solaneen bewirkten Intoxicationeu den me-
dicinalen Vergiftungen angehört.
Unter den von Feddersen und Falck zusammengestellten Fällen
finden sich einige von hervorragend kriminalistischer Bedeutung; so
der von Marie Jeanneret 2 ), einer Krankenwärterin, welche, wie es
scheint, in geistesgestörtem Zustande 8 Personen durch innerliche Dar¬
reichung von Atropinaugenwässern vergiftete, von denen 5 Personen
auch thatsächlich zu Grunde gegangen sind und der von Calvert 8 )
beschriebene Fall eines Giftmordes, in welchem eine Wärterin den
Hospitalbeamten vergiftete, indem sie diesem Atropin in Milch bei¬
brachte.
*) F. A. Falck, Lehrb. der prakt. Toxicologie. Stuttgart 1880. S. 248 u. 249.
*) Proces criminel contre Marie Jeanneret. Huit empoisonnements. Lau¬
sanne 1869.
*) F. C. Calvert, Pharmac. Joum. 1872. p. 596.
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62
Dr. J. Kratter,
Wenn wir die gesammte Casuistik der Vergiftungen durch Bella¬
donna und Atropin überblicken und das in denselben gebotene wissen¬
schaftliche Material einer eingehenden Sichtung unterziehen, wie ich
dies zu thun bemüht war, so ergiebt sich, dass trotz der nicht gerin¬
gen Anzahl von bisher beobachteten Fällen, in mancher Richtung die
volle wissenschaftliche Erkenntniss noch nicht erreicht ist, und dass
manche, namentlich für die gerichtsärztliche Praxis — und eine nicht
geringe Anzahl von Fällen hat ja ein praktisch staatsärztliches In¬
teresse — wichtige Frage noch immer einer endgültigen Lösung harrt.
So ist namentlich die wissenschaftliche Ausbeute in Bezug auf
den pathologischen Befund bei dieser Vergiftung eine sehr geringe,
wol vorwiegend aus dem Grunde, weil, wie wir eben gezeigt haben,
die Zahl der tödtlich verlaufenden Fälle an und für sich eine geringe
ist und weil auch in diesen letzteren Fällen ausführliche Sections-
berichte in der Regel mangeln.
Auch in Bezug auf den chemischen Nachweis der geschehenen
Vergiftung ist die Ausbeute eine geringe, und die Zahl deijenigen
Fälle, wo Obductionsbefunde und Ergebnisse einer chemischen Unter¬
suchung vorliegen, ist eine ganz minimale.
Aber selbst bezüglich des für die forensische Diagnostik einer ge¬
schehenen Vergiftung so wichtigen und zum Theil entscheidenden
Krankheitsbildes dürften noch manche Einzelheiten sicher zu
stellen sein.
Ich glaubte daher, meine eigenen Beobachtungen und Unter¬
suchungen hauptsächlich nach diesen drei Richtungen hin führen zu
sollen und werde versuchen, zu diesem Zwecke eine zum Theil auf
eigene Beobachtungen gestützte Darstellung 1) der constanten und
charakteristischen Krankheitserscheinungen, 2) der Leichenerscheinun¬
gen und 3) des forensischen Nachweises einer geschehenen Belladonna¬
oder Atropin Vergiftung zu geben; denn aus diesen drei Punkten zu¬
sammen wird ja in der Regel erst der vollgültige gerichtliche Nachweis
einer stattgehabten Vergiftung erbracht.
n. Pie KrankbeitserseheiaungeB der Atrapin-VergiflBBg.
Die Krankheitserscheinungen bei Vergiftungen durch Belladonna¬
präparate und Atropin sind schon seit langer Zeit Gegenstand so¬
wohl sorgfältiger ärztlicher Beobachtungen am Krankenbette, als
auch zahlreicher, theils an Menschen, theils an Thieren vorgenom¬
mener experimentellen Untersuchungen und Studien gewesen. Schon
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Beobachtungen and Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 63
Rossi 1 ) und F. A. G. Emmert 2 ) haben einflussreiche und entschei¬
dende Versuche in Betreff der Wirkungsart und chemischen Zusammen¬
setzung von Giften, darunter auch von Belladonna angestellt.
Namentlich aber war es Orfila 3 ), dessen grosse Verdienste um
die Begründung der experimentellen Toxikologie hoch anzuschlagen
sind, der zahlreiche Versuche an lebenden Thieren, vorzüglich an Hun¬
den, angestellt hat, wobei es sich um die Ausmittlung der Fragen
handelte, welche Organe sie ergreifen, welche Veränderungen sie in
denselben hervorbringen, wie die Erfolge nach den Dosen verschieden
sind und durch welche Heilmittel man die Wirkungen eines Giftes am
sichersten zu bekämpfen oder dessen Eingriffe zu verhüten vermag.
Später stellte E. L. Schubarth 4 ) eine Reihe von Versuchen mit Hun¬
den, Katzen, Pferden und Kaninchen an.
Vor Allem haben auch die Untersuchungen von Hahnemann 5 ),
welcher bekanntlich der Belladonna eine grosse Verbreitung in seinem
homöopathischen System zu verschaffen wusste, nicht unwesentlich zur
Kenntniss der Wirkung derselben beigetragen.
In neuerer Zeit ist namentlich das reine Alkaloid vielfach und
eingehend experimentell untersucht worden, und sind da insbesondere
die aufopfernden Selbstversuche von Schneller und Flechner 6 ),
*) P. Rossi, „De nonnullis plantis, quae pro venenatis habentur, observa-
tiones et experimenta.“ Florentiae instituta Pisis. 1762.
*) F. A. G. Emmert in Hafeland’s Journal der prakt. Heilkunde. 1814.
Bd. 39, sowie in Meckel’s Arch. für die Physiol. Bd. 1. 1815. S. 176—187
und ebenda Bd. 4. 1818. S. 165—212.
*) Orfila, „Trait6 des poisons tir6s des regnes mineral, v6g6tal et animal“,
ou „Toxicologie g6n6rale“ consideree sous le rapport de la Physiologie, de la
Pathologie et de la m6decine. Paris 1814. Tom. I. et II. Part I.—IV. Ferner:
„Le^ons faisant partie du Cours de m6decine legale, ouvrage orn6 de vingt-deux
planches.“ Paris 1821. 8.
*) E. L. Schubarth in Horn’s Archiv für Med. Erf. 1823. Nov. S. 399
und 1824. Jan. S. 53.
®) Hahnemann, „Organon der Heilkunde.“ 3. Aufl. Dresden 1824, und
namentlich dessen: Fragmenta de viribus medicamentorum positivis, sive in sano
corpore observatis. Lips. 1805; später erweitert durch die „Reine Arzneimittel¬
lehre“, Dresden 1811, darin handelt er weitläufig ab im 1. Theile Belladonna.
Vergl. auch: „Heilung und Verhütung des Scharlachfiebers.“ Gotha 1801.
*) Schneller und Flechner, „Beiträge zur Physiologie der Arzneiwirkun¬
gen.“ Zeitschr. der Wien. Aerzte. Juni 1847.
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64
Dr. J. Kratter,
sowie von Bouchardat'), Cooper 2 ), Lusanna 3 ) und Tissore 4 )
und die Untersuchungen von Schroff sen. s ) an jungen Medicinern
hervorzuhebeu neben den experimentell-physiologischen Untersuchungen
von Bezold und Bloebaum 6 ), ferner von Keuchel 1 ), Heiden¬
hain 8 ), Rossbach und Fröhlich 9 ), Schmiedeberg 10 ), Böhm“),
Jones’ 2 ), Hayden’ 3 ), Meuriot 14 ), Zeiss’ 5 ) und Anderen.
Durch diese Untersuchungen sind wir verhältnissmässig sehr ge¬
nau unterrichtet über den ganzen Symptomencomplex, wie er bei der
Atropinvergiftung zur Beobachtung kommt und können auch nach dem
Ergebnisse der experimentellen Studien der genannten Forscher die
physiologischen Vorgänge ziemlich genau erklären.
Die Reihenfolge der wichtigsten Vergiftungserscheinungen stellt
sich demnach folgendermassen heraus:
Subjectiv treten zuerst Trockenheit in der Mundhöhle und Kratzen
im Halse auf, dem sich bald als objective Symptome belegte Zunge,
Heiserkeit, erschwertes Schlingen und Sprechen, Ekel und Brechnei¬
gung anreihen. Diese ersten Erscheinungen werden schon etwa 15 Mi-
1 ) Annuaire de tbßrapeutique. 1841 und 1860.
2 ) Stuart Cooper, „Recherches opt. physiolog., therapeut. et pbarmac. sur
l’Atropine.“ Gaz. m6d. de Paris. 1848. No. 51 et 52.
*) UnioD raedic. 1851. No. 77.
4 ) Tissore, „Empoisonnement par la Belladonna.“ Gaz. med. de Paris.
1856. No. 12.
8 ) v. Schroff, „Ueber Belladonna, Atropin und Daturin. 41 Zeitschr. d. Ges.
der Aerzte in Wien. 1852. Ferner „lieber Mydriatica und das Yerbältuiss des
Hyoscyamins zum Atropin.“ Ebenda 1868.
6 ) Untersuchungen aus dem physiol. Laboratorium in Würzburg. I. 1867.
7 ) Keuchel, „Das Atropin und die Hemmungsnerven.“ Inaug.-Diss. Dorpat 1868.
8 ) Archiv für Physiol. V. 40.
y ) Rossbach und Fröhlich, Verhandl. d. nat. med. Ges. in Würzburg. V.,
sowie Rossbach später „Weitere Untersuchungen über die physiol. Wirkung des
Atropins u. Physostigmins.“ Archiv f. Physiol. Bd. 10, S. 383 und Fröhlich
und Harnak, „Ueber die physiol. Wirkungen des Atropins und Physostigmins
auf Pupille und Herz.“ Verhandl. der Würzb. phys. med. Ges. N. F. Bd. 5. 1873,
auch in den Arbeiten aus der phys. Anstalt zu Leipzig. V. 41.
10 ) Ber. der Sachs. Acad. d. Wiss. Math. phys. CI. 1870. S. 129.
n ) Böhm, „Studien über die Herzgifte.“ Würzburg 1871. S. 14.
ia ) Edinburgh med. journ. 1863. 777.
13 ) Dublin, quart. journ. 1863. Aug. 51.
u ) Gaz. hebdom. 1868. No. 12, 15, 16.
15 ) Zeiss, „Ueberd, Wirkung des Atropinsauf den Puls.“ Inaug.-Diss. Jena 1875.
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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 65
nuten nach der Vergiftung beobachtet; wie Tissore') angibt, gesellt
sich sehr bald auch starker Durst dazu.
Früh treten auch Erscheinungen von Seiten des Gehirns
hinzu, wie Schwindel, Kopfschmerz, leichte Betäubung und geistige
Verstimmung, Abgeschlagenheit, Gesichts- und Gehörshallucinationen
des verschiedensten Inhalts, nicht selten heiterer Natur.
Ebenso sind die Störungen des Sehorgans ziemlich frühzeitig
zu beobachten. In Folge der wichtigsten Wirkung der Belladonna¬
präparate stellt sich Erweiterung der Pupille und dadurch eine Reihe
von unangenehmen Symptomen seitens des Gesichtes ein, wie Nebel¬
sehen, Schwachsichtigkeit u. s. w. Wichtig sind auch die auf der
äusseren Haut auftretenden Symptome, als Trockenheit, scharlach¬
artige Röthe derselben, Gedunsenheit und hochgradige Röthung des
Gesichtes, zeitweilig ödematöse Schwellung.
Alle diese Symptome steigern sich natürlich bei schweren Ver¬
giftungen zu enormer Höhe, und so sind namentlich die Schling¬
beschwerden oft so bedeutend, dass das Unvermögen auch nur
Flüssigkeiten zu schlucken (Aphagie) vorhanden ist.
Wichtig sind die Symptome, welche sich im Gebiete des Ge-
fässsytems bemerkbar machen. Es ist dies namentlich eine enorme
Beschleunigung der Herzbewegung, so zwar, dass der Puls bis zu einer
Höhe von 150, ja nach einigen Angaben bis zu 190 Pulsschlägen in
der Minute steigen kann. Dabei pulsiren die Halsgefässe heftig, die
Bulbi werden hervorgetrieben und die Conjunctiva stark injicirt. Diese
heftige Alteration des Gefässsysteras ist die Ursache der an der Haut
auftretenden Erscheinungen. Dieselbe ist livid und heiss und bald
stellt sich auch das Scharlach artige Exanthem ein. Die Schweissbil-
dung ist vollkommen unterdrückt. Dem Zustande des Herzens und
der Gefässe entsprechend ist der Puls anfänglich sehr voll und hart,
wird jedoch später weich und leicht unterdrückbar.
Bezüglich eines wichtigen objectiven Symptoms, nämlich des
Verhaltens der Körpertemperatur sind die Angaben verschie¬
dener Autoren widersprechend. Schon Schroff sen. 2 ) gibt mit Be¬
stimmtheit an, dass die Temperatur stets vermindert sei; dasselbe
') Tissore, Empoisonneraent par la Belladonne. Gaz. raod. de Paris. 1856.
No. 12.
*) Zeitschr. der Ges. der Aerzle in Wien. 1852.
Vierteljalirsschr. f. «er. Med. N. F. XLIY. 1. ^
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66
Dr. J. Kratter.
behauptet auch v. ßoeck 1 ). Dagegen finden sich aber auch bestimmte
Angaben darüber vor, dass eine Erhöhung der Temperatur ein-
tritt. Ich habe diesem Umstande eine besondere Aufmerksamkeit zu-
gewendet, und wir werden bei Besprechung der weiter unten mitzu-
theilenden Vergiftungsfälle auf diesen, wie ich glaube für die Diagnose
nicht unwichtigen Punkt, noch zurückkommen.
Auch die Respiration ist geändert, indem anfangs Verlang¬
samung, später constant Beschleunigung beobachtet wird.
Bezüglich der psychischen Functionen wäre nur noch zu er¬
wähnen, dass im Verlauf der Vergiftung die anfangs oft furibunden
Delirien, welche das Bild eines mit Delirien verbundenen rauschartigen
Zustandes machen, später einem Zustande von Müdigkeit, Schläfrig¬
keit und oft auch wirklichem Schlafe Platz machen. Es ist dies bei
schweren Vergiftungen das Stadium der Narkose, welches bald in
einen soporösen Zustand übergeht, der entweder verschwindet oder bis
zum Tode andauert. Der Tod tritt durch Horzparalyse ein.
Das wichtigste Symptom der Atropin Vergiftung ist wohl zweifel¬
los die Pupillenerweiterung, welche bekanntlich bei innerer An¬
wendung beiderseits, bei localer Application in einem Auge einseitig
erfolgt. Sie wurde nach einer Angabe von Weber 2 ) durch Ray
zuerst entdeckt und tritt bei Application in den Conjunctivalsack schon
bei ungemein kleinen Dosen auf, ein Umstand, der namentlich für den
Nachweis des Giftes von grosser Wichtigkeit ist und der noch im
Weiteren besprochen werden wird.
Die Wirkung des Atropins auf die Iris hat ihren Sitz in dieser
selbst, nicht in deren entfernteren Centren. Es geht dies schon aus
dem Erfolge der monoculären Instillation, noch schöner aber aus dem
Versuche von Flemraing 3 ) hervor, der nachwies, dass bei vorsich¬
tiger Auftragung des Giftes die Erweiterung an der entsprechenden
Stelle zuerst auftritt, sowie aus dem Experiment von de Ruitcr 4 ),
nach welchem noch am ausgeschnittenen Auge von Fröschen Mydriasis
durch Auftragung des Giftes erzeugt wurde. Dasselbe gelangt in das
Innere des Augapfels und ist hier von de Ruiter in seinen unter der
1 ) v. Ziemssen’s Ifandb der spcc. Patli u. Thor. XV. Bd. Intoxicationen.
I. Aufl. Leipzig 1870. S. 857.
2 ) Hisloria plantarum. I 080.
3 ) Edinburgh, nud journ. 1S03. S. 777.
4 ) Nederlandsch Lancet UI. S. 483; auch in Onderzoekingen gedaan in het
physiolog. labor. d<*r UtivchtAscht} Hoogeschool VI. (1853 — 54) S. 83.
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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 67
Leitung von Donders Angestellten Untersuchungen im Humor aqueus
nachgewiesen worden.
In welcher Weise diese Pupillenerweiterung bewirkt wird, ist zum
Theil noch eine wissenschaftliche Controverse. Hermann 1 ) sagt
darüber Folgendes:
„Da der Zustand der Pupille die Resultante aus dem tonischen
Contractionszustande des Sphincter und Dilatator ist, deren ersterer
vom Oculomotorius, letzterer vom Syrapathicus beständig erregt wird,
so kann die Erweiterung durch Atropin abgeleitet werden: a) von
Lähmung des Sphincter oder der Oculomotoriusenden in demselben,
b) von krankhafter Erregung des Dilatator oder der Sympathicusenden
in demselben.“ An diesen Controversen haben sich zahlreiche Beob¬
achter, wie Bernstein und Dogiel 2 ), Cramer 3 ), Grünhagen*),
H. Braun 5 ), Hirschmann 6 ) und Botkin 1 ) betheiligt. Aus den
Untersuchungen derselben geht hervor, dass eine Lähmung im Sphincter-
system al s sicher angenommen werden muss, während die gleichzeitige
Erregung im Dilatatorsystem zweifelhaft ist.
Obschon nun durch diese vielfachen und eingehenden Beobach¬
tungen und Untersuchungen sowohl die Symptomatologie der Atropin¬
vergiftung, wie auch die physiologische Erklärung der wichtigsten
Phänomene derselben bereits ziemlich genau und zum Theil in ein¬
gehender Weise erforscht sind, so dürfte dennoch die Mittheilung der
von mir beobachteten Fälle nicht ganz ohne Interesse sein, weil es
mir möglich sein wird, auf Grund dieser eigenen Beobachtungen einige
hervorragende Symptome einer kritischen Betrachtung zu unterziehen,
und namentlich einen kleinen Beitrag zu der für die gerichtsärztliche
Praxis besonders wichtigen Frage der Differentialdiagnose zu
geben.
Es ist nämlich sicher für die ärztliche, sowie für die gerichts¬
ärztliche Beweisführung von ausserordentlicher Wichtigkeit, dass wir
in der Lage sind, durch wohl charakterisirte und zweifellose Symptome
! ) Hermann, Lehrb. der experimentellen Toxicologie. Berlin 1S74. S. 333.
*) Verhandl. d. nat.-med. Vereins zu Heidelberg. IV. S. 28.
*) Cramer, Het accommodatic-vermogcn der oogen. Ilarlem 1853.
4 ) Centralbl. f. d. medic. Wissensch. 1863. S. 577.
5 ) Archiv f. Ophthalmologie. V. S. 112.
6 ) Archiv f. Anat. u. Phys. 1863. S. 309.
7 ) Botkin, „Ueber die physiol. Wirkung des Schwefels Atropins.“ Virchow’s
Archiv Bd. XLII. 1862.
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5*
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(58
Dr. J. Kratter.
eine Vergiftung von der anderen zu scheiden; denn es ist nicht ganz
ungewöhnlich, dass wir bei der Beweisführung für eine stattgehabte
Vergiftung uns ausschliesslich auf die Symptomatologie derselben zu
stützen genöthigt sind, da bei einer grossen Anzahl von Vergiftungen
der pathologische Befund weniger charakteristisch ist, und für sich
allein nichts zu beweisen vermag und es auch manchmal unmöglich
ist, den chemischen oder physiologischen Nachweis einer stattgefun¬
denen Vergiftung thatsächlich zu erbringen.
Die Fälle, in welchen ich Vergiftungssymptome selbst zu beob¬
achten Gelegenheit hatte, oder wo ich an der Untersuchung durch
Bearbeitung des chemischen Theiles mitbetheiligt war und wo mir die
bezüglichen Krankengeschichten von Collegen gütigst zur Verfügung
gestellt wurden, sind folgende:
1. Fall. Medicinale Vergiftung durch Extractum Belladonnae
als Hustenpulver verabfolgt.
Fräulein M. G.. 22 Jahre alt, litt an Bronchialkatarrh unter Mitaffection des
Kehlkopfes. Es wurde der Patientin ordinirl Extractum Belladonnae 0,15 in 10
Dosen, also 0,015 pro dosi, zweistündlich ein Pulver zu nehmen. Nachdem Pa¬
tientin allerdings in etwas zu rascher Aufeinanderfolge im Laufe des Tages
7 Pulver genommen hatte, stellten sich am Abend folgende Erscheinungen ein:
Das Gesicht auffallend geröthet, etwas turgescirend, Zunge trocken und be¬
legt, Schlingbeschwerden im Halse und das Gefühl krfmpfhaften Zusammen-
ziehens mit Schwierigkeit Wasser zu schlucken; Gefühl von Hitze am ganzen
Körper, ängstliche Beklommenheit und vor Allem Undeutlichkeit des Sehens,
welches Symptom sich schon am Nachmittag eingestellt hatte und Patientin, die
fieberfrei war, verhinderte zu lesen. Die Untersuchung ergab eine ziemlich be¬
trächtliche Erweiterung der Pupillen. Puls 120, die Haut heiss, trocken und
geröthet, die Rachengebilde intensiv roth und trocken; sonstige Erscheinungen
waren nicht vorhanden.
Dieser Fall ist deswegen beachtenswerth. weil er ein Beispiel für eine ganz
abnorme Indiosynkrasie gegen Belladonna ist, denn die im Laufe des Tages ein¬
genommene Menge von Belladonnaextract ist eine solche, dass dabei wol in
der Regel Intoxicationserscheinurigen nicht beobachtet werden. Dass aber boi
verschiedenen Individuen eine ganz abnorm gesteigerte Empfindlichkeit gegen
Belladonnapräparate vorhanden ist, das ist eine sehr oft beobachtete Erschei¬
nung. Hervorheben möchte ich an dem Falle noch, dass frühzeitig und wie
es scheint als erstes von der Patientin unangenehm gefühltes Symptom der Ver¬
giftung die Pupillenerweiterung auftrat. Der Fall ist an sich eine leichte
medicinale Vergiftung, welche auf kalte Ueberschläge am Kopfe und nach Ersatz
der Belladonnapulver durch Morphinpulver in wenigen Stunden, wie dies ja bei
vielen derartigen Vergiftungen zu geschehen pflegt, ohne jeden weiteren Nach¬
theil für die Patientin schwand; nur die Pupillenerweiterung hielt fast 24 Stun¬
den an. Nach Ablauf dieser Zeit war auch das volle Accommodationsvermögeu
der Augen wieder hergestellt.
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Beobachtu?',gen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 69
2. Fall. Medicinale Vergiftung durch Anwendung vonSuppositorien
mit Extractum BeJladonnae.
Ich batte die 48jährige Maurersfrau Katharina F. an einer intensiven
Ischias seit mehreren Wochen in Behandlung. Die neuralgischen Schmerzen der
ziemlich stark abgemagerten, herabgekommenen und blutarmen Patientin waren
deswegen sehr heftige und keiner Medication weichende, weil die Ischias bedingt
war durch directen Druck einer carcinomatösen Neubildung, welche sich in der
linken Seite des Beckens entwickelt und, wie die etwa 10 Wochen später vorge¬
nommene Obduction ergab, den Nervus ischiadicus sinister in einer ziemlichen
Ausdehnung vollkommen mitdegenerirt hatte. Ich verschrieb derselben eines Ta¬
ges 10 Stück Suppositorieu von Cacaobutter mit je einem Gehalte von 0.05 Bella-
donnaextract, und der Weisung, täglich 2 bis 3 Stuhlzäpfchen einzuführen. Pa¬
tientin applicirte sich gegen die stricte Verordnung im Laufe des Tages 7 der
verschriebenen Suppositorien. Als ich sie Abends besuchte und zwar auf drin¬
gende Aufforderung der Angehörigen, welche erklärten, Patientin sei tobsüchtig
geworden, fand ich folgende höchst auffällige Krankheitserscheinungen:
Die sonst durch ihre Blässe auffallende Frauensperson war hoch geröthet
und gedunsen im Gesichte; sie warf sich unruhig im Bette hin und her. redete
ununterbrochen das tollste Zeug untereinander, schrie, drohte, lachte, weinte,
raisonnirte und bot in der That das Bild einer Rasenden. Wiederholt war sie
aus dem Bette gesprungen, ohne dabei eine Schmerzensäusserung zu machen
und musste mit Gewalt zurückgebracht werden, während sie sonst bei jeder ge¬
ringen Bewegung der linken Extremität heftige Schmerzen empfand und daher
jede Bewegung mied. Der Puls war voll, hart, 130 in der Minute, die Pupillen
maximal erweitert und auf Lichtreiz nicht reagirend. Die Bewusstseinsstörung
war eine vollkommene, und selbst auf laute Anfragen gab Patientin nur unver¬
ständliche und nicht zur Sache gehörende Antworten. Die Athembewegung be¬
trächtlich beschleunigt, 40 in der Minute, die Haut überall heiss anzufühlen, die
Extremitäten und der ganze Körper in fortwährender, unruhiger Bewegung.
Es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass es sich um eine
schwere Atropinintoxication handle und durch die Wahrnehmung, dass
bereits 7 der verordneten Suppositorien verbraucht waren, war die
Aetiologie der Vergiftung sofort klar. Die Vergiftungserscheinungen
hielten in diesem Falle trotz sofortiger Morphininjectionen und Appli¬
cation von kalten Umschlägen mit erst gegen Morgen abnehmender
Intensität im Ganzen 24 Stunden an, während die Pupillenerweiterung
3 Tage dauerte. Das volle Bewusstsein kehrte auch erst am 2. Tage
zurück.
Ich habe in diesem Falle während der Dauer der Vergiftung fünf
Temperaturmessungen in der Axelhöhle vorgenommen, welche Folgen¬
des ergaben:
7 Uhr Abends 38,5, HO Uhr Abends 38,9, 6 Uhr Früh 38,2,
12 Uhr Mittags 37,5, 7 Uhr Abends 37,1.
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70
Dr. J. K ra tte r.
Es ist somit in diesem Falle eine während der ganzen Dauer
der Vergiftung anhaltende Temperaturerhöhung von bis zu
2 Graden über die Normaltemperatur, welche bei der Patientin in der
Regel 36,5 0 betrug, constatirt. Es ist dieser Fall auch noch deswegen
beachtenswerth, weil er, was allerdings auch anderwärts schon beob¬
achtet worden ist, den Beweis liefert, dass die Resorption des
Giftes auch vom Mastdarm aus so erfolgt, dass dadurch Vergif¬
tungserscheinungen der heftigsten Art, ja von solcher Intensität her¬
vorgerufen werden können, wie bei der Aufnahme des Giftes durch
den Magen oder bei subcutaner Injection desselben.
Dieser Fall erinnert an den von Schüler 1 ) mitgetheilten, wo
ebenfalls durch Stuhlzäpfchen die Vergiftung veranlasst wurde, nur
mit dem Unterschiede, dass dort durch Schuld des Apothekers eine
Verwechslung von Belladonnaextract mit Atropin stattfand. Wie leicht
übrigens das Atropin in den Organismus übergeht und Vergiftungs¬
erscheinungen hervorruft, beweist der interessante Fall von Ploss 2 ),
welcher nach Application von 0,18 Gramm Atropins in Form einer
Salbe auf die äussere Haut in der Halsgegend, allerdings nach Ent¬
fernung der Epidermis applicirt, eine schon nach zwei Stunden tödt-
lich verlaufende Vergiftung beobachtete.
3., 4. und 5. Fall. Oekonomische Vergiftung durch atropinhaltigen
Roob spinae.
Einen höchst interessanten Beitrag zu der Atropinvergiftung liefert der fol¬
gende Fall, wo 3 Personen fast gleichzeitig dadurch einer schweren Atropin-
intoxication verfielen, dass sie von einem hiesigen Apotheker ohne ärztliche Ver¬
schreibung den an und für sich gewiss nicht gerade giftigen officinellen Roob
spinae, welcher unter der landesüblichen Bezeichnung „Kreuzbeersalse“, wie
es scheint, häufig auf dem Wege der Selbstdisposition von den Apothekern als
Abführmittel an Parteien hintan gegeben wird, ausgefolgt erhielten.
Am 7. April 1880 k 11 Uhr Vormittags erstattete der praktische Arzt
Engelbert Busbach an das Grazer Stadtphysikat die Anzeige, dass er zu der
Schuhmachersgattin Josefine Probst und der bei ihr wohnhaften Pflasterersgattin
Anna Prean gerufen wurde, welche beide nach dem Genüsse von „Kreuzbeersalse“
unter Vergiftungssymptomen erkrankt seien. Die sogleich vorgenommenen Er¬
hebungen ergaben, dass die Pflasterersgattin, Anna Prean, die zugleich Hebamme
ist, der Josefine Probst, welche erst einige Tage vorher entbunden hatte, anrietb,
Kreuzbeersalse zu nehmen, worauf der Gatte der letzteren aus einer hiesigen Apo¬
theke solche holte. Sowohl die Hebamme als auch die Schustersfrau haben davon
eine nicht genau bekannte Menge genommen. Gleich darauf kochte die Hebamme
*) Berl. klin. Wochenschrift. 17. Jahrg. 1880. S. 658.
s ) Schmidt*« Jahrbücher Bd. 126. 1864. S. 282.
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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung.
71
einen schwarzen Kaffee, von dem sie ebenfalls beide tranken. Nach nicht langer
Zeit stellten sich Uebelkeiten ein, so dass sie zu Bette gebracht werden mussten.
Auf Anordnung des herbeigerufenen oben genannten Arztes wurden beide Frauen
dem städtischen Spital übergeben. Aus der Einvernehmung des Gatten der er¬
krankten Hebamme ergab sich, dass beide Frauenspersonen sich am Morgen des
genannten Tages vollkommen wohl befanden. Ungefähr um k 8 Uhr wurde von
ihm die erwähnte „Kreuzbeersalse“ geholt und von den beiden Frauen sofort
eingenommen. Als sich der Mann um 9 Uhr wieder zu Hause einfand, fand er
seine Frau im Hofe des Hauses bewusstlos liegen, worauf er sie in’s Bett trug und
den Arzt herbeirief. Die Wöchnerin fand er zwar im Bette, doch ebenfalls ganz
bewusstlos. Das Gesicht der beiden Frauen war nach seiner Angabe entstellt,
dunkelblau gefärbt, die Hände ebenfalls livid und eiskalt.
Bei der Uebernahme in’s Spital ergab sich folgender Status praesens fast
vollkommen übereinstimmend bei beiden Patientinnen: Ausser der Bewusstlosig¬
keit eine ziemlich bedeutende Beschleunigung des kleinen, harten Pulses, Tur-
gescenz des Gesichtes, allgemeiner Collaps, hochgradige Erweiterung der Pupillen,
die auf Lichtreiz nicht reagirten. Bald stell!en sich theilweise furibunde Delirien
ein, welche sich bis gegen Abend desselben Tages verloren, während Schwindel.
Schwachsichtigkeit. Doppelsehen, grosse Mattigkeit, Gefühl von Kratzen und
Trockenheit im Schlunde noch bis zum folgenden Tage anhielten. An demselben
Tage ereignete sich in einem anderen, weit abgelegenen Theile der Stadt fol¬
gender Fall:
Die 45jährige Vereinsdienersgaltin Josefa Köttl wurde, nachdem sie bei
Bereitung des Morgenkaffees um 9 Uhr früh plötzlich bewusstlos zusammenge¬
stürzt war. der Beobachtungsabtheilung des allgemeinen Krankenhauses über¬
geben.
Die sofort unabhängig von dem vorigen Falle vorgenommenen Erhebungen
ergaben, dass auch diese Patientin, nachdem sie am Morgen Kreuzbeersalse,
welche in derselben Apotheke gekauft worden war, zu sich genommen hatte, in
der gedachten Weise plötzlich erkrankte.
Aus der auf der Beobachtungsabtheilung aufgenommenen Krankengeschichte
hebe ich als wichtigste Momente folgonde hervor: Bei der Aufnahme war die
Temperatur 37,8, Patientin ist schwindlig, jedoch auf Befragen im Stande ihre
Generalien richtig anzugeben, wobei sie jedoch leicht in Verwirrung geräth und
andere Dinge dazwischen spricht. Beim Reden fallen ihr die richtigen Worte
nicht ein. sie merkt jedoch selbst, dass sie mit dem Sprechen nicht fertig wird
und die Worte vergisst, worüber sie dann hell auflacht. Sie verliert in ihrer
hastig bervorgestossenen Erzählung leicht den Faden und spricht dazwischen von
anderen Dingen; dabei ist ein grosser Bewegungsdrang vorhanden; sie klaubtauf
der Decke herum, mit unsicherer Hand zufassend und dann wieder loslassend.
Das Bewusstsein ist offenbar in ziemlich hohem Grade gestört.
Somatisch ergiebt sich eine Erweiterung der Pupillen, die sich auf
Lichtreiz kaum merklich contrahiren, die Zunge stark belegt , übler Geruch aus
dem Munde vorhanden, im Nacken und an den Händen, die sich heiss und trocken
anfühlen, ein juckendes Eczem. Puls 120, hart, gespannt.
In den Nachmittagstunden ist sie etwas aufgeregter, ängstlich, zitiert am
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72
Dr. J. Kraiter,
ganzen Leibe, steht oft vom Bette auf, hat einen grossen Bewegungsdraug und
zeigt nur deliröses Bewusstsein. Puls 92, Temperatur 38,2.
Es war sofort die Diagnose Hyperaemia cerebri ex intoxicatione
cum Belladonna gestellt worden. Auf entsprechende Medication wichen
die Erscheinungen am nächsten Tage: Patientin wurde lucid und am
übernächsten Tage geheilt entlassen, obschon die Pupillenerweiterung
zu dieser Zeit noch nicht vollkommen gewichen war. Es hatte sich
jedoch volles Bewusstsein eingestellt. Bemerken muss ich noch, dass
auch in diesem Falle eine über 24 Stunden andauernde Stei¬
gerung der Temperatur beobachtet wurde.
Nachdem die von verschiedenen Aerzten (die beiden erstgenann¬
ten Patienten waren in einem andern, nämlich im städtischen Spitale
von anderen Aerzten behandelt worden) beobachteten Krankheitssyra-
ptome die Diagnose einer stattgehabten Atropin Vergiftung fast zwei¬
fellos sicher bewiesen hatten, kam es darauf an zu untersuchen, wie
die betreffenden Patientinnen zum Gifte gekommen waren. Es wurde
daher sowohl der Kaffeerest und Kaffeesatz in beiden Fällen dem In¬
stitute für Staats-Arzneikunde zur Untersuchung übergeben, als auch
die noch vorhandenen Reste der Kreuzbeersalse. Der Kaffee wurde
vollständig frei befunden, dagegen ergab sich, dass der Rest der
„Kreuzbeersalse“ in beiden Fällen Atropin enthielt. Ich
komme später auf diese von mir angestellten Untersuchungen noch
zurück.
Es war nun von vornherein gar nicht abzusehen, wieso ein Roob
spinae atropinhaltig sein könne. In rühmenswerther Weise wurde nun
in der betreffenden Apotheke von Seite des Herrn Stadtphysikus Dr.
Ritter v. Plazer, dem ich an dieser Stelle für die freundlich ge¬
stattete Einsichtnahme in die gcsammten Acten dieses Falles bestens
danke, genaue Erhebungen gepflogen und es ergab sich, dass ein
Theil der Kreuzbeeren, aus welchen der Apotheker ganz lege artis
den Roob spinae dargestellt hatte, durch beigemischte Bella¬
donnabeeren verunreinigt war. Der Apotheker hatte die Roh-
waare von einem Kräuterhändler bezogen und es ist nicht möglich,
weiter auszuforschen, wieso diese Beimischung erfolgte. Zweifellos
war die Salse auf diese Weise atropinhaltig geworden. Es ist nur zu
verwundern, dass nicht mehrere Personen durch diese Salse vergiftet
wurden. Weiteres Unheil allerdings wurde durch sofortige Confiscation
der vorhandenen Vorräthe verhütet.
Dieser gewiss eigcnthümliche Fall hat die steiermärkische Statt-
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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 73
halterei veranlasst, die Sache in einer besonderen Verordnung bekannt
zu geben und zu bestimmen, dass, um solchen Unglücksfällen in Zu¬
kunft möglichst vorzubeugen, alle Apotheker und Hausapotheken füh¬
rende Aerzte verpflichtet seien, falls sie sich mit Bereitung solcher
Salsen befassen, die bezüglichen Früchte nur von verlässlichen Ein¬
sammlern zu beziehen und dieselben jederzeit einer genauen Besichti¬
gung vor der Anwendung zu unterziehen. (K. k. steierm. Slatth Ver¬
ordnung vom 17. Mai 1880. Z. 7382.)
6. Fall. Selbstvergiftung durch Genuss von Belladonnabeeren.
Am 24. September 1883 war der 60jährige Knecht Andreas Hebenstreit
mit acuten Intoxicationserscbeinungen in’s allgemeine Krankenhaus in Graz auf¬
genommen worden. Wie die Begleitung angibt, war Patient am vorigen Tage
vollkommen wohl. Am 23. September Nachmittags soll er, ob absichtlich oder
nicht ist unentschieden, Tollkirschenbeeren genossen haben. In der darauf fol¬
genden Nacht fing er plötzlich heftig zu toben an, erhob sich von seinem Bette,
schlug umher, schrie und lärmte und stürzte endlich zusammen, wobei ersieh
zahlreiche Excoriationen zuzog. Der kräftig gebaute, gut genährte Patient war
vollkommen bewusstlos, mit Muskelzuckungen an allen Extremitäten, die Pupillen
ziemlich stark erweitert, auf Lichtreiz wenig reagirend; die Haut sehr heiss und
trocken, überall, namentlich im ganzen Gesichte stark geröthet: Temperatur be¬
trächtlich erhöht. 40°; Puls kräftig, sehr frequent. Er erhielt 0,02 Morphin sub-
cutan und da er nicht erbrochen hatte, wurde die Magenpumpe applicirt. Der
vollkommen bewusstlose Patient war so unruhig und zeigte einen so grossen Be¬
wegungsdrang, dass ihm die Zwangsjacke angelegt werden musste. Abends er¬
hielt er die gleiche Menge Morphin subcutan. Am nächsten Tage war er theil-
weise bei Bewusstsein, klagte über grosse Mattigkeit, versank aber bald wieder
in den soporösen deliranten Zustand. Unwillkürlicher Abgang von Harn und
Faeces. Trotz der angewandten Medication ist Patient am nächstfolgenden Mor¬
gen verschieden. Die in diesem Falle sehr genau aufgezeichneten Temperaturen
waren folgende: Am 4. 8 Uhr Abends 40°, am 5. 12 Uhr Nachts 39°, 8 Uhr
Vormittags 39°, 4 Uhr Nachmittags 39,5°, am 6. 12 Uhr Nachts 38,2°. 8 Uhr
Vormittags 39°. Um 11 Uhr erfolgte nach vorangehendem stundenlangen Sopor,
aus dem Patient durch kein Mittel aufzurütteln war. unter den Zeichen beginnen¬
der Herzschwäche und endlicher Paralyse des Herzens der Tod. Auch in diesem
Falle habe ich die chemische Untersuchung vorgenommen, von welcher später
berichtet werden wird.
Die hier raitgetheilton Fälle bieten besonders hervorragende Eigen¬
tümlichkeiten nicht dar; die beobachteten Symptome sind grössten-
theils Bestätigungen längst bekannter und festgestellter Thatsachen;
es sind nur wenige Punkte, die ich auf Grund dieser Krankengeschichten
erörtern will. Vor Allem ist das die besonders in gerichtsärztlicher
Beziehung wichtige Frage: „Sind die Symptome der Atropinvergiftung
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74
I)i. J. K ratte r,
unter allen Umständen so charakteristisch, dass durch sie allein der
Beweis einer stattgehabten Vergiftung mit voller Sicherheit erbracht
werden kann, oder nicht?“ Ich glaube diese Frage bejahen zu können.
Die Atropinvergiftung gehört zu denjenigen Intoxicationen, welche
einen Symptoraencomplex auslösen, der in jedem Falle, ob die Ver¬
giftung eine leichte oder schwere ist, hinreichend charakteristisch und
constant ist, um eine sichere Diagnose zu gestatten. In unseren Fäl¬
len 3, 4 und 5 war die Aetiologie keineswegs von vornherein klar»
und dennoch war die Diagnose bestimmt gestellt worden, so dass ge¬
rade diese zur Aufhellung der Aetiologie führte, indem die Recherchen
in einer ganz bestimmten Richtung angestellt werden konnten, nach¬
dem man wusste, um was es sich handle. Es dürfte also klinisch die
Vergiftung mit Belladonna oder Atropin kaum je verkannt werden.
Das wichtigste und entscheidendste Symptom ist die Pupillen¬
erweiterung, welche in leichten Vergiftungsfällen (Fall 1) auch das
fast einzige Vergiftungssymptom sein kann. Es hält auch am längsten
an und kanu oft selbst nach Tagen noch beobachtet werden. Da es
aber noch eine Reihe anderer pupillenerweiternder Gifte und Alkaloide
gibt, von denen oben die Rede war, so entsteht die Frage, ob es
möglich ist, zu entscheiden, durch welche dieser Substanzen eine con-
crete Vergiftung veranlasst worden sei. Hier wird wol in der Regel
aus den blossen Symptomen eine sichere Entscheidung nicht zu treffen
sein; man ist demnach, nur auf diese allein gestützt, wol nur berech¬
tigt, die Frage etwa in folgender Formulirung zu beantworten: „Die
Symptome lassen zweifellos eine Vergiftung durch Belladonna oder
Atropin oder eine andere pupillenerweiternde Substanz erkennen“.
Dann spricht aber die Wahrscheinlichkeit für die Belladonna, da es
wol nicht zu viel gesagt ist, dass von 100 Vergiftungen mit einer
pupillenerweiternden Substanz 99 Fälle der Vergiftung durch Bella¬
donna und ihre Präparate oder ihrem so viel verwendeten Alkaloide,
dem Atropin zugehören.
Es würde sich nun darum handeln, die weitere Frage zu erör¬
tern: „Womit könnte sonst noch die Atropin Vergiftung verwechselt
werden? “
Ich glaube, dass es nur folgende Krankheiten sein können: Mit
Steigerung des intracraniellen Druckes verbundene Gehirnerkrankun¬
gen, wie Congestion oder Apoplexie, dann wirkliche Geistes¬
krankheit, womit thatsächlich Verwechslungen vorgekommen sind,
wie Brown (London Hosp. Rev. II.) und Morgan (Brit. med. Journ.
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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin Vergiftung. 75
Decbr. I. 1866) berichten; ferner die acute Alkoholvergiftung
(Rausch) und endlich etwa Scharlach. Neben einer Reihe von kli¬
nischen Erscheinungen, die meist jede dieser Krankheitsforraen ziem¬
lich gut charakterisiren, ohne der in Rede stehenden Vergiftung zu¬
zukommen, würden vor allen Dingen zwei Momente für die Differcn-
tialdiagnose verwerthet werden können, erstens das Verhalten der
Pupillen — bei keiner der genannten Krankheiten wird eine so
starre, gleichmässige und maximale Pupillenerweiterung vorhanden
sein, wie bei den schweren Atropinintoxicationen, und mit Vergiftun¬
gen leichteren Grades können diese überhaupt nicht verwechselt werden
— und zweitens die Temperatur.
Würde sich in der That die Temperatur bei der Atropin Vergiftung
mit zweifelloser Sicherheit so verhalten, wie bisher allgemein ange¬
nommen wurde und zwar auf Grund der mehrerwähüten Versuche von
Schroff sen., nach welchem die Vergiftung constant eine Herab¬
setzung der Temperatur bewirkt, so hätte man in diesem Ver¬
halten eines der werthvollsten objectiven Symptome für die Differen¬
tialdiagnose, namentlich etwa gegenüber von Scharlach gegeben. Ich
dachte nicht, dass es sich anders verhalten könnte, bis eine eigene
Beobachtung, die das Gegentheil zu beweisen schien (Fall 2) meine
Aufmerksamkeit auf den Gegenstand lenkte. Ich freue mich nun.
durch mehrere Beobachtungen, die ganz unabhängig von mir und un¬
abhängig von einander gemacht wurden, meine erste diosfällige Wahr¬
nehmung bestätigt zu finden. In allen Fällen, die hier beobachtet
wurden und wo überhaupt Temperaturmessungen vorgenommen worden
sind, war nicht eine Abnahme, sondern eine Erhöhung der Tem¬
peratur vorhanden. Der Fall Hebenstreit (6. Fall) gibt einen in¬
teressanten, allerdings vereinzelt dastehenden pathologisch-anatomi¬
schen Commentar dafür in den bei der Obduction Vorgefundenen lo¬
calen Veränderungen am Magen und im Oesophagus. Zweifellos sind
aber in den nicht letal endenden Fällen diese localen Erscheinungen viel
zu geringe, ja es ist die Frage, ob ausser bei Vergiftung mit den Beeren
überhaupt locale Irritationen Vorkommen, — als dass die beobachtete
Temperaturzunahme in allen Fällen davon abgeleitet werden könnte.
Durch diese Beobachtungen ist die Lehre von der temperatur¬
erniedrigenden Wirkung der Belladonnapräparate mindestens sehr zwei¬
felhaft geworden, und möchte ich mit Hinweis auf die durch unsere
hiesigen Beobachtungen gerechterweise begründeten Zweifel die Auf¬
merksamkeit aller Fachgenossen und Aerzte auf diesen Gegenstand
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Dr. J. Kratter.
lenken, damit durch möglichst zahlreiche directe Bobachtungen am
Krankenbette dieses gewiss wichtige Verhalten der Körpertemperatur
zweifellos sicher gestellt werde. Vorläufig betrachten wir die Frage
(mindestens) als eine offene.
III. Me LeichenemheintiBgen bei Atrepin-Vergiftnag.
In Bezug auf die Leichenerscheinungen finden sich in der Literatur
nur karge Angaben vor, welche zudem noch in den wichtigsten Punkten
widersprechend sind, so dass es wol ganz gerechtfertigt ist, wenn
Schauenstein ') hervorhebt, dass die Leichenerscheinungen gar nichts
Charakteristisches darbieten. Bei genauer Durchsicht der einschlägigen
Literatur konnte ich Folgendes finden:
Orfila 2 ) beschreibt einen Fall, wo von Kindern, die Belladonnabeeren
gegessen hatten, eines im Alter von 4 Jahren am folgenden Tage starb. Es
fanden sich bei demselben 3 Geschwüre im Magen, sonst war nichts be¬
sonders Charakteristisches vorfindlich.
Taylor 3 ) sagt über die vorfindlichen Leichenerscheinungen: „Die bei
mehreren Vergiftungen mit Beeren in London im Herbst 1846 beobachteten
Leichenerscheinungen waren Congestionen der Gehirngefässe mit flüssigem Blut;
Magen und Darm blass und schlaff, gegen die Cardialmündung hin
einige rothe Flecken. In anderen tödtlichen Fällen waren die Gefässe und
Häute des Gehirns von dickem, schwarzem Blute ausgedehnt; geröthete Stel¬
len sind ebenfalls im Schlunde und der Speiseröhre und dunkel-
rothe Congestionsflecken auf den Magen Wandungen beobachtet wor¬
den. In manchen Fällen ist die Schleimhaut durch den Saft der Beeren voll¬
ständig gefärbt.“
Rosenberger 4 ) theilt den Obductionsbefund eines 5jährigen Knaben mit,
welcher durch Genuss von Belladonnabeeren zu Grunde gegangen ist. Er hebt
den intensiven Glanz der halb offenen Augen, die Pupillenerweiterung, den
krampfhaft geschlossenen Mund und die Erschlaffung des Sphincter ani hervor.
Daneben waren die Gehirngefässe von dunklem Blute ausgedehnt, die Hirn¬
substanz, das Cerebellum und die Medulla oblongata boten zahlreiche Blut-
punkte dar.
Im Schlunde und der Speiseröhre fanden sich mehrere geröthete
Stellen, im Magen nebst einiger Flüssigkeit drei zerplatzte Beeren, die
Schleimhäute waren an verschiedenen Stellen röthlichblau.
*) Schauenstein in Maschka’s Handb. der ger. Medicin. II. Bd. S. 658.
*) Orfila, Toxicologie, nach der 5. Aufl. deutsch von Krupp. Braunschweig
1854. Bd. II. S. 406 . 2te Krankengeschichte entnommen aus „Histoire de l’academie
des Sciences“ von 1703.
*) Taylor, a. a. 0. S. 377.
4 ) Canstatt’s Jahresber. 1844. 5. S. 295.
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Beobachtangen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 77
van Hasselt 1 ) giebt als Sectionsergebniss Hyperaemie der Leber, Milz
und anderer parenchymatöser Organe der Bauchhöhle, sowie Ueberfüllung des
Gehirns und der Lungen mit Blut an, hebt dagegen herror, „dass sich Spuren
einer irritirenden Nebenwirkung in der Regel nicht vorfinden, nur die Schleim¬
häute der Mundhöhle und besonders des Schlundes seien geröthet und mitunter
von Aphthen besetzt gefunden worden.“
Nach Husemann 2 ) ist der Leichenbefund beim Menschen bei der kleinen
Zahl der tödtlich verlaufenden Fälle von Belladonna-Vergiftung keineswegs zur
Genüge festgestellt.
Körner 3 ) hebt besonders die auffallende Erweiterung der Pupillen, die
Ueberfüllung der Blase mit Harn und Röthung der Nervi vagi (!) hervor, während
Seaton 4 ) die Dünnflüssigkeit des Blutes als auffälligste Leichenerscheinung er¬
wähnt, womit vielleicht der von Bauer 5 ) betonte rasche Eintritt der Fäulniss
zusammenhängt.
Dass Otto 6 ) neben starker Hyperämie der Hirnsinus, der Pia mater und
Medulla oblongata Ecchymosen am Pericardium hervorhebt, ist noch zu erwähnen.
Noch spärlicher als die Angaben über den pathologischen Befund
bei Vergiftungen mit Belladonnabeeren sind die über die Vergiftung
mit dem reinen Alkaloid.
Taylor 1 ) war der erste, welcher einen derartigen Fall im November 1850
zu untersuchen Gelegenheit hatte: Ein junger Mann hatte sich mit 2 Gran
Atropin vergiftet und war Morgens todt im Bette aufgefunden worden. Die Haut
war livid. die Glieder starr und contrahirt, wenig braune Flüssigkeit aus dem
Munde fliessend, die Pupillen stark erweitert, die Magenschleimhaut diffus
geröthet, was auch, wie Taylor bemerkt, von Branntwein hergerührt haben
kann, den er genossen.
ln neuerer Zeit hat Gross 8 ) in Philadelphia einen Obductionsbefund mit-
getheilt, wo ein Patient durch Verwechselung von Asa foetida mit Atropin in der
Apotheke vergiftet worden war.
Die 48 Stunden nach dem Tode vorgenommene Obduction ergab: das
Gesicht livid, die Pupillen erweitert, der Magen zeigte an der Cardia
Sugillationen, die Därme waren blass, die Blutgefässe der weichen Hirnhaut
mit Blut überfüllt. —
') A. W. M. van Hasselt. Haudb. der tiiftluhre, frei bearbeitet und mit
Zusätzen versehen von J. B. Henkel. I. Theil 1862. S. 300.
*) Husemann, Handb. der Toxicologie. Berlin 1862. S. 466.
*) Württemberg. Corresp.-Bl. 1856. No. 35.
*) Med. Times and Gaz. Dec. 3. 1869.
*) Württemberg, med. Corrcsp-B). 1873. No. 75. S. 113.
®) Vierteljahrsschrift f. ger. Medic. N. F. V. 1. 1866. S. 154.
T ) Taylor, a. a. 0. S. 378.
®) The American Journ. of the med. sc. 1869 Oct. S 401; vergl. Ref. in
Friedreich’s Blätter f. ger. Med. 1870. S. 457.
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78
Dr. J. Kratter,
Bei Thieren ergaben die Sectionen bedeutende Schleimansammlungen im
Munde, Pharynx, Trachea. Lungen. Speiseröhre und Magen, Hyperämie der
grösseren Bauchdriison und des Gehirns, selbst Injection der Schleimhäute
des oberen Theiles des Verdauungs- und Respirationssystems. l )
Hertwig fand bei seinen Versuchen an Thieren venöse Hyperämie, be¬
sonders an der Gehirnbasis, in der Gegend der Corpora quadrigeinina und der
Medulla oblongata mehrmals selbst mit blutigem Extravasat. Das Blut soll mehr
als gewöhnlich flüssig und wie beim Typhus degenerirt sein. 2 )
Wenn wir diese Angaben überblicken, so finden wir fast bei allen,
dass 1) die Pupillen erweitert sind, 2) Blutüberfüllung des Gehirns
und seiner Häute vorhanden ist und 3) wenigstens in allen Fällen,
wo Vergiftungen mit den Beeren stattfanden, irritative Erscheinungen
an der Schleimhaut des Pharynx, der Speiseröhre und des Magens.
Ob diese Erscheinungen hinlänglich charakteristisch und constant
genug sind, um für sich allein die Diagnose einer stattgehabten Atro¬
pinvergiftung zweifellos festzustellen, werden wir noch weiter unten
ausei nan dersetzen.
Ich selbst hatte in den letzten 2 Jahren Gelegenheit, das Obduc-
tionsergebniss von zwei diesbezüglichen Fällen kennen zu lernen und
theile mit freundlicher Erlaubniss des Professor Eppinger, in dessen
Institut die Obductionen vorgenommen wurden, die betreffenden Be¬
funde mit.
Obduetionsbefund zum Falle 6 — betreffend den am 6. Sep¬
tember auf der ersten mcdicinischen Abtheilung des allgemeinen Kran¬
kenhauses 12 Uhr Mittags verstorbenen 60jährigen Knecht Andreas
Hebenstreit, dessen Krankengeschichte als 6. Fall oben mitgetheilt
worden ist.
Körper mittelgross, kräftig gebaut, mager; im Gesiebt, an der rechten
Thoraxseite, am Ellenbogen und am rechten Unterschenkel Excoriationen. Todten-
starre mässig ausgeprägt. Pupillen mässig und gleich erweitert.
Schädeldach rundlich, dick, schwammig; im oberen Sichelblutleiter Faser¬
stoffgerinnsel, die Dura mater gespannt, leicht geröthet. Die inneren Hirn¬
häute getrübt, feucht, stark injicirt, in den basalen Sinus flüssiges Biut.
die Hirnhäute an der Basis zart.
Hirnsubstanz weich, zähe, die Corticalis mässig breit, das Mark von
reichlichen grossen dunklen Blutpunkter, durchsetzt, die Ventrikel
weit, mit klarem Serum gefüllt; das Ependym gieichmässig verdickt, die Cen¬
tralganglien blutreicher, der 4. Ventrikel weiter, das Kleinhirn weich,
blutreich, Medulla und Pons weich und ebenfalls etwas blutreicher.
') llusemann a. a 0. S. 466.
*) van Hasselt a. a. 0. S. 300.
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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 79
Das Zwerchfell beiderseits im 5. Rippenknorpel stehend; Unterhautzellge¬
webe fettarm, Muskeln blassrotb. Beide Lungen zurückgesunken, im linken Tho¬
raxraum etwas blutig gefärbte Flüssigkeit. Im Herzbeutel trübe Flüssigkeit, das
Pericardium leicht verdickt, fettarm, das Herz gross, schlaff, in seinen Höhlen
halb geronnenes Blut und Faserstoffgerinnsel. Die Herzwandungen dünn, die
Höhlen weit, die Musculatur brüchig, blassbrann gefärbt, die Klappen zart und
wohl geformt.
Die linke Lunge frei, gross und schwer; die Ränder etwas gedunsen, sonst
ist das Gewebe luftarm, stark pigmentirt. von schaumarmen Serum reichlich
durchtränkt, Bronchialschleimhaut allenthalben blass. Die rechte Lunge etwas
kleiner, sonst genau ebenso beschaffen, wie die linke.
Die Pharynxschleimhaut glatt, dünn, dunkelviolett gefärbt.
Die Schleimhaut des unteren Dritttheiles des Oesophagus mit ausge¬
breiteten, stellenweise die ganze Circumferenz einnehmenden dunkelbraunen,
da und dort gelblich-grau gefleckten, theils locker haftenden, theils ziemlich fest
sitzenden Belegen besetzt, die, wenn abgelöst, an ihrer untern Fläche ziemlich
glait und graulich gelb gefärbt erscheinen und sich membranartig darbieten.
Ueber den Längsfalten des Oesophagus erscheinen dieselben gleichfalls gefaltet
und ahmen so die Innenfläche des Oesophagus nach. Nach Ablösung derselben,
wo es möglich ist. bleibt eine glatte, blasse Fläche des Oesophagnsinneren
zurück.
Die Cardiaschleimhaut ist im Allgemeinen blass und zeigt eine zackige Ab¬
grenzung gegen die des Oesophagns.
Die Schleimhaut des Larynx und der Trachea grünlich missfarbig.
Die Lage der Unterleibseingeweide normal; das Peritoneum zart, die Ge¬
därme gasgebläht.
Der an der Cardia und dem Pylorus abgebundene Magen ist ausgedehnt
und enthält eine grosse Menge gelblicher Flüssigkeit, die Wandungen desselben
im Allgemeinen mässig dick. Die Schleimhaut der vorderen und hinteren
Fläche der ganzen Cardiahälfte inclusive des Fundus ist etwas geschwollen, stark
gefaltet und in Form einer Landkartenzeichnung mit röthlich braunen, gelblich
gefleckten, sehr dünnen, da und dort leicht ablösbaren, membranartigen
Belegen besetzt. Die freien Schleimhautpartien einfach geröthet. An dem
der kleinen Curvatur zugehörigen Abschnitt dieser Magenhälfte finden sich klei¬
nere. förmlich flockige, so gefärbte Auflagerungen, neben welchen, wie überhaupt
längs des ganzen kleinen Magenbogens sich 3 Millimeter bis 1 Ctm.
grosse Substanzverluste vorfinden, die von scharfen, zackigen
Rändern umgeben werden und eine leicht vertiefte, zart streifige,
gelblich weisse Basis besitzen. Die übrige Schleimhaut in der Pylorus-
hälfte sehr stark geschwollen, gefaltet; die glätteren Stellen wie warzig und im
Allgemeinen röthlich violett gefärbt; die Muscularis allenthalben ein ganz wenig
gequollen, scheinbar feuchter, der Peritonealüberzug blass. (Siehe Taf. II. Fig. 1.)
Die mesenterialen Drüsen haum angedeutet. Im Dünndarm recht viel Gas
und gallig gefärbter Ghymus. Im Dickdarm eine geringe Menge geballter, mit
Fruchtkörnern untermischter Fäces; im absteigenden Colon und Sromanum
ist die Schleimhaut mit zähem Schleime bedeckt. Die Wandungen des ganzen
Darmcanals dünn, die Schleimhaut glatt, etwas geröthet und im Dünndarm
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80
Dr. J. Kratt er.
von einzelnen Eccbymosen, die stellenweise dichtgedrängt sind, durchsetzt.
Die Schleimhaut des Jejunum glatt und gallig imbibirt.
Die Milz etwas grösser, pulpereicher und dunkel gefärbt.
Die Leber gross, ihre Oberfläche glatt, ihr Gewebe hart, brüchig, gelblich
braun; in der Gallenblase viel dunkle Galle.
Die Nieren gross, mit zarten Kapseln versehen, ihr Gewebe schlaff, paren¬
chymatös degenerirt. Die Harnblase sehr stark ausgedehnt, mit dunkelgelbem
Ham gefüllt, ihre Schleimhaut leicht geröthet. Die Genitalien wie gewöhnlich
beschaffen. —
Der höchst auffällige Befund sehr beträchtlicher localer Veränderungen an
den Schleimhäuten des Oesophagus und des Magens, welcher allerdings überein-
stimmt mit gewissen Befunden älterer Autoren, veranlasste eine eingehende mi¬
kroskopische Untersuchung, welche Herr Prof. Eppinger in Gemeinschaft mit
mir vorzunehmen die grosse Güte hatte.
Mikroskopische Untersuchung des Falles 6.
Dieselbe bezog sich vor allen anderen auf die Vorgefundenen Ver¬
änderungen im Oesophagus und dem Magen. Die raembranartigen
Gebilde in der Speiseröhre erwiesen sich als wirkliche faserstoffige
Exsudationen, durch welche das geschichtete Pflasterepithel des
Oesophagus in Form von Fetzen, die mit den faserstoffigen Massen
innig Zusammenhängen, abgehoben wird. Wo die Membranen etwas
dünner sind, ist das Fibrinnetz ein wenig dickbalkiger, die engen
Maschenräume sind mit spärlichen Exsudatzellen und einer feinstgra-
nulirten Masse ausgefüllt; wo die Membranen dicker sind, dort bietet
sich der faserstoffige Antheil des croupösen Exsudats in Form eines
feinstfibrillären Netzwerkes dar, das da und dort von grösseren Men¬
gen von erhaltenen und zerfallenen Exsudatzellen untermengt erscheint.
Ausser den abgehobenen Epithelmassen finden sich an der Oberfläche
des Exsudates zerfallene rothe Blutmassen, da und dort oft in
Form einer ziemlich dicken Lage eines rostbraunen Belages. Die
oberste Bindegcwebsschicht der Oesophaguswand ist zahlreicher, ebenso
die Muskelschicht der Schleimhaut, während die Aussenschichten eine
wesentliche Veränderung nicht zeigen. (Siehe Taf. 111. Fig. 1 u. 2.)
Aus einer gleichen faserstoffigen Exsudatmasse setzen sich
die mit Pigmentmassen belegten, membranartigen Belege der
Schleimhaut der Cardiahälfte des Magens zusammen. Auf¬
fallend ist der Umstand, dass unter denselben die inneren Hälften der
Magendrüsen auch bei sorgfältigster Tinction die Kernfärbung der Epi¬
thelzellen ganz und gar vermissen lassen. Die so beschaffenen Ab¬
schnitte der Drüsen erscheinen durch eine wie haarscharfe Linie von
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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 8 t
den äusseren Drüsenhälften unterschieden, an welchen durch combi-
nirte Eosin- und Häraatoxylintinction nicht nur die Epithelkerne, son¬
dern auch ihre Leiber äusserst correct und deutlich zum Vorschein
kommen. —
Die mikroskopische Untersuchung der unteren Partie der Speise¬
röhre und des Magens hat sonach mit Sicherheit dargethan, dass es
sich um eine zum Theil ziemlich hochgradige Entzündung der
Schleimhäute dieser Partien unter Bildung eines mit Blut ge¬
mischten croupösen Exsudates handle. An einzelnen Partien
des Magens, an der kleinen Curvatur, hatten sich (siehe Befund) aus
dieser Entzündung unter Abstossung kleiner Exsudatpartien sogar schon
einige kleine oberflächliche Geschwürchen gebildet. Es ist be-
merkenswerth, dass sich Zeichen irritativer Vorgänge selbst noch
in den oberen Partien des Dünndarms vorfanden und zwar, wie der
Befund besagt, in Form von stellenweise sogar dichtgedrängten Ec-
chymosen.
Ich habe auch die in den Fäces vorfindlichen kleinen Frucht¬
kerne einer vergleichenden makro- und mikroskopischen Untersuchung
unterzogen und erwiesen sich dieselben zweifellos als Samenkörner
der Tollkirsche, die vielfach noch in Reste des Fruchtfleisches der
Beere eingebettet waren. Auch Fetzen der blauschwarzen Oberhaut
der Tollkirschen, charakteristisch durch den darin enthaltenen stark
färbenden violetten Farbstoff, konnten nachgewiesen werden. Durch
diesen Befund fanden die Angaben der Angehörigen, sowie die kli¬
nische Diagnose ihre volle Bestätigung, obwohl das Ergebniss der von
mir durchgeluhrten chemischen Untersuchung in diesem Falle, wie ich
noch später mittheilen werde, ein negatives war.
7. Fall. Selbstmord durch Atropinum sulfuricum.
Im Juli 1884 kam der eines Morgens todt in seinem Bette aufgefondene
54 jährige Apotheker ..... welcher zuletzt ein Droguengeschäft besass und hier¬
bei finanziell zu Grunde gegangen war, zur sanitätspolizeilichen Obduction.
Die polizeilichen Erhebungen hatten ergeben, dass ein Selbstmord im hohen
Grade wahrscheinlich sei, und dass derselbe durch schwefelsaures Atropin, wahr¬
scheinlich in Wasser gelöst ausgeführt worden sein dürfte. Man hatte nämlich
neben dem Bette ein leeres Wasserglas und in der Nähe des Bettes am Boden
liegend ein Stückchen Papier gefunden, welches ganz in der Art gefaltet war, wie
die Apotheker Pulver einzuschliessen pflegen. Die geöffnete Papierkapsel war
vollkommen leer und mit der Aufschrift „Atropinum sulfuricum“ versehen.
Erst eine von mir nach der Obduction vorgenommene genaue Besichtigung
des Papiers mit einer Loupe ergab, dass noch einige feinste Krystallnadeln an
Vierteljahrtsohr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 1. j
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82
Dr. J. Kratter.
demselben anhafteten, welche sich sowohl durch die mikroskopische Untersu¬
chung, von der noch weiter unten die Rede sein wird, wie auch durch das phy¬
siologische Experiment, welches von meinem Collegen Dr. Birnbacher an einem
seiner Patienten vorgenommen worden war, als Atropin erwiesen.
Bei der leider in Folge behördlicher Anordnung erst spät —
nach Ablauf von 48 Stunden — vorgenoinroenen Obduction wurde
folgender Befund aufgenommen:
Der Körper sehr gross, ungewöhnlich kräftig gebaut, sehr gut genährt; die
Hautdecken im Allgemeinen blass, stark verfärbt und namentlich über dem stark
ausgedehnten, aufgetriebenen Unterleib grünlich missfärbig. Die Epidermis im
Gesicht, an der Rückenfläche und den Extremitäten theils blasig abgehoben,
theils in Form von Fetzen abgelöst.
Das Schädeldach gross, länglich oval, beträchtlich dicker, compact. Die
Dura mater der Glastafel adhärirend, die inneren Meningen stark verdickt und
getrübt, von blutig-imbibirtem Serum stark durchtränkt.
Das Gehirn zeigt an der Oberfläche weite Furchen, seine Substanz allenthal¬
ben etwas weicher und dunkler gefärbt. Das Kleinhirn ebenfalls etwas weicher
und röther, das Gewebe der Varolsbrücke und des verlängerten Markes ist etwas
feuchter und rothlich gefärbt.
Die Gonjunctiva getrübt, leicht blutig imbibirt. die Cornea beiderseits
stark getrübt; bei intensiverer Beleuchtung erscheinen die Pupillen weiter,
als gewöhnlich.
Das Ünterhautzellgewebe sehr fettreich, die Musculatur kräftig, rothbraun.
In den Brusthöhlen etwas blutig gefärbte Flüssigkeit. Die Lungen an reichlichen
Stellen fixirt, ihr Gewebe, namentlich an den Rändern, gedunsen, rareficirt,
blasser; sonst ist das Gewebe luftärmer, blutreioher, zerreisslich und reichlich
von schaumiger Flüssigkeit durchtränkt. An der Aussenfläche des rechten Ober¬
lappens ist die Pleura im Umfange von etwa 4 Ctm. in streng umgrenzter Weise
sehnig verdickt, die Ränder der Verdickung mit strahligen, sehnig glänzenden
Ausläufern versehen.
Der Herzbeutel im ganzen Umfange mit dem Herzen bindegewebig ver¬
wachsen. Das Herz gross, enthält rechts Blutgerinnsel, links zumeist flüssiges,
dunkles Blut. Die Höhlen desselben sind weit, die Wandungen dünner; das Herz-
fleisch ist brüchig, gelblich braun gefärbt, das Endocard reichlich blutig imbi¬
birt, ebenso auch die etwas verdickten, aber wohl geformten Klappen.
Die Schleimhaut der oberen Luftwege ein wenig verdickt, dunkel bläulich¬
violett gefärbt.
Die Lagerung der Unterleibseingeweide insofern verändert, als die Leber
durch straffe Adhäsionen an das Zwerchfell und das grosse Netz durch mem-
branöse Bindegewebsmassen an die vordere Bauch- und Beckenwand fixirt er¬
scheinen.
Die Milz etwas geschwollen, von Gasblasen durchsetzt, ihr Gewebe sehr
brüchig, morsoh, schwärzlich verfärbt.
Die Nieren in ungewöhnlich dicke, fettreiche Bindegewebsmassen eingehüllt,
etwas grösser, mit dickeren, aber leicht abstreifbaren Kapseln versehen; ihr Ge¬
webe ist fest, zähe und dunkler gefärbt.
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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 83
Im Magen reichlicher Speisebrei mit röthlich gefärbter, saurer Flüssigkeit.
Die Schleimhaut der Card iah älfte verfärbt und sehr leicht in Form eines gallertU
gen Breies abstreifbar. Die übrige Schleimhaut wol etwas verdickt, leicht ge¬
faltet und gleichmässig rauchgrau gefärbt; die Schleimhaut des Dünndarms un-,
verändert. Im Dünn- und Dickdarm sehr reichliche, mit Gas untermengte In¬
haltsmassen, ihre Wandungen gewöhnlich dick, die Schleimhaut allenthalben
entsprechend gefaltet und blass. • ;:
Die Leber etwas grösser, ihr Gewebe an einzelnen Stellen der Oberfläche
des rechten Lappens in Folge straliliger, tiefgreifender Narben eingesunken, sonst
das Gewebe härtlicb-brüchig, gleichmässig gelblich braun gefärbt, in den Ge¬
lassen schaumiges dunkles Blut. (
In der Harnblase lichtgelber klarer Harn. Die Wandung derselben gehörig
dick, ihre Schleimhaut blass. Die Prostata etwas grösser, körnig und blass. Die
Hoden ein wenig kleiner, mit ihren Scheidenhäuten verwachsen, von derben,
fibrösen Streifen durchsetzt, ihr Drüsengewebe sparsam und gelblich braun
gefärbt.
Das Ergebniss dieses Befundes ist, abgesehen von einer Reihe
pathologischer Veränderungen, welche dem chronischen Alkoholisraus.
und alter Syphilis zugehören und demnach hier keine weitere Erörte¬
rung finden können, in Bezug auf die Vergiftung selbst ein völlig
negatives. Namentlich fehlen hier im Gegensätze zu dem so cha¬
rakteristischen Befunde bei der Vergiftung mit Belladonnabeeren jeg¬
liche localen Erscheinungen an den Schleimhäuten des Ver-
dauungstractes.
Hält man diese beiden so genau untersuchten Fälle einander ge¬
genüber, so muss man zu der Ueberzeugung kommen, dass die pa¬
thologischen Erscheinungen in Bezug auf das Verhalten der
Schleimhäute der oberen Verdauungswege und des Magens ganz ver¬
schiedene seien beim Atropin und bei der Tollkirsche. Bei
ersterem ist der locale Befund des Magens ganz negativ, wie bei allen
anderen Alkaloiden, bei Vergiftung durch die Beeren dagegen ist deut¬
lich eine Irritation der Schleimhaut und reactive, selbst bis zur Exsu¬
dation und Geschwürsbildung führende Entzündung vorhanden. Es dürfte
die Feststellung dieses Unterschiedes wol von Wichtigkeit sein und aus
diesem verschiedenen Verhalten sich zum Theil auch die widerspre¬
chenden Angaben der Autoren erklären. Die meisten älteren beziehen
sich auf die Vergiftung mit den Beeren der Tollkirsche und wir finden
daher Veränderungen an der Schleimhaut des Pharynx, des Oesopha¬
gus und des Magens fast immer hervorgehoben; die jüngeren Angaben
und die Befunde an Thieren sind meist reine Atropinvergiftungen, die
pathologischen Befunde dieser Organe daher negativ. Wie sich dies-
6 *
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Dr. J. Kratter,
bezüglich etwa die Befunde gestalten bei Vergiftungen mit Blättern
und der Wurzel der Belladonna, sowie mit den galenischen Präpara¬
ten derselben muss ganz dahingestellt bleiben. Wenn es gestattet ist,
eine Meinung diesbezüglich zu äussern, so möchte ich glauben, dass
eine local irritirende Wirkung nur den Beeren und diesen vielleicht
nur im frischen Zustande genossen, zukomme.
Die übrigen Befunde, nämlich die auch noch an der Leiche wahr¬
nehmbare Pupillenerweiterung und die Hyperämie des Gehirns
sind beiden gemeinsam, jedoch dürfte wol Niemand wagen, auf
diese Befunde hin allein mit Sicherheit die Diagnose auf eine statt¬
gehabte Atropinvergiftung zu stellen.
Alles Andere, was von verschiedenen Autoren als charakteristisch
betont wurde, ist meist nur Theilerscheinung jener Veränderungen, die
stets gefunden werden, wenn der Tod durch Herzlähraung erfolgt.
Auf Grund dieser Beobachtungen und Untersuchungen halte ich
mich in Hinsicht auf den anatomischen Befund bei der Atropinver¬
giftung zur Aufstellung folgender Sätze für berechtigt:
1) Die Erweiterung der Pupillen ist eine constante Leichen¬
erscheinung der Atropinvergiftung und ist dieser Befund in einem
nicht zu verkennenden und daher diagnostisch immerhin verwerthbaren
Gegensatz zu den Vergiftungen mit anderen Narcoticis, namentlich den
Opiaten, bei denen ja die Verengerung der Pupillen eine constante
Erscheinung ist.
2) Ebenso constant ist die Ueberfüllung des Gehirns und
seiner Häute mit Blut; jedoch ist dieser, obwohl constante Be¬
fund, weil er sich auch aus anderen Ursachen häufig genug findet,
für sich allein diagnostisch gar nicht verwerthbar.
3) Während diese Erscheinungen (1 und 2) sich sowohl bei der
reinen Atropinvergiftung, wie bei der durch Belladonna und deren
Präparate herbeigeführten, ganz in gleicher Weise an der Leiche vor¬
finden, ist das Verhalten in Bezug auf die localen Befunde in den
oberen Theilen des Verdauungstractes verschieden: Dieselben sind voll¬
kommen negativ bei der Vergiftung durch das reine Alkaloid
und dessen Salze, dagegen wirkt die Belladonnabeere wie ein
irritirendes Gift und erzeugt neben Hyperämie und Blutungen der
Schleimhäute der Speiseröhre, des Magens und selbst noch des oberen
Dünndarms reactive bis zur croupösen Exsudation und oberflächlichen
Geschwürsbildung führende Entzündung dieser Partien des Verdauungs¬
rohres.
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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 85
4) Auch das Vorhandensein aller dieser als constant bezeichneteu
pathologischen Veränderungen ist nicht ausreichend und charakteristisch
genug, um für sich allein den Beweis einer stattgehabten Belladonna¬
vergiftung zu erbringen. Derselbe wird durch den Befund an der
Leiche allein nur dann als sicher erbracht angesehen werden können,
wenn, wie dies ja in einer Reihe von Fällen und so auch in unserem
Falle 6. vorgekommen ist, Reste der genossenen Beeren im Magen¬
oder Darminhalt vorgefunden werden.
IV. Der forensische Nachweis.
Je unsicherer sich die pathologische Diagnostik gestaltet, um so
wichtiger ist der forensiche Nachweis einer stattgehabten Atropinver¬
giftung aus der Leiche. Glücklicher Weise ist bei Einhaltung ent¬
sprechender Untersuchungsmethoden ganz entgegen der Annahme von
Otto'), welcher es einfach schlechtweg für unmöglich erklärte, bei
einer stattgehabten Atropinvergiftung den chemischen Nachweis aus
der Leiche zu erbringen ganz wohl möglich, dies zu thun.
Ausser einer Reihe von .experimentellen Untersuchungen, die ich
behufs Aneignung und Erprobung entsprechender Verfahrungsweisen
vornahm, habe ich in den meisten der vorhin angeführten Fälle die
chemische Untersuchung zu führen gehabt.
Bevor ich auf die Resultate dieser Untersuchungen übergehe, will
ich in Kürze die Methode besprechen, deren ich mich zur Abscheidung
des Alkaloides bediente.
Die von mir angewandte, vielfach erprobte und auch für forensische Zwecke
vollkommen geeignete, weil volle Sicherheit gewährende Methode ist mit geringen
Veränderungen jenes Verfahren, welches Dragendorff 2 ) angiebt und das
eine Abänderung des Erdmann-Uslar’schen Verfahrens ist.
Die zu untersuchende Substanz, wie Mageninhalt, Darminhalt, Magen, Blut,
Harn etc. wird zuerst mit wenig schwefelsaurem Alkohol (ich bediente mich stets
der verdünnten Schwefelsäure zum Ansäuern) wiederholt extrabirt und zwar
Flüssigkeiten, nachdem sie zuvor bei niedriger Temperatur auf dem Wasserbade
zur Syrupconsistenz eingeengt worden waren. Wenn man nach 24—48 ständi¬
gem Digeriren wiederholt mit (saurem) Alkohol auszieht, so kann man sicher sein,
alles Alcaloid in die saure Lösung gebracht zu haben. Nach Verdunstung des
Alkohols auf dem Wasserbade, wird die zurückbleibende wässrige Flüssigkeit
entweder mit Aether oder mit Chloroform wiederholt ausgeschültelt. Amylalkohol
und Benzin habe ich bei den Untersuchungen auf Atropin niemals angewendet
') Otto, „Anleitung zur Ausmittlung der Gifte.“ 5. Aufl. 1875.
*) Dragendorff, „Die ger-ehern. Ermittlung von Giften.“ St. Petersburg,
1876. 8 193 u. f.
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Dr. J. Kratter,
aus denjenigen Gründen, welche auch Dragendorff 1 ) veranlassten, diese
Substanzen nicht oder nur unter gewissen Cautelen in Anwendung zu bringen.
Ist die saure Lösung wiederholt durch Aether oder Chloroform ausge-
schültelt und dadurch gereinigt, so dass nichts mehr in diese Flüssigkeiten über¬
geht, so wird die Säure durch Ammoniak neutralisirt und die ammoniakalische
Flüssigkeit neuerdings mit Aether oder Chloroform und zwar wiederholt ge¬
schüttelt. Aus der ammoniakalischen Flüssigkeit geht das Alcaloid vollständig
und zwar schon bei gewöhnlicher Temperatur in den Aether und das Chloroform
über. Wäscht man diese Flüssigkeiten mit destillirtem Wasser mehrmals und
lässt dann die gesammelten Aether- oder Chloroformauszüge verdunsten, so er¬
hält man das Alcaloid im amorphen Zustande und zwar jetzt schon mitunter ziem¬
lich rein.
Meistenteils ist aber noch eine weitere Reinigung nöthig, die vorgenommen
wird durch neuerliche Lösung des Aether- oder Chloroformrückstandes in wenig
schwefelsaurem Wasser, welches neuerdings in der oben angeführten Weise be¬
handelt wird. Ich habe nun stets das auf diese Weise schon so vollständig als
möglich gereinigte Alcaloid in ganz wenig leicht eingesäuerten Alkohol gelöst
und diese Lösung auf einem Uhrglase bei gewöhnlicher Temperatur verdunsten
gelassen.
Beinahe in allen Fällen, wo ich dieses Verfahren eingeschlagen, erhielt ich
das schwefelsaure Salz in krystallinischer Form und konnte es so vor der Vor¬
nahme der chemischen oder physiologischen Schlussreaction einer genauen mikro¬
skopischen Untersuchung unterziehen.
Gerade die mikroskopische Untersuchung halte ich für recht
wichtig und möchte sie in keinem Falle unterlassen wissen. Es ist
mitunter möglich, schon aus der Krystallforra mit hoher Wahrschein¬
lichkeit die Anwesenheit des Alkaloids zu erkennen.
Hellwig 2 ) hat zuerst auf die Wichtigkeit des Mikroskops für
die Toxicologie hingewiesen. Leider sind seine Untersuchungen eben
nur experimentelle, welche in Laboratorien unter Anwendung von
chemisch reinen Substanzen vorgenommen wurden. Auf Untersuchung
wirklicher Vergiftungsfälle beim Menschen ist diese Methode bisher
nicht angewendet worden.
Ich gehe nun auf Besprechung der von mir chemisch untersuchten
Fälle über.
Chemische Untersuchung der Fälle 3, 4, 5. Von Seite des Stadt-
physikates sowohl als wie von Seite des betreffenden Apothekers, von welchen die
incrimirte „Kreuzbeersalse“ (Roob spinae cervinae) stammte, wurde mir je ein
Rest zur Untersuchung gegeben. Ich bediente mich hier zur Abscheidung des
Atropins, da die Frage nach der Anwesenheit eines anderen Alcaloids nicht ge-
') Dragendorff, „Beiträge zur gerichtl. Chemie einzelner organischer Gifte.“
St. Petersburg, 1872. S. 220 u. f. und a. a. 0. S. 194
*) Hellwig, „Das Mikroskop in der Toxicologie.“ Mainz, 1865.
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Beobachtangen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 87
stellt war, nur ausschliesslich des Chloroforms und zwar mit einem geradezu
ausserordentlich gaten Erfolge, indem schon bei der ersten Chloroformschüttelang
eine naheza vollkommen reine Substanz zarüokblieb, welche nicht weiter za
krystallisiren versucht, sondern sofort für das physiologische Experiment ver¬
wendet wurde.
Von dem in einigen Tropfen Wasser mit Hilfe einer ganz geringen Spur
von Schwefelsäure gelösten Rückstände wurde zuerst einem Kaninchen in den
Bindehautsack geträufelt. Das Experiment wurde in Beisein von Regierungsrath
Professor Schauenstein und Professor von Schroff jun. aasgeführt. Das
Resultat war negativ. Wenigstens konnte eine über jeden Zweifel erhabene Pu¬
pillenerweiterung beim Kaninchen mit Sicherheit nicht constatirt werden.
Von dem Reste der Flüssigkeit habe ich Herrn Dr. Strasiribka, Assistent
am pharmakologischen Institut, 3 Tropfen ins rechte Auge geträufelt. Nach
einer Stunde war bereits eine recht beträchtliche Erweiterung der Pupille dieses
Auges vorhanden und dauerte die Pupillenerweiterung fast 24 Stunden an, da
sie noch am darauf folgenden Morgen mit voller Deutlichkeit zu erkennen war.
Es konnte somit keinem Zweifel unterliegen, dass die zur Unter¬
suchung gekommene Substanz atropinhaltig war. Andererseits aber
hat es sich auch gezeigt, dass Kaninchen ungeeignete Thiere für die
Vornahme der Schlussreaction sind, da sie sich eines hohen Grades
von Immunität gerade gegen Belladonna und Atropin erfreuen.
Es muss auf diesen Umstand ganz besonders Rücksicht genommen
werden, da von der Auswahl eines entsprechend empfind¬
lichen Versuchsthieres das Resultat der ganzen Unter¬
suchung abhängig sein kann, wie dies gerade diese Untersuchung
mit höchster Evidenz beweist. Nach dem Ergebnisse des Experiments
am Kauinchenauge hätte man absolut nicht die Anwesenheit einer
pupillenerweiternden Substanz annehmen dürfen, während das Experi¬
ment am Menschenauge die Gegenwart einer solchen mit voller Sicher¬
heit ergab.
Es sei mir gestattet, an dieser Stelle einiges über die Empfind¬
lichkeit verschiedener Thiere gegen Atropin einzufugen, umso mehr als
von der Kenntniss dieser Empfindlichkeit die Wahl des Versuchsthieres
abhängen wird und muss.
Schon vor mehr als 100 Jahren hat der um die Entwicklung der experi¬
mentellen Toxicologie verdiente Italiener P. Rossi') gefunden, dass Hunde Bella¬
donna und gefleckten Schierling ohne besonderen Nachtlieil ertragen.
Auch F. A. Q. Emmert*) hat ähnliche Versuche in Betreff der Wirkungs¬
art der Gifte angestellt und kam ebenfalls zu dem Schlüsse, dass sich die ver-
’) P. Rossi, »De nonnullis plantis, quao pro vcncnatis habcntur, observa-
tiones et cxperimenta.“ Florentiac instituta Pisis. 1762.
*) Meckel’s Archiv f. die Physiologie, Bd. 1. 1815 u. ebenda Bd. 4. 1818.
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Dr. J. Kratter,
schiedenen Thiere gegen Gifte darunter auch gegen Belladonna sehr verschieden
verhalten, was auch durch Orfila’s') meist an Hunden ausgeführte Experimente
bestätigt wurde, sowie durch E. L. Schubarth’s 2 ) interessante Versuche an
Hunden, Katzen, Pferden und Kaninchen. Pilger 3 ) fand, dass Pferde ohne
Schaden 4 Unzen Belladonnawurzel vertragen können und nach den Versuchen
von Bredin 4 ) mit verschiedenen Giften (darunter auch mit Belladonna) an
wiederkäuenden Thieren und Solipeden giebt es für diese zwar Narcotica, allein
die Dosis musste bei ihnen 100 mal stärker als beim Menschen gereicht werden.
Die hohe Immunität der Kaninchen gegen Belladonna, die ja bekanntlich
so weit geht, dass ein Kaninchen wochenlang Belladonnablätter ohne Schaden
fressen kann, wurde neben vielen anderen neueren insbesondere von Schroff sen. 5 )
durch eingehende Untersuchungen und Beobachtungen neuerdings constatirt.
In jüngster Zeit hat sich Heckei 6 ) sehr viel mit der Frage der Immunität der
verschiedenen Thierspecies, insbesondere auch niederer Thiere gegen Gifte be¬
schäftigt. Er glaubt durch seine Experimente an Kaninchen mit Blättern von
Belladonna, Hyoscyamus niger und albus, Datura Stramonium und Datula nach¬
gewiesen zu haben, dass die bekannte Immunität der Kaninchen, Meerschwein¬
chen, Ratten und Beutelthiere bedingt sei durch theilweise Zerstörung der gifti¬
gen Alcaloide jener Pflanzen innerhalb des Blutstromes.
Auch E. Yung 7 ) liefert interessante Beiträge zu dieser Frage, indem er
insbesondere die Wirkung von Curare, Strychnin, Nikotin, Veratrin und Muscarin
auf Cephalopoden prüft.
Ob übrigens unter allen Verhältnissen Fleischfresser von vegetabilischen
Giften mehr ergriffen werden als Pflanzenfresser und ob insbesondere der Satz
Heckel’s allgemeine Bedeutung hat, dass die Empfindlichkeit des Wirbelthieres
für das Gift um so grösser ist, je höher entwickelt die Gattung des Thieres ist,
muss, wie Schauenstein 8 ) mit Recht hervorhebt, erst noch durch weitere Ver¬
suche festgestellt werden. Nichtsdestoweniger aber haben wir hinreichend genaue
Keuntniss darüber, dass das sonst für physiologische Versuche so vielfach ver¬
wendete Kaninchen ein sehr unzuverlässiges nnd daher bei forensischen Unter¬
suchungen auf Atropin nicht zu verwendendes Versuchsthier sei.
Es hat sich durch einfache vergleichende Versuche herausgestellt,
dass unter den Wirbelthieren das Auge der Katzen sehr empfindlich
') Orfila, „Toxicol. generale “ Paris 1814. T. II
*) E. L. Schubarth in Horn’s Archiv für Med. Erf. 1S23. Nov S. 399
und 1824. Jan. S. 53.
*) Marx, „Geschichte der Giftlebre.“ H. Göttingen, 1829. S. 6.
4 ) Bredin, „Proc^s verbal de la seance publ. tenue ä l’ecolc veterinaire
de Lyon.“ 1809.
•) Ztschr. d. Ges. d. Aerzte in W T ien 1852. 3. Heft.
*) „Ueber die Einwirkung versch. gift. Solaneen und namentlich der Bella¬
donna auf Nagethiere und Marsupialien.“ Compt. rendu I. 80. S. 1608 und Bull,
de l’Academ. de m6d. 1879. S. 378.
7 ) Comptes rendus, 1880. 91. I. S. 306—308.
8 ) Schauenstein a. a. 0. S. 637.
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Beobachtungen and Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 89
reagiere und dass aber vor Allem der Mensch ein auf Atro¬
pin sehr intensiv reagirendes, höchst empfindliches Auge
besitze.
Es empfiehlt sich daher, bei gerichtlichen Untersuchungen den
physiologischen Endversuch stets am gesunden Menschenauge vorzu¬
nehmen und es ist bei einer sorgfältigen Reinigung, und wenn man
namentlich zum Schlüsse aus Alkohol das schwefelsaure Atropinsalz
auskrystallisiren liess, auch nicht das geringste Bedenken vor¬
handen, dass selbst das aus Leichentheilen, Blut oder fau¬
lenden organischen Substanzen abgeschiedene Alkaloid am
Menschenauge versucht werde.
Von den chemischen Reactionen ist nur eine einzige zur Erken¬
nung des Atropins verwendbar, nämlich die von Gulielmo angege¬
bene, welche in der Entwicklung eines eigenthümlichcn Geruches beim
Erwärmen mit concentrirten Säuren besteht. Die Reaction ist ausser¬
ordentlich empfindlich, jedoch insofern unsicher, als sie auf einer ganz
subjectiven Wahrnehmung beruht, welche, wie sich mir oftmals erge¬
ben hat, von verschiedenen Individuen in sehr verschiedener Weise
wahrgenommen wird.
Die Einen bezeichnen den hierbei entstehenden, mir subjectiv sehr
angenehmen Geruch, der mich stets an Honig erinnerte, als Schlehen-
blüthenduft, Andere als Jasminduft, wieder Andere als einen nicht
näher zu bezeichnenden Gestank, noch Andere endlich nahmen bei
Reactionen, wo drei der Anwesenden deutlich einen Geruch constatirten,
überhaupt gar keine Geruchsempfindung wahr. Aus dieser Thatsache
allein ergiebt sich schon die Unsicherheit der Reaction für den foren¬
sischen Nachweis.
Ich habe daher bei meinen Untersuchungen, wo ja stets nur mini¬
male Mengen vorhanden waren, mit dem in wenig Tropfen Wasser ge¬
lösten Atropinsalz derartig operirt, dass ich zuerst die physiologische
Reaction durch Einträufelung in ein gesundes menschliches Auge,
hierauf mit dem Reste die eben geschilderte chemische Reaction aus¬
führte. Nur als Vorversuch wurde in der Regel ein Tropfen verwen¬
det, um zu constatiren, ob denn überhaupt wahrscheinlicher Weise ein
Alkaloid vorhanden sei oder nicht. Dazu diente mir die für alle Al¬
kaloide sehr empfindliche Reaction mit Phosphor-Molybdänsäure. Der
hier geschilderte Vorgang ist bei allen späteren Untersuchungen ein¬
gehalten worden und glaube ich mit Recht, denselben auf Grund viel-
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90
Dr. J. Kratter,
facher eigener Erfahrung für den gerichtlich chemischen Nachweis des
Atropins empfehlen zu können.
Chemische Untersuchung des 6. Falles.
Durch Dr. Schneller, Assistenten am pathologischen Institute in Qraz,
waren mir Mageninhalt, Blut, Leber- und Milzstücke und der der Leiche ent¬
nommene Harn zur Untersuchung übergeben worden.
Die Untersuchungsmethoden waren genau die oben angegebenen; das Re¬
sultat jedoch ein vollkommen negatives. Ich erkläre mir dies daraus, dass
die Krankheit des Andreas Hebenstreit durch mehrere Tage andauerte, so dass
erst 3 Tage nach dem Genüsse der Belladonnabeeren der Tod eintrat. Ausserdem
war die Magenpumpe in Anwendung gezogen worden, so dass die Untersuchung
des Mageninhaltes schon von vorneherein als ganz aussichtslos bezeichnet werden
musste. Es scheint mir das übrigens ein Beweis für die rasch erfol¬
gende Ausscheidung des Giftes bei nur einmaliger Einverleibung desselben
zu sein und es ist dies um so weniger auffällig, als ich ein gleiches Verhalten
auch für ein anderes Alcaloid nämlich für das Strychnin nachgewiesen habe.
Ich habe gefunden, dass bei einer einmaligen Injection einer
allerdings sehr kleinen, als medicinale Gabe zulässig erscheinenden
Menge von Strychninum nitricura schon der nach 22 Stunden entleerte
Harn kein Strychnin mehr enthielt und dass selbst bei durch lange
Zeit täglich fortgesetzten Injectionen nach dem Aufhören derselben
die Abscheidung in längstens 48 Stunden beendet war. *)
Nach dieser Analogie hat der negative Befund im vorliegenden
Falle nicht nur nichts Befremdendes, sondern er dient geradezu als
ein Paradigma dafür, dass auch das Atropin aus dem Menschen rasch
ausgeschieden wird.
Nebenbei erwähne ich, dass, wie schon oben gesagt, in diesem
Falle der sichere Nachweis der stattgehabten Vergiftung durch Bella¬
donnabeeren erbracht wurde, durch die Untersuchung des Darminhaltes,
in welchem noch Bcerenreste, namentlich Samen vorgefunden wurden.
Untersuchung des 7. Falles.
Durch Herrn Professor Eppinger wurde mir und zwar gleich nach der
Obduclion zur Untersuchung übergeben 1) der Magen sammt Inhalt, 2) Blut,
weiches der Vena cava entnommen wurde, 3) der Harn, den wir mittelst Katheter
der Leiche vor Oeffnung der Harnblase entnahmen. Die Untersuchung wurde
in der oben angeführten Weise vorgenommen und zwar wurde der ganze Magen
und Mageninhalt zusammengenommen, da zu befürchten stand, dass bei einer
') Kratter, „Untersuchungen über die Abscheidung von Strychnin durch den
Harn* Wien, tnedic. Wocbenschr. 1882. No. 8, 9 u. 10; sowie „Ein Fall von
Strychnin Vergiftung.“ Oestcrr. Aerztl. Vereinszeitung, 1S80.
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Beobachtangen and Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 91
Theilang möglicher Weise wegen der vielleicht za geringen Menge des noch vor¬
handenen Giftes das Resultat in Frage gestellt werden könnte. Ich zerkleinerte
demnach den Magen, digerirte ihn durch 48 Stunden mit Alkohol, extrahirte
wiederholt mit Alkohol and behandelte die Schwefelsäure alkoholische Flüssigkeit
in der gewöhnlichen Weise weiter.
Blut und Harn wurden zur Extractdicke nach vorheriger Ansäuerung mit
verdünnter Schwefelsäuro eingeengt, mit Alkohol ausgezogen und in der ange¬
gebenen Weise weiter behandelt.
Als Abscheidungsmittel bediente ich mich in diesem Falle mit sehr gutem
Erfolge des Aethers. Nach sorgfältiger, wiederholter Reinigung suchte ich, wie
ich das immer zu thun pflege, das Schwefelsäure Salz in krystallinischem Zustande
auf einem Uhrschälchen zu erhalten. Es gelang dies in diesem Falle in ganz
besonders schöner Weise und hatte ich dadurch besonders die Gelegenheit, eine
eingehende mikroskopische Untersuchung des krystallinischen Rück¬
stand es vorzunehmen, welche zu sehr interessanten Ergebnissen geführt hat.
Betrachtete man den Rückstand in durch fallendem Lichte mit
schwacher Vergrösserung, so fand man unvollkommen entwickelte,
säulenförmige Krystallo und Krystallskelette, also Wachs¬
thumsformen neben viel kleineren sternförmig angeordneten Aggregaten
von sehr zarten Krystallnadeln, wovon sich noch als sehr vereinzelte
Vorkommnisse würfelähnliche Individuen einer tesseral krystallisirenden
Substanz als 3. Form abhoben.
Die säulenförmigen Krystallo und Krystallskelette zeich¬
neten sich durch ihre Neigung zum Verwittern aus, so dass die
Schärfe der Ecken und Kanten schon nach 24 Stunden abgenomracn
hatte und im Laufe einer bis anderthalb Wochen ziemlich allgemein
geschwunden war. Die Untersuchung im polarisirten Lichte führte
zu dem Resultat, dass wir es wahrscheinlich mit einer ira monoklini¬
schen, möglicherweise auch ira rhombischen System krystallisirenden
Substanz zu thun hatten.
Ganz anders war das optische Verhalten der sternförmigen
Aggregate von Krystallnadeln. Diese an sich viel kleiner, von
viel stärkerem Lichtbrechungsvermögen treten neben den eben ge¬
schilderten grösseren Krystallen wie kleine eingestreute helle Sterne
oder Büschel in die Erscheinung. Sie traten theils isolirt (Fig. 3),
theils mit den anderen Gebilden verwachsen aut. (Fig. 1, 2, 6, 7.)
Sie erinnern durch ihren ganzen Habitus und ihre ausserordentliche
Beständigkeit gegenüber der leichten Verwitterung der erstbeschriebenen
Krystalle an Krystallgruppen, die künstlich durch Verdunstenlassen
von einem Tropfen einer einprocentigen Atropinlösung auf dem Object-
träger erhalten worden sind, so dass sowohl bei der Beobachtung im
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Dr. J. Kratter,
durch fallenden, wie im auffallenden Lichte und im polarisirten Lichte
die Identität dieser beiden mit voller Sicherheit zu Tage trat. Dazu
kam noch die Gleichheit der Anordnung der Krystallnadeln in radiärer
Form zu Büscheln oder Sternchen.
Besonders in den Rückständen, die aus dem Magen und Harn
erhalten wurden, aber auch in den aus dem Blute erhaltenen, jedoch
hier nur spärlich fanden sich die meist ringsum geschlossenen Stern¬
chen, öfter auch nur als isolirte aus 2 oder 3 Nädelchen bestehende
Büschel und zwar meistentheils als Einschlüsse in den säulenförmigen
Krystallen vor.
Die dritte Form endlich, nämlich die würfelförmigen Gebilde
waren, wie schon hervorgehoben, spärlich vorhanden und zwar immer
nur in Verwachsungen mit den säulenförmigen Krystallen (Fig. 1) oder
auch mit den sternförmigen Krystallgruppen (Fig. 2).
Was nun die Deutung dieser mikroskopischen Befunde anbe¬
langt, so unterliegt es nach der vorgenommenen vergleichenden
krystallographischen Prüfung keinem Zweifel, dass die kleinen stern¬
förmigen Krystalle schwefelsaures Atropin waren, während
die grösseren säulenförmigen und die spärlich vorhandenen
Würfel als noch vorhandene Verunreinigungen anzusehen sind und
zwar erstere als schwefelsaures Ammon, letztere als Spur von Koch¬
salz. Sowohl die Anwesenheit des schwefelsauern Ammoniaks wie
einer Spur von Kochsalz ist nach den eingehaltenen Untersuchungs¬
methoden leicht erklärlich.
Wenn man nun diesen krystallisirten Rückstand mit absolutem
Alkohol behandelt und hierbei ganz raässig erwärmt, so lösen sich
die Krystallsterne und Büschel auf, während die anderen Krystalle
ungelöst zurückblieben. Aus dieser alkoholischen Lösung krystallisirte
das nun nahezu ganz reine schwefelsaure Atropin neuerdings in Form
schöner, sehr feiner, länger ausgezogener büschelförmig angeordnetcr
Krystallnadeln aus.
Die optischen Erscheinungen waren hierbei so auffällig gewesen,
dass wir das Mikroskop geradezu als Führer gebrauchten, um
uns zu informiren, ob überhaupt die Anwesenheit von Atropin in
einem Uhrschälchen wahrscheinlich sei oder nicht, und eben darin
liegt ein zweifelloser Werth der Methode für die forensische Unter¬
suchung.
Auf Grund dieser werthvollen, positiven Erfahrungen werde ich
in Zukunft bei jeder Untersuchung nicht nur auf Atropin, sondern
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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 93
auf alle Alkaloide die mikroskopische Untersuchung des Rück¬
standes, den man in allen Fällen womöglich in krystallinischer Form
zu erhalten suchen soll, was nach meinen Erfahrungen sehr leicht und
regelmässig geschieht, wenn man das ausgeschiedene Alkaloid wieder
in ein Salz überführt und die Salzlösung auf einem Uhrglase langsam
verdunsten lässt, vor der chemischen oder physiologischen
Schlussreaction vornehmen. Je genauer diese Untersuchung geführt
wird und je sorgfältiger man sich hierbei der so ausserordentlich em¬
pfindlichen, für die krystallographischen Bestimmungen unerlässlichen
Untersuchung im polarisirten Lichte bedient, desto werthvollere
Anhaltspunkte wird man dadurch schon von vornherein gewinnen.
Ich kann behaupten, es durch diese Methode dahin gebracht zu haben,
dass ich mit voller Bestimmtheit aus dem mikroskopischen Bilde,
nachdem ich einmal bei der zuerst durchgeführten Untersuchung des
Magens dasselbe genau kennen gelernt hatte, anzugeben vermochte,
dass auch auf dem Uhrglase, das den Rückstand vom Blute, wie in
jenem, das den Rückstand aus dem Harn enthielt, Atropin vorhanden
sei, was sich in einem jeden Falle und zwar durch die von Dr. Birn-
bacher, Docenten für Augenheilkunde, an meinem eigenen Auge aus¬
geführten Schlussversuche vollkommen bestätigte. Nach einer von
Dr. Birnbacher 2 Stunden nach der Einträufelung vorgenommenen
Messung der Pupillenweite ergab sich: linkes Auge 2 3 4 Mm., rechtes
5V 4 Mm. Die Pupillenerweiterung hielt in der Regel fast 24 Stunden
an, so dass sie an dem dem Versuchstage folgenden Vormittag fast
jedesmal noch deutlich zu erkennen war.
ln allerjüngster Zeit, nämlich in der zweiten Hälfte April dieses
Jahres hatte ich noch einen beim Menschen beobachteten, mit Gene¬
sung endigenden Vergiftungsfall zu untersuchen, den ich hier noch
kurz anreihe.
8. Fall. Zufällige Vergiftung durch mit zerschnittener Belladonna¬
wurzel verunreinigten Abführthee.
Im April d. J. übersandte mir der Herr Stadtphysikus Dr. von Plazer
einen Urin zur Untersuchung, der von einer Patientin stammte, die in einem
furibund delirenden Zustande ins städtische Spital gebracht worden war und bei
welcher die Aerzte Belladonna-Vergiftung diagnosticirt hatten. Es war ein Fall
von ökonomischer Vergiftung, indem bei einem vom Kräuterhändler bezogenen
Thee durch einen nicht aufgeklärten Zufall Stückchen von Belladonnawurzel bei¬
gemischt waren.
Die in der oben angeführten Weise vorgenommene Untersuchung ergab ein
positives Resultat. Der Harn enthielt ein pupillenerweiterndes Alka-
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Dr. J. Kratter,
loid. Ich hatte auch in diesem Falle aus dem Ergebnisse der mikroskopischen
Untersuchung mit Bestimmtheit die Anwesenheit von Atropin erkannt, indem auch
hier wieder die gleichen Krystalle, wie sie oben beschrieben wurden, beobachtet
worden sind.
Ich will noch das Eine hinzufügen, dass Atropin ein Alkaloid
ist, welches nicht nur unverändert durch den Harn wieder ausgeschie¬
den wird, gerade so wie Strychnin, Morphin und die meisten anderen
Alkaloide, sondern dass es auch analog wie diese der Zersetzung
lange Zeit widersteht, was in gerichtsärztlicher Beziehung namentlich
von Wichtigkeit ist.
Dragendorff l ) konnte aus einem künstlichen Speisebrei, nach¬
dem er 2'/ a Monate im warmen Zimmer gestanden und stark in Fäul-
niss übergegangen war, noch Atropin abscheiden.
In einem besonderen Versuche ist es mir gelungen, Atropin, das
ich in einer Eprouvette faulendem Harne und in einer andern fau¬
lendem Blute beigefügt hatto, nachdem die Fäulniss bei gewöhnlicher
Zimmertemperatur ungehindert vorgeschritten war, noch nach 6 und
8 Wochen nachzuweisen. Es kann daher mit hoher Wahrscheinlich¬
keit angenommen werden, dass bei einer auch bereits durch meh¬
rere Wochen, ja vielleicht selbst durch einige Monate be¬
grabenen Leiche der Nachweis einer geschehenen Vergiftung
durch Atropin oder ein anderes der resistenzfähigen Alka¬
loide noch erbracht werden könne.
Im üebrigen wird es Sache besonders auszuführender experimen¬
teller Untersuchungen sein, für jedes der wichtigeren Alkaloide die
Resistenzfähigkeit gegen Fäulniss in der Weise zu bestimmen, dass
man genau bekannte Mengen in faulenden und zwar in verschiedenen
fäulnissfähigen Medien durch verschieden lange Zeiträume verharren
lässt und dann untersucht, ob das Alkaloid noch vorhanden ist, oder
durch den Fäulnissprocess zerstört wurde.
Ich beabsichtige derartige experimentelle Untersuchungen, die
begreiflicher Weise einen grösseren Zeitraum in Anspruch nehmen
müssen, in Zukunft auszuführen.
Als Resultate dieser Untersuchungen und Versuche über den fo-
rensichen Nachweis des Atropins glaube ich folgende Sätze aufstellen
zu dürfen:
*) Dragendorff, „Die gcr.-chem. Ermittlung von Giften.“ St. Petersburg,
1876. S 195. §. 207.
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Beobachtungen und Untersuchungen über die Atropin-Vergiftung. 95
1) Der Nachweis einer stattgehabten Atropinvergiftung ist unter
Einhaltung erprobter Methoden durch Abscheidung des Alkaloids aus
Leichentheilen mit Sicherheit zu erbringen.
2) Der Harn ist für die forensische Untersuchung ein sehr wich¬
tiges Object, da das Atropin rasch resorbirt und in nicht zu langer
Zeit unverändert und wahrscheinlich vollständig durch denselben wie¬
der ausgeschieden wird; es kann im Harne auch bei nicht tödtlich
verlaufenden Vergiftungen sicher nachgewiesen werden.
3) Die mikroskopische, beziehungsweise krystalloskopische
Untersuchung des reinen, zur Krystallisation gebrachten Rück¬
standes im polarisirten Lichte ist zwar für sich allein keineswegs
beweisend, doch ist deren Vornahme umso mehr zu empfehlen, als
die charakteristischen Formen des schwefelsauren Salzes die Anwesen¬
heit von Atropin schon auf diesem Wege ziemlich sicher erkennen
lassen und namentlich noch vorhandene fremde Substanzen zweifellos
nachgewiesen werden können, was bestimmend für das weitere Ver¬
fahren ist.
4) Der volle Beweis kann weder durch die krystallographische
Bestimmung, noch durch die Gulielrao-Brunner’sche Geruchsreac-
tion, sondern nur durch ein positives Ergebniss des physiologischen
Experimentes erbracht werden. Es empfiehlt sich hierzu wegen seiner
hohen Empfindlichkeit vor Allem das gesunde Menschenauge, und
kann dasselbe bei exactem Reinigungsverfahren unbedenklich auch
dann verwendet werden, wenn das Atropin aus Leichentheilen oder
faulenden Substanzen abgeschieden wurde.
5) Das Atropin zeichnet sich durch eine grosse Widerstands¬
fähigkeit gegen die Fäulniss aus, und kann daher mit hoher
Wahrscheinlichkeit auch noch in Leichen aufgefunden werden, die be¬
reits einige Monate begraben waren.
6) Das Resultat der chemischen Untersuchung kann in Folge der
erwiesenen raschen Ausscheidung des Atropins durch den Harn dann
in Frage gestellt werden, wenn der Tod erst nach Tagen eingetreten
ist und behufs Entfernung des Giftes noch besondere therapeutische
Massnahmen ergriffen wurden (s. 6. Fall Hebenstreit).
(Tafel-Erklärung befindet sich am Schluss des Heftes.)
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6 .
Zm Erstickungstod« aif mechanische Weise.
Von
Dr. Anton Heidenhain,
Kreiswundarzt in Cöslin.
Es ist eine ziemliche bedeutende Zahl plötzlicher Todesfälle, die
— zuerst schwer erklärlich — bei der Obduction als durch Er¬
stickung verursacht erkannt wurden. Alle comatösen Zustände kön¬
nen disponirendes Moment zum Tode durch Erstickung werden; hier¬
her gehört der Tod durch Erstickung in der Chloroformnarcose.
Häufig sind vor Allem solche Todesfälle durch Erstickung ein¬
getreten — und als solche beschrieben — durch Eindringen fremder
Massen und besonders von Mageninhalt in den Kehlkopf und die
Luftröhren.')
Ganz besonders interessant sind die plötzlichen Todesfälle, welche
während des Badens eintreten und bei vorgenommener Obduction als
verursacht durch Erstickung erkannt wurden.
Während man früher gemeinhin annahra, dass jene plötzlichen
Todesfälle, wie sie beim Baden sonst gesunder Leute — besonders
kurze Zeit nach eingenommener reichlicher Mahlzeit — beobachtet wur¬
den, durch Gehirn- oder Herzschlag herbeigeführt seien, dürfte man
jetzt nach neueren Beobachtungen mit grosser Berechtigung als richtig
annehmen, dass — wenn auch nicht in allen, jedoch in den meisten
*) Vere George Webb, Fälle von Erstickung durch Eindringen von Speise¬
partikeln in die Luftwege. Brit. med. Journ. March 26. p. 467. 1880.
Axel Key, Tod durch Eindringen von Magencontentis in die Luftröhre.
Hygiea XXXTX . 11. Sv. Cäkaresällsk, foerh S. 248. Nov. 1877.
Geschwind, Tod durch Eindringen von Speiseresten in die Trachea beim
Erbrechen. Rec. de m6m. de möd. etc. milit. 3. S. XXXVHL p. 592. Sept.-Oct. 1882.
Dr. Josef Hehle, Tod durch Eindringen von Speisebrei in die Luftwege.
Wien. med. Presse XX. 5. p. 146. 1879.
Bremme (Soest), Zerreissung des Zwerchfells in Folge von gewaltiger Auf¬
treibung des Magens und Eindringen von Magencontentis in die Luftwege. Vieitel-
jahrsschr. f. ger. Med. N. F. XXIX. 1. p. 42. 1878.
Wynn Westcott, Plötzlicher Tod durch Erstickung in Folge von Ent¬
leerung des Inhalts einer käsig entarteten Bronchialdrüse in die Trachea. Brit.
med. Journ. March 12. p. 386. 1881.
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Zum Erstickungstode auf mechanische Weise.
97
jener Fälle der Druck des Wassers auf den gefüllten Magen des
unter den Wasserspiegel getauchten Menschen Erbrechen bewirke;
das Erbrochene kann unter dem Wasser nicht entfernt werden; es wird
in den Kehlkopf und die Luftröhren adspirirt und bewirkt so plötz¬
liche Erstickung. Zwei diese Frage deutlich illustrirende Fälle hat
Dr. 0. Naegeli, Bezirksarzt in Ermatingen beschrieben 1 ).
Dass auch ein hoher Grad von Trunkenheit den Tod durch Er¬
stickung in Folge von Eindringen erbrochener Massen in die Luftwege
wege herbeifuhren kann, beweisen folgende 2 Fälle:
Vor mehreren Jahren wurde ich nach dem Dorfe R. geholt; ich fand da¬
selbst die Leiche des Arbeitsmannes L. vor. Die Leute von R. hatten in der be¬
nachbarten Stadt P. Tabak an den Händler abgeliefert; bei dieser Gelegenheit
wird nach alter hergebrachter Weise dem Schnaps sehr stark zugesprochen. L.
war von den anderen Leuten in einem sehr betrunkenen Zustande auf einen der
leer nach Hause fahrenden Wagen gelegt; als man in R. anlangte, wurde L. todt
vom Wagen gehoben. Das Gesicht und die Kleider des Verstorbenen waren stark
mit erbrochenen Massen besudelt und waren solche Massen noch im Mund und
Nase bemerkbar.
Ein erst in jüngster Zeit hier passirter, ähnlicher Fall, welcher
auch die Strafkammer des hiesigen Königlichen Landgerichts beschäf¬
tigt hat, war folgender:
Mehrere junge Burschen von 18—20 Jahren hatten eines Sonntags Abends
in dem Stranddorfe Gr.-Mölln einen Bengel von ca. 16 Jahren mit Schnaps
fleissig regalirt; als der letztere bereits stark angetrunken war, nöthigten sie den¬
selben, ihm die Flasche in den Mund zwingend, zum weiteren Trinken. Der
Bengel nun völlig betrunken, wurde von den anderen Burschen an den Strand ge¬
schleppt und auf die Düne gelegt; nach etwa 1 Stunde holten sie denselben, um
ihn nach Hause zu bringen. Zwei Burschen fassten den bewusstlosen, aber leben¬
den Jungen unter die Arme und schleppten ihn — der Kopf hing ihm tief auf
die Brust — nach seiner Wohnung; als sie ihn dort niederlegten, war er todt.
Die Obduction ergab Folgendes:
A. Aeussere Besichtigung. 1) Die recognoscirte männliche Leiche
ist die eines Menschen von ca. 16 Jahren; sie ist von kräftigem Körperbau und
gutem Ernährungszustände und hat eine Länge von 150 Ctm. — 2) In den Ge¬
lenken ist überall vollständige Leichenstarre vorhanden. Die allgemeine Haut¬
farbe ist blass gelblich. Am Rücken, der inneren und hinteren Fläche beider
Arme, am Gesässe und der hinteren Fläche beider Beine zeigt sich zusammen¬
hängend eine kupferbraunrothe Verfärbung der Hautdecken, welche an verschie¬
denen Stellen eingeschnitten keinen Blutaustritt in das Unterhautbindegewebe
erkennen lässt. — 3) In den natürlichen Oeffnungen des Kopfes sind keine
') Schweiz. Corresp.-Blatt, X. 2. 1880.
ViertelJ*hn*chr. f. gor. Med. N. F. XLIV. I.
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Dr. A. Heidenhain,
fremden Gegenstände vorhanden. Die Zahnreihen sind vollständig; die blasse
Zunge mit ihrem vorderen Rande vor den nicht fest geschlossenen Kiefern.
Aus dem Munde fliesst eine farblose, wässrige Flüssigkeit, welche einen schwa¬
chen Alkoholgeruch erkennen lässt. An dem rechten Nasenflügel ist eine kleine
Hautabschärfung vorhanden. Die Ohrmuscheln sind braunroth verfärbt. — 4)
An dem kurzen, gut abgerundeten Halse, an der gut gewölbten Brust und an
dem mässig aufgetriebenen Leibe ist Nichts besonders zu bemerken. — 5) Dasselbe
gilt von der Rückenfläche. Der After steht offen. — 6) Aus dem knabenhaft
entwickelten männlichen Gliede ergiesst sich eine geringe Menge heller, wässe-
ger Flüssigkeit. Der gerunzelte Hodensack enthält beide Hoden. — 7) An den
Gliedern ist Nichts besonders (ausser sub 2. Bemerkten) zu bemerken.
B. Innere Besichtigung. 1. Eröffnung der Kopfhöhle. (Um den
event. wichtigen Befund in den Gefässen der Gehirnhäute und des Gehirns
durch etwaigen Abfluss von Blut nicht unersichtlich werden zu lassen, ist trotz
des Verdachtes der Todesursache durch Alkohol-Vergiftung hiermit angefangen
und von der Befolgung der vorgeschriebenen Reihenfolge der zu eröffnenden
einzelnen Körperhöhlen abgesehen.) 8) Die Kopfhaut wird durch einen quer von
einem Ohr zum anderen laufenden Schnitt gespalten und nach vorn und hinten
zurückgeschlagen. Die innere Fläche der weichen Kopfbedeckung zeigt sich blass
und nur aus dem hinteren Theile derselben wird eine nicht grosse Anzahl aus¬
tretender Blutstropfen sichtbar. — 9) Die Oberfläche des knöchernen Schädel¬
daches ist unversehrt und triit nur aus den neben der Pfeilnaht befindlichen
natürlichen kleinen Oeffnungen der Schädelbeine eine massige Menge dünnflüssi¬
gen dunkeln Blutes hervor. — 10) Die Gehirnschale hat eine Dicke von ca.
5 mm; durch den durchscheinenden Knochen sieht man stark gefüllte Gefässe
von blaurother Farbe. — 11) Bei der Abnahme der oberen Gehirnschale ergiesst
sich aus den durchgerissenen Gefässen eine ziemliche Menge dunklen, dünn¬
flüssigen Blutes. Die Gefässe der äusseren Oberfläche der harten Hirnhaut sind
prall gefüllt; die innere Oberfläche der letzteren ist glatt, perlmutterartig glän¬
zend und etwas bläulich erscheinend. — 13) Die vorliegenden Abschnitte der
weichen Hirnhaut zeigen sich durchsichtig und lassen eine starke Gefässentwicke-
lung, namentlich in den hinteren Theilen und längs der grossen Hirnspalte eine
sulzige Trübung wahrnehmen. Die weiche Hirnhaut ist überall leicht abziehbar.
— 14) Nach der kunstgerechten Herausnahme des Gehirns erweisen sich sowohl
der quere wie die übrigen Blutleiter stark gefüllt mit dunklem flüssigen Blut.
Die harte und weiche Hirnhaut am Schädelgrunde zeigen bis auf eine starke
Füllung ihrer Gefässe Nichts auffallendes; auch die grösseren Arterien sind
gründlich stark gefüllt. — 15) Ein besonderer Geruch war weder bei der Er¬
öffnung des Schädels noch bei der Herausnahme des Gehirns bemerkbar. —
16) Das Gehirn von elliptischer Form ist 17 Ctm. lang und 14 Ctm breit. —
17) Die Rindensubstanz ist ziemlich dunkelfarbig, die Marksubstanz weiss und
lässt bei Einschnitten zahlreiche Blutpunkte hervortreten. Die Gehirnsubstanz ist
fest und sämmtliche Höhlen sind leer. — 18) Das Gewebe der grossen Ganglien,
Seh- und Streifenhügel, ist derb und lässt auf Querschnitten zahlreiche Blut¬
punkte erkennen. Die obere Gefässspalte ist von dunkelrother Farbe, durch¬
sichtigem Gewebe und starker Füllung ihrer Gefässe. — 19) Das Gewebe der
Yierhügel, des Kleinhirns, des Gehirnknotens und des verlängerten Markes ist
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Zum Erstickungstod« auf mechanische Weise.
99
auf Durchschnitten massig durchtränkt und lässt keinen sehr starken Blutgehalt
erkennen. — 20) Desgleichen zeigen die Gefässe der Adergeflechte eine im
Ganzen nur massigen Blutgehalt. — 21) Am Schädelgrunde und an den
Seitentheilen des Schädels erweisen sich die Knochen unversehert. Aus der
Rückenmarkshöhle fliesst eine ziemliche Menge dunkelkirschrothen, flüssigen
Blutes.
II. Eröfung der Brust-und Bauchhöhle. 22) Nach Ausführung
eines langen vom Knie bis zur Schambeinfuge links vom Nabel geführten
Schnittes quellen die Därme aus der eröffneten Bauchhöhle hervor, grösstentheils
bedeckt von dem nur mässig fettreichen und durchscheinenden blassen Netze.
Ein specifischer Geruch ist nicht wahrnehmbar; auch findet sich kein ungehöriger
Inhalt frei in der Bauchhöhle. Die Lage der vorliegenden Eingeweinde ist nor¬
mal; ihre Farbe hell-aschgrau. — 25) Das Zwerchfell steht beiderseits am obe¬
ren Rande der fünften Rippe.
a) Brusthöhle, 24) Nachdem das Brustbein vorschriftsmässig entfernt
ist, sieht man die bis zum mittleren Drittel des Herzbeutels herabreichende
Thymusdrüse. Die ausserhalb des Herzbeutels fühlbaren grossen Gefässe sind
prall gefüllt. Die vorliegenden Lungen weichen in Folge nur mässiger Ausdeh¬
nung etwas von der Brustwand zurück; die linke Lunge ist mehr zurückgezogen
als die rechte und erreicht kaum den Rand des Herzbeutels. Die Grundfarbe der
Lungen ist brannroth; es ragen jedoch eine Anzahl grössere oder kleinere Inseln
hieraus hervor von weiss-bläulich inarinorirtem Aussehen. — 25) In den Brust¬
fellsäcken ist kein ungehöriger Inhalt vorhanden. — 26) In dem blassblauen
Herzbeutel befindet sich etwa 1 Esslöffel von gelblich weisser klarer Flüssigkeit.
— 27) Das Herz ist grösser als die Faust der vorliegenden Leiche und ist ziem¬
lich schlaff anzufühlen. Die Kranzgefässe sind nur mässig stark gefüllt. Kleine
hochrothe Flecke (Ecchymosen) sind nirgends zu entdecken. — 28) Die Farbe
des Herzmuskels ist braunroth; die Consistenz desselben ist namentlich im lin¬
ken Ventrikel derb: die Füllung in allen Abschnitten gering. — 29) Der rechte
Vorhof und die rechte Herzkammer enthalten je einen Theelöffel dünnflüssi¬
gen, dunkelkirschkirscbrothen Blutes, während der linke Vorhof und die linke
Kammer fast leer sind. Ir. die Oeffnung der Atrioventricular-Klappen kann man
2 Finger einführen. — 30) An dem herausgeschnittenen Herzen erweisen sich
die arteriellen Mündungen bei Eingiessen von Wasser schlussfähig; an ihren zar¬
ten und durchscheinenden Klappen zeigen sich weder Auflagerungen noch Sub¬
stanzverluste. — 31) Das Herzfleisch, Balken u. s. w. sind von braunrother
Farbe. Die Klappen der venösen Mündungen sind zart und normal. — 31) An
der Innenfläche der grossen Gefässe zeigen sich keine abnormen Zustände. —
32) Vor der Herausnahme der Lungen wird der Kehlkopf und die Luftröhre er¬
öffnet und findet sich in deren Innerem fast ein Esslöffel voll an Kartoffelstücken
und trüb weisslicher Flüssigkeit bestehenden Breis, welcher einen deutlichen
Alkoholgeruch hat Eine ähnliche nur weniger grössere feste Theile enthaltende
dickflüssige Substanz steigt bei Druck auf die Lungen aus den Bronchien in die
Luftröhre hinauf. — 33) Die Schleimhaut des Kehlkopfes und der Luftröhre ist
hellroth. — 34) In dem Schlunde, dessen Schleimhaut blass gefärbt ist, finden
sich einzelne Kartoffelstücke und wenig breiige Substanz von oben beschriebener
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Dr. A. Heidenhain,
Beschaffenheit. — 35) Nunmehr werden die Lungen aus der Brusthöhle her¬
ausgenommen, wobei sich die linke Lunge an der entsprechenden Rippenwand
durch leicht zerreissbare Strange in ihrer ganzen Ausdehnung angewachsen
zeigt. Die vorderen Oberflächen der Lungen zeigen sich zum grössten Theil —
wie schon sub 24 gesagt wurde — von bläulich braunrother Grundfarbe und
nur die über das Niveau dieser Flächen hervorragenden grösseren oder kleineren
inselartigen Erhebungen zeigen ein marmorirtes Ansehen von weiss-bläulichem
Ansehen; diese Stellen fühlen sich knisternd an, während jener grösste Theil
der Lungen, welcher eingesunken ist, sich derb und nicht knisternd anfühlt.
Noch weniger solche sich knisternd anfühlenden Stellen zeigen die anderen Ab¬
schnitte der Lungen. Aus den Schnittflächen der eingesunkenen Lungentheile,
quillt nur dunkles, dünnflüssiges Blut heraus und zwar in bedeutender Menge,
während aus der Schnittfläche der marmorirten und knisternden Theile ein schau¬
miges, helleres Blut austritt. — 36) Sowohl in den meisten grösseren wie klei¬
neren Bronchien finden sich Mengen des mehrfach beschriebenen Speisebreies.
Die Schleimhaut dieser Bronchien ist von hellrother Farbe. Die grösseren Lun-
gengefässe sind frei von Gerinnsel. — 37) Die venösen Gefässe am Halse sind
stark gefüllt. — 38) Die Speiseröhre enthält eine geringe Menge kleiner Kar¬
toffelstücke; ihre Schleimhaut ist blass und bläulich roth.
b) Bauchhöhle. 39) Das Netz ist von der sub 22 beschriebenen Be¬
schaffenheit. — 40) Die Milz ist von blaurother Farbe und 10 Ctm lang, 6 Ctm.
breit und 2 1 / 2 Ctm, dick, von derbem Gefüge und massigem Blutgehalt. —
41) Die Nieren, deren Kapsel leicht abziehbar ist, sind 10 Ctm. lang, 6 Ctm. breit
und 3V 2 Ctm. dick; die Farbe ist dunkel rothbraun; der Blutgehalt ist mässig
stark. Die Pyramiden von blassblauer Farbe, zeigen keine Trübungen. — 42) Die
Blase enthält etwa 200 Grm. hellen, klaren Urins. Die Farbe der Schleim¬
haut derselben ist blass. — 43) An den Geschlechtstheilen ist Nichts abnormes
zu bemerken. — 44) Der Mastdarm enthält eine massige Menge Koth; seine
Schleimhaut ist blass; die Drüsen sind nicht geschwellt. — 45) Der Zwölffinger¬
darm enthält eine massige Menge des oben beschriebenen Speisebreies. —
46) Der Magen stark ausgedehnt, ist an seiner äusseren Fläche von hellröthlicher
Farbe. Der Inhalt besteht aus Kartoffelstöcken, welche in grösseren oder kleine¬
ren Stücken in einem trüben , ziemlich dickflüssigen. weisslichen Brei vertheilt
sind; er beträgt ca. */ 4 Liter und hat einen süsslichen, etwas an Alkohol er¬
innernden Geruch. Die Schleimhaut ist im Grunde des Magens dunkel bräunlicli-
roth und von zahlreichen aschgrauen Streifen durchzogen. Der übrige Theil der
Schleimhaut ist hellroth und zeigt ebenso wenig, wie die des Grundes, irgend
welche Substanzverluste oder Schwellung. — 47) Der Gallengang ist für die
Sonde leicht durchgängig. — 48) Die Leber von dunkel-braunrother Farbe ist
22 Ctm. lang, 15 Ctm. hoch und im rechten Lappen 6\ 2 Ctm. dick. Das Ge¬
webe ist derb und blutroich, die Zeichnung der Läppchen deutlich. — 49) Die
Bauchspeicheldrüse ist von hellröthlicher Farbe und derbem Gefüge. — 50) Am
Gekröse sind die Drüsen von der Grösse einer kleinen bis grossen Bohne. —
51) Der Dünndarm enthält nur mässig viel breiigen Koth von gelblich grauer
Farbe; seine Schleimhaut ist hellroth. — 52) Der Dickdarm hat mehr Inhalt
von gelblich brauner Farbe; seine Schleimhaut ist blass und nicht geschwellt. —
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Zum Erstickungstod® auf mechanische Weise.
101
53) Die Bauch-Aorta enthält eine massige Menge dunkelrothen, dünnflüssigen
Blutes; ihre Innenhaut zeigt keine Auflagerungen; die aufsteigende Hohlader
ist von dunkelrothem, flüssigem Blut nur massig gefüllt.
Hierauf erklärten die Sachverständigen die Obduction für ge¬
schlossen und gaben ihr vorläufiges Gutachten dahin ab:
1) dass der Tod im vorliegenden Falle durch Erstickung in
Folge Eintritts von erbrochenen Massen in den Kehlkopf und
die Luftröhren verursacht ist;
2) dass dieser Vorgang durch die in Folge des übermässigen
Alkoholgenusses verursachte hochgradigste Trunkenheit ver¬
ursacht ist.
7.
Auffallend verschiedene Verwesungserscheinnngen bei zwei Lei¬
chen von Personen, die unter vollkommen gleichen Verhältnissen
und zu derselben Zeit gestorben waren.
Mittheilung des
Kreis-Physikus Dr. Meyer in Heilsberg.
In der Nacht vom 29. zum 30. Januar war im Dorfe S. ein altes
Ehepaar, welches allein in einem Stübchen wohnte, gestorben. Aus
der Nachbarstube hatten die Einwohner gesehen, dass der Mann am
Abend des 29. Januar den Ofen mit Torf heizte, später die Klappe
des Ofens schloss und sich zu seiner Frau wie gewöhnlich in das Bett
legte. Morgens fand man beide todt.
Der Mann war 72, die Frau 65 Jahre alt; beide von kleiner
Statur, schwächlich gebaut, beide gleich mager und schlecht genährt.
Er ein Potator, sie eine langjährig Lungenkranke.
Am Nachmittag des 31. Januar wurde vom Amtsgericht H. unter
meiner Zuziehung Leichenschau gehalten. Beide Leichen lagen, wie
sie am Morgen des 30. Januar gefunden waren, in einem Bett, beide
bedeckt mit ein und demselben mässig starken Federbett; beide nur
mit einem Hemde bekleidet. Das kleine Zimmer war kalt. Die hell-
rothen Todtenflecken liessen vermuthen, dass eine Vergiftung durch
Kohlenoxyd stattgefunden hatte. Der Leichenbefund bei der gericht¬
lichen Obduction am 7. Februar (hellrothe Todtenflecken, hellrothe
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102
Dr. Meyer.
Farbe des Blutes und dementsprechende Farbe der Musculatur und
einiger inneren Organe) und die bei der Section sofort ausgeführte
Natronprobe bestätigten den Verdacht der Kohlenoxyd-Vergiftung, der
zur Gewissheit wurde durch die später angestellte spektroskopische
Untersuchung des Blutes beider Leichen.
Es ist wol mit Bestimmtheit anzunehmen, dass die beiden alten,
gleich schlecht genährten Personen annähernd gleichzeitig gestorben
sein werden. Die Leichen waren darauf unter vollständig gleichen
Verhältnissen liegen geblieben, und doch zeigten sich bei der Leichen¬
schau, also etwa 36 Stunden nach dem Tode, die grössten Verschieden¬
heiten in den Verwesungserscheinungen.
Die Leiche der Frau war noch vollkommen frisch, mässige Todten-
starre in den Gliedmassen, vorn ganz blasse Farbe, die Bauchdecken
leicht grünlich gefärbt. Die Hornhäute wenig getrübt. Beide Arme
und Beine und die hintere Fläche des Rumpfes mit hellrothen, unregel¬
mässig geformten Todtenflecken bedeckt. Fäulnissgeruch gar nicht
wahrnehmbar.
Die Leiche des Mannes hatte durch eine ungemein starke Ent¬
wicklung von Fäulnissgasen unter den Hautbedeckungen das Ansehen
eines colossal kräftig gebauten Mannes angenommen, nur an den Un¬
terschenkeln und Vorderarmen war das Hauteraphysera wenig ent¬
wickelt. Das Gesicht war so aufgetrieben, dass die Gesichtszüge voll¬
ständig entstellt waren. Der Penis hatte die Dicke eines Kinderarms,
stand steil in die Höhe und war fragezeichenartig gekrümmt; das
Scrotum hatte die Grösse eines Kindskopfes. Die Haut am Kopf und
Rumpf, den Oberschenkeln und Oberarmen war durch Fäulniss-Em¬
physem so stark ausgedehnt, dass ein tympanitischer Ton beim An-
klopfcn entstand; bei Druck auf die Haut das bekannte Knistern. Die
Hautfarbe am Kopf war eine dunkel grünlich-rothe, am Rumpf, den
Oberschenkeln und Oberarmen eine gesättigt froschgrüne, durchsetzt
mit schmutzig braunrothen Flecken und den bekannten verästelten
Streifen, die durch Transsudation des Blutfarbestoffes aus den Haut¬
venen entstehen. Die Epidermis war an der Vorderfläche des Rumpfes
in Blasen bis zu der Grösse eines Markstückes erhoben, die theils ein
schwärzlich-rothes, theils ein hellgelbes Serum enthielten; an der
Hinterfläche war die Epidermis bereits in grossen Fetzen abgestreift.
Der After stand weit offen. Die Hornhäute waren vollkommen trübe
und eingefallen. Keine Todtenstarrc. Der Verwesungsgeruch sehr stark
und widerlich.
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Auffallend verschiedene Verwesungserscheinungen.
103
Genau acht Tage später hatten sich die Verwesungserscheinungen
bei beiden Leichen, die bereits beerdigt gewesen waren, wenig geän¬
dert, nur waren bei dem Manne die Epidermisblasen an der Vorder¬
fläche des Rumpfes geplatzt, der Leib stärker aufgetrieben, die grüne
Farbe dunkler und in’s schmutzig-braune spielend. Bei der weiblichen
Leiche waren nur die Bauchdecken etwas mehr aufgetrieben und ge¬
sättigter grün gefärbt als vor acht Tagen. Die inneren Organe zeig¬
ten bei der Section am 7. Februar in Betreff der Verwesungserschei¬
nungen bei beiden Leichen nur höchst unbedeutende Verschiedenheiten
und boten Bemerkenswerthes nicht dar. Die Gase des Fäulniss-Era-
physems bei der männlichen Leiche traten bei vielfachen Einstichen
in die Haut des Kopfes, des Rumpfes und der Geschlechtstheile mit
zischendem Ton hervor und brannten angezündet längere Zeit mit
bläulich-weissem Lichte.
Wenn man das Aussehen der von mir beschriebenen beiden Lei¬
chen in Vergleich zieht mit den Angaben über die Zeitfolge der Ver¬
wesungserscheinungen in dem Handbuch der gerichtlichen Medicin von
Lim an (Seite 35 u. folg.), so würde bei der Leichenschau am 31. Ja¬
nuar die Erklärung ihre Berechtigung gehabt haben, dass die weibliche
Leiche einer Person angehörte, die vor 24—36 Stunden, die männliche
einer solchen, die vor 14—20 Tagen gestorben war. Ich hielt diese
Fälle deshalb für werth der Bekanntmachung, weil dieselben lehren,
wie vorsichtig man in solchen Fällen zu urtheilen hat, wenn man
allein aus den Verwesungserscheinungen auf die Zeit des eingetretenen
Todes zu schliessen amtlich aufgefordert wird. Hier handelte es sich
um die Leichen von zwei fast gleich alten, körperlich annähernd gleich
constituirten Menschen, die unter vollständig gleichen Verhältnissen,
durch dieselbe Todesursache und gewiss ziemlich zu derselben Zeit
gestorben waren, deren Leichen dann ebenfalls unter vollständig glei¬
chen Verhältnissen geblieben waren, und wie verschieden zeigten sich
die durch die Verwesung hervorgebrachten Leichenerscheinungen! Ge¬
wiss eine Parallele, wie selten so eine zur Beobachtung kommt und
welche in sehr belehrender Weise zur Vorsicht bei der Abgabe von
Gutachten über die Zeit des Todes von Personen auffordert, wenn nur
allein die Verwesungserscheinungen als Richtschnur geboten sind.
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8 .
Beisehlafsföhig, nicht zeugungsfähig,
Mitgetheilt vom
Kreis-Physikus Dr. Bremme zu Soest.
Kurz nacheinander sind zu meiner Beurtheilung zwei Fälle streitiger
Zeugungsfähigkeit gekommen.
Beide betrafen verheirathete Männer, von denen der eine lange in
einer ziemlich kinderreichen, der andere aber seit Jahren in kinderloser
Ehe lebte.
Der erste rief meine Hülfe an gegen seine Ehefrau, die ihm
hartnäckig ihre Schwangerschaft leugnete, damit ich deren Bestand
ausspräche.
Der zweite wurde von einer Wittwe auf Alimentation und Anerken¬
nung der Vaterschaft verklagt, gegen welche er Einspruch erhob.
Der erste hatte vor Jahren gegen seine Erwartung und Berech¬
nung zu bald nach der Hochzeit seine Ehefrau mit dem ersten Kinde
niederkommen sehen, aber „aus Scham“ geschwiegen; als jedoch die
Schwangerschaften sich öfters wiederholten, gab er die falsche Scham
auf und stellte sich den ärztlichen Gutachtern.
Der andere stand in dem Rufe eines dem weiblichen Geschlechte
besonders gefährlichen Mannes, der schon oft sich kleine Angriffe auf
die weibliche Keuschheit sollte haben zu Schulden kommen lassen.
Auffallend war daher das Gerücht, dass er ausserehelich Vater ge¬
worden, keineswegs.
Nachdem die Beweisführung, dass die geschwängerte Wittwe auch
mit andern Männern innerhalb der Schwängerungsfrist vertrauten Um¬
gang gepflogen, wie es scheint, misslungen war, eröffncte der Ange¬
klagte dem gerichtlichen Sachverständigen sein Geheimniss. —
Bevor nun der Sachverständige die Ergebnisse seiner Untersuchung
dem Papier an vertraut, geschieht es gewöhnlich, dass er sich Rath
holt bei denen, die vor ihm in gleicher oder ähnlicher Lage gewesen
sind. Casper-Liman’s Casuistik wurde durchgeforscht. Und weil
gerade diese so mager selbst an ähnlichen Fällen von mir betroffen
wurde, nahm ich mir vor, die beiden Beobachtungen nicht in den
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Beischlafsfähig, nicht zeugungsfähig.
105
Gerichtsacten allein besprochen ruhen zu lassen, sondern sie auch den
übrigen Sachverständigen zur Kenntniss zu bringen. —
Die beiden Persönlichkeiten, über die hier berichtet wird, zeigten
in ihrem Aussehen die grössten Verschiedenheiten.
Derjenige, dessen Ehe mit Kindern versehen war, hatte einen schwächlichen
Körper von etwas über 1,25 M. Länge, eine schlaffe, spärlich entwickelte Mus¬
kulatur und fast vollständigen Mangel an Fettpolster.
Obwohl weder der Kopf, noch der Bauch, noch irgend ein anderer Körper-
theil sich durch besondere Massigkeit auszeichnete, vielmehr sämmtliche Gebilde
nur der schwächlichen Körperanlage entsprachen, konnte doch aus der schlaffen
Beschaffenheit der Haut, aus den zahlreichen, runzelartigen Fallen des Gesichts
und der gelbbräunlichen Farbe desselben, aus der dünnen knabenhaften Stimme
des 40jährigen Mannes auf eine gewisse Aehnlichkeit mit einem Halbcretin ge¬
schlossen und vermuthet werden, dass die Untersuchung der Geschlechtsorgane
diesen Schluss bekräftigen würde. —
Der andere Mann, dessen Ehe kinderlos geblieben, gewährte den Anblick
eines gesunden Menschen. Das Alter desselben betrug 52 Jahre. Seine Grösse
wurde auf etwa 165 Ctm. geschätzt. Der Knochenbau war kräftig, die Musku¬
latur gut entwickelt, das Fettpolster gleichmiissig reichlich. Die Form der ein¬
zelnen Theile des Körpers konnte eine vollständig ebenmässige genannt werden.
Die Stimme war stark und von gewöhnlicher Tiefe, die Haut glatt überall und
im Gesicht blassroth gefärbt. Haarwuchs ziemlich.
Aus diesem Aeussern konnte also nicht im Entferntesten ein
Schluss auf diejenige Beschaffenheit der Geschlechtsorgane gezogen
werden, welche durch die Untersuchung festgestellt wurde.
Die Besichtigung nun der Geschlechtsorgane des Halbcretinen ergab voll¬
ständigen Mangel der Behaarung in der Schamgegend, ein etwa 2 Ctm. langes
Glied, das die kindliche Form darbot. Der Hodensack war schlaff und in dem¬
selben lag ein Hoden (der rechte), welcher die Grösse einer weissen Bohne hatte
und bei Druck unempfindlich war. Der Nebenhoden war nicht durchzufühlen,
und die häutige Umgebung des Hodens lag diesem fest an. Der linke Hoden war
nicht aus dem Bauche hervorgetreten.
Das Gutachten lautete: P. hat eine angeborene Hodenatrophie
und muss demnach sowohl für beischlafs- als zeugungsunfähig erklärt
werden.
Die Untersuchung des zweiten Mannes, der in kinderloser Ehe lebte, bot
folgenden Befund dar:
Das männliche Glied ist normal gestaltet und gut entwickelt. Die Eichel
liegt frei da und ist an der Spitze durchbohrt. Die Unterbauchgegend ist behaart.
Eine Neigung des Gliedes zum Steifwerden findet bei der Untersuchung nicht statt.
Beide Hoden liegen im kleinen schlaffen Hodensack; der rechte erscheint
von der Grösse einer Erbse, neben ihm wird der Nebenhoden als linsengrosser
Anhang herausgefühlt. Umgeben sind diese harten Gebilde von deutlich zu unter-
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106
Dr. B r e m tn e.
scheidenden häutigen Theilen und den Gefässen nnd dem Samenleiter, von denen
die letzteren als dünne Stränge einzeln festgestellt werden können. Der linke
hat die Grösse eines Hodens, der beim Neugeborenen in den Hodensack herab¬
getreten ist, also den Umfang einer kleinen weissen Bohne. Im Uebrigen ist
dieselbe häutige Umgebung und strangförmige Gewebsbildung wie beim rechten
vorhanden.
Wenn beide Hoden fest gedrückt werden, verzieht der Untersuchte keine
Miene und meint, er empfinde keinen Schmerz.
Befragt, ob die Hoden seit der Jugendzeit die aufgefundene Grösse
und Beschaffenheit gezeigt hätten, antwortete der Untersuchte:
Als 24jähriger junger Mann habe er im Jahre 1856 in der Krupp’schen
Fabrik zu Essen gearbeitet und eines Tages einen Unfall in der Weise erlitten,
dass er auf ein Maschinenstück von Eisen aus einer beträchtlichen Höhe mit dem
Hodensack aufgefallen sei. Er sei sofort ohnmächtig geworden und habe 3 Wochen
lang an einer Hodenentzündung erkrankt darniedergelegen. Seit jener Zeit seien
seine Hoden so klein geworden, wie sie jetzt sich zeigten. Er habe wol nach
jener Zeit Erregungen verspürt und Versuche zur Ausübung des Beischlafs ge¬
macht, sei aber damit nicht zu Stande gekommen, und einen Abgang von Samen
habe er nicht bemerkt, ln seinem 38. Lebensjahre habe er sich mit seiner
jetzigen, damals 20jährigen Ehefrau verheirathet. Die Ehe sei kinderlos ge¬
blieben. Während in früheren Jahren nach gewissen Zwischenräumen Anregungen
zu spüren gewesen seien, komme solches jetzt nur selten vor; jedoch habe er be¬
merkt, dass dei>Genuss geistiger Getränke von Einfluss sei. Nachdem seine Ehe
nach Verlauf mehrerer Jahre kinderlos geblieben, habe er der Neckereien seiner
Bekannten wegen sich von seinem damaligen Hausarzte untersuchen lassen. Der¬
selbe habe erklärt, er könne nicht auf Nachkommenschaft rechnen. —
Auf meine Frage, ob er denn einen Unterschied der Beschaffenheit seiner
Hoden vor und nach dem im Jahre 1856 erlittenen Unfälle gemerkt habe, gab
der Untersuchte im vergangenen Jahre an: die Hoden seien stets von derselben
Beschaffenheit gewesen als jetzt.
Später, als der Prozess entschieden war, erklärte er jedoch: er wisse genau,
dass seine Hoden vor dem Unfälle dicker gewesen seien, aber nach dem Unfälle
habe sich an denselben nichts geändert.
In meinem Gutachten musste ich auf die seltene Gelegenheit hin-
weisen, die mir, dem begutachtenden Arzte, bei diesem Palle zu Theil
geworden.
Nachdem ich bemerkt, dass Aehnliches selbst in der reichhaltigen
Casuistik des Casper-Liman’schen Werkes nicht mitgetheilt sei,
setzte ich den Unterschied zwischen Beischlafsfähigkeit und Zeugungs¬
fähigkeit auseinander und wies aus jenem Werke nach, dass bei
Menschen, denen beide Hoden genommen, noch ein gewisser Grad von
Beischlafsfähigkeit bleiben könne, wobei ich nicht verfehlte, jene be¬
kannten Mittheilungen von Cooper als Beweise anzuführen.
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Beischlafsfähig, nicht zeugungsfähig.
107
Ueber die Entstehung der Hodenentartung habe ich mich nicht
mit Sicherheit aussprechen können, nur glaubte ich entschieden an-
nehroen zu müssen, dass dieselbe nicht angeboren sein könne, weil
die Beschaffenheit des Gliedes und seiner Umgebung und die ganze
Körperbildung dagegen sprächen. Ob nun aber die Angabe des Unter¬
suchten, es stamme sein Uebel von jenem oben erwähnten Unfälle her,
als glaubwürdig angenommen werden dürfe, oder ob die Atrophie
Folge von Tripper und nachheriger Nebenhoden- und Hodenentzündung
gewesen sei, musste ich dahingestellt sein lassen.
Aber mit Bestimmtheit konnte ich das Endgutachten dahin bilden,
„dass der Untersuchte zwar noch beischlafsfähig, aber nicht mehr
zeugungsfähig sei, unter Hinzusetzung, dass letzteres auch während
der Schwängerungsfrist nicht mehr der Fall gewesen.“ —
Der Anwalt der Klägerin forderte das Gutachten eines zweiten
Arztes.
Dieser trat im Termine allen meinen Ausführungen bei, glaubte
aber, dass die Hodenatrophie angeboren sei.
Schon oben habe ich mich gegen diese Ansicht aussprechen
müssen und würde auch dann bei meiner Annahme geblieben sein,
wenn der Untersuchte bei seiner Aussage, er habe niemals andere
Hoden gehabt, beharrt und nachträglich mir nicht raitgetheilt hätte,
seine Hoden seien vor dem Unfälle dicker gewesen.
Denn abgesehen davon, dass man aus dem Vorhandensein der
häutigen weiten Umgebung der atrophirten Hoden wol auf einen
früher stärkeren Inhalt, also auf dickere Hoden schliessen darf, sind
doch eine männliche Körperbildung und ein gut entwickeltes Glied
mit angeborener Hodenatrophie schwer vereinbar, wol aber mit
erworbener.
Soest, den 3. Mai 1885.
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9.
Der ärztliche Sachverständige and der Ausschlags der freien
Willensbestinmung des §. 51 des Deutschen Strafgesetzbuches.
Ton
Prof. Dr. K. Mendel«
Sach einem Vortrage im Verein der deutschen Irren-Aerzte in Baden-Baden
am 17. September 1885.
„§. 51. Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der
Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von
Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand,
durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“
In der Sitzung der Berliner medicinischen Gesellschaft am 6. Fe¬
bruar 1884') hatte Herr Li man über zwei Gutachten berichtet, in
denen er als Sachverständiger sein Urtheil über den Geisteszustand
der Angeschuldigten abzugeben hatte.
Auf die Fälle selbst hier einzugehen, ist nicht meine Absicht,
dagegen hatte ich bereits in der an den Vortrag sich anschliessenden
Discussion gegen die Art der Beantwortung der Frage des Präsidenten
des Schwurgerichts: Ist die Z. jetzt geisteskrank? seitens des Herrn
Liman Widerspruch erhoben. Herr Liraan hatte nämlich ausgeführt,
„dass die Z. sich nicht in einer normalen Gemüthslage befände und
krankhaft erregt sei, dass sie aber gegenwärtig nicht als geisteskrank
im Sinne des Gesetzes zu erachten sei und dass nur von einer äusserst
geringen Beeinträchtigung, nicht aber von einem Ausschluss der freien
Willensbestimmung im Sinne des §. 51. des Str.-Ges. die Rede sein
könne“.
Ich hatte dagegen ausgeführt, dass die Aufgabe des Arztes bei
zweifelhafter Zurechnungsfähigkeit nur darin bestehen dürfe, zu unter¬
suchen, ob zur Zeit der Begehung der Handlung ein Zustand von Be¬
wusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit vorhan¬
den gewesen sei, dass dagegen die Entscheidung darüber, ob der event.
nachgewiesene Zustand von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung
v ) cf. Verhandlungen der Berl. med. Gesellschaft, Bd. XV. p. 123.
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Zum §.51 des Deutschen Strafgesetzbuches.
109
der Geistesthätigkeit der Art war, dass dadurch die freie Willensbe¬
stimmung ausgeschlossen war, lediglich Sache des Richters sei und
dass es umso mehr für die ärztlichen Sachverständigen geboten sei,
sich der Beantwortung der Frage nach dem Ausschluss der freien
Willensbestimmung zu enthalten, als die „freie Willensbestimmung“
kein wissenschaftlich psychiatrischer Begriff ist, mit der Entscheidung
darüber der Sachverständige also sein speciell wissenschaftliches Ge¬
biet verlässt.
Ich machte dabei darauf aufmerksam, dass die wissenschaftliche
Deputation des Preuss. Ministeriums für geistliche etc. Angelegenheiten
in gleichem Sinne verführe und bei den von ihr erforderten Gutachten
die Beantwortung der Frage nach dem Ausschluss der freien Willens¬
bestimmung als nicht zur Competenz des Arztes gehörend ablehnte,
wie noch ein neuerdings von Herrn Westphal als Referenten der
Deputation verfasstes und veröffentlichtes Gutachten zeige').
Im weiteren Verlaufe der Discussion schloss sich Herr Virchow,
der als Referent der wissenschaftlichen Deputation bei dem den be¬
treffenden Strafgesetzbuchparagraphen vorbereitenden Gutachten in sehr
erheblicher Weise betheiligt war 2 ), im Wesentlichen meinen Ausfüh¬
rungen an. Seitdem hat sich nun Herr Schäfer (Lengerich) be-
müssigt gefunden, gegen diese Auffassung in einem längeren Artikel
in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medicin 3 ) zu polemisiren und
daran ein Gutachten über einen Fall geknüpft, der beweisen soll,
dass es Aufgabe des Gerichtsarztes ist, „die freie Willensbestimmung
eines Kranken auch in den Bereich seiner Untersuchung zu ziehen,
und dass er in gewissen Fällen genöthigt ist, nicht den völligen Aus¬
schluss der freien Willensbestimmung, wie ihn der §. 51. voraussetzt,
sondern nur einen relativen Grad ihrer Beeinträchtigung zu erklären“.
Nun ist vorerst Herrn Schäfer bei seinen forensisch psychiatri¬
schen Auseinandersetzungen das kleine Malheur passirt, den §. 51.
gar nicht genau zu kennen. Er meint, dass der §. 51. laute: „Eine
strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter sich in
einem Zustande krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand,
durch welche seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“
') Eulenberg’s Viertelj. f. ger. Med. 1883. Oct p. 212
*) cf. Virchow’s gesammelte Abhandlungen aus dem Gebiete der öffentlichen
Medicin. II. p. 505.
*) Eulenberg’s Viertelj. 1885. XLII. p. 57 u 271.
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1 10
Dr. E. Mendel,
Nun heisst es aber nicht: durch welche, sondern durch welchen;
es bezieht sich der Ausschluss der freien Willensbestimmung auf den
Zustand, und nicht blos auf den Zustand von krankhafter Störung
der Geistesthätigkeit, sondern auch auf den Zustand von Bewusst¬
losigkeit.
Es ist daher nicht richtig, wenn Herr Schäfer meint: „dieser
letzte Relativsatz ist nach deutschem Sprachgebrauch eine unmittel¬
bare, nähere Begriffsbestimmung für das vorhergehende Substantivum:
„Störung der Geistesthätigkeit“. Abgesehen von „dem deutschen
Sprachgebrauch“, nach dem sich „welchen“ auf Zustand beziehen
muss und dieses Substantivum zu den Genitiven: Bewusstlosigkeit und
krankhafter Störung der Geistesthätigkeit gehört, sagt Schwartze
in seinem Comraentar zum deutschen Strafgesetzbuch*) ausdrücklich:
„Auf jeden dieser beiden Zustände (Bewusstlosigkeit und krankhafte
Störung der Geistesthätigkeit) beziehen sich die folgenden Worte: „durch
welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“
Ferner ist auch in einer Entscheidung des Reichsgerichts vom
16. Januar 1882 2 ) ausdrücklich von einem Zustande von Bewusst¬
losigkeit, welcher jede freie Willensbestimmung ausschliesst, die Rede.
Ja noch mehr; ich werde weiterhin zeigen, dass sich jener Re¬
lativsatz nach der Entstehungsgeschichte und den Commentaren zum
Strafgesetzbuch vorzugsweise auf den Zustand von Bewusstlosigkeit,
viel weniger auf den Zustand von krankhafter Störung der Geistes¬
thätigkeit bezieht.
Nicht besser, wie mit der Auslegung des §. 51, steht es mit dem
angeblich beweisenden Falle des Herrn Schäfer; ich muss auf den¬
selben hier kurz eingehen, weil die meiner Ansicht nach durchaus
unrichtige Beurtheilung desselben leicht die Gerichtsärzte veranlassen
könnte, jenes Gutachten als den Anschauungen der Psychiatrie über¬
haupt entsprechend zu betrachten.
Es handelt sich um eine 34jährige Frau, deren Vater stumpfsinnig war,
deren Schwester schwermülhig ist. Im Alter von 20 Jahren bekam sie epilep¬
tische Krämpfe, mit denen sich seit etwa 4 Jahren periodisch tobsüchtige Auf¬
regung. Gesichts- und Gehörshallucinationon verbanden. Nach der Beobachtung
von Herrn Westphal in der Charite hatte sich nach den Krampfanfällen Ver¬
wirrtheit mit Angriffen gegen Mitpatientinnen gezeigt. In der Zwischenzeit
') p 223. 1884; auch im Gerichtssaal 1881. p. 432.
*) Entscheidungen des Reichsgerichts, V. p. 338.
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Zum §.51 des Deutschen Strafgesetzbuches.
111
zwischen den Krampfanfällen war sie zu Zornausbrüchen geneigt, querulant und
mit einer GefUhlslähmung der linken Körperhälfte behaftet.
In Lindenburg bei Cöln, wo sie 1882 war, hatte sie einen Zustand post¬
epileptischer Tobsucht, in der Zwischenzeit zwischen zwei Anfällen war sie
schwer besinnlich und verwirrt.
In der Zeit zwischen ihrem Aufenthalt in Irrenanstalten befand sie sich im
Gefängniss. Im Krankenhause von Geseke war sie frech, tobend, hat Douchen
wie Nahrungsentziehung mit „unbegreiflicher“ (sic! dem Sachverständigen wol
begreiflicher) Gemüthsruhe ertragen, drohte mit Selbstmord und machte einen
Versuch, sich zu erhängen.
Sie führte dann 1883 mit ihrem Mann einen Raub aus, und kam aus der
Untersuchungshaft nach der Irrenanstalt Lengerich. Dort traten innerhalb
5 Wochen 8 epileptische Anfälle auf. Gleichzeitig bestand Hemianaesthesia
sinistra, „übermässige Eindrncksfähigkeit und Reizbarkeit.“ Von der incrimi-
nirten Handlung wollte sie nichts wissen, gab aber zu, dass sie dieselbe be¬
gangen haben könnte.
lieber den Zustand des Gedächtnisses und der Intelligenz ist
Näheres in dem Gutachten nicht angegeben. Die angeführten That-
sachen dürften aber wol genügen, um nachzuweisen, dass bei der seit
14 Jahren an Epilepsie leidenden Frau die Psyche in den Intervallen
nicht intact geblieben war, dass es sich um einen Zustand von chroni¬
scher epileptischer Geistesstörung handelt. Es beweist sicher gegen
die Geistesstörung nichts, wenn nachgewiesen wird, dass die Ange¬
klagte hier und da oder öfter bewusst die Unwahrheit sagte, das
„Lügen“ gehört bekanntermaassen bei epileptischen und hysterischen
Personen zu den Krankheitssymptomen.
Die Angeklagte demoustrirte in der Schwurgerichts-Verhandlung ihren Zu¬
stand noch ad oculos. Erst war sie ruhig, allmälig wurde sie gereizter, fuhr
plötzlich auf, um den Redenden in’s Wort zu fallen, dann trat ein ausgebildeter
epileptischer Anfall ein. „Als sie zu sich kam, benutzte sie die Gelegenheit,
vollständige Unbesinnlichkeit vorzutäuschen, indem sie die Aerzte mit Du an¬
redete und allerlei durchsichtige Faxen machte.“
Dass eine Epileptische unmittelbar nach einem schweren Anfall
in dieser Weise simuliren könne, wird Herr Schäfer wol kaum zu
beweisen im Stande sein, und ich bin überzeugt, ohne Herrn Schäfer
hätten die Geschwornen unter dem Eindruck des Zustandes der An¬
geklagten das richtige Urtheil, nämlich die Freisprechung, gefunden.
Dass der eine Sachverständige, Herr Laudahn (Lindenburg), der die
Kranke in seiner Anstalt beobachtete, sie für geisteskrank (psychischer
Degenerationszustand) erklärte, nimmt nicht Wunder, ebensowenig dass
drei praktische Aerzte, die ja bei dem Mangel an Vorbildung auf der
Universität, selbstverständlich mit Ausnahmen, wol in dieser Specialiät
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UNIVERSUM OF IOWA
112
Dr. E. Mendel,
kaum als Sachverständige zu betrachten sind, sie für gesund erklärten,
wol aber muss in hohem Grade befremden, dass Herr Schäfer als
langjähriger Psychiater zu folgendem Gutachten, das, wie ich meine,
dem Inhalte nach psychiatrisch, der Form nach gerichtlich nicht zu
rechtfertigen ist, kam:
Die Frau P. ist krankhaften Störungen ihres Nerven- und Geisteslebens
unterworfen, die für gewöhnlich ihre Zurechnungsfähigkeit er¬
heblich vermindern, und
sie befand sich ausserdem zur Zeit der incriminirten That möglicher¬
weise in einem maniakalischen Aufregungszustand, welcher ihre
freie Willensbeslimmung im Sinne des Gesetzes aufhob. —
Sie wurde zu 2 Jahr Zuchthaus verurtheilt.
Der Fall, der nach Herrn Schäfer beweisen soll, dass der
Arzt die freie Willenbestimmung in den Bereich seiner Untersuchung
ziehen soll, beweist im Gegentheil, wie gefährlich es ist, wenn der
Arzt sein sachverständiges Gebiet verlässt. Wäre es nicht ein foren¬
sischer Fall gewesen, so würde, wie ich glaube, Herr Schäfer, und
zwar mit Recht, kein Bedenken getragen haben, die Frau «fls epilep¬
tische Geisteskranke bis an ihr Lebensende in der Anstalt der Freiheit
zu berauben, weil sie geisteskrank und gemeingefährlich sei.
Aber Herr Schäfer meint, dass „unter den Aerzten wohl kein
Zweifel darüber sei, dass es Zustände giebt, wo die geistige Thätig-
keit gestört ist, ohne dass die freie Willensbestimmung wesentlich
beeinträchtigt oder aufgehoben wird“. Die freie Willensbestimmung
selbst nennt er eine psychische Function. Ich habe nicht die Ab¬
sicht, hier auf den Begriff der freien Willensbestimmung irgendwie
näher einzugehen, ich glaube aber nicht, dass die alte Trigolie der
Seele in Gefühls-, Erkenntniss , Willensvermögen noch viele Anhänger
unter den Psychiatern hat; die krankhaften Störungen des Willens
(Abulie, Hyperbulie), die man früher als eoordinirt den Störungen
der Gefühle, der Intelligenz erachtete, sind, wie ich glaube, mit
vollem Rechte aus der Semiotik der Psychosen verschwunden. Die
klinische Untersuchung sucht die Veränderungen der inneren Sinnes¬
wahrnehmung, des Fühlens und Denkens festzustellen, und bemüht
sich, aus diesen, nicht aus einer Veränderung des Wollens, die Ent¬
stehung der abnormen Handlungen nachzuweisen.
Hat doch auch die moderne Psychologie (cf. die Willensbestim¬
mungen und ihr Verhältniss zu den impulsiven Handlungen von
Spitta, Tübingen 1881 p. 15) das „Wollen“ aus dem Grundver-
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Zum §.51 des Deutschen Strafgesetzbuches.
113
mögen der menschlichen Seele gestrichen und es zu einer secundären
Erscheinung gemacht, die vom Vorstellen und Fühlen zu Stande ge¬
bracht wird!
Wenn nun aber schon über das Wollen keine Einigkeit herrscht,
wie jener Dissens des Herrn Schäfer zeigt, so noch viel weniger
über den freien Willen.
Nicht bloss jeder Psychiater, jeder Arzt, sondern auch jeder
Richter, wie jeder Staats- und Rechtsanwalt, endlich auch jeder Ge¬
schworene hat sein philosophisches System darüber, jeder dünkt sich
hinreichend sachverständig über diesen Punkt, zu dem Keiner Vor¬
studien für nothwendig hält: Was freier Wille ist, das sagt der so¬
genannte gesunde Menschenverstand klipp und klar.
Was aber ist unter krankhafter Störung der Geistesthätigkeit
zu verstehen?
Die wissenschaftliche Deputation des Preussischen Ministeriums
hatte krankhafte Störung der Geistesthätigkeit statt Geisteskrankheit
vorgeschlagen, weil der erstere Begriff umfassender ist, und man
unter ihm auch Fieberdelirium, Zustand der Gebärenden u. s. w. sub-
sumiren kann. Krankhafte Störung der Geistesthätigkeit kann also
sein a) Geisteskrankheit, b) vorübergehende secundäre Störung der
geistigen Thätigkeit durch anderweitige körperliche Anomalien.
Weitaus in der grossen Mehrzahl der Fälle handelt es sich in den
forensischen Gutachten um die Frage, ob Geisteskrankheit oder nicht.
Wie verhält sich Geisteskrankheit zum Auschluss der freien
Willensbestimra ung ?
Man mag nun diesen „freien Willen“ definiren oder auffassen
wie man will; der Satz des Herrn Schäfer, dass Geisteskrankheit
ohne Auschluss der freien Willensbestimraung einhergehen könne, ist
psychiatrisch nicht zu rechtfertigen. Herr Schäfer citirt Beispiele:
„Apoplektiker mit Intelligenzdefect, mit oder ohne Aphasie, originär
Schwachsinnige mässigen Grades“.
Unzweifelhaft sind solche Personen geisteskrank, und dass wenig¬
stens für die deutschen Psychiater geisteskrank und unzurechnungs¬
fähig identisch ist, d. h. also nach der Definition des § 51 Geistes¬
krankheit mit Ausschluss der freien Willensbestimmung zusammen¬
fällt, darüber kann nach den langen Verhandlungen über diese Frage
kein Zweifel sein.
Vom Jahre 1858—1865 wurde fast alljährlich auf den Ver¬
sammlungen der deutschen Irrenärzte hierüber discutirt, und das Ende
Vierteljährigelir. f. ger. Med. N. F. XL1V. 1 g
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114
Dr. E. Mendel,
dieser Discussionen war die Annahme der Jessen’schen Thesis 13
im Jahre 1865 in Hildesheim, die folgender Maassen lautet:
„Jeder Geisteskranke ist dem bürgerlichen Gesetz gegenüber zu-
rechnungsunfähig.“
In demselben Sinne sprach sich auch Skrzeczka, der bei dem
vorbereitenden Gutachten für den § 51 in der wissenschaftlichen De¬
putation betheiligt war, aus, als er bei der Discussion in der Ber¬
liner med. psychol. Gesellschaft 1 ) erklärte:
Uebrigens ist auch jeder Geisteskranke des freien Willens be¬
raubt, auch wenn eine That scheinbar nicht unter dem Einfluss der
Krankheit entstanden ist.
Aber auch die Commentare zum Strafrecht und die Lehrbücher
des Strafrechts theilen diese psychiatrische Anschauung.
Schvvartze, der im norddeutschen Reichstage Referent über den
jetzigen § 51 war, sagt 2 ):
Die „krankhaften Störungen der Geistesthätigkeit“ umfassen
daher auch die Geisteskrankheiten im engeren Sinne, bei denen selbst¬
verständlich die Frage der Zurechnungsfähigkeit durch die Existenz
der Krankheit verneint ist.
Berner 3 ) erklärt: die Entstehungsgeschichte des § 51 erhebt
indess zur Augenscheinlichkeit, dass der Gesetzgeber bei bewiesener
Bewusstlosigkeit oder wahrer Geisteskrankheit nicht noch einen be¬
sonderen Beweis der Unfreiheit zur Annahme der Zurechnungsun-
(ähigkeit fordert.
„Sobald der Beweis geführt ist, dass der Thäter zur Zeit der
That geisteskrank war, ist das Strafverfahren einzustellen.“
Nach diesen Ausführungen könnte es scheinen, als ob überhaupt
kein wirklicher Dissens zwischen Aerzten und Juristen bestände, und
dass der Zusatz des Ausschlusses der freien Willensbestimraung ledig¬
lich eine Formalität sei in dem Falle, wenn von dem Sachverstän¬
digen Geisteskrankheit nachgewiesen sei. Thatsächlich liegt die
Sache allerdings ganz anders. Bei dem Mangel psychiatrischer Kennt¬
nisse unter den Juristen und selbstverständlich auch bei den Ge¬
schworenen und bei den verkehrten Anschauungen, die über Geistes¬
krankheit überhaupt herrschen (ein eklatantes Beispiel dafür hat uns
') cf. Arch. f. Psjrch. II. p. 230. 1869.
*) Gerichtssaal 1881. 33. p. 436.
*) Strafrecht p. 128.
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Zum §.51 des Deutschen Strafgesetzbuches.
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in Berlin erst wieder der Staatsanwalt im Process Graef gegeben),
wird öfter das Vorhandensein der Geisteskrankheit in erster Reihe bezwei¬
felt. Der Instanzrichter hat aber die Frage nach der Ausschliessung der
freien Willensbestimmung selbständig zu lösen, er ist dabei weder an frü¬
here Entscheidungen des Civilrichters (Blödsinnigkeitserklärung), noch an
das Gutachten zu vernehmender Sachverständiger gebunden. (Ober-
Tribunalsentscheidung, October 1868. R. d. 0. IX. 546. Strafprocess-
ordnung § 261). Je strenger der ärztliche Sachverständige lediglich
sich auf ärztlichem Gebiete hält, je mehr er psychologische Deduc-
tionen vermeidet, um so wirkungsvoller wird sein Gutachten sein, da
sich der Richter dem Einflüsse einer streng wissenschaftlichen Deduc-
tion schwer wird ganz entziehen können.
Im Uebrigen ist jener Zusatz, wie sich aus den Vorverhandlungen
ergiebt, entstanden dadurch, dass man zwar dem Drängen der Aerzte
(auch der wissenschaftlichen Deputation) nachgeben und das Moment
der Krankheit in den betreffenden Paragraphen hineinbringen wollte,
dass man aber auch die Besorgniss hatte, dass, wenn man lediglich die
Krankheit resp. die Geisteskrankheit als entscheidend für die Unzurech-
nungsfähigheit hinstellte, die Aerzte eine zu präponderirende Stellung
einnehmen würden. Der Zusatz des „Ausschlusses der freien Willens¬
bestimmung“ sollte dem Richter die Möglichkeit geben, ohne die
Autorität des ärztlichen Gutachtens herabzusetzen, zu sagen, der
Angeschuldigte litt zwar zur Zeit der Begehung der Handlung nach
dem Ausspruch der Aerzte an krankhafter Störung der Geistesthätig-
keit, dieselbe war aber nach der Feststellung des Richters nicht eine
derartige, dass durch dieselbe die freie Willensbestimmung ausge¬
schlossen war.
Dem entspricht auch vollständig folgender Satz in den Motiven
zum § 51 (damaligen § 49)*):
Bei der gewählten Fassung des Paragraphen hat man zugleich
mit den Schlussworten desselben ausdrücken wollen, dass die Schluss¬
folgerung selbst, nach welcher die freie Willenstörung in Beziehung
auf die Handlung ausgeschlossen war, Aufgabe des Richters ist.
Nun ist zwar bei der dritten Berathung (52. Sitzung) auf An¬
trag des Herrn v. Saltzwedel das „in Beziehung auf die Handlung“
gestrichen worden, nachdem noch in zweiter Lesung (16. Sitzung) der
Antrag der Herren Nasse, Richartz und Pelmann, die dasselbe
! ) Stenograph. Ber. des Reichstags, Nordd. Bundes 1870. Anlage 3. p. 57.
8 *
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Dr. E. Mendel,
wollten, abgelehnt worden war, aber nach der Auffassung, die in den
Motiven enthalten ist und wie sie auch von dem Referenten Schwartze
vertreten war, wird durch den Wegfall jener Worte an der Aufgabe,
die dem Sachverständigen zufällt, und der, die dem Richter obliegt,
nichts geändert.
In demselben Sinne äussert sich Berner (1. c. p. 123):
Der Schluss, den der Arzt aus dem Seelenzustande auf die Zu¬
rechnungsfähigkeit zieht, unterliegt, weil er wesentlich zur Recht¬
sprechung gehört, und einen strafrechtlichen Begriff be¬
trifft, der sorgfältigen Controle des Richters. Der Arzt brauchte
ihn in seinem Gutachten gar nicht zu ziehen, konnte dasselbe viel¬
mehr auf den Seelenzustand beschränken, ebenso wie er sich bei
Tödtungen auf die Feststellung des Causalzusammenhangs beschränken
und die davon wohl zu unterscheidende Zurechnungsfrage gänzlich
dem Richter überlassen kann.
Ferner Schütze’): Dem Begutachter ist nur die Vorfrage vor¬
zulegen, ob ein abnormer Geisteszustand oder geistige Unreife bestehe
bezw. bestanden habe, niemals aber die Frage, ob der Angeschuldigte
zurechnungsfähig. Das Gericht hat da selbständig zu prüfen, inwie¬
weit das Gutachten die Ueberzeugung bewirken könne, dass jener ab¬
norme Geisteszustand Vorgelegen und daraus nach rein strafrecht¬
lichen Erwägungen den Schluss zu ziehen, ob Unzurechnungsfähigkeit
anzunehmen sei oder nicht.
Aus all diesen Erwägungen ergiebt sich in Bezug auf das Ver-
hältniss von Geisteskrankheit und Ausschluss der freien Willensbe¬
stimmung Folgendes:
1) Die freie Willensbestimmung ist kein medicinischer Begriff,
der Arzt ist als Sachverständiger nicht in der Lage, über Bestehen
oder Ausschluss derselben Auskunft zu geben.
2) Versteht man unter freier Willensbestiramung, resp. setzt man
dafür lediglich die Thatsache, dass Handlungen aus einem Kampfe
sich associirender und contrastirender Vorstellungen hervorgehen kön¬
nen, so ist es als eine allgemein angenommene Thesis der Psychiatrie zu
betrachten, dass Geisteskrankheit einen in normaler Weise sich voll¬
ziehenden Widerstreit zwischen jenen Vorstellungen (also freie Willens¬
bestimmung) ausschliesst.
3) Der Gesetzgeber hat durch die Motive zum §. 51. seinen Willen,
') Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, p. 71. IST4.
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Zum §. 51 des Deutschen Strafgesetzbuches.
117
hervorragende Rechtslehrer haben durch ihre Commentare zum deut¬
schen Strafgesetzbuch ihre Ansicht dahin ausgesprochen, dass der
Relativsatz „durch welchen seine freie Willensbestimmung aufgehoben
war“ nicht von dem sachverständigen Arzt zu beantworten sei.
Aber die Definition der Unzurechnungsfähigkeit im §. 51. umfasst
nicht blos die Geisteskrankheiten, sondern auch eine Reihe anderer
Zustände von „krankhafter Störung der Geistesthätigkeit“ und ausser¬
dem Zustände von „Bewusstlosigkeit“. Was die ersteren betrifft, so
war oben davon schon die Rede.
Den „Zustand von Bewusstlosigkeit“ hatte man hinzugefugt, um
auch Zustände von Trunkenheit, Schlaftrunkenheit, Nachtwandeln,
hochgradigen Affect, Zorn, Angst, Furcht 1 ) berücksichtigen zu können,
Zustände, die z. Th. sich schwer oder gar nicht unter krankhafter
Störung der Geistesthätigkeit subsumiren lassen. Es sollte damit übri¬
gens nur eine Bewusstlosigkeit gemeint sein, durch welche weder das
Selbstbewusstsein noch die Actionsfähigkeit völlig aufgehoben ist, son¬
dern nur eine solche vorübergehende Störung des Bewusstseins, bei
welcher immer noch in Frage kommt, ob sie so bedeutend gewesen
sei, dass durch sie die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war 2 ).
Nun ist es unzweifelhaft, dass bei dem grössten Theil der hier in Frage
kommenden Zustände, z. B. bei der Trunkenheit, beim Affect, bei den
Geburtswehen u. s. w. die Frage der Zurechnungsfähigkeit lediglich
nach dem Grade, der Höhe jener Störungen sich wird beantworten
lassen; dieser Grad kann aber häufig nicht durch den Arzt, sondern
muss durch Zeugen festgestellt werden. Der Arzt scheint hier oft
kaum nothwendig, ja Herr Virchow erklärte bei jener Discussion,
dass man überhaupt in der wissenschaftlichen Deputation gemeint
habe, bei der Beurtheilung jener fraglichen Zustände von Bewusstlosig¬
keit brauche man überhaupt keinen Arzt als Sachverständigen zuzu¬
ziehen : eine Meinung, mit der ich allerdings nicht ganz übereinstimrae,
da auch bei der Beurtheilung derartiger Zustände in vielen Fällen
psychiatrische Kenntnisse erforderlich sind. Ich möchte nach dieser
Richtung hin hier nur beiläufig den Zustand der Trunkenheit erwähnen.
Hier könnte der Richter einfach aus der durch Zeugenaussagen fest¬
gestellten Menge des genossenen Alkohols z. B. nach seinen subjectiven
Erfahrungen entscheiden, ob der Angeschuldigte bewusstlos gewesen
') of. Olshausen, Strafgesetzbuch p. 212.
*) cf. Scbwartze, Gerichtssaal 1881. p. 432.
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Dr. E. Mendel,
oder nicht, während wir wissen, dass unter besonderen Umständen
sehr kleine Mengen Alkohol Zustände von Bewusslosigkeit herbei¬
führen können.
Der Relativsatz „durch welchen seine freie Willensbestimmung“
ausgeschlossen war, bezieht sich demnach vorzugsweise auf Zustand
von Bewusstlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit,
soweit die letztere keine eigentliche Geisteskrankheit darstellt.
Dem entspricht auch die Stelle bei Olshausen (Strafgesetzbuch
p. 212): „Durch den Zusatz „freie Willensbestimmung“ ist gerade der
Begriff der Bewusstlosigkeit näher motivirt“ und bei Berner (1. c.
p. 128): Dagegen liegt die Directive in den Worten „durch welchen
seine freie Willensbestiramung ausgeschlossen war“ in den Fällen, wo
keine eigentliche Geisteskrankheit vorhanden (Fieberdelirien, Gebä¬
rende u. s. w.).
Wenn nach dem Gesagten es den Anschein hat, als ob die Frage¬
stellung, die der Richter für den Arzt zu formuliren hat, so einfach
gegeben ist, muss es Wunder nehmen, dass trotzdem in der Praxis,
wie Herr Li man in jener Discussion hervorgehoben hat, seitens der
Gerichtspräsidenten anders verfahren wird und von dem Sachverstän¬
digen auch die Beantwortung der Frage nach dem Ausschluss der
freien Willensbestimmung verlangt wird.
Es beruht dies, wie ich glaube, auf der Unkenntniss der Richter
über die Entstehungsgeschichte des §. 51, und es scheint mir viel saeh-
gemässer zu sein, den Richter auf die ärztlichen und juristischen Gründe
aufmerksam zu machen, aus denen der Sachverständige die Beant¬
wortung jener Frage ablehnt, wie es die wissenschaftliche Deputation
unter Vorsitz eines Juristen thatsächlich ausführt, als sich dem un¬
berechtigten Verlangen zu fügen. Dass die Richter sich schliesslich
die Ablehnung der Beantwortung der betreffenden Frage gefallen lassen,
zeigt ebenfalls das Beispiel der wissenschaftlichen Deputation, deren
Gutachten — ohne Beantwortung des Relativsatzes — bisher nicht
beanstandet worden sind.
Ich möchte aber bei dieser Gelegenheit noch darauf aufmerksam
machen, dass Ausdrücke, wie „geisteskrank im Sinne des Gesetzes“
oder „verminderte Zurechnungsfähigkeit“, welche in den oben erwähn¬
ten Gutachten gebraucht worden sind, durchaus zu verwerfen sind.
Was den ersteren Ausdruck betrifft, so giebt es weder eine gesetz¬
liche noch eine ungesetzliche Geisteskrankheit, sondern es giebt nur
eine Geisteskrankheit, deren Wirkung auf die rechtliche Stellung des
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Zam §. 51 des Deutschen Strafgesetzbuches.
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Kranken zu entscheiden ausserhalb der Competenz des Arztes liegt;
was den zweiten Ausdruck aber betrifft, so darf allerdings wol der
Richter bei einem gerichtlichen Sachverständigen soviel Kenntniss
der Materie voraussetzen, dass er weiss, dass das deutsche Strafgesetz
eine verminderte Zurechnungsfähigkeit nicht kennt. Ist es meiner
Ansicht nach schon zu verwerfen, dass der Arzt sich überhaupt über
Zurechnungsfähigkeit ausspricht, so ist es noch viel weniger zu recht-
fertigen: verminderte Zurechnungsfähigkeit als vorhanden zu behaupten.
Will der Arzt gewisse Milderungsgründe bei dem Angeklagten geltend
machen, den er nicht für geisteskrank erklären kann, so muss er
dies in anderer Form thun und in einer Weise, die dem Richter zur
Fragestellung nach mildernden Umständen, soweit dieselben zulässig
sind, Veranlassung geben kann. Andern Falls könnte ein mit der
Entstehung des §. 51 vertrauter Gerichtspräsident dem Sachverstän¬
digen sofort das Wort entziehen, indem er sich die Motive des §.51
aneignet: Der Gerichtsarzt hat zunächst zu untersuchen, ob Krank¬
heit (Geistesstörung) vorhanden war oder nicht, in welch letzterem
Falle er sich aller weiteren Erörterungen zu enthalten hat.
Es handelt sich im Uebrigen bei diesen Fragen durchaus nicht
um etwa formelle Dinge, sondern es sind Fragen von eminentester
praktischer Bedeutung. Ein Arzt, der sich vor Gericht anmaasst, über
»Zurechnungsfähigkeit“, „verminderte Zurechnungsfähigkeit“ u. s. w.
zu entscheiden, verkennt seine Stellung, und macht sich und seinen
Collegen die so schon ungemein schwierige Stellung des gerichtlichen
Sachverständigen bei zweifelhaften Geisteszuständen noch schwieriger.
Die Zurechnungsfähigkeit oder Unzurechnungsfähigkeit ist kein
medicinischer, sondern ein strafrechtlicher Begriff, und es bedarf wahr¬
lich nur eines Blickes auf eine nicht lange hinter uns liegende Zeit,
um zu erkennen, welche Nachtheile für das Ansehen der Aerzte wie
für das Geschick ihrer Clienten es mit sich führt, wenn die Aerzte
sich anschicken, die Geschäfte des Richters besorgen zu wollen.
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II. Oeffentliches Sanitätswesen.
1 .
Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf
(geliefert von Firma Walz & Windscheidt)
dnrch
Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig,
in Düsseldorf. Kreisphysikus in Duisburg.
Während in der wissenschaftlichen medizinischen Welt, die ätio¬
logische Richtung von Tag zu Tag neue Erfolge zu verzeichnen hat,
bereitet sich die Hygiene vor, unbeirrt von noch streitigen Punkten
möglichst rasch und vollständig Nutzen aus diesen Erfolgen, resp.
den mühsamen Untersuchungen, welche den Erfolgen vorangingen, zu
ziehen. Vor allen Dingen ist es die Desinfectionsfrage, welche das In¬
teresse weiter Kreise für sich in Anspruch nimmt. Auch hier ist es
wieder Prof. R. Koch, dem wir für bahnbrechende Arbeiten in dieser
Frage, wie für so viele andere grossen Fortschritte in der Bacterio-
logie dankbar sein müssen. Wenn auch Fr. Sander in seiner 1875
erschienen Broschüre: „Ueber Geschichte, Statistik, Bau und Einrich¬
tung von Krankenhäusern“ schon die direkte Benutzung des Dampfes
zur Desinfection von grösseren Gegenständen anführt und denselben be¬
nutzt hat, so war es doch Koch und seine Schüler, welche mit Hülfe
verbesserter Methoden diese Frage genauer studirten und erst recht
begründeten. Zunächst wurden von Koch und Wolffhügel Versuche
über die desinficirende Kraft der heissen Luft angestellt. Diese Ver¬
suche hatten das Resultat, dass nur sporenfreie Bacterien und Schim¬
melsporen in verhältnissmässig kurzer Zeit durch heisse Luft zerstört
wurden, während die Vernichtung von Bacillensporen erst durch drei¬
stündigen Aufenthalt derselben in 140° C. heisser Luft erreicht werden
konnte. Dabei stellte es sich heraus, dass die trockene heisse Luft
nur äusserst schwierig in Desinfectionsobjecte von nur mässigen Dimen¬
sionen eindringt, auch wenn dieselbe drei bis vier Stunden bei 140° C.
einwirkt.
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Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf.
121
Weitere von Koch, Gaffky und Löffler angestellte und in den
„Mittheilungen des Kaiserl. Gesundheitsamtes“ Bd. I. veröffentlichte
Untersuchungen ergaben nun, dass unter den infectiösen Mikroorga¬
nismen die Bacillenformen bereits durch Temperaturen unter 100 C.
zerstört, dass aber die Dauerformen, die Sporen erst bei längerer
Einwirkung von 100 C. vernichtet werden.
Heisses Wasser, bei direkter Einwirkung der Siedehitze, todtet
Dauersporen in zwei Minuten.
Heisse Wasserdämpfe von 100 C. bewirken dies ebenfalls in kur¬
zer Zeit und zwar in 10 bis 15 Minuten. Die Bacillen und Sporen
sind aber in den meisten Fällen unserer Desinfectionspraxis nicht
direkt für heisse Luft, heisses Wasser oder heisse Dämpfe angreifbar,
sondern durch ihre Vehikel geschützt, so dass die Temperaturträger,
sei es nun Luft, Wasser oder Dampf, diese erst allseitig durchdringen
müssen. So einfach nun auf den ersten Blick diese Verhältnisse zu lie¬
gen scheinen, so verwickelt ist der Vorgang, sobald es sich um grössere
Objecte handelt.
Heisse Luft ist, wie schon Prof. Koch und Dr. Wolffhügel an¬
gegeben und wie neuerdings auch Prof. M. Wolff bestätigt hat, ab¬
solut nicht zu verwenden, da erstens die Wirkung eine sehr unsichere
und zweitens die Objecte durch die lange Einwirkung trockener Hitze
leicht verdorben werden.
Heisses Wasser ist nur selten wegen der Beschaffenheit der Stoffe
in Anwendung zu ziehen.
Heisser gespannter Wasserdampf dringt ebenfalls langsamer in
grössere Objecte ein, als man vermuthen sollte und nur heisse strö¬
mende Wasserdärapfe thun dies in kurzer Zeit und in befriedigender
Weise.
Koch emfiehlt deshalb nur die Anwendung dieser, er konnte
jedoch bei grösseren Apparaten die Dampfhitze von 100 C. am Aus¬
flussrohr nicht erreichen, wenn er nicht Salzlösungen verwandte. Bei
Versuchen im Grossen ergaben sich nun, wie Merke 1 ) nachwies, ver¬
schiedene Nachtheile, wenn die Construction, welche Koch zu seinen
Versuchen gedient hatte, einfach in grösserem Maassstabe ausgeführt
werden sollte. Die Hauptschwierigkeit bei der Construction würde darin
liegen, wie Merke hervorhebt: dass es bei jenen Apparaten ein Haupt-
l ) Merke, „Ueber Desinfections-Apparate und Desinfectious-Versuche“ in
dieser Vierteljahrsschrift N. F. XXXVII. 1.
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122
Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig,
erforderniss ist, dass die dampfentwickelnde Fläche gleich ist dem
Querschnitt des zur Aufnahme der Effecten bestimmten Cylinders, da
sonst die Dämpfe nicht concentrirt genug sind und beim Eintreten in
einen weiteren kühlen Raum nicht den nöthigen Hitzegrad behalten
würden. Es müsste dementsprechend auch die Feuerungsanlage sehr
gross angelegt werden, was sehr umständlich und kostspielig werden
dürfte. Diese Erwägungen führten Merke zu einer neuen Construc-
tion, welche ausser strömenden Wasserdämpfen, noch trockene Hitze,
welche durch ein besonderes Rippensystem erzeugt wird und starke
Ventilation verwendet. Diese Construction wird von Schimmel & Co.
in Chemnitz ausgefuhrt und ist denselben patentirt. Auch der von
Bacon in Berlin construirte Apparat benutzt neben Dampf von
2 Atmosphären Spannung noch trockene Hitze und starke Ventilation.
Der Raetke’sche Desinfectionsapparat arbeitet nur mit heisser
Luft.
Nur der Henneberg’sche Desinfectionsapparat schliesst sich in
seiner Construction den im Reichsgesundheitsamt benutzten Modellen
genauer an, indem sich der Desinfectionsraum unmittelbar über dem
offenen Verdampfungsbehälter befindet. Indess auch Henneberg
sieht sich gezwungen, zur Erreichung der constanten Dampftemperatur
von 100 Cels. und der Verhinderung einer Condensation der Dämpfe,
seinen Kessel mit inneren Rippen zu versehen, welche von dem obe¬
ren Flansch bis zum Boden hinabreichen, um noch vor der Dampf¬
entwicklung die Luft und die Wandungen des Desinfectionsraumes auf
circa 100 Cels. zu erwärmen. Henneberg legt einen grossen Werth
auf die starke natürliche Strömung des Dampfes nach oben und misst
gerade dem stark strömenden Wasserdampfe die Fähigkeit bei, schnell
in die Desinfectionsobjecte einzudringen.
Ausserdem wurden von verschiedenen Firmen noch Apparate con-
struirt, die aber im Wesentlichen auf dem von Merke angegebenen
Princip der gleichzeitigen Anwendung von trockener Hitze bei strö-
mondem gespannten Dampf basirt sind.
Bei Gelegenheit der Besprechung von Abwehrmassregeln bei Seu¬
chen, spec. Cholera, wurde von dem einen von uns in der Sanitäts-
Commission zu Düsseldorf in der Sitzung vom 19. Juli 1884 der
Antrag gestellt: städtischerseits eine dauernde, resp. nach dem Be¬
dürfnis in Betrieb zu haltende Desinfectionsanstalt einzurichten. Die¬
ser Antrag fand die Billigung der Commission und der Stadtverord¬
netenversammlung.
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Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf.
123
Da die bislang bekannten Apparate von Raetke, Merke und
Bacon noch nicht allgemeine Anerkennung gefunden haben, so wurde
von Herrn Sanitätsrath Dr. Eckardt, der die Frage mit den Herren
Walz und Windscheidt besprochen, der Sanitäts-Commission ein neues
Projekt unterbreitet, welches von diesen Herren ausgearbeitet worden
war und als besser als die bisher bekannten Systeme von ihnen empfoh¬
len wurde. Da die Firma Walz & Windscheidt liberaler Weise sich
damit einverstanden erklärte, dass ihre neue Construction einer ein¬
gehenden bakterioskopischen Untersuchung unterzogen werde und nur
im Falle der völligen Wirksamkeit des Apparates auf Zahlung An¬
spruch machten, so schien der Versuch mit einem neuen System ge¬
rechtfertigt und wurde demgemäss auch von der Stadtverordneten¬
versammlung beschlossen.
Die Ausführungen der Herren Walz und Windscheidt beruhen
im Wesentlichen auf folgenden Erwägungen:
1) Wenn gespannter Dampf von 3 Atmosphären in einen weiten
Raum ausströmt, so verliert er zunächst seine Spannung. Er ist leichter
als die Luft im Raum und als die in den Desinfectionsgegcnständen
enthaltene Luft, deshalb geht er auf dem kürzesten Weg nach oben.
Da nun in den his jetzt benutzten Desinfectionsapparaten die Abfluss¬
öffnung für den Dampf sich immer oben befindet, so geht der Dampf
auf dem kürzesten Weg dorthin, daher die Schwierigkeit, in volumi¬
nösen Gegenständen 100 Gels, zu erreichen. Ausserdem werden sich
in nicht ganz cylindrischen engen Räumen ungleiche Temperaturen,
sogenannte todte Punkte finden. VValz und Windscheidt leiten des¬
halb den Dampf von oben ein und nach unten aus.
2) Ein fernerer Nachtheil ist, dass, wie auch Merke angiebt, die
Wäsche sehr leicht durch gelbe Flecken, die nicht auswaschbar sind,
verdorben wird und
3) dass bei 3 Atmosphärendruck ein gelernter Heizer noth-
wendig ist.
Der von der Firma Walz & Windscheidt für die Stadt Düsseldorf gebaute
Desinfections-Apparat hat einen nutzbaren Rauminhalt von 1,2 M. Breite, 2,5 M.
Länge und 1,5 M. Höhe. Derselbe trennt die Lagerräume für inficirte und des-
inficirte Gegenstände von einander ab, indem die letzteren in dem Aufbewahrungs¬
raum der inficirten Gegenstände auf einem eisernen Wagen ebener Erde durch
eine Thür in den Apparat und eine zweite Thür aus dem Apparat sofort in einen
anderen Raum mit nur desinficirten Gegenständen gebracht werden können.
In dem Keller unter dem Apparat befinden sich zwei Feuerungen, die eine
erwärmt das Innere des Desinfectionsraumes, indem die Wärme durch gusseiserne
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124
Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig,
Rippenheizkörper an die Luft, beziehungsweise den Dampf des Desinfoclions-
raumes übermittelt wird; die andere spendet ihre Wärme unter Vermittelung
eines Röhrensystems an ein über dem ganzen Apparat in der Höhe liegendes Ge-
fäss für kochendes Wasser, resp. Dampf. Die erzeugten Dämpfe erhalten im
Maximum V t0 Atmosphäre Ueberdruck, weshalb der betreffende Heizapparat im
Sinne des Gesetzes unter dem Begriff „Kochkessel“, also nicht zu den concessions-
pflichtigen Dampfkesseln gehört. Zur Bedienung ist also ein Maschinist nicht
nothwendig.
Die Einführung der Dämpfe in den Apparat erfolgt durch eine grosse Röh¬
renbrause in der Höhe. Die Abführung der Luft erfolgt durch eine geräumige
Oeffnung unter dem Apparat.
Diese Führung der Medien ist gewählt:
1) weil die atmosphärische Luft schwerer ist wie der Dampf und weil es
nur gelingen kann, mit dem Dampf in das Innere der Gegenstände zu
dringen, wenn die Luft vollständig verdrängt werden kann;
2) weil Luft, beziehungsweise Dämpfe von gleicher Spannung und Tem¬
peratur sich alsdann das Gleichgewicht halten können, wodurch auf
gleicher Schichthöhe eine gleiche Temperatur in dem ganzen Apparat
erzielt werden muss.
Es sei deshalb hier in Erinnerung gebracht, dass die Gewichte von Luft
und Dampf bei gleicher Spannung mit der Temperaturabnahme zunehmen und
umgekehrt; dass ferner
1 Cubikmeter Luft von 20 C. 1,2053 Kilogrm.
1 - - 100 C. 0,9467
1 - Dampf - 100 C. 0,5896
wiegt.
Der Vorgang im Apparat ist daher folgender:
Der in den vorgewärmten Apparat oben eintretende Dampf füllt nach und
nach den ganzen oben und seitlich genau abgedichteten Dosinfectionsraum an,
indem die schwerere atmosphärische Luft unten entweicht. Der Dampf kommt
mit den Rippenheizkörpern im Inneren in Berührung und wird schliesslich bis
auf 150 C. und höher überhitzt. Da in dem Apparat nur der atmosphär. Druck
vorhanden sein kann, wird der Dampf immer leichter und dünner, während an¬
dererseits die Differenz der Temperatur im Raum und der Innentemperatur in
den zu desinficirenden Gegenständen auf die grösste zulässige Höhe gebracht
werden kann. Die Gewichtsdifferenz zwischen dem Dampf im Raum und der in
den Gegenständen enthaltenen Luft ist daher die grösstmöglichste. Die Luft
muss deshalb aus permeablen Gegenständen herausfallen und wird durch Dampf
ersetzt. Da ferner die Wärmequelle durch Strahlung einen Einfluss auf die Tem¬
peratur des Raumes nicht haben kann und die Wärme dem Raum nur durch den
überhitzten Dampf übermittelt wird, so muss nothwendigerweise in dem freien
Desinfectionsraum in Schichten von gleicher Höhe eine gleiche Temperatur
herrschen, da sich die Dämpfe gegenseitig das Gleichgewicht halten. Die wär¬
meren Dämpfe steigen in die Höhe und bleiben dem Raum erhalten, während
kältere Dämpfe sofort fallen müssen ').
*) Hierin liegt ein Hauptgegensatz zu denjenigen Apparaten, bei welchen der
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Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf.
125
Frische Dämpfe werden nur in dem Masse zugeführt, als solche duroh Un¬
dichtigkeiten und Condensation in dem Apparat verloren gehen.
Wird eine vorherige Berieselung der zu desinficirenden Gegenstände mit
heissem Wasser nothwendig, so erfolgt diese durch dieselbe Brause, durch welche
der Dampf einiritt. Der bedienende Heizer hat für diesen Fall bloss das Wasser¬
quantum in dem Kochkessel entsprechend zu vermehren. — Damit keine Bacte-
rien unsterilisirt fortgeschwemmt werden können, ist in dem Apparat eine Vor¬
richtung getroffen womit das Rieselwasser aufgefangen und gleichzeitig mit der
nachfolgenden Erhitzung der Gegenstände in Siedetemperatur gebracht werden
kann. Nach der Desinfectionszeit kann man das Wasser durch einen Hahn ent¬
weichen lassen.
Der Hauptunterscliied des Apparates von den bisher construirten
beruht also darauf, dass nicht strömender Wasserdampf, sondern
ruhender, resp. nur leicht bewegter Dampf überhitzt wird und dass
gleichzeitig durch eine grosse Abfuhröffnung am Boden des Appa¬
rates dafür gesorgt ist, dass die Luft und die kälteren Wasserdämpfe
aus dem Apparate entweichen können. Den beiden Unterzeichneten
wurde nun der Apparat zur Prüfung und bakterioskopischen Unter¬
suchung seiner Wirkung von der Stadtverwaltung der Stadt Düsseldorf
übergeben. Der eine von uns, Physikus Mittenzweig, hatte seiner
Zeit Gelegenheit, im Reichsgesundheitsamt unter Leitung des Herrn
Prof. Dr. Koch sich mit den einschlägigen Methoden vertraut zu
machen, während der andere von früherer Zeit her, wo derselbe Assi¬
stent am pathologischen Institut zu Bonn unter Prof. Köster war,
mit mikroskopischen Dingen vertraut sich durch Privatstudien die
nöthigen Kenntnisse erworben hatte.
Wir lassen nunmehr die vorgenommenen Versuche der Reihe nach
folgen.
Samstag, 29. August 1885:
Der Apparat wurde mit einem Paquet aus 20 aufeinander gerollten Woll¬
decken beschickt. Das Paquet ist 1 '/ 2 Meter lang, 84 Ctm. breit, 28 Ctm.
hoch, ln der Milte wurden 2 Maximalthermometer eingerollt in der Weise, dass
die innerste Decke 8 Mal um die Thermometer gewickelt, die übrigen 19 Decken
um die Hülle aufgerollt wurden, so dass die Thermometer allseitig von einer
65 fachen Schicht der Wolldecken umgeben waren.
Zugleich mit den beiden Thermometern wurden mit Fliesspapier umwickelte
und signirte Paquetchen von Gartenerde und Aspergillus mit eingerollt; ferner
Dampf oben abgeleitet wird. Heisse Dämpfe suchen alsdann den kürzesten Aus¬
weg, stören das Gleichgewicht und rufen ungleiche Temperaturen bervor. Die
letzteren können auch entstehen, wenn strahlende Wärme der Heizapparate
Einfluss auf das Innere hat.
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126
Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig,
ein P&quetchen mit Milzbrandsporen an Seidenfäden, die von Geh.-Rath. Prof.
Dr. Koch bezogen worden waren.
Ausserdem wurden auf zwei Kartoffelhälften gezogene Milzbrandbacillen in
der Weise eingebracht, dass die beiden Kartoffelhälften aufeinander gelegt und
dann mit Fliesspapier umwickelt wurden. In derselben Weise wurden je zwei
mit Prodigiosus und Aspergillus, die reichhaltig gewuchert hatten, versehene
Kartoffelhälften aufeinander gelegt, mit Fliesspapier umwickelt und in die innerste
Schichte der Decken eingebracht.
Frei in dem Apparat auf einem Teller wurden hingestellt: Gartenerde und
auf Kartoffel gewachsener Aspergillus und Prodigiosus. Der Boden des Fahrstuhls
war mit einer 10 Ctm. hohen Schicht Wasser aus der Brause bedeckt. Um die
Temperatur des Wassers während der Versuchszeit bestimmen zu können, war
eine Extraöffnung in die eine Thür eingebohrt und mit, Thermometer versehen,
welches ins Wasser hineinreichte. Die Gegenstände waren vorher nicht mit der
Brause durchnässt worden.
Der Versuch wurde begonnen um 2 Uhr 30 Minuten und die Temperatur
zunächst alle 15 Minuten unten und oben, sowie im Wasser abgelesen. Die
obere Oeffnung für Einführung resp. constante Belassung des Thermometers war
12 Ctm. von der Decke des Apparates entfernt, die untere Oeffnung für Thermo¬
meter ebenfalls 12 Ctm. vom Boden. Die Temperaturen verhielten sich nun
folgendermaassen.
Zeit.
Ob en Unten
Reaumur.
Wasser.
Celsius.
Oben Unten
Celsius.
2 Uhr 30.
—
—
—
—
—
3 - 45.
88
77
98
110
97
4 - —.
94
78
98
118
98
4 - 15.
99
80
98
124
100
4 - 30.
100
81
98
125
101
5 - —.
102
80
98
128
100
5 - 30.
107
82
98
134
103
Bei der Herausnahme der Decken fanden wir die Temperatur der Maximal¬
thermometer zu 94 Celsius.
In früheren Versuchen, die zur Orientirung von den Herren Walz und
Windscheidt vorgenommen worden waren, waren die Temperaturen viel
höhere gewesen. Dass heute keine höheren Temperaturen erzielt worden waren,
lag an einem äusseren Umstand, nämlich an der schlechten Beschaffenheit der
Kohlen. Die Kohlen, welche zur Heizung verwandt worden, waren so schlecht,
dass zu Ende des Versuchs der ganze Feuerrest mit einer grossen Schlacke wie
ausgegossen erschien. In der letzten Zeit hatte man mit Holz nothdürftig nach¬
feuern müssen. Da viel Besuch da war, wir uns selbst auch erst einarbeiten
mussten, war auch die Temperaturbestimmung zuerst nur unregelmässig vorge¬
nommen worden, wie die Tabelle zeigt. Und doch sollte auch dieser schein¬
bare negative Versuch uns für die Folge sehr lohrreich werden. Bei der Prü¬
fung der in den Decken eingehüllten Materialien gingen wir zunächst so vor,
dass wir mit allen Stoffen Controlproben gleichzeitig machten. Die zu den Cul-
turen benutzte Gelatine war ganz frisch und absolut steril. Die zum Platten-
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127
giessen benutzen Röhrchen sorgfältig sterilisirt. Die Glasplatten waren zuerst
in Sublimatlösung gewaschen, dann geglüht, ebenso Teller nnd Glasglocken.
Dass beim Aussgiessen, Beschicken der Platten die grösste Vorsicht obwaltete
und alle Regeln auf das Minutiöseste befolgt wurden, bedarf kaum der Erwäh¬
nung. Es wurden nun mit nicht desinficirten und mit drei Stunden lang im
Ofen desinficirten Material der Reihe nach folgende Versuche angestellt.
1) Nicht sterilisirle Gartenerde auf Gelatineplatte:
30. VIII. Makroskop. Noch klar ohne Höfe.
31. VIII. Makroskop. Zahllose zierliche Pilzrasen um die einzelnen Brockel,
von Stecknadel- bis Hanfkorngrösse.
Mikroskop, verschiedene Bacillen und Coccenformen, und zwar, wie die
später vorgenommene Reincultur ergiebt, hatten wir in der von uns zu allen
Versuchen verwendeten Gartenerde:
1) wirtelförmige Colonien, deren Individuen sich als unbewegliche, zu
Fäden auswachsende, sporentragende Bakterien erwiesen;
2) wurzelförmige Colonien, deren Individuen den ersteren sehr ähnlich sind;
3) runde, braungelbe, verflüssigende Colonien, deren Individuen aus lan¬
gen, sporentragenden, mit Eigenbewegung versehenen Bacillen bestehen
(Bacillus subtilis);
4) in geringer Zahl den dicken Koch'schen Erdbacillus;
5) eine runde, bräunliche, nicht verflüssigende Colonie, mit eiförmigen
Bakterien.
2) Nicht sterilisirter Milzbrand an Seidenfäden auf Gelatineplatte:
30. VIII. 6 Uhr. Um die drei geimpften Fäden ein noch klarer Verflössi-
gungsbof.
31. VIII. 3 Uhr. Um die einzelnen Fäden, die ganze Aureole verflüssigt,
trübe, milchig gefärbt durch zarte, weissliche und gelbliche Flecken. Bei 50
und lOOfacher Vergrösserung bestehen dieselben aus zarten dicht aneinander
gelagerten Fäden ohne Verzweigung. Bei 800facher Vergrösserung bestehen
diese Trübungen aus langen Stäbchen ohne Eigenbewegung mit zahlreichen
Sporen.
Das Präparat wurde zerstört und nicht weiter aufgehoben.
3) Nicht sterilisirter Prodigiosus auf Kartoffel:
30. VIII. reichlich gewuchert.
31. VIII. 3 Uhr. Makroskop. reichlicher, dicker, rother Belag.
4) Nicht sterilisirter Aspergillus auf Kartoffel:
30. VIII. Die kleinen grünen geimpften Punkte mit grauweissen Pilzrasen
umsäumt.
31. VIII. 3 Uhr. Makro- und mikroskopisch reichlich gewachsen.
5) Sterilisirter Milzbrand an Seidenfäden auf Gelatine:
Platte I. 30. VIII. 6 Uhr. Noch nirgend wo ein Hof zu erkennen.
31. VIII. Makro- und mikroskopisch kein Wachsthum.
2. IX. Nichts gewachsen.
Patte II. 30. VIII. 6 Uhr. Nirgendwo ein Hof.
31. VIII. Ohne alle Veränderungen.
2. IX. Makro- und mikroskopisch nichts gewachsen.
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128
Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig.
6) Sterilisirter, auf Kartoffel gewachsener Milzbrand. Zuchtversuch auf Kartoffel
30. VIII. Nichts gewachsen.
31. VIII. Makro- und mikroskopisch nichts gewachsen.
2. IX. desgleichen.
7) Sterilisirter Milzbrand, der auf Kartoffel gewachsen war, dann zwischen
zwei Kartoffel hälften in den Decken desinficirt worden war, auf Gelatine¬
platte geimpft:
30. VIII. Gelatine klar ohne Veränderung.
31. VIII. Makroskop. und mikroskop. ohne Veränderungen.
2. IX. Nichts gewachsen.
Da man den auf Gelatine geiinplten Milzbrandbacillen, welche mit Kar¬
toffelmasse gemischt waren, nicht ansehen konnte, ob nicht doch an einer oder
der anderen Stelle langsames Wachsthum vorhanden war, so wurde von dieser
Platte am 31. VIlI. eine Controlplatte geimpft und bis zum 5. IX. beobachtet,
jedoch in dieser Zeit kein Wachsthum gefunden. Also auch der zwischen Kar¬
toffelhälften gelegene Milzbrand war getödtet.
8) Sterilisirte Gartenerde auf Gelatine:
Platte I. 30. VIII. Ganz klar.
31. VIII. Makroskop. und mikroskop. ohne alle Wucherung.
Nach weiteren 48 Stunden also am 2. IX. reichliche wirtelförmige, daneben
auch sparsamer runde bräunliche Colonien aus den einzelnen Erdbröckchen ge¬
wachsen. Die wirbelförmigen Colonien bestehen aus einem langen schmalen Ba¬
cillus mit abgestumpften Rändern. Die bräunlichen Colonien aus einem kleine¬
ren Bacillus, der etwas breiter ist, etwa 4 mal so lang als breit.
Platte II. 30. VIII. Ganz klar.
31. VIII. Makroskop. und mikroskop. nichts gewachsen, diese Platte
wurde nicht so lange aufbewahrt, wie die vorige.
9) Prodigiosus sterilisirt auf Kartoffelhälften im Apparat gelegen, auf Kar¬
toffel geimpft:
34. VIII. Nicht gewachsen.
31. VIII. Makroskopisch und mikroskopisch nicht gewachsen.
2. XI. desgleichen.
10) Aspergillus zwischen Kartoffelhälften sterilisirt, dann auf Kartoffel ausgesät:
30. VIII. Schnittfläche feucht, geimpfte Massen etwas gequollen.
31. VIII. Makroskop. ohne Veränderungen.
2. IX. geimpfte Massen nicht weiter verändert resp. gewuchert. Am
Rande dieser Kartoffelhälfte eine ganz kleine, runde, weisse Colonie, von rahm-
artiger Consistenz, die mikroskop. ganz aus einem sehr kurzen, dicken, fast
ebenso langen als breiten Bacillus mit sehr deutlichen Sporen besteht. (Kurzer
dicker Erdbacillus, Koch.) Derselbe war, obschon die Kartoffel gekocht, gründ¬
lich mit Sublimat gewaschen und mit gut geglühtem Messer zerschnitten worden
war, doch wol mit dem Messer auf die Schnittfläche gelangt. An den geimpften
Massen absolut nichts gewachsen.
11) Prodigiosus frei im Ofen stehend sterilisirt auf Kartoffel geimpft:
30. VIII. Absolut trocken.
31. VIII. Nichts gewachsen. 2. IX. desgl.
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129
12) Aspergillus frei im Ofen stehend desinficirt auf Kartoffel geimpft:
30. VIII. Nichts gewachsen.
31. VIII. Desgleichen.
2. IX. Kein Wachsthura.
13) Am 29. VIII. 6 Uhr Abends wurden 2 Meerschweinchen mit achtem, von
Dr. R. Koch bezogenen Milzbrand an Seidenfäden in der Weise geimpft, dass
mit wohl geglühtem Messer und Pincette je drei Seidenfäden den Thieren in eine
auf dem Rücken gebildete Hauttasche gebracht wurden. Die Wunde wurde sorg¬
fältig mit carbolisirter Seide vernäht:
30. VIII. 6 Uhr Abends. Die Thiere sitzen traurig in einer Ecke des Be¬
hälters.
31. VIII. 6 Uhr Morgens. Beide Thiere todt. Um drei Uhr secirt. Im
Milzblute zahllose lange Bacillen. Milz zu weiteren Eperimenten verwendet.
14) 29. VII. 6 Uhr Abends. In der gleichen Weise wurden 2 Meerschwein¬
chen je drei im Ofen desinficirlen Seidenfäden in eine Hauttasche gebracht und
die Wunde sorgfältig genäht:
30. VIII. 6 Uhr Abends. Thiere munter.
31. VIII. Beide Thiere munter.
2. IX. Thiere leben beide und sind völlig gesund. Wunde verheilt.
5. IX. Beide Thiere gesund.
15) Bodenwasser aus dem Wagen des Apparats im Reagensglas mit Gelatine
gemischt:
30. VIII. Absolut klar.
31. VIII. Nichts gewachsen.
2. IX. Nichts gewachsen.
Aus diesem Versuch geht hervor, dass in drei Stunden selbst bei
einer Temperatur von 94 Celsius alle Bacillen und auch die Sporen des
Milzbrands getödtet waren, nicht so die Sporen der Gartenerde. Die¬
selben waren in ihrem Wachsthum verlangsamt, fingen aber nach 4 Ta¬
gen an zu wachsen. Ueberhaupt erwies sich uns auch ferner die Garten¬
erde, wie auch Koch angiebt, als das hartnäckigste beste Reagens
für die Wirksamkeit des Apparates.
I. Desinfections-Versuch am 31. August:
Der Ofen wurde wiederum mit den aufeinandorgerollten 20 Wolldecken
beschickt. In der Mitte die Thermometer, und Paquetchen aus Fliesspapier mit
Prodigiosus, Aspergillus, Gartenerde, Milzbrand an Fäden, und die Milz von dem
an Milzbrand verstorbenen Meerschweinchen, eingerollt, so dass Alles wieder mit
65facher Wollschichte umgeben war. Der Boden des Wagens wurde diesmal
nicht mit Wasser gefüllt. Der Versuch dauerte eine Stunde. Die Temperaturen
wurden alle Viertelstunden notirt.
Vierteljahrs sehr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 1.
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130
Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig,
Zeit.
Oben
Reaum. Celsius.
Unten
Reaum. Celsius.
3 Uhr 20.
—
—
—
—
3 - 35.
118
148
100
125
3 - 50.
128
160
110
138
4 - 5.
133
166
106
133
4 - 20.
134
167
107
134
Im Ballen fanden wir 102 Celsius.
1) Platte I. Desinficirte Milzbrandfäden, 3 Stück auf Gelatine geimpft:
2. IX. An den Fäden nicht gewachsen.
4. IX. Bios von einem Fadenende aus die Gelatine fünfpfennigstückgross
verflüssigt, leicht getrübt.
5. IX. Nur von diesem Fadenende aus eine raarkstückgrosse Verflüssigung
der Gelatine, die ganz grauweiss getrübt ist. Mikroskopisch besteht die Trübung
aus langen Bacillen mit Sporen ohne Eigenbewegung.
In diesen verflüssigten Hof werden desinficirte Fliesspapierstückchen eine
halbe Stunde lang zum Aufsaugen gelegt und diese Papiermassen einem Meer¬
schweinchen unter die Haut gebracht. (Siehe weiter unten unter dem 5. Septbr.)
Platte II. 3 desinficirte Seidenfäden mit Milzbrand auf Gelatine geimpft:
2. IX. Nichts gewachsen. 4. IX. Nichts gewachsen. 5. IX. Nichts ge¬
wachsen. 7. IX. Nichts gewachsen.
2) Desinficirte Milz von an Milzbrand verstorbenem Meerschweinchen auf
Gelatine geimpft:
2. IX. Von den Milzstücken aus nichts gewachsen.
5. IX. Nichts gewachsen. 7. IX. dito nichts gewachsen.
3) Desinficirte Gartenerde auf Gelatine:
2. IX. Enthält zahlreiche Colonien, die von den Erdbröckchen ausgehen,
und zwar vorwaltend zwei Formen. Eine rundliche gelbliche Colonienform, die
aus kleinen ovoiden Stäbchen besteht. Die Stäbchen haben Eigenbewegung, ge¬
färbt liegen sie vielfach diplokokkenartig aneinander. Die andere grössere Form
wächst wirtelförmig, perlmulterfarben. Die einzelnen Glieder der Colonie weisen
zierliche schlangenförmige Biegungen auf, Gelatine verflüssigend. Diese Colonion
bestehen aus länglichen Stäbchen ohne Eigenbewegung, etwa 8 mal so lang als
breit. Daneben noch eine kleine runde Kokkenform, die gefärbt sich gern sar-
cinenartig zusammenlegt.
4) Prodigiosus auf Kartoffel geimpft bleibt bis zum 5. Septbr. ohne Wachsthum.
5) Aspergillus desgleichen.
6) Ein Meerschweinchen Albino wird mit 3 desinficirten Milzbrandfäden auf
dem Rücken geimpft, in gleicher Weise wie früher:
2. IX. lebt und ist sehr munter. 5. IX. desgl. 12. IX. desgl.
7) Einem bunten Meerschweinchen wird die halbe Milz von einem der an
Milzbrand verstorbenen Thiere, die vorher im Apparat in den Wolldecken
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Prüfung des Desinfeclions Apparats der Stadt Düsseldorf. 131
desinficirt waren, in früher beschriebener Weise unter die Rückenhaut
genäht:
2. IX. Thier lebt und ist gesund und munter. 5. IX. desgl. 12. IX. desgl.
8) Ein Stück von .der Milz eines an Milzbrand verstorbenen Meerschweinchens
war zwischen zwei Kartoffelhälften mit in die Decken eingewickelt worden:
Auch von diesem Milzstück wuchs weder auf Kartoffel, noch auf Gelatine
etwas bis 5. IX.
Aus diesem Versuche geht hervor, dass eine Stunde zur völligen
Desinfection nicht genügt. Aspergillus und Prodigiosus waren zwar
getödtet, auch der Milzbrand war fast ganz getödtet, wie ja die posi¬
tiven Experimente mit Einnähen von Seidenfäden und sogar fast einer
halben Milz beweisen. Jedoch bewies das Wachsthum von einem
Seidenfaden aus, dass noch einige Sporen des Milzbrandes vermeh¬
rungsfähig geblieben waren. Wir tauchten deshalb wohl desinficirte
Fliesspäpierstückchen in die Wachsthumszone dieses Fadens, Hessen
dieselben eine halbe Stunde liegen und nähten die Fliessstückchen am
5. Septbr. einem Meerschweinchen unter die Haut. Das Thier wurde
nicht im Mindesten krank und heilten die Fliessstückchen ohne jede
Eiterung ein, noch am 16. Septbr. zeigte keins von den zu den Ex¬
perimenten verwandten Thieren die geringste Erkrankung. Die Viru¬
lenz war demnach wol vollständig geschwunden, nicht so das Wachs¬
thum. Für die Sporen der Gartenerde genügt diese kurze Zeit aber
noch viel weniger; obschon in den Decken 102 Celsius gowesen waren,
hatte die Zeit der Einwirkung nicht genügt. In der Voraussicht, dass
eine Stunde wol ungenügend sein würde, hatten wir am selben Tage
noch einen anderthalbstündigen Versuch gemacht, den ich nunmehr
folgen lasse.
II. Desinfections-Versuch am 31. August begonnen um 5*/ 4 Uhr:
Dieselben 20 Wolldecken ebenso gerollt. In der Mitte 2 Thermometer, die
Milz des zweiten an Miizbrand gestorbenen Thieres, welches am 29. VIII. inficirt
worden war. Die Milz enthielt zahllose Bacillen. Ausserdem waren darin ent¬
halten Milzbrand an Seidenfäden und Gartenerde.
Nach Beendigung des Versuchs, der V/ 2 Stunden dauerte, in den Decken
102 Celsius. Temperaturen V 4 ständige Messungen.
Oben Unten
Zeit.
Reaum.
Celsius.
R6aum.
Celsius
5 Uhr 1 5.
—
—
—
—
5 -
30.
98
123
99
124
5 -
45.
111
139
111
139
9*
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132
Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig,
Oben Unten
Zeit.
R6aum.
Celsius.
R£aum.
Celsius.
6 Uhr —.
114
143
115
144
6 - 15.
123
154
124
155
6 - 30.
129
1C1
131
164
6 - 45.
135
168
137
171
1) Milz ron an Milzbrand gestorbenen Meerschweinchen desinficirt. Auf Kar*
toffel geimpft:
2. IX. Nichts gewachsen. 5. IX. desgl. 7. IX. desgl. 9. IX. Von Milz¬
brand keine Spur.
2) Von der vorigen Milz auf Gelatineplatte gelegt:
2. IX. Nichts gewachsen. 5. IX. desgl. 7. IX. desgl. 9. IX. desgl.
3) Desinficirte Milzbrandfäden anf Gelatine:
2. IX. An den Fäden nichts gewachsen. 5. IX. desgl. 7. IX. desgl.
4) Desinficirte Gartenerde auf Gelatine:
2. IX. An der Gartenerde nichts gewachsen. 5. IX. desgl. 7. IX. desgl.
Anderthalb Stunden hatten also vollständig genügt, Alles, selbst die so
schwer zu sterilisirende Gartenerde zu tödten.
Um zu erfahren, wann wir 100 Cels. in unseren Decken erhalten haben
würden, machten wir nunmehr eine Reihe von Versuchen mit einer halben Stunde
beginnend, dann immer 10 Minuten länger, natürlich jedesmal vorher die Decken
erkalten lassend. Diese Versuche wurden am 5. September begonnen.
Oben Unten
Zeit.
Reaum.
Celsius.
Reaum.
Celsius.
2 Uhr 45.
—
—
—
—
3 - —.
87
109
80
100
3 - 15.
96
120
91
114
In den Decken 48 Grad Celsius.
Um noch genauer über die Temperaturverhältnisse im Innern des Apparats
orientirt zu sein, wurden von jetzt ab von 5 zu 5 Minuten Ablesungen derselben
gemacht.
5. September. Versuch von 40 Minuten:
Oben Unten
Zeit.
R6aum.
Celsius.
Reaum.
Celsius.
3 Uhr 35.
—
—
—
—
3 -
40.
79
99
80
100
3 - 45.
86
108
86
108
3 -
50.
90
113
88
110
3 - 50.
92
115
89
112
4 - —.
95
119
91
114
4 -
5.
97
122
92
115
4 -
10 .
99
124
93
117
4 -
15.
103
129
95
119
In 20 Wolldecken 96 Grad Celsius.
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Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf.
133
5. September. Versuch mit 50 Minuten Dauer:
Oben Unten
Zeit.
R6aum.
Celsius.
Reaum.
Celsius.
4 Uhr 30.
—
—
—
—
4 - 35.
93
117
83
104
4 - 40.
102
128
86
108
4 - 45.
106
133
97
122
4 - 50.
110
138
102
128
4 - 55.
112
140
104
130
5 - —.
113
142
105
131
5 - 5.
114
143
107
134
5 - 10.
116
145
107
134
5 - 15.
116
145
107
134
5 - 20.
117
147
108
135
In 20 Decken 99 Grad Celsius.
5. September. Versuch von 1 Stunde:
Oben Unten
Zeit.
Reaum.
Celsius.
Reaum.
Celsius
5 Uhr 42.
—
—
—
—
5 - 47.
86
108
72
95
5 - 52.
100
125
95
119
5 - 57.
101
127
95
119
6 - 2.
104
130
102
128
6 - 7.
108
135
106
136
6 - 12.
114
143
110
138
6 - 17.
115
144
112
140
6 - 22.
119
149
115
144
6 - 27.
121
152
116
145
6 - 32.
123
153
117
147
6 - 37.
124
154
117
147
6 - 42.
120
151
113
142
In den 20 Wolldecken 97 Grad Celsius.
Bei letzterem einstündigen Versuch hatten wir, da wir 100 Celsius er¬
warteten, nochmals Seidenfäden mit Milzbrandbacillen und Gartenerde mit in
die Decken eingehüllt. Zugleich hatten wir Teller, Glasglocken, Fliesspapier
gleichfalls eine Stunde im Ofen belassen. Die Platten waren sorgfältig geglüht
und ganz frische, von Dr. Rohrbeck bezogene Nährgelatine zur Verwendung
gebracht worden.
1) Desinficirte Milzbrandseidenfäden auf Gelatineplatte geimpft:
7. IX. Nichts gewachsen.
9. IX. An den Fäden nichts gewachsen. Vielleicht an einem Fadonende
beginnendes Wacbsthum.
12. IX. An den Fäden absolut nichts gewachsen. Was am 9ten Wachs¬
thum vortäuschte, waren am Faden haftende getödtete Bacillen.
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134
Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig,
2) Desinficirte Gartenerde auf Gelatineplatte:
7. IX. Nichts gewachsen.
9. IX. Reichliches Wacbsthum von den einzelnen Bröckeln aus und zwar
vorwaltend zwei Formen. Die eine Form zeigt runde gelbbraune, muschelförmige
Colonien, die mikroskopisch aus kleinen ovoiden Stäbchen' gebildet sind. Die
Stäbchen haben Eigenbewegung. Gefärbt liegen sie vielfach diplokokkenartig
aneinander. Die andere Form ist unsere alte wurzelförmige, die aus langen
Stäbchen mit Eigenbewegung besteht und die Gelatine verflüssigt. Diese Stäb¬
chen enthalten endständige Sporen. Daneben kommt noch eine wirtelförmige
Colonienform vor, die ebenfalls aus langen schmalen Stäbchen besteht, die je¬
doch keine Eigenbewegung zeigen. Diese Stäbchen liegen auch mikroskopisch
wirbelförmig aneinander und bilden aneinander gelagert Züge, die in ihrem
Verlauf an den Bau der Sarcome erinnern, wenn dieser Vergleich gestattet ist.
Die Platte verbreitete einen stark übelriechenden Geruch.
Auch in diesem Versuch hatte eine Stunde also nicht genügt, die
Sporen der Gartenerde zu tödten, sie hatte nur das Wachsthum verzögert.
Während nach zwei Tagen noch nichts gewachsen war, trat bis zum
4. Tage reichliches Wachsthum auf. Milzbrandbacillen waren definitiv
sterilisirt. — Am 9. September wurden die Versuche fortgesetzt und ver¬
wendeten wir von nun an nur noch Gartenerde zu unseren Züchtungs-
Versuchen, da sich dieselbe uns als ein so vorzügliches Reagens be¬
wiesen hatte, dass man fast mit Gewissheit von ihrem Wachsthum auf
Dauer und Höhe der angewandten Temperatur schliessen konnte.
9. September. Versuch von 1 Stunde 20 Minuten:
Oben Unten
Zeit.
R6aum.
Celsius.
R6aum.
Celsius.
2 Uhr 40.
—
—
—
—
2 -
45.
94
118
78
98
2 -
50.
100
125
81
102
2 -
55.
100
125
85
107
3 -
- .
102
128
98
123
3 -
5.
104
130
97
122
3 -
10.
105
132
100
125
3 -
15.
107
134
103
129
3 -
20.
109
137
105
132
3 -
25.
110
138
105
132
3 -
30.
110
138
106
133
3 -
35.
111
139
106
133
3 -
40.
111
139
105
132
3 -
45.
112
140
106
133
3 -
50.
107
134
103
129
3 -
55.
106
133
102
128
4 -
- .
106
133
102
128
In 20 Wolldecken wie früher gerollt 101 Cels. In den Deoken Gartenerde.
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Prüfung des Desinfeciions-Apparats der Sfydl Düsseldorf.
135
Bei dem nächsten und den folgenden Versuchen wurde in der Mitte der
Thür noch ein Thermometer eingeschaltet, welches 67 Ctm. von dem oberen
und ebenso 67 Ctm. von dem unteren entfernt war.
9. September. Versuch 1 Stunde 10 Minuten:
Oben Mitten Unten
Zeit.
Reaum.
Celsius.
R6aum.
Celsius.
Reaum
Celsius
4 Uhr 20.
—
—
—
—
—
—
4
- 25.
78
98
79
99
77
97
4
- 30.
95
119
96
120
92
115
4
- 35.
97
122
99
124
95
119
4
- 40.
99
124
101
127
97
122
4
- 45.
103
129
104
130
102
128
4
- 50.
106
133
105
132
102
128
4
- 55.
107
134
107
134
104
130
5
- - .
109
137
109
137
105
132
5
- 5.
110
138
111
139
107
134
5
- 10.
114
143
114
143
108
135
5
- 15.
113
142
114
143
109
137
5
- 20.
113
142
115
144
109
137
5
- 25.
113
142
115
144
109
137
5
- 30.
112
140
115
144
108
135
ln den wie früher gerollten 20 Wolldecken, die ebenfalls Gartenerde ent¬
hielten, 101 Celsius.
1) Platte mit Nährgelatine, die mit Gartenerde, die 1 Stunde 10 Minuten
desinficirt war, beschickt worden:
12. IX. Nichts gewachsen, Gelatine absolut klar.
15. IX. Absotut steril.
2) Platte mit eine Stunde 20 Minuten lang desinficirter Gartenerde geimpft:
12. IX. Nichts gewachsen, Gelatine klar.
15. IX. Absolut steril. —
12. September. Um zu erfahren, ob und in welcher Zeit man in völlig
durchnässten Wolldecken die Temperatur von 100 Celsius erreicht, wurde fol¬
gender Versuch gemacht. Die Thermometer, wie immer in 20 Wolldecken gehüllt,
so dass 65 fache Wollschichte sie umgiebt. Das ganze Paquet 1 V 2 Meter lang,
34 Meter breit, 28 Ctm. hoch. Zuerst bei offenstehenden Thüren 5 Minuten lang
starke Brause mit nur massig warmen Wasser. Dann die Thüren geschlossen
und l’/j Stunden der Wirkung von heisser Luft und Dampf ausgesetzt:
Oben Mitten Unten
Zeit.
Reaum.
Celsius.
Reaum.
Celsius.
Reaum.
Celsiu
2 Uhr 40.
—
—
—
—
—
—
2 .
45.
75
92
66
83
66
83
2 -
50.
74
93
73
92
71
89
2 -
55.
77
97
77
97
77
97
3 - —.
79
99
78
98
80
100
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UNIVERSUM OF IOWA
136
Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig,
Oben Mitten Unten
Zeit.
Reaum.
Celsius.
Reaum.
Celsius.
Reaum.
Celsius.
3 Uhr 5.
80
100
80
100
81
102
3 - 10.
81
102
84
105
86
108
3 - 15.
81
102
84
105
88
110
3 - 20.
93
117
96
120
90
113
3 - 25.
94
118
98
123
98
123
3 - 30.
96
120
98
123
90
113
3 - 35.
98
123
101
127
91
114
3 - 40.
98
122
103
129
92
115
3 - 45.
99
124
105
131
93
116
3 - 50.
100
125
107
134
94
118
3 - 55.
93
117
99
124
93
116
4 - —.
102
128
109
136
94
118
4 - 5.
103
129
111
139
97
122
4 - 10.
104
130
112
140
95
119
Nach Beendigung des Versuchs fanden wir 97 Celsius.
Wir hatten also die Temperatur von 100 Cels. nicht erreicht; woran dies
lag, sollte der folgende Versuch uns lehren. Wir hatten die Thüre während des
Brausens offen gelassen und dadurch unseren Apparat zu sehr abgekühlt. Bei der
Menge Wasser dauerte es sehr lange, fast über eine Stunde, ehe wir oben und in
der Mitte die Temperatur von 100 Reaumur erreichten. —
Ganz anders verhält es sich, wenn man, sonst in der gleichen Weise ver¬
fahrend, bei geschlossenen Thüren die warme Brause einwirken lässt, wie der
Versuch vom 15. September lehrt.
15. September. Versuchsdauer 1 Stunde 20 Min. 5 Minuten lang heisse
Brause bei geschlossenen Thüren. Wolldecken wie sonst:
Oben Mitten Unten
Zeit.
R6aum
. Celsius.
Reaum
. Celsius.
Reaum.
Celsius
2 Uhr 35.
heisse Brause bis
2 Uhr 40 Minuten.
2
-
40.
78
98
77
97
76
95
2
-
45.
79
99
79
99
78
98
2
-
50.
80
100
82
103
82
103
2
-
55.
82
103
96
120
95
119
3
-
— .
97
121
104
130
100
125
3
-
5.
101
126
106
133
101
126
3
-
10.
103
129
107
134
102
128
3
-
15.
102
128
107
134
102
128
3
-
20.
104
130
109
136
104
130
3
-
25.
104
130
110
138
105
132
3
-
30.
101
126
110
138
102
128
3
-
35.
105
132
112
140
106
133
3
-
40.
106
133
114
140
104
130
3
-
45.
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116
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Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf.
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Oben Mitten Unten
Zeit.
Reaum.
Celsius.
R6aum.
Celsius.
Reaum.
Celsius.
3 Uhr 50.
108
135
117
146
in
139
3 - 55.
110
138
119
149
113
141
4 - —.
112
140
121
151
114
143
4 - 5.
114
143
123
154
116
145
Hier erreichten wir die Temperatur 100 Reaumur im Apparat schon nach
einer halben Stunde und fanden demgemäss auch in unseren Decken 100 Cel¬
sius. Höher konnte das Thermometer ja nicht steigen, da die Decken ja völlig
durchnässt waren, so lange Wasser vorhanden aber keine höhere Temperatur
ein treten kann.
Um weiterhin einen Anhaltspunkt dafür zu gewinnen, ob die Theorie
des Herrn Walz, der behauptet, dass die Schwierigkeit,'hohe Tempe¬
raturen in den Desinfectionsgegenständen zu erlangen, in der Schwierig¬
keit, alle Luft aus den Gegenständen herauszubringen, begründet ist,
resp. ob sich experimentell dafür Beweise erbringen lassen, dass, wenn
man die Luft verhindert, ganz aus den Gegenständen herauszufallen
durch die Wirkung der überhitzten Dämpfe, dass dann bei sonst glei¬
chen Bedingungen, die lufthaltigen Gewebe kälter sind, als die Ge¬
webe, worin die Luft durch Dämpfe verdrängt worden sind, wurde
noch folgender Versuch angestellt.
Es wurden zwei Paquete in den Apparat gebracht. Jedes Paquet bestand
aus 10 Wolldecken, die in der Mitte zusammengefaltet waren und dann in der
üblichen Weise zusammengerollt. Das Thermometer in der Mitte war nunmehr
gleichfalls mit 65facber Wollschichte umgeben, nur jetzt 65 Ctm. lang, jedoch
wie früher 34 Ctm. breit und 28 Ctm. hoch. Das eine Paquet wurde frei in dem
Apparat aufgehängt, das andere in einen eisernen, oben offenen Kasten gelegt,
so dass die Oberfläche frei war, nur die Seiten und die untere Fläche war von
einer frei im Apparat stehenden Schichte Eisenblech umgeben, jedoch dem
Paquet nicht dicht anliegend, so dass der warmen Luft und dem Dampf die
Möglichkeit blieb das Paquet allseitig zu umspülen.
5 Minuten vor 6 Uhr wurde die Thüre des Apparats geschlossen. Versuchs¬
dauer 1 Stunde 20 Minuten.
Oben Mitten Unten
Zeit.
Reaum.
Celsius.
Reaum.
Celsius.
Reaum.
Celsius.
5 Uhr 55.
—
—
—
—
—
—
6
- —.
80
100
77
97
67
84
6
- 5.
80
100
79
99
76
95
6
- 10 .
79
99
78
98
79
99
6
- 15.
80
100
87
109
87
109
6
- 20.
81
101
93
116
90
113
6
- 25.
87
109
95
119
92
115
6
- 30.
92
115
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138
Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig,
Oben Mitten Unten
Zeit.
Röaum.
Celsius.
Reaum.
Celsius.
Reaum.
Celsius.
6 Uhr 35.
95
119
101
127
96
120
6 - 40.
98
123
104
130
98
123
6 - 45.
101
127
106
133
101
127 ')
6 - 50.
105
131
111
139
95
119
6 - 55.
106
132
113
141
106
132
7 - —.
107
134
112
140
106
132
7 -
5.
107
134
114
143
106
132
7 -
10.
109
136
117
146
109
136
7 - 15.
114
143
120
150
113
141
Im freihängenden Ballen fanden wir 103 Celsius. Im von den Seiten und
unten umschlossenen Ballen dagegen nur 65 Celsius, obschon die Decken an¬
scheinend sehr heiss sich anfiihlten und durchaus feucht waren von Niederschlags¬
wasser. Unsere freischwebenden Decken dagegen waren nur leicht feucht und
nach dem Ausbreiten, wie immer, sofort trocken.
Formulirt man nun die Ansprüche, welche man an einen guten
stabilen Desinfectionsapparat stellen kann, so muss man für eine
grosse Stadt, zumal für Zeiten der Gefahr folgende Postulate stellen:
1) Der Apparat muss genügende Grösse haben. Dieser Forderung
entspricht unser Apparat, indem er einen Rauminhalt von
4,5 Cubikmeter enthält.
2) Der Raum zur Beschickung des Apparats mit inficirten Gegen¬
ständen, soll möglichst von dem Raum, wo nachher die des-
inficirten Gegenstände herausgenommen werden, getrennt sein.
Dieser Forderung wird der Apparat auf das Vollständigste ge¬
recht.
3) Leichte Beschickung und Handhabung desselben. Durch die
grossen eisernen Wagen ist die Beschickung möglichst einfach,
die Desinfection selbst kann leicht durch einen nur einiger-
massen verständigen Arbeiter besorgt werden.
4) Die desinficirten Effecten dürfen nicht verdorben werden. Wäsche-
theile erhielten hin und wieder leichte Flecken bei unserem
Verfahren, die aber leicht auszuwaschen sind. Selbst die aller¬
feinste Wäsche wurde zum Versuch genommen, ohne jeden
') Die Schwankungen in den Thermometern, welche sich daduroh bekunden,
dass plötzlich ein Thermometer um mehrere Grade fällt (wie hier um 8 Grad), um
dann in den nächsten 5 Minuten wieder um ebenso viel oder mehr zu steigen,
sind durch an den Wänden des Apparats herunterfliessendes Condensationswasser
herbeigeführt.
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Prüfung des Desinfections-Apparats der Stadt Düsseldorf.
139
Schaden zu leiden. Echte Farben werden ebenfalls nicht an¬
gegriffen.
5) Dass der Apparat es möglich macht, im Inneren grösserer
Effecten 100 Cels. zu erreichen.
Dieser Punkt 5. zerfiel bei unserer Prüfung in mehrere Versuche,
da es uns besonders darauf ankam zu wissen: wann sind 100 Cels.
in den Effecten erreicht.
Wie vorstehende detaillirte Versuche ergeben, geschieht dies in
einer Stunde und zehn Minuten bei genügender Heizung; damit jedoch
diese Temperatur sicher erreicht wird, ist es nöthig, dass die Tem¬
peratur des mittleren Thermometers eine halbe Stunde lang zwischen
130 und 140 Cels. erhalten bleibt. Je nach stärkerer oder gerin¬
gerer Heizung kann die Desinfectionszeit gekürzt werden, jedoch nicht
über ein bestimmtes Maass hinaus, da bei höher als 140—150 Cels.
liegenden Temperaturen die Effecten geschädigt werden können. Im
Allgemeinen reicht eine Zeit von 1\ 4 bis l'/ 2 Stunde bei vorgewärm¬
tem Apparat völlig hin, alle Effecten sicher zu desinficiren. Man
kann deshalb in Zeiten der Gefahr den grossen Raum des Apparats
mindestens sechs- bis achtmal an einem Tage beschicken und wird der¬
selbe deshalb schon sehr grossen Anforderungen entsprechen können.
6) Müssen die zur Zeit bekannten widerstandsfähigsten lnfections-
kcime Milzbrandsporen und die am meisten widerstandsfähigen
organischen Keime überhaupt, die Sporen der Gartenerde, ge-
tödtet werden.
Bei den Versuchen stellte sich nun heraus, dass Milzbrandsporen
und Bacillen, wie auch schon Koch gefunden, bei genügend langer
Zeit auch schon durch Temperaturen unter 100 Cels. getödtet werden.
Besonders lehrreich ist in dieser Beziehung unser erster Versuch. Die
Sporen der Gartenerde erwiesen sich auch uns als bestes Reagens für
die Wirksamkeit des Apparats, so dass man mit Sicherheit sagen
kann, wenn Gartenerde wächst, so waren keine 100 Celsius in den
Effecten und umgekehrt. Auch diesem Postulat genügt der Apparat
in vollkommener Weise.
Damit hatte sich der Apparat als vollständig leistungsfähig und
sehr leicht handlich erwiesen. Es blieb bei den Versuchen aber noch
Verschiedenes zu berücksichtigen, und zwar in erster Linie die heisse
Brause. Dieselbe war zunächst mit Rücksicht auf Incrustirungen mit
getrockneten Borcken von eiweisshaltigen Stoffen, Dejectionen u. s. w.
gefordert worden, da es a priori nicht vorauszusehen war, ob dieser
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140
Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig,
feine, überhitzte Dampf diese Krusten vollständig desinficiren würde.
Wie sich bei den Versuchen heraustellte, ist die heisse Brause min¬
destens überflüssig, wenn nicht schädlich. Das abfliessende Brause¬
wasser wird zwar vollständig desinficirt, wie der Versuch mit Nähr¬
gelatine im Reagenzglas beweist, die Effecten werden aber so stark
durchnässt, dass eine nachherige längere Trockenperiode bei stärkerer
Ventilation nöthig ist, um dieselben zu trocknen. Hat man nur über¬
hitzten Dampf angewandt, so sind die Effecten nur leicht feucht und
sofort nach der Herausnahme trocken. Man braucht also bei diesem
Apparat keine Trockenperiode. Ferner ist es viel schwieriger, in den
stark durchfeuchteten Effecten 100 Celsius zu erreichen, da die stark
erhitzten Dampftheile die einzelnen Wassertröpfchen in den Gewebs-
maschen erwärmen müssen, wohingegen sie sonst nur die Luft in den
Gewebstheilen zu verdrängen haben, die dann nach dem Gesetz der
Schwere herausfällt. Auch für diese Vorstellung der Herren Walz
und Windscheidt suchten wir einen experimentellen Anhalt zu fin¬
den, indem wir den Versuch vom 15. September anstellten, und ist
die grosse Temperaturdifferenz, die wir dabei erhielten, sehr auffallend.
Möglicherweise liegt auch in der starken Durchnässung der Effecten
bei strömendem Dampf der Hauptgrund, warum so schwer 100 Cels.
erreicht werden. Wasser für sich kann bei 1 Atmosph. Druck nicht
höher als auf 100 Celsius erhitzt werden. Wenn also Dampf durch
Effecten streift, die kälter sind wie Dampf, so muss sich Conden-
sationswasser bilden und die Temperatur steigt nunmehr nur noch
sehr schwer über 98 Celsius, da sich im freien Raum schon bei nie¬
drigerer Temperatur Dampf bildet; daher auch die Nothwendigkeit,
neben strömendem Dampf noch indirecte Erwärmung anzuwenden.
Der dünne überhitzte Dampf bewirkt weniger Condensationswasser in
den Gegenständen und dringt deshalb nach mechanischen Gesetzen
leichter ein.
Eine praktisch wichtige Frage ist ferner: wie lange Zeit gebraucht
man, um den Apparat genügend vorzuwärmen? Diese Zeit nun ist
eine relativ lange, nämlich zwei bis zwei und eine halbe Stunde. Es
liegt dies in der grossen Masse von Mauerwerk, welches zuerst enorme
Wärmequanta in sich aufnimmt, dann aber auch lange in sich fest¬
hält. Hat man den Apparat erst vorgewärmt, so kann man rasch
aufeinander folgend grosse Massen desinficiren, wenn man die Vorsicht
gebraucht, die Thürcn wieder rasch zu schliessen. In Zeiten der Ge¬
fahr wird man leicht am Tage den Ofen 7 bis 8mal füllen können.
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Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig
144
Dr. Fleischhauer und Dr. Mittenzweig:.
Ist der Ofen am Tage vorher geheizt worden, so ist die Vorwärm¬
periode eine wesentlich kürzere.
Die Ursache, warum bei unserem Apparat so viel Mauerwerk
verwendet ist, liegt an örtlichen Verhältnissen, die hier so günstig
lagen, wie wol selten. Der alte, nunmehr geschlossene städtische
Friedhof enthält ein grosses Leichenhaus, welches als Desinfections-
haus eingerichtet wurde. Daher auch die luxuriöse Raumverschwen¬
dung bei Bemessung der Aufnahmeräume für desinficirte, resp. infi-
cirte Gegenstände. An Orten, wo weniger Raum zu Gebote steht,
wird man leicht den Apparat modificiren können. Ein grosser Theil
des Mauerwerks kann fortfallen, der Desinfectionsofen selbst kann mit
anderem Material als mit Mauerwerk isolirt werden u. s. w. Wenn
weiter oben gesagt wurde, dass zur Bedienung des Apparats jeder nur
einigermassen verständige Arbeiter verwendet werden könne, so ist
dies für die Bedienung richtig.
Ganz anders ist es aber bei Beurtheilung der Frage, ob genügend
desinficirt ist. Eine strenge Controle ist hier gar nicht zu entbehren,
und müssen wir hier den Ausführungen von Prof. M. Wolf 1 ) völlig
beipflichten. Man wird in allen Fällen den jeweiligen Desinfector gut
einschulen und denselben ausserdem auch für die Folge möglichst
oft und ausgiebig controliren müssen. Wie die oben angeführten
Versuche beweisen, wird man immer sicher sein, dass alle Sporen
sterilisirt sind, wenn die Desinfectionszeit mindestens fünfviertel
Stunden gedauert und die Temperatur im Ofen während der letzten
halben Stunde mindestens zwischen 130 und 140 Celsius sich bewegt
hat. 150 Celsius sollen nicht überschritten werden, da sonst leicht
Schäden an den Objecten entstehen können. Wenn nun auch gerin¬
gere Temperaturen bei genügend langer Zeit im Stande sind, alle be¬
kannten Krankheitsstoffe zu tödten, so haben wir doch geglaubt, in
jedem Falle das höchste Postulat stellen zu müssen und deshalb in
den Instructionen des Desinfectors die Forderung gestellt, dass min¬
destens eine halbe Stunde lang die Temperatur des Ofens 130 bis
140 Celsius betragen haben muss.
Abweichungen von dieser Vorschrift sind nur dem controlirenden
Arzte gestattet.
*) Virchow’s Archiv Bd 102. l.Hft.
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2 .
Bemrknagei über den für die Stadt Düsseldorf bestimmten
Desinfections-Apparat
Ton
H. Merke,
Verwaltungs-Director dos städtischen Krankenhauses Moabit
Dem Wunsche der Redaction gemäss habe ich die von den Herren DDr.
Fleischhauer und Mittenzweig gelieferte Abhandluug: „Prüfung des Des-
infections-Apparates der Stadt Düsseldorf“ einer genaueren Durchsicht unter¬
worfen und erlaube mir meine Ansicht über den in derselben beschriebenen
Desinfections-Apparat in Folgendem mitzutheilen.
Vorausschicken möchte ich noch, dass sowohl die der Abhandlung beiliegen¬
den Zeichnungen, als auch die Beschreibung des Apparates selbst in ihren De¬
tails nicht genau durchgeführt sind und deshalb das Verständnis der einzelnen
Anordnungen der Gesammtanlage besonders für Laien ziemlich erschweren dürf¬
ten. Namentlich für die Zeichnungen erscheint es dringend nothwendig, dass die
einzelnen Theile mit Buchstaben bezeichnet werden, deren Erläuterung im Text
zn geben wäre. Auf Einzelheiten, welche mir in dieser Beziehung besonders auf¬
gefallen sind, erlaube ich mir weiter unten zurückzukommen.
Was zunächst die Construction des Apparates und seiner Adnexa, der
beiden Heizvorrichtnngen und des Dampfentwicklers, betrifft, so dürfte gegen die
technische Durchführung derselben nicht viel zu erinnern sein. Der zur Auf¬
nahme der Desinfectionsobjecte bestimmte herausfahrbare Wagen, den ich zuerst
vor 4 Jahren am Schlüsse meiner in dieser Zeitschrift veröffentlichten Abhand¬
lung „Ueber Desinfections-Apparate und Desinfectionsversuche“ in Vorschlag
brachte, hat sich als praktisch bewährt und ist seit jener Zeit bei der grossen
Mehrzahl der bisher erbauten Desinfections-Apparate (beispielsweise bei allen
Schimmel’schen) in Anwendung gekommen. Noch vortheilhafter, wie in dem
vorliegenden Falle, ist die Construction desselben in den Schimmel’schen Appa¬
raten, in denen die Vorder- und Rückseite des Wagens aus einer festen Wandung
besteht, welche beim Herausziehen desselben den Apparat nach aussen ziemlich
vollständig abschliesst, so dass während des Ausladens der desinficirten Gegen¬
stände der Innenraum des Apparates vor Abkühlung geschützt wird.
Die Heizanlage für die Erwärmung dos Apparates und Ueberhitzung des
in denselben gelassenen Dampfes ist eine sehr einfache und erzeugt, wie dies
auch bei den betreffenden Versuchen durch Temperaturmessungen constatirt ist,
sobald die Steinwandungen des Apparates genügend erwärmt sind, in kurzer Zeit
sehr hohe Hitzegrade im Innern desselben; es haften ihr jedoch, meiner Ansicht
nach, zwei grosse Fehler an: erstens ist es bei der vorliegenden Construction
nicht möglich die Temperatur im Apparat in der Weise zu reguliren, dass über¬
mässige Hitzegrade, die zerstörend auf die Desinfectionsobjecte einwirken, aus¬
geschlossen sind, und zweitens werden sich stets auf den gusseisernen Rippenheiz¬
körpern, die hauptsächlich in den dem Apparat am nächsten liegenden Windun-
Viertellahrsschr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 1.
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crteljahrsschr. f. ge
Googl
10
Original fro-m
UNiVERSITY OF IOWA
146
H. Merke,
gen sehr bald glühend werden, Staubtheile ansammeln, welche hier verkohlen,
durch die Circulation der Luft in den Apparat gelangen, und die in demselben
befindlichen Desinfectionsobjecte ähnlich wie bei dem Raetke’schen Desinfec-
tionsapparate stark verunreinigen. Ausserdem werden die Wandungen der Rip¬
penheizkörper bei täglicher Benutzung durch die hindurchstreichende Flamme
sehr angegriffen, so dass häufige und — da dieselben schwer zugänglich sind —
auch zeitraubende Reparaturen nothwondig werden dürften.
Die Zuführung der heissen Luft und späterhin des überhitzten Dampfes von
den Heizkörpern aus erfolgt nach dem Längenschnitt in der Zeichnung nur auf
der einen Seite des Apparates; hierdurch wird aber auf der entgegengesetzten
Seite ein Stagniren der Luft- resp. Dampfcirculation zu Stande kommen, d. h. es
werden sich dort gerade die sogenannten todten Punkte bilden, welche nach der
auf Seite 123 ausgesprochenen Ansicht durch die neue Construction (Zuleitung
des Dampfes von oben) vermieden werden sollen.
Von dem oberhalb des Apparates befindlichen Dampfentwickler findet der
Zeichnung nach die Entnahme des Dampfes ungemein tief (anscheinend unter¬
halb der Mitte des Gefässes) statt; es erscheint hiernach nicht ausgeschlossen,
dass bei einem stärkeren Aufwallen des kochenden Wassers nicht allein Dampf,
sondern auch Wasser in das Dampfableitungsrohr übergerissen und als solches in
den Apparat gelangen wird; dies bewirkt ein Durchnässen der Effecten, welches
das schnellere Eindringen der Hitze in dieselben verhindert, also den Desinfec-
tionsprocess verlangsamt, ganz abgesehen von der Beschädigung der Stoffe
durch das Wasser selbst. Auch dieser Uebelstand sollte nach Ansicht der be¬
treffenden Autoren in dem neuen Apparat ausgeschlossen sein (cf. Seite 140).
Ferner finde ich auf Seite 125 den Satz: „Frische Dämpfe werden nur in dem
Maasse zugeführt, als solche durch Undichtigkeiten und Condensation in dem Ap¬
parat verloren gehen“, allein weder in der Zeichnung, noch in der Beschreibung
ist angedeutet, in welcher Weise eine derartige Regulirung der Dampfzufuhr zu
Stande kommen soll; ist die letztere aber eine continuirliche, so wird man es im
Apparat nicht, wie angenommen, mit „dünnem überhitzten Dampf“, sondern,
wie in den übrigen Apparaten, mit compacteren Dampfmassen zu thun haben.
Es wird schliesslich ein grosses Gewicht darauf gelegt, dass der vorliegende
Apparat eine grosse Abzugsöffnutig am Boden hat. aus der die Luft entweichen
kann. Soweit sich dies nach der Zeichnung (Längen- und Querschnitt) beurtheilen
lässt, führt diese Abzugsöffnung in einen Canal, der zuerst vertical nach unten
steigt, hierbei in seinem unteren Drittel mit demRaum, in dem sich die Heizregister
befinden, communicirt, und sodann in einen horizontalen Canal übergeht, der, in
der Längsaxe des Gebäudes verlaufend, in einen Abzugsschlot mündet. (Genaueres
hierüber fehlt leider sowohl in der Zeichnung, wie in der Beschreibung.)
Diese Abzugsöffnung nun wird nach oben von dem festen Boden des Wa¬
gens überdacht, so dass die Luft, welche hier entweichen soll, nur durch den
zwischen Wagen und den gemauerten Seitenwänden befindlichen Zwischenraum
hindurchtreten kann, ein directes Abführen der im Desinfectionsraum vorhandenen
Luft auf dem kürzesten Wege gerade nach unten, ist also nicht möglich, da dem
der Boden des Wagens im Apparat entgegensteht. —
Der Düsseldorfer Desinfectionsapparat beruht, wie alle neueren Apparate,
auf dem Princip der Anwendung von Hitze als Desinfectionsmittel; während je-
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Ueber den für Düsseldorf bestimmten Desinfections-Apparat.
147
doch in den übrigen Apparaten strömende Wasserdämpfe als Ueberträger der
Hitze in die Desinfectionsobjecte benutzt werden, soll dieselbe im vorliegenden
Falle in Form von überhitztem dünnen Dampf auf die Effecten wirken, in sie
eindringen. Ueber die Art und Weise des Eindringens dieses Dampfes in die Ob¬
jecte wird nun folgende Theorie aufgestellt: Luft von gewöhnlicher Temperatur
ist schwerer als erhitzte Luft, erhitzte Luft schwerer als Wasserdämpfe, beson¬
ders als die stark verdünnten überhitzten Wasserdämpfe; wird also ein Gegen¬
stand, in dem gewöhnliche atmosphärische Luft vorhanden ist — beispielsweise
ein aus zusammengerollten wollenen Decken bestehender Ballen — rings von
überhitzten und deshalb stark verdünnten Dämpfen umspült, so ist die Gewichts¬
differenz zwischen der in diesem Gegenstand vorhandenen Luft und den umge¬
benden Dämpfen eine sehr grosse, es muss also, wenn anders die Wandungen
des Gegenstandes durchlässig sind, wie in diesem Fall die wollenen Decken, die
Luft aus dem Gegenstand vermöge ihrer Schwere herausfallen und an Stelle der
entwichenen Luft nun dringen eben jene überhitzten Dämpfe bis in das Innere
des Ballens vor. Dass die Gewichtsdifferenz zwischen der kälteren Innenluft und
der warmen äusseren Luft, resp. Dampfschichten ein Herausfallen der ersteren
und Eindringen der letzteren begünstigt, muss zugegeben werden, allein eine
ausreichende Erklärung für das leichtere Eindringen von heissen Wasserdämpfen
in voluminösere Packete gegenüber der Einwirkung von heisser Luft ist hierdurch,
meiner Ansicht nach, durchaus noch nicht gegeben. Lägen die Verhältnisse so
einfach, so müsste auch Luft von 140°C. und darüber in verhältnissmässig kür¬
zerer Zeit in das Innere von zusammengeschnürten Wolldecken-Packeten u. s. w.
eindringen, als dies nach denVersuchen von Koch und Max Wolff der Fall ist,
denn gerade diese Versuche ergaben, dass nach einer vierstündigen Einwirkung
von trockener Hitze bis zu 160 0 C. selbst in kleineren Packeten nur eine Innen¬
temperatur von 51 — 64 °C. erzielt werden konnte, während schon eine einstün-
dige Anwendung von strömenden Wasserdämpfen, deren höchste Temperatur
116° C. betrug, genügte, um in der Mitte eines Ballen von 22 fest zusammen¬
geschnürten wollenen Decken eine Temperatur von 104° C. herbeizuführen
(cf. Virchow’s Archiv f. path. Anat. Bd. 102. Heft I. S. 113). Der Hergang
ist jedenfalls viel complicirter, als ihn obige Theorie darstellt und scheint mir
nachfolgende Erklärung für denselben der Wirklichkeit bedeutend mehr zu ent¬
sprechen, wenngleich ich zugestehen will, dass mit ihr durchaus noch nicht alle
massgebenden Momente erschöpft sind: Soll Wärme in irgend einen Gegenstand
eindringen, so wird dies um so leichter geschehen, je besser die Wärmeleiter
sind, aus denen das Object besteht. Ein Ballen von 22 wollenen Decken, die
derartig zusammengerollt und geschnürt sind, dass von keiner Seite ein Luftcanal
direct in das Innere des Packetes führt, setzt dem Eindringen einer höheren Tem¬
peratur den grösstmöglichen Widerstand entgegen, denn nicht nur sind die Woll-
haare, aus denen die Decken bestehen, sehr schlechte Wärmeleiter, sondern auch
die zwischen den einzelnen Lagen der Decken und zwischen dem Gespinnst der
letzteren befindlichen ruhenden Luftschichten sind als mindestens ebenso
schlechte Wärmeleiter zu betrachten. Soll nun eine höhere Temperatur in dom
Innern eines solchen Ballens herbeigeführt werden, so erreicht man dies am leich¬
testen und schnellsten durch ein Medium, welches wenigstens einen der vorgenann¬
ten schlechten Wärmeleiter in einen besseren umwandelt und dieses Medium hat
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H. Merke,
Koch in den strömenden heissen Wasserdämpfen gefunden. Kommen diese
letzteren mit dem Ballen in Berührung, so dringen sie in die am meisten nach
aussen gelegenen Spalten des Gewebes ein und verdrängen die vorhandenen Luft¬
schichten, erfüllen den frei gewordenen Raum und würden nun, falls die Einwir¬
kung des Dampfes nur eine schnell vorübergehende wäre, vermöge ihrer Wärme¬
abgabe allmälig zu Wasser condensiren. Da aber fortwährend heisse Wasserdämpfe
nachströmen, so wird von diesen der entstandene Wärmeverlust gedeckt, auch die
nächstfolgenden Luftschichten werden verdrängt, der von ihnen besetzt gewesene
Raum füllt sich mit heissem Wasserdampf und dieser Vorgang wiederholt sich so
lange, bis der Dampf, der von allen Seilen auf den Ballen eindringt, bis zum Mittel¬
punkt desselben gelangt ist und die gewünschte Temperatursteigerung bewirkt hat.
Ein Condensiren des Dampfes zu Wasser tritt, wenn derselbe die nöthigen
Wärmegrade besitzt, nicht ein, da erstlich stetig heisser Dampf nachströmt, also
der Wärmeverlust gedeckt wird, und ausserdem die Wollenfaser kraft ihres
schlechten Wärmeleitungsvermögens demselben auch nur eine entsprechend ge¬
ringe Wärmemenge auf einmal zu entziehen im Stande ist. Dass ein vorher
durchnässter Ballen um so viel schwieriger zu durchwärmen ist, wie ein trocke¬
ner erklärt sich dadurch, dass in diesem Falle die in dem Gewebe vorhandenen
Hohlräume, die im trockenen Ballen Luft enthalten, zum grössten Theil mit
Wasser erfüllt sind, zu dessen Erhitzung dem einströmenden Dampfe ungleich mehr
Wärme entzogen werden muss, als zur Erwärmung der Luftschichten gebraucht
wurde. Trotzdem gelang es übrigens Max Wolff (a. a. 0. 117) in einem
Ballen von 22 wollenen Decken, von denen die äusseren 12 total durchnässt
waren, durch 2 ständige Einwirkung von heissen strömendeu Wasserdämpfen
eine Mittentemperatur von 101° C. zu erzielen.
Nach obigen Auseinandersetzungen ist also bei der Hitzedesinfection das
Hauptgewicht auf die Einwirkung strömender, stetig in Bewegung befindlicher
heisser Wasserdämpfe zu legen, da diese allein das wirksame desinficirende
Agens repräsentiren.
Wenn dem gegenüber in der vorliegenden Abhandlung (S. 125) gesagt
wird: „Der Hauptunterschied des Apparates von den bisher construirten
beruht also darauf, dass nicht strömender Wasserdampf, sondern ruhender,
resp. nur leicht bewegter Dampf überhitzt wird“, so erlaube ich mir zu be¬
merken, dass meiner Ansicht nach grade zwischen dem Desinfectionsraum und
der unteren Hoizungsanlage eine sehr rege Circulation der Luft resp. der Dämpfe
stattfinden muss, die einerseits durch die Temperaturdifferenz zwischen den oben
zugeführten Dämpfen des kochenden Wassers und der über den Rippenheiz¬
körpern befindlichen erhitzten Luft (150—160° C. und darüber), andererseits
aber auch dadurch hervorgerufen wird, dass die am Boden des Apparates vor¬
handene grosse Abzugsöffnung durch einen geräumigen Canal mit der Aussen-
luft communicirt. Die vorliegenden Versuche sind in der Zeit vom 29. August
bis zum 15. September, d. h. in einer Jahreszeit gemacht, in der die Aussen-
temperatur verhältnissmässig hoch ist, in kälteren Jahreszeiten wird durch die¬
sen Abzugskanal sehr häufig nicht nur ein Abführen der Innenluft, sondern
gleichzeitig ein Zuströmen der schweren Aussenluft zu Stande kommen, die ihrer¬
seits wieder Temperaturdifferenzen in der Desinfectionskammer hervorruft.
Es scheint mir demnach, dass der vorliegende Apparat im Princip mit den
früheren Apparaten übereinslimmt, insofern auch in ihm die Hitze in der Form
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Ueber den fdr Düsseldorf bestimmten Desinfections-Apparat.
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von circulirenden heissen Wasserdämpfen auf die Desinfectionsobjecte einwirkt
resp. in dieselben eindringt, und dass nur in Bezug auf die Wärmequellen, d. h.
den Ort, an dem diese heissen Wasserdämpfe erzeugt werden, eine Differenz vor¬
liegt. Während in den bisher gebräuchlichen Apparaten die Dämpfe in einem be¬
sonderen Dampfkessel erzeugt und von diesem aus als so zu sagen fertige, auf die
nöthigen Hitzegrade gebrachte Dämpfe in den Apparat geleitet wurden, geschieht
in dem Düsseldorfer Apparat das Erhitzen des Dampfes im Apparat selbst und zwar
durch dieEinwirkung von heisser, bis auf 160 und mehr Grade C. gebrachter Luft.
Bezüglich der praktischen Verwendbarkeit des Düsseldorfer Apparates im
Vergleich zu den bisher gebräuchlichen erlaube ich mir Folgendes zu bemerken:
1) Die in dem ersteren erhaltene Temperatur zeigt in sämmtlichen Versuchen,
in denen in dem Ballen von 20 wollenen Decken die erforderliche Temperatur¬
höhe von 100°C. erzielt war, Steigerungen bis zu 140°C.; in einzelnen Versuchen
stieg dieselbe bis zu 160°C. an. Derartig hohe Temperaturen wirken aber erfah-
rungsgemäss auf eine grosse Anzahl vonDesinfectionsobjecten, besonders auf Lein¬
wand, Shirting u.dergl., sobald sie bei denselben wiederholentlich zur Anwendung
kommen, zerstörend ein, indem das Gewebe gelockert und leicht zerreisslich wird.
Bei Temperaturen unter 130 0 C. konnte, wie die Versuche zeigen, die geforderte
Temperaturhöhe von 100° C. im Innern des Ballens nicht erreicht werden.
Eine Regulirung der Temperatur in dem Sinne, dass eine Maximaltempe¬
ratur von 130°C. nicht überschritten wird, ist nach den vorliegenden Versuchs¬
resultaten nicht möglich.
Demgegenüber genügte in den Apparaten, in welchen directe strömende
Wasserdämpfe zur Anwendung kommen, eine Maximaltemperatur von 116°C. im
Apparat, um im Innern eines Ballens von 22 wollenen Decken 104° C. hervor¬
zubringen (cfr. Wol ff a. a. 0. S. 113).
2) Die Zeitdauer, in welcher im Düsseldorfer Apparat eine volle Desinfec-
lionswirkung erzielt werden kann, beträgt nach vorgängiger Erwärmung des
Apparates 1 '/ 4 bis 1 , / 2 Stunden (S. 139). Bei der Benutzung von heissen strö¬
menden Wasserdämpfen wurden im Zeitraum von einer Stunde in der Mitte eines
Ballens von 22 wollenen Decken 104° C. erzielt; rechnet man hierzu eine Ven¬
tilationsdauer von 15 Minuten zum besseren Trocknen der Desinfectionsobjecte,
so nimmt im letzteren Falle der ganze Desinfectionsprocess eine Zeit von 1 */ 4
Stunden in Anspruch.
3) Ist man, wie dies in grossen Städten der Fall ist, genöthigt, mehrere
Desinfectionsapparate aufzustellen, so muss, falls man die Construction des
Düsseldorfer Apparates wählt, für jeden einzelnen Apparat, auch wenn dieselben
nebeneinander gestellt werden, eine besondere Feuerungsanlage hergerichlet
werden; bei den Apparaten älterer Construction genügt eine einzige Feuerungs¬
anlage, um 3 und mehr Apparate mit dem erforderlichen Dampfe zu versehen.
4) Gemauerte Desinfectionskammern, die längere Zeit der Einwirkung hoher
Temperaturen ausgesetzt werden, bedürfen häufiger Reparaturen, wie ich dies
im Laufe der Jahre an dem hier befindlichen Apparate zu beobachten Gelegen¬
heit hatte; eiserne Desinfectionsapparate haben in dieser Beziehung meines
Wissens noch zu keinen Klagen Veranlassung geben.
Ich komme hiernach zu dom Resultat, dass, da der Düsseldorfer Desinfec-
tionsapparat vor den Apparaten älterer Construction mit directer Dampfeinströ-
mung und Ventilation keinerlei Vorzüge besitzt, wohl aber vom praktischen
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150
H. Merke.
Standpunkte aus zu mancherlei nicht unerheblichen Bedenken Veranlassung
giebt, da ferner die letztgenannten Apparate sich nach den erst neuerdings wie¬
der von Prof. Max Wolff angestellten, oben mehrfach citirten Untersuchungen
durchaus leistungsfähig erwiesen haben, letztere Apparate dem Düsseldorfer ent¬
schieden vorzuziehen sind.
Zum Schluss bemerke ich noch, dass in der ersten demnächst fertiggestell¬
ten öffentlichen Desinfectionsanstalt der Stadt Berlin, zu welcher ich im Früh¬
jahr d. J. den Plan entwarf, die wichtigsten der auf S. 138 u. f. aufgestellten For¬
derungen erfüllt sind: die betreffenden sehr grossen Apparate besitzen, wie der
Düsseldorfer Apparat, einen auf beiden Seiten herausfahrbaren Wagen'), der
Baum, in welchem die inficirten Gegenstände aufbewahrt werden, sowie der zur
Beschickung des Apparates nöthige Vorraum ist vollständig von dem Aufbewah¬
rungsraum für desinficirte Gegenstände getrennt und die Apparate selbst sind
conform demjenigen gearbeitet, dessen Leistungsfähigkeit durch die mehrerwähn¬
ten Untersuchungen des Herrn Prof. Max Wolff hinlänglich constatirt ist.
Eine genaue Beschreibung dieser ersten grösseren Desinfections- Anstalt
glaube ich nach erfolgter Fertigstellung derselben in Aussicht stellen zu dürfen.
3.
Die Ergebnisse der neueren Untersuch an gen des Schweine¬
fleisches«
Von
Dr. Hermann Baienberg.
Seitdem es bewiesen, dass das Schwein gelegentlich Trichinen beherbergen
kann und das Fleisch desselben in Folge dessen als verdächtiges Nahrungs¬
mittel angesehen werden musste, ist wohl Nichts öfter und eingehender der mikro¬
skopischen Untersuchung unterworfen worden als das Schweinefleisch; denn nicht
nur, dass sich seit jener Zeit eine ganze Reihe der hervorragendsten Naturfor¬
scher mit der Untersuchung der Existenzbedingungen und der Entwicke¬
lungsgeschichte der Trichinen beschäftigten, es entstand in Folge dessen auch
im Laufe der Jahre das Institut der Fleischbeschauer, welche die mikroskopische
Untersuchung des Schweinefleisches auf Trichinen gewerbsmässig betreiben.
Nun befindet sich zwar unter den eigentlichen Fleischbeschauern nur ein geringer
Procentsatz solcher Personen, welche zur Anstellung selbständiger wissenschaft¬
licher Untersuchungen befähigt sind; dennoch aber haben sie der Wissenschaft
keine geringen Dienste geleistet, denn nur den die mikroskopische Fleischschau
practisch ausübenden Personen ist es zu danken, dass wir jetzt mit ziemlicher
Sicherheit über die Häufigkeit des Vorkommens trichinöser Schweine, sowie über
die Verbreitung der Trichinen, mindestens in Norddeutschland, unterrichtet sind.
') Dieselbe Einrichtung ist übrigens meines Wissens schon vor ca. 1*/* Jahren
bei einem in der Stadt Bremen aufgestellten Desin/ections-Apparat durchgeführt.
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Dr. H. Eulenbcrg.
151
and zweifellos würden ans ohne deren Mitwirkung manche Parasiten and andere
Vorkommnisse im Schweinefleisch noch vollständig unbekannt geblieben sein.
Als Vorkommnisse, welche die Fleischbeschaaer den Fachgelehrten be¬
sonders häufig zur Untersuchung und Begutachtung übermittelten, sind in
erster Linie gewisse Goncretionen zu nennen, welche hin und wieder in der
Musculatur der Schweine angetroffen werden und welche wiederholt zu dem Ver¬
dachte Veranlassung gaben, dass man es mit verkalkten Trichinen zu thun
habe. Dennoch blieb das Wesen dieser Concremente, welche vorerst, als sich
nur noch wenige Personen mit der Fleischschau beschäftigten, da ein Zwang
zur mikroskopischen Untersuchung des Schweinefleisches nur in sehr wenigen
Ortschaften und Districlen existirte, bis in die neueste Zeit hinein ein Räthsel,
denn Form, Grösse und sonstige Eigenschaften derselben waren in den verschie¬
denen Fällen sehr verschieden, so dass man sich daher oft nur darauf beschrän¬
ken musste, einfach anzuerkenneu, dass es keine verkalkten Trichinen seien.
Gerlach, welcher sich wiederholt mit der Untersuchung solcher Con-
cretionen beschäftigt hat, beschreibt dieselben 1 ) folgendermaasssen: „Sie sind
von verschiedener Grösse und Form, immer aber erscheinen sie dem unbewaff¬
neten Auge als kleine grauweisse Körperchen in dar rothen Fleischmasse. Sie
kommen über den ganzen Körper verbreitet, oder nur an einzelnen Körpertheilen,
oder auch nur sparsam eingestreut vor. Bei näherer Betrachtung, namentlich
mit der Loupe, erscheinen diese weisslichen Körperchen entweder als kleine
rundliche oder ovale abgegrenzte Sandkörnchen von Sandkorn- oder Hirsekorn¬
grösse, oder als unregelmässige schollige, blättrige, stachlige und nicht
scharf abgegrenzle Körnchen.“
Da die Concretionen nioht immer dieselben Gebilde waren, sondern Ver¬
schiedenheiten, sowohl in den organischen Grundlagen wie auch in den abge¬
lagerten chemischen Substanzen, Vorkommen, so unterschied Gerlach dieselben
a) in solche mit abnormen organischen Grundlagen und b) in solche ohne be¬
sondere abnorme Grundlagen,
Erstere sind scharf abgegrenzt, bilden rundliche oder längliche Körperchen
und enthalten immer Kalksalze, namentlich kohlensauren Kalk, bei dessen Auf¬
lösung durch Salzsäure man unter dem Mikroskop die Kohlensäure in kleinen
Lufibläschen entweichen sieht. Nach der Auflösung der Kalksalze bleibt ein
organischer Rückstand, der in der Regel keine bestimmte Form mehr erkennen
lässt, sich aber doch als ein Häufchen von abnormen Substanzen darstellt, die
man verschieden, bald als Parasiten, bald als von pathologischon Neubildungen
herrührend, deutete. So fassten Claus, Carus und Leuckart sie in einzelnen
Fällen als abgestorbene Finnen auf, während Virchow sich dahin äusserte,
dass zwar der Gedanke an untergegangene Finneh am nächsten liege, doch sei
die Möglichkeit einer unbekannten pathologischen Neubildung nicht zu bestreiten.
In anderen Fällen erklärte Leuckart solche Concretionen für abgestorbene
Trichinen, Küchenmeister für eine Cestoden-Miliartubcrculose, Vogel für das
Product einer diffusen Muskelentzündung, Krause für verkalkte Lipome u. s. w.
Bei den Gerlach’schen „Concretionen ohne besondere abnorme organische
Grundlage“ hat die Ablagerung in der Muskelsubstanz und den intermusculären
Bindegeweben stattgefunden. Die Concretionen erscheinen weniger scharf be-
*) A, C. Gerlach, Die Trichinen. Hannover, 1873. p. 85 u. f.
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152
Dr. H. Eulenberg.
grenzt, bald mehr strahlig, schollig, blättrig, in unregelmässigen Formen und
oft grösser als die scharf begrenzten. Nach der Auflösung mittelst Säure sieht
man normales Gewebe, namentlich treten die Primitivbündel deutlich hervor.
Die abgelagerte Substanz ist nicht in allen Fällen dieselbe. So fand Leuckart 1 )
in geräuchertem westphälischen Schinken Concretionen mit oft strahlig ausge¬
zackten Rändern. Sie wurden von einer bröcklichen Substanz gebildet, die sich
bei Behandlung mit Präparimadeln in längere oder kürzere Fasern von verschie¬
dener Dicke auflöste. Unter dem Mikroskop constatirte er eine dichte Masse viel¬
fach verfilzter dünner Spiesse, die er für Stearin- oder Margarin- vielleicht
auch Tyrosinkrystalle hält, die aber möglicherweise erst beim Räu¬
chern entstanden sein können. Bei Zusatz von Salzsäure verblassten und
verschwanden die Gebilde allmälig vom Rande her ohne Gasentwicklung, während
gleichzeitig an den Muskelfasern einesehr deutliche und schöne Querstreifung auftrat.
Auch Virchow 2 ) fand in Schinken zahlreiche weisse und harte Einspren¬
gungen, welche unter dem Messer knirschten. Sie hatten keine scharfen Con-
turen, ihre äussere Begrenzung war vielmehr unregelmässig, wie faserig oder ver¬
schwommen. Die weisse Masse löste sich in Salzsäure vollständig auf und es
blieb nach der Auflösung stets Muskelsubstanz mit scheinbar unveränderten Pri¬
mitivbündeln in der Salzsäure zurück. Weitere Untersuchungen ergaben, dass
die Concretionen alle Eigenschaften des Guanin’s darboten, eines Stoffes, wel¬
cher der.Harnsäure und dem Hypoxanthin (Sarkin) nahe verwandt ist, und Vir¬
chow folgert daraus, dass bei den Schweinen eine Krankheit vorkomme, die in
ähnlicher Weise wie die Gicht des Menschen mit Ablagerungen von harnsaurem
Natron einhergeht, Guaninconcretionen erzeugt, und die man deshalb als
Guaningicht auffassen könnte.
Aus allem oben Angeführten ergiebt sich also, dass man bis vor Kurzem
über die Concretionen im Schweinefleisch nicht mehr wusste, als dass sie bezüg¬
lich ihrer Formen und chemischen Eigenschaften nioht unbedeutende Verschie¬
denheiten darbieten können, und dass es sich bei ihrer Bildung um verschiedene
noch nicht festgestellte pathologische Vorgänge und Zustände handeln müsse.
Etwas mehr Licht und vielleicht die Lösung des ganzen Räthsels brachten
endlich die Untersuchungen des Thierarztes H. C. J. Duncker in Berlin 3 ), denn
die Resultate derselben, welche eines Theils in der „Zeitschrift für Mikro¬
skopie und Fleischbeschau“ niedergelegt und andern theils mir mündlich
und schriftlich zur beliebigen Verwendung mitgetheiltsind,lassen vermuthen, dass
sämmtliohe Concretionen des Schweinefleisches parasitären Ur¬
sprungs sind, sowie dass sämmtliche Parasiten, welche bisher im
Schweinefleisch entdeckt worden sind, unter gewissen Umständen
zum Entstehen von Concretionen Veranlassung geben können.
Nach diesen Untersuchungen sind eine der häufigsten Ursachen zum Ent¬
stehen von Concretionen im Schweinefleische frühzeitig abgestorbene
Trichinen, wie sie zuerst von Leuckart 4 ) in Schweinen und von Virchow 5 )
*) Leuckart, Untersuchungen über Trichina spiralis. Leipzig, 1866. p. 113.
*) Archiv Bd. 35. p. 358.
*) Virchow’s Archiv Bd. 95. p. 546.
4 ) Leuckart, a. a. 0. p. 66 u. 114.
*) Archiv Bd. 32. p. 353.
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Die Ergebnisse der neueren Untersuchungen des Schweinefleisches. 153
in der Masculatur des Menschen gefunden wurden. Leuckart fand in einem
Schweine ausser normal verkapselten Trichinen rundliche Körperchen von be¬
trächtlicher Grösse, fast bis 1 mm, und weisslichem Aussehen. Grösse und Fär¬
bung der Körper rührten von einer Bindegewebshülle von beträchtlicher Dicke
her. Im Innern derselben fand sich ein rundlicher ziemlich scharf begrenzter
Hohlraum, aber ohne Kapsel, in welchem sich beständig eine abgestorbene und
verglaste Trichine, die unter dem Drucke des Deckglases in Stücke zerbrach, be¬
fand. In einzelnen Fällen war die Form der Trichine noch unverkennbar, aber
in einem andern fand sich statt eines aufgerollten Glasfadens ein unregelmässiges
Conglomerat von grösseren und kleineren Bruchstücken, io dem man den frühe¬
ren Bewohner unmöglich ohne Weiteres erkennen konnte. Bei Zusatz von Salz¬
säure schmolzen die Massen ohne Gasentwickelung ein. Dass es abgestorbene
Trichinen waren, die hier Vorlagen, konnte nicht zweifelhaft sein, und offenbar
war der Tod schon eine längere Zeit vor dem Untersuchungstermine eingetreten.
Ob die abnorme Verdickung der Bindesubstanz die Verödung herbeigeführt
hatte, lässt Leuckart unentschieden.
In einem anderen Falle fand Leuckart die abgestorbenen Würmer von
einer dicken Bindegewebshülle umgeben, die eine bald mehr oder minder ovale,
bald auch spindelförmige Gestalt hatte, dabei aber nur unvollständig gegen die
benachbarte Bindesubstanz sich absetzte. Unterhalb dieser Hülle erkannte
Leuckart in manchen Fällen nooh eine deutliche Kapsel, die auf ein Alter
von 2—3 Monaten hindeutete. In anderen Fällen war die Kapsel geschwunden,
aber die Trichinen lagen dafür in einem hellen Raume, der in Form und Grösse eine
unverkennbare Aehnlichkeit mit der gewöhnlichen Kapsel darbot. Die Begrenzung
dieses Raumes war bald scharf gezeichnet, bald verwischt, als wenn die Binde-
gewebsmasse von aussen in den Kapselraum hineingewuchert wäre. Die einge¬
schlossenen Trichineu verhielten sich ähnlich wie in den vorher erwähnten Fällen.
Dasselbe frühzeitige Abslerben und Verkalken des Trichinenleibes beobach¬
tete, wie schon erwähnt, Virchow wiederholt beim Menschen; der Trichinen¬
körper bildete eine harte,- glänzende, wurstförmige Masse von sehr dunklen und
harten Conturen. Nach Auflösung der Kalksalze durch Säuren kam der erheblich
veränderte Thierkörper zum Vorschein. Neben diesen abgestorbenen waren aber
auch lebende und nicht verkalkte Trichinen vorhanden.
Diese Beobachtungen wurden durch die neueren Untersuchungen von
Dunoker voll und ganz bestätigt und vermuthet derselbe als Ursache des Ab¬
sterbens der Trichinen eine eigenthümliche Krankheit derselben, eine Pilzinfec-
tion. In dieser Vermuthung ist er unter anderem auch dadurch bestärkt worden,
dass es ihm und dem städtischen Oberthierarzt in Berlin, Dr. Hertwig, wie¬
derholt gelungen ist, bei diesbezüglichen Fülterungsversuchen gleichzeitig lebende
und abgestorbene Trichinen in Ratten und Meerschweinchen zu erzielen. Nach
Duncker ist es nicht seilen, dass man in ein und demselben Schweine alle
Stadien der Umwandlung findet. Das erste Zeichen, dass eine Trichine abster¬
ben wird, ist, dass an den Polen der Kapsel eine mehr oder minder starke Binde¬
gewebswucherung auftritt. Um diese Zeit erscheint der eingeschlossene Wurm
noch vollständig gesund, denn aus der Kapsel befreit und auf einen erwärmten
Objectträger gebracht bewegt derselbe sich sehr lebhaft und ist auch in dessen
Innern irgend wolche Voräudernng nicht auffindbar. Nach und nach aber wird
die ganze Kapsel von der Bindegowebewucherung umgeben, und ist dies ge-
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Dr. H. Eulenberg,
schehen, ist auch in den meisten Fällen der Wurm bereits gestorben. Die Win¬
dungen desselben sind mehr gestreckt, der Körper erscheint geschrumpft und die
Conturen der Eingeweide sind minder deutlich.
Die weiteren Veränderungen sind nun zweierlei Art. Mitunter, aber selte¬
ner, verfällt das ganze Innere der Trichine einer fettigen Degeneration und Re¬
sorption, so dass schliesslich innerhalb der zwar sehr umfangreichen, aber nicht
sehr dichten Bindegewebshülle nichts weiter zu entdecken ist, als die Cbitinhaut
der Trichine; in anderen Fällen ist die Bindegewebshülle schmaler, aber sehr
dicht, und dann verfällt die Trichine meist dem oben erwähnten Verkalkungs-
processe. Derselbe wird dadurch eingeleitet, dass das Innere der Trichine in
eine feinkörnige unter dem Mikroskop dunkel erscheinende Masse zerfällt. Dann
treten an einer oder an mehreren Körperstellen glänzende Körnchen, sogenannte
Verkalkungspunkte, auf, welche sich mehr und mehr ausdehnen, bis endlich der
ganze Trichinenkörper in die bekannte dunkel glänzende, harte, bröckliche Masse
umgewandelt ist.
In manchen Fällen bleibt nun die so umgewandelte Trichine unverändert
liegen, bisweilen aber zerbröckelt sie in kleinere Stückchen und wird dies dann
Veranlassung zu fortgesetzter Kalkablagerung, bis die Kapsel gänzlich von un¬
regelmässig geformten Kalkstückchen angefüllt ist.
Bemerkenswerth bei diesem Umwandlungsprocess ist, dass die vollständig
gefüllten Kapseln die oben erwähnte lockere Bindegewebshülle entweder gar
nicht mehr oder nur noch in geringerer Stärke und Dichtigkeit erkennen lassen,
während sie bei solchen Kapseln, die nur zum Theil mit Kalkbröckeln gefüllt
sind, und welche ausserdem noch erkennbare Reste des verkalkten Triohinen-
leiber enthalten, unverändert gebliebin ist. Es scheint dies darauf hinzudeuten,
dass die so räthselhafte Bindegewebshülle wieder verschwindet, wenn der Ver-
kalkungsprocess beendet ist (d. h. wenn die ursprüngliche Trichinenkapsel voll¬
ständig mit Kalk angefüllt ist), sowie, dass die Ursache des frühzeitigen Abster¬
bens der Trichinen in dieser Hülle zu suchen ist.
Hiernach ist es also unzweifelhaft, dass gewisse Goncretionen den Trichinen
ihr Entstehen verdanken, dass man sie aber nur dann mit Sicherheit als von
letzteren herrührend bezeichnen kann, wenn gleichzeitig abgestorbene, oder noch
besser, neben diesen auch noch vollständig intacte Trichinen vorhanden sind.
Ausser den Trichinen bilden auch Finnen die Grundlage von Concretionen.
Wie erstere, so sterben auch diese nicht selten frühzeitig ab, und da dies Absterben
nicht gleichzeitig alle Finnen betrifft, so hat man mitunter Gelegenheit, neben
vollständig intakten auch abgestorbene und bereits verkalkte Finnen anzutreffen,
so dass man die Bildung der Concretionen von Stufe zu Stufe verfolgen kann.
Dass eine Finne kürzlich abgestorben ist, erkennt man daran, dass der In¬
halt bedeutend zusammenschrumpft und gelblich gefärbt erscheint. Im weiteren
Verlaufe wird die Finne in einen gelblichen käsigen Brei verwandelt, welcher,
durch die Blase hindurchschimmernd, letztere nach und nach ganz anfüllt und
ausser zahlreichen Fetttröpfchen aus Zellen, Zellenresten, Eiterkügelchen und
kleinen Kalkpartikelchen besteht. Während der nun folgenden Resorption des
Detritus findet eine stetige Vermehrung und Vergrösserung der Kalkpartikelchen
statt, so dass die inzwischen entstandene dickwandige Kapsel schliesslich mit
kleineren und grösseren Kalkstückchen angefüllt ist.
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Die Ergebnisse der neueren Untersuchungen des Schweinefleisches. 155
Die Grösse der Concretionen wechselt je naoh der der ursprünglichen Fin¬
nen ; sie können bis 4 Mm. im Durchmesser erreichen.
Der Beweis, das etwaige Concretionen durch Finnen verursacht sind, ist
kaum zu führen, wenn nicht gleichzeitig intacte und kürzlich abgestorbene Fin¬
nen vorhanden sind; denn den Hakenkranz oder einzelne Häkchen sucht man in
der bereits käsig zerfallenen Masse oder zwischen den Kalkstückchen der fer¬
tigen Concretionen vergebens.
Ausser den Trichinen und Finnen bilden ferner, wie Duncker nachgewiesen
hat, die von ihm im Frühjahr 1884 entdeckten Actinomyceten des Schweine¬
fleisches*) nicht selten die Grundlage von verschiedenartigen Concretionen.
Das Vorhandensein dieser Pilze ist zu vermuthen, wenn bei der Untersuchung des
Fleisches auf Trichinen zwischen normalen Muskelfasern andere gefunden wer¬
den, welche in ihrem ganzen Verlaufe eine unregelmässig vertheilte, schmutzig
braune Färbung zeigen, und welche in unregelmässigen Intervallen mehr oder
weniger scharf umscbriehene, dunkle, in der Mitte hellere Körper mit wulstigem
Rande enthalten, deren Durchmesser die Breite der Muskelfasern etwas übertrifft.
Solche pilzhaltige Muskelfasern erscheinen makroskopisch, und zwar sowohl im
Präparate, als auch bei oberflächlicher Lage derselben in der Musculatur, als
feine grauweisse Striche, in welchen perlschnurartig neben einander gereihte
feine weisse Pünktchen, die oben erwähnten rundlichen Körper, die eigentlichen
Actinomycesrasen, erkennbar sind.
Das Eindringen und die Entwicklung des Pilzes in der Muskelfaser bedin¬
gen einen eigenthümlichen Degenerationsprocess der letzteren. Zunächst erscheint
sie unregelmässig wellig gekrümmt und es entstehen in ihrem Verlaufe breite
Querfalten und knotenförmige Auftreibungen. Später wird die Querstreifung un¬
deutlicher, es bilden sich Querrisse in der contractilen Substanz und diese zer¬
fällt in kleinere und grössere unregelmässig geformte glänzende Trümmer, von
welchen letzteren sich einige regelmässig zu rundlichen, an ihrer Oberfläche mehr
oder weniger faltigen Portionen zusammenziehen, während andere, meist cylin-
derförmige, insofern einen eigenthümlichen Anblick gewähren, als die Primitiv¬
fibrillen an einem oder an beiden Enden derselben wulstig hervorgedrängt werden
und in verschiedener Weise, mitunter fächer-oder kranzförmig dioht über und neben
einander gelagert sind. — Die übrigen unregelmässig umschriebenen Trümmer
der contractilen Substanz bieten in diesem Stadium nichts besonders Auffälliges.
Nachdem der Pilz jetzt die ganze Muskelfaser durchzogen hat, erfolgen Auf¬
lösung und Resorption der abgestorbenen contractilen Substanz, und zwar um so
rascher und vollständiger, je üppiger und kräftiger die sich nunmehr bildenden
Rasen gedeihen. Schliesslich, nach erfolgter vollständiger Resorption, fällt der
Sarcolemmaschtauch zusammen, so dass er nur noch in der Umgebung der zurück¬
gebliebenen Pilzrasen und zwar als feine Umhüllung derselben nachweisbar ist.
Wie die Actinomyceten in die Musculatur der Schweine gelangen, ist bis¬
her ein Räthsel geblieben, doch kann mit ziemlicher Sicherheit angenommen
werden, dass die Aufnahme der Keime während der Sommermonate mit dem Futter
') Das Vorkommen von Actinomyceten in der Schweinelunge wurde bereits
im Frühjahr 1883 constatirt. In stecknadelkopfgrossen, gelblichen, harten Knöt¬
chen, welche sich massenhaft in den vorderen Lungenspitzen eines geschlachteten
Schweines vorfanden, ermittelte Duncker je 2, 4 bis 8 Ra>-en, welche von 'b-nen
der Actinomyces bovis in keiner Weise unterschieden werden konnten.
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Dr. II. Eulenberg,
geschieht; denn um diese Zeit findet man nur selten wohlentwickelte, sondern
fast nur verkalkte, also ältere Rasen, während man die ersten Zeichen der be¬
gonnenen Einwanderung des Pilzes in die Muscnlatur gewöhnlich erst im October
zu beobachten Gelegenheit hat. Den Pilz selber sicher zu constatiren gelingt da¬
gegen erst, wenn bereits erhebliche Zerstörungen der Musculatur, das Zerreissen
der contractilen Substanz stattgefunden haben. Dann findet man die Trümmer
von dichteren Haufen und neben einander verlaufenden, sich öfter verzweigenden
und vielfach gewundenen Zügen sehr feiner, stark lichtbrechender mikrokokken¬
artiger Körper, welche die eigentliche Grundlage der Strahlenpilze bilden, durch¬
setzt und dicht durchzogen.
Aus diesem Lager vollzieht sich der weitere Aufbau des Pilzkörpers je nach
der Verschiedenheit des Substrates in verschiedener Weise. Die charakteristisch¬
sten Formen entwachsen den oben erwähnten zu rundlichen Körpern zusammen¬
geballten Portionen der contractilen Substanz. Hier erbeben sieb aus dem Mikro¬
kokkenlager nach allen Richtungen hin kurze, äusserst feine Pilzfäden, deren
Enden sich länglich bimförmig verdicken und somit zu den charakteristischen
stark lichlbrechenden Keulen heranwachsen, welche in der jungen unverletzten
Pilzkugel so dicht neben einander gelagert sind, dass man unter dem Mikroskop
nichts anderes als die stärkeren Keulenenden zu sehen vermag. Diese Pilzkugeln
werden nach und nach flacher, so dass sie endlich die Form einer runden Scheibe
annehmen, deren dünnere Mitte aus feinem, mit mikrokokkenartigen Körpern
durchsetztem Pilzmycel und deren wulstiger Rand aus den radiär gestellten Keulen
besteht. Während dieses Entwicklungsstadiums kann man mitunter an einzelnen
über die Peripherie hinausragenden Keulen eine dichotome Verzweigung desStieles
und eine Scheidewand zwischen Stiel und Basis der Keule wahrnehmen. l )
Ein ähnliches Bild entwickelt das Mycel in denjenigen Trümmern der con¬
tractilen Substanz, welche oben als vorläufig nichts Auffälliges bietende erwähnt
wurden, nur dass sich hier keine kugelförmigen Pilzkörper, sondern mehr oder
weniger flache, unregelmässig umschriebene Rasen, von denen die Keulen dioht
gedrängt hervorragen, bilden. Bemerkenswerth ist es, dass die Keulen in diesen
Rasen nicht immer ihre charakteristische Form beibehalten, sondern sich sehr
häufig um das Doppelte bis Dreifache ihrer normalen Länge strecken — eine
Erscheinung, die bei dem kranzförmigen Rasen sehr selten zu beobachten ist.
Eine dritte Entwicklungsform unseres Pilzes, welche mit den beiden vor¬
erwähnten keinerlei Aehnlichkeit hat, entsteht nur in denjenigen Trümmern der
contractilen Substanz, an deren Enden die Primitivfibrillen in der beschriebenen
eigenthümlichen Weise hervorgequollen sind. Bei diesen kommt es nicht zu
vorwiegender Keulenbildung, sondern hier wird die contractile Substanz (die Pri¬
mitivfibrillen) ihrer ganzen Länge nach von unzählbaren feinen Pilzfäden durch¬
zogen, zwischen welchen nur hin und wieder sehr gestreckte und sehr schmale
Keulen Vorkommen, so dass das Ganze einem starken Bündel sehr feiner Pilz¬
fäden gleicht, deren Enden weniger dicht zusammengelagert sind, als deren Mitte.
*) Nach Virchow (Archiv Bd. 95. S. 547) liegen die Actinomyceten ursprüng¬
lich, wie die Trichinen, im Innern der Primitivhündel und entwickelt sich um sie
eine starke Verdickung des Sarcolemmes, wie bei der Einkapselung der Trichinen.
Daran schliesst sich eine weit ausgreifende Proliferation in dem intramusculäreu
Bindegewebe, welche eine reiche Bildung von Granulationszellen mit sich bringt, —
also Erscheinungen einer starken interstitiellen Entzündung.
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Die Ergebnisse der neueren Untersuchungen des Schweinefleisches. 157
Nachdem die Actinomyceten jetzt die Höhe ihrer Entwicklung erreicht ha¬
ben, werden sie nach und nach derartig von Kalksalzen imprägnirt, dass es selbst
dem Kundigen oft unmöglich wird, aus der schliesslich entstandenen Concretion
den Ursprung derselben genau zu bestimmen, da sowohl die inzwischen entstan¬
dene Kapsel, wie auch der Inhalt der letzteren mit solchen von verkalkten Tri¬
chinen , Finnen und Psorospermien die grösste Aehnlichkeit haben können. Es
gilt dies namentlich von den aus der zweiten Entwicklungsform der Ac¬
tinomyceten, aus den unregelmässig umschriebenen flachen Rasen, entstande¬
nen Concretionen, denn hier ist die Kapsel zum Theil oder ganz von unregel¬
mässig geformten Kalkstückchen angefüllt, genau so, wie wir sie bei den Trichi¬
nen kennen lernten, wohingegen die aus der ersten Form, aus den kranz¬
förmigen Actinomyceten entstehenden Concretionen insofern charakteristisch sind,
als sich innerhalb einer ziemlich dickwandigen, in Form und Grösse der der
Trichinen ähnlichen Kapsel, eine oder mehrere runde, ovale oder bohnenformige
Kalkscheibchen mit dünner Mitte und starkem wulstigen Rande befinden, welche
mitunter eine feine radiäre Streifung erkennen lassen. Nach der Behandlung
dieser beiden Formen mit Salzsäure bleibt ein geringer organischer Rest, wahr¬
scheinlich Pilzmycel, zurück.
Ganz verschieden von diesen gestalten sich die Concretionen der drit¬
ten Entwicklungsform der Actinomyceten, denn da die Kalkablagerung an
den Verlauf der Pilzfäden gebunden ist, so scheinen die fertigen Concretionen
aus unzähligen langen, feinen, parallel neben einander verlaufenden oder fächer-
und kranzförmig angeordneten Nadeln, Spiessen oder Krystallen zu bestehen.
Bei stärkerem Druck mit dem Deckglase zerbrechen sie entweder der Länge nach
oder sie zerbröckeln in kleine, unregelmässig geformte Stückchen. Diese Con-
cretionen sind nie von einer Kapsel umgeben, sondern sie liegen un¬
mittelbar zwischen den Muskelfasern. Salzsäure löst die Kalksalze vollständig
auf, und zwischen dem verbleibenden organischen Rest findet man nicht selten
noch ziemlich wohlerhaltene Primitivfibrillen. —
Nicht weniger charakteristisch als die soeben erwähnten sind die durch
sogenannte Mieschersche Schläuche bedingten Concretionen, so
dass man mitunter aus der Form der letzteren auf das Wesen derselben zurück-
scbliessen kann. Sie entstehen in ähnlicher Weise wie die vorher beschriebenen.
Der Inhalt der Schläuche zerfällt in eine käsige Detritusmasse, in welcher nach
und nach, an einer oder an mehreren Stellen, Kalksalze abgelagert werden. In
demselben Verhältniss. in welchem die Kalkablagerungen zunehmen, wird der
Detritus resorbirt und die inzwischen entstandene Kapsel wird schliesslich mit
Kalk angefüllt. Trat in dem Detritus ursprünglich nur ein einziger Verkal¬
kungspunkt auf, so wird der letztere in der Regel auch zu einer einzigen langen,
spiessartigen Concretion, von der ungefähren Form des ursprünglichen Schlau¬
ches, auswachsen, waren dagegen von Anfang an mehrere Verkalkungspunkte
vorhanden, so wird auch die Kapsel von mehr oder weniger unregelmässig ge¬
formten Kalkstücken angefüllt werden. Form und Grösse dieser Concretionen
richten sich nach der der Schläuche; sie sind daher in den meisten Fällen lang
und schmal und können eine Länge von 4 Mm. erreichen. —
Aus dem Vorhergehenden ergiebt sich also, dass sehr verschieden¬
artige Concretionen des Schweinefleisches parasitären Ursprungs
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Dr. H. Eulenberg,
sind und dass die Annahme Duncker’s, dass sämmtliche der ge¬
dachten Concretionen durch zu Grunde gegangene Parasiten ver¬
anlasst werden, um so weniger der Berechtigung entbehrt, als
sie auch über das Entstehen so rälhselhafter Formen, wie sie
Leuckart’s Stearinkrystalle und Vircho w’s Guaninconcretionen
darbieten, Aufklärung zu geben vermag. Ob letztere wirklich den durch
Actinomyceten verursachten Concretionen zuzurechnen sind, mag vorläufig dahin¬
gestellt bleiben, augenscheinlich besteht aber der einzige Unterschied zwischen
denselben in ihren verschiedenen chemischen Eigenschaften. Es wäre daher noch
zu untersuchen, ob und inwiefern die durch Actinomyceten bedingten Concretio¬
nen durch den Räucherungsprocess chemisch verändert werden. 1 ) —
Als Parasiten, welche ebenfalls die Grundlage zu Concretionen im Schweine¬
fleisch abgeben könnten, als solche aber noch nicht nachgewiesen worden sind,
wären noch die Muskeldistomeen und der Haplococcus zu nennen, da ge¬
wisse kleine Rundwürmer, welche hin und wieder in den Präparaten der
Fleischbeschauer Vorkommen, sowie die noch seltener im Schweinefleische auf¬
tretenden Echinokokken hier wohl nicht in Betracht kommen können.
Die Muskeldistomeen. Im Januar 1881 erhielt Duncker von einem
Fleischbeschauer in Waldenburg eine Fleischprobe, in welcher „egelartige Wür¬
mer“ gefunden sein sollten. Nachdem Duncker die fast vertrockneten Fleisch¬
proben genügend erweicht hatte, fand auch er die fraglichen Würmer, in welchen
er sofort mikroskopisch kleine Distomeen erkannte. In einen Tropfen Wasser ge¬
bracht, machten die Thiere, welche nahezu die Grösse einer Trichinenkapsel
hatten, die lebhaftesten Bewegungen, bald dehnten sio sich lang aus, bald zogen
sie das Vordertheil gleichsam in sich hinein; sie ballten sich zu einer Kugel zu¬
sammen, streckten den Vorderkörper wieder langsam hervor, dehnten sich,
krümmten sich u. s. w.
Bezüglich der Organisation wurde Folgendes ermittelt: „Der Körper ist
länglich schlauchförmig, äusserst zart und dünn und von grauer Farbe. Am Vor¬
derrande befindet sich ein grosser Saugemund, von welchem aus ein stark mus¬
kulöser Schlund in die weisslich durchschimmernden, blind endigenden Magen¬
säcke führt. Der Bauchsaugnapf befindet sich in der Körpermitte. Seitwärts von
jedem Magensacke nach dem äussern Rande zu liegen zwei grosse Drüsenzellen,
welche nach Pagenstecher symmetrische Dottersäcke des geschlechtlich un¬
reifen Thieres sein dürften. Im hinteren Körperende desselben befinden sich zwei
contractilo Blasen, welche mit einem nach vorne verlaufenden Wassergefässsystem
in Verbindung stehen. Diese Blasen ziehen sich abwechselnd zusammen, so dass
man mitunter alle beide, mitunter nur eine derselben sieht. Bei der Contraction
wird ein am hinteren Ende des Thieres mündender Canal sichtbar.“
Nachdem Duncker das Resultat seiner Untersuchungen in der „Zeit-
*) Nach Uertwig (Bericht über die Berliner städtische Fleischschau pro
1. April 1883/84. Von Dr 11. llertwig, städtischer Ober-Thierarzt. Berlin, 1884 )
wurden auf dem Centialschlachthofc in Berlin während des Jahres April 1883 bis
März 1884 19 Schweine wegen massenhaft vorhandener Kalkconcretionen und
15 Schweine wegen Actinomyceten beanstandet und vom Constim ausgeschlossen.
Unter den 216 wegen Trichinosis beanstandeten Schweinen befanden sich mehrere,
in welchen neben normal verkapselten, auch abgestorbene und verkalkte Trichinen,
sowie durch diese verursachte Concretionen aufgefunden wurdcu.
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Die Ergebnisse der neueren Untersuchungen des Schweinefleisches. 159
Schrift für Mikroskopie und Fleischschau“ veröffentlicht halte, liefen
sehr bald Mittbeilungen über neue Distomeenfunde aus den verschiedensten Ge¬
genden Deutschlands ein, so dass es nunmehr keinem Zweifel weiter unterliegen
konnte, dass man es hier wirklich mit einem neuen Parasiten des Schweine¬
fleisches zu thun habe, der, wie aus allen Beobachtungen hervorging, vorzugs¬
weise in der Musculatur des Kehlkopfs und des Zwerchfells vorkommt.
Auch in Berlin sind die Muskeldistomeen nicht selten von Fleischbeschauern
aufgefunden worden und hatte Duncker hier Gelegenheit, ausser der oben er¬
wähnten, eine geschwänzte und eine verkapselte Form kennen zu lernen.
Der Körper der geschwänzten Form war lang cylindrisch; nur wenn das
Thier ermattet auf dem Objectträger ruhte, schien die Körperform eine flach ovale
zu sein. Der Schwanz, welcher in der Mittellinie am stärksten und nach den
Seitenwänden und nach hinten zu abgeflacht und scharfrandig war, besass im
Verhältnis zu dem übrigen Körper eine nur geringe Beweglichkeit; es schien
fast, als könnten mit demselben nur Seitenbewegungen ausgeführt werden, wäh¬
rend der eigentliche Körper die verschiedenartigsten Formveränderungen eingehen
konnte. — Die allgemeine Körperdecke war sehr zart und unbewimpert. Die un¬
mittelbar unter derselben liegende weiche Körpersubstanz war von verschiedenen
stärkeren Muskelfasern, sowie von zwei sich schräg kreuzenden Muskelschichten
durchzogen. Die verhällnissmässig grosse Mundöffnung, welche sich genau am
Vorderende des Körpers befand, führte in einen stark musculösen Schlund. Der
sich gleich hinter dem Schlunde spaltende Darm führte in zwei grosse, weiss
schimmernde, blind endigende Magensäcke, welche seitwärts und hinter dem in
der Mittellinie des Körpers liegenden Bauchsaugnapf leicht auffindbar waren.
Kurz hinter der Gabelung des Darmes, jederseits an der äussern Wandung des¬
selben, lag eine weiss schimmernde schlauchartige Drüse. Ein Paar ähnliche,
ebenfalls in den Darm mündende, kleinere Drüsen lagen etwas weiter zurück.
Der Bauchsaugnapf wurde bei zweien der beobachteten Cercarien von einem
grösseren unregelmässigen Drüsenhaufen bedeckt. Dieser Drüsenhaufen zog sich
bei einem der gefundenen Tbiere bis in den Schwanztheil hinab. Bei einem an¬
deren lag derselbe regelmässiger nach den Seiten hin geordnet, gleichsam als sei
er im Begriff, sich in vier einzelne Haufen zu sondern. Das Wassergefässsystem
war auch bei diesen Thieren gut entwickelt. Es befand sich im Schwanzende und
bestand aus einem Endporus mit*fewei contractilen Bläschen, von denen jederseits
ein stärkeres Wassergefäss nach vorne verlief.
Bezüglich des aufgefundenen verkapselten Distomums ist weiter nichts
Näheres bekannt geworden, als dass der Wurm sich innerhalb einer gelbbraunen,
lederartigen, doppeltcontourirten Kapsel lebhaft bewegte und dass der Bauchsaug¬
napf u. s. w. während dieser Bewegungon, durch die Kapselwand hindurch, deut¬
lich erkennbar waren. Eine Oeffnung der Kapselwand wurde vermieden und das
Präparat unverletzt für die Sammlung des Centralschlachthofes hergerichtet.
Der Haplococcus l ). Im October 1880 erhielt Dr. W. Zopf in Halle
von Torgau aus Schweineproben zugesandt, die mit sogenannten Miescherschen
Schläuchen behaftet sein sollten. Die Untersuchung ergab indess, dass anstatt
dieses Schmarotzers ein ganz anderer Parasit sich in der Musculatur angesiedelt
hatte und zwar in solcher Menge, dass jedes kleine Präparat Dutzende von In-
l j Biolog. Centralblatt, Bd. III. No. 2*2.
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160
Dr. H. Eulenberg,
dividuen enthielt. Es konnte festgestellt werden, dass der Parasit den Charakter
niederer Schleimpilze an sich trägt und dass er drei Entwicklungsstadien bildet:
eine Amöbenform, eine Sporangienform und eine Dauersporenform. Die Sporan-
gien stellen etwa 16 bis 22 mikr. im Durchmesser haltende vollkommen oder
nahezu kugelige Körper dar. Ihre Membran ist glatt, schwach verdickt und daher
deutlich doppelt contourirt, mit Ausnahme von drei odor mehreren rundlichen
Stellen, welche stets unverdickt bleiben und als flache Papillen ein wenig über
die Contour des Sporangiums vorspringen.
Das Sporangium enthält anfangs feinkörniges Plasma; zur Reifezeit aber
tritt in letzterem ein Zerklüftungsprocess ein, der zur Bildung von mehreren,
etwa 6 bis 15, Plasmaportionen führt. Diese, zunächst pflastersteinartig anein¬
ander gelagert, runden sich später gegeneinander ab, nehmen eine amöboide Be¬
wegung an und schlüpfen endlich als Amöben aus der Sporangienmembran aus.
Ihre Austrittsstellen entsprechen den oben erwähnten verdünnten und schwach her¬
vorgewölbten Membrantheilen, die allmälig bis zur völligen Auflösung vergatterten.
Die Dauersporen stellen Kugeln oder Tetraeder, von etwa 25 — 30 mikr.
Durchmesser, mit stark gerundeten Flächen dar. Nach Form und Struktur lassen
sie eine gewisse Aehnlichkeit mit manchen Farnsporen erkennen. Ihre stark ver¬
dickte und cuticularisirte Membran weist nämlich meistens leistenartige Erhaben¬
heiten auf, die zahlreiche, in ziemlich grosser Regelmässigkeit auftretende poly¬
gonale Maschen bilden. Die Spore erscheint in Bezug auf die Struktur dorsi-
ventral gebaut, denn während an der Bauchseite nur die Netzform zu finden ist,
zeigt die Rückseite ausserdem drei im Scheitel zusammenstossende, den Kanten
des Tetraeders entsprechende lange und dicke Rippen. Im Inhalt der reifen
Spore sieht man meist einen grossen fettreichen Tropfen. Das Auskeimen der
Spore, sowie das weitere Verhalten der Amöben sind noch nicht beobachtet worden.
Aus dieser Beschreibung erhellt, dass der Pilz sich den vampyrellenartigen
Monadinen anschliesst, wie sie von Cienkowski und Klein bereits charakteri-
sirt wurden; doch unterscheidet er sich von den übrigen Repräsentanten dieser
Gruppe nicht nur durch die Bildung von besonderen Austrittsöffnungen für die
Amöben, sondern auch dadurch, dass die zur Dauersporenbildung bestimmte
Amöbe nach ihrer Abrundung nicht erst eine Membran abscheidet, um sich dann
innerhalb derselben zur Dauerspore zu contrahiren, und endlich in der eigenar¬
tigen Struktur. Diese unterscheidenden Merkmale nöthigen zu einer Abtrennung
von der Gattung Vampyrelia und zur Creirung eines neuen Genus, für welches
Zopf den Namen Haplococcus vorschlägt.
Ueber das Verhalten des Pilzes im Schweinekörper ermittelte Zopf an den
zwei ihm übersandten Fleischproben, dass die Sporangien und Dauersporen, von
denen die ersteren häufiger als die letzteren waren, zwischen den Muskelfasern
eingelagert erschienen, ontwedor einzeln oder zu wenigen bei einander liegend.
Ausser dem Umstande, dass die Muskelfasern hierdurch theilwoise aus ihrer nor¬
malen Lage gebracht, zum Theil zusammengedrückt wurden, hat Zopf keine auf¬
fälligen Einflüsse bemerkt, die der Parasit etwa ausüben könnte; wie denn auch
makroskopisch die Fleischstücke, trotzdem der Parasit reichlich vorhanden war,
ein durchaus gesundes Ansehen zeigten.
Nach dem, was Zopf in Erfahrung bringen konnte, scheinen auch die
Schweine durch den Pilz in keiner Weise besonders belästigt zu werden, obwohl
es hierfür noch sicherer Beobachtungen bedarf.
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Die Ergebnisse der neueren Untersuchungen des Schweinefleisches. 161
Trotzdem der Pilz, wie Zopf von dem Einsender der Fleischproben, einem
späterhin ausgewanderten Fleischbescbauer, versichert worden ist, in ungefähr
33 pCt. aller von demselben untersuchten Schweine vorgekommen ist, so ist der¬
selbe, trotz aller angewandten Aufmerksamkeit, erst in einem einzigen Schweine
als Dauerspore, und zwar in zwei Exemplaren von Hertwig und Duncker auf
dem Centralschlachthofe in Berlin ^ufgefunden worden; das bezügliche Dauer¬
präparat befindet sich in der dortigen Sammlung.
Für die Praxis der Fleischschau resultirt also aus dem Vorhergehenden:
1) dass Fleisch, welches einzig Concretionen unbestimmbarer Natur,
oder solche, deren Grundlage Hieschersche Schläuche, Diatomeen
oder Haplokokken bilden, in geringer Anzahl enthält, für den
Consum frei zu geben ist;
2) dass Fleisch, welches Trichinen und Finnen oder nachweislich von
diesen herrährende Concretionen enthält, nur den gesetzlichen Bestim¬
mungen gemäss auszunutzen ist, und
3) dass Fleisch, welches sehr viele Concretionen, einerlei welcher Ursache sie
entstammen, sowie Actinomyceten enthält, nur zur Fettgewinnung Ver¬
wendung finden kann.
Nachträglich sei noch erwähnt, dass das Fleisch actinomycetischer Schweine
nach den Beobachtungen Duncker’s und Hertwig’s während der ganzen Ent¬
wicklungsperiode der Pilze ganz charakteristische und schon dem unbewaffneten
Auge wahrnehmbare Veränderungen erkennen lässt. Nach 12—24 ständiger
Aufbewahrung an der Luft erscheint Fleisch, in dem der Pilz noch nicht zur
vollen Entwicklung gelangt ist, d. h. in dem noch keine Rasen nachweisbar sind,
bleich, stark wässerig und mürbe; herrscht in demselben jedoch schon
Rasenbildung vor, so ist es mehr röthlich-gelb, lachsfarbig. — Erst nach
und nach, und zwar erst, wenn die Rasen in der Verkalkung begriffen sind, oder
vielmehr nach Abschluss der Concretionenbildung, zeigt es wieder die normale
Farbe und Consistenz. Dies und die Natur des verursachenden Para¬
siten wurden Veranlassung, dass auf dem Berliner Centralschlacht-
liofe Schlachtschweine, in denen Duncker’sche Actinomyceten 1 )
nachweisbar sind, vom ungehinderten Consum ausgeschlossen und
der dortigen Schmelzküche überwiesen werden, — eine Anordnung,
welche auch bei der Berathung des demnächst zu erwartenden Nahrungsmittel-
Gesetzes einige Beaohtung verdiente.
l ) Es ist ausdrücklich hervorzuheben, dass die Actinomyceten des Schweine¬
fleisches weder mit Actinomyces hominis, noch mit A. bovis identisch sind, und
daher vorläufig als eine besondere Species der Gattung Actinomyces aufgefasst
werden müssen; sie würden also bis auf Weiteres als A. muscul. suis zu be¬
zeichnen sein.
VierteljtlirsBchr. £ ger. Med. N. F. XLIV. 1.
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4.
(Jeher einige gesundheitliche und landwirtschaftliche
Missstände der Bade-Insel Norderney.
Von
Professor Dr. Alexander Müller.
Norderney erhebt sich mit Ausnahme isolirter Dänenzuge wenig über Hoch¬
wasserstand und besteht aus Dünensand, der ursprünglich ziemlich reich an
kohlensaurem Kalk — in Folge eingemengter Muschelfragmente — ist, aber mit
der Zeit seinen Kalkgehalt durch Auswaschung verliert.
Das gemäss der maritimen Lage reichlich fallende Meteorwasser versinkt
schnell in den Boden, ohne oberirdisch von der Insel abzufliessen, und wird von
diesem, ausser wo die Oberfläche nahe auf den Grundwasserstand herabsteigt,
recht gut vor Verdunstung geschützt. Wegen der Durchlässigkeit des Bodens
werden erhebliche Schwankungen des Grundwasserstandes kaum Vorkommen, in¬
dem der Abfluss des Meteorwassers nach der See mit steigendem Gefälle be¬
schleunigt wird; doch ist die Durchlässigkeit des Bodens nicht so gross, dass
ein praktisch bemerkbares Eindringen der täglichen Salzfluthwellen durch die
äussere Dünenkette und künstliche Eindeichung hindurch anzunehmen ist —
eine Frage, die übrigens in sehr einfacher Weise experimentell nach dem Chlor¬
gehalt des Grundwassers (ausserhalb des Bereichs der Verunreinigung duroh
hauswirthschaftliche Abfälle) bestimmt entschieden werden kann.
Torf- und Moorbildungen sind mir nicht bekannt; im Gegentheil zeigt sich
die Oberfläche des unbebauten Landes sehr humusarm — demnach sollte das
Grundwasser von Norderney ziemlich weich (d. i. frei von Erdsalzen) sein und
nur sehr wenig organische Substanz enthalten.
Chemische Analysen von Grundwasserproben sind mir nicht bekannt; aber
die sinnfälligen Merkmale des Brunnenwassers, welches in dem Badedorf geför¬
dert und benutzt wird, machen durchaus nicht den Eindruck von reinem Wasser;
es ist auffällig gelb gefärbt und nicht gerade weich zu nennen, und mit Berück¬
sichtigung der Art und Weise, wie auf Norderney die hauswirthschaftlichen Ab¬
fälle, die flüssigen und die festen, behandelt werden, liegt der Verdacht nahe,
dass die Schmutzwässer nach allzu kurzem Kreislauf wieder als Brunnenwasser
für hauswirthschaftliche Zwecke, namentlich zu Speisen und Getränken, wie zur
Reinigung des Körpers und der Wäsche benutzt werden.
Die Zeit ist nicht lange her, wo alles Abwasser aus den Haushaltungen auf
Höfen und Strassen in den Untergrund anstandslos mit dem Meteorwasser ver¬
sank, welches ausserdem die festen Abfälle und Auswurfsstoffe auf den Höfen
und Strassen auszulaugen die beste Gelegenheit hatte.
In neuerer Zeit sind sogenannte wasserdichte Abtrittsgruben anbefohlen
und eingeführt worden; der Gebrauch von Aborttonnen nimmt ebenfalls zu; eine
geregelte Abfuhr entfernt die Fäcalien und die festen hauswirthschaftlichen Ab¬
fälle; zur Ableitung der flüssigen Abfälle existirt eine Art Canalisation. Während
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Ueber einige Missstände der Bade-Insel Norderney.
163
aber letztere an ihrer Mündung an der Ostseite des Dorfes zu einer argen Ver¬
pestung von Luft und Grundwasser führt, versinkt ohne Zweifel noch sehr viel
löslicher Schmutz in den Hofräumen und auf den unbefestigten Strassen, und auch
der abgefahrene Unrath findet, bei aller Anerkennung der maschinellen und admi¬
nistrativen Art, wie die Abfuhr von den Häusern und am Abfuhrdepot gehand-
habt wird, noch nicht die abschliessende Behandlung, welche die Reinheit von
Luft, Boden und Grundwasser gewährleistet. Unter dem, was nicht abgefahren
wird, macht sich besonders der Abfall von dem allgemein zur Heizung benutzten
Brenntorf auf den Strassen lästig, indem er stark schmutzenden braunen Staub
erzeugt und, mit dem eingemengten Pferdedünger vom Regen ausgelaugt, sicher¬
lich auch das Brunnenwasser verschlechtert, welches auf Norderney immer nur
locales, durch Bodenfiltration mehr oder weniger verändertes Meteorwasser bleiben
wird, denn dass vom Festlande herüber unter dem Watt hindurch eine Ader
süssen Wassers sich herüberziehen sollte, wie das an der, geologisch ganz ver¬
schiedenen Westküste von Schleswig qachgewiesen worden, ist hier sehr unwahr¬
scheinlich.
Bei alledem ist die jetzige Reinhaltung von Norderney recht kostspielig.
Sollte es nicht möglich sein, manche Uebelstände zu beseitigen und gleichzeitig
die Reinhaltung billiger zu machen? Es wird möglioh sein, wenn die Ab¬
fälle weniger nach dem Princip einseitiger Fortschaffung, als vielmehr zum
Zweck vortheilhafterer Ausnutzung durch Gartenbau und Land¬
wirtschaft behandelt werden.
Die Erzeugung pflanzlicher Producte ist zur Zeit auf Norderney noch er¬
staunlich gering — trotz des hohen Bedarfs während der Badesaison, den man
vom Festlande aus decken muss. Als Gründe sind anzuführen: die Armuth des
Bodens an Humus und mineralischem Pflanzennährstoff, sowie dessen Durchlässig¬
keit und Beweglichkeit (Dünen- und Flugsand); ferner das stürmische Klima
und vor Allem das Naturell der seit Jahrhunderten für Fischfang und Schifffahrt
gezüchteten Bevölkerung.
Am leichtesten kann die Bodenbeschaffenheit corrigirt werden, wie sofort
dargethan werden soll. Das Klima an sich ist gewiss nicht in dem Masse ver¬
schieden von demjenigen der bochcultivirten Canalinseln, wie der Culturzustand,
und lässt sich auch einigermassen verbessern. Die grösste Schwierigkeit für
Hebung der Cultur liegt, wie meist der Fall, in der Bevölkerung selbst. Wenn
diese der Belehrung und Erziehung unzugänglich ist, trotz ihres zutageliegenden
eigensten, unmittelbarsten Vortheils, und wenn sie vielleicht sogar einer land¬
wirtschaftlichen und gärtnerischen Einwanderung gegenüber sich ablehnend
verhält, dann hat eben Norderney keine Zukunft als deutscher Badeplatz und der
Fremdenstrom wird sich nach gastlicheren Gestaden umsehen! Zugleich verliert
die Bade-Insel ihren hauptsächlichsten Werth für das deutsche Festland und
damit dessen Unterstützung im Kampfe um’s Dasein!
Zur Hebung der Bodenkultur ist zunächst eine verständige Auswahl und
Aptirung von Wirthschaftsareal nöthig, sowohl hinsichtlich des Windschutzes
wie der Bodenfeuchtigkeit. Die Kulturflächen sind innerhalb ausreichend be¬
festigter Dünenzüge zu suchen in einer Höhe über dem Grundwasser, welche
während der Vegetationszeit nicht viel um V 4 — 1 Meter schwankt. Instinctiv
scheint man von Alters her die kleinen Kulturflächen nach diesem Gesichtspunkt
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164
Dr. A. Mftller,
ausgesucht und hergerichtet zu haben. In grösserem Maassstabe ist man auf
dieser Basis mit den Feldanlagen bei der Meierei und dem Abfuhr-Depot vorge¬
gangen. Stellenweise muss durch Ausschachtung und Abtragung, stellenweise
durch Auffüllung die natürliche Bodengostaltung corrigirt werden. An der Hand
eines sachverständigen Kulturplanes und mit Benutzung von Feldeisenbahnen
sind die Kosten der Aptirung sicherlich keine unrentable Geldanlage.
Die chemischen Meliorationen bestehen in Zufuhr von Kalk, Kali, Phosphor¬
säure, löslichem Stickstoff und Humus.
Kalk kann aDgewendet werden in Form von verwitterten oder gepulverten
Muschelschalen oder gebranntem Kalk oder am besten von thonigem Kalkmergel,
bezügl. kalkhaltigem Baggerschlick, welcher gleichzeitig etwas Kali. Phosphor¬
säure und Stickstoff mitbringt und durch seine Bindigkeit wesentlich die physi¬
kalische Beschaffenheit des Sandes verbessert.
Unter den aufzubringenden Kalisalzen von Stassfurth oder Aschersleben
werden aus naheliegenden Gründen die chlorfreien vor den chlorhaltigen, also
schwefelsaure Kali-Magnesia vor Kainit, zu bevorzugen sein.
Zur Gewinnung eines Grundstocks von Phosphorsäure ist in erster Linie die
billige Thomasschlacke in feinster Mahlung zu empfehlen; für Deckung des ersten
Stickstoffbedarfs eine kleine Gabe Ghilisalpeter, — sofern sie nicht durch die
wirthschaftlichen Abfälle der ständigen und vorübergehenden Bevölkerung von
Haus aus erspart werden kann. Mindestens haben diese Abfälle die Aufgabe,
für die Zukunft mehr oder weniger ausschliesslich den nöthigen Dünger zu liefern.
Jetzt kann auch Emdener Stadtdung dafür eintreten.
Zu dem Ende ist für die Behandlung der Fäcalien vor allen anderen
Methoden die Aufsammlung in Torfstreu und Torfmull anzurathen.
In wie hohem Grade die genannten Torfpräparate geeignet sind, die mensch¬
lichen Fäcalien und ebenso die Pferdeexcremente aufzusaugen, geruchlos zu
machen und für die Pflanzenkultur zu conserviren, dafür bürgen die reichen und
mit Erfolg gekrönten Erfahrungen von Oldenburg. Hannover und Braunschweig.')
Die Torfstreu Methode hält die Luft rein, schützt bei Anwendung von
Kübeln oder halbwegs dichten Gruben das Grund- und Brunnenwasser vor Ver¬
pestung, liefert sämmtlichen Dungstoff an das Gartenland oder Feld und erhöht
allmälig dessen Humusgehalt, die wichtigste Vorbedingung eines lohnenden
Pflanzenbaues auf magerem Sandboden.
Die besonders zu sammelnden Küchen- und Fischerei-Abfälle sind zunächst
auf dem Abfuhr-Depot zur Fütterung von Schweinen, Enten und Hühnern zu be¬
nutzen, wie das in Kopenhagen schon lange mit Erfolg geschieht. (Vergl. den
Enquete-Bericht des Deutschen Landwirthschaftsrathes über „die Verwerthung
der städtischen Fäcalien“, S. 275. Hannover, bei Ph. Cohen, 1885.)
Die Ueberreste der eben genannten Abfälle würden dann mit dem Kehricht,
der Herdasche, welche grösstentheils aus Torfasche besteht, dem Brenntorfmull
u. s. w. zu Compost zu verarbeiten sein, — unter zeitweiliger Anfeuchtung mit
l ) Nach gefälliger Mittheilung des Abfuhr-Unternehmers Herrn Ennen ist die
Torfstreu seit einiger Zeit in mehreren Gebäuden des Bade-Etablissements zur An¬
wendung gelangt. Leider erfuhr ich dies erst so spät, dass ich ausser Stande
war, von dem Herrn Bade- Inspector mir die Erlaubniss zu einer Besichtigung zu
erbitten. Der Verfasser.
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Ueber einige Missstände der Bade-Insel Norderney.
165
Jauche, soweit solche nioht auch durch Torfstreu in Hof- und Strassenpissoirs
und in den Pferde- und Kuhställen aufgesogen wird.
Was mit ausreichendem und passendem Dung aus dem unfruchtbarsten
Sand gemacht werden kann, ist jedem Gärtner bekannt; die fruchtbarsten Ge¬
müseländereien in der Nähe von Grossstädten sind meistens aus magerem Sand
geschaffen worden, — und zeigt sich die Wirkung starker Düngung auch bereits
auf Norderney beim Abfuhr-Depot.
Auf Norderney wird man sich, wenigstens anfänglich, mit der Massen-
production weniger empfindlicher Pflanzen, vorwaltend für Fütterungszwecke be¬
gnügen, also Grasflächen mit Reygras, Knaulgras, Timotheumgras u. s. w. an-
legen, andere Stücke mit Lupinen und Spargel, andere mit Runkelrüben und
versuchsweise mit Comfrey (Symphytum asperrimum) bestellen. Unter den
Getreidearten wird man diejenigen anbauen, deren Samen so fest sitzen, dass
sie nicht vorzeitig durch heftige Winde ausgeschüttelt werden. Daran wird sich
eine allmälig intensiver werdende Gemüsegärtnerei anschliessen in dem Masse,
wie durch Anlegung von lebendigen Hecken Schutz gegen die Winde ge¬
wonnen wird.
Dass man mit Anpflanzung von Büschen und Bäumen bisher wenig Glück
gehabt, beruht wol weniger auf den starken Winden, als auf Mangel an Nähr¬
stoffen für dieselben und auf Vernachlässigung ihres Wasserbedürfnisses. Schafft
man sich in diesen beiden Beziehungen günstige Centren, so wird man allmälig
von Buschwerk (Bocksdorn oder Lycium europaeum, Rubusarten) zu ausge¬
dehnteren Baumpflanzungen von Weiden, Erlen, Espen, Linden, Ulmen u. s. w.
kommen. Bei Obstbäumen sind alle hochstämmigen Sorten von Haus aus als
unpassend zu bezeichnen.
Mit der Verwerthnng von Futtermitteln, auch bei Massenproduction, wird
man nie Schwierigkeit haben; der jetzige Mangel daran ist wol die Hauptursache
der hohen Milchpreise.
Wir haben noch die Behandlung der Hauswässer besonders zu besprechen.
Ein Theil derselben wird, wie oben erwähnt, durch Strassencanäle an die Ost¬
seite des Ortes abgeleitet; aber dass es sich zur Zeit nur um einen Anfang der
Abwasserbeseitigung handelt, darüber dürfte Einstimmigkeit herrschen. Am
besten wäre es, wenn jede Haushaltung ihr Torffilter hätte, welches nur klares
Wasser abfliessen lässt und dessen unrathgesättigter Inhalt von Zeit zu Zeit mit
dem Fäcaltorf abgefahren wird. Andernfalls sind bei der schwachen Spülung
die Strassenrohre der Verschlämmung ausgesetzt.
Die Spüljauche in ihrer jetzigen Beschaffenheit, wie sie die Mündung des
Canals verlässt, ist ein öffentliches Aergerniss und eine sanitäre Gefahr zugleich.
Zur Beseitigung der Uebelstände würde ich Vorschlägen, nahe der Mündung
2 Bassins anzulegen, dieselben mit grober Torfstreu zu füllen und die Jauche
abwechselnd durch das eine und das andere Bassin zu leiten bis zur Sättigung
der Torfstreu, worauf letztere als Dünger aufs Feld gefahren wird. Es könnte
allenfalls auch eine Klärung mit Kalkmilch eingefübrt werden, doch ziehe ich
unter gegebenen Verhältnissen die Torffiltration vor.
' Das Filtrat ist mit etwas Kalk versetzt zur Bewässerung von Gartenbeeten
oder von Grasflächen oder von Weidenplantagen zu benutzen.
Bei derartiger Behandlung der Abwässer würde sogar die Anlage einzelner
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166
Dr. A. Maller.
Wasserclosets principiell statthaft erscheinen, wenn man glaubt, closetliebenden
Badegästen hierin entgegenkommen za müssen. l )
Da die Loft auf Norderney fast ohne Ausnahme in lebhafter Bewegung ist,
erscheint es zweckmässig, ihre lebendige Kraft durch automatische Windmotoren
zum Wasserheben zu verwenden, theils um letzterwähntes Jauchenfiltrat besser
für Pflanzenbau auszunutzen, theils um unter andern Kulturen etwa zu hohen
Grandwasserstand zu senken und anderswo einem Wassermangel abzuhelfen,
wodurch zugleich eine dem Pflanzenwuchs höchst forderliche Bewegung und
Lüftung des Grundwassers bewirkt wird, wie in den alten berühmten holländi¬
schen Poldern.
Die Anlage von Süsswasserteichen, wie ein solcher nahe bei der Canal¬
mündung an der Südostseite des Ortes sich befindet, an verschiedenen Punkten
der Insel wäre sehr wünschenswerte Mit der an den Ufern sich entwickelnden
Baumvegetation würde der landschaftliche Reiz der Insel sehr erhöht werden;
das Teichwasser ist für die Wäsche besser als Brunnenwasser, und liefert im
Winter den nöthigen Eisvorrath für den Sommer in die Haus- und Gast¬
wirtschaften und die Molkerei.
Bei Feuersgefahr ist, ausser bei kleinen Stubenbränden, in der Regel das
salzige Seewasser, weil wirksamer, vorzuziehen und kaum schwerer zu be¬
schaffen als Teichwasser. —
Was hier über die Zustände auf Norderney gesagt ist, scheint nach Allem,
was ich zu hören Gelegenheit hatte, ebenfalls für die Bade-Insel Borkum, bis
zu einem gewissen Grade vielleicht auch für andere Nordsee-Inseln zutreffend
und verwertbar zu sein.
Berlin, den 24. September 1885.
*) Die Gesammtreinhaltung auf Schwemmcanalisation mit Wasserclosets zu
basiren, möchte ich nicht raten. Zunächst würde dieser Plan ein grosses Wasser¬
werk mit Tiefbrunnen voraussetzen, und bei der Schmalheit der Insel würde eine
merkliche Senkung des Wasserspiegels um die Tiefbrunnen herum vielleicht ein
Eindringen von salzigem Seewasser nach sich ziehen. Die Beseitigung der täglich
erzeugten Spüljauche, welche bei Regenwetter doch mehr als 1000 cbm betragen
dürfte, könnte nach den traurigen Erfahrungen der englischen Seebäder nicht durch
directe Ableitung in das Meer bewirkt werden, sondern müsste durch Berieselung
erfolgen; die Rieselfelder aber müssten, um einen Rückfluss verdächtigen Grund¬
wassers in die Brunnen zu verhüten, jenseits des Leuchtthurms auf der Ostseite
der Insel angelegt werden, wo es allerdings an Platz nicht fehlt. Hierzu kommt
als sehr erschwerendes Moment, dass die an sich doch recht kostspielige Be- und
Entwässerung der Schwemmcanalisation auf der Bade-Insel Norderney nur etwa den
dritten Theil des Jahres in eigentlichem Betrieb gehalten, der Aufwand einer solchen
Anlage vergleichsweise zu einem ständig gleichbevölkerten Orte also ziemlich verdrei¬
facht werden würde. Mit der Ausserbetriebsetzung oder doch starken Einschränkung
des Betriebes wäre gleichzeitig eine sanitäre Gefahr verbunden: das Trockenlaufen
langer Canalstrecken, die dadurch bedingte Gährung der Schlammrückstände und
das Eindringen von Canalgasen durch die gleichfalls austrocknenden Closetverschlüsse
in die Häuser. Wenn schon schwemmcanalisirt werden soll, so wäre wenigstens ein
Separatsystem mit gesonderter Ableitung des Regenwassers und demgemäss engen
Schmutzwassercanälen, z. B. das Shone System, zu wählen. Der Verf.
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III Verschiedene Mittheilungen.
Ein Beitrag mr Aetialagie 4er Tulntinnkeit Von Sanitätsrath Dr. Ebertz
in Weilborg.
Das Material für meine Untersuchungen, deren Resultate ich in der kurzen
Skizze mitzutheilen mir gestatte, verdanke ioh der Direction der communalständi-
schen Taubstummen-Anstalt zu Gamberg, welche mir ihre Aufzeichnung bereit¬
willigst überlassen hatte.
Meine Untersuchungen estreckten sich auf die in den letzten 25 Jahren in
die Lehranstalt aufgenommenen 310 Zöglinge. Von der ursprünglichen Zahl
319 musste ich 6 Zöglinge ausscheiden, bei welchen in den Listen alle Angaben
fehlten, und ausser diesen noch 3 Fälle unberücksichtigt lassen, bei welchen
sofort nach der Aufnahme angeborener Idiotismus constatirt worden war.
Statistische Zahlen werde ich nicht mittheilen können, weil erstens nicht
alle in dem bildungsfähigen Alter stehenden Taubstummen des Regierungsbezirks
Wiesbaden der communalständischen Lehranstalt zur Ausbildung überwiesen wur¬
den, und weil ferner auch noch Zöglinge aus benachbarten Bezirken und Ländern
in dem genannten Zeitraum in die Anstalt aufgenommen worden waren. Ich
werde indess Gelegenheit finden, die von mir gewonnenen Zahlen mit anderen
statistischen Angaben zu vergleichen.
Von den 310 Zöglingen gehörten 278 dem Reg.-Bez. Wiesbaden, 21 dem
Grosshezogthum Luxemburg, 4 dem Reg.-Bez. Cassel an, die übrigen vertheilen
sich auf benachbarte Bezirke.
Confession. Von 310 Taubstummen waren 171 evangelisch, 132 ka¬
tholisch, 7 Israeliten.
Geschlecht. Von 310 Taubstummen waren 192 männlich, 118 weib¬
lich. Es kommen demnaoh auf 100 annähernd 62 männliche und 38 weibliche,
oder 3:2. Diese Verhältnisszahl kann einen statistischen Werth aus den schon
angegebenen Gründen nicht beanspruchen. Sie ist indess, wenn auch nicht con-
gruent, doch annähernd mit anderen statistischen Angaben übereinstimmend.
Bei der Volkszählung im früheren Herzogthum Nassau kamen auf 100 männliche
Taubstumme 75 weibliche, 4:3. Ganz dasselbe Verhältniss gab die im früheren
Königreich Hannover 1856 vorgenommene Zählung. Im Königreich Bayern
kamen 1858 auf 6 männliche 5 weibliche Taubstumme. In Preussen war das
Verhältniss 1852 13:10; in Belgien 1835 6:5; in Grossbritannien 1851 5:4;
in Dänemark 1855 7:5. Das gleiche Verhältniss bestand 1850 in Schweden.
Lebensstellung der Eltern. Bei 16 Zöglingen war der Beruf nicht
angegeben. Von den übrigen 294 stammten — entsprechend dem Ueberwiegen
der ländlichen Bevölkerung in dem Regierungsbezirk — 128, also beinahe die
Hälfte von Landleuten, 34 von Tagelöhnern, 19 von Bergarbeitern, 16 von Kauf¬
leuten und Kleinkrämern, 10 von Maurern und je 7 von Schneidern und Schuh-
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168
Verschiedene Mittheilungen.
machern ab, die übrigen Fälle vertheilen sich gleichmässig auf alle Berufsarten
der Eltern. Ein irgendwie bemerkbarer Einfluss einzelner Stände und Gewerbe
der Eltern auf die Entstehung der Taubstummheit ihrer Kinder lässt sich aus
diesen Zahlen nicht heileiten. Aber selbst wenn einzelne Gewerbe mit stärkeren
Zahlen vertreten wären, so würde man mit Ausscheidung der Zöglinge aus den
benachbarten Bezirken doch erst dann zur Aufstellung von relativen Zahlen ge¬
langen können, wenn man die Gesammtzahl der den einzelnen Berufs- und
Erwerbsarten angehörigen Einwohner des Regierungsbezirks zu Grunde legen
könnte. Wenn man die Erfahrung gemacht haben will, dass unter den Kindern
von Müllern verhältnissmässig mehr Taubstumme Vorkommen, so ist darauf hin¬
zuweisen, dass von diesen 310 Kindern nur 1 aus einer Mühle stammte.
Aus unserer Zusammenstellung geht indess doch hervor, dass die meisten
der taubstummen Kinder den ärmeren Familien des Bezirks angehörten. Wenn
man auch die materielle Noth der Eltern nicht direkt als ätiologischen Faktor
heranziehen kann, so hinderte doch die Armuth in den vielen Fällen von früh
oder spät erworbener Taubstummheit die Eltern, die Kosten für eine Special¬
behandlung ihrer unglücklichen Kinder aufzubringen, ganz abgesehen davon,
dass auch dieser Bevölkerungsklasse meist das Verständniss für den Werth einer
frühzeitigen rationellen Hülfe abgeht.
Eintheilung. Die Bezeichnung der Krankheitsursachen in den Anstalts-
Tabellen basirt theilweise auf ärztlichen Zeugnissen und Krankengeschichten,
und theilweise nur auf den mündlichen Angaben der Eltern. Leider wird damit
der exact wissenschaftliche Werth der folgenden Darstellungen hinfällig. Indess
werden sie doch im Allgemeinen einen annähernd richtigen Einblick in die Aetio-
logie der Taubstummheit gewähren. Statistische Zählungen werden doch auch
auf die Angaben der Laien basirt, und gerade die ersten Erhebungen müssen
meistens Organen anvertraut werden, welchen Liebe und Verständniss zur Sache
abgeht. Dagegen beanspruchen die mir vorgelegenen Einträge in die Anstalts-
Tabellen insofern eine grössere Zuverlässigkeit, als sie von sachkundigen, mit
dem Wesen der Taubstummheit vertrauten Fachmännern vorgenommen wurden.
Pathologisch-anatomische Befunde werde ich nicht mittheilen können, da
bei den 8 während der Anstaltszeit letal geendigten Fällen Sectionen nicht stalt-
gefunden hatten.
Um die untersuchten Fälle übersichtlich zu ordnen, folge ich der Einthei¬
lung von v. Tröltsch. Ich unterscheide hiernach 3 Entstehungsarten: eine
angeborene Taubstummheit, in welcher das Kind nie hörte und vor dem Taub-
stummen-Unterricht nie sprach; eine früh erworbene Taubstummheit, die sich
bei einem nach der Geburt hörenden, aber seinem Alter entsprechend noch nicht
redenden Kinde entwickelte; und eine spät erworbene Taubstummheit bei
Kindern, die hörend geboren waren, bereits kürzere oder längere Zeit sprachen
und dann erst mit dem Gehör allmälig auch die Sprache wieder verloren hatten.
Die Eltern und besonders die Mütter leugnen, von einem falschen Scham¬
gefühl geleitet, vielfach das Angeborensein der Taubstummheit ihrer Kinder und
schieben die Ursache der vermeintlich erworbenen Taubstummheit einer in der
frühesten Jugend aufgetretenen, oft sehr leichten und indifferenten Erkrankung
zu. Zu berücksichtigen ist ferner, dass bei der angeblichen Beobachtung, nach
welcher die Kinder in dem erßten Lebensjahre gehört haben sollen, vielfache,
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Verschiedene Mittheilungen.
169
und wenn sie von einer Matter ausgehen, auch entschuldbare Täuschungen unter¬
laufen. Ich habe daher in einzelnen Fällen, in welchen die Krankheit in den
Tabellen als im ersten Lebensjahre erworben aufgeführt wurde, wenn als Ursache
irgend eine indifferente Krankheit angegeben war, und wenn auf der anderen
Seite andere anamnestische Momente, wie Verwandtschaft der Eltern, Heredität etc.
Vorlagen, kein Bedenken getragen, solche Fälle unter die angeborene Taubstumm¬
heit zu registriren. Aber auch die Grenze zwischen früh und spät erworben war
in den einzelnen Fällen nicht immer mit Sicherheit zu ziehen, da auch bei ganz
normalen Kindern der Zeitpunkt des Eintritts der Sprechfähigkeit ein ver¬
schiedener ist. Im Allgemeinen wird, wie ich es gethan habe, diese Grenze bei
dem Abschluss des zweiten Lebensjahres zn ziehen sein.
Von diesen Gesichtspunkten ausgehend habe ich die Eintbeilung vorge¬
nommen. Die Taubstummheit der 310 Schüler war bei 185, also bei 60 pCt.
angeboren und bei 125 oder bei 40 pCt. erworben, and zwar bei 73 früh,
bei 52 spät erworben.
Diese Zahlen sind ziemlich congruent mit anderen statistischen Erhebungen.
In dem früheren Herzogthum Nassau ') waren bei der Zählung am 10. März 1863
unter 381 Taubstummen 228 (59,85 pCt.) taubgeboren und 153 (40,15 pCt.)
durch spätere Krankheiten ertaubt. Ein ähnliches Verhältniss ergaben nach
Dr. Schmalz 1 ) die Zählungen aus 13 verschiedenen Staaten, in denen unter
5425Taubstummen 3665 (67,56pCt.) mit angeborener, und 1760 (32,44 pCt.)
mit erworbener Taubstummheit gezählt wurden. Nach Dr. C. Majer 2 ) betrug
nach den Zählungen in den Jahren 1840 und 1858 die Zahl der angeboren
Taubstummen im Königreich Bayern 80 pCt., die der Ertaubten nur 20 pCt.
Auch neuere Zählungen kommen zu demselben Resultat. Dr. H. Bircher 3 )
fand durch seine Untersuchungen in 8 Taubstummen-Anstalten der Schweiz unter
313 Zöglingen 64,3 pCt. mit angeborener und 35,7 pCt. mit erworbener Taub¬
stummheit. Da jedoch die Taubgeborenen im Allgemeinen weniger bildungsfähig
sind und daher bei der Aufnahme in Lehranstalten numerisch weniger berück¬
sichtigt werden als die Ertaubten, so schliesst Bircher, dass in den Anstalten
der Schweiz die gefundene Procentzahl der angeboren Taubstummen sich mit
dem wirklichen Vorkommen nicht deckt. Er nimmt vielmehr an, dass in der
Schweiz 80 pCt. der angeborenen und 20 pCt. der erworbenen Taubstummheit
angehören. Dieses Zahlenverhältniss stimmt genau mit den vorher angeführten
älteren Zahlen aus Bayern überein. Wenn umgekehrt in der Taubstummen-
Anstalt in Berlin von 185 Schülern 25 pCt. mit angeborener und 75 pCt. mit
erworbener Taubstummheit gezählt wurden, so ist man auf Grund der neueren
Zahlen von Hartmann 4 ) zu dem Schlüsse berechtigt, dass die angeborene Taub¬
stummheit (nach Dr. H. Bircher die endemische) in gebirgigen Gegenden
häufiger auftritt als im Flachland.
') Meckel, Statistik der Taubstummen im ilerzogthum Nassau.
*) Dr C. Majer, Studien zur Statistik der Taubstummen im Königreich Bayern.
Henke’s Zeitschrift.
s ) Dr. H. Bircher, Der endemische Kropf und seine Beziehungen zur Taub¬
stummheit. Basel 1883.
4 ) A. Hartmann, Taubstummheit. Stuttgart 1880.
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170
Verschiedene Mittheilungen.
In der Grossherzogi. hessischen Tanbstummen-Anstalt in Fr. sollen nach
der mir gewordenen Mittheilung des Anstalts-Directors in den letzten b'/ 2 Jahren
von 150 aufgenommenen Zöglingen nur 2 Fälle von angeborener Taubstummheit
vorgekommen sein. Diese mit meinen Erhebungen aus den Tabellen der Anstalt
zu C. im direkten Widerspruch stehende Angabe machte mich bezüglich der
Richtigkeit meiner Resultate nicht wankend. Denn den oben mitgetheilten
älteren Zahlen von Meckel, Dr. Schmalz, Dr. Majer, und den neueren von
Dr. Bircher und Hartmann gegenüber kann dieser Angabe eine Bedeutung
nicht zugeschrieben werden, zumal da auch Dr. Mathias bei der 1858 gerade
im Grossherzogthum Hessen vorgenommenen Zählung 75,63 pCt. mit angeborener
und 24,37 pCt. mit erworbener Taubstummheit constatiren konnte.
1. Angeborene Taubstummheit.
Verwandtschaft der Eltern. Von den 185 Zöglingen mit angeborener
Taubstummheit stammten 37 von blutsverwandten Eltern ab, während die Eltern
der übrigen 148 Zöglinge in keinem Verwandtschafts-Verhältniss zu einander
standen. Mehrere Zöglinge sind Kinder derselben Familie. Die Zahl der bluts¬
verwandten Elternpaare reducirt sich dadurch auf 28. Von diesen sind 9 Paare
Geschwisterkinder, 5 Geschwisterenkel und 14 sind weitläufiger mit einander
verwandt. Bei einzelnen dieser letzteren ist der Verwandtschaftsgrad noch näher
angegeben. Da dies indess nicht nach feststehenden Normen geschehen zu sein
scheint, so ist es sicherer, nur die drei Unterscheidungen bezüglich der Verwandt¬
schaft zu treffen. Aus diesen 28 Ehen blutsverwandter Eltern sind auch neben
taubstummen noch vollsinnige Kinder hervorgegangen. Die folgende Zusammen¬
stellung ergiebt einen übersichtlichen Einblick in diese Verhältnisse.
Verwand tschafts-Verhältuiss
der Eltern.
Zahl der
taubstummen
Kinder.
Zahl der
vollsinnigen
Kinder.
Geschwisterkinder ....
4*)
keine.
weitläufig.
1
Angabe fehlt.
weitläufig.
1
do.
weitläufig.
1
do.
Geschwisterkinder ....
4
keine.
weitläufig.
1
Angabe fehlt.
Geschwisterkinder ....
1
1
weitläufig.
1
1
weitläufig.
1
1
weitläufig.
1
Angabe fehlt.
Geschwisterkinder ....
4
1
Gesch wisterenkei ....
1
3
Geschwisterenkel ....
2
keine.
Geschwisterkinder ....
1
do.
Geschwisterenkel ....
1
1
*) 2 davon sind Zwillinge.
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Verschiedene Mitteilungen.
171
V erwandtschafts-V erhältn iss
der Eltern.
Zahl der
taubstummen
Kinder.
Zahl der
vollsinnigen
Kinder.
weitläufig.
2
2
weitläufig.
1
3
Geschwisterenkel ....
1
4
Geschwisterkinder ....
1
1
weitläufig.
2
keine.
weitläufig.
2
3
Geschwisterkinder - . . .
1
Angabe fehlt.
Geschwisterkinder ....
1
keine.
Geschwisterenkel ....
1
do.
weitläufig.
1
2
weitläufig.
1
2
weitläufig.
1
5
Geschwisterkinder ....
2
keine.
Das Verhältniss liegt hiernach für die Eltern, die Geschwisterkinde
ungünstig, denn 5 Elternpaare haben nur taubstumme Kinder, und 3 haben
neben taubstummen nur 1 vollsinniges Kind. Bei Eltern mit weitläufigerem
Verwandtschaftsgrad hommen dagegen auf je 1 taubstummes Kind je 3, 4 und
5 vollsinnige Kinder.
Heredität, a) Taubstummheit. Von den 185 Zöglingen hatten 25
taubstumme Ascendenten, und zwar 1 Mutter, 1 Qrossvater, 9 Elterngeschwister,
die übrigen waren entferntere Blutsverwandte. Ausserdem kam Taubstummheit
in der Seitenverwandtschaft bei 6 Geschwisterkindern vor.
Von diesen erblich mit Taubstummheit belasteten Kindern waren 13 die
einzigen Kinder, in 3 Familien waren je 2, und in je 2 Familien je 3 taub¬
stumme Kinder vorhanden.
Es ist bemerkenswerth, dass diejenigen Fälle, in welchen 3 taubstumme
Kinder in derselben Familie vorkamen, sowohl bezüglich der Zahl der taub¬
stummen Ascendenten, als auch bezüglich des näheren Verwandtschaftsgrades
der letzteren am meisten belastet waren. Die näheren Angaben mögen dies
erläutern. In dem einen Falle war die Mutter und 6 Muttergeschwister taub¬
stumm. In dem zweiten Falle lagen die Verhältnisse nicht günstiger, denn die
Sohwester des Vaters war taubstumm und hatte eine taubstumme Tochter ge¬
boren, eine Muttersschwester war taubstumm und auch unter den entfernteren
Verwandten befand sich noch ein taubstummes Glied. Umgekehrt waren in den
Familien mit nur 1 taubstummen Kinde meist auch weniger taubstumme entfernt
verwandte Ascendenten vorhanden. Auch war die Zahl der vollsinnig geborenen
Geschwister in diesen Familien durchschnittlich eine höhere. Auch hierfür zwei
Beispiele. In einer Familie mit 1 taubstummen und 3 vollsinnigen Kindern
waren die 3 Kinder des Grossonkels taubstumm; und in einer anderen Familie
mit ebenfalls 1 taubstummen und 3 vollsinnigen Kindern waren 2 entferntere
Ascendenten der Mutter taubstumm.
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172
Verschiedene Mittheilungen.
b) Gehörleiden. Bei 12 Zöglingen waren unter Eltern, Grosseltern und
Geschwistern mehr oder weniger Gehörleiden constatirt worden. Die letzteren
sind nicht näher zu präcisiren, da sich durchgängig nur die Bezeichnung „sehr
harthörig“ oder „schwerhörig“ in den Tabellen vorfindet. In einem Falle grenzte
die Harthörigkeit nahe an Taubstummheit, indem der sehr harthörige Vater auch
als Knabe nicht geläufig sprechen konnte.
Andere Ursachen. Von tuberkulösen Eltern stammten 7 Zöglinge mit
angeborener Taubstummheit ab; in 4 Fällen war die Mutter, in 3 der Vater an
Tuberkulose erkrankt und gestorben. Auch war oin Zögling während der Anstalts¬
zeit derselben Krankheit erlegen. Mit der einfachen Wiedergabe dieses Vorkom¬
mens aus den Anstaltslisten lasse ich die Frage nach dem causalen Zusammen¬
hang beider Krankheitsprozesse unerörtert.
Geistesstörung unter Ascendenten und Geschwistern wurde in 3 Fällen
und angeborener Blödsinn in 2 Fällen beobachtet. In einer Familie mit 1 taub¬
stummen und 2 vollsinnigen Kindern war der Vater geistig gestört, Mutter und
Geschwister schwächlich und körperlich unentwickelt. Ein taubstummer Zögling,
der eine schwachsinnige Schwester hatte, stammte von einem Vater, der Potator
war. Ein anderer Zögling, der noch einen taubstummen, der Anstalt nicht an-
gehörigen Bruder hatte, stammte ebenfalls von einem Vater, der Potator und
moralisch verkommen war. Uebrigens darf nicht übersehen werden, dass diese
Taubstummen in erster Linie dadurch belastet waren, als sie einen taubstummen
Vatersbruder hatten.
Bezüglich der Körperconstitution, überstandener Krankheiten,
bestehender Krankheitsanlagen und vorhandener körperlicher Bil¬
dungsfehler bei diesen Zöglingen mit angeborener Taubstummheit ist Fol¬
gendes zu erwähnen.
Sechs Kinder zeigten schon von der Geburt an eine grosse Körperschwäche
und waren auch geistig sehr gering beanlagt und wenig bildungsfähig. Ein
Zögling hatte erst im 5ten. ein anderer erst im 6ten Jahre gehen gelernt, ein
dritter zeigte noch viel später Motilitätsstörungen in der Form von schwerfälligem
und schwankendem Gang. Ein Zögling mit Atrophie und rachitischer Bückgrats-
verkrümmung musste als bildungsunfähig entlassen werden. Dieser Knabe hatte
4 vollsinnige Geschwister, darunter aber eine Schwester, die in ihrer körperlichen
Entwicklung sehr zurückgeblieben war und noch in ihrem 17ten Lebensjahre
ganz den kindlichen Habitus hatte.
Nur 2 Zöglinge waren in erheblichem Grade skrophulös. Dieses geringe
Vorkommen der Skrophulose widerspricht der früheren Annahme, dass diese
Dyscrasie bei Taubstummen besonders häufig sei. Auch Dr. Bircher 1 ) fand
durch vergleichende Untersuchungen der Zöglinge in 8 Taubstummen-Anstalten
der Schweiz mit den vollsinnigen Kindern des Bezirks Aarau, dass Skrophulose
nichts mit der Taubstummheit zu thun hat und Taubstumme nicht mehr befällt
als andere Menschen. Zu demselben Resultate gelangte Falk durch seine Unter¬
suchungen in der Taubstummen-Anstalt in Berlin.
Eine Schülerin litt an Epilepsie und war geistig äusserst gering beanlagt.
') a. a. 0.
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Verschiedene Mittheilungen.
173
Ein Schüler hatte im Alter von 1 '/ 2 Jahren bei angeborener Taubstummheit
noch heftige eklamptische Anfalle überstanden.
Eine Schülerin, deren Mutter an Tuberkulose gestorben war, zeigte als
Residuum von Hydrocephalus congenitus einen breiten Schädel.
Ein Knabe mit angeborener Taubstummheit, welcher 5 ältere vollsinnige
Geschwister hatte, war im 2ten Lebensjahre an Diphtherie erkrankt. Bei seiner
Aufnahme in die Taubstummen-Anstalt bestand erheblicher Strabismus, wodurch
seine Absehfahigkeit und damit seine Ausbildung überhaupt erschwert wurde.
Nach kurzer Zeit erfolgte Anaesthesia retinae des einen und später des anderen
Auges. Der unglückliche taubstumme und jetzt auch vollständig erblindete Knabe
musste zur Erlernung der Blindenschrift einer Blinden-Anstalt übergeben werden.
Zwei Zöglinge mit angeborener Taubstummheit litten in den ersten Jahren
an stinkendem Ohrenfluss.
Sechs Zöglinge hatten angeborene Bildungsfehler. Die Annahme liegt nahe,
dass diese zum Theil wenigstens mit der angeborenen Taubstummheit in geneti¬
schem Zusammenhänge stehen. Sie wurden in den Tabellen schon aus dem
Grunde aufgeführt, weil sie die Ausbildung der Schüler in der Sprechfäbigkeit
erschwerten.
Bei einem Zögling bestand starke Kropfbildung, und eine voluminöse Zunge
verhinderte die reine Aussprache der Zischlaute. Bei einem Anderen fehlten im
Oberkiefer sämmtliche Schneide- und Eckzähne. Ein Zögling konnte wegen Ver¬
knorpelung der Uvula und des weichen Gaumens nicht dazu gebracht werden,
ein reines i auszusprechen. Bei einem Zögling lag mangelhafte Zabnbildung vor,
indem nur Zahnstummeln vorhanden waren; das Aussprechen der Zischlaute war
dadurch sehr erschwert. Bei einem anderen Knaben waren die Flexoren beider
Vorderarme gelähmt. Derselbe war ausserdem geistig sehr unentwickelt. Unter
seinen 3 vollsinnigen Geschwistern, die früh gestorben waren, befand sich ein
Knabe mit ähnlicher partieller Muskelläbmung. Bei einem Mädchen verhinderte
die schiefe Mundbildung die Deutlichkeit der Spraohe. Bei einem anderen
Mädchen bestand fehlerhafte Bildung des weichen Gaumens.
Vermeintliche Ursachen. In einem Falle war das sog. Versehen der
Schwangeren, und in einem anderen Falle der schwierige, durch die Kunsthülfe
beendigte Geburtsact von den Müttern als die Ursache der angeborenen Taub¬
stummheit beschuldigt worden. In dem ersten Falle behauptete die Mutter
häufigen Umgang mit einem taubstummen Knaben gehabt und hierdurch die
Krankheit auf ihre Leibesfrucht übertragen zu haben. Ich führe diese thatsäch-
liche Mittheilung aus den Anstaltslabellen hier einfach an, ohne damit die Mög¬
lichkeit oder gar die Wahrscheinlichkeit eines solchen Vorganges begründen zu
wollen. Dasselbe gilt von dem anderen Falle, in welchem die Mutter die schwere
Zangenentbindung als ursächliches Moment der angeborenen Taubstummheit be¬
schuldigt hatte.
Bringen wir jetzt von der Gesammtzahl der 185 Fälle von angeborener
Taubstummheit alle bereits besprochenen Fälle in Abzug, in welchen ein direktes
ätiologisches Moment vorlag, oder bei denen constitutioneile Leiden, Krankbeits-
anlagen und Fehler der ersten Bildung mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit
auf eine gemeinsame Entstehung mit Taubstummheit zurückzuführen waren, so
bleiben doch immer noch einige 70 Fälle übrig, in welchen nicht das
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174
Verschiedene Mittheilungen.
geringste ätiologische Moment aufzufinden war. Die Zöglinge stammten
von gesunden, nicht blutsverwandten Eltern ab, waren erblich nicht belastet,
körperlich kräftig und von guter Gesundheit, ohne sonstige Gebrechen und auch
zum Theil sehr gut beanlagt. Wir stehen hier vor einer Frage, deren Lösung
der weiteren Forschung Vorbehalten bleibt.
Es fehlt noch zu sehr an wissenschaftlichem Material der congenitalen
Bildungsfehler des Gehörorgans. Auch müssen sich unsere Kenntnisse über die
Lokalisation im Gehirn und besonders über die cerebralen Gehörs- und Sprach-
centren noch erweitern. Und wenn ferner zahlreichere und zuverlässige Sections-
befunde nach beiden Richtungen hin vorliegen, dann werden wir erst zu einiger-
massen sicheren Aufschlüssen über diese Frage gelangen können.
2. Erworbene Taubstummheit.
Wir haben vorher kennen gelernt, dass die Taubstummheit bei 125 von
310 Zöglingen erworben war. 73 Zöglinge waren früh und 52 spät ertaubt
und hatten mit dem Gehör allmälig auch die Sprache verloren.
Untersuchen wir nun, welche Krankheiten die Anstaltstabellen als der
Ertaubung zu Grunde liegend anführen, so erhalten wir folgende Resultate,
welche ich der besseren Uebersicht wegen in tabellarischer Form mittheile.
G
3 e
r t a u b
t e
n
früh
spät
im
in Folge von
i.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
*1
10.
Summa
Lebensjahre
Meningitis*) . . . .
21
23
11
3
2
_
_
2
1
_
63
Eklampsie.
2
3
—
1
1
—
—
—
—
—
7
Mening. cerebro* \
1
1
1
2
5
spinalis /
Otitis, Ohrenfluss, 1
1
2
1
1
1
6
Carics /
Scrofulosis.
—
2
—
—
—
—
—
—
—
2
Scharlach.
1
2
1
1
2
1
2
—
—
1
11
Diphtherie.
—
—
1
—
1
—
—
—
—
—
2
Masern.
2
1
1
7
4
—
—
—
—
—
—
—
13
1
10
Typhus .
—
2
1
4
—
i
1
—
—
Fall auf den Kopf .
—
3
—
—
1
—
—
—
—
—
4
nicht angegebener 1
1
1
Krankheit /
Summa
30
43
20
7
12
2
i 3
4
| 3
1
125
73
52
*) Unter der Rubrik Meningitis habe ich alle Fälle aufgeführt, welche in
den Anstaltstabellen als Gehirnentzündung, Gehirnkrankheit und Kopf¬
krankheit bezeichnet waren.
*) Die an Variola erkrankte Mutter hatte ihr an der Brust, gestilltes Kind
inficirt.
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Verschiedene Mittheilungen.
175
Von diesen 125 Ertaubten waren 19 zugleich erblich belastet, nämlich 12
durch Taubstummheit unter Blutsverwandten, 5 durch geringere Gehörleiden;
1 Ertaubter hatte eine geisteskranke Mutter, ein Anderer stammte von einem
Vater, der Potator war und sichtbare Symptome moralischer Degeneration zeigte.
Die angeführten 12 taubstummen Verwandten waren 4 Mal Geschwister,
1 Mal Muttersbruder, die übrigen waren entferntere Blutsverwandte.
In einem Falle bestand ausser der Taubstummheit der Schwester noch bei
2 anderen Geschwistern Harthörigkeit.
Es lässt sich nicht beweisen, indess mit mehr oder weniger Wahrscheinlich¬
keit annehmen, dass die in diesen 12 Fällen eingetretenen Krankheiten zu Er¬
taubung führten, weil sie bereits erblich belastete Kinder befallen hatten. Diese
Krankheiten waren Meningitis in 4 Fällen, Eklampsie in 1, Gehirnerschütterung
durch Fall auf den Kopf in 1, Infectionskrankheiten in 5 und Ohrenfluss in 1 Fall.
Bezüglich der Körperconstitution, Krankheitsanlagen und Complicationen
mit anderen Krankheiten, welche zum Theil während der Anstaltszeit noch fort¬
bestanden, ist Folgendes zu erwähnen: 4 Ertaubte litten an allgemeiner Körper¬
schwäche; 3 in Folge von Meningitis Ertaubte hatten längere Zeit Motilitäts¬
störungen der unteren Extremitäten, und bei einem von diesen Zöglingen wurde
noch während der ganzen Anstaltszeit ein schwankender Gang beobachtet. Drei
Ertaubte litten an Tuberculose, in einem Fall mit tödtlichem Ausgange. In zwei
Fällen von Ohrenfluss und in 2 von Eklampsie bestand gleichzeitig allgemeine
Scrofulosis. * In einem dieser Fälle beeinträchtigte die andauernde skrophulöse
Augenentzündung die Absehfähigkeit des Schülers und damit seine Ausbildung
in erheblichem Grade. Bei 6 Ertaubten bestand Kurzsichtigkeit, welche ebenfalls
für die Absehfähigkeit sehr störend war. Die ursprüngliche Krankheit dieser
kurzsichtigen Taubstummen war in 4 Fällen Meningitis, in 1 Eklampsie und in
1 Typhus.
In 1 Fall folgte auf Masern der Keuchhusten und in je 1 Fall waren Typhus
und Scharlach mit Meningitis complicirt. Ein Zögling, welcher im 8. Lebens¬
jahre in Folge von Meningitis ertaubt war, bekam während der in der Anstalt
verbrachten Zeit häufig eklamptische Anfälle, besonders wenn derselbe gereizt
oder geschlagen wurde. Bei einem im 3. Lebensjahre nach Meningitis Ertaubten
zeigte sich in der Mitte des Schädeldaches eine erhebliche Vertiefung. Wann
und wodurch diese Difformität entstanden, ist nicht angegeben. Bei 4 an Me¬
ningitis, bei 3 an Masern und bei 2 an Scharlach Ertaubten war stinkender
Ohrenfluss eingetreten, der lange Zeit andauerte und bei den meisten dieser
Zöglinge während der Anstaltszeit noch fortbestand. In 2 dieser Fälle war das
das Trommelfell auf beiden Seiten zerstört; in 2 Fällen bestand hinter dem
rechten Ohr eine Fistelöffnung, und in einem dieser letzteren Fälle waren die
Gehörknöchelchen mit dem Eiter ausgespült worden.
Ueberhaupt sind bezüglich der pathologischen Veränderungen, welche in
den Fällen von erworbener Taubstummheit im mittleren Ohr und im Labyrinth
eintreten, bereits wesentliche anatomische Grundlagen gewonnen worden. Nach
Dr. H. Bircher 1 ) fand man im mittleren Ohr Anfüllung der Trommelhöhle mit
Schleim, Eiter, Concrementen, Granulationen, Sarcom und Tuberkelbildung;
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') a. a. 0. p. 68.
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176
Verschiedene Mittheilangen.
im Labyrinth Verdickungen der hantigen Theile, Ablagerungen von Kalk, Knochen¬
massen, Compression des Hörnerven und Atrophie desselben.
Dagegen entbehren wir, wie bei den Taubgebornen, so auch bei den Er¬
taubten über pathologisch - anatomische Vorgänge in dem Gehirn und besonders
in den Gehörs- und Sprachcentren bis jetzt noch brauchbarer Aufschlüsse.
Ich batte in der Einleitung angeführt, dass ich einzelne in die Listen der
Anstalt als früh ertaubt aufgenommene Fälle ausgeschieden und sie unter die
angebornen Fälle einregistrirt habe. In einem derselben war Magenkatarrh im
1. Lebensjahre, in einem anderen Erkältung ärztlich (!) als Ursache der Er¬
taubung attestirt worden; in 2 anderen Fällen beschuldigten die Eltern Erkältung
und zurückgetretnen Hautausschlag als Krankheitsursache. Sind diese vermeint¬
lichen Ursachen an sich schon als solche mehr als zweifelhaft, so ist in einem
Falle der nahe Verwandtschaftsgrad der Eltern, in 2 anderen die erbliche Be¬
lastung durch Taubstummheit unter Blutsverwandten als hinreichend zu erach¬
ten, diese Fälle der angebornen Taubstummheit einzureihen.
Als Curiosum theile ich an dieser Stelle noch mit, dass ein Vater den Impf¬
arzt beschuldigte, seinem Kinde im 1. Lebensjahr die Taubstummheit eingeimpft
zu haben. Auch dieser Zögling war durch constatirte Taubstummheit unter
Blutsverwandten erblich belastet. —
Schliesslich verdient das häufige Vorkommen von Enuresis nocturna
unter den Zöglingen der Anstalt zu C. einer besonderen Erwähnung.
Die Anstaltstabellen aus den Jahren 1860—75 enthielten unter 170 Zög¬
lingen bei 19, also bei 11,2 pCt. die Angabe, dass sie Bettnässer seien. Das
Leiden wurde vorwiegend (in 16 von 19 Fällen) bei Taubgebornen und nur
3 Mal bei Ertaubten beobachtet. Ueberdies war von letzteren ein Zögling durch
Taubstummheit unter Blutsverwandten erblich belastet. Bei einzelnen Zöglingen
verlor sich das Leiden nach kürzerer oder längerer Dauer, bei anderen dagegen
war es am Schluss des 6—7 jährigen Cursus noch nicht beseitigt.
In der Anstalt zu Fr. befanden sich zur Zeit unter 70 Taubstummen 5,
oder 7,1 pCt. Bettnässer, und in der Anstalt zu N. unter 79 Zöglingen 7, oder
8,8 pCt. Der Director der letzteren Anstalt theilte mir ausserdem mit, dass
nach seinen Beobachtungen stets 9 pCt. der Zöglinge Bettnässer seien.
Indem ich das thatsächlich häufige Vorkommen dieses Leidens unter Taub¬
stummen, namentlich unter Taubgebornen, wie ich dies bei den Zöglingen der
Anstalt zu C. constatirt habe, hier mittheile, überlasse ich die Beantwortung der
Frage, ob Enuresis nocturna in den von mir berichteten Fällen nur eine zufällige
Erscheinung war, oder ob dieses Leiden mit Taubstummheit in genetischem
Zusammenhänge steht, weiteren Untersuchungen.
Heber Verien-Keleaiea. Von Dr. Alexander Korn in Berlin. — Die
Ferien-Kolonien sind ein glücklicher Gedanke der neuesten Zeit, um arme,
heruntergekommene, bleiche Stadtkinder den schädlichen Einflüssen der grossen
Stadt und des elterlichen Hauses eine Zeitlang zu entziehen, indem man sie in
eine frische, kräftigende Landluft bringt. Pfarrer Walter Brion in Zürich
fasste zuerst diesen Gedanken, Dr. Varrentrap in Frankfurt a./M. verbreitete
die Idee in medicinischen Fachblättern, und bald folgte eine Reihe grosser
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Verschiedene Mittheilungen.
177
Städte, namentlich deutscher, diesen Anregungen. Schon am 15.November 1881
konnten auf einem hiesigen Ferienkolonien-Congress Vertreter aus ganz Deutsch¬
land, Oesterreich und der Schweiz erscheinen. London und Paris folgten. In
Kopenhagen hatte schon viel früher der Inspector einer Militärschule einen Aufruf
an die Landbevölkerung erlassen, arme Kinder in Einzelpflege zu nehmen. Der
Aufrnf war von glänzendem Erfolge begleitet. Aber es gab noch keine ge¬
schlossenen Kolonien. In New-York wurden alljährlich von der Kinder-Schutz-
gesellsohaft an 1500 Kinder während der Ferien, um sie gegen die Ruhr und
andere Schädlichkeiten zu beschützen, in grossen Schiffen des Morgens aufs
Meer hinaus- und Abends wieder heimgebracht.
Die Ferien-Kolonien sind ein glücklicher Gedanke, weil sie rechtzeitig, d. h.
noch dem kindlichen Organismus zu Hülfe kommen, wo ein Hinausschieben der
Hülfe Krankheit und Siechthum bedeuten würde. Sie sind ein glücklicher Ge¬
danke, weil sie die Hebung socialer Noth und socialer Missstände von einem
richtigen Punkte aus anfassen, weil sie Noth und Elend im Hause, in der Stadt
und im Staate durch geeignete Mittel vermindern und verhindern und mit ge¬
ringen Mitteln grosse Erfolge erzielen.
Vor Allem werden die Kinder widerstandsfähiger gegon schädliche Ein¬
flüsse. In der Stuben- und Stadtluft verlangsamt sich der Stoffwechsel, die
Bedingung des Lebens; die Organe werden welk, bleich, schrumpfen zusammen,
verlieren einen Theil ihrer Wärme, werden zu ihren Verrichtungen immer untaug¬
licher, und es bilden sich eine Menge Krankheiten aus Schwäche. Es tritt ein
Hang zur Trägheit ein, die innere Triebkraft geht verloren. Verdauung, Blut¬
umlauf, Ernährung nehmen ab und bringen jene Blässe, Magerkeit oder ge¬
dunsene Schlaffheit hervor, welche schon auf den ersten Anblick die Lebens-
armuth verräth.
Ich verweise hier auf die später folgenden Beispiele von ärztlichen Gut¬
achten über die zur Aufnahme in die Ferien-Kolonien empfohlenen Kinder.
Professor Rossbach spricht in der „Thüringer Saison-Nachricht“ unter
den Gedanken über klimatische Kuren an erster Stelle den aus, „dass das Klima
ein aus der Pharmacopoea pauperum auszuschliessendes Mittel sei und nur in
die Therapie der Reichen gehöre; den Armen mag man in das beste Klima
schicken, überall wird ihn das Gespenst seiner heimathlichen Lage verfolgen,
die bleiche Sorge, der nagende Hunger, die schlechte Wohnung, die ungenügende
Kost, und von diesem gejagt müsste er selbst in paradiesischen Gegenden unter¬
liegen. . . . Man überlege daher bei einem jeden Kranken zuerst genau, ob seine
Mittel auch reichen uad ob nicht vielleicht ein kurzer Aufenthalt in der Fremde
durch völlige Erschöpfung der vorhandenen Mittel ihn bald in eine schlimmere
Lage versetzt, als er sie vorher hatte.“ Nun, bei den Kindern fällt diese bange
Sorge weg. und gerade bei den Kindern bewirken und bedeuten die klimatischen
Orte, wenn auch nicht Kurorte, als welche wir die Ferien-Kolonien nicht alle
oder ganz ansehen können, nur Heil und Segen. Wenn Rossbach ferner be¬
tont, dass nie das Klima allein, sondern das Verhalten des Kranken und,
setzen wir für unseren Fall hinzu, des Schwachen im besseren Klima wesentlich
zur Heilung und, wie wir für die Ferien-Kolonien wieder hinzusetzen müssen,
zur Erholung und Stärkung mitwirken muss, und dass man nur, wenn mit einem
Vierleljebreeofar. f. gor. Med. N. P. XXIV. 1. 12
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178
Verschiedene Mittheilungen.
klimatischen Kurort eine geschlossene, unter strenger ärztlicher Aufsicht befind¬
liche Anstalt verbunden ist. Arme, Ungebildete und Charakterschwache einer
klimatischen Behandlung unterziehen solle, so dürfen die armen Kinder um so
eher der Wohlthat der Ferien-Kolonien theilhaflig werden, als die letzteren Be¬
dingungen bei ihnen erfüllt sind.
Die öffentliche Gesundheitspflege sowohl wie die private sind bei diesen
kolonialen Bestrebungen gleich stark interessirt. Sie verdienen unser Interesse
mindestens in gleichem Grade, wie die überseeischen; denn wir schaffon ein
Capital von Gesundheit und Lebenskraft, das dem Staate, der Gemeinde und
dem Hause zu Gute kommt.
Nicht genug anzuerkennen sind darum die Bemühungen des Comitds für
Ferien-Kolonien des Vereins für häusliche Gesundheitspflege in Berlin. Auch in
diesem Jahre, heisst es in dessen Bericht vom Jahre 1884, vermag das Comitd
mit freudigster Genugthnung auf den Verlauf und die Resultate seiner Arbeit
zurückzublicken; denn während im Jahre 1880 108 Kinder. 1881 228 Kinder,
1882 293 Kinder und 1883 399 Kinder in die verschiedensten Orte zur Ent¬
sendung kamen, ist im verflossenen Jahre die Zahl auf 421 gestiegen. Ich füge
noch hinzu, dass in diesem Jahre in Summa 741 Kinder und zwar 271 Knaben
und 470 Mädchen in die verschiedenen Kolonien entsendet wurden.
In der Anleitung, wie bei der Auswahl von Kindern für die Ferien-Kolonien
zu verfahren sei, ist als leitender Gedanke aufgestellt: schwächlichen und in der
Genesung begriffenen Kindern würdiger und in dürftigen Verhältnissen lebender
Eltern während der grossen Sommerferien Erholung in guter Luft, an einem ge¬
sunden Orte, unter geeigneter Aufsicht zu bieten.
Es worden bei der Auswahl nur solche Kinder berücksichtigt, deren Eltern
es ermöglichen können, die für die Dauer einer Ferien-Kolonie unumgänglich
nothwendige Ausstattung zu stellen. Jedem Kinde sind 4 Postkarten mitzugeben.
Dieselben werden angehalten, wöchentlich einmal an die Eltern zu schreiben.
Selbstverständlich werden Kinder, die mit unheilbaren Krankheiten oder mit
Untugenden behaftet sind, ausgeschlossen. Während der Erholungszeit soll nicht
allein auf den Körper, sondern auch auf den Geist erziehlich eingewirkt werden.
Deshalb werden die Kinder bei den gemeinschaftlichen Spaziergängen auf alles
Schöne in der Natur aufmerksam gemacht, und es wird darauf gesehen, dass sie
ein kameradschaftliches, harmonisches Zusammenleben führen. Sie werden viel¬
fach durch anregende Spiele erfreut, aber auch zu häuslichen Verrichtungen,
Reinlichkeit und Ordnung angehalten.
Das für die Ferien-Kolonien geeignete Alter reicht vom vollendeten 8. bis
zum 14. Lebensjahre. Kinder unter 8 Jahren sind meist körperlich zurück und
machen zu viel Umstände, mit dem vollendeten 14. Jahre dagegen verlassen sie
die Schule und beginnen ihren zukünftigen Lebenslauf.
Die Untersuchung, auf welche hin die Mitnahme beschlossen wird, geschieht
allein von den. vom Comite auserwählten und den Bezirks-Comites bekannt zu
machenden Aerzten. Die ärztlichen Gutachten werden erst eingeholt, nachdem
die betreffenden Recherchirenden das Ihrige über die Würdigkeit und Bedürftig¬
keit der Familien abgegeben haben.
Als Vorsitzender eines Bezirks-Comitds für die Ferien-Kolonien bin ich in
der Lage, hier einige Beispiele von ärztlichen Gutachten folgen zu lassen, auf
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UNIVERSUM OF IOWA
Verschiedene Mittheilungen.
179
Grand deren Aufnahmen von Kindern in die Kolonien empfohlen oder erfolgt
sind. Sie gewähren den präcisesten Einblick:
G H., Mädchen, 13 Jahre alt, ausserordentlich mager, schlecht ernährt,
blass, mit müdem Gesichtsausdruck, sonst gesund, der Erholung und Stärkung
bedürftig.
G. H. Auffallend klein, zart gebaut, im Allgemeinen gesund aber schwäch¬
lich und der Stärkung und Erholung sehr bedürftig.
A. M. Von zartem Knochenbau, das gesammte Skelett in der Entwicklung
zurückgeblieben, dürftige Musculatur, auffallend schlechte Zähne (fast alle cariös).
A. R. Sehr schlecht entwickelte Brust, sehr schwächlich, chronischer Kehl¬
kopfskatarrh, hatte einmal im vorigen Jahre schwere Masern und nach denselben
angeblich Bluterbrechen, und in diesem Jahre zum zweiten Mal Masern gehabt,
seitdem Kehlkopfskatarrh. Für die Ferien-Kolonie ungeeignet, dagegen für die
Aufnahme in eine See-Kolonie zu empfehlen.
H. L., blasser, schwächlicher, schlecht genährter Knabe mit danieder¬
liegendem Appetit, scheint durch die Schule überangestrengt zu sein. Die Luft
im Hofe des mir bekannten Hauses ist als besonders schlecht zu bezeichnen.
Der L. ist ärztlicherseits sehr zur Mitnahme in eine Ferien-Kolonie zu em¬
pfehlen. —
Ausser den auswärtigen Kolonien wurden in diesem Jahre noch 100 Kinder
in zwei sogenannte Halbkolonien vereinigt, welche während der grossen Ferien
täglich, mit Ausnahme des Sonntags, Nachmittags in Gartenlokalen der Aussen-
bezirke Berlins unter Aufsicht bei gutem Wetter im Garten, bei ungünstigen in
Sälen zu Spielen. Handarbeiten, Singen, Geschichtenerzählen sich versammeln,
wobei ihnen im vorigen Jahre täglich um 4 Uhr eine angemessene Portion guter
Milch mit Zubrot und um 7 Uhr eine Suppe verabreicht wurde. —
Es wird gewünscht, dass im Laufe des Winters die in den Kolonien ge¬
wesenen Kinder dreimal besucht und über den Befund dieser Besuche berichtet
würde, um auf Grund dieses Materials die Ferien-Kolonien weiter auszubilden
und zu verbessern.
Die Kolonien sind: Dippmannsdorf (Belzig), Dolgenbrod (Königs-Wuster¬
hausen), Drehna (Calau), Fredersdorf (Belzig), Herzberg a. ö. Elster, Königs-
Wusterhausen, Lehnin, Lütte (Belzig), Ober-Cosel (Rietschen), Pforten i.d. Lausitz,
Rheinsberg, Schwerin; ferner Ostseebad-Kolonien Möllen bei Köslin, Swinemünde;
Nordseebad-Kolonie Norderney; Soolbad-Kolonien Frankenhausen am Kyffhäuser,
Eimen.
Puerperalfieber, — In der Sitzung der Acad. de möd. vom 6. Nov. 1883
zu Paris (Arch. göner. de med. Dec. 1883.) sprach sich Hervieux bezüglich
des Einflusses, welchen Puerperalfieber-Epidemien auf schwangere Frauen aus¬
üben, dahin aus, dass, wie längst bekannt, eine gewisse Anzahl derselben der
puerperalen Septicämie, welche bald als solche sich vollständig entwickelt, bald
nur Frühgeburt bedingt, anheimfalle.
Während man nun diese Consequenzen immer nur als Ausnahmen zu be¬
trachten gewohnt ist, erkennt sie H. im Gegentheil als Regel auf Grund einer in
der Matcrnitö gemachten, sich auf 12 Jahre (1861—1872) beziehenden statisti-
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12 *
Original from
UNiVERSSTY OF IOWA
180
Verschiedene Mittheilungen.
sehen Aufstellung an, welcher zufolge die Häufigkeit der Frühgeburten im Ein¬
klänge mit der Intensität der fraglichen Epidemie steht. Als dieselbe im Ver¬
laufe der Jahre 1863 und 1864 ihren Culminationspunkt erreichte, wüthete
jene Infeetionskranklieit besonders unter den schwangeren Frauen. Dieselben
blieben in den Jahren 1865, 1866 und 1867, wo jene Epidemie sich abge-
schwächt hatte, mehr verschont, aber ihre Frucht wurde häufig ergriffen der Art,
dass das Gift, wenngleich weniger intensiv wirkend, Zeit genug gehabt zu haben
scheint, bis zum Foetus vorzudringen und da zum Nachtheile desselben und
Vortheile der Mutier seine Verheerungen anzurichten.
Wenn sich später der sanitäre Zustand der oben erwähnten Gebäranstalt
noch weiter bessern wird, wird auch die Häufigkeit der Frühgeburten und die
Mortalität der Schwängern noch mehr abnehmen.
Erfahrungen solcher Art machen es dringend nothwendig, jenen Frauen
unter den gedachten Umständen den Zutritt in eine Gebäranstalt entweder
gänzlich zu versagen, oder sie, wo dies nicht angänglich ist, möglichst kurze
Zeit vor ihrer Niederkunft dahin aufzunehmen. Pauli (Cöln).
Per Bacillus der LungentuberkuUse und die Verhütung derselben. — In
einem Vortrage kommt Jaccoud (Gaz. des Höp. 1884. No.42) zu dem Schlüsse,
dass die Entdeckung des Bacillus der Lungentuberkulose der Prophylaxis der¬
selben noch keinen Vorschub geleistet hat, da wir in dieser Hinsicht lediglich
noch datauf angewiesen sind, der mangelhaften Ernährung, welche die Entwick¬
lung jener Krankheit, resp. das Erscheinen des genannten parasitären Gebildes
in erster Linie begünstigt, entgegenzutreten. Und zwar soll sich auf dieses
Moment schon von der Geburt der Kinder ab. wenn eine erbliche Uebertragung
zu befürchten steht, unsere Aufmerksamkeit richten und die Ernährung jener
von Seiten der Mutter gänzlich untersagt werden, selbst dann noch, wenn nur
der Vater krank und die Mutter gesund ist, in Rücksicht darauf, dass diese von
jenem bei der Cohabitation angesteckt werden kann. Pauli (Cöln).
IV. Literatur.
Dr. Ft 'ied. Sanders Handbuch der öffentlichen Gesundheits¬
pflege, in zweiter Auflage, bearbeitet und herausgegeben vom
Vorstand des niederrheinischen Vereins für öffentliche Gesundheits¬
pflege. (Leipzig. S. Hirzel. 1885.)
Das Sander’sche Werk ist schon in der ersten Auflage von der Kritik
so günstig aufgenommen worden, dass es nur der Anzeige dieser neuen, von
Dr. Graf unter Mitwirkung sämmtlicher Vorstandsmitglieder des niederrheini¬
schen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege herausgegebenen Ausgabe bedarf,
um das Werk allen sich für die öffentliche Gesundheitspflege Interessirenden von
Neuem zu empfehlen. Fast alle Kapitel haben eine dem neuesten Standpunkte der
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UMIVERSITY OF IOWA
Literatur.
181
wissenschaftlichen Forschungen entsprechende Erweiterung erhalten; ausserdem
hat Dr. Baer in Berlin die Bearbeitung des Artikels „Gefängnisse“ geliefert.
_ Elbg.
Illustrirtes Lexikon der Verfälschungen und Verunreini¬
gungen der Nahrungs- und Genussmittel, der Colonial-
waaren und Manufakte, der Droguen, Chemikalien und
Farbewaaren, gewerblichen und landwirthschaftlichen
Produkte, Dokumente und Werthzeichen. Mit Berücksich¬
tigung des Gesetzes vom 14. Mai 1879, betr. den Verkehr mit
Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Gebrauchsgegenständen, sowie
aller Verordnungen und Vereinbarungen. Unter Mitwirkung von Fach¬
gelehrten und Sachverständigen herausgegeben von Dr. Otto Dämmer.
Leipzig. J. J. Weber. 1885.
Schon der Titel spricht für das grossartig angelegte Werk, welches nach
den vorliegenden Lieferungen, wovon 5 ä 5 Mk. erscheinen sollen, noch mehr
liefert, als es verspricht. Obgleich das Hauptgewicht auf die Verfälschungen
der Nahrungsmittel gelegt worden zu sein scheint, so sind doch eine Menge, die
specielle Technik und Pharmakognosie etc. berührenden Gegenstände sehr ein¬
gehend behandelt und häufig durch sehr saubere Zeichnungen illustrirt worden
Fast zu ausführlich dürfte der Artikel: „quantitative Analyse“ erscheinen,
da die Behandlung der allgemeinen, hier massgebenden Gesichtspunkte nicht in
den Rahmen des Werkes gehört, sondern als bekannt vorauszusetzen ist.
Der Artikel: „Bakterioskopische Untersuchungen“ von Becker zeichnet
sich durch ganz vortreffliche Zeichnungen aus; namentlich ist die farbige Dar¬
stellung der Cholera- und Tuberkelbacillen, des Milzbrandblutes und der einer
Wasseruntersuchung entnommenen Kolonie von Bakterien als sehr gelungen
hervorzuheben.
Bei den Artikeln „Bekleidungsgegenstände“ und „Farben“ ist hauptsäch¬
lich die von Vertretern der angewandten Chemie in Bayern getroffene Verein¬
barung hinsichtlich der Beurtheilung der giftigen Farben zu Grunde gelegt wor¬
den. Diese wichtige Angelegenheit wird mit Rücksicht auf die Interessen der
Industrie neuerdings eine neue gesetzliche Regelung erfahren, da die Verordnung
vom 1. Mai 1882 seit Aufhebung der §§. 2 und 3 ihrem Zwecke nicht mehr
entspricht.
Es würde zu weit führen, auf alle einzelnen Artikel näher einzugehen; wir
begnügen uns daher mit der Versicherung, dass das Werk alle einschlagenden
Verhältnisse berücksichtigt und zuverlässigen Rath ertheilt. Bei der vortreff¬
lichen Ausstattung des Werkes müssen wir nur das Bedauern aussprechen, dass
zu kleine Lettern für den Druck ausgewählt sind, wobei der Hygiene des Auges
nicht Rechnung getragen wird. Elbg.
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UMIVERSITY OF IOWA
Erwiderung.
Auf den neuen — wiederum jeder Provocation von meiner Seite entbehren¬
den — Angriff des S.-R. Winckel im October-Heft erwidere ich, dass meine
Auffassung von der Richtung der fraglichen Schleimhautablösung auf einer
Deutung seines Obductions-Protokolles beruhte. Wenn diese Deutung, wie W.
jetzt behauptet, eine irrthümliche war, und W. diesem Irrthum, wie die jetzige
Betonung desselben andeutet, einen grossen sachlichen Werth beimessen zu
dürfen glaubte, so hätte W. die Pflicht gehabt, ihn sofort während der Gerichts¬
verhandlung zur Sprache zu bringen. Meine Schlussfolgerung, dass dieser ge¬
ringfügige Befund für die Frage nach der Todesart und Ursache gar nicht in
Betracht komme, wäre dadurch freilich nicht erschüttert worden.
G. Veit.
Zar Riehtigstellang.
Um dem schwachen Gedächtniss des Herrn Geh. Rath Dr. Veit zu Hülfe
zu kommen, mache ich hier darauf aufmerksam, dass der Uterus der Frau St.
bei den gerichtlichen Verhandlungen Vorgelegen hat und von ihm selbst, dem
Delcgirten des Rheinischen Medicinal-Collegiums und vielen namhaften Aerzten
sorgfältig besichtigt worden ist! Mit dem Sprichwort: „Wahrheit bleibt ewig
Wahrheit, gut eingerieben thut sie wehl“ nehme ich gerne Abschied vou dem
Horrn Professor der gerichtlichen Medicin und Geburtshülfe!
Dr. Winckel.
Auch die vorstehenden Worte sollen mich nicht verleiten, den Standpunkt
der rein sachlichen Erörterung, welchen ich im Gegensätze zu dem Herrn S.-R.
Winckel festgehalten habe, jetzt zu verlassen. Ich beschränke mich daher auf
die Erwiderung, dass mein hier veröffentlichtes Gutachten meine Besichtigung
des Präparates nicht verhehlt. Da ich es gewagt fand, meine Ansicht von dem
anormalen Sitze der Placenta ohne Zuhülfenahme der Autopsie mit Entschieden¬
heit zu vertreten, musste ich mich darüber vergewissern. Dabei habe ich mir
natürlich auch die seitlichen Risse angesehen, aber der Schleimhautfalte nicht
genügende Aufmerksamkeit zugewandt, um meine Deutung des Obductions-
Protokolles zu controliren, solches auch nicht für geboten erachtet, weil mir diese
geringfügige Veränderung für die Erörterung der Todesart und Todesursache
ganz bedeutungslos erschien, und auch meine Deutung von der Richtung dieser
Ablösung an Ort und Stelle keinen Widerspruch fand.
Das Urtheil darüber, wem die Wahrheit wehe thun sollte, überlasse ich den
Lesern dieser Zeitschrift. Veit.
Um die Meinungsverschiedenheit über den von Herrn S. R. Dr. Winckel
im Juliheft veröffentlichten Fall hier zum Abschluss zu bringen, entspricht die
Rcdaction dem Wunsche desselben, schliesslich hier auch die nachstehende
Ausführung des Herrn Geh. S.-R. Dr. Birnbaum zu Trier über den fraglichen
Fall mitzutheilon.
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In dem von Herrn Sanilätsrath Winckel im Julihefte dieser Zeitschrift
beschriebenen Falle war der betreffende College bei mir. um mich zu einer ent¬
lastenden Begutachtung meinerseits gegen das auf gerichtliche Requisition
aufgenommene Gutachten zu bestimmen.
Nach seiner Erzählung des Falles konnte ich mich, so sehr ich auch nach¬
weislich bereit bin, Collegen bei solchen Gelegenheiten zu unterstützen, nicht
entschlossen, dem Anträge ohne genaueres Eingehen in die Gerichtsacten zu
entsprechen. Nach deren Durchlesung musste ich aber umsomehr auf der schon
vorher angedeuteten Ablehnung derselben beharren, da ich bei Vergleich seiner
Erzählung mit den Gerichtsacten dem aufgestellten Gutachten nach seinem we¬
sentlichen Inhalte vollkommen beitreten musste.
Die Behandlung der Geburt bis zu Eintritt des Verfahrens zu deren Vollen¬
dung erschien vorab vollständig unbegründet, da keine Erscheinungen irgendwie
aufgeführt waren, welche dieselbe hätten rechtfertigen können. Die Anwendung
solch’ kräftig eingreifender Mittel ohne dringende Anzeigen kann ich aber unmög¬
lich irgendwie gestattet erachten.
Allerdings scheint die Chloroformanwendung nicht hochgradig gewesen zu
sein, aber die Combination derselben mit Morphium ist erfahrungsgemäss immer
eine sehr bedenkliche, die Gefährlichkeit entschieden steigernde, deshalb blos bei
sehr dringender, deutlich hervortretender Anzeige zu rechtfertigen. Solche aber
lag in dem Falle nach allen Angaben entschieden nicht vor.
Dieser Umstand mochte denn auch das Medicinal- Collegium veranlasst
haben, dem Chloroforme einen entscheidenderen Einfluss zur Erklärung des tödt-
lichen Ausganges zuzuschreiben, als den späteren Eingriffen.
Es mag darin ein mit begünstigender Einfluss auf das Nervensystem auch
wirklich Vorgelegen haben, und muss anerkannt werden, dass eine derartige
Behandlung ohne jede dringende Veranlassung jedenfalls als bedeutender Kunst¬
fehler zu erachten ist. Da aber weder die Dosirung noch die Art der Anwendung,
ob mit Gazemaske oder mit Tuch, ob dicht oder im Abstande vorgehalten, genauer
dargelegt ist, lässt sich die Einwirkung nicht genauer feststellen.
Es muss aber noch hervorgehoben werden, dass jede Chloroformirung bei
Operationen jeder Art ohne genaue sachverständige Aufsicht, also wenn ein Arzt
mit Handleistungen beschäftigt ist, ohne Gegenwart eines zweiten den Verlauf
beaufsichtigenden Arztes, ein leichtsinniges Verfahren genannt werden muss, und
bei schlimmem Ausgange die Verantwortlichkeit des Arztes sehr wesentlich
steigert. Auch kann der Umstand, dass solches bei einiger Vorsicht der Anwen¬
dung immer ein seltenes Ereigniss ist, diese Verantwortlichkeit nicht vermindern,
da solche Ausgänge hinreichend festgestellt und bekannt sind.
Was die weitere Beurtheilung und Behandlung des Falles anlangt, so muss
dem Vorwurfe, dass die Frau eine Zeit lange ohne jede sachverständige Beihülfe
sich selbst überlassen wurde, um so mehr beigetreten werden, da solche Aufsicht,
wenn in den Acten nicht angegebene Verhältnisse obwalteten, welche die Anwen¬
dung von Morphiuminjectionen forderten, eben so. wie wenn solche ohne Anzeigo
einmal gemacht waren, unerlässlich erscheint, mag nun dieselbe von einem zwei¬
ten Arzte oder einer Hebamme geübt werden. Bei der späteren Wiederkehr zu
der in offenbarem Geburtsgeschäfte befindlichen Frau wird bei der Untersuchung
Blutabgang bemerkt, ohne dass nähere Angaben über seinen Grad vorliegen, als
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184
Dr. Birnbaum,
die unbestimmte, dass Blut hervorgestürzt sei. Der Leichenbefund giebt uns
Kunde, dass er kein beträchtlicher gewesen war. Es wird daraus auf Vorlage
des Mutterkuchens geschlossen. Welcher Geburtshelfer hat aber nicht schon in
einzelnen Fällen zeitweiligen Blutabgang mehr weniger hohen Grades beobachtet,
der sich in einiger Zeit wieder verliert ohne jede üble Folge? Und welcher Arzt
wird sich bei sonst ganz regelmässigen Geburtsverhältnissen sofort zu so bedeu¬
tendem Eingreifen bestimmen lassen, ohne sich Zeit zu nehmen zu Versuchen,
die Blutung zu beseitigen und zu ausreichender Beobachtung, ob solche wirklich
Gefahr bedinge und nicht anders zu stillen sei?
Die Annahme, dass Vorlage des Mutterkuchens vorhanden, war schon durch
den so späten Eintritt der Blutung nahezu als ausgeschlossen zu betrachten. Von
Blutungen, die schon in der letzten Zeit der Schwangerschaft eingetreten wären,
war keine Rede. Und doch fehlen diese bei irgend bedeutender Vorlage fast nie,
und nur wenn die Geburtsthätigkeit vor dem rechten Ende der Schwangerschaft
eintritt, können dieselben mit dem Geburtseintritte zusammenfallen. Bei sehr
unvollkommener Vorlage kann allerdings auch etwas Aehnliches Vorkommen, dann
aber treten dieselben doch gleich mit Beginn der Geburt hervor, und in diesen
Fällen sehen wir, dass im weiteren Verlaufe sie sich nach Ablösung des kleinen
Stückes von selbst verlieren und der weitere Verlauf der Geburt ein ganz regel¬
mässiger und natürlicher sein kann. Aber die Controverse, ob Ausstopfen der
Scheide, ob gewaltsame Entbindung? bezieht sich eben lediglich auf die Fälle,
wo schon in der Schwangerschaft häufig wiederkehrende Blutungen vorhanden
sind, die sich stetig verstärken. Unser Fall hat seinem Verlaufe nach mit
derselben gar nichts zu schaffen. Die ganze Annahme einer Vorlage des Mutter¬
kuchens beruhte, wie schon aus dem Verlaufe klar werden musste, auf einem
Irrthum bei der Untersuchung, welchen der Leichenbefund nicht erst aufzudecken,
lediglich als solchen zu bestätigen hatte. Sass auch derselbe etwas tiefer oder
vielmehr hätte er auch höher sitzen können, so war er immer noch mehrere
Gentimeter über dem inneren Muttermunde mit seinem unteren Rande, und da
kann ein solcher Sitz als solcher keine Blutung hervorrufen, welche in die Streit¬
frage der Behandlung hineinfällt.
Die einzigen zunächst unklaren Ursachen der Blutung waren bei Ausschluss
der Vorlage des Mutterkuchens in krampfhafter Thätigkeit mit vorwiegender Zu¬
sammenziehung der Stelle, wo der Mutterkuchen sass und in grosser Festigkeit
der Eihäute und dadurch veranlasstem Abzerren desselben zu suchen. Dass
erstere in unserm Falle vorhanden gewesen, ist durch keine Angabe erwiesen,
würde allerdings die Anwendung der Heilmittel, Morphium und Chloroform,
erklären, würde aber dann auch das Verlassen der Gebärenden ohne jeden sach¬
verständigen beaufsichtigenden Beistand als ganz unverantwortlich erscheinen
lassen. Die zweite Ursache der Blutung würde, wenn erwiesenermassen sie Zu¬
nahme derselben veranlasst hätte, einfach die Sprengung der Eihäute gefordert
und der Blutung sofort ein Ende gemacht haben.
In beiden Fällen war aber eine sofortige gewaltsame Entbindung um so
entschiedener ausgeschlossen als die übrigen Verhältnisse, die Kindeslage insbe¬
sondere sehr günstig lagen und nach Beseitigung der Blutung einen regelmässi¬
gen Gang der Geburt versprachen. Nur bei sehr verschleppten Fällen, wo bei
Abwesenheit jeder geeigneten Hülfe bis zur Ankunft des Arztes dringende Le-
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bensgefabr eingetreten wäre, könnte ein so gewaltsames Verfahren Rechtfertigung
finden, aber einestheils ist eine solche Dringlichkeit in unserm Falle durch den
Leichenbefand abgewiesen, anderntheils würde für solche Versäumniss der recht¬
zeitigen Hülfe den Arzt, bei dessen Ankunft und erster Leitung der Geburt keine
Blutung vorhanden war, die volle Verantwortlichkeit treffen, wenn er die
Gebärende so lange ohne jeden sachverständigen Beistand liesse. Und auch hier
konnte ich nur dem gerichtsärztlichen Gutachten vollkommen beilreten.
Was die Ausführung der betreffenden Kunsthülfe anlangt, so musste ich
auch hier dem Gutachten der Gerichtsärzte unbedingt beitreten. Freilich können
Fälle Vorkommen, in welchen bei besonders verschleppten oder erschwerten Wen-
dungäversuchen Zerreissungen der Gebärmutter in verschiedenem Umfange ohne
jede Verschuldung des Arztes Vorkommen, um so mehr, da ja solche auch ohne
jeden Eingriff des Arztes möglich sind und es wol denkbar ist, dass der Arzt
gerade in solch’ verhängnisvollem Momente seinen Eingriff beginnt. Freilich
mögen auch manche derartige Verletzungen verschuldet oder unverschuldet Vor¬
kommen, die den Umständen gemäss nicht zur Kenntniss der Gerichte kommen,
daraus kann aber in einem gegebenen Falle, wo die Angehörigen die gerichtliche
Untersuchung fordern, kein Vertheidigungsgrund für den Betreffenden entnom¬
men werden. Eine solche Zerreissung aber bei noch vorhandenem Fruchtwasser,
bei noch nicht fest umklammertem Kindeskörper, bei Ausschluss also jeder Er¬
schwerung, sobald die einzig hier vorliegende Schwierigkeit des Eindringens der
Hand durch den noch nicht weit genug eröffneten Muttermund überwunden war,
wäre nur denkbar bei tiefer allgemeiner oder örtlicher Erkrankung des Gewebes
der Gebärmutter. Bei solcher sind allerdings Zerreissungen durch sehr schwache
Wehen ohne jeden Eingriff der Kunst möglich, also auch ein unglückliches Zu¬
sammentreffen mit dem Beginn solchen Eingriffes. Aber von solchem krankhaften
Zustande des Gebärmuttergewebes hat der Leichenbefund gar nichts ergeben,
und bei der gesunden Beschaffenheit der Gebärmutterwände, bei der Unverletzt-
heit der Blase, die noch vorhanden, hätte das gewaltsame Eingehen wol allenfalls
Zerreissung des Muttermundes herbeifübren können, die höher hinauf sich er¬
streckten, aber keine Zerreissungen höher oben, wenn die Vornahme des Eingriffes
mit der erforderlichen Fertigkeit nach den Regeln der Kunst ausgeführt worden
wäre, wozu die bei noch stehender Blase höchst wirksame Verbindung der inne¬
ren und äusseren Wendung gehört. Es kommt noch hinzu, dass kein Riss vorlag,
sondern eine Schürfung, die der ganzen Beschreibung des Leichenbefundes
nach nur von unten herauf durch Eingraben der Nägel in die Schleimhaut der
Gebärmutter erklärbar wird, und bis in die Muskelschicht eingedrungen ist.
In Betreff ihrer war mir eine Angabe in den Vernehmungsverhandlungen beson¬
ders wichtig, dass der Arzt während der Ausführung geäussert habe: Hier ist
etwas angewacbsen. Dieser Umstand in Verbindung mit den genauen Angaben
über den Leichenbefund ergänzte denselben so genau, dass ich auch nach dieser
Richtung keinerlei Handhabe zu einer Gegenäusserung gegen das Gutachten der
Gerichtsärzte finden konnte. Denn eine Verwachsung kann bei der einfachen
gewaltsamen Entbindung kein Hinderniss ergeben, da die eindringende Hand,
wenn der widerstrebende Muttermund überwunden ist, bei Vorlage des Mutter¬
kuchens auf diesen, sonst auf die Eihäute stösst und nun in die Blase vorzu¬
dringen hat.
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Dr. Birnbaum,
Eine solche Schürfung des Uteringewebes ist aber eine Verletzung der
Hauptregel bei Vornahme der Wendung, dass die vorgehende Hand mit mög¬
lichster Vermeidung der Berührung der inneren Wand der Gebärmutter mehr
durch Abdrücken der Frucht oder des Eies von derselben ihr weiteres Eindringen
vermitteln soll und dass bei Lösung fest mit der Wand der Gebärmutter ver¬
schmolzener Theile diese nicht gewaltsam von der Gebärmutterwand abgetrenut
werden dürfen, sondern diese Stellen aus dem Zusammenhänge mit ihrem übrigen
Gewebe zu trennen und an der Gebärmutterwand zurückzulassen sind.
So konnte ich auch nach diesen Richtungen keinen Grund zum Auftreten
gegen das Gutachten der Gerichtsärzte finden und musste auch hier vollkommen
ihrem Ausspruche, dass die Leitung der Geburt eine ganze Reihe von 'Kunst¬
fehlern entfaltet habe, vollkommen beitreten.
Was nun schliesslich den so plötzlich eintretenden Tod anbelangt, so muss
anerkannt werden, dass Wöchnerinnen unmittelbar nach der Geburt, sowie in
späteren Tagen des Wochenbettes in einzelnen Fällen, auch in solchen, wo keine
Kunsthülfe weiter geübt worden, sterben können, ohne dass die eigentliche Todes¬
ursache unbezweifelbar festgestellt werden kann. Besonders betreffen solche Fälle
sehr rasche Geburten, aber auch solche mit heftigeren Gemütsbewegungen, und
sind von mir auch nach sehr anstrengender Geburtsarbeit beobachtet worden.
Diese Thatsache ist so allgemein feststehend, dass die Verteidigung sie durch
einfache Frage an jeden, auch den gorichtsärztlich begutachtenden Arzt fest¬
stellen kann. Welchen Werth der Richter auf diese Thatsache legen will in Fällen,
wo eine Verkettung von Umständen den schlimmen Ausgang vollständig erklären
kann, ist sodann seine Sache. Eine gutachtliche Aeusserung gegen das Gutachten
der Gerichtsärzte erschien mir demnach hier ebenfalls werthlos, wenn ich dem¬
selben in Bezug auf den hier möglichen Zusammenhang des Verlaufes mit dem
ärztlichen Handeln vollkommen beitreten musste. Die Billigkeit hat dem strengen
Rechtsbegriffe gegenüber unbezweifelbar ihre Geltung zu wahren, aber in der
sachverständigen Beurtheilung auf Eid nicht blos den handelnden Theil im Auge
zu halten, sondern auch den leidenden, um eben die volle Unbefangenheit des
Urtheils sich zu wahren.
Der so rasch eintretende Tod wird erklärlich theils durch eine tiefe Er¬
schütterung des Nervensystems, den sogenannten Sbock, theils durch die Ver¬
stopfung der Blutgefässe, die sogenannte Embolie, theils durch Eintritt von Luft
in offne Venen. Welche von diesen drei Ursachen ihn in unserm Falle, wo sonst
keine bestimmte Erkrankung vor und neben der Schwangerschaft und Geburt
irgend angegeben wird, denselben vermittelt hat, erhellt aus dem Leichenbefunde
nicht. Dass der sogenannte Sbock sich oft mit der Embolie und dem Lufteintritte
deckt, und angenommen wird, wenn die beiden andern Ursachen nicht nachge¬
wiesen sind oder nicht nachgewiesen werden können, muss anerkannt werden.
Dass der Shock auf heftige Nervenerregung sowohl von körperlicher wie
geistiger Seite aus möglich ist, steht fest. Dass Gebärende und Wöchnerinnen
bei der grossen Erregbarkeit des Nervensystems besonders dazu neigen, dürfte
nach den bei ihnen gemachten Erfahrungen auch zugegeben werden müssen.
Dass aber in unserm Falle die plötzliche rasche und gewaltsame Entbindung und
besonders die Art, in welcher sie ausgeführt wurde, ganz geeignet war, diesen
Ausgang herbeizuführen und dabei die Verletzung der innern Fläche der Gebär-
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matter sehr wesentlich mitwirken konnte, ist ganz unbezweifelbar. Die Möglich¬
keit, dass diese Verletzung von Seiten des Kindes bei der Entwickelung herbei¬
geführt sei und nicht von dem behandelnden Arzte, kann theils der Natur der
Verletzung nach, theils durch den Umstand, dass derselben nach einmal ein¬
gedrungener Hand kein Hinderniss im Wege stand, endlich, dass sie ja bei Ein¬
tritt des Todes noch nicht perfekt war. vollkommen zurückgewiesen werden.
Dass die wenigstens nach dem gerichtlich festgestellten Thatbestande durch
nichts erklärte und begründete Anwendung des Chloroform in Verbindung mit
der des Morphium das Nervensystem in eine krankhafte, den Shock wesentlich
erleichternde Stimmung und Erregung versetzt und so denselben herbeigeführt
habe, ist nicht bestimmt erweisbar, kann aber ebensowenig unbedingt aus¬
geschlossen werden. Dass also das ganze Verfahren bei der Geburt den Tod
durch Shock vollkommen zu erklären vermag, kann keinem Zweifel unterworfen
werden.
Was den zweiten Umstand, die sogenannte Embolie, betrifft, so ist eine
stellenweise Gerinnung des Blutes innerhalb der Gefässe als Grundlage unbedingt
feststehend, ebenso dass sich solche durch grosse körperliche und geistige Nerven¬
erregung sehr schnell ausbilden kann. Mir stehen mehrere dahin einschlagendo
Beobachtungen von Embolien in der Lungenschlagader zu Gebote. Dass die¬
selben bei krankhaften Anlagen auch ohne grosse Erregung möglich sind, steht
fest. Dass hier eine krankhafte Anlage irgend welcher Art vorlag, erhellt aus
den Akten in keiner Weise. Dass aber die mannichfachen Schädlichkeiten bei
solcher Leitung der Geburt eine solche Einwirkung wol auszuüben im Stande
waren, und wenn solchergestalt der plötzliche Tod eingetreten sein sollte, der
Verlauf der Geburt und der Entbindung eine vollgenügende Erklärung abgiebt.
ist nicht zu bezweifeln.
Der dritte Umstand, Eintritt von Luft in die Venen, würde nach der Geburt
wol als unvermittelt zu Stande gekommen möglich erscheinen. Wie aber dieser
Lufteintritt bei noch unvollkommen eröffnetem Muttermunde, bei noch an¬
sitzendem, eben sich zu lösen beginnendem Mutterkuchen, bei noch vorhandener
die Gebärmutter abschliessender Fruchtblase. bei aus den zerrissenen Gefässen
hervorquellendem, die Luft zurückdrängendem Blute ohne direkte Zuleitung der
Luft möglich sei. ist nicht einzusehen. Stände dieser Lufteintritt in unserem
Falle fest, so würde die unmittelbare starke Zuleitung der Luft durch Einführung
der Hand in die Gebärmutter und die Einleitung in die Blutgefässe durch die
durch Schürfung des Gewebes geöffneten Gefässe allein als Ursache anerkannt
werden können und die Verantwortung dafür wiederum dem durch nichts auf¬
gedrungenen. durch nichts gerechtfertigten Verfahren zur Last fallen. Und auch
in diesem Sinne glaubte ich bei Rücksicht auf alle diese möglichen Hypothesen
meine entlastende Begutachtung dem Gutachten der Gerichtsärzte gegenüber
ablehnen zu müssen.
Trier, 16. Novbr. 1885. Dr. Birnbaum,
Direktor der Prdvinxial-Hebammen-
Anstalt in Köln, a. D.
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Preussischer Medicinalbeamten-Verein.
III. Haupt-Versammlung zu Berlin, 1885.
Nachdem am Abend des 24. September 1885 die gegenseitige Begrüssung
der Theilnehmer in den Räumen des „Franziskaner“ stattgefunden hatte, eröffnele
der Vorsitzende Hr. Kanzow (Potsdam)
am Freitag den 25. September 1885, Vormittags 9'/ 4 Uhr
in der Theerbusch’schen Ressource
die Versammlung, indem er die Erschienenen willkommen heisst und der im ver¬
flossenen Jahre verstorbenen Mitglieder gedenkt. Die Anwesenden erheben sich
von den Sitzen. —
I. Der Schriftführer, Hr. Rapmund (Nienburg), giebt den Kassen-Bericht,
wonach die Versammlung auf Vorschlag, des Vorsitzenden die Herren Mitten¬
zweig und Probst durch Zuruf zu Kassen-Revisoren ernennt. — Die Kasse hat
einen Ueberschuss von 1184 Mark 21 Pfennig. Für das kommende Geschäfts¬
jahr setzt die Versammlung fünf Mark als Beitrag fest.-
Nach einer längeren Geschäftsordnungs-Debatte, an welcher sich ausser
dem Vorsitzenden die Herren Wallichs (Altona), Rapmund und Falk (Berlin)
betheiligen, spricht
II. Hr. Liman (Berlin): Mord und Selbstmord, oder Verun¬
glückung; Tod in Leuchtgas.
Meine Herren! Gestatten Sie, dass ich das Thema, welches ich zum Vor¬
trage bestimmt hatte, nämlich über Kohlenoxyd-Vergiftung, etwas ändere und
es dahin präcisire: „eine Kohlenoxyd-Vergiftung“. Ich glaube nämlich, dass es
besser ist, einen Einzelfall zu erörtern als ein allgemeines, theoretisches Thema,
über welches Sie ja in den Büchern hinreichenden Aufschluss finden. Ich will
also einen speciellen Fall Ihrer gütigen Beurtheilung unterbreiten.
Von einer Lebensversicherungs-Gesellschaft gingen mir die Acten dieses
interessanten Falles mit der Bitte um Abgabe eines Gutachtens darüber zu, ob
Mord und Selbstmord oder Verunglückung vorliege, eine Frage, welche am
schwierigsten bei der Vergiftung durch Kohlenoxyd zu entscheiden ist und nur
durch die begleitenden Umstände eventuell entschieden werden kann.
Der Kaufmann H. in F. war mit zwei Policen in Höhe von 30000 Mark bei
der genannten Gesellschaft versichert.
Er wurde an einem Februartage Vormittags gegen 8 Uhr todt aufgefunden,
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UNIVERSUM OF IOWA
Erster Sitzungstag. 25. September 1885. 189
und zwar mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, deren ältestes 12 Jahre
alt war.
Während die beiden Kinder todt waren, lebte die Frau noch, war aber be¬
wusstlos und blieb es bis zu ihrem am anderen Tage erfolgenden Tode.
Das Zimmer war bei Eröffnung der unverschlossenen Thür stark mit Leucht¬
gas erfüllt.
In dem Zimmer befand sich eine Gaslampe. An dieser war der Hahn,
welcher zum Oeffnen und zum Verschliessen der Gasleitung diente, soweit aus
seiner Hülse herausstehend, dass er nach unten gerichtet war. Die kleine
Schraubenmutter, welche an dem Ende des Hahnes angebracht war und ihn
festhielt, fehlte, mit ihr gleichzeitig die kleine Blechscbeibe, welche zwischen
Schraubenmutter und Hülse sich befindet, so dass eben die Lockerung des Hahnes
möglich war. Die Schraubenmutter wurde im Zimmer unter dem Bette gefunden,
die kleine Blechscheibe wurde nicht gefunden.
Es konnte also, da der Haupthahn nicht geschlossen war, das Gas frei in
das Zimmer ausströmen.
Diese Lampe hat H. Tags zuvor vom Corridor, wo sie bisher gebrannt hatte,
in diesem Schlafzimmer anbringen lassen.
Ein Grund zu dieser Translocirung ist aus dem ganzen Actenstück nicht
ersichtlich, wohl aber ist durch zeugeneidliche Vernehmung des Gasarbeiters
festgestellt, dass er mit der nöthigen Vorsicht bei dem Anmachen der Lampe
verfahren ist, dass er namentlich die Schraubenmutter fest angezogen und dass
er die Lampe abgeleuchtet und für „gasdicht“ befunden hat.
Dieser Zeuge sagt ferner aus, dass H. „nicht von seiner Seite gewichen“
sei und sich genau über die Manipulationen inforrairt habe.
H. sei dabei im Hemde gewesen, da er wegen angeblicher Krankheit zu
Bett gelegen habe.
Ueber diese Krankheit ist nichts constatirt. Ein Arzt ist nicht gerufen
worden. Das Dienstmädchen sagt aus, dass von Krankheit überhaupt nicht die
Rede gewesen, dass Besuch vielmehr damit abgewiesen worden sei, dass Herr H.
nicht da sei; auch ist er zum Essen mit seiner Familie aus dem Bette aufgestanden.
Es wurde au diesem Tage ein Wechsel präsectirt.
Die Vermögensverhältnisse des H. waren überaus zerrüttete.
Die beiden Policen hatte er an einen Kaufmann B. verpfändet.
In dem Zimmer befanden sich 4 Betten: 2 Ehebetten, der Länge naoh an¬
einander stehend, 2 Betten für die beiden Kinder.
In diesen beiden Betten liegend wurden beide Kinder, das jüngste schla¬
fend, das ältere lesend von dem Dienstmädchen am Abend vorher gesehen.
Die 4 Personen wurden, wie in dem unten folgenden Gutachten beschrieben,
gefunden.
Dr. V., welcher an der Unglücksstätte eintraf und Alles noch unberührt
fand, hat die Lage der Leichen angegeben.
Er äussert sich in einem Gutachten dahin, dass er den Eindruck eines Un¬
glücksfalles gehabt habe.
Auch Professor 0. in T. tritt dieser Ansicht in seinem Gutachten bei,
kommt aber doch darauf hinaus, dass man ein „non liquet“ in Bezug auf die
Frage, ob Verunglückung oder Selbstmord, ausspreohen müsse, da Verunglüokun-
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UNIVERSUM OF IOWA
190
Preussischer Medicinalbeamten-Verein.
gen in Leuchtgas sehr häufig. Selbstmordsfälle zu den allergrössten Seltenheiten
gehören.
Die beiden Polizeibeamten H. und B. hatten dagegen den Eindruck eines
Unglücksfalles nicht erhalten können.
Die gerichtliche Section der Leiche des H. ergab, wie die Obducenten sagen,
die sehr ausgesprochenen Zeichen der Vergiftung durch Leuchtgas. Eine Spec-
tralanalyse des Blutes ist aber nicht gemacht, und es wäre interessant, zu wissen,
durch welchen Befund an der Leiche die Obducenten den Tod durch Leuchtgas
diagnosticirten. Dieser Umstand ist es. der mich veranlasst, das Thema hier
vorzubringen, welches ich als allgemein bekannt vorausgesetzt habe.
B. hatte die Lebensversicherungs-Gesellschaft, welche die Zahlung der
30000 Mark verweigerte, verklagt und obige Gutachten extrahirt.
In erster Instanz war das Urtheil der Lebensversicherung günstig. Es wurde
Selbstmord und Mord angenommen.
Die zweite Instanz verurtheilte dagegen die Gesellschaft zur Zahlung, und
ich will noch erwähnen, wie der Mandatar des B. noch anführte, dass die Frau
event. der schuldige Theil sei. da sie am Abend noch Tetschen (Kuchenteich)
eingerührt habe und ruhig in ihrem Botte liegend bewusstlos und schwer ath-
mend, also noch lebend gefunden sei.
Die dritte Instanz konnte sich von der Stichhaltigkeit der in zweiter Instanz
geltend gemachten Gründe nicht überzeugen, vernichtete das Erkenntniss zweiter
Instanz und wies die Sache an ein anderes Gericht zweiter Instanz zurück.
In diese Zeit des Processes fällt nun das von mir abgegebene Gutachten,
loh berichtete nach Kenntnisnahme der drei Richtersprüche und der Be¬
weisaufnahme-Verhandlungen sowie der Gutachten des Dr. V. und Professor 0.,
wie folgt:
I.
Dass der Tod dos H. in der That durch Leuchtgas, d. h. durch Kohlenoxyd
erfolgt sei, ist nicht derartig festgestellt, als man obenhin glauben sollte.
Es sagen zwar die Obducenten in ihrem Gutachten am Ende der am dritten
Tage nach dem Tode vorgenommenen Section, „dass dieselbe die sehr ausge¬
sprochenen Zeichen der Vergiftung durch Leuchtgas ergeben habe“.
Der Beweis hierfür ist aber in keiner Weise geliefert.
Sollte es denn den Obducenten unbokannt gewesen sein, dass man den Tod
in und durch Kohlenoxydgas, welcher mit dem Tode in und durch Leuchtgas
identisch ist, da das dem Leuchtgas beigemengte Kohlenoxyd die tödtende Sub¬
stanz ist, durch die Spectralanalyse des Blutes ohne grosse Umstände sofort an
der Leiche feststellen kann, und wäre es nicht geboten gewesen, auf die Weise
den Tod nicht allein des H.. sondern auch der Kinder festzustellen, weil dadurch
ein einwandsfreier Beweis für die supponirte Todesart geliefert worden wäre,
und wäre es nicht event. bei dieser Versäumniss zweckmässig gewesen, den
Chemiker mit der Untersuchung auf Kohlenoxydgas zu beauftragen?
Die von den Obducenten angegebenen Zeichen, die hellrothe Färbung des
Blutes und der Organe, können zwar durch eine Vergiftung durch Kohlenoxyd
erzeugt sein, aber sie können auch einer Vergiftung durch Blausäure, auf welche
wunderbarer Weise bei der chemischen Untersuchung nicht gerücksichtigt ist,
ihre Entstehnng verdanken. Diese letztere erslreckte sich vielmehr nur auf Opium.
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Erster Sitzungstag. 25. September 1885.
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Morphium und Strychnin, und es ist doch in der That auffallend, dass in einer
Stadt wie F. die Spectralanalyse unbekannt sein solle, diese einzige Methode,
durch die man das Kohlenoxyd im Blute zweifelsfrei nachweisen kann.
Freilich kann auch der Tod noch eintreten, nachdem das Kohlenoxyd durch
die Athmung wieder entfernt ist, und es würde im vorliegenden Falle das Kohlen-
oxyd im Blute der Frau nicht mehr wahrnehmbar gewesen sein, wenn auch der
Tod durch Kohlenoxyd erfolgt ist.
Ich führe dies nur an, nicht weil ich der Meinung bin, den Tod durch Kohlen¬
oxyd resp. Leuchtgas in Abrede zu stellen, sondern nur, weil ich glaube, meine
Ausstellungen der wissenschaftlichen Kritik schuldig zu sein.
Denn dass hier in der That ein Tod durch Leuchtgas, dem alle vier Per¬
sonen erlegen sind, Vorgelegen habe, das ist nicht zweifelhaft, und zwar des¬
halb nicht,
weil alle vier Personen gleichzeitig todt, bez. sterbend aufgefunden worden sind,
weil die Luft des Zimmers reichlich mit Gas imprägnirt gefunden worden ist,
weil die Section eine andere Todesart nicht nachgewiesen hat (wobei ich be¬
merken will, dass ein Blausäure-Geruch bei der Section nirgends bemerkt
worden ist).
weil ausserdem die chemische Untersuchung eine Vergiftung durch Opium,
Morphium oder Strychnin ausgeschlossen hat.
Es ist der Tod durch Leuchtgas auch unter den Parteien nicht strittig und
anzunehmen.
II.
Es fragt sich nur, ob in dem gegebenen Falle eine Verunglückung oder ein
Selbstmord, bez. Mord vorliegt.
Es sind von dem Kläger zwei ärztliche Gutachten, und zwar von Dr. V. in
F. und dem Prof. 0. in T. beigebracht.
Das Erstere neigt zu der Annahme eines Unglücksfalles, indem es ausführt,
dass das Ausströmen des Gases durch ein unbeabsichtigtes Offenlassen des Gas¬
hahnes an der in dem betreffenden Schlafzimmer hängenden Gaslampe bewirkt sei.
Das O.’sche Gutachten spricht sich weder für Selbsttödtung, noch Zufall
mit Bestimmtheit aus, sondern votirt für ein „non liquet“.
Prüfen wir die einzelnen, in den Gutachten angeführten Thatsachen.
Zunächst die Situation der verunglückten Personen:
a) Der H. lag leblos, nur mit einem kurzen Hemd bekleidet, neben seinem
Bett auf dem Rücken auf dem Stubenboden. Seine beiden Füsse befanden
sich noch bis zur Hälfte der Unterschenkel im Bett, und zwar so fest mit dem
leinenen Betttuch verwickelt, dass sie nur dadurch im Bett (anscheinend! Ref.)
zurückgehalten wurden.
Sowohl das V.’sche als das O.’sche Gutachten hallen es für gezwungen,
diese Situation mit einer beabsichtigten Oeffnung des Gaslampen-Hahnes in Ver¬
bindung zu bringen, weil diese Situation auf den Versuch einer Rettung deutet,
die ja bei einem beabsichtigten Tode eine unsinnige Procedur gewesen wäre.
Aber diese Argumentation ist vollkommen hinfällig.
Denn die Erfahrung lehrt, dass sehr häufig Selbstmörder im Augenblicke
des herannahenden Todes ihre Proceduren rückgängig zu machen bemüht sind;
sich zu ertränken Beabsichtigende rufen um Hilfe und suchen sioh zu retten, sich
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Preussischer Medicinalbeamten-Verein.
Erhängende greifen nach dem Strangwerkzeug u. s. w. Und gerade derartige, wie
hier vorkommende Situationen finden sich nicht selten bei notorischen Unglücks¬
fällen — ein Beweis, dass der Rettungsversuch zu spät unternommen worden ist.’
Es kann mithin die Lage des H. durchaus nicht benutzt werden, um aus
derselben ein Argument gegen einen Selbstmord zu machen.
b) Die älteste Tochter lag nach dem Gutachten V.’s „im linken ausge¬
streckten Arm des H. auf dem Rücken“, und es giebt V. an, das3 er die vier
fraglichen Personen unverändert daliegend vorgefunden habe.
Frau G. sagt, dass die Tochter im linken Arm des Vaters mit dem Gesicht
auf dessen Arm gelegen habe in einer Stellung, als ob sie mit demselben aus dem
Belt herausgefallen sei.
Die Dienstmagd L. sagt aus: „Die älteste Tochter befand sich in kniender
Stellung neben ihrem Vater. Sie hatte ihr Gesicht auf ihrem einen Arm liegen,
mit dem anderen hielt sie ihren Vater am Hals, möglicherweise auch unterhalb
des Halses. Mit dem Umfassen wisse sie es aber nicht mehr genau. Eine Ver¬
änderung in der Lage des Kindes sei nicht vorgekommen.
Ueber die Lage dieses Mädchens wissen wir also nichts Genaues. Entweder
nun das Kind, welches nach Aussage der L. am Abend in ihrem Bette gelegen,
ist ebenfalls in halb bewusstlosem Zustande in der Richtung nach dem Vater zu
hingegangen und zusammengebrochen, oder sie hat mit dem Vater im Belt ge¬
legen und ist von demselben mit herausgerissen worden.
Wäre die letztere Alternative die richtige, so würde ja damit ein sehr er¬
heblicher Beweis für den Selbstmord gewonnen sein.
Unterstützt aber wird diese Annahme
c) durch die Lage des zweiten Kindes. Dasselbe lag im Belt neben der
sterbenden Mutter todt, von dieser umfasst.
Dieses jüngere Kind wurde von der Dienstmagd Abends schlafend in seinem
eignen Bette gesehen, es muss also im Laufe der Rächt in das Bett der Mutter
gekommen sein, und es ist erlaubt, aus dieser Thatsache einen Rückschluss auf
die Vorkommnisse zu machen, welche das ältere Kind betroffen.
Somit beweist die Lage der Kinder nichts für einen Unglücksfall. Sie lässt
aber nicht unerheblichen Vermuthungen für einen beabsichtigten Tod Raum.
- d) Die Lage der noch lebenden Mutter ist für die eine oder die andere Al¬
ternative vollständig unerheblich.
III.
Es hat die Partei versucht, aus dem Umstand, dass Frau H. noch lebte, die
Schlussfolgerung zu machen, dass sie die zuletzt Wachende gewesen sein müsse.
Dies ist völlig irrig, wie meine vielfachen Erfahrungen, Kohlenoxyd-Vergif¬
tungen betreffend, beweisen.
Der wirksame Bestandtheil des Leuchtgases ist aber das Kohlenoxyd, und
es dürfen diese beiden Todesarten, d. h. die im Leuchtgas und die im Kohlen¬
oxyd, als identisch bezeichnet werden.
Wir wissen weiter nichts, als dass in Bezug auf das Ueberleben Zufällig¬
keiten Platz greifen und dass wahrscheinlich die individuelle Disposition eine
verschiedene ist.
Rieht einmal das kann mit Bestimmtheit behauptet werden, wie es das V.’sche
Gutachten thut, dass Kinder dem Kohlenoxyd leichter erliegen als Erwachsene.
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Nur das glaube ich aussprechen zu können, dass die Wirkungen des Leucht¬
gases intensiver sind als die des Kohlendunstes, weil der Procentsatz des Kohlen¬
oxyds im Leuchtgas ein relativ hoher ist und weil dasselbe mit Druck nachströmt,
während der Kohlendunst nachlässt mit der Verbrennung und dem Erlöschen der
verbrennenden Kohle.
IV.
Wenn die Partei den Grundsatz aufstellt, dass das Leuchtgas nicht geeignet
sei, eineu Menschen im Schlafe zu tödlen, weil im Gegensatz zu dem geruch¬
losen Kohlenoxyd der penetrante Geruch die Opfer leicht aufwecke und auch
das O.’sche Gutachten hierauf anspielt, so ist diese Behauptung als vollständig
irrig zurückzuweisen.
Wenn der Geruch die Schlafenden erweckte, so würden ja Unglücksiälle
durch Leuchtgas-Vergiftung nicht Vorkommen.
Es kann also auch der Umstand, dass Frau H. nicht erwacht, sondern
schlafend vergiftet sein müsse, nicht dagegen angeführt werden, dass sie unbe¬
wusst in eine Vergiftung mit Leuchtgas verfallen sei und nichts für ihre suppo-
nirte Thäterschaft beweisen.
V.
Das Gutachten des Professor 0. macht ferner darauf aufmerksam, wie der
Umstand gegen einen Selbstmord plaidire, dass Unglücksfälle mit Leuchtgas sehr
häufig, Selbstmorde zu den allergrössten Seltenheiten gehörten.
Selbst wenn dieser Satz richtig wäre, so würde er für den concreten Fall
gar nichts beweisen.
Aber diese Behauptung ist irrig.
Unter einer recht grossen Anzahl von Kohlenoxyd-Vergiftungen, wovon z. B.
auf das Jahr 1875 54 fallen und das Mittel der drei Jahre 1876—1878 34,4
beträgt, welche allein in die Berliner Morgue eingeliefert wurden (die erhebliche
Zahl der nicht eingelieferten nicht mitgerechnet), befanden sich nur einige wenige
durch Leuchtgas erzeugte (die Zahl habe ich leider nicht notirt), wonach man
nicht sagen kann, dass der Tod durch Leuchtgas ein sehr häufiger sei; dass nun
unter diesen wenigen Fällen selbstverständlich wieder mir einige wenige von
Selbstmord durch Leuchtgas sind, leuchtet ein.
Eine genaue Statistik der Kohlenoxydgas-Vergiftungen, auch nur für die
Stadt Berlin, bin ich anzuführen ausser Stande, da mich das Königlich statistische
Bureau im Stich gelassen hat, mit der Anführung, dass der Tod durch Kohlen¬
oxydgas sich unter den Vergiftungen befinde und erst seit dem Jahre 1884 spe-
ciellere Ausscheidungen desselben sich vorfänden, aber auch dieses Material zu
wissenschaftlichen Zwecken nur mit Vorsicht zu benutzen sei.
Das aber kann nicht gesagt werden, wie das O.’sche Gutachten behauptet,
dass der Wiener Fall der einzig sichergestellte sei, da ich selbst mehrere Fälle
anzuführen im Stande bin, namentlich einen, wo ein Meusch, der im Leuchtgas
erstickt war, sich eine Düte über den Kopf gestülpt hatte.
Es kann also aus dem bisher Erörterten mindestens der Schluss gezogen
werden, dass die Befunde des Augenscheins und der Section sowie die den Arzt
tangirendenNebenumstäude den Selbstmord nicht ausschliessen, einige sogar eher
dafür als dagegen sprechen.
Vierteljahrsaohr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 1 13
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Preussischer Medicinalbeamten-Verein.
VI.
Die Combination aller das Leben und Sterben begleitenden Umstände ist
es, welche, abgesehen von den ärztlichen Daten, das Urtheil über einen vor¬
handenen Selbstmord oder Unglücksfall leitet. Diese aber sind nicht speciell
technisch-ärztliche.
Es liegt mir daher fern, über das Motiv, über das Verbringen der Gaslyra
von demCorridor nach der Schlafstube, das Benehmen des H. bei der Befestigung
der Lampe, seine angebliche Krankheit und die Loslösung der den Hahn haltenden
Schraubenmutter mich zu äussern.
Ich bin nur genöthigt, gegen Dr. V., welcher diesen letzteren Umstand be¬
rührt, darauf aufmerksam zu machen, dass, wie mich Versuche gelehrt haben,
bei einem gauz lockeren, in einigen wenigen Umdrehungen bestehenden Auf¬
schrauben der Mutter, sp dass der Hahn noch locker hin- und horgeschoben
werden kann, durch mehrmaliges Umdrehen desselben dieser nicht von selbst
abfällt, dass also das Fehlen der Schraubenmutter und das Herausstehen des
Hahnes aus seiner Verbindung bei Weitem eher für eine Absicht als für einen
Zufall sprechen.
Wenn ich das Ergebniss meiner Erwägungon incl. der begleitenden Um¬
stände zusammenfasse, so kann ich mich gutachtlich nur dahin äussern,
dass keine Annahme mehr Wahrscheinlichkeit hat als die, dass die
Leuchtgas-Vergiftung des H. und seiner Familie eine absichtlich herbei¬
geführte ist. —
Uebor den Ausgang des Prozesses kann ich Ihnen noch nicht berichten. Es
hat allerdings einTermin zweiter Instanz wieder stattgefundon. In demselben wurde
aber Erhebung weiterer Beweismittel, doch nicht der ärztlichen, beschlossen, wel¬
che letzteren hiernach dem Gerichte gegenüber zum Abschluss gebracht erscheinen.
D iscussion:
Hr. Falk: Ich will mich selbstverständlich nicht über den speciellen Fall
äussern, sondern nur an die einleitende Bemerkung über die Spectralanaly.se an¬
knüpfen, welche ich ja ebenfalls als bekannt voraussetzen kann. Der hohe wissen¬
schaftliche Werth der Probe ist unzweifelhaft, und es ist dieselbe in jedem ge¬
ordneten Institute ohne Weiteres anzustellen. In unserer Praxis ist dies anders.
Wenn wir zur Section auf dem Lande schreiten, wissen wir zunächst nicht, worum
es sich handelt, erst bei der Obduction erfahren wir es. Der Apparat ist nicht
zur Hand, man dürfte kein Gutachten abgeben; selbst die Entnahme von Blut
hat etwas Bedenken, da Luft hinzutreten könnte, und man wäre demnach in Ver¬
legenheit. Aber glücklicher Weise haben wir noch mehr Beweismittel, beson¬
ders die Natronprobe von Hoppe-Seyler, die weder im Vorgutachten in F.,
noch hier in Frage gebracht worden ist. Es ist dies eine scharfe Probe, auf deren
Einzelheiten ich hier nicht näher einzugehen brauche. Sie lässt sich überall
leicht machen, denn die officiuelle Natronlauge ist in den Apotheken vorräthig.
und sobald Verdacht vorliegt, verschaffen wir sie uns und warten das Ergebniss
der Probe ab. So ist man während der Section im Stande, zu untersuchen, ob
die Annahme zutrifft oder nicht. In der Praxis wird sich also die Natron probe,
da sie handlicher ist, mehr empfehlen und nicht hinter die Spectralanlyse zurück¬
zutreten brauchen.
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Hr. Li man: Es ist ganz richtig, dass auf den Vorladungen nicht ange
geben ist, worum es sich handelt. Es ist dies aber sehr leicht zu erreichen, wenn
man d ie Gerichtsschreibereien darum ersucht, die Vermuthung über die Todesart
auf den Vorladungen zu bemerken, wie dies bei mir jedesmal geschieht. Was
nun die Schwierigkeit der Probe betrifft, so ist es, wenn man den Apparat nicht
zur Stelle hat, sehr leicht, sich etwas Blut mit nach Hause zu nehmen und dort
zu untersuchen. Ein Spectralapparat ist in Berlin für sehr billiges Geld bei
Schmidt u. Hähnsch zu haben, und die Herren, welche in der Lage sind,
sich ein Mikroskop zu kaufen, werden auch das Wenige, was ein Spectralapparat
kostet, übrig haben Was die Sicherheit der Natronprobe betrifft, so haben wir
früher, bevor die Spectralanalyse bekannt war, auch die Natronprobe gemacht,
sind aber jetzt davon zurückgekommen, da sie lange nicht so beweiskräftig ist
wie die Spectralanalyse.
Hr. Falk: Es spricht hier Beobachtung gegen Beobachtung, indem wir mit
der Natronprobe Versuche mit zunehmenden procentischen Abstufungen des
Kohlenoxyds gemacht haben. — Im Uebrigen muss ich constatiren, dass ich seit
Jahren versuche, die Vermuthungen auf den Vorladungen angegeben zu erhalten;
ich habe dies trotzdem fast nie erlangen können.
Hr. Rapmund: Letzteres ist auch schwer zu erreichen, weil es nur ganz
bestimmt auf Veranlassung der Richter geschieht. Im Allgemeinen sollen die
Richter es nicht sagen, damit wir vorurtheilsfrei an die Section gehen, und erst
nachher soll der Richter aus den Acten den Verdacht, der erhoben wird, sagen.
Viele Richter thun dies nicht, weil sie den praktischen Standpunkt haben, dass
die Section leichter zu machen ist, wo eine gewisse Richtschnur vorhanden.
Hr. Gleitsmann (Naumburg): Zu der angegebenen Probe mit Natron
muss ich für meinen Theil zugestehen, dass ich Herrn Li man beistimmen möchte,
da sie mir nicht prägnant genug erscheint. Auch das Mitnehmen eines Spectral-
apparates ist nicht so schwierig; ich habe denselben mit auf das Land genommen
und die Probe an Ort und Stelle ausgeführt. An Herrn Li man möchte ich noch eine
Anfrage richten. Er machte gelegentlich die Bemerkung, dass er in allen Fällen,
wo unzweifelhaft nach den Begleiterscheinungen eine Kohlenoxyd-Vergiftung statt¬
gefunden, er dies aus dem speclralanalytischen Befunde des Blutes auch gefun¬
den habe. Ich habe nun vor einigen Monaten einen Fall erlebt, wo Mann, Frau
und Kind einer Kohlenoxyd-Vergiftung ausgesetzt worden. Mann und Kind kamen
mit dem Leben davon, die Frau soll noch lebend mit schlagendem Herzen ge¬
funden worden sein, starb aber, bevor ich hiuzukam. Bei der Section war ich
sehr enttäuscht, als die spectralanalytische Probe ein negatives Ergebniss lieferte:
das Blut verhielt sich wie normales. Die begleitenden Umstände ergaben in¬
dessen. dass eine Kohlenoxyd-Vergiftung Vorgelegen.
Ilr. Li man: Mir sind eine grosse Anzahl solcher Fälle vorgekommen, des¬
halb habe ich in meinem Gutachten angegeben: Tod in und durch Kohlenoxyd.
Selbstverständlich wird durch die Athmung das Kohlenoxyd des Blutes wieder aus¬
getrieben, und man kann auch experimentell das Kohlenoxyd wieder aus dem Blute
austreiben, sogar einfach dadurch, dass man hinreichend lange das Blut aus einem
Reagensglase in das andere übergiesst, so dass die Luft mit dem Blute in Be¬
rührung kommt. Nun ist der früheste Termin, den ich beobachtet habe, wo das
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Kohlenoxyd nicht mehr in dem Blute gefunden wurde, in einem Falle vorgekom¬
men, wo fest constatirt wurde, dass die Person noch 6 Stunden gelebt hatte. In
allen Fällen, wo die Personen nach den Krankenhäusern geschafft wurden, finden
ja die Aerzte derselben nicht mehr Kohlenoxyd im Blute, weil noch eine Ath-
mung stattgefunden hat. Wenn also bei Personen, welche gleichzeitig einer
Kohlenoxyd-Atmosphäre ausgesetzt gewesen sind, die eine gestorben ist, die
andere noch lebend gefunden wurde, aber später starb, so ist bei letzterer kein
Kohlenoxyd im Blute. Diese sind dann durch Kohlenoxyd gestorben, wie man
durch Arsen sterben kann, wenn auch das Arsen aus dem Körper geschafft wor¬
den ist, eben an den Nachwirkungen des Giftes.
Hr. Philipp (Kyritz): Die Kohlenoxyd-Vergiftung ist eben eine Vergiftung,
und es ist doch bei einer forensischen Obduction immer nothwendig, aus der
Leiche Organe und einen Theil Blut zu chemischer und anderweitiger Unter¬
suchung mitzunehmen.
Hr. Li man: Da möchte ich Herrn Dr. Bischoff fragen, ob er es für er¬
forderlich hält, wenn das Blut unzweifelhaft die Erscheinungen der Kohlenoxyd-
Vergiftung gezeigt hat, auch noch die übrigen Organe der Leiche einer chemi¬
schen Untersuchung zu unterziehen.
Hr. Dr. Bischoff (Berlin): Die Frage ist in dieser Form ja zunächst zu ver¬
neinen; hat man im Blute Kohlenoxyd gefunden, so sind die übrigen Organe nicht
weiter zu untersuchen. Die Zuverlässigkeit aber, die Herr Li man dem kleinen
Taschen-Spectralapparate zuschreibt, kann ich demselben nicht nachrühmen. Ich
habe häufig mit dem Browning’schen Taschenspectroscop keine Befunde mehr er¬
halten, während ich mit dem grossen Vierordl’schen Apparate noch Erfolge er¬
zielte, und ich wüsste nicht, ob man nicht mit diesem Vierordl’schen Apparate
bei einer Kohlenoxyd-Vergiftung, welche erst 6 Stunden später mit dem Tode
endigte, Kohlenoxyd nachweisen könnte. Das Kohlenoxyd zersetzt sich nicht so¬
fort. sondern die Zersetzung tritt erst nach und nach ein; ich vermochte, wenn
Behörden von ausserhalb mich anlässlich Kohlenoxyd-Vergiftungen consultirt
hatten, falls das Blut in Flaschen vor Luftzutritt möglichst geschützt war,
selbst in faulendem Blute Kohlenoxyd-Hämoglobin nachzuweisen. — Die Natron¬
probe hat gegenüber dem spectroskopischen Befunde geringere Bedeutung.
Hr. Mittenzweig (Duisburg): Ich kann, was Herr Bischoff gesagt hat,
nur bestätigen. Ich habe vor acht Jahren, während meiner Beschäftigung im In¬
stitute dos Herrn Li man, Fälle gesehen und Versuche angestellt, wie lange sich
in dem in Flaschen oder Reagensgläsern aufbewahrten Blute das Kohlenoxyd hielt,
und habe Beweise erhalten, dass bis zu 4 Monaten das Kohlenoxyd im faulenden
Bluto nachgewiesen werden kann. Es ist daher wichtig, das Blut immer mitzu¬
nehmen.
Hr. Falk: Zu dem von Herrn Bischoff Vorgetragenen erwähne ich nur,
dass meine Bemerkungen die kleineren, gebräuchlicheren, besonders die „Taschen“-
Apparale im Sinne haben. Im Uebrigen führe ich noch an, dass noch Natronprobe
sogar bei Kohlenoxyd-Intoxicationen, die in Genesung endeten, das Gift im Blute
nachzuweisen im Stande war.-
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Erster Sitzungstag. 25. September 1885.
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III. Hr. Falk (Berlin): Ueber die Thätigkeit der Medicinalbeam-
ton auf dem Gebiete des Irrenweseus.
Ich habe den Gegenstand, den ich anzuregen mir gestatte, schon seit längerer
Zeit hier in unserem Kreise für besprechenswerth erachtet. Wenn ich ihn end¬
lich heute zur Sprache bringe, so bemerke ich vorweg, dass ich mir die Thätig¬
keit der Medicinalbeamten auf dem Gebiete des Irrenwesens als eine wesentlich
controlirende, überwachende vorstelle. Dass das Irrenwesen und besonders das
Irrenanstaltswesen einer Ueberwachung bedarf, erscheint selbstverständlich, na¬
mentlich auch den nicht-medicinisch gebildeten Laien.; dennoch habe ich in der
Literatur, welche sich mit sanitätspolizeilichen Dingen befasst, abgesehen von
einigen im Druck vorliegenden schätzenswerthen Examen-Arbeiten, dem Gegen¬
stände nicht sehr eingehende Aufmerksamkeit zugewandt gefunden. Irrenärzte
haben sich besonders auf Congressen mehrfach mit dieser Frage beschäftigt und
auch die Nothwendigkeit ständiger Ueberwachung im Princip zugestanden. Aber
es leuchtet immer hierbei das Bestreben hervor, durch diese Ueberwachung mög¬
lichst wenig genirt zu werden. Die Einen meinen vielleicht, dass es ginge, wenn
etwa eine neue Beamten-Kategorie, z. B. Inspectoren des Irrenwesens, geschaffen
werde, Andere erwarten das Heil wohl von einem Irrengesetz. Ich aber hege die
Ansicht, dass ein Irrengesetz nicht nothwendig ist, denn wichtige rechtliche Ver¬
hältnisse der Irren sind in den neuen Reichs- und Landes-Justizgesetzen geordnet,
das Uebrige gebt einfach im Rahmen von Verordnungen zu regeln.
Zur Ueberwachung sind neu zu creirende Beamte nicht nötbig, das vorhan¬
dene Beamten-Material reicht vollständig aus, und zwar denke ich mir, dass das
Schwergewicht in die Kreis-Medicinalinstanz fallen solle.
Das Irrenanstaltswesen hat, wie gesagt, eine Ueberwachung nöthig; es
herrscht unverkennbar im Kreise der Bevölkerung ein Misstrauen in zwei Rich¬
tungen: man fragt zunächst, ob die Möglichkeit recht verhütet ist, dass etwa
auch Gesunde in die Irrenanstalt aufgenommen werden. Dies Misstrauen ist so
stark, dass mir einst ein intelligenter höherer Verwaltungsbeamler aussprach,
das Privatanstaltswesen müsse ganz aufgehoben, dem Zuge der Zeit folgend, ver¬
staatlicht werden. Wir hegen diese Ansicht zwar nicht, wir wissen, dass die öffent¬
lichen Anstalten ohnehin genug zu thun haben und ihr Material nicht bewältigen
können, und wissen, dass gerade die kleineren Privatanstalten für viele Kranke,
namentlich aus besseren Ständen, ganz besonders am Platze sind. Nach anderer
Richtung ist die Besorgniss verbreitet, dass die Kranken in denPrivat-Irrenanstalten
gewissermassen als Vermögens-Objecte angesehen werden, an denen man sich be¬
reichert, zumal da sie ihre Klagen nicht Vorbringen können. Es sind nun bei dieser
Frage eine Reihe verschiedenartiger Interessen mit einander in Versöhnung zu
bringen: in erster Linie das der Kranken, welche möglichst bald und in frühen
Stadien zum Zwecke der Heilung einer solchen Anstalt zugeführt werden sollen.
Dann kommt das Interesse der Gesammtheit, welches dahin geht, dass nicht ein
Gesunder in die Anstalt komme; endlich auch die Rücksicht auf die Anstalls¬
besitzer, welche an ihr Unternehmen geistiges und finanzielles Capital gesetzt
haben und nicht unnöthigen Belästigungen ausgesetzt werden wollen und sollen.
Man spricht, dass in Preussen Alles stark reglementirt sei und dass ein
uniformerZug auch durch die Bestimmungen des Sanitätswesens gehe; in Betreff des
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Preussischer Medicinalbeamten-Verein.
Irren weseus kann man dies nun nicht behaupten, da den Mittel-Instanzen hier
grosse Latitude gelassen ist; in Verwaltungsgebieten, welche dicht bei einander
liegen, bestehen die verschiedenartigsten Bestimmungen, hier rigorose, da leichte.
Dadurch kann es Vorkommen, dass eine Anstalt, welche sonst eine gute Bürg¬
schaft für Pflege und Behandlung giebt, unlieber aufgesucht wird, weil die Con-
trole, namentlich die Formalitäten der Aufnahme, dort complicirter sind. Deshalb
ist es wünschenswert!), dass allgemeinere Bestimmungen getroffen werden, da¬
mit durchweg die verschiedenen Interessen mit einander in Ausgleich gebracht
werden.
Es fragt sich nun zunächst, wie bei der Errichtung einer neuen Irrenan¬
stalt vorzugehen ist. Wenn eine Irrenanstalt errichtet wird, so ist durch die Ge¬
werbeordnung bestimmt, dass eine Concession von der höheren Verwaltungsbe¬
hörde nöihig; es kann dieselbe verweigert werden, wenn Thatsachen, welche die
Zuverlässigkeit der Unternehmer in Frage stellen, vorliegen. Auch ist mit Recht
nicht festgesetzt, dass man Arzt zu sein braucht, um die Concession für eine An¬
stalt zu bekommen; eine ganze Reihe von kranken und siechen Irren sind ganz gut
in kleinen Anstalten untergebracht, die auch von Damen geleitet sein können.
Ferner ist durch eine Novelle zur Gewerbeordnung gegeben, dass die Con¬
cession an gewisse, im sanitätspolizeilichen Sinne aufzustellende Bedingungen ge¬
knüpft werde; generelle Bestimmungen existiren über solche Bedingungen nicht.
Im speciellen Falle werden hier immer eine ganze Reihe von Punkten in Frage kom¬
men, nur gewisse Minima brauchen allgemein festgesetzt zu werden. Im Wesent¬
lichen handelt es sich darum, dass der Kranke einen bestimmten kubischen Luft¬
gehalt vorfinde, dass die Räume eine Reinigung leicht gestatten, dass die Fuss-
böden geölt oder parkettirt, die Wände gestrichen oder tapezirt, dass Isolirräume
vorhanden, dass bei Kranken beiderlei Geschlechts die Räumlichkeiten, sowie das
Wartepersonal vollständig getrennt seien, dass Vorrichtungen gegen Unglücksfälle,
Räume für Leichen vorhanden u. s. w. Ist der Anstaltsbesitzer nicht Arzt, so
sollte, falls nicht unsere allgemeinen gesetzlichen Bestimmungeu über Ausübung
der Heilkunde dieser Forderung entgegenstehon, ein fester Contract mit einem
approbirten Arzte vorliegen, welcher die Behandlung übernimmt.
Es ist nun in manchen Bezirken beliebt, dass, wenn der Besitzer nicht
Arzt, die Anstalt nur für Unheilbare sein soll. Dieser Unterschied muss forlfallen,
denn wenn es auch sicherlich unzählige Fälle giebt. in denen man nicht blos in
Betreff der Heilung, sondern sogar der Lebenserhaltung jede Hoffnung aufgeben
muss, so lässt sich eine solche Prognose keineswegs immer mit Sicherheit anfäng¬
lich stellen; die Natur hat uns hier oft merkwürdige Bilder vorgeführt, und es
mehren sich die Fälle auch in der Literatur, in denen anscheinend ganz unheil¬
bare Geisteskranke doch noch curirt oder wenigstens in einer Art gebessert wur¬
den, welche man geradezu als Heilung bezeichnen darf. —
Es ist selbstverständlich, dass der Medicinalbeamte als solcher die Anstalt
zu begutachten hat und sie nicht eher dem Betriebe zu übergeben ist, als bis die¬
selbe in allen ihren Einrichtungen durchaus vorschriftsmässig befunden worden.
Dieser Theil der controlirenden Tbätigkeit vor der Eröffnung mnss sich sowohl
auf Privat-, wie auf öffentliche Anstalten erstrecken, es würde dann manche
Ueb^rfüllung in bestehenden öffentlichen Anstalten ihr Ende erreichen. — Die
Genehmigung zur VergrÖsserung bestehender Anstalten, zu An- oder Umbauten
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Erster Sitzungslag. 25. September 1885. 199
in ihnen könnte füglich nur der Kreis-, bez. Kreis-Medicinal-Instanz Vorbe¬
halten sein. —
Wie soll nun die Aufnahme in Irrenanstalten geregelt and wie soll es be¬
sonders verhütet werden, dass ein Gesunder in die Anstalt komme?
Die Fälle, welche bisher als Belag für solches Vorkommniss vorgebracht
worden sind, haben vor einer ernsten wissenschaftlichen Kritik nicht bestehen
können, aber die Möglichkeit kann nicht in Abrede gestellt werden, auch ohne
dass ein unedles Motiv bei den Anstaltsbesitzern vorzuliegen braucht. Nach
populärer Empfindung sollen ja Irrenärzte mit der Diagnose «geisteskrank“
mitunter zu schnell fertig sein.
Jene Möglichkeit muss nun fern gehalten werden. Bei den Privatanstalten
sind jetzt die Bestimmungen über die Aufnahmen sehr verschieden, aber man be¬
hauptet mehrfach, dass es im Allgemeinen in Preussen leicht sei, in eine
(Privat-) Irrenanstalt übergeführt zu werden.
Bald ist jetzt das Zeugniss eines Medicinalbeamten und eines practischen
Arztes nöthig, aber in anderen Bezirken das zweier praktischer Aerzte, in noch
anderen das Attest eines beliebigen Arztes.
Ich sehe nun aber einen Widerspruch: Wenn bei verhaltnissmässig gering¬
fügigeren Dingon das Attest eines Medicinalbeamten für obligatorisch gilt, z. B.
bei Beurlaubung und Pensionirung gewisser Beamten, wie ist es dann zu billigen,
dass ein Zeugniss, welches einen so schweren Eingriff in das Recht eines Menschen
ermöglicht, den Verlust seiner Freiheit nach sich zieht, von jedem Arzte ausge¬
stellt werden darf, auch von einem, der auf diesem Gebiete gar keine genügende
Erfahrung besitzt. Es sind auch thatsächiich diese Atteste oft nach Form und
Inhalt recht dürftig, selbst wenn sie von höchst ehrenwerthen und auf anderen
Gebieten ärztlichen Wissens als sehr tüchtig geltenden Aerzten herrühren.
Um es kurz zu sagen, erachte ich für die Aufnahme in eine Privat-Irren¬
anstalt die Attestirung eines Medicinalbeamten für durchaus erforderlich; ein
Attest eines practischen Arztes daneben halte ich nicht für nothwendig. Ein
solches wird auch oft nicht zu beschaffen sein, indem kein Arzt sich mit dem
Krankheitsfall vorher zu beschäftigen hatte, es wird Zeit mit der Beschaffung ver¬
loren gehen u. s. w.
Was soll nun attestirt werden?
Ich denke nicht, dass es dabei gerade auf die Gemeingefährlichkeit der
Kranken ankomme. Wenn man sich nicht auf den Standpunkt stellt, welchen
etliche Irrenärzte geäussert haben, dass eben jeder Geisteskranke gemeingefähr¬
lich sei, so müsste bei Festhaltung an der Forderung der Gemeingofährlichkeit
mancher Kranke, für welchon die Anstalt der geeignetste Ort ist, von ihr fern-
bleiben. Es genügt aber, dass das Attest zu denSchlüssen komme: der Betreffende
ist geisteskrank und seine Aufnahme in die Irrenanstalt nothwendig oder gerecht¬
fertigt oder wünschenswerth. — Dass das Attest vor der Aufnahme schon vor¬
liege, erachte ich keineswegs für benöthigt. Oft ist es schwer, die Kranken zu be¬
wegen, zu dem ihm fremden Medicinalbeamten zu gehen oder ihm bei sich Rede zu
stehen. List oder Gewalt werden oft besser dazu benutzt, einen Kranken gleich in
die Anstalt zu bringen. Dem sie ausserhalb der Anstalt aufsuchenden oder von
ihm aufgesucbten Medicinalbeamten können Unannehmlichkeiten erwachsen. Es
genügt meines Erachtens vollkommen, dass, wenn ein Kranker in die Anstalt ge-
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kommen, der Anst<sbesitzer verpflichtet sei, dem Medicinalbeamten ungesäumt
Kenntniss zu geben, damit sich dieser, falls noch kein Kreisphysikats-Attest vor¬
liegt, alsbald über den Zustand des Kranken durch den Augenschein informire.
Auch von der Entlassung des Kranken aus der Anstalt ist dem Medicinalbeamten
sogleich Mittheilung zu machen. Es sind nun ausserdem vielfach noch Meldungen
an die Ortsbehörde, bez. polizeiliche Genehmigung zur Aufnahme vorgeschrieben.
Jch halte aber kaum für nothwendig, vielleicht auch nicht für wünschenswerth,
noch grössere Kreise damit bekannt zu machen, deshalb auch nicht für erforder¬
lich , dass alle Vierteljahre namentliche Angaben der Aufgenommenen und Ent¬
lassenen an die Ober-Behörden abgehen. Die Discretion, auf welche oft Kranke
und Angehörige grossen Werth legen, wird ohne Noth getrübt. Es scheint mir
genügend, wenn das Orts-Meldeamt von der Kranken-Bewegung Kenntniss hat.
An öffentlichen Irrenanstalten verhält sich die Sache jetzt anders. Hier ist
es gerade sehr schwer, einen Kranken in die Anstalt zu bringen, es verstreicht
damit kostbare Zeit, und dann geschieht es meist ohne Mitwirkung eines Medici¬
nalbeamten. Wenn diese Platz greift, so ist es hier meist in der Weise, dass er
einen grossen Fragebogen bekommt, dessen Rubriken er garnicht ausfüllen kann.
Es liegt eher im Interesse des Kranken, wenn der Medicinalbeamte nur kurz eine
Erklärung über die Krankheit und Nothwendigkeit der Aufnahme giebt. Wenn
dann die Anstaltsdirection aus statistischen und wissenschaftlichen Gründen noch
weitere Fragen beantwortet wissen will, so kann dies auch nach der Aufnahme
geschehen. Immer jedoch sollte auch bei jener so folgenschweren Massnahme, der
Ueberweisung an eine öffentliche Irrenanstalt, das Urtheil eines Medioinalbeamten
gehört und massgebend werden. —
Wie ist nun zu verhüten, dass ein Genesener über Gebühr gegen seinen
Willen in der Anstalt zurückbehalten werde?
In manchen Verwaltungsgebieten ist vorgeschrieben, dass in regelmässigen
Zwischenräumen der Polizei Nachricht gegeben wird, wie sich der Kranke be¬
findet. Dies ist aber noch keine Bürgschaft, und wenn wirklich solche regelmässigen
Berichte obligatorisch werden oder bleiben sollen, dann ist der Anstaltsbesitzer
nicht competent; auch dies muss vielmehr durch den Medicinalbeamten geschehen.
Noch in anderer Weise sucht die Gesetzgebung jenes zu verhüten. indem vorge-
geschrieben ist, dass innerhalb 24 Stunden nach der Aufnahme die Staatsanwalt¬
schaft zu benachrichtigen, woran sich das Entmündigungsverfahren anschliessen
soll. Es scheint aber manchmal in etwas säumiger Art von diesem Verfahren,
wegen des Kostenpunktes, Gebrauch gemacht zu werden, besonders wenn es sich
um Unbemittelte handelt. Die Frage ist indessen zu wichtig, als dass der Kosten¬
punkt dabei nachdrücklich mitsprechen sollte. Das Entmündigungsverfahren hat
übrigens gewisse Verbesserungen erhalten. Bis zum 1. October 1879 bestand
das Institut der fiskalischen Curatoren, meist Rechtsanwälten, welche als Pfleger
bestellt waren und die Aufgabe hatten, Sachverständige vorzuschlagen. Sie
wählten Aerzte, welche ihnen bekannt waren, ohne Rücksicht auf ihre wissen¬
schaftliche Befähigung; speciell die Medicinalbeamten, die technisch dafür beson¬
ders vorgebildet waren, traten dabei nicht in den Vordergrund. Jetzt müssen
nicht zwei, sondern ein oder mehre Sachverständige zugezogen werden, und es
kommt jetzt der Medicinalbeamte viel mehr als früher in Function. Indessen ist es
auch jetzt nicht ausgeschlossen, dass der Richter ihm persönlich nahe stehende
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Erster Sitzungslag. 25. September 1885.
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Aerzte sogar als alleinige Sachverständige vorladet und daraus missliche Gon¬
sequenzen erwachsen. Diese so wichtige Thätigkeit muss ausschliesslich den
Medicinalbeamten zufallen, der Art dass, besonders wenn nur ein Sachverständiger
hinzugezogen wird, es jedenfalls der Medicinalbeamte ist. Der Wortlaut des
Gesetzes scheint freilich dagegen zu sprechen, aber auch von Obductionen heisst
es, dass dieselben von einem Gerichtsarzt und einem approbirten Arzte vorzu¬
nehmen seien, und dennoch hat unsere Landes-Justizverwaltung ermahnt, dass
nicht ohne zwingende Gründe von den Medicinalbeamten abzusehen sei; die
factischen Consequenzen sind aber bei dem Entmündigungsverfahren, wo es sich
um den bürgerlichen Tod eines Individuums handeln kann, oft eben so wichtige
wie nach Obductions-Terminen. Es müssen ja auch die Entmündigungs-Gut¬
achten abschriftlich zur Revision und Superrevision den technischen Oberbehörden
zugehen; es soll dadurch möglich werden, den Sachverständigen, eventuell wenig¬
stens nachträgliche, Correctur zu Theil werden zu lassen und auf sie für künftig
eine Art von Pression auszuüben, aber dies ist nur möglich, wenn eine gewisse
Disciplin da ist, wie bei den Medicinalbeamten, denn auf die Monita wird sonst von
anderen Aerzten, wie mir bekannt, nicht immer die erwünschte Rücksicht genommen.
Ist dann Jemand entmündigt, so ist es in erster Linie Aufgabe der Pfleger,
sich fortlaufend von dem Befinden der Betreffenden zu unterrichten und. wenn
Heilung eintritt, die Entmündigung einzuleiten, wozu sie auch meist sehr bereit sind.
Zur weiteren Verhütung etwaiger Uebelstände müssen ständige Revisionen statt¬
finden, welche gleichzeitig auf die Pflege und Abwartung der Kranken zu achten
haben. Solche Revisionen sind allerdings in einzelnen Bezirken vorgeschrieben,
doch ist der Turnus dieser Revisionen verschieden. So wollte eine Verwaltungs¬
behörde ‘^jährliche Revisionen der Privatanstalten haben; das ist vielleicht zuviel.
Aus äusseren Gründen erscheint mir zweimal im Jahre eine solche nothwendig, eine
in der milderen, eine in der rauheren Jahreszeit. Diese Revisionen sollen, wie er¬
wähnt, mit in erster Reihe die leibliche und geistige Pflege, Wartung, Kleidung,
Ernährung der Kranken controliren, nicht in erster Linie sich darum drehen, ob etwa
ein Gesunder in der Anstalt festgehalten wird. Besondere Aufmerksamkeit würde
auch die Durchsicht der Registratur beanspruchen, um zu sehen, ob in Betreff
eines jeden Kranken die vorgeschriebenen Formalitäten erfüllt sind. Mir ist es
noch nie gelungen, einen Gesunden in einer Irrenanstalt untergebracht zu finden,
aber in letztangedeuteten Beziehungen habe ich manchesMonirenswerthe gefunden.
Die öffentlichen Irrenanstalten müssen ebenfalls revidirt werden. Auch gegen
öffentliche Anstalten sind Anklagen erhoben worden und es ist die Mehrzahl der
Institute nicht staatlich, sondern von Selbst-Verwaltungsbehörden geleitet. Hier
muss jährlich wenigstens einmalige Revision stattfinden.
Was ich kurz skizzirt habe, bezieht sich vorzugsweise auf administrative und
Civiljustiz-Verhältnisse, um kurz auch die criminalrechtlichen zu berühren, so
kommt hier vor allem die Beurtheilung der Zurechnungsfähigkeit in Frage.
Welche üblen Folgen hier eintreten können, wenn beliebige practische Aerzte mit
der Beantwortung dieser Frage betraut werden, lehrt die Erfahrung satis superque.
Nur der Medicinalbeamte dürfte, nach meiner Ansicht, sich zu dieser Materie
äussern.
Auch in den Fällen, wo Jemand wegen Geisteskrankheit nach § 51 gericht¬
lich freigesprochen und ausser Verfolgung gesetzt wird, müsste dem zuständigen
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Preussisclicr Medicinalleannen-Verein.
Medicinalbeamlen Nachricht gegeben und die massgebenden Gründe müssten be¬
zeichnet werden, um für etwaige spätere Vorfälle die anamnestischen Daten
rechtzeitig zur Verfügung zu stellen.
Vielleicht wird in der Discussion die von mir gegebene Skizze weiter aus-
zufiihren sein. Es eröffnet sich dem Medicinalbeamten auf diesem Gebiete ein
weites Feld. Man könnte dem entgegen halten, dass eine reiche psychiatrische Vor¬
bildung dafür erforderlich ist. Aber unsere Unterrichtsverwaltung widmet diesem
Lehrgegenstande und der gerichtlichen Medicin wachsende Theilnahme. Es dürfte
dann bei Besetzung der Medicinalämter auf besonders vorgebildete Canditaten
Rücksicht genommen, auch die Anforderung in der Prüfung vertieft werden. —
Discussion:
llr. Wallichs: Ich bin in der angenehmen Lage, meine Uebereinstimmung
mit fast jedem einzelnen Punkte des Vortrags kuud zu geben. Es sprechen
sämmlliche Gründe, welche er anführt, dafür, dass in diesen Dingen der Ein¬
fluss des Medicinalbeamten nicht zu entbehren ist. In Betreff einiger Punkte will
ich zunächst bemerken, dass es in Rücksicht auf die in den einzelnen Provinzen
geltenden, von einander abweichenden Bestimmungen wünschenswerth erscheint,
dass eine gesetzliche Regelung gewisser allgemeiner Gesichtspunkte noch in stär¬
kerem Masse stattfinde, als dies bisher der Fall ist, so die Concessionirung der
Anstalt, die Aufnahme der Kranken etc. In meiner Heimath ist es Bedingung,
dass ein approbirter Arzt als regelmässiger Berathcr der Anstalt angestellt ist, und
es ist dies aus allgemeinen sanitätspolizeilichen Gründen durchweg zu verlangen.
In Betreff der Aufnahme stimme ich mit dem Herrn Vortragenden dahin
überein, wie es wünschenswerth, dass der Medicinalbeamte dabei thätig sei,
wenn auch nicht in dem ersten Stadium, doch im weiteren Verlaufe. Es ist nicht
ausgeschlossen, dass ein Gesunder aufgenommen wird, wenn es auch nach unseren
Einrichtungen nicht denkbar ist, dass er auf die Dauer darin bleibt. So wurde in
die Irronstation des städtischen Krankenhauses meines Wohnorts auf Attest eines
Arztes, welcher die Kranke garnicht gesehen hatte, eine Ehefrau als geisteskrank
aufgenommen, die einen Streit mit ihrem Manne gehabt hatte. Nicht alle Privat-
Aerzte sind in ihrer psychiatrischen Erfahrung und sonstigen Qualification gleich
zuverlässig, die Medicinalbeamten dagegen unterstehen einer staatlichen Disciplin
und haben ein schärferes Gefühl der Verantwortlichkeit. —
Noch ein paar Worte über die Art der Entmündigung.
Ich bin der Ansicht, dass nach Lage uuserer Gesetzgebung bei diesem Ver¬
fahren jedesmal der betr. Medicinalbeamte zugegen sein muss. Dies hängt aller¬
dings von der Interpretation ab; aber im Gesetz steht ausdrücklich, dass als
Sachverständige, besonders für Criminalfälle nur solche verwandt werden sollen,
die für diese bestimmte Art der Thätigkeit öffentlich angestellt oder vereidigt
siud. Es können davon Ausnahmen stattfinden, im Gesetz sind die Fälle genannt,
wo eine derartige Ausschliessung stattfindet, persönliches Interesse, grosse Ent¬
fernung vom Wohnort etc. An dem Entmündigungs-Verfahren selber können meines
Erachtens noch manche Ausstellungen gemacht werden, aber das sind juristische
Fragen, und ich vermeide es. darauf einzugehen. Ich habe neuerdings ganz merk¬
würdige Erfahrungen über die Art gemacht, in welcher Entmündigungen aufge¬
hoben werden. Ich werde an einem anderen Orte über diesen heiklen Gegen¬
stand ausführlich erzählen.
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ErsterSitzungstag. 25. September 1885.
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Hr. Kanzow: Da der Herr Redner seine Erfahrungen über den besprochenen
Gegenstand wohl grossentheils in dem mit Privat Irrenanstalten reichlich ver¬
sehenen Verwaltungsbezirke gesammelt hat, über welchen sich auch meine amt¬
liche Wirksamkeit erstreckt, so möchte ich mir gestatten, mit wenigen Worten die
wesentlichsten Grundsätze und Bestimmungen darzulegen, nach welchen die Auf¬
sicht über die Privat-Irronanstalten hier geübt wird. Zunächst wird bei der Con-
cessionirung dahin gesorgt, dass für die zu errichtonde Anstalt andere Zwecke
als die Aufnahme und Behandlung geisteskranker Personen ausgeschlossen bleiben:
es müssen Pläne vorgelegt werden, nach welchen gebaut, eingerichtet und der
Betrieb geführt werden soll, es wird über die Zuverlässigkeit des Unternehmers
amtliche Auskunft eingeholt und nach Prüfung dieser Nachweise die Concession
— jetzt bekanntlich durch den Bezirksausschuss — ertheilt. Sodann beginnt
alsbald die Wirksamkeit der Aufsichtsbehörde; sie hat zu prüfen, ob die fertig
gestellte Anstalt dem Zwecke und den nothwendigen hygienischen Anforderungen
völlig entsprechend eingerichtet ist. Dabei werden die für die Einrichtung von
Krankenanstalten überhaupt zur Geltung zu bringenden Anforderungen gestellt,
welche für den Regierungsbezirk Potsdam in einem eigenen Regulativ zusammen¬
gestellt sind, und es kommen ausserdem die zur Beaufsichtigung und Sicher¬
stellung der Pfleglinge erforderlichen besonderen Einrichtungen in Betracht. Erst
wenn durch ein Gutachten des Physikus nachgewiesen, dass allen diesen Bestim¬
mungen und Anforderungen entsprochen ist. wird die Genehmigung zur Eröffnung
der Anstalt ertheilt. — Hinsichtlich des Betriebes wird als wesentlich festgc-
halten, ob die Anstalten als Heilanstalten oder lediglich als Pflegestätten unheil¬
bar geisteskranker Personen hingestellt werden. Für die ersteren besteht die Be¬
dingung. dass ein Arzt in der Anstalt seine Wohnung haben muss. Es sind be¬
kanntlich sehr ansehnliche derartige Anstalten im Regierungsbezirk Potsdam.
Ausserdem aber giebt es hier in der Umgebung von Berlin eine Zahl meist
kleinerer Anstalten, welche nur unheilbare Kranke aufnehmen dürfen und meisten-
theils von Unternehmern angelegt sind, welche früher in Irrenanstalten als Pfleger
oder Pflegerinnen beschäftigt gewesen sind. Neben anderen Pfleglingen werden
denselben mehrentheils solche auch von der Berliner Gemeinde-Verwaltung über¬
wiesen, da das Bedürfniss der Unterbringung von Geisteskranken für die Stadt
Berlin stetig zunimmt und die grosse Anstalt in Dalldorf nicht mehr ausreicht.
Den Besitzern dieser Anstalten fehlt es im Allgemeinen nicht an Gewandtheit für
die Verwaltung derselben und, da es für die Aufnahme der chronisch kranken
Personen nicht darauf ankommen kann, ob dieselbe um wenige Tage früher oder
später erfolgt, auch die Angehörigen solcher Kranken mit den Aufnahme-Formali¬
täten bereits vertraut zu sein pflegen, so ist die polizeiliche Genehmigung oder
die Ueberweisung aus einer öffentlichen Anstalt oder der Nachweis der erfolgten
Entmündigung für dieso Anstalten unbedingt vorgeschrieben. Es ist jedoch vor-
gekommen, dass das Genehmigungs-Zeugniss für die Aufnahme notorisch schwach¬
sinniger Personen den Angehörigen des Kranken von der Polizeibehörde versagt
worden ist, indem diese die Nothwendigkeit ihrer Mitwirkung bei der Unter¬
bringung geisleskranker Personen nur für die Fälle nachgewiesener Gemeinge¬
fährlichkeit anerkennen wollte. — Für die Irrenheilanstalt sind die gesetzlich
ausnahmsweise zugelassenen, sogenannten provisorischen Aufnahmen, bei denen
eine vorgängige Mitwirkung der Polizei- oder Gerichtsbehörde nicht stattfindet,
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Preussischer Medicinalbeamten-Verein.
fast zur Regel geworden, und es ist dieses meines Erachtens bei den jetzigen
Einrichtungen der Irrenheilanstalten ebenso unbedenklich, wie es dem jetzigen
Stande der Irrenheilkunde entspricht. Diese hat sich bekanntlich seit der Zeit,
in welcher das Grundgesetz für die Aufnahme geisteskranker Personen in Irren¬
anstalten, die Allerh. Ordre vom 5. April 1804, erlassen worden ist, wesentlich
anders gestaltet und, während die Irrenanstalten damals noch gefürchtete Stätten
der Qual und des Entsetzens waren, sind sie jetzt willkommene Zufluchtsstätten,
welche schon bei dem Auftreten der ersten Zeichen geistiger Erkrankung gern
aufgesucht werden; wohlhabende Familien pflegen die Privatanstalten den öffent¬
lichen Instituten vorzuziehen. Mit den dabei zu berücksichtigenden gesetzlichen
Anforderungen sind die betroffenen Familien meistentheils nicht von vornherein
bekannt. Es liegt in der That nicht sehr nahe, dass die Polizei bei der Unter¬
bringung eines Kranken in eine gut renommirte Heilanstalt mitzusprechen haben
soll, ferner tritt die Manie oft genug so unvorhergesehen auf, dass es nicht als¬
bald möglich ist, ein amtsärztliches Attest zu beschaffen, zumal nicht überall ein
Medicinalbeamter sofort zur Stelle ist; ein ärztlicher Ausweis aber entspricht den
allgemeinen Begriffen von der Sachlage und so kommt denn der Kranke gewöhn¬
lich mit einem hausärztlichen Atteste in der Anstalt an. In der Regel würde es
sich weder vom humanen noch vom wissenschaftlichen Standpunkte rechtfertigen
lassen, ihn zurückzuweisen, und die vorläufige Aufnahme, welohe demnächst durch
die unerlässliche Anzeige an die zuständige Gerichtsbehörde zur endgiltigen wird,
ist demgemäss eine schätzenswerthe Bestimmung der erwähnten Verordnung. Die
Anzeige an die Staatsanwaltschaft muss in allen Fällen auch bei Aufnahmen
in die Pflegeanstalt unverzüglich erfolgen und es haben die Anstaltsdirigenten
sich darüber von der Staatsanwaltschaft eine Bescheinigung zu erbitten; ausser¬
dem aber haben dieselben noch Anzeigen an die Ortspolizeibehörde und an den
Kreisphysikus zu erstatten. Von Letzterem wird erwartet, dass er die bezüg¬
lichen Verhältnisse genau prüft, sich nach Ermessen die betreffenden Schrift¬
stücke einreichen lässt, hervortretende Bedenklichkeiten durch angemessene Nachfra¬
gen und Erörterungen erledigt, auch auf Grund der Anzeigen die Krankenbewegung
in den Anstalten fortgesetzt controlirt, das Verbleiben der einzelnen Kranken in
denselben beachtet und bei persönlicher Anwesenheit in den Anstalten von dem
geistigen Verhalten der Kranken, soweit es erforderlich erscheint, Kenntniss
nimmt. In der Sachkunde der Physiker wird eine Bürgschaft dafür gesehen,
dass Letzteres mit der gebührenden Rücksichtnahme auf den psychopathischen
Zustand und den Bildungsgrad der Kranken geschieht. Den Physikern der Kreise
Niederbarnim und Teltow — nur in diesen beiden Kreisen des Potsdamer Re¬
gierungsbezirks bestehen Privat-Irrenanstalten — ist anheimgegeben, in jedem
Vierteljahr einen Tag besonders zu der Inspection dieser Anstalten zu verwenden
und die dadurch entstehenden Reisegebühren zur Bezahlung aus Staatsmitteln zu
liquidiren; den Inhabern der Irrenanstalten aber wird schon bei der Aushändigung
der Concession unter Anderem gesagt, dass dem Kreisphysikus, wie auch jedem
anderen von dem Regierungs-Präsidenten beauftragten Medicinalbeamten, der Ein¬
tritt in die Anstalt jederzeit gestattet werden müsse. Dem Physikus dürfte mit
diesen Einrichtungen die Möglichkeit einer eingehenden Controlirung der An¬
stalten ausreichend gesichert und auch dem in Laienkreisen nicht eben selten
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Erster Sitzungslag. 25. September 1885.
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gehegten Befürchtungen ungerechtfertigter Aufnahme and ungebührlichen Zu¬
rückhaltens von Krankon in diesen Anstalten damit so weit Rechnung getragen
sein, wie sich solches durch allgemeine Anordnungen erreichen lässt.
Hr. Rapmund: Was der Herr Vortragende hinsichtlich der Aufnahme
über Thätigkeit und Betheiligung der Medicinalbeamten sagte, können wir nur
unterschreiben. Ich stimme auch darin völlig bei, dass die Aufnahme von
Geisteskranken in eine Privat-Irrenanstalt in Preussen jetzt so leicht ist. wie kaum
in einem anderen Staate. Wir müssen die Forderung stellen, dass bei jedem in
eine Privatanstalt aufgenommenen Kranken vorher oder nachträglich verfahren
wird wie dies bei öffentlichen Anstalten nothwendig ist. Hier sind zwei Abthei¬
lungen zur Mitwirkung nöthig, die Verwaltungsbehörde und der Medicinalbeamte.
Die Mitwirkung der ersteren erscheint mir für unsere eigene Sicherheit unbedingt
nothwendig zur Beschaffung der Zeugenaussagen, eines Attestes vom Hausarzt,
auf welchen Grundlagen wir nach genauer Untersuchung des betr. Kranken das
Gutachten aufstellen. Wir müssen eben jederzeit bedenken, dass der Geistes¬
kranke, welcher in die Irrenanstalt kommt, auch in strafgerichtliche Untersuchung
kommen kann, und ist jemand einmal in einer Irrenanstalt gewesen, so hängt
ihm dies lange an, und dann sagt ein Sachverständiger, der Mann könne gar nicht
verurtheilt werden, weil er in einer Irrenanstalt gewesen sei. Mit Rücksicht auf
solche Möglichkeiten müssen wir bei der Aufnahme ausserordentlich vorsichtig
sein. Ebenso müssen wir weniger auf die Aussagen der Angehörigen als auf
die protokollarischen Ermittelungen, welche uns die Verwaltungsbehörde beschafft,
geben. Eigentümliche Fälle aus meiner Erfahrung haben mich belehrt, wie vor¬
sichtig man gegenüber den Angaben der Angehörigen bei Aufnahme in Irren¬
anstalten sein muss, besonders im Hinblick darauf, dass der Betreffende später
einmal in strafgerichtliche Untersuchung kommen kann, und ich rathe, sich bei
der Aufnahme nur nach den protokollarischen Verhandlungen der Verwaltungs¬
behörden zu richten.
In Betreff desZurückhaltens von Geisteskranken halte ich es für nothwendig,
dass auch die öffentlichen Irrenanstalten von Medicinalbeamten eingehend unter¬
sucht werden.
In den Privatanstalten ist es so theuer, dass die Angehörigen meist darauf
drängen, die Kranken heraus zu haben.
In öffentlichen Anstalten verfügt die Direction mit plein pouvoir, und die
Angehörigen haben kaum Einfluss darauf. Hier muss der Medicinalbeamte ein-
treten.
Hr. Kirchhoff (Leer): Das Verfahren in meinem Bezirke ist folgendes:
Wenn Jemand in eine öffentliche Irrenanstalt aufgenommen werden soll, so
muss dies dem Landrath gemeldet werden. Dieser vernimmt die Angehörigen
und protokollirt den Sachverhalt. Diese Papiere werden dem Medicinalbeamten
zugesandt und dieser erstattet darauf das Gutachten. Es kann aber auch das
Gutachten von zwei Aerzten, jedoch ohne dass diese wissen, wie die Sache sonst
liegt, mit demselben Erfolg abgegeben werden. Vom Landrath geht dies Gut¬
achten an die Irrenanstalten und der Director entscheidet, ob dasselbe begründet
ist oder nicht. Nimmt er den Kranken auf, so ist die Sacho erledigt. Zugleich
macht der Landrath die Anzeige an den ersten Staatsanwalt des Gerichts, welcher
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dann die Erkundigung vornimmt nach vorheriger Befragung beim Medicinalbe-
amten, ob der Mann disposilionsfähig ist oder nicht. — In Privatanstalten ist
dies anders. Diese schicken kurzweg an die Leute Anfragen, was dem Kranken
fehlt, und nehmen ihn einfach auf. Es werden diese Anstalten regelmässig von
Regierungs-Medicinalbeamten untersucht, ebenso auch die Provinzial-Irrenan-
stalten. —
(Pause.)
Hr. Falk: Zunächst die Bemerkung, dass vierteljährliche Revisionen der
Privat-Irrenanstalten durch den Physicus wohl im ganzen Lande nicht oder nicht
mehr stattfinden, natürlich vor allem der Kosten wegen. Es ist dann angedeutet
worden, dass wenigstens für die vorläufige Aufnahme in die Privat-Irrenhäuser (ich
trenne absichtlich nicht Heil- von Pflegeanstalt) das Attest eines beliebigen prak¬
tischen Arztes genügen könne, da es ja in der Hand des Kreisphysicus liege, falls
ihm jenes Zeugniss nicht ausreichend erscheine, ein anderes zu verlangen oder
sich bald selbst von dem Zustande des in die Anstalt Aufgenommenen zu unter¬
richten. Abgesehen davon, dass es schwor zu entscheiden wäre, auf wessen
Kosten diese „Nach-Re vision“ Seitens des Medicinalbeamten zu geschehen habe, so
wird durch jene Massregel der Willkür des Physicus ein breites Thor geöffnet:
woraus soll er denn immer von vornherein erschliessen, dass das ärztliche Attest
ungenügend, da er doch den, über welchen es ausgestellt ist, zunächst nicht vor
Augen hat? Deshalb bin ich nach wie vor dafür, dass ausnahmslos an erster
Stelle der Medicinalbeamte das Aufnahme-Zeugniss auszustellen habe. Ebenso
wiederhole ich, dass derselbe als der „geborene“ Sachverständige bei den Ent¬
mündigungen und Aufhebungen von Entmündigung zu gelten habe. Besonders
widersinnig muss es erscheinen, wenn anstatt desselben, wie häufig allem
Anschein nach wegen der Kostenverminderung, der Arzt der (privaten oder öffent¬
lichen) Irrenanstalt als Sachverständiger fungirt, wo es sich um die Entmündigung
eines der Insassen seines Institutes handelt. Wenn auch die Entmündigung vor
allem vermögensrechtliche Festsetzungen im Auge hat, so soll das gerichtliche
Verfahren doch in gewissem Grade auch dazu dienen, festzustellen, ob der be¬
treffende Provocat wirklich ein pathologisches Individuum und seine Festhaltung
in der Anstalt auch wider seinen Willen gerechtfertigt ist. Dass gerade die
Staatsanwaltschaft die hierbei zur Mitwirkung kommende Behörde ist, deutet wohl
auch auf die Absicht hin, widerrechtliche Freiheits-Beraubungen zu verhüten. Dann
wird aber der Anstaltsarzt in der Entmündigungs-Verhandlung gleichsam Richter
in eigener Sache. Dass dies zulässig erscheint, kommt mir als eine Art von
Gegensatz zum §. 87 der geltenden Strafprocessordnung vor, wo es in Betreff von
gerichtlichen Leichenöffnungen heisst: „Demjenigen Arzte, welcher den Verstor¬
benen in der dem Tode unmittelbar vorausgegangenen Krankheit behandelt hat,
ist die Leichenöffnung nicht zu übertragen“. Und wie streng letztere Bestim¬
mung auch die medicir.ischen Behörden auffassen, hat mich ein Fall gelehrt, wo
am Schlüsse eines Ober-Gutachtons ein Provinzial-Medicinal Collegium es dem
Gerichte gegenüber rügte, dass als zweiter Sachverständiger bei Obduction und
gerichtlichem Verhör in einer Anklagesacho gegen einen Arzt wegen §. 230 al. 2
des Strafgesetzbuches der Kreis-Wundarzt fungirt habe, da er doch in der näm¬
lichen Stadt wie der Angeschuldigte ansässig war und praeticirte.
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Erster Sitzungstag. 25. September 1885.
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Dass aber ein Irrenarzt, weil besonders Sachkundiger, auch als Sachverstän¬
diger bei den Entmündigungen fungiren solle oder dürfe, ist nicht in’s Feld zu
führen, denn die Abgabe eines Gutachtens in Entmündigungs-Processen ist eine
gerichtlich-medicinische, nicht eine practisch-psychiatrische Arbeit. Soresumireich
nochmals, dass bei den verschiedenartigsten Aufgaben, welche, soweit nicht gerade
therapeutische Zwecke direkt berührt werden, beim Irrenwesen in Betracht
kommen, dem Medicinalbeamten, namentlich dem der Kreis-Instanz eine aus¬
gedehnte, über das jetzige Mass im Allgemeinen weit hinausragende Mitwirkung
zugesprochen werden muss.-
IV. Hr. Engelhard (Burg) beleuchtet an der Hand von eigenen und frem¬
den unbliebsamen Erfahrungen, wie wünschenswert!) es, namentlich vor dem In¬
krafttreten einer schon seit Jahren vergebens erhofften Medicinalreform, sei, dass
der Staat den Kreis-Medicinal-Beamten eingehendere Berücksichtigung ange¬
deihen Hesse bei ärztlichen Stellungen, deren Besetzung von öffentlichen Behörden
abhängig ist.
Redner wünscht, dass in diesem Sinne ein Gesuch seitens des Vereins an
den Vorgesetzten Herrn Minister gerichtet werde. —
Discussion:
Hr. Rapmund: Ich stehe demjenigen, was der Herr Vorredner gesagt hat,
vollständig schroff gegenüber. Ich habe den Standpunkt, dass je mehr wir dahin
streben, den practischen Aerzten Concurrenz zu machen, und wünschen, dass uns
der Staat unterstütze, die Stellungen, auf deren Besetzung er Einfluss hat, zu er¬
langen, wir weit von dem abgezogen werden, was w T ir Medicinalbeamte erzielen
sollen. Nicht eine grosse Thätigkeit in der Privatpraxis und den damit verbun¬
denen Stellungen, sondern eine ausgiebigere Tliätigkeit auf dem Gebiete der
öffentlichen Gesundheitspflege sei unser Streben. Diese Art der Thätigkeit muss
naturgemäss um so mehr beschränkt werden, je mehr wir den practischen Aerzten
Concurrenz machen. Von diesem Standpunkte aus möchte ich die Herren Collegen
bitten, von der vorgeschlagenen Petition gänzlich abzusehen. Wir können sogar
in jener Beziehung den höchsten Behörden dankbar sein, da diese im Gegentheil
uns entgegonkommen, wo sie nur können. Da ist zunächst die Verfügung des
Herrn Justizministers, dass bei Besetzung der Gefängnissarzt-Stellen die Medicinal¬
beamten berücksichtigt werden mögen. Es sollen sogar diese Stellen während
der Vacanz frei bleiben , damit der neu angestellte Medicinalbeamte in dieselbe
gleich eintreten kann. Der Bautenminister hat ebenso die Königlichen Eisenbahn-
Directionen angewiesen, bei Abschliessung vonKrankcnkassen-Contracten in erster
Linie die Medicinalbeamten zu berücksichtigen. Dies sind gewiss zwei Ver¬
fügungen, welche uns in hohem Grade entgegenkommen. Die praktisch-ärztliche
Thätigkeit kann sich nach meiner Ansicht nur auf Kreis-Krankenhäuser, Gefäng
nisse und vor allen Dingen auf das Impfwesen beziehen. Bei Krankenkassen und
Eisenbahnarzt-Stellen erscheint mir dies nicht eben wünschenswerth. Streben wir
nun dahin, dass die Emolumente, die uns fehlen, auf andere Weise gedeckt wer¬
den, so gehen wir weit von unserer amtlichen Stellung ab.
Wir haben jetzt nur ein Nebenamt; daraus ein Hauptamt zu machen, muss
unser Bestreben sein.
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Preussischer Medicinalbeamten-Verein.
Hr. Wallicbs beantragt Schluss der Discnssion, da Tags darauf Gelegen¬
heit geboten sei. das Thema weiter zu behandeln.
Nach Annahme dieses Schluss-Antrags spricht:
V. Hr. Dr. C. Bischoff (Berlin): Ueber Ptomaine.
Ich gestatte mir, im Folgenden Ihnen in möglichst gedrängten Zügen ein
Bild von dem gegenwärtigen Stande einer in lebhafter Discussion befindlichen
Frage zu geben, welche in gleicher Weise die ganze Aufmerksamkeit des Gerichts-
Arztes und des Gerichts Chemikers für sich in Anspruch nehmen darf, die Frage
über die sog. Cadaver-Alkaloide, Fäulniss-Alkaloide oder in allgemeinerer Fassung
über die Ptomaine. Die Frage spitzt sich mehr und mehr zu einer solchen zu,
welche sei es Arbeitstheilung, sei es gemeinsame Arbeit des Chemikers und des
Mediciners erheischt, und ich darf es wol wagen, meine Erfahrungen und An¬
sichten über diesen Gegenstand einmal an einer zum Urtheil so berufenen Stelle
zum Ausdruck zu bringen, der ich wol schon in mehr als hundert Fällen Ge¬
legenheit gehabt habe, sogenannten Fäulniss-Alkaloiden zu begegnen, da mir
ferner so gut wie keine der von anderen Chemikern über diese Stoffe mitge-
theilten Beobachtungen aus eigener Anschauung fremd geblieben ist. Lediglich
die in jüngster Zeit erfolgten Mittheilungen des Herrn Professor Brieger über
diesen Gegenstand darf ich von dieser Behauptung ausschliessen.
Es hat sich das Material über diesen Gegenstand etwa im Laufe eines
Jahres in so bemerkenswerther Weise geklärt, dass man ein gutes Theil des
vordem Bekannten als nur noch von geschichtlichem Werthe hinstellen darf. Die
Klärung der Frage.ist erfolgt in Bezug auf die Identificirung einer Keihe von
Ptomainen mit theils bekannten, theils neuen chemischen, wohl charakterisir-
baren Individuen. Noch nicht ausreichend ist sie erfolgt in Bezug auf zahlreiche
Reactionen, welche von einzelnen Chemikern diesem oder jenem Ptomain zuge¬
sprochen wurden. Von besonderem Interesse dürfte wol für den Gerichts-Arzt
und den Gerichts-Chemiker die Erwägung sein:
Sind bei sorgfältiger Prüfung in der That Verwechselungen von Pto¬
mainen mit Pfianzen-Alkaloiden möglich? Wodurch können diese Ver¬
wechselungen bedingt sein? Lassen sich dieselben verhüten und wie?
Giebt es Ptomaine, die mit Pflanzenbasen identisch sind? Sind somit
Fälle möglich, in denen auch die gemeinsame Arbeit des Gerichts-Arztes
und desGerichts-Cbemikers ausser Stande ist, eine gerauthmasste Alkaloid-
Vergiftung bei Befund eines Giftes aufzuklären?
Sie wissen, dass wir unter Ptomainen oder Cadaver-Alkaloiden eine Kategorie
meist basischer Verbindungen zusammenfassen, welche sich aus thierischen und
pflanzlichen Materien unter dem Einfluss der Fäulniss-Fermente bilden und welche
den Namen Fäulniss-Alkaloide erhalten haben, weil sie mit den Pfianzen-
Alkaloiden gewisse Reactionen mehr oder weniger theilen, welche wir als allge¬
meine Alkaloid-Reaclionen zu bezeichnen pflegen. Man erhält die Ptomaine aus
faulendem Fleisch, Eiweiss, Leim. Fibrin etc. und es ist sowohl ihre Zahl wie auch
ihre chemische Natur mannigfaltig. Ich sage, dass zu dieser Kategorie meisten-
theils basische Verbindungen gehören. Es sind ganz sicher viele Stoffe, welche
von Chemikern als Ptomaine verzeichnet wurden, keine basisohen Stoffe gewesen,
oft wol Säuren oder indifferente Stoffe, über deren Stellung im System sich zur
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Erster Sitzungstag. 25. September 1885.
209
Zeit nichts aussagen lässt. Solche Stoffe sind in die Klasse der Ptomaine mit
hineingerathen, weil sie im Untersuchungsgang nach Pflanzen-Alkaloiden sich in
dem jeweilig von diesem oder jenem Chemiker erhaltenen Extraete vorgefunden
haben, der schliesslich zur Prüfung auf Alkaloide diente.
Es ist leicht begreiflich, dass das Aufireien von Stoffen in Leichentheilen,
welche mit den Pflanzengiften gewisse chemische oder physiologische Reactionen
theilen, die Sicherheit des chemischen Unheils unter Umständen sehr gefährden
kann, und es hat ja in der That auf unvollständiger Prüfung basirendes Urtheil
schon zu wiederholten Malen in der gerichtlichen Literatur Verwechselungen oder
Verkennungen von Ptomainen mit Pflanzen-Alkaloiden veranlasst.
Wir benutzen in der gerichtlichen Chemie zur Isolirung von Giften, insbe¬
sondere zur Isolirung von pflanzlichen Giften nach Möglichkeit solche Methoden,
welche dem Untersuchungsmaterial so wenig wie möglich fremdartige Stoffe zu¬
führen, um das Material nicht untauglich zu machen, noch nach anderer als der
zuerst eingeschlagenen Richtung hin untersucht werden zu können. Speciell um
Alkaloide oder Glukoside aus Organtheilen und Contentis abzuscheiden dient uns
bekanntlich eineslheils das von Stas erdachte, von Otto weiter ausgebildete
Extractionsverfahren der Massen mit angesäuertem Alkohol, anderntheils die
Extraction der Massen mit saurem Wasser nach Dragendorff. Beide Verfahren
beruhen auf der Fähigkeit der Mehrzahl der Alkaloide und Glukoside, sich in
Säuren zu lösen oder saure Salze zu bilden, dann sowohl in Alkohol wie in saures
Wasser überzugehen. Aus den ursprünglichen Extracten stellen wir durch Fäl¬
lungen mit absolutem Alkohol, welcher Leim, Albuminate etc. niederschlägt, und
nach Entfernung von Fett schliesslich gereinigte Extracte her, aus denen durch
geeignete Lösungsmittel für Basen, z. B. Aetber, Chloroform, Petroleumäther,
Amylalkohol, Benzin, Benzol, theils aus saurer Exlractlösung, theils nach Zusatz
eines Alkalis, Stoffe ausgeschüttet werden, welche demnächst der Identificirung
mit einem Pflanzenstoffe harren.
Es hat nun gerade die Anwendung des Stas-0tto’schen Verfahrens häufig
Mittheilungen von Beobachtungen zur Folge gehabt, wonach mit Hülfe dieser
Methode schliesslich aus den Lösungsmitteln für Alkaloide Stoffe isolirt wurden,
welche, mit den Pflanzen-Alkaloiden nicht identisch, dennoch theilweise deren
Reactionen theilten. Ich kann nur sagen, dass es mir überaus auffällig ist,-dass
Beobachtungen in dieser Richtung nicht schon viel früher in der Literatur ver¬
zeichnet stehen, als dies thatsächlich der Fall ist. Im Jahre 1851 hat Stas in
dem berühmten Process Bocarme zum erston Mal von der noch heute im Wesent¬
lichen adoptirten Methode der Isolirung von Alkaloiden Gebrauch gemacht und
erst 1873 begegnen wir in der chemischen Literatur dem Beginn dieser wich¬
tigen Discussioi) in einer Notiz des Italieners Selmi, welche Diseussion aller¬
dings vereinzelte Mittheilungen über Beobachtungen von Ptomainen zur Folge
hatte, die bis in das Jahr 1865 zurückreichen. Die späte Erwähnung dieser
Stoffe ist mir um so auffallender, als ich gerade behaupten darf, noch keine
einzige Untersuchung von Leichentheilen nach dem Stas-Otto’schen Verfahren
ausgeführt zu haben, ohne hierbei auf Stoffe allgemeinen Alkaloid-Charakters ge-
stossen zu sein. Sie werden bei Untersuchungen schwach fauliger oder stärker
faulender Leichentheile stets gefunden, und es ist auffallend, wenn ältere Hand¬
bücher der gerichtlichen Chemie nicht einmal deren Existenz erwähnen. —
Vierteljahrs,sehr. f. ger. Med. N. F. XLIV. I.
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Preussischer Medicinalbeamten-Verein.
Gestatten Sie mir zunächst der Frage näher zu treten: Was weiss man
heute über sicher charakterisirte Ptomaine?
Es müssen hier in erster Linie die Resultate der vorzüglichen Unter¬
suchungen von Professor Brieger hervorgehoben werden, welche eine Reibe
von sehr wichtigen Ergebnissen zu Tage gefördert haben. Brieger hat andere
Methoden zur Abscheidung der von ihm constatirten Ptomaine angewandt, als sie
gemeiniglich für die Isolirung der Pflanzen-AIkaloide dienen. Zunächst werden
die gefaulten Massen mit salzsäurehaltigem Wasser aufgekocht und diese Auszüge
nach vorsichtiger Concentration mit Alkohol gereinigt. Bis hierher deckt sich das
Brieger’sche Verfahren im Wesentlichen mit der Dragendor ff’schen Methode.
Die alkoholischen Auszüge werden jedoch an Stelle des Ausschüttlungs- Verfahrens
demnächst direkt mit alkoholischem Quecksilberchlorid, oder auch Platinchlorid,
auch neutralem Bleiacetat versetzt, wobei Doppelsalze der Basen entstehen,
thoils schwer löslich, theils leicht löslich, aus welchen durch Schwefelwasserstoff
die Basen isolirt werden.
Für die wissenschaftliche Erforschung der Ptomaine ist denn auch in der
That der von Brieger erdachte Weg der bestdenkbare, da man durch die
Platin-, Quecksilber- oder Golddoppelsalze der Basen am leichtesten zu reinen
Körpern gelangt. Was die Brieger’schen Untersuchungen nicht so leicht ver¬
gleichbar macht mit gerichtlich-chemischen Ermittelungen, ist jedoch das ganz
enorme Untersuchungsmaterial, welches von Brieger aufgewendet werden musste,
um doch verhältnissmässig geringe Mengen seiner Fäulnissbasen zu isoliren.
Brieger hat z. B. in einem Versuche gleichzeitig 15 Lebern und 12 Milzen, in
einem anderen Versuche gleichzeitig die Därme, Leber. Lungen. Herzen, Nieren
von 4 Leichen zugleich verarbeiten können, somit über ein Untersuchungsmaterial
verfügt, das sich doch bei gerichtlichen Expertisen nie bieten kann. Und gerade
in der geringen Menge dieser Ptomaine liegt die Schwierigkeit oder Unmöglich¬
keit. dieselben bei gerichtlich-chemischen Untersuchungen genauer zu charakte-
risiren. Die Mengen der alkaloidisch reagirenden Stoffe sind in der Regel aus
den Leichentheilen so gering, dass das Material jeder analytischen Bestimmung
sich entzieht und man allenfalls nur versuchen kann, mit den Pflanzen-Alkaloiden
mehr oder weniger mikrochemische Vergleichs-Reactionen anzustellen.
Die Untersuchungen von Professor Brieger erstreckten sich auf Ptomaine
aus Fibrin. Fleisch von Säugethieren und Fischen, fauler Hefe, Leim etc. und end¬
lich aus Cadavertheilen aller Art. Von bekannteren Stoffen wurden von Brieger
das Cholin und Neurin, ferner das Trimethylamin aus faulenden Cadavertheilen
isolirt, aus faulendem Fischfleisch ein mit dem Muscarin identischer Stoff, ferner
Dimethylamin und Triäthylamin. Von neuen Producten, d. h. Stoffen, welche
an sich in der organischen Chemie bisher unbekannt waren, ist besonders häufig
eine Base vertreten, die Brieger Neuridin genannt hat. Aus menschlichen
Cadavern entstehen bei länger andauernder Fäulniss ausserdem basische Stoffe,
welche bis zur Feststellung der Constitution dieser Körper mit den Namen
Putrescin, Saprin, Cadaverin und Mydalein belegt sind, um in den Namen die
Abstammungsart von faulenden Massen zum Ausdruck zu bringen. Ein be¬
sonders bemerkenswerther Stoff, vielleicht ein Aethylidendiamin, ist noch aus
dem Fischfleisch gewonnen worden.
Wichtig ist nun das verschiedene physiologische Verhalten dieser Körper.
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Die Mehrzahl dieser Ptomaine ist indifferent, so das häufig auftretende Neuridin,
ferner das Cadaverin (wahrscheinlich das sog. Leichenconiin), das Saprin, Pu-
trescin. Wenig giftig sind die organischen Ammoniurabasen Trimethylamin,
Dimethylamin. Triäthylamin, wenig giftig auch das Cholin. Sehr giftig ist von
den Producten der Fäulniss des menschlichen Cadavers das Neurin und der von
Brieger als Mydalein bezeichnete Stoff. Sehr giftig ist von den Producten der
Fischfäulniss das Muscarin und das Aethylidendiamin. Die Stoffe Cholin, Neurin,
Muscarin haben im Wesentlichen physiologisch gleiche Wirkungen, welche unter
dem Bilde der Muscarinwirkung bekannt sind. Die Stoffe stehen sich auch
chemisch äusserst nahe.
Bemerkenswerth ist, dass die Producte der Fäulniss in verschiedenen
Stadien verschieden sind. Als erstes Product findet sich in der Regel das
Neuridin, demnächst findet man Neurin und Cholin; in späteren Stadien Cada¬
verin. Putrescin, Saprin, Mydalein, über deren Stellung im chemischen System
sich zur Zeit noch nichts aussagen lässt. Bemerkenswerth ist in Bezug auf die
Arbeiten Brieger’s eine in der Literatur früher verzeichnete Angabe des italieni¬
schen Forschers Marino Zucco, der nach seinen Untersuchungen mittheilte,
dass die Ptomaine Selmi’s nichts anderes als Neurin seien, eine Angabe,
welche, was giftige Ptomaine aus menschlichen Cadavern anlangt sich mit den
Befunden von Professor Brieger im Wesentlichen deckt.
Diese Fäulnissbasen Brieger’s sind nun sämmtlich charakterisirt durch
eine ausserordentliche Zersetzbarkeit. Sie gehören anscheinend sämmtlich zu
den Fettkörpern und enthalten, mit einziger Ausnahme des noch nicht sicher
charakterisirten Peptotoxins, wol keine Benzol- oder Pyrrolkerne. Bei der ge¬
ringen Widerstandsfähigkeit gegen energisch wirkende Reagentien kann man
sich mit Vortheil dieser Leichtzersetzbarkeit bedienen, um sich im besonderen
Falle des täuschenden Einflusses der Ptomaine zu erwehren. Diese Thatsache
der leichten Wandelbarkeit ist mir schon seit langer Zeit bekannt. Ich habe seit
Jahren versucht, Lösungen von Ptomainen in Aether, um erst Material zu sam¬
meln, aufzubewahren. Wollte ich dann später mit solchem angesammelten Ma¬
terial Vergleiche anstellen bei frischen Befunden, so stellte sich heraus, dass ich
nicht mehr das hatte, was ich früher asservirte. Es unterscheiden sich durch
diese Zersetzbarkeit die Ptomaine von der Mehrzahl der Pflanzen-Alkaloide.
Es ist nun untor den Brieger’schen Ptomainen aus menschlichen Cadavern
auch nicht ein einziger Stoff gewesen, welcher mit Alkaloiden einer Pflanze über¬
einstimmt, man müsste denn das Trimethylamin zu den Pflanzen-Alkaloiden zählen
wollen, — weil es auch in Chenopodium Vulvaria oder im Mutterkorn u. a. vor¬
kommt. Unter den Ptomainen des Fischfleisches hingegen begegnen wir in der
That einem Stoff, dem Muscarin, welches sowohl die Fäulniss des Fischfleisches,
wie die Lebensthätigkeit des Fliegenpilzes producirt. Hier also könnte eine
Grenze gezogen sein für die Möglichkeit einer sicheren Ausdeutung des chemi¬
schen Untersuchungsbefundes. Ein etwaiger Befund von Muscarin würde nicht
für eine Pilzvergiftung beweisend sein.
Wie verhalten sich nun die von Brieger ermittelten Thatsachen zu dem,
was bisher über Fäulniss-Alkaloide durch zerstreute Beobachtungen anderer
Forscher bekannt geworden ist?
Man kann getrost sagen, dass die Wenigsten, welche bisher Mittheilungen
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über sogenannte Fäulniss-Alkaloide der Literatur übergeben haben, reine Stoffe
in Händen hatten. In der Mehrzahl der Fälle sind Gemische verschiedenartiger
Stoffe, über deren Beschaffenheit ich mir demnächst meine Ansicht auszusprechen
erlaube, in die Literatur als Fäulniss-Alkaloide eingeführt worden, und wenn
einzelne Chemiker nahezu reine Individuen unter den Händen gehabt, so ge¬
nügte deren geringe Menge nicht zur Charakterisirung.
Will man die chemischen Reactionen der von Brieger identificirten
Ptomaine mit denen der Pflanzen-Alkaloide vergleichen, so hat man zunächst in
den Reactionen der Pflanzen-Alkaloide scharfe Grenzen zu ziehen. Einerseits
geben die Pflanzen-Alkaloide. weil sie meist Stoffe basischer Natur sind, mit einer
grossen Zahl von Fällungsmitteln für basische Stoffe oder auch für organische
Stoffe überhaupt, Niederschläge, welche wir als allgemeine Alkaloid-Reactionen zu
bezeichnen pflegen. Anderntheils liefern uns die Pflanzen-Alkaloide chemische
und physiologische Special-Reactionen. Unter den chemischen Special-Reactionen
stehen in erster Linie gewisse Farbenerscheinungen unter dem Einflüsse be¬
stimmter Reagentien, über deren Ursachen wir leider noch zu wenig sichere
Erklärungen oder Aufschlüsse zu geben vermögen. Es kann nicht in Abrede ge¬
stellt werden, dass manche dieser Farbenreactionen ausserordentlich schön und
prägnant sind, dass jedoch auch in anderen Fällen die Farbenreactionen sehr
zweifelhafte Mittel zur Diagnose sind. Manche Alkaloide geben in reinem Zu¬
stande ganz andere Reactionen als im ungereinigten, und es werden in dem
Masse, wie man Alkaloide reiner darstellen lernt, wol auch manche angeblich
charakteristischen Farbenreactionen aus der Literatur verschwinden. Und gerade
in diesen Farbenreactionen liegt in der Regel die Quelle der Verwechselungen der
unreinen Ptomaine mit den Pflanzen-Alkaloiden. Wo Verwechselungen laut ge¬
worden sind oder als möglich hingestellt werden, liegen dieselben in einer Verken¬
nung der Farbenreaction, in der Ueberschätzung des wahren Werthes derselben,
in der ungenügenden Vergleichung mit dem falsch identificirten Material. — Zur
Erzielung solcher Farbenreactionen dienen in der gerichtlichen Chemie vor Allem
Schwefelsäure, Salpetersäure, Gemische von beiden Säuren, Schwefelsäure mit
Zusätzen von Oxydationsmitteln, z. B. Kaliumbichromat, Braunstein etc. ln
selteneren Fällen rufen Bromdämpfe in den schwefelsauren Lösungen Farben¬
erscheinungen hervor. Zuweilen dient Salzsäure zu tinctorialen Reactionen. Die
Reagentien verwenden wir bald in der Kälte, bald in der Wärme. Einige Reac¬
tionen treten sofort, andere erst nach längerer Zeit ein. Wichtig ist, dass gerade
die für die gerichtliche Chemie bedeutenderen Alkaloide, wie Strychnin, Brucin,
Morphin und die anderen Opiumalkaloide, Veratrin, Digitalin sehr schöne Farben¬
erscheinungen liefern. Für einzelne Alkaloide fehlen uns derartige Reactionen,
so für Atropin, Hyoscyamin, Coniin, Nicotin.
Die Mehrzahl der Farbenreactionen der Alkaloide dürfte in der complicirten
Structur derselben, in dem Vorhandensein von Benzol-, Pyridin- oder Chinolin¬
kernen ihre Ursache finden. Es dürften Erscheinungen sein, welche der Ent¬
stehung von Azofarbstoffen, auch Chinolin- und Phenolfarbstoffen ähnlich sind. —
Andererseits kann nicht genug hervorgehoben werden, was für Körper nicht sämmt-
lich in der organischen Chemie zu Farbenreactionen disponiren. Eben die ausser¬
ordentliche Verbreitung der Farbenreactionen, die ich sogleich etwas näher in
Rücksicht auf das vorliegende Thema beleuchten will, auch ausserhalb des Feldes
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der Pflanzen-Alkaloide giebt den Reactionen nur dann einen beweisenden Werth,
wenn man sämmtliche für ein Alkaloid charakteristischen Reactionen auch er¬
halten hat.
ln Italien sind bekanntermassen gerichtliohe Verhandlungen gepflogen wor¬
den, in welchen in einem Falle aus Leichentheilen isolirte Stoffe als Delphinin,
in einem andern als Morphin, in einem dritten sogar als höchst wahrscheinlich
Strychnin bezeichnet worden sind. In Frankreich erwähnen Brouardel und
Boutmy eines Ptomains, welches, dem Veratrin äusserst ähnlich, mit demselben
soll verwechselt werden können. In physikalischen Eigenschaften hat das Coniin
mehrfach, das Nicotin in einem Falle, den ich selbst gerichtlich nachzuprüfen
hatte, zu Verkennungen und Missdeutungen von Fäulnissbasen Veranlassung ge¬
geben. Auch die Möglichkeit der Verkennung einer Fäulnissbase mit dem Atropin
ist wiederholt hervorgehoben. Prüfen wir nun diese Thatsachen in ruhigen Er¬
wägungen, so behält keine der auf Farbenreactionen gegründeten Diagnosen der
Chemiker, welche Delphinin, Morphin, Strychnin, Veratrin gefunden zu haben
meinen, auch nur im Entferntesten eine Bedeutung. Man denke an die gefähr¬
lichste Verwechselung, Strychnin gefunden zu haben an Stelle eines Ptomains.
Hier liegt die Sache so, dass ein Stoff, der nicht bitter schmeckt, als höchst
wahrscheinlich Strychnin bezeichnet ist, eine Thatsache, die mir unbegreiflich
ist, gegenüber der immensen Bitterkeit des Strychnins, die sich noch in Lösungen
von 1 :400000 deutlich erkennen lässt und zu deren Feststellung weniger als
l /i 00 Milligrm. Strychnin ausreicht. — Was die stattgehabte Verkennung des
Delphinins anlangt, so sind die Reactionen dieses seiner Natur nach wenig be¬
kannten Alkaloids so unbestimmte, dass man dasselbe chemisch überhaupt zur
Zeit nicht sicher durch seine Reactionen erkennen kann, und nur da dürfte einige
Aussicht auf positiven Erfolg einer chemischen Untersuchung auf Delphinin zu
erwarten sein, wo äussere Anhaltspunkte schon die Gegenwart dieses Giftes
gerade nahe legen, wie Vergiftungen mit delphininhaltigen Tincturen aus dem
gegen Ungeziefer benutzten sogenannten Läusesamen, dem Delphiniumsamen.
Die Reactionen des Delphinins, woran dasselbe in der italienischen Exper¬
tise erkannt wurde, sind eine braune bis rothbraune Färbung mit Schwefelsäure
gewesen; eine Rothfärbung beim Erwärmen mit Phosphorsäure, eine rothbraune
Färbung mit sog. Fröhde’schen Reagens, sämmtlich Reactionen, die so überaus
häufig mit den verschiedensten organischen Stoffen, z. B. Peptonen, Eiweisstoffen,
hervorgerufen werden können, dass sie jeglicher Beweiskraft entbehren. — Das
als Morphin irrthümlich bezeichnete Produkt ist ebenfalls nur durch Ueber-
schätzung des Verhaltens in Farbenreactionen als Morphin bezeichnet worden.
Hier war es die Violettfärbung mit Schwefelsäure und das starke Reductions-
vermögen des isolirten Stoffes, welche irre führten, während die 3 wichtigsten
Farbenreactionen des Morphins: die prachtvolle Blaufärbung mit Eisenchlorid, die
Violettfärbung mit Fröhde’s Reagens, die Orangefärbung mit Salpeterschwefel¬
säure versagten. — Das Verhalten des angeblich zu Täuschungen mit Veratrin
Veranlassung gebenden Ptomains von Brouardel und Boutmy ist überhaupt
nicht mit Veratrin vergleichbar. Die Angaben der französischen Autoren, dass
beim Lösen dieses Fäulniss-Alkaloids in Schwefelsäure eine violettrothe Färbung
eintrete, trifft überhaupt für Veratrin gar nicht zu. Letzteres löst sich prachtvoll
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guttigelb in Schwefelsäure, welche Färbung in einiger Zeit in Orangebraun und
dann in prachtvolles Kirschroth übergeht.
Ich will mich hier des weiteren auf die zu Täuschungen verleitenden Farben-
reactionen jener angeblichen Fäulniss-Alkaloide nicht einlassen. Ich gestatte mir
nur mitzutheilen, dass ich Beobachtungen solcher Farbenreactionen an isolirten
Produkten des faulenden Cadavers in unzähligen Fällen beobachtet und dass ich
in ihrer Häufigkeit auch Gelegenheit gefunden habe, festzustellen, wodurch die¬
selben in der Regel bedingt wurden.
Zunächst muss ich betonen, dass kein einziges der von Brieger charakte-
risirten Ptomaine im Sinne der Alkaloidprüfungen Farbenreactionen liefert. Die
Ursachen der Farbenreactionen, mit Stoffen aus Leichentheilen erhalten, müssen
somit allem Anschein nach anderen Stoffen zukommen als den eigentlichen
Ptomainen. Ich habe nun bei Untersuchungen fauler Leichentheile oft genug
Gelegenheit gehabt, die Stoffe, welche meistentheils zu Farbreactionen Veran¬
lassung bieten, zu constatiren, und berichte darüber folgendes: Bei der Eiweiss-
fäulniss bilden sich bekanntlich, unter andern aromatischen Produkten, Spuren
von Phenol, ferner namentlich Indol und Skatol. Diese Stoffe gehen sämmtlich
in die Auszüge über, welche man nach dem Dragendorff’schen, wie auch nach
dem Stas-Otto’sch6n Verfahren erzielt. Sie haften in Spuren den Auszügen
an, welche mit Aether oder Chloroform aus den Leichenextrakten gewonnen
werden. Sie gehen sowohl aus schwach saurer Lösung, wie namentlich aus al¬
kalischer Flüssigkeit (Indol und Skatol) in die Alkaloid-Ausschüttlungsmittel
über und ertheilen den abgedunsteten Massen einen unangenehmen, fauligen, an
Naphtylamin erinnernden Geruch. Das Indol und Skatol nun disponiren zu pracht¬
vollen Farbenerscheinungen. Das Indol liefert bei Gegenwart von salpetriger
Säure Nitrosoindol. das sich mit purpurrother Farbe in conc. Schwofeisäure löst.
Dient eine etwas salpetrige Säure enthaltende Schwefelsäure, wie sie häufig im
Handel ist, direct als Reagens, so tritt die violettrothe Farbe sofort ein. Unter¬
wirft man faulige Leichentheile der Destillation, so habe ich fast stets bei der
Oxydation des Destillats mit Salpetersäure — beim Phosphor-Ermittlungsverfahren
— an prachtvoller Violettfärbung, oder Rothfärbung, Zeichen der Gegenwart
von Indol und Skatol beobachten können. Beim Erhitzen mit Salzsäure giebt
Indol und Skatol violettrothe Lösungen. — Vergleiche ich diese Beobachtungen
mit den Angaben von Brouardel und Boutmy über ein zu Täuschungen mit
Veratrin Veranlassung bietendes Ptomain, so möchte ich zur Ueberzeugung noch
kommen, dass diese Herren ein mit Indol und Skatol verunreinigtes, im übrigan
indifferentes Ptomain in Händen hatten und dass das färbende Princip nichts
andres als Indol oder Skatol gewesen ist.
Eine andere Quelle von Farbreactionen finde ich in folgendem:
Bei der Fäulniss oder auch in der normalen regressiven Stoffmetamorphose
entstehen aus den Eiweissstoffen Peptone. Letztere sind in wässrigem Alkohol
löslich. Sowohl die nach Otto wie die nach Dragendorff’scher Methode er¬
haltenen Extrakte von Leichentheilen haben grosse Aehnlichkeit mit concentrirten
Peptonlösungen. Peptone geben beim Erwärmen mit conc. Schwefelsäure violette
Farbtöne. prachtvoll treten diese in der" Kälte bei Gegenwart von etwas Zucker
hervor. Auch beim Erwärmen mit Phosphorsäure färben sich Peptonlösungen
violett. Lösungen von Peptonen mit Salzsäure färben sich beim Erhitzen tief
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violeltblau. Aus alkalischen Fleisch-Peptonlösungen geht in Amylalkohol ein
Stoff über, der mit Phosphorsäure sich beim Erwärmen violett färbt, in der Kälte
farblos löst. Alle diese Entstehungen von Farbreactionen hat man' auch für
Alkaloide hervorgehoben. Soweit wie ich selbst Gelegenheit gehabt, diese Farben¬
wandlungen beim Erwärmen mit Schwefelsäure, Salzsäure, Phosphorsäure zu
beobachten, welche dann eintreten, wenn man die angeblichen Alkaloidlösungen
ohne genügende Vorreinigung zur Verdunstung bringt, schreibe ich dieselben
Peptonen zu und möchte ich glauben, dass in derselben Weise die Farbenerschei-
nungen zu deuten sind, welche man irrthümlich auf Morphin gedeutet hat. Ich
bin auch der Ansicht, dass die von Lombroso aus faulem Mais, von Pöhl aus
faulem Getreide isolirten Stoffe mit gleichen Reactionen Peptone sind.
In die Auszüge nach Dragendorff oder nach Stas-Otto erhalten, gehen
des weiteren die Gallensäuren über. Bekanntlich geben diese Verbindungen bei
Gegenwart von Zucker unter dem Einfluss der conc. Schwefelsäure prachtvolle
Violettfärbungen. Zucker aber ist postmortal häufig in den Organen vorhanden
und gebt ebenfalls mit in diese Auszüge über. Die Pettenkofer’sche Gallen-
reaction ist dann auch meiner Erfahrung nach ebenfalls häufig die Ursache der
Violettfärbung mit Schwefelsäure und ganz besonders in den Ausschüttlungen aus
saurer Lösung mit Aether oder mit Amylalkohol, in welchen man nach Colchicin,
Digitalin, auch Veratrin zu suchen pflegte. Dieselbe Reaction können übrigens
auch Stearin, Oelsäure, Cholesterin hervorbringen.
In die Auszüge nach Stas-Otto geht ferner das Urobilin über, welches
als Reduktionsprodukt des Bilirubins und des Hämatins den normalen Harnfarb¬
stoff bildet und im wesentlichen das Fäcalpigment darstellt. Es scheint dasselbe
eine weite Verbreitung in den Organen zu haben. Aehnlicb verhalten sich be¬
züglich der Isolirbarkeit die übrigen Gallenfarbstoffe. Dieselben neigen ausser¬
ordentlich zu Farbenwandlungen und zeigen in alkalischen Lösungen lebhafte
Fluorescenz, welche Erscheinungen an die Angaben des Vorfindens eines soge¬
nannten animalischen Chinoidins unter den Ptomainer. erinnern. Ich habe Farb¬
stoffe gleichzeitig mit Ptomainen isolirt, welche bald den Aether, bald Amylalko¬
hol oder Chloroform zunächst intensiv gelb färben, und, in amorpher Form ge¬
wonnen, sich in Schwefelsäure prachtvoll blau, bald violett werdend lösen, dieselbe
Reaction auch mit molybdänsäurehaltiger Schwefelsäure zeigen. Durch Schütteln
mit saurem Wasser gehen die Ptomaine an letzteres ohne den Farbstoff über und
man erkennt alsdann, dass denjenigen Stoffen, welche die allgemeinen Alkaloid-
Reactionen geben, nicht zugleich auch die Farbenreactionen zukommen. Ich kann
diese Farbstoffe nur als Gallenfarbstoffe bezeichnen, wenn ich auch ausser Stande
bin, bei dem spärlichen Material den Farbstoff selbst sicher zu bezeichnen.
Die Sachlage ist somit nach dem bisher Gesagten zur Zeit die, dass wir in
die rohen Ausschüttlungen der Auszüge nach Dragendorff, sowie nach Stas-
Otto’scher Methode aus Leichentheilen gewonnen, in die rohen Lösungen von
Aether, Chloroform, Amylalkohol, bald aus saurer, bald aus neutraler oder alka¬
lischer Lösung gewonnen, eine beträchtliche Anzahl zur Sache ganz indifferenter
Körper überführen, welche mit den zu Farbreactionen gemeinhin benutzten
Reagentien, z. B. mit Schwefelsäure, Phosphorsäure, Salpetersäure, nilroser
Schwefelsäure etc. in der Kälte oder in der Wärme Farbreactionen liefern. Diese
Stoffe werden nun zum Theil und in der Regel neben Spuren basischer’Produkto
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der Fäulniss, den eigentlichen Ptomainen angetroffen und es gewinnt den An¬
schein. als ob die alsdann dem Gemisch eigenen Reactionen einestheils allgemeine
Alkaloid-Reactionen, anderntheils specifische Farbreactionen einem gleichartigen
Material, das in Wirklichkeit nicht vorliegt, angehören. Die Peptone allein geben
übrigens auch schon die allgemeinen Alkaloid-Reactionen.
Hat man nun diese Erkenntniss erreicht, so ist es nicht allzuschwer, sich
dem täuschenden Einfluss derartiger Objekte zu entziehen. In erster Linie spielt
hier die ausserordentliche Zersetzbarkeit und Vergänglichkeit der Fäulnissbasen
eine bemerkenswerthe Rolle. Erhält man z. B. mit dem Aetherauszug irgend
eines Extrakts aus Leichentheilen allgemeine Alkaloid Reactionen und reinigt man
einen solchen Auszug mehrmals durch Wiederüberführung der etwaigen Alkaloide
in Salze und Wiederabscheidung durch Alkalien, so verringert sich die Menge
der täuschenden animalischen Alkaloide mehr und mehr und man erkennt bald,
dass etwa zu Farbreactionen Anlass gebende Materie gar nichts mit dem ver¬
meintlichen Alkaloide zu thun hat. Es ist in der That, wenn man nur die alten
Regeln, welche Stas-Otto und Dragendorff nicht genug hervorheben können,
recht beachtet, die erhaltenen Ausschiittlungen erst gründlich sachgemäss zu
reinigen, ehe man zu der eigentlichen Darstellung eines etwaigen Alkaloides aus
denselben schreitet, nicht allzuschwer, zu überzeugenden Resultaten zu gelangen
und sich von dem störenden Einfluss der sogenannten Ptomaine zu emancipiren. —
Die Pflanzenalkaloide sind, bis auf wenige, recht beständige Körper. Strychnin,
Brucin. Papaverin kann man mit conc. Schwefelsäure erhitzen ohne dass sie sich
verändern. Morphin. Narcotin, Codein geben hierbei Derivate, oft erst bei
längerem Erwärmen, die im übrigen selbst noch charaeteristische Alkaloide dar¬
stellen. Solche Behandlung vertragen die Ptomaine nicht. Einzelne Alkaloide
vertragen keine Berührung mit Alkalien, z. B. das Atropin, andere, wie das Sola¬
nin. keine Berührung mit Säuren. Man muss somit, wenn man der Gefahr aus-
gesetzt. ist. Fäulnissbasen und etwaige Farbstoffe neben etwaigen Pflanzen-
Alkaloiden zu isoliren, und, wenn man glaubt, bestimmte Anhaltspunkte für das
•Pflanzenalkaloid gefunden zu haben, die für das letztere zulässigen Reinigungs¬
methoden wohl erwägen, nicht schablonenmässig arbeiten wollen und sich, ich
möchte sagen, in jedem einzelnen Falle die zweckmässigste Isolirungsmethode in
sachgemässen Erwägungen erst erdenken.
Es ist nicht schwer, das Veratrin von dem zu Täuschungen Veranlassung
gebenden Indol zu trennen. Man braucht nur von der Flüchtigkeit des Indols
mit Wasserdämpfen Gebrauch zu machen, welche dem Veratrin abgeht. Man
wird für das Veratrin als empfindlichstes Reagens aber wohl stets die Nasen-
schleimhaut mit zu Hülfe nehmen, auf welcher eine Spur des Veratrins bekannt¬
lich den heftigsten Reiz zum Niesen hervorruft.
Die angebliche Möglichkeit der Verwechslung von Strychnin mit Ptomainen
reducirt sich meines Dafürhaltens bei sachgemässem Arbeiten auf nichts. Das
Strychnin ist charakterisirt durch seine enorme Bitterkeit, durch seine Leicht-
krystallisirbarkeit. seine Widerstandsfähigkeit gegen Fäulniss, seine Widerstands¬
fähigkeit gegen heisse conc. Schwefelsäure. Hat man. durch Isolirung intensiv
bitterer Krystalle aus Leichentheilen mit den sonstigen Alkaloid-Reactionen und
vielleicht noch durch Verunreinigungen undeutlichen Specialreactionen auf Strych¬
nin, Anhaltspunkte für die Gegenwart von Strychnin gewonnen, so ist mit Hülfe
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der Erhitzung der Masse mit conc. Schwefelsäure und dem Versuch, nach Zusatz
von Alkali durch Ausschütteln mit Aether oder Chloroform das Alkaloid wieder
zu isoliren, absolut reines Strychnin isolirbar, dessen chemische Reactionen eine
Verkennung nicht zulassen. Ich habe in 11 Fällen mit voller Sicherheit Strychnin
abscheiden können, ohne dass hierbei irgend welche Ptomaine das Unheil hätten
trüben können.
Bedenklicher liegt die Sache beim Morphin. Ich muss zunächst aus meiner
Erfahrung mittheilen, dass meines Dafürhaltens kleine Gaben von Morphin im
lebenden Organismus zum grössten Theil zersetzt werden oder sehr schnell aus
dem Körper durch den Harn eliminirt werden. Nicht selten kommen Verwechs¬
lungen von Calomel- und Morphiumpulver vor oder Verwechslungen von Calomel-
pulvorn mit Dower’scheri Pulvern. Ich habe 6 Fälle von Morphium-Vergiftungen
zu bearbeiten gehabt. Handelt es sich um Selbstmord, so ist die Sache nicht
schwierig, weil dann in der Regel nicht unbeträchtliche Mengen des Giftes ge¬
nommen werden, die den Nachweis erleichtern. Hier kann man zu der Eigen¬
schaft des Morphins, sich krystallinisch aus ammoniakalischen Lösungen abzu-
scheiden, seine Zuflucht nehmen und daraufhin eine Trennung von den störenden
Beimengungen in der Regel erreichen. Allein bei Vergiftungen von Kindern durch
ein Morphium-Pulver mit etwa 1 — 3 Centigrm. Morphium ist die Untersuchung in
der Regel ergebnisslos. In einem Fall von Vergiftung eines Mannes mit 0,15 Grm.
Morph, accticum — derselbe hatte ein für ihn bestimmtes Medicament, aus Bittor¬
mandelwasser und Morphium, das tropfenweise verordnet war, mit einem Mal zu
sich genommen und starb nach circa 18 Stunden — habe ich nur Spuren Mor¬
phins im Harn gefunden. Zur Reinigung des Morphins und zur Fernhaltung von
Peptonen bonuize ich vorwiegend das Chloroform. Amylalkohol ist seiner Fähig¬
keit wegen, reichlich störende Verunreinigungen in die Spuren von Morphin zu
bringen, ein oft sehr bedenkliches Extraktionsmittel, das nur zur Darstellung
der Rohlösungen des Morphins benutzt werden sollte, nicht aber zur Isolirung des
schliesslich zu Identitäts-Reactionen dienenden Alkaloides. Die Morphin-Isolirung
erfordert allerdings viel Vorsicht, da die Mehrzahl der Reactionen des Morphins
auch mit andern indifferenten Stoffen eintreten können. Auch wird man nur
äusserst selten zu physiologischen Versuchen seine Zuflucht nehmen können, da
die isolirten Mengen in der Regel nicht für derartige Prüfungen genügen. Ich
halte es daher recht leicht für möglich, dass bei Behauptung, Morphin gefunden
zu haben, oft genug Irrthümer untergelaufen sind.
Schwieriger gestaltet sich die Frage bei solchen Pflanzen*Alkaloiden, bei
welchen charakteristische chemische Reactionen zur Zeit fehlen. Ich gestatte mir
drei derselben kurz zu berühren, das Coniin, das Nicotin, das Atropin. Hier
werden wir wohl niemals des physiologischen Experimentes entbehren können
und nur dann, wenn die bekannten chemischen Eigenschaften des Körpers sich
mit den physiologischen Eigenschaften decken, ein bestimmtes Urtheil abzugeben
vermögen. Wichtig ist, dass das Cadaverin, das mit dem Coniingeruch begabte
Ptomain, nicht giftig ist. Nicht zu vergossen ist, dass dieser Geruch nach
Mäusen, welchen besonders in der Verdünnung das Coniin zeigt, nicht etwa
specifisch characterisch ist, sondern schon bei dem einfachen Amid der Essigsäure,
dem Acetamid zu constatiren ist. Das Leichenconiin ist mir mehrmals begegnet,
in der Regel nur in genügen Mengen, und kann ich namentlich eine Beobachtung
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von Selmi bestätigen, wonach dieser Stoff anscheinend nicht unmittelbares Pro¬
dukt der Fäulniss ist, sondern sich selbst erst als Spaltungsprodukt bereits iso-
lirter Fäulnissbasen erzeugt. Ich habe in mit Aether überschichteten alkalischen
Lösungen von Extraktivstoffen aus Leichen, welche Ptomaine enthielten, beim Auf¬
bewahren einen so intensiven Geruch nach Mäusen, dem verdünnten Coniin-Geruch
ähnlich entstehen sehen, dass sich beim Verdunsten dieser Aetherlösungen die
Luft des Laboratoriums mit dem Geruch des Mäuseharns erfüllte. — Ein Ptomain
in der Constitution oder Zusammensetzung auch nur dem Coniin ähnlich, ist bis¬
her nicht aufgefunden. Die Löslichkeitsverhältnisse, die Destillirbarkeit, die Be¬
ständigkeit des Coniins werden Anhaltspunkte genug bieten, um mit dem physio¬
logischen Verhalten ein isolirtes flüssiges und flüchtiges Alkaloid mit Bestimmtheit
als Coniin zu erkennen.
Das Nicotin hat in einem Falle zu einer Verkennung eines Ptomains ge¬
führt, welchen ich selbst klar zu stellen hatte. Hier war der Verdaoht auf eine
Vergiftung mit Nicotin durch äussere Umstände gegeben worden. Der erste
Experte hatte allein aus der Leber mehr als 0,25 Grm. eines Alkaloides, angeb¬
lich Nicotin gewonnen. Die Vergiftung war erst in etwa 24 Stunden tödtlicb
verlaufen. Nicotin wirkt bekanntlich ausserordentlich schnell tödtlich, oft fast
momentan wie Blausäure. Leichenlheile waren nicht mehr vorhanden, wohl aber
das angebliche Nicotin. Bei der Untersuchung constatirte ich Fäulniss-Alkaloide,
denen Spuren von Nicotin schwachen Tabaksgeruch verliehen. Für das Nicotin,
muss ich hervorheben, ist die Eigenartigkeit des Geruchs insbesondere beim
Erwärmen so charakteristisch, dass ich in derselben genügende Hülfe finde,
bei einer Nicotin-Vergiftung auf die riohtige Fährte geleitet zu werden. Keines
der mir bisher bekannt gewordenen Ptomaine zeigte den ausgesprochenen Tabaks¬
geruch. Im übrigen ist das Verhalten des Nicotins zur Jodlösung, die Bildung
der Roussin’schen Jodnicotinkrystalle so characteristisch, dass m. E. eine Ver¬
kennung bei sachgemäßer Prüfung unmöglich ist.
Das Atropin kann verkaunt werden, wenn Ptomaine auftreten, welche
mydriatisch wirken. Was das von Zülzer und Sonnenschein hergestellte ani¬
malische Atropin ist, wissen wir nicht, weil Analysen darüber fehlen. Unter den
Brieger’schen Ptomainen wirkt das Mydalein pupillenerweiternd. Dasselbe ist
jedoch chemisch, trotz der analytisch meist wenig Charakteristiken Eigenschaften
des Atropins, von letzterem recht gut zu unterscheiden. Insbesondere die Flüchtig¬
keit des Atropins mit Wasserdämpfen, seine Schwerlöslichkeit in Wasser, seine
grosse Krystallisations-Fähigkeit, sein stark bitterer Geschmack, endlich die
Sublimirbarkeit geben neben dem physiologischen Verhalten ausreichende Er-
kennuDgsmerkmale.
In der gerichtlich chemischen Praxis darf man somit im Allgemeinen wohl
zugeben, dass gewisse Schwierigkeiten durch die Entstehung von Ptomainen bei
der Ermittlung alkaloidischer Gifie entstehen, dass diese Schwierigkeiten aber bei
sorgfältiger Arbeit, bei genügender Erfahrung über den gegenwärtigen Stand der
Frage und bei der Erkenntniss der Stoffe, welche insbesondere störende Farben-
reactionen liefern, ohne zu den Ptomainen zu gehören, sich in der Regel über¬
winden lassen. —
Aus meiner Praxis darf ich noch mittheilen, dass die Unsicherheit in der
Beurtheilung eines Befundes ganz besonders wächst, wenn man über unzurei-
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chendes Untersuchungsmaterial verfügt. Es sollte seitens der Herren Gerichtsärzte
ganz besonders darauf Gewicht gelegt werden, bei Verdacht auf Alkaloid-Ver-
giftungen nicht gar zu spärliche Mengen Untersuchungs-Materials einzuliefern.
Ich habe in einem Fall einer Daturin-Vergiftung, veranlasst durch Verwechslung
der Gebrauchsweise eines Herba Stramonii enthaltenden Räuchermittels zum
Theeaufguss, kaum 50 Grm. der Leber der erwachsenen Denata zur Untersuchung
erhalten, eine Menge, mit der man selbstverständlich nichts anfangen kann. Es
dürfte auch bei dem Verdacht auf Alkaloide mehr davon Gebrauch zu machen
sein, die Leichentheile mit Alkohol oder doch mindestens mit starkem Weingeist
vor der Zersetzung möglichst zu bewahren. Auch auf einen Punkt möchte ich
noch aufmerksam machen, der ebenfalls unter Umständen jedes Resultat vereiteln
kann, die unverhällnissmässige Grösse des Uebersendungsgefässes zu den Asser¬
vaten. Ich erhalte zuweilen in Gefässen von 2—3 Liter Rauminhalt nur hundert
Gramm den Boden kaum bedeckender Massen, die beim Transport an die Gefäss-
wände geschleudert, derart dem zersetzenden Einfluss der Luft ausgesetzt sind,
dass veränderliche Stoffe ganz gewiss nicht beständig bleiben können.
Die Frage der Ptomaine bietet eine bedenkliche Perspektive, wenn man
an die Möglichkeit denkt, als giftig erkannte Ptomaine zu Giftmorden selbst zu
benutzen.
Ein überaus weites Arbeitsfeld bietet sich auch, wenn man den Produkten
nachspürt, welche die nach den bahnbrechenden Mothoden von Koch als Krank
heitsträger erkannten niederen Organismen auf verschiedenen Nährböden zu
erzeugen im Stande sind. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass hier eine lange
Reihe überaus giftiger, wahrscheinlich sehr leicht zersetzbarer Stoffe der chemi¬
schen und medicinischen Wissenschaft geschenkt werden dürften, welche sich als
Produkte der Zerstörung des Organismus ebenfalls mit mehr oder weniger Berech¬
tigung unter die Ptomaine einreihen lassen dürften. Auch für die gerichtliche
Chemie und die gerichtliche Medicin werden diese Körper bei der Möglichkeit,
acute Erkrankungen mit acuten Vergiftungen zu verwechseln, ihre hohe Bedeu¬
tung haben. Doch alles dies sind Fragen, welche mehr und mehr in das medici-
nische Gebiet überführen, das ich nicht berechtigt bin, zu betreten, und welches
von so hervorragenden Specialforschern bearbeitet wird, dass die Aufhellung des
heule herrschenden Dunkels nicht lange wird auf sich warten lassen. —
(Schluss der Sitzung: 1 1 4 Uhr Mittags.)
Am Nachmittage fand im „Englischen Hause“ ein Festmahl und am Abende
geselliges Zusammensein in den „Kaiserhallen“ statt.
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220
Zweite ordentliche Sitzung
am 26. September 1885, Vormittags 9 l / 4 Uhr
in der Theerbusch’schen Ressource.
VI. Hr. A. Lesser (Berlin): Demonstration einiger Verletzungen
der Geschlechtstheile, bedingt durch instrumenteile Provocation
des Aborts.
Sehr geehrte Herren! Ich werde mir erlauben, Ihnen eine Reihe von Zeich¬
nungen vorzulegen, welche Verletzungen der Scheide und der Gebärmutter, ver¬
anlasst durch criminelle Provocation des Aborts, wiedergeben. Diese Abbildungen
sind für den zweiten Band meines Atlas bestimmt; sie vergegenwärtigen Ihnen
den grösseren Theil der durch Fruchtabtreibung erzeugten Läsionen, welche ich
während meiner mehr als siebenjährigen Thätigkeit am Institut für Staatsarznei¬
kunde hierselbst zu sehn Gelegenheit gehabt habe. Ich werde, falls mir Ihre
Güte die Zeit gewährt, dann noch über meine übrigen, nicht abgebildeten Beob¬
achtungen berichten, welche sich auf den nämlichen Gegenstand beziehen, und
die analogen in der Litteratur der letzten 20 Jahre beschriebenen Fälle zur Ver¬
gleichung heranziehen. Zum Schluss beabsichtige ich, eine kurze Gegenüber¬
stellung dieser, mit anatomisch demonstrirbaren Verletzungen verbundenen Frucht¬
abtreibungen und solcher ohne postmortal nachweisbare Läsionen folgen zu lassen.
Fall 1. Das 1. Object 1 ) zeigt Ihnen, meine Herren, sehr einfache Verletzun¬
gen. Sie sehen in der Mitte der hinteren Gebärmutterwand eine ziemlich senk¬
recht verlaufende, rinnenförmige Läsion, welche die ganzen oberen 2 Drittheile
des Halses einnimmt und mit ihrem Ende bis in den untersten Abschnitt des
Körpers reicht. Sie verbreitert und vertieft sich nach oben hin, ohne jedoch die
Grenzen der Schleimhaut zu überschreiten. Die glatten, wenn auch nicht ganz
gradlinigen Ränder der Verletzung sind geschwollen, ihre und des Grundes
Farbe ist, gleichwie die der übrigen Cervix-Innenfläche, eine tief-grünliche,
bedingt durch faulig veränderten Blutfarbstoff. Etwas nach links von der
Mittellinie, neben dem oberen Ende dieser Furche, welches übrigens, wie das
untere, abgerundet ist, sitzt eine zweite, etwa */ 3 so grosse Läsion, die in Folge
ihres mehr horizontalen Verlaufs mit jener einen nach unten offenen Winkel bildet.
Auch sie ist nicht in ihrer ganzen Ausdehnung von gleichen Dimensionen. Ihre
untere Hälfte gleicht dem oberen Abschnitte der schon beschriebenen Continuitats-
trennung. nur reicht sie nicht so tief in das Gewebe hinein, ihr oberer Theil ver¬
schmälert sich äusserst schnell, so dass sein grösserer Abschnitt eine fast lineare
Trennung bildet. Ihre Ränder sind kaum geschwollen. Diese zweite Verletzung
liegt vollständig oberhalb des inneren Muttermundes.
Die Scheide, die Aussenfläche der Portio vaginalis, der unterste Abschnitt
des Halses sind vollkommen frei von jeder Verletzung. Die Innenfläche des nur
Es ist nicht möglich gewesen, sämmtliche Bilder iithographiren zu lassen;
die gegebenen veranschaulichen die Haupt-Typen der Verletzungen
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Zweiter Sitzungstagr. 26. September 1885.
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wenig vergrösserten Körpers ist bis auf die markstückgrosse Placentarstelle,
welche von dem obersten Theile des EröfTnungsschnittes zufällig getroffen ist.
glatt, sie zeigt nur eine massige Schwellung der grünlich verfärbten Schleimhaut
mit Andeutungen diphtherischer Trübung in der Nähe der Verletzungen; Decidua-
Resto finden sich auf ihr nicht vor.
Hieraus geht hervor, dass zwischen Tod und Abort — der letztere dürfte
gegen Ende des 3. Monats erfolgt sein — schon eine nicht unerhebliche Anzahl
von Tagen gelegen ist und zwar, nach der nur unvollständigen und unsicheren
Anamnese zu schliessen, gegen 13—14.
In Betreff der Manipulationen sowie in Betreff des Instruments, mittelst
dessen jene ausgeführt sind, haben die richterlichen Erhebungen nichts festzu¬
stellen vermocht.
Fall 2. Die gleichen Lücken finden sich in der Geschichte des folgenden
Falles. Es hat nur ermittelt weiden können, dass Denata 22 Tage vor dem Tode
unter Schüttelfrost und Schmerzen im Abdomen erkrankt ist, dass am folgenden
Tage Kreuzschmerzen und heftiges Fieber vorhanden waren und etwa 24 Stunden
daraaf der Abort eintrat. Erst 4 Tage vor dem Tode, nachdem mehrfache
Metrorrhagieen die Umgebung alarmirt hatten, sah ein Arzt die Kranke; er hörte,
dass sie seit der Fehlgeburt bettlägerig gewesen, er constatirte eine schwere
Sepsis, ausgehend von jauchiger Endometritis und complicirt mit Retention von
Placentar-Resten. Er entfernte diese sowie die anderen zersetzten Inhaltsmassen
des Uterus und der Scheide, indem er mit der Hand einging; irgend welcher
Kraftaufwand war bei diesen Manipulationen nicht nöthig. — Den tödtlichen
Ausgang vermochte er nicht mehr abzuwenden.
An dem wiedergegebenen Abschnitt der Geschlechts-Organe bemerken Sie,
m. H., eine bedeutendere Vergrösserung der Gebärmutter und beträchtlichere
Dimensionen der Placentarstelle als in dem 1. Object, so dass in Hinblick auf
die Länge der zwischen Fehlgeburt und Ableben gelegenen Zeit die Annahme
nothwendig erscheint, die Gravidität habe etwa die Hälfte der normalen Dauer
erreicht gehabt. Die Gebärmutter trägt auch in diesem Falle die unzweideutig¬
sten Spuren der instrumentellen Einleitung des Aborts. Sie sehen die schwerste
der Verletzungen ebenfalls in der Mitte der hinteren Cervixwand gelegen, und
zwar etwa an der Grenze des mittleren und oberen Drittheils; ihre Längsaxe ver¬
läuft aber nicht, wie in dem 1. Falle, parallel mit der Längsaxe des Organs, sie
durchsetzt das Gewebe der Schleimhaut und die grössere Hälfte der Muskel¬
schicht, indem sie von unten innen nach oben aussen sich erstreckt. Es handelt
sich hier um eine nicht zu verkennende Stichwunde mit glatten Begrenzungs-
flächen von beiläufig l'/jCtm. Länge und 4 Mm. grösster Breite. Die zweite,
allein die Schleimhaut betreffende Verletzung hat ihren Sitz in den unteren
Partieen des Halses und zwar in der linken Hälfte der Hinterfläche. Sie beginnt
etwa 2 Mm. über dem äusseren Muttermund und erreicht bei einer Breite von
kaum 4 Mm. und einer ganz geringen Tiefe eine Länge von ca. 3 Ctm. Der äussere
Muttermund bildet nicht, wie in dem 1. Falle, einen ununterbrochenen Ring,
dessen Oberfläche durchweg in demselben Niveau gelegen ist, er zeigt rechts wie
links je eine deutliche Einziehung, herrührend von alten, verheilten Einrissen,
die bei früheren Entbindungen acquirirt worden sind. Gleichen Ursprungs und
Alters sind auch die beiden, fast die ganze Länge der Seitenwände durchziehen-
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den Cervix-Narben, welche an die Einkerbungen des Os externum sich an-
schliessen. Die Wand des Halses und des unteren Körpertheiles ist, worauf ich
beiläufig noch aufmerksam mache, in Folge frischer Entzündung geschwollen. —
Die Scheide und die äusseren Geschlechtstheile sind frei von frischen Ver¬
letzungen.
Fall 3. Die Wunden, welche die 3. Zeichnung wiedergiebt, sind bedeutend
umfangreicher und schwerer, als die der beiden vorerwähnten Fälle; sie lassen nur
einen kleinen Theil der Begrenzung des inneren Muttermundes und deren Nachbar¬
schaft frei, sie erstrecken sich ferner auch weiter in der Körperwand hinauf. In
breiter Ausdehnung liegt die zerrissene Muskulatur vor und verleiht den von ihr ge¬
bildeten Partien des Grundes und der Ränder eine höchst unregelmässige, buohtige
Beschaffenheit Die zwei grösseren Verletzungen beginnen in dem mittleren Theile
des Halses, die dritte, kleinere, in dem obersten Abschnitte desselben. Die eine
jener, welche in der linken Hälfte derHinterwand ihren Sitz hat, verläuft fast senk¬
recht aufwärts, gegen die Mitte sich ziemlich plötzlich verbreiternd; ihre Länge be¬
trägt 3 '/jj Ctm.. sie misst bis über 12 Mm. in derQuere. Die zweite der bedeuten¬
deren Läsionen hat Hufeisen-Form mit gegen die Scheide offener Biegung, sie be¬
ginnt in der Mitte der hinteren Wand und greift bis auf die rechten Seiientheile der
vorderen über. Ihr dem äusseren Muttermund am nächsten gelegener Abschnitt
übertrifft an Breite und Tiefe nicht wesentlich die Hauptverletzung der Figur 1 ;
der übrige Theil der Wunde ist fast dreimal so breit und greift stellenweise um
ebenso viel weiter in die Tiefe. Die ganze Länge der Läsion beträgt 6 Ctm. Die
dritte Verletzung endlich nimmt fast den ganzen, von der eben beschriebenen um¬
fassten Raum ein. ihre Länge erreicht etwa 1 1 Ctm., ihre Tiefe und Breite
sowie ihre übrigen Charaktere stimmen vollständig mit den der an sie angrenzen
den Theile der zu zweit erwähnten Wunde überein.
Wie die ziemlich glatte Beschaffenheit der Körperinnenfläche darthut. kann
auch in diesem Falle der Tod der Ausstossung der Frucht, welche etwa 15 bis
20 Ctm. lang gewesen sein mag, nicht alsbald gefolgt sein. Eine Anamnese
fehlt fast vollständig; es ist nur bekannt geworden, dass Donata 4 Tage vordem
Tode als an Peritonitis leidend in Bethanien aufgenommen ist.
Noch bei Weitem roher und ungeschickter als in den bisher vorgeführten
Fällen müssen die Manipulationen in den 4 Beobachtungen gewesen sein. auf
welche ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte. In drei von diesen ist der
Angriffspunkt der Instrumente ausserhalb des Cervicalcanals gelegen, in der
letzten ist die Einführung jenes in diesen erst nach mehreren missglückten Ver¬
suchen geluugen, deren Spuren recht augenfällig sind.
Fall 4. In dem ersten Object dieser Reihe begegnen wir einer vollständigen
Durchtrennung der Muskulatur und der Schleimhaut an der auch in den vorigen
Fällen vorzugsweise getroffenen Gegend, in der Mitte der hinteren Cervixwand.
Die Zerreissung. die, wie die weitgreifende Ablösung der Muskulatur von dem
Bauchfell mit Sicherheit darthut. durch die Einführung eines Instruments zwischen
diese Schichten und durch dann erfolgten Druck nach vorn erzeugt ist, endet 4 Mm.
unterhalb des inneren Muttermundes mit abgerundeter Spitze und reicht, wohl
entsprechend der geringeren Widerstandsfähigkeit der Schleimhaut gegenüber der
der contractilen Schichten, in ersterer etwas höher hinauf als in diesen. Die
Rissflächen erscheinen vollkommen glatt, sind aber stark geschwollen und nament-
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Zweiter Sitzungstag. 26. September 1885.
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lieh in den unteren Partieen recht blutreich. Sie haben ein durchaus gutes Aus¬
sehen, keine Spur eines durch Infection oder sonstwie bedingten regressiven Vor¬
ganges ist an ihnen zu bemerken. Die vordere Fläche der stark injicirten Serosa
erscheint, ebenso wie deren übrige Schichten, grünlich und zwar zum wesentlichen
Theil in Folge cadaveröser Veränderungen. Die Trennungsfläche der Vagina ist,
genau entsprechend ihrem Ansätze an den Cervix, eine leicht bogenförmige und
gleichfalls glatt. Die vordere Muttermundslippe erscheint wenig, die hintere
ziemlich stark geschwollen; ein bedeutender Blutgehalt bedingt die livide Farbe
ihrer Oberfläche. Die übrige Schleimhaut des Cervicalcanals ist blass, nicht
verdickt, sie ist frei von jeder Abweichung. Ebenso verhält sich die Innenfläche
des nur ganz wenig vergrösserten (8, 5, 2 s / 4 Ctm.) Körpers, der in den oberen
Partien seiner vorderen Wand die Ansatzstelle der Placenta noch deutlich er¬
kennen lässt. Erwähnenswerth dürften nur noch kaum über hirsekorngrosse
Blutungen in der Muskulatur sein, welche in der Gegend des inneren Mutter¬
mundes ihren Sitz haben.
In Betreff der Anamnese habe ich durch die Güte des Herrn Dr. Hofmeier
erfahren, dass das kaum 17jährige Mädchen 9 Tage vor seinem Ableben in das
Elisabeth-Krankenhaus aufgenommen ist, dass sie laut Angabe der Mutter 3 bis
3V2 Wochen vorher, etwa im 4. Monat der Schwangerschaft, abortirt habe. Im
Hospital bot die Patientin ausser der Peritonitis, welcher sie erlag, nur einen
geringen, ab und zu blutigen, aber niemals übelriechenden Ausfluss aus den
Geschlechtstheilen dar.
Fall 5. Die in dieser Zeichnung (Fig. 1 der Tafel) wiedergegebene Gebär¬
mutter und Scheide zeigt eine Combination von Verletzungen, welche den in Fig. 1
und 2 vergegenwärtigten ähneln, mit solchen, welche der des 4. Falles an dieSeite
zu stellen sind. Der Unterschied gegenüber der letzteren beruht wesentlich in der
Beschaffenheit der Oberflächen; dieselben sind hier höchst uneben, überall ver¬
sehen mit Fetzen nekrotischen Gewebes; sie zeigen also ein Aussehen, welches
an und für sich schon mit Sicherheit darauf hinweist, dass zwischen dem Tode
und den Manipulationen, welche die Abtreibung herbeiführen sollten, eine bei
Weitem kürzere Frist gelegen haben muss, als in dem Fall 4.
Auch hier hat die Spitze der Canüle oder einer Spritze — es sind nach-
gewiesenermassen Injectionen von kaltem Wasser applicirt worden — in dem
hintern Abschnitt des Scheidengewölbes sich gefangen. Das Rohr ist dann inner¬
halb der Muskelschicht des Halses in die Höhe gestossen worden und hat einmal
in dieser — etwa im Niveau der Scheiden-Innenfläche — eine bis 3 '/ 2 Ctm. an
Länge erreichende Trennung und zweitens eine bis auf die vordere Hälfte über¬
greifende Ablösung des Vaginal-Ansatzes herbeigeführt.
Aus der so entstandenen Höhle führen zwei, etwas schräg von unten nach
oben verlaufende Risse in das Lumen des Cervix; auch an diesen sind, wie im
vorigen Falle, die Verletzungen der Schleimhaut ausgedehnter, als die der con-
tractilen Schichten. Der Schleimhaulriss, welcher der Mitte der Hinterwand zu¬
nächst gelegen, zeigt in seinem oberen Abschnitt, abweichend von seiner unteren
Hälfte und von dem in der rechten Seitenwand gelegenen, fast ganz glatte
Flächen. Ungefähr 1 */ 2 Ctm. unterhalb seines oberen Endes, welches nur wenig
tiefer als der innere Muttermund gelegen ist, sitzt eine längsovale, etwa 7 und
3 Mm. an ihrem Eingänge messende Stichwunde, welche, sich schnell verjüngend,
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in den obersten Schichten der Muskulatur ihr Ende erreicht. Noch weiter nach
links von der Mitte, aber ebenfalls noch in der Hinterwand, findet sich ein zweiter
kaum 1,5 Ctm. langer Stichcanal, dessen Richtung jedoch nur wenig von der
Längsaxe des Organs abweicht. Seine fast 6 Mm. im Durchmesser führende,
ziemlich rundliche Eingangs- und Ausgangsöffnung liegen hart an einander; sie
bieten, wie ich nebenbei bemerken will, die grösste Aehnlichkeit mit den durch
roh applicirtes Klysma erzeugten Mastdarmläsionen. Eine sechste, nur die oberen
Schichten der Schleimhaut betreffende Wunde von 3 1 / 2 und 1,2 Ctm. Auss-
maass ist in der linken Seitenwand und deren Nachbarschaft gelegen; sie er
reicht mit ihrem oberen Abschnitt den Gebärmutterkörper. Auch sie hält in
Uebereinstimmung mit der Mehrzahl der übrigen Verwundungen die Richtung
von links unten nach rechts oben ein.
Die Oberflächen der Verletzungen sind, wie die der Nachbarschaft, diph¬
therisch; die letztere ist lebhaft geschwollen. Die grösste Volumszunahme, be¬
dingt durch wässrig-eitrige Infiltration, hat jedoch im Bereich der vordem Lippe
Platz gegriffen, trotzdem dieselbe von allen Theilen des Cervix am weitesten von
den Continuitätstrennungen abliegt.
In vollkommener Uebereinstimmung mit dem relativ frischen Aussehen der
Verletzungen stehen die Dimensionen des Uteruskörpers. Derselbe ist mindestens
3mal so gross wie der zuletzt besprochene (13. 87 4 . 4*/ 2 Ctm.), trotzdem die
Gravidität kaum 4 Wochen länger gedauert haben soll. Der Tod ist in dem uns
jetzt beschäftigenden Falle 11 Tage nach dem Abort eingetreten, der Abort
erfolgte etwa 27 Stunden nach der Einspritzung, an welche sich sofort Uebel-
keit, Schwäche, schweres Krankheitsgefühl anschloss.
Fall 6. Fast noch bedeutendere Verletzungen als der soeben besprochene
Fall bietet der folgende. Er betrifft eine Frau ira VII. Monat der zweiten
Schwangerschaft, welche wenige Tage vor Beginn des tödtlichen Leidens schwer
gehoben und 24 Stunden vor Anfang des letzteren eine grosse physische Auf¬
regung durchzumachen gehabt haben will: Angaben, welchen man ausserordent¬
lich häufig unter ähnlichen Umständen begegnet. 9 Tage vor dem Tode erkrankte
die bis dahin ganz gesunde Person plötzlich und schwer, die Hauptklagen be¬
zogen sich auf Leibschmerzen, auf ein drückendes Gefühl in der Unterbauch¬
gegend mit Drängen nach unten. Die Schmerzen steigerten sich, so dass Pa¬
tientin selbst jeden Lagewechsel auf das Sorgsamste zu vermeiden suchte; etwa
2X24 Stunden später trat nach einem Schüttelfrost eine heftige Blutung aus
den Genitalien auf, Erbrechen und Durchfall gesellten sich hinzu: 4 Tage nach
Beginn der Erkrankung erfolgte die Ausstossung einer 34 Ctm. langen, unver¬
letzten Frucht von 925 Grm. Gewicht; 5 Tage darauf war die Frau todt.
Die Section deckte in der hinteren Cervixwand (Fig. 2 der Tafel) der nament¬
lich in Bezug auf ihren Dickendurchmesser den Uterus (14 1 / 2 , 7 \/ 2 i 6% Ctm.)
des vorigen Falles überragenden Gebärmutter eine ebenfalls von links unten nach
rechts oben sich hinziehende Zerreissung auf, welche, in der Gegend des inneren
Muttermundes sich nach rechts und vorn wendend, die seitlichen Partien des
Organs durchsetzt und erst in der linken Hälfte der vorderen Wand ihr Ende
erreicht. Unverletzt ist also nur V 6 des Cervix und zwar die Nachbarschaft der
linken Seitenwand und diese selbst. Der aufsteigende Theil der höchst unregel¬
mässig gestalteten Verletzung verbreitert sich nach oben hin um das Doppelte,
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Zweiter Sitzangstag. 26. September 1885.
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er misst hier etwa 8 Gtm. Er betrifft die ganze Dicke der Schleimhaut und den
grössten Theil der Muskulatur, an einzelnen Stellen des höchst unebenen Grundes
reicht er nahe an die Serosa. Der horizontal verlaufende Schenkel der Läsion
zeigt bis zur Mitte der vorderen Wand die nämlichen Verhältnisse; hier aber be¬
ginnt er die Schleimhaut zu verschonen und sich intramuskulär bis an sein Ende
fortzusetzen. Die unterhalb des Risses gelegenen Theiie der hinteren und vorde¬
ren Gervixwand rechts sind vornehmlich geschwollen und zeigen zudem noch sie
senkrecht durchtrennende Risse von nicht unbedeutender Ausdehnung. Die heller
erscheinenden Partien dieser Gegenden bieten auf dem Durchschnitt das Bild
eitrig-wässriger Infiltration, die an ihrer Oberfläche bläulich schimmernden sind
ausserdem von umfangreichen Blutungen durchsetzt. Die Farbe der Rissflächen
zeigt ähnliche Differenzen, die helleren Töne sind bedingt durch Necrose, die
dunkleren durch diese und blutige Infiltration, bezgl. Imbibition. — Die ganze
Vorderfläche der Körperhöhle wird von der Placentarstelle eingenommen, die
übrigen Abschnitte zeigen eine gesättigt opak-gelbliche Farbe, nur wenige in
der Nähe des Fundus gelegene Partien von geringem Umfange lassen die von
Decidua-Resten gereinigte Schleimhaut zu Tage treten; sie setzen sich durch ihre
Hyperämie und ihre Hämorrhagien scharf von der Umgebung ab.
Verletzungen der Scheide sind nicht vorhanden.
Fall 7. In dieser Beobachtung (Fig. 3 der Tafel), in welcher es dem behan¬
delnden Arzt nach langem Zureden gelungen war, von der Patientin das Geständ¬
nis zu erhalten, sie hätte sich etwa 19 Tage vor dem Abort Einspritzungen be¬
hufs dessen Provocation machen lassen, hatte die Spitze des Instruments in dem
vordem Scheidengewölbo Widerstand gefunden und war, dasselbe in schräg nach
links gerichteter Bewegung durchbohrend, bis in das Parametrium vorgedrungen.
Sie hat auf diesem Wege die peripherischen Theiie des Halses getroffen. Etwa
in der Mitte der rechten Seitenwand des Stichcanals findet sich ein, ebenso wie
dieser selbst, für den kleinen Finger passirbares Loch, welches in einen gleich¬
falls von höchst unebenen Wänden begrenzten Ganal von etwa 2'/ 3 Gtm. Länge
führt. Der letztere liegt in der vorderen Gervixwand und verläuft von links oben,
sich allmälig zuspilzend, nach rechts unten. Die Schleimhaut des Gebärmutter¬
halses wird von diesen Läsionen nicht erreicht, und scheint anch, nach der
zwischen den sogenannten Einspritzungen und dem Abort gelegenen, ausser¬
ordentlich langen Zeit zu schliessen, überhaupt nicht mit dem Instrument in
Berührung gekommen zu sein. Die Schwellung der vorderen Muttermundslippe
ist, wie die Zeichnung vergegenwärtigt, eine erhebliche. Ebenso sind die Dimen¬
sionen der übrigen Uterustheile (Grösse des ganzen Organs 14, 7%, 3 V 4 Ctm.)
gegen die Norm recht bedeutend vergrössert; der Umfang der Gebärmutter, die
Dicke ihrer Wand, die Entwicklung der Placentarstelle spricht in Anbetracht des
Momentes, dass der Tod 2 Tage nach Ausstossung der Frucht eingetreten, für
eine Dauer der Schwangerschaft von ungefähr 4 Monaten. Die höchst unebene
Beschaffenheit der Körper-Innenfläche wird durch zum grossen Theil noch fest
anhaftende Eihaut-Reste bedingt.
Fall 8. Noch ferner ihrem Ziel, dem Ei, ist die Operateurin in dem näch¬
sten Falle geblieben. In diesem sind Verletzungen der Gebärmutter überhaupt
nicht vorhanden; die Scheide allein ist betroffen, und zwar an 3 Stellen. Etwa
ViertelJahrMohr. f. ger. Med. N. F. XL1V. 1. ic
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4 Ctm. oberhalb des Introitus vaginae findet sich in der hinteren Wand eine
rundliche Durchbohrung der Schleimhaut, welche die nämlichen Dimensionen
darbietet wie die obere der hier wiedergegebenen Verletzungen. Dieselben haben
ihren Sitz in der rechten Hälfte des Scheidengewölbes, die höher gelegene ist längs¬
oval, ihr grösster Durchmesser, welcher etwa 1 1 / 4 Ctm. beträgt, liegt quer; die
untere und grössere hat eine unregelmässige Kreuzform, ihr Hauptdurchmesser,
gegen 2'/ 2 Ctm. lang, verläuft der Längsaxe der Scheide parallel. Die etwas un¬
regelmässigen Ränder allerWunden sind necrotisch, trübe-grünlich. Die im Forniz
sitzenden Läsionen dringen bis in das rechte Parametrium vor und haben den
Ausgang gebildet für eine umfangreiche, jauchige Phlegmone desselben.
Die Gebärmutter bot ähnliche Verhältnisse dar wie in dem zuletzt herum¬
gegebenen Bilde; ich habe sie in Folge dessen nicht zeichnen lassen. Der Tod
war ebenfalls 2 Tage nach dem Abort erfolgt, die Entwickelung des Fötus ent¬
sprach dem 5. Monat. Leider war es nicht möglich gewesen, von der Patientin
den Termin der Abtreibungsversuche zu erfahren; bei ihrer 5 Tage vor der Aus-
stossung der Frucht erfolgten Aufnahme in die Charite blutete sie stark aus den
Geschlechtstheilen und gab nur an. dass die Häraorrhagie seit mehreren Tagen
schon andauere.
Fall 9. Mit einer, man könnte fast sagen, anerkennenswerthen Sorgsamkeit
ist, nach den Erzeugnissen der Eingriffe zu schliessen, verfahren worden in der
letzten Beobachtung, die ich Ihnen vorlegen kann. Nicht nur der Gebärmutter¬
hals und die anstossenden Theile des Körpers sind, wie in einigen der erwähnten
Beobachtungen, energisch angegriffen worden, bis in den Fundus uteri erstrecken
sich die Zerreissungen. Sie sehen, meine Herren, an den nämlichen Stellen, an
welchen in der Figur 2 die von früheren, ohne Kunsthilfe verlaufenen Entbin¬
dungen heriührenden Narben ihren Sitz haben, an den Seitenflächen des Collum
und deren Nachbarschaft, je eine ziemlich senkrecht aufsteigende Verletzung von
gegen 1 Ctm. Breite, deren Oberfläche durchweg aneben und fetzig, trotzdem nur
die Schleimhaut betroffen ist. Etwa in der Mitte des inneren Muttermundes geht
jede dieser rinnen förmigen Läsionen in eine, bis in die mittleren Schichten der
Muskulatur reichende Grube von annähernd halbkugeliger Gestalt und etwa
1,5 Ctm. Durchmesser an ihrem Eingänge über. Von diesen Gruben nahmen
5 halbcanalförmige Zerreissungen der Körper-Schleimhaut, welche ebenso, wie die
des Halses, eine fast durchweg verticale Richtung innehalten, ihren Anfang. Zwei,
ihnen im übrigen vollkommen gleiche, setzen in dem zwischen den Gruben ge¬
legenen Theile der hinteren Uteruswand ein, sie beginnen also etwas näher dem
äusseren Muttermunde, hören aber auch etwas tiefer, als die Mehrzahl der anderen,
auf, da sie nicht wie diese bis an den Fundus heranreichen. Sie finden ihr Ende
an dem unteren Rande der Placentarstelle, welche in dem oberen Drittheil der
hinteren Wand sitzt. Die Breite aller dieser Läsionen schwankt zwischen 2 bis
7 Mm. Damit Sie sich ein richtiges Bild von dem ursprünglichen Umfang
dieser Verletzungen zu machen im Stande sind, muss ich noch anführen, dass
der Tod erst 11 —12 Tage nach dem Abort eingetreten ist, dass also genügende
Zeit vorhanden gewesen ist, um eine erhebliche Involution des ganzen Organs
einlreten zu lassen; dass eine solche in der That hier schon Platz gegriffen, da¬
für spricht unzweideutig neben Anderem der geringe Umfang der Placentarstelle
und die Anamnese, welche die Dauer der Schwangerschaft auf 4 Monate fixirt.
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Zweiter Sitzungstag. 26. September 1885.
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Der abnorme Umfang der unteren Cervixhälfte ist auf die hierselbst eingetretene
frische Entzündung zu beziehen.
Was den rundlichen, unebenen Substanzverlust von etwa 4 Ctm. Durch¬
messer in dem linken oberen Quadranten der Scheiden-Schleimhaut anbetrifft, so
ist derselbe wohl secundärer Natur, erzeugt durch Abstossung diphtherischer
Partien. Auch die ganzen Oberflächen der Verletzungen sind necrotisch, während
die mit intacter Schleimhaut versehenen Partien des Uterus zum Theil wenigstens
nur stark zellig und hämorrhagisch infiltrirt erscheinen.
Ich bin noch in der Lage, über zwei fernere Fälle berichten zu können, von
denen der eine mit ausschliesslicher Verletzung des oberen Quadranten der vorderen
Körperwand, der andere mit einer Cervixzerreissung einhergegangen, welche von
den demonstrirten erheblich sich unterscheidet.
Fall 10. Die ersterwähnte Abtreibung hatte eine zum 7. Male Geschwän¬
gerte in dem 4. Monate der Gravidität an sich ausführen lassen. Dieselbe war
erschöpft und stark blutend von dem Besuch ihrer Helfershelferin nach Hause
zurückgekehrt. 3 Stunden darauf constatirte ein Arzt Wehen, Fortbestehen
einer recht copiösen Metrorrhagie, Singultus, Erbrechen, Diarrhoe, peritonitische
Schmerzen und Fieber. Der Puls war fadenförmig, frequent. 8 Stunden nach
dem Eingriff erfolgte die Ausstossung der Frncht, das ausfliessende Blut roch
übel, die Temperatur war auf 40 gestiegen, die Zahl der Pulse betrug 120.
Die Nachgeburt folgte erst nach 15 Stunden. Der Tod trat 35 Stunden nach
den leider nicht näher bekannt gewordenen Manipulationen, 27 Stunden nach
dem Abort ein.
Es fand sich ein jauchigesOedem derParamotrien und derOvarien, 500Ccm.
Jauche in dem Peritonealsack und eine gleich beschaffene Flüssigkeit in dem
ausserordentlich schlaffen, ödematösen und grossen (19, 12, 6 Ctm.) Uterus. In
der Höhe des Ursprunges des Ligamentum 'rotundum dextrum zeigten sich drei
verdünnte Partien der vorderen Wand von etwa 50 Pf. bis 1 Markstück-Grösse,
von denen eine 3, eben noch nachweisbare Canäle erkennen Hess, die mit dem
Innern des Bauchfellsackes communicirten. Die Begrenzung der Läsionen an der
Innenfläche war eine undeutliche, an der peritonealen Seite des Organs hoben
sich die Heerde durch ihre auf Blutungen zu beziehende Grünfärbung scharf von
der blassen Umgebung ab.
Fall 11. Der letzte Fall endlich, dessen Kenntniss ich der Güte des Herrn
Geh. Rath Wolff und meines schon verstorbenen Freundes Paul Sachse ver¬
danke, betrifft eine Ersigeschwängerte, deren Tod etwa 3 Tage nach dem Abort,
deren Abort circa 24 Stunden nach den von unermittelter Hand ausgeführten
Manipulationen eingetreten war. Es fand sich eine 1 l / 2 Ctm. lange Zerreissung,
welche die vordere Lippe etwa 1 Ctm. über dem Os externum in querer Richtung
durchsetzte. Man konnte also den Finger von dem Cervicalcanal durch jene
Perforation in das Scheidegenwölbe führen. Auch in dieser Beobachtung hatte die
bei den Abtreibungsversuchen erfolgte Infection schon vor der Geburt der frisch-
todten, 15 Ctm. langen Frucht bedeutende locale und allgemeine Erscheinungen
hervorgerufen. Die Eihäute und die Placenta waren bei ihrer Ausstossung bereits
in Fäulniss begriffen; die Eihäute waren nicht zerrissen, ein Moment, das in
Hinblick auf die bekannte Gallard’sche Behauptung von einigem Interesse ist.
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Nichtsdestoweniger war der Muttermund und der Hals, abgesehen von jener
Durchbohrung, unverletzt Es sei mir erlaubt, hier auf die von Tardieu an¬
geführte Zerreissung des ganzen Halses und der oberen Vaginalpartie zu verweisen,
welche Danjau bei eine spontanen Abort im V. Monat beobachtete, und deren
Entstehung nach Dubois’ Meinung nur erklärlich sei durch die Ausstossung
des Eies en bloc, also eines ebenso grossen oder noch grösseren Körpers, als der
Kopf eines ausgetragenen Kindes. Für uns sehr bemerkenswert!! ist auch noch
eine Beobachtung Mekertschianz’ aus dem Jahre 1881. Derselbe constatirte
bei einem unzweifelhaft spontanen Abort im IV. Monat der Schwangerschaft einen
Centralriss der hinteren Wand der Portio. bedingt durch Rigidität des äusseren
Muttermundes.
Wir haben also, um noch ein Mal die Zahl und den Sitz der Zerreissungen
zu überblicken, in den vorgeführten 11 Fällen:
8 Vaginalverletzungen,
20 Verletzungen des Halses oder dieses und des benachbarten
Körperabschnittes,
10 Verletzungen der übrigen Körperabschnitte,
mithin im Ganzen 38 Läsionen. Von diesen fanden sich je 4 in der Vorder- und
in der Hinterwand der Scheide, 7 in deren oberen, 1 in deren unteren Hälfte.
Die vordere Wand des Halses war 2. die hintere 12 Mal getroffen; die Ver¬
letzungen an der Vereinigung des Halses und des Körpers sassen durchweg in
der hinteren Hälfie des Organs, und die Verwundungen der oberen Körpertheile
nahmen nur in einem Falle die gegen die Blase sehende Wand ein.
Gestatten Sie mir, m. H., bevor ich auf die Erledigung einiger Fragen ein¬
gehe, zu welchen die berichteten Beobachtungen anregen, dass ich in möglich¬
ster Kürze die analogen, in der Literatur der letzten 20 Jahre von mir aufge¬
fundenen Fälle — es sind nur 28 — zur Vergleichung heranziehe. 7 Male han¬
delt es sich um Vaginalverletzungen, 9 Male um solche des Halses oder dieses
und des benachbarten Körperabschnittes, in 12 Beobachtungen war der übrige
Theil des Uteruskörpers getroffen.
Die Läsionen der Scheide bieten unter sich und mit den von mir gesehenen
die grössten Verschiedenheiten. Gallard 1 ) fand bei 3 Sectionen von Frauen, die
in Folge von Fruchtabtreibung gestorben waren, Blutungen in der Schleimhaut
des Scheidengewölbes und der Portio; in einem vierten verdächtigen Falle, in wel¬
chem ein Arzt die Scheide tamponirt hatte, um die schliesslich tödtlich gewor¬
dene Blutung zu stillen, liess es Gallard unentschieden, ob dieser therapeuti¬
sche Eingriff oder etwaige criminelle Manipulationen die Ursache gleicher Quet¬
schungen gewesen seien. Tardieu 2 ) sah drei kleine Stichverletzungen in dem
vorderen Scheidengewölbe, von denen jedoch nur 1 die Schleimhaut vollständig
durchsetzt. Eine Perforation des hinteren Scheidengewölbes führt Gaillard 3 ) an;
*) T. Gallard, De l’avortement au point de vue mödico-legal. 1878. p. 63.
*) A. Tardieu, Etüde medico-l6gale sur l’avortement 1S81. IV. Ed. Fall 50.
*) Gaillard, Amer. Journ. N. F. CXXX. p. 406. 1873. Nach Referat in
Schmidt’s Jahrbüchern 1874. Bd. 162. S 40 u. 41.
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Zweiter Sitzungstag. 26. September 1885.
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diese war von der Denata eigenhändig erzeugt worden, indem sie einen 17 */ a Zoll
langen Draht so tief eingefiihrt hatte, dass die Spitze ihren Fingern entschlüpfte.
Wahrscheinlich durch Accoucbement force entstanden — also wol nicht
mit Recht hierher zu zählen — ist der von Harris 1 ) beschriebene Riss in
der hinteren Wand der Scheide einer Frau, welche im VI. Monat der Gravidität
nach Anwendung innerer Mittel abortirte. Die Trennung begann 4 Ctm. ober¬
halb des Introitus und reichte bis in’s Scheidengewölbe, wo sie in einem
4—5 Ctm. weiten Loche endet, welches frei mit der Peritonealhöhle commu-
nicirte. Morband und Salzat 2 ) fanden eine Ruptur der linken Vaginalwand
und des entsprechenden Theiles des Halses, zusammen von 10 Ctm. Länge.
Auch hier war der Bauchfellsack eröffnet; die Gravidität war bis zum VII. Monat
gediehen. In einem Devergie’schen Falle 3 ), dessenAetiologie übrigens, wie die der
vorigen Beobachtung, dunkel und unklar ist. war die hintere Scheidenwand zer¬
rissen, der invertirte Uterus und Darmschlingen prolabirt.
Gallard 4 ) sah bei einer durch Verblutung nach Abort im III.—IV.Monat Ver¬
storbenen eine Trennung in dem unteren Theile der Vulva und der hinteren Vaginal¬
wand von unbedeutenden Dimensionen. Es kam zur Sprache, ob nicht ein junger
Arzt, der Denata nach Beginn der Hämorrhagie untersucht hatte, diese Verletzun¬
gen erzeugt haben könnte. Gallard stellt diesen Entstehungsmodus energischer
in Abrede, als der behandelnde Arzt selbst. Mir ist ein Fall bekannt, in welchem
in einem Touchircurs für Studenten ein Dammriss acquirirt worden ist.
Ich möchte noch kurz einer anderen Schlussfolgerung Gallard’s 5 ) Er¬
wähnung thun. Ein Mädchen behauptete, 7 Jahre vor der Untersuchung im III.
Monat abortirt zu haben, inzwischen war sie nicht niedergekommen. Gallard
fand in den hinteren Partien ihrer Vulva eine kleine weisse Längsnarbe und
schloss hieraus, dass die Person nicht in einer so frühen Zeit abortirt haben
könne, da dergleichen Einrisse nur bei der Geburt eines reifen oder der Reife
nahen Kindes vorkämen. Ich habe einen Fall gesehen — es ist die von Liman 6 )
in dem Casper’schen Handbuche publicirte Verletzung des Gebärmutter¬
körpers — in welchem ein 1 Ctm. langer Dammriss nach Abort im IV.—V.
Monat bestand. Eine Hebamme war behufs Entfernung von Placentarresten aus
dem Uterus mit der ganzen Hand eingegangen.
In 9 von jenen 29 Fällen war der Cervix, oder dieser und der anstossende
Körpertheil verletzt worden. Ein Mal 7 ) durchsetzte ein enger Stichkanal das Ge¬
webe der vorderen Cervixwand in einer Ausdehnung von mehreren Centimetern,
bevor er, sich nach innen wendend, die Schleimhaut perforirte; in den übrigen
Fällen war die Läsion durch Einwirkung von der Innenfläche des Canals erzeugt.
*) Harris, Boston uied. and surg. Journ. 1881. p. 346 Nach Referat in
Virchow-Hirsch’s Jahresbericht (E. Hofmann) 1881. Theil I. S. 534.
*) Von Tardieu 1. c. als Fall 51 citirt.
*) Devergie, Annales d’hygiene publ. etc. 1838. S. 425, und citirt von
Tardieu 1. c.
*) Gallard 1. c. Appcndice. S. 118.
*) Gallard, Annales d’hyg. publ. 1879. Bd. I. S. 371.
*) Handbuch der ger. Med. VII. Aufl. Bd. I. S. 267. Fall 117.
7 ) Tardieu 1. c. Fall 42.
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7 Male 1 ) war die hintere Wand. 1 Mal die vordere. 4 Male die seitlichen
Partien and deren Nachbarschaft verwundet worden; in einer Beobachtung 2 )
mit 2 Verletzungen an der unteren Körpergrenze ist deren Silz aus der Beschrei¬
bung nicht zu ersehen. Im Ganzen wurden in den erwähnten 9 Fällen 15 durch
die Manipulationen erzeugte Gontinuitätstrennungen und 1 Quetschung ge¬
funden. Die Zerreissungen hatten zum Theil die Form von Halbkanälen, von
Furchen, zum Theil waren sie grubenförmig. Die Quetschung documentirte sich
als eine 0,5 Ctm. im Umfange messende Blutung in der Mitte der hinteren
Lippe; der Fall, in welchem sie aDgetroffen worden, hat dadurch noch ein be¬
sonderes Interesse, dass die tödtliche Peritonitis nicht, wie in den übrigen Beob¬
achtungen, in welchen sie gefunden, durch die bei den Manipulationen einge¬
führten Infectionsstoffe hervorgerufen wurde, sondern dass sie bedingt erschien
durch den Uebertritt von Eiter aus der rechten Tuba. Die uterine Mündung der¬
selben war beträchtlich erweitert und da das Rohr der Spritze den Rückfluss der
injicirten Massen aus dem Uterus in die Scheide verhinderte, erfolgte ein Ueber¬
tritt in die Tube und eine Verdrängung der eiterigen Inhaltsmasseu dieser in
den Peritonealsack. 3 )
Das gleiche, übrigens sehr seltene Ereigniss war auch in einem von mir
secirten Falle eingetreten, in welchem es sich aber nicht um eine Schwangere
und um Abtreibungsversuche, sondern um eine Puerpera und von ärztlicher Seite
angeordnete Carbolsäure-Ausspülungen des Uterus handelte.
In den anderen Partien der unteren Hälfte des Gebärmutterkörpers fanden
— und zwar stets in der hintern Wand — Raynard 4 ), Maschka 5 ), Säxin-
ger 6 ) Perforationen, von denen die Mehrzahl (5 in 2 Fällen) linsengross waren,
während einmal die Maasse als 3 und 2 Ctm. betragend angegeben sind. In
der von Lim an 7 ) veröffentlichten Beobachtung handelt es sich um eine mit nicht
penetrirenden Stichwunden versehene Quetschung, welche etwa 4 */ 2 Ctm. im
Durchmesser besass; auch sie war in der hintern Körperwand gelegen. Eine
ähnlich veränderte Partie von bedeutend geringeren Dimensionen wies die rechte
Seitenwand des Uterus und deren Nachbarschaft auf; diese Zerreissungen hielten
sich innerhalb der Mucosa.
In 6 Fällen, welche mit unzweifelhaftem Recht hier angezogen werden
können, hatten die Verletzungen ihren Sitz in der obern Hälfte oder in dem
Grunde der Gebärmutter. In 2 8 ) von diesen handelte es sich um erbsengrosse
*) Tardieu 1. c. Fall 38. — v. Langsdorf, Centralblatt für Gynäkologie,
1883. No. 46. S. 734. — Maschka, Diese Vierteljahrsschrift Bd. 42. S. 38. —
Foster Bush, Boston raed. and surg. Journ. August 1882. Nach Referat in
Virchow-Hirsch’s Jahresbericht (E. Hofmann) für 1882. Theil I. S. 510. —
E. Uofmann, Lehrbuch der ger. Med. III. Aufl. S. 257.
*) Tardieu 1. c. Fall 39.
*) Sentex, Annales d’hyg. publ. etc. 1882. II. Theil, S. 488.
4 ) Tardieu 1. c. Fall 40.
s ) Maschka 1. c. Fall 2. S. 32.
*) Säxinger, Maschka’s Handbuch der ger. Med 18*2. Bd. III S. 283.
7 ) 1. c.
*) Maschka 1. c. Fall 3 u. 4.
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Zweiter Sit/.ungstag. 2(i. September 1885.
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Perforationen, in einem 3. •) war eine Durchbohrung von 3 und eine andere von
5 Ctm. Längenausdehnung vorhanden. Maschka 2 ) fand einmal die Zerreissung
der innern Schichten 2 Ctm. lang, die der äussern 4 Ctm. lang und 2 Ctm. breit.
De vergie 3 ) beschreibt eine Ocffnung imGrunde desüterus von 4—5Ctm.Länge
— ausserdem fand sich in demselben Falle noch eine Zerreissung des Halses —
und Tardieu 4 ) bezeichnet die Grösse einer ebensolchen, von ihm gesehenen als
gleich einem Fiinffrankenstiick.
Ich bin ferner der Meinung, dass auch die von Coutagne 3 ) citirten Publi-
calionen von Fredet und Tourdes ohne Zwang hier eingereiht werden dürfen;
der letztere sah ein ebenfalls fünffrankenstückgrosses Loch, der erstere eine Rup¬
tur von 2 l /a Durchmesser im Fundus. Coutagne’s eigene Beobachtung
als sicheren Fall einer durch criminelle Manipulationen erzeugten Gebärmutter-
zerreissung anzusehen, vermag ich nicht, so gravirend und verdachterregend
auch die äussern Umstände der Erkrankung und des Todes der Denata sind.
Ein 21 jähriges Mädchen, welches die Frucht sich abtreiben zu lassen ent¬
schlossen war und mit einer Hebamme sich auf einen Preis von 95 Francs ge¬
einigt hatte, wurde 1 Stunde nach ihrem Eintritt in die Wohnung dieser schwer
krank gesehen; sie starb etwa 2 Tage später, nachdem die Hebamme erst we¬
nige Stunden vor dem Exitus einen Arzt gerufen hatte. Demselben wie dem Ge¬
richt sagte die Frau, dass Patientin resp. Denata kurz nach dem Betreten ihrer
Wohnung collabirt sei und aus der Scheide Blut verloren habe. Die 6 Tage
nach dem Tode von Coutagne ausgeführte Section ergab eine Querruptur von
10 V* Ctm Länge in dem Fundus; dieselbe reichte von einer Tube bis zur an¬
dern. Der 15 Ctm. lange Fötus nebst Placenta fand sich innerhalb des Bauch¬
fellsackes. Die Ausdehnung der Zerreissung Hess Coutagne selbst die Hypo¬
these aufstellen, dass eine kleine, durch die Eingriffe der Hebamme erzeugte
Verletzung des Fundus sich in Folge der eingetretenen Uteruscontractionen all-
malig bis zu jener Grösse ausgedehnt habe, eine Hypothese, für welche er auf
eine Erfahrung Spencer Wells recurrirt. Spencer Wells sah nämlich nach
Einführung des Fingers in eine aus Versehen angelegte Punctionsöffnung des
Uterus die Wand desselben in grosser Ausdehnung auseinanderweichen und eine
10 Ctm. lange Ruptur sich entwickeln. — Die von Coutagne beobachtete
Läsion gleicht in ihrem anatomischen Verhalten so sehr einigen der seltenen
Beobachtungen, betreffend Spontanrupturen der schwängern Gebärmutter oder
Berstungen derselben nach Einwirkung äusserer Gewalt auf die Bauchdecken,
dass ich ausser Stande bin, auf Grund der vorhandenen Daten die Möglichkeit
auszuscbliessen, es habe sich um eine Trennung gehandelt, welche unabhängig
von den supponirten, durch nichts bewiesenen Manipulationen der Hebamme
entstanden sei.
') Kemperdick, Deutsche med. Wochenschrift 1881. No. 5.
*) Maschka, diese Viertelj. Bd. 41. S. 271. 1884.
*) Tardieu I. c. Fall 37.
4 ) Tardieu 1 c. Fall 45.
5 ) Coutagne, Des ruptures uterines pendant la grossesse etc. 1882. Fall 27
und 28.
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In 37 der Ihnen vorgefährten Fälle von sicher constatirter Frucbtabtrei-
bung hatte also
37 Mal der Hals oder dessen und die unmittelbar daranstossenden
Körperpartien,
26 - die übrigen Theile des Körpers,
12 - die Scheide
Continuitätstrennungen erfahren, in 3 Fällen waren Quetschungen des Scheiden¬
gewölbes, in 1 Falle eine solche der Cervixschleimhaut angetroffen worden.
Die sich wol zunächst aufdrängende Frage: ist der angestrebte Erfolg,
die Ausstossung der Frucht, früher eingetreten in denjenigen Fällen, in welchen
post mortem nachweisbare Verletzungen in dem Körper der Gebärmutter er¬
zeugt sind, als in jenen, deren Läsionen den Cervix oder nur die Vagina betra¬
fen? diese Frage ist leider nicht mit wünschenswerther Sicherheit zu beant¬
worten. Denn in den vorliegenden Beobachtungen ist nur 11 Male die Zeit des
Aborts zu ersehen, und auch diese Angaben entbehren nicht ganz selten der
nöthigen Genauigkeit.
8 Stunden nach den Manipulationen wurde in dem vorletzten meiner Fälle
(mehrfache Contusionen und Stichverletzungen in dem vordem obern Quadranten
des Corpus) die Frucht ausgestossen; nach 12 —16 Stunden trat der nämliche
Erfolg in der Maschka’schen Beobachtung auf, in welcher eine Perforation
nicht fern vom Fundus existirte, nach 1 Tage in dem von Li man publicirten
Fall (Verletzung der hinteren Körperwand), nach 24—48 Stunden in dem zum
Bild 9 (Fig. 4 der Tafel) gehörigen, welcher durch die Extensität seiner Ver¬
letzung die erste Stelle unter den soeben erwähnten Fällen einnimmt.
In den Fällen, welche Cervix-Verletzungen aufwiesen, geschah der Abort
etwa 1 —19 Tage nach dem Eingriff. In der fünften (Fig. 1 der Tafel) der von
mir demonstrirten Abtreibungen erfolgte die Fehlgeburt nach 27 Stunden, wäh¬
rend in jener, deren nicht minder schwere Verletzungen in Figur 6 (Fig. 2 der
Tafel) wiedergegeben sind, der Abort erst nach 4 Tagen eintrat. Ein noch
grösseres Missverhältniss zwischen der Ausdehnung der Verletzungen und dem
Zeitpunkt der Fruchtausstossung besteht zwischen der letzterwähnten Beobachtung
und dem zweiten meiner Fälle; in diesem abortirte die Person nach 2mal 24
Stunden. Ein grösserer Zwischenraum scheint auch in der ersten der E. Hofm an n -
sehen Beobachtungen zwischen Eingriff und Abort gelegen zu haben, trotzdem
die In- und Extensität seiner Verletzungen die meines zweiten Falles bedeutend
übortraf. Eine sehr auffallende Differenz besteht zwischen diesen und der letzten
hier anzuführenden Beobachtung, derjenigen, welche das Bild 7 (Fig. 3 der
Tafel) geliefert hat. Hier lagen etwa 19 Tage zwischen den Manipulationen und
dem Eintritt des gewünschten Erfolges. Augenscheinlich sind hier die Uterus-
Contractionen erst durch jene schwere Infection ausgelöst worden, deren Aus¬
gangspunkt jene Stichverletzungen gewesen sind. Die Frau, eine zum 7. Male
Geschwängerte, war unter Bauchschmerzen bald nach der Einspritzung erkrankt;
etwa 6 Tage darauf constatirte ein Arzt eine phlegmonöse Infiltration der äusse¬
ren Geschlechtstheile und der unteren Abschnitte der vordem Bauchwand mit
Peritonitis, und erst, nachdem ein jauchiger Abscess über dem Schambein —
natürlich unter stetiger Zunahme der Allgemeinerscheinungen — sich entwickelt
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ZweiterSitzungstag. 26. September 1885.
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hatte, erfolgte die Ausstossung der Frucht. Auch bei mehreren der andern Fälle
batte, wie zum Theil schon oben bemerkt worden, die septische Infection bereits
vor der Entbindung bedeutende Störungen erzeugt; wie weit die letzteren miter¬
regend auf den Uterus gewirkt haben, entzieht sich natürlich der Abschätzung.
In meinem Falle mit den 3 Scheidenverletzungen ist der Abort nicht vor dem
5. Tage nach Acquisition derselben, in dem analogen von Tardieu, dessen Lä¬
sionen viel unbedeutender waren, nach 2 Tagen eingetreten.
Das vorhandene Material legt es also nahe, dass weder der Sitz, noch,
wie aus dem Angeführten zugleich hervorgeht, die Ausdehnung der am Sections-
tische nachweisbaren Verwundungen ausschlaggebende Factoren für die Schnellig¬
keit der Auslösung, für die Energie und die Häufigkeit der Gebärmutter-Con-
tractionen sind.
Eine Bestätigung findet dieser Satz, wenn wir durch ähnliche instrumen¬
teile Eingriffe provocirte Fehlgeburten zur Vergleichung heranziehen, welche ohne
post mortem erkennbare Läsionen verlaufen sind. Ich will mich hier nur auf
eigene Erfahrungen beschränken, zumal die Literatur noch weniger zahlreiche
Beobachtungen dieser Art enthält als solche, die mit augenfälligen Verletzungon
verbunden gewesen sind.
So kenne ich einen Fall, in welchem nach 18, drei, in welchen nach etwa
24 Stunden, je zwei, in denen nach 2 und 3, einen, in welchem nach 10 Tagen
der Abort eintrat.
Jener paradox erscheinende Satz verliert seine Absonderlichkeit, wenn wir
erwägen, dass die Eingriffe, deren Spuren die in der Leiche entdeckten Ver¬
letzungen sind, ja durchaus nicht die Gesammtheit dev Einwirkungen zu reprä-
sentiren brauchen und auch thatsächlich oft genug nicht repräsentiren. welche
gegen die Gebärmutter und ihren Inhalt gerichtet gewesen sind. Eine mehr oder
minder grosse Ablösung der Eihäute oder dieser und der Placenta, eine Durch¬
bohrung der ersteren sind an der Leiche der Mutter ja schon nach dem Eintreten
des Aborts nicht mehr nachzuweisen.
Aber auch die Länge der Krankheit wird durch die Gegenwart oder das
Fehlen von Verletzungen und dementsprechend weder durch ihre Grösse noch
durch ihre Geringfügigkeit in erkennbarer Weise beeinflusst. In 18 eigenen Be¬
obachtungen, in welchen ich die nöthigen Notizen besitze, finden sich 9 ohne,
9 mit demonstrablen Verletzungen. Die ersten beiden Fälle der Zusammenstel¬
lung endeten 25 resp. 35 Stunden nach Vornahme der verbrecherischen Eingriffe
— es sind dies jene hier in Berlin vorgekommenen Stichverletzungen in den
oberen zwei Dritttheilen des Körpers—. den 3.—5. Platz (Tod nach 36—49 St.)
nehmen Beobachtungen ohne nachweisbare Verletzungen ein. Nach 4, 7, 9, 12,
13, 19, 22 Tagen und endlich nach Verlauf von mehr als 1 Monat starben die
Personen, deren Läsionen ich gezeigt habe, während in je einem Falle ohne er¬
kennbare Verletzungen der Tod nach 6 und 9, in 2 andern nach 12, in je einem
Falle nach 13, 27, 31 Tagen eintrat.
Ich kann diese Fälle wohl mit einander vergleichen, weil die Todesursache
in allen die nämliche war, sämmtlicbe starben an Puerperalfieber. Die Sectionen
boten alle Varietäten desselben dar; die Aufzählung der Befunde kann ich wohl
übergehen.
In allen Fällen war gegen die Annahme nichts vorzubringen, dass die In-
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fection mit den zur Einleitung des Aborts ausgeführten Eingriffen zugleich
statigefunden habe. In einer Beobachtung allein, welche ich deshalb bisher
nicht berücksichtigt habe, sind mir in Bezug anf diesen Punkt Zweifel aufge¬
stiegen, Zweifel, die ich leider nicht im Stande bin zu lösen. Eine 32jährige
Frau halte zugestanden, dass eine Hebamme ihr behufs Fruchtabtreibung eine
Stricknadel in die Geschlechtstheile eingeführt habe. 2 Tage darauf tamponirte
eine andere Hebamme der Blutung wegen mit Salicylwatte, weitere 24 Stunden
später erfolgte der Abort, das Ei ging uno actu ab. Am folgenden Tage ent-
liess die Hebamme die Wöchnerin aus ihrer Behandlung, nachdem sie eine Irriga¬
tion der Geschlechtstheile vorgenommen hatte. Die Puerpera schien ganz gesund
zu sein. 3—4 Tage darauf wurde Fieber bei derselben bemerkt, nach ferneren
4 Tagen war ausgesprochene Sepsis vorhanden, die im Verlauf von weiteren
24 Stunden den Tod berbeiführte. Handelte es sich in diesem Falle um eine
Späterkrankung oder führten die Manipulationen der 2. Hebamme die tödtliche
Infeclion herbei?-
VII. Hr. Mittenzweig berichtet über das Ergebniss der Kassen-Prüfung;
sie hat zu Ausstellungen keine Veranlassung gegeben und es spricht die Ver¬
sammlung dem Vorstande Entlastung aus. —
VIII. Auf Antrag des Herrn Werner (Sangerhausen) werden durch Zuruf
die Herren Kanzow, Rapmund, Falk, Schulz, Wolffhügel für das
kommende Geschäfts-Jahr zu Vorstands-Mitgliedern wiedergewählt.
Herr Kanzow nimmt im Namen der sämmtlichen fünf Herren die Wieder¬
wahl dankend an. —
IX. Hr. Wal lieh s: Die Stellung des preussischen Kreis-Phy-
si kus.
Meine Herren! Es sind fast 40 Jahre vergangen, seit ich angefangen habe,
mich mit Medicin zu beschäftigen, und ebenso lange habe ich die Losung „Me¬
dici nalreform“ gehört. Oftmals habe ich später darin mitgesprochen und mitge-
rathen. und endlich die Hoffnung, in unserm Preussen noch ernstliche Förderung
zu erleben, fast fahren lassen, bis nun vor Kurzem durch den von dem Herrn
Minister den Regierungen vorgelegten Entwurf dieselbe neu belebt wurde. Es
erscheint mir nun unzulässig und zu Missdeutungen Anlass bietend, wenn die
Medicinalbeamten, die sich hier zu ihrer dritten Hauptversammlung vereinigt
haben, über diese für sie so wichtige Angelegenheit Stillschweigen beobachten,
während sie doch schon über die Stellung der Kreiswundärzte, die in meiner
Heimathprovinz eine unbekannte und nicht entbehrte Einrichtung sind, einge¬
hend verhandelt haben. Näher liegt den Kreisphysikern doch die eigone Stellung,
und, diese einmal scharf ins Auge zu fassen, scheint mir Zeit und Gelegenheit
gleich dringend. Wenn auch über die Nothwendigkeit einer Aenderung derselben
alle Factoren einig sind, so wird für die bevorstehende Verhandlung der Sache
im Landtage der Nachweis, dass die Thätigkeit des Kreismedicinal-Beamten schon
jetzt eine solche ist, die ihn vollständig in Anspruch nimmt, keineswegs als über¬
flüssig zu betrachten sein. Ich kann os dabei nicht vermeiden, mehr als mir
lieb ist, von mir selber zu sprechen, weil ich die Beläge für meine Behauptun-
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Zweiter Sitzungstag. 26. September 1885.
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gen ans der eigenen Erfahrung, der 14jälnigen Amtsführung in einer grossen
Stadt nehmen muss, und ich bitte deshalb um Nachsicht. Ich muss ferner voraus¬
schicken, dass die Arbeit, um die es sich handelt, keineswegs überall die gleiche
ist. Abgesehen von dem Unterschied, den Stadt und Land bedingen, bieten sich
sowohl durch die provinziellen Sonderheiten, die Art, in welcher die einzelnen
Regierungen diese Dinge auffassen und behandeln, als auch durch Temperament
und Eifer des Localmedicinal-Beamten gewiss grosse Verschiedenheiten dar. Es
kommt hinzu, dass die öffentlichen Verrichtungen, zu denen ärztliche Sachkunde
nöthig ist. sich nach gewissen Richtungen hin theilen und an vielen Orten von
verschiedenen Personen wahrgenommen werden, von dem Stadtarzt, dem Poli¬
zeiarzt. Stadt- oder communale Aerzte giebt es allerdings m. W. bisher in
Deutschland ausser in Frankfurt a. M. noch gar nicht; dagegen werden die be¬
züglichen Dienste der Gemeinden vielfach von nicht-beamteten (Polizeiärzten)
geleistet. Es ist nun schwer, ja kaum möglich, diese Functionen streng ausein¬
ander zu halten; im Grunde halte ich es für das Zweckmässigste, wenn die Lei¬
stung, mindestens die Leitung in einer Hand liegt, und, da dies in meinem
Wirkungskreise der Fall ist, werde ich meine Erörterung in diesem Sinne führen.
Auch über die Stellung des Gerichtsarztes, welche in Preussen mit der des
Gesundheitsbeamten verbunden ist, hätte ich gern Einiges vorgebracht, z. B.
betreffs der mangelhaften Taxe von 1872, des ungenügenden Schutzes, den er
geniesst. über die Frage, ob der Physikus zugleich Gerichtsarzt sein müsse
u. s. w., allein die Beschränkung auf das eigentliche Thema erschien aus äussern
Gründen nöthig.
Wenden wir uns also zu den Obliegenheiten des Physikus als Gesundheits¬
beamten. Für den werdenden Arzt giebt es auf der Hochschule so viel zu lernen,
dass auch demFleissigsten kaum Zeit übrig bleibt, mit den Gegenständen sich zu
beschäftigen, deren Kenntniss ihm für eine Beamtenstellung nöthig ist. Er lernt
also nach der Staatsprüfung, falls er sein Augenmerk auf solche Stellung richtet,
mit Eifer das dazu Erforderliche, besteht die strenge Physikatsprüfung nach so
und so viel Jahren, und wartet dann wieder — oft eine Reihe von Jahren —
auf die Anstellung, die ihm bis jetzt sehr bescheidene Vortheile bietet, aber an
seine Leistung, falls er allen Ansprüchen gerecht werden will, grosse Anforde¬
rungen stellt. Eine Instruction für die Geschäftsführung der Kreisphysiker giebt
es in Preussen nicht, wohl in andern Staaten, z. B. eine sehr sorgfältig aus¬
gearbeitete vom 10. Juli 1884 für die sächsischen Bezirksärzte —, die Kennt¬
niss der Gesetze und Verordnungen, die darauf Bezug haben, muss er mühsam
aus den Gesetz- und Amtsblättern, Rundschreiben der Regierungen u. s. w. zu¬
sammensuchen. Wenn auch die Eulenberg’sche Sammlung „Das Medicinal-
wesen in Preussen“ dankenswerthe Belehrung giebt, so ist sie doch lückenhaft,
und das Wichtigste findet sich in Provinzial-Verordnungen. Der Physikus der
Neuzeit soll nicht allein Kenntniss in gerichtsärztlichen Dingen und in der
grossen Menge des für die öffentliche Gesundheitspflege erforschten Materials be
sitzen, sondern auch die hygienischen Untersuchungs-Methoden bis zu einem ge¬
wissen Grade beherrschen. Welche Aufgabe eröffnet sich hiermit für ihn! welche
Opfer an Arbeit, Zeit und — Geld! So dankbar wir der Aufforderung gefolgt sind,
unter Herrn Kooh’s Leitung einen Einblick in die bacteriologischen Forschungs-
methoden zu gewinnen, es knüpft sich daran als Folge eino (mindestens mora-
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lische) Verpflichtung, auf diesem Gebiete stetig in einiger Uebung zu bleiben.
Nur um hier die dazu nöthigen Einrichtungen zu schaffen, habe ich mehr Geld
verwandt, als mein ganzes staatliches Jahrgehalt beträgt!
Zu den wichtigsten Aufgaben gehört nun die sogen. Medicinal- und Gesund¬
heits-Polizei, in erster Linie die Sorge für die Salubrität des Kreises. Der Phy-
sikus theilt dieselbe entweder mit den Orts- (Polizei-) Behörden oder den sogen.
Sanitäts-Commissionen. Diese üben entweder eine ständige Thätigkeit aus oder
treten nur bei besondern Anlässen (Cholera, anderen Epidemieen) zusammen; —
stets ist er wohl Mitglied, und von dem Geiste, den er ihnen einflösst, wird
ihre Wirksamkeit meistens abhängen. Um nicht zu weitläuftig zu werden, will
ich die Gegenstände nur nennen, auf welche zu achten ist: gesunde Beschaffen¬
heit der Wohnungen, Reinhaltung der Höfe, Gänge, Strassen, Gassen, Ställe,
Dungstätten, Wasserläufe, auf Rauch und Dünste, belästigende Gewerbe (Pro-
ducten-Handlungen, Lager von Häuten, Schlächtereien. Gerbereien u. s. w.), Be¬
schaffenheit der Nahrungsmittel und Getränke (Wasser), Gebrauchs-Gegenstände.
Im Jahr 1883 ward von unserer Regierung eine sorgfältige Revision aller
Grundstücke nach gewissen sanitären Gesichtspunkten angeordnet, von mir ein
Frage-Schema für den Kreis festgestellt; im Ganzen sind dann 4300 Grundstücke
besichtigt, von welchen 976 mit Mängeln behaftet gefunden wurden. Alle diese
letzteren mussten von mir gutachtlich beurtheilt und viele derselben vor der
Aeusserung auch besichtigt werden. Sämmtliche (352) Brunnen wurden einer
summarischen Prüfung unterworfen und die, welche Bedenken erregten, genauer
chemisch untersucht.
Wenn nun auroh diese allgemeine Fürsorge der Verbreitung ansteckender
Krankheiten entgegengewirkt werden soll, so wird beim Auftreten solcher ein wei¬
teres Eingreifen nöthig. Gegenüber einer Reihe von ihnen, wie Scharlach, Masern,
Diphtherie, Keuchhusten u. s. w. befinden wir uns in den grossen Städten mit
unsern Massregeln vielfach noch im Stadium der Erwägung oder des Versuchs,
gegen andere glauben wir, bereits wirksam handeln zu können. Dahin gehören
z. B. das Kindbettfieber, der Flecktyphus, die Pocken, die Cholera. Bei der
erstgenannten Krankheit ist es nöthig, die nähern Umstände jedes einzelnen
Falles zu erforschen, die Hebammen zu überwachen, — bei den andern sind
namentlich die Anfänge zu beachten, die ersten Fälle zu isoliren u. s. w. In
der Cholera-Epidemie des Jahres 1873, die allerdings mit ca. 130 Fällen hier
nur geringe Ausbreitung gewonnen, habe ich in jedem dieser Fälle an Ort und
Stelle Nachforschung nach etwaigen Ursachen angestollt, Schäden aufgesucht
und Abhülfe derselben erstrebt. — Kenntniss aller oder doch fast aller Vor¬
kommnisse wird uns durch die bei den zuletzt genannten Krankheiten vorge¬
schriebene sofortige Meldung durch die Aerzte (oder Haushaltungs-Vorstände), bei
den übrigen durch regelmässige wöchentliche Meldung der von den Aerzten be¬
handelten Infectionskranken, wie sie in unserer Provinz seit Jahren geschieht.
Die Beaufsichtigung einer Menge von Anstalten, die dem Kreisphysikus ob¬
liegen, als Kranken-, Siechen-, Armenhäuser, Apotheken, Droguen-Handlungen,
Bade-Anstalten, Gefängnisse, Kirchhöfe u. a. kann natürlich, so lange nicht be¬
stimmte Vorschriften angegeben sind über die Art und Weise, in welcher die
Aufsicht ausgeübt werden soll, ihn in grösserem oder geringerem Masse in An¬
spruch nehmen, je nachdem er seine Befugnisse auffasst. So liegt es allerdings
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Zweiter Sitzungstag. 26. September 1885.
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bisher bei vielen seiner Geschäfte. Die Aufsicht über die in fremder Pflege unter¬
gebrachten (Kost - oder Kalte-) Kinder war für mich eine sehr zeitraubende, so
lange nach Verfügung unserer Regierung jedes Kind wenigstens einmal im Jahr
besucht werden musste. Die Zahl der dadurch nöthigen Revisions Besuche war
etwa 600 im Jahr, und im Verein mit den über jeden Befund zu machenden
Notizen, den Verhandlungen mit der Polizeibehörde, den Aerzten, Aufsichtsdamen
und Pflegemüttern erwuchs daraus eine beträchtliche Arbeit. Man nahm aber
an den daraus dem Staate erwachsenden Kosten Anstoss (je 1 Mark 50 Pf. Fuhr-
vergütung), und so hörte diese an sich gewiss nützliche, ja nothwendige Gontrole
auf, und die Besuche beschränken sich jetzt auf einzelne besondere Fälle (etwa
40 bis 50 im Jahr). — Eine „Mitwirkung des Kreisphysikus bei der Aufsicht
über das Impfwesen“ steht im Grunde nur auf dem Papier (§ 1 des Impf-Regu-
lativs für die Provinz Schleswig-Holstein). Bei uns waren die Physici bis zum
Erlass des Impfgesetzes vom 8. April 1874 von Amtswegen Impfärzte. Dass
eine Abänderung dieses Verhältnisses in jedem Betracht fehlerhaft war, brauche
ich hier wohl nicht nachzuweisen. Wir müssen nun abwarten, ob das neuerdings
vom Bundesrath festgesetzte Regulativ hierin etwas ändert.
Einen nicht kleinen Theil seiner Zeit rauben dem Physikus die Beziehungen
zu dem Medicinal-Personal; zunächst schon die An- und Abmeldungen, die bei
einem Bestand von etwa 50 Aerzten, 80 bis 90 Hebammen, 9 Apothekern,
30 Gehülfen und Lehrlingen, welche letztere fortwährend wechseln, u. s. w.
zahlreich und lästig sind. Dazu kommen dann häufige schriftlich oder mündlich
vorgebrachte Berichte, Wünsche, Klagen, Beschwerden der genannten Personen
oder des Publikums. Die Nachprüfungen der Hebammen, die Controle der Ausbil¬
dung der Apotheker-Lehrlinge, die Prüfung von Trichinen-Beschauern, Heilgehülfen
sind zwar nicht häufig wiederkehrende Verrichtungen, erfordern aber gerade des¬
halb einige Vorbereitung, Vergegenwärtigung elementarer Kenntnisse.
Es ist hierbei auch der Theilnahme an dem ärztlichen Vereinswesen zu ge¬
denken. Die Wichtigkeit eines guten Verhältnisses zu den Collegen wird von
keiner Seite verkannt werden und eine Pflege desselben ist vorzugsweise auf
diesem Boden fruchtbar. Sowohl die Mittheilungen, deren der beamtete Arzt für
seine Geschäftsführung bedarf, wird er dadurch bereitwilliger erzielon, als auch
manche Anregung und Förderung für sein thätiges Eingreifen in die Gesundheits¬
pflege erfahren. Will er aber in den Vereinen eine einflussreiche, ja leitende
Stellung gewinnen, so ist dies wiederum nicht ohne Opfer an Zeit nnd Arbeit zu
erreichen.
Nach dem Erlass der Gewerbe - Ordnung vom 21. Juni 1869 und der An¬
weisung zur Ausführung derselben vom 21. Juli ej. a., nach welcher dem zu¬
ständigen Medicinal-Beamten die Pläne solcher Anlagen, welche schädliche Aus¬
dünstungen verbreiten, vorzulegen waren, ward uns von der Vorgesetzten Behörde
zur Pflicht gemacht, uns mit den einschlägigen Verhältnissen vertraut zu machen.
Wir schafften uns also nicht nur eine Menge dickleibiger und theurer Bücher über
Technologie, Gewerbe-Hygiene, Arbeiter-Krankheiten u. s. w. an, sondern suchten
gegebenen Falls auch, in den vorhandenen Fabriken uns praktisch zu bilden.
Eine Reihe von Jahren habe ich dann auch recht viele Gutachten über gewerb¬
liche Anlagen erstattot, bis im vorigen Jahr plötzlich durch eine neue Anweisung
an die Stelle der Medicinalbeamten der Gewerberath trat. Ich vermag nicht in
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Preussischer Medicinnlbeamten-Verein.
die Motive dieser Abänderung einzudringen (vielleicht wollte man der neuen
Stelle ein Relief mehr geben), aber dass bei Concessionirung von Schlächtereien,
Gerbereien, Abdeckereien. Leimsiedereien und ähnlichen Anlagen nicht mehr der
Medicinalbeamte am Orte oder im Kreise gehört wird, sondern der Gewerberath
in der Bezirks-Hauptstadt, halte ich sachlich für schädlich und bedauerlich.
Unter den Behörden hat derPhysikus insbesondere mit der Bezirks-Regierung,
seiner Vorgesetzten Behörde, zu verkehren. Der ihr zu erstattende Jahresbericht
erfordert, auch abgesehen von der stetigen Arbeit (Statistik), die Mussestunden
vieler Wochen. Ueber alle wichtigeren sanitären Fragen hat er ihr mit oder ohne
Erfordern zu berichten, die Veränderungen des Medicinal-Personals zu melden, hin
und wieder an kommissarischen Besichtungen und Verhandlungen theilzunehmen.
— Auch mit den Ortsbehörden, dem Landrath, den Magistraten, der Polizei-
Verwaltung, den Militärbehörden findet mehr oder minder oft ähnlicher Verkehr
statt, dessen Einzelheiten sich nicht wohl kurz wiedergeben lassen. Eine beson¬
dere Berücksichtigung verdienen jedoch die technischen Verrichtungen im Interesse
der Gemeinde-Verwaltung. Wie ausgedehnt dieselben sein können, dürfte z. B.
ein Blick in die „Dienst-Instruction für den Stadtarzt in Frankfurt a/M.“ lehren.
Ich weise hier vorzugsweise auf drei Richtungen hin, das Schulwesen, das Armen¬
wesen, die Baupolizei. Wie viel in dem ersteren der Arzt thätig sein kann, ist
ebenso einleuchtend, als dass in einem grösseren Wirkungskreis die Kräfte eines
Beamten neben allem Uebrigen dazu nicht ausreichen. Beispielsweise will ich
hier nur anführen, dass ich im vorigen Jahr der Königlichen Regierung über die
sanitären Verhältnisse sämmtlicher Privatschulen, Kindergärten, Warteschulen,
also über deren Raumverhältnisse, Lage, Lüftung, Heizung, Beleuchtung, Trink¬
wasser, Aborte habe berichten müssen. — Für die Armenverwaltung wird ausser
der sanitären Ueberwachung der Pflegeanstalten der Beirath in der Anordnung
der armenärztlichen Praxis, der Arznei-Verordnung u. a. von grossem Werth sein
können. — Sanitäre Gesichtspunkte gelangen in den Baupolizei-Ordnungen mehr
und mehr zur Geltung; diejenige meines Wohnorts erkennt die Wichtigkeit der¬
selben auch dadurch an, dass in der Baupolizei-Commission, der alle Pläne zur
Genehmigung vorgelegt werden müssen, der Physikus Sitz und Stimme hat. Frei¬
lich legt ihm das Recht wiederum die — mindestens moralische — Verpflichtung
auf, in deren Sitzungen allwöchentlich 1 l /., bis 2 Stunden zugegen zu sein.
Ausser mit dem Medicinal-Personal, den verschiedenen Behörden, muss der
Physikus auch mit dem Publikum schriftlichen und mündlichen Verkehr unter¬
halten. Abgesehen von den vielfachen Attest-Forderungen kommen zahlreiche —
begründete und unbegründete — Wünsche und Beschwerden an ihn auch von
dieser Seite heran, denen er sich ohne Härte nicht entziehen kann.
Zeitraubender als jede andere Arbeit ist jedoch die Medicinal-Statistik, deren
Umfang stetig wächst. Das Material für dieselbe besteht hier in ca. 4000 Ge-
burts-, 3000 Todesbescheinigungen, 2000 ärztlichen Wochenmeldungen, Zähl¬
karten über Selbstmorde und Unglücksfälle und manchen Einzelberichten. Jede
Woche wird dem Gesundheitsamt über die Todesfälle berichtet, dem Regierungs-
Medicinalrath über die neugemeldeten Infectionskrankheiten; letztere initsammt
den Geburten und Sterbefällen werden wieder monatlich zusammengestellt und
nach Schluss des Jahres grössere Bearbeitung nach verschiedenen Richtungen
vorgenommen, — bei weitem nicht nach allen möglichen oder nur wünschcns-
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Zweiter Sitznngstag. 26. September 1885.
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werthen. Dazu reichen die Kräfte eines Einzelnen in keiner Weise aus. Zu wie
vielen Rückfragen, Berichtigungen die einzelnen Scheine und Meldungen Anlass
gehen, zu so vielen, dass nur die dringenden sich erledigen lassen, will ich nur
andeuten.
Die meisten der oben erwähnten Geschäfte sind nicht ohne erhebliches
Schreibwesen zu erledigen. Die Hülfe eines Bureaus steht dem Physikus nicht
zu Gebot, alles muss er selbst erledigen, expediren, seine Journale führen, das
Archiv in Ordnung halten, ja etwaige Abschriften in Verwaltungssachen muss er
ganz aus eigener Tasche bezahlen, diejenigen gerichtsärztlicher Gutachten gleich¬
falls etwa zur Hälfte, weil die taxmässige Vergütung nicht ausreicht. Beispiels¬
weise will ich hier anführen, dass ich bei der Regierung darauf antrug, sie möge
hier wenigstens die Ladungsformulare zu den Hebammen-Nachprüfungen drucken
lassen.
Endlich komme ich noch zu den polizeiärztlichen Verrichtungen, die dem
Physikus als solchem kaum obliegen, aber doch vielfach von ihm versehen wer¬
den. Die Grenze zwischen ihnen und den rein staatlichen ist, wie gesagt, nicht
durchweg streng zu ziehen. Ich rechne zu diesen die tägliche ärztliche Revision
der in Polizeihaft gebrachten Individuen, die Untersuchung der unter sittenpoli¬
zeilicher Kontrole stehenden Mädchen, die Besichtigung von Leichen solcher Per¬
sonen, die nicht ärztlich behandelt worden sind, die vorläufige Feststellung bei
gewissen Verletzungen. Sittenverbrechen, zweifelhaften Geisteszuständen u. A.
Hiermit glaube ich nun, mein Thema weder erschöpft, noch weniger es in
untadelhafter logischer Ordnung behandelt zu haben; die sehr umfangreiche, ge¬
richtsärztliche Thätigkeit habe ich ganz bei Seite lassen müssen, manches habe
ich nur kurz andeuten können, aber ich darf annehmen, das das Material, wel¬
ches ich dargeboten habe, genügt, um die Behauptung zu rechtfertigen: „Das
Amt eines Medicinalbeamten nimmt mindestens unter den Verhältnissen, wie ich
sie geschildert, die ganze Thätigkeit eines Mannes voll in Anspruch“. Da, wo
dies noch nicht in gleichem Masse der Fall ist, kann jedenfalls seine Zeit nach
dem jetzigen Stande d.er Lehre von der Pflege der öffentlichen Gesundheit damit
ausgefüllt werden. Und dies kann sie nicht allein, sondern das öffentliche Inter¬
esse verlangt, dass es geschehe. Hierauf, auf die Sorge für das Gemeinwohl,
gründen wir überhaupt den Anspruch, dass unsere Stellung von Grund aus ver¬
ändert werde. Nicht, weil uns bisher aus dem Missverhältnisse zwischen Leistung
und Vergütung Nachtheil erwachsen und Unrecht zugefügt ist, obgleich wir
auch darüber uns zu beklagen Ursache haben, sondern weil die grossen Fort¬
schritte der Hygiene, die ausgedehntere Fürsorge des Staates nach dieser Richtung
es gebieterisch erheischen, verlangen wir, dass man die Gesundheits-Beamten
des Kreises ganz und voll mit dieser Aufgabe betraue und ihre bisherige Zwitter¬
stellung demgemäss beseitige. Kann denn bei mir noch die Rede davon sein,
dass das Physikat eine „Nebenbeschäftigung“ ist? Niemand wird diese Frage
bejahen wollen. Als ich einmal, gewissermassen zur Probe, bei einer bestimmten
Anforderung der Regierung an mich diesen Standpunkt geltend machte, ihat sie
unwillig verwundert. Und ich dachte im Grunde nicht anders. Aber es sollte
doch nicht so sein, dass der Staat unsere Arbeitskraft missbraucht. Durch
kleine Aufbesserungen, wie sie in wohlwollender Weise von den Oberbehörden
versucht sind, ist nicht zu helfen. Die Stellung als Gefängniss-, Bahnarzt u. s. w.
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Preussischer Medicinalbeamten- Verein.
dient nicht dazu, dem schreienden Missverhältnis zu begegnen; ich glaube nicht
einmal, dass sie für den Kreisphysikus geeignet ist. Auch kommen nicht alle
unteren Behörden den Absichten der oberen in diesen Stücken bereitwillig nach.
— Auch auf den Ertrag der Privatpraxis darf man uns wahrlich nicht verweisen.
Wenn der Physikus in seinem Amte der Weise lebt, wie es die Neuzeit erfordert und
w .e es z. B. in der sächsischeu .Dienst-Instruction der Bezirksärzte vorgeschrieben
ist, dann bleibt ihm sehr geringe Zeit dazu übrig. Mir ist sie aus solchem
Grunde nach und nach zerfallen; ich hätte mich dem Amte nicht so widmen
können, wenn ich ganz ohne eigene Mittel und nicht aus dem communalen
Dienste einiges Einkommen bezog. Es kommt hinzu, dass das Verhältniss zu den
übrigen Aerzten durch die Concurrenz in der Privatpraxis sehr leicht leidet, und
ferner, dass mit ihr eine strenge Handhabung der Gesundheits-Polizei unvereinbar
ist. Conflicte mit Behörden und Privatpersonen sind unvermeidlich. Auch ge¬
richtliche Termine mitunter sind ein Hinderniss.
Der Kreisphysikus muss in Zukunft Staatsbeamter mit allen Rechten eines
solchen sein (mit den Pflichten ist er es bereits). Ohnehin ist er gegenüber an¬
deren Klassen derselben dadurch benachtheiligt, dass er erst in späteren Jahren
in’s Amt gelangt. Dafür ist ein Ausgleich zu finden. Ihm muss selbständige
Initiative, für dringende Fälle Executive zugestanden werden, Organe müssen ihm
zu Gebote stehen, ernste Verantwortung ihm obliegen. Es gehört nicht zu meinem
Thema, die ganze Stellung zu skizziren, es liegen auch Muster genug dafür
vor. Haben doch fast alle anderen deutschen Staaten bereits — einige schon
vor langer Zeit — Einrichtungen getroffen, welche diese Dinge in befriedigender
Weise regeln, die sowohl dem Interesse der öffentlichen Gesundheit dienen, als
den Wünschen des ärztlichen Siandes und der beamteten Aerzte genügen. Wird
denn Preussen, das sonst zu führen hat, nicht endlich mit dieser Organisation
Ernst machen? Wo liegt das Hinderniss? Wie lange ist schon von der einen
Seite gedrängt, von der anderen versprochen worden. Schon im Jahre 1868 hat
Virchow im Abgeordnetenhause eine ganz veränderte Stellung der Medicinal¬
beamten als im öffentlichen Interesse dringend nothwendig bezeichnet und seit
dem Jahre 1877 haben sich auf Anregung ärztlicher Parlamentarier, zum Theil
in Anlass der Petitionen von Medicinalbeamten, alljährlich entweder in Com¬
missionen oder im Plenum die Zusagungen am Regierungstisch wiederholt, dass
in einer der nächsten Sessionen oder gar „der nächsten“ eine Vorlage über ver¬
änderte Stellung der Medicinalbeamten würde gebracht werden. Noch in der
Sitzung vom 2. März 1885 by l 'lor Herr Cultusminister erklärt: „Ich habe einen
Entwurf fertiggestellt, icL Aue mich sehr freuen, wenn ich in dem nächsten Etat
in der Lage wäre, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der alle Wünsche erfüllt. . . “
Auch wenn man die Schwierigkeiten, welche der Neuordnung entgegen¬
stehen, würdigt, sie müssen sich besiegen lassen, wenn Staatsregierung und
Volksvertretung in jenem Grade übereinstimmen. Sind doch viel schwierigere
Sachen geordnet worden.
Finanzielle Bedenken könuen doch nicht das Hinderniss sein. Zur Bekäm¬
pfung der Thierseuchen scheut man die Geldausgaben nicht, — ist Gesundheit
und Leben der Menschen weniger werth?
Werfen wir einen kurzen Blick auf einige Ansätze des Staatshaushalts von
1885 86. Das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegen-
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heiten erfordert an ordentlichen Ausgaben 52,7, an ausserordentlichen 4,6
Millionen Mark, davon für die Hochschulen 6,5, für das gesammte Medicinal-
wesen 1,45 Millionen!! Die Justizverwaltuug kostet bei einer Ausgabe von etwa
85,6 und einer Einnahme von 50 Millionen dem Staat 35,6 Millionen! Diese
Zahlen scheinen mir beredt, ich will daher nicht von den Kosten für das Heer,
Lnxusbauten u. a. sprechen. Keinenfalls wird man den Zustand der Finanzen
gegen die Medicinal- Reform geltend machen können.
Hoffen wir also, dass dem bisherigen unhaltbaren Zustande baldigst ein Ziel
gesetzt werde, dass der Herr Minister, der ans von seinem Wohlwollen schon Be¬
weise gegeben hat, und seine Räthe den wohlgeprüften Entwurf, von dem wir
Erfüllung unserer berechtigten Wünsche erwarten, in der nächsten Sitzung des
Landtages vorlegen und er zum Gesetz erhoben werde. —
Hr. Rapmund:
Ich habe Herrn Wallichs versprochen, meinerseits hauptsächlich die
Stellung des Kreisphysikus auf dem platten Lande als Medicinalbeamten ins
Auge zu fassen und die von ihm gemachten Ausführungen, die sich, wie er
selbst hervorgehoben, lediglich auf seinen Wirkungskreis als Physikus einer
grösseren Stadt bezogen, durch meine Mittheilungen gleichsam zu ergänzen. Nun,
diejenigen Physiker, die wie ich, auf dem platten Lande wirken, werden mir
sicherlich zugeben, dass unser Gescbäftskreis doch ein völlig anderer ist, als der
von dem Vorredner geschilderte, und dass vor allem unsere Thätigkeit als Ge¬
sundheitsbeamte von den zuständigen Behörden nicht im entferntesten in dem
Maasse in Anspruch genommen wird, wie dies bei Herrn Wal lieh der Fall zu
sein scheint. Ist doch unsere amtliche Thätigkeit zur Zeit in Wirklichkeit nur
eine solche, dass wir dieselbe als Nebenamt betrachten müssen und können, und,
wenn ich bereits gestern andeutete, dass die von uns in dieser Hinsicht ver¬
langte Arbeit, abgesehen von derjenigen, die wir besonders vergütet erhalten,
durch unser Gehalt allenfalls noch ausreichend bezahlt würde, so stehe ich auch
heute noch auf demselben Standpunkte. Freilich dar! man dann eben nur das¬
jenige thun, was uns von oben herab vorgeschrieben; eine derartige amtliche
Thätigkeit genügt aber weder denjenigen Anforderungen, die wir nach den heu¬
tigen Anschauungen und Erfahrungen im Interesse der öffentlichen Gesundheits¬
pflege an dieselbe stellen müssen, noch kann sie uns selbst innerliche Befriedi¬
gung, Lust und Liebe an unserer Arbeit gewähren, die zu jedem freudigen und
erfolgreichen Schaffen nothwendig ist. M. H.! Die Unzulänglichkeit unserer
amtlichen Stellung, die Nothwendigkeit ihrer Umgestaltung ist ja besonders in
den letzten Jahrzehnten nicht nur in den Kreisen der Medicinalbeamten selbst,
sondern vor allem auch von der Königlichen Staatsregierung sowie von den ge¬
setzgebenden Körperschaften in der entschiedensten Weise anerkannt worden,
und ich brauche Sie nur auf diese Mittheilungen zu verweisen, die Ihnen soeben
Herr W allichs aus den betreffenden VerH:ini<Sungen des Abgeordnetenhauses ge¬
macht hat. Es würde mich nun zu weit fülirW p auf alle diejenigen Punkte ein¬
zugehen, wo uns vom hygienischen Standpunkte aus dies mangelhafte unserer
Stellung entgegen tritt; lassen Sie mich daher auch in Anbetracht der Kürze der
uns heute zubemessenen Zeit nur einige Hauptpunkte streifen, und da werden
Sie mir zunächst zugeben müssen, dass uns als Medicinalbeamten besonders den
Vierteljahrsschr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 1.
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Verwaltungsbehörden gegenüber vor allem eins fehlt: das Recht wie die
Pflicht der Initiative.
Wir sind allerdings die technischen Beralher der Verwaltungs-Behörden
erster Instanz und es sollen die letzteren uns bei allen das Sanitätswesen ihres
Kreises betreffenden Angelegenheiten um Rath fragen; aber wie oft nehmen sie
denn unsere Hülfe in Anspruch? Doch nur in den wenigsten Fällen und wenn es
häufiger geschieht, dann häugt es lediglich davon ab, dass der betreffende Be¬
amte speciell ein grosses Interesse für die öffentliche Gesundheitspflege wie für
die hygienischen Verhältnisse seines Kreises besitzt. Auf derartige Zufällig¬
keiten darf aber doch unmöglich unsere amtliche Thätigkeit angewiesen sein; im
Gegentheil, sollen wir den öffentlichen Gesundheitszustand unseres Bezirkes über¬
wachen, alle gesundheitsschädlichen Einflüsse, insonderheit epidemische und an¬
steckende Krankheiten von demselben möglichst abwenden, die Behörden bei
der Ueberwachung und Ausführung sanitätspolizeilicher Massregeln unterstützen:
dann müssen wir auch mit dem Rechte und der Pflicht der Initiative ausgestattet
sein, ohne welche jedes erfolgreiche Eingreifen unserseits auf dem Gebiete des Sani¬
tätswesen undenkbar. Wenn Herr Wallichs dagegen soweit geht, für uns
auch das Recht der Executive zu beanspruchen, so kann ich ihm hierin nicht
beistimmen. Dieses Onus wollen wir getrost den Polizeiverwaltungen überlassen,
dieselben sind dazu viel besser qualificirt und uns würde es ja doch nichts weiter
als mannigfache Unannehmlichkeiten einbringen.
M. H.! Ein anderes, unsere amtliche Thätigkeit nicht minder lähmendes
Hinderniss sehe ich in dem Umstand, dass wir, um unseren Lebensunterhalt zu
erwerben, in der Hauptsache auf die Privatpraxis angewiesen sind und uns iu
Folge dessen diejenige Unabhängigkeit in unserer Stellung fehlt, die jedem an¬
deren Beamten gewährt wird. Es ist ja eine bekannte Thatsache, dass fast bei
den meisten Fragen der öffentlichen Gesundheitspflege der Kostenpunkt eine
Hauptsache bildet; ein Theil muss immer zahlen und, dass die dazu verurtheilte
Partei nur zu leicht in Versuchung kommt, dem betreffenden als Sachverständigen
zugezogenen Physikus die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben und es ihm
in irgend einer Weise zu entgelten, davon wird wohl jeder College gerade auf
dem platten Lande hinreichend Erfahrung gemacht und sich oft genug in seinen
Einkünften aus der Privatpraxis geschädigt gesehen haben. So lange hierbei nur
einzelne Personen in Frage kommen, lässt sich die Sache noch ertragen, aber,
m. H., die Gemeindevorstände, Magistrate der kleineren Städte sind in dieser
Hinsicht nicht minder empfindlich und, wenn es sich um nothwendigeSchulbauten,
um Reinigung von Canälen, Flüssen und ähnliche Dinge, die meist mit grösseren
Unkosten verknüpft sind, handelt und der Physikus vom gesundheitspolizeilichen
Standpunkte aus auf ihre Ausführung dringen muss, dann hat er sich mitunter
oine ganze Gemeinde zur Gegnerin gemacht und mit seiner Praxis in derselben
ist es leicht vorbei, wie solches mir selbst einmal widerfahren ist.
Wie aber der Gesundheitsbeamte dem Publikum gegenüber unabhängig sein
muss, so ist dies auch im Interesse seiner amtlichen Stellung den Aerzten gegen¬
über nothwendig, denn ohne deren Mitwirkung ist eine erfolgreiche Thätigkeit
auf dem Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege nicht möglich und wir werden
uns dieselbe nur dann voll und ganz sichern können, wenn wir soviel wie mög¬
lich aus der Reihe der ärztlichen Concurrenten schwinden. Dann werden wir
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Zweiter Sitzungstag. 26. September 1885.
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von den praotischen Aerzten alle Anfragen beantwortet erhalten, überhaupt auf
ihre Unterstützung rechnen können und es wird uns nun nicht mehr passiren, dass
von ihnen sanitäre Vorschriften, deren Einführung wir vorgeschlagen. als lästig
und überflüssig hingestellt werden. Dasselbe gilt endlich auch den Apothekern,
Droguisten, dem niederen Heilpersonal sowie den Pfuschern gegenüber, deren Con-
trole und Beaufsichtigung doch unbedingt nothwendig ist und die, streng durch¬
geführt, uns leider zu oft in der empfindlichsten Weise nachgetragen und falsch
gedeutet wird.
M. H.! Nehmen Sie irgend ein anderes Gebiet unseres amtlichen Wirkungs¬
kreises heraus, immer werden Sie finden, dass wir gerade durch den Mangel des
Rechts der Initiative sowie durch unsere von der Privatpraxis in erster Linie
abhängige Stellung ausser Stande sind, eine den jetzigen Anforderungen der
öffentlichen Gesundheitspflege entsprechende Thätigkeit zu entfalten. Und wie
gross könnte und müsste die letztere sein! Herr Wallichs hat uns durch seine
Mittheilungen bereits ein Bild von den Aufgaben des Medicinalbeamten auf dem
Gebiete des Schulwesens, der Gewerbe- und Baupolizei, der Krauken- und Armen¬
pflege, des Kinderschutzes, der Medicinal-Statistik sowie bei den so wichtigen
Fragen der Reinhaltung von Bädern, Luft und Wasser, der Sorge für gesunde
Nahrungsmittel, Trinkwasser dgl. gegeben, ich will deshalb nur noch eine kurz
hervorheben:
Die Ausführung des öffentlichen Impfgeschäfts. M. H. Dass die
Anstellung der Impf-Aerzte den Kreisen übertragen und dadurch allmälig das
Impfgeschäft, welches früher fast ausschliesslich von den Medicinalbeamten be¬
sorgt wurde, immer mehr in die Hände der praktischen Aerzte gekommen ist,
kann nur tief bedauert werden, und nicht etwa allein vom finanziellen Stand¬
punkte aus, indem wir dadurch in unseren Einnahmen erheblich geschädigt sind,
sondern vor Allem von dem Gesichtspunkte aus, dass uns in Folge dessen die
beste Gelegenheit genommen ist, unseren ganzen Kreis und seine Bevölkerung
kennen zu lernen. Führt uns doch das Impfgeschäft fast nach allen Ortschaften
unseres Kreises, lassen wir doch bei demselben gleiohsam die ganze heran-
wachsende Bevölkerung zweimal in ihrem Leben, im lsten und 12ten Lebens¬
jahre, Revue passiren; was wir hierbei mit unseren eigenen Augen sehen, beob¬
achten und prüfen, das können uns weder hundert, noch tausend Berichte er¬
setzen, und umsomehr müssen wir mit grosser Freude den Beschluss der letzten
Reichs-Impf-Commission begrüssen, wonach die Medicinalbeamten wieder in erster
Linie als Impf-Aerzte und zwar von der Regierung angestellt werden sollen.
M. H ! Wenn ich Sie im Vorhergehenden auf eine Reihe von Unzuläng¬
lichkeiten unserer jetzigen Stellung als Medicinalbeamten aufmerksam gemacht
und Ihnen gezeigt habe, wie gerade durch sie eine thatkräftige, den heutigen
Anforderungen der Hygiene entsprechende Einwirkung des Kreis-Physikus auf
das Sanitätswesen seines Kreises ausgeschlossen oder doch wenigstens in hohem
Grade eingeschränkt ist, so werden Sie mir zugeben, dass wir vor Allem in dieser
Hinsicht eine Aenderung anstreben müssen, dann wird auch die Gehaltsfrage
seitens der zuständigen Behörden eine zufriedenstellende Erledigung finden. Ich
stehe somit vollständig auf dem Standpunkte Virchow’s, der im Abgeordneten¬
hause am 8. Februar 1878 bei der Verhandlung über die Petition unseres Hrn.
Collegen Wiener erklärte: „zuerst eine bedeutendere und erhöhtere Thätigkeit,
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Preussischer Medieinalbeamten-Verein.
grössere Aufgaben auf dem Gebiete des Sanitätswesens, als die Kreis-Physiker
gegenwärtig zu erfüllen haben, und dann bessere Ausstattung in Bezug auf
Gehalt und Stellung.“ M. H., die unbedingte Nothwendigkeit einer Aenderung
unserer Stellung nach diesen beiden Richtungen hin ist gewiss allseitig an¬
erkannt, ja wir wissen sogar, dass eine vollständige Reorganisation unseres
Medicinalwesens höheren Orts in allem Ernst geplant, ein entsprechender Ent¬
wurf bereits fertig gestellt ist und wir seine endliche Ausführung in der aller¬
nächsten Zeit umsomehr erwarten können, als eine der Hauptvorbedingungen,
die vollständige Durchführung der Verwaltungs-Gesetzgebung, ihrem Ziele ent¬
gegensieht. Es muss ja die Stellung der Kreis Medieinalbeamten genau in den
Rahmen der Kreis-Ordnung hineinpassen und zwar nicht mit Executive und
Disciplinargewalt, sondern nur mit dem Rechte der Initiative ausgestattet. Dass
es bei einer so gründlichen Umwälzung unserer Stellung nicht unberechtigt er¬
scheint, auch diejenigen Forderungen und Wünsche berücksichtigt zu sehen, die
uns selbst auf Grund unserer praktischen Erfahrungen in unserem eigenen wie
im Interesse des Allgemeinwohls nothwendig erscheinen, darin werden Sie sicher¬
lich Alle mit mir übereinstimmen; aber, wollen wir dieselben an entsprechender
Stelle beachtet sehen, dann müssen sie auch präcisirt, begründet und der mög¬
lichst einstimmige Ausdruck der Gesammlheit sein, was im Plenum, noch dazu
bei einer ersten Generaldiscussion nicht zu erreichen ist. Das einzige Mittel
hierfür ist nach meiner Ansicht eine vorhergehende Commissions-Berathung,
deren Bericht dann dem Plenum gleichsam als rother Faden zur Unterlage der
Discussion dienen muss. Mein Vorschlag geht also dahin: eine Commission, be¬
stehend aus dem Vorstande und je einem Vereinsmitgliede aus jeder Provinz, zu
wählen, die sich eingehend mit der vorliegenden Frage zu beschäftigen und in
der nächsten Haupt-Versammlung Bericht abzustatten hat. Der Verein ist ganz
gut in der Lage, den auswärtigen Commissions-Mitgliedern die behufs Theil-
nahme an der Sitzung erforderlichen Reisekosten zu ersetzen; und es erscheint
mir sehr zweckmässig, das Tax-Gesetz vom 9. März 1872, welches ja für die
nächstjährige Tages-Ordnung von verschiedener Seite gefordert ist, ebenfalls der
Commission zur Vorberathung zu überweisen, denn eine sofortige Besprechung
desselben im Plenum halte ich für nicht minder unzweckmässig. —
Discussion:
Hr. Kirchhoff: Sie wissen, dass der Herr Minister an mehreren Orten
selbst geäussert hat, die Medicinal-Reform wäre nöthig, aber es Hesse sich auch
mit dem jetzigen Gesetzen ganz gut fahren, und der Meinung bin ich auch,
jedoch muss man sich Mühe geben und dann ist das Gehalt, welches wir be¬
kommen, viel zu gering. Solche schlimmen Erfahrungen wie Herr Rapmund habe
ich allerdings auch gemacht, als ich noch jünger war, aber jetzt muss ich ge¬
stehen, dass sie weniger geworden, und wenn die Leute sehen, dass man es gut
meint und objectiv ist und nur */ 4 von dem verlangt, was man verlangen könnte,
dann kommt man durch. Nun noch eins. Ich habe auch den Entwurf gelesen
und es steht mancherlei schönes darin, aber wenn wir selbst nicht sehr arbeits¬
tüchtig sind, wird es mit unserer Wirksamkeit bleiben, wie es jetzt ist. Etwas
Initiative muss der Physikus unbedingt haben und auch gehalten sein, seinen
Bezirk in jeder Beziehung naebzusehen und darüber zu berichten. Aber die
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Commission können wir sparen. Ich habe nur den Wunsch, hier möglichst ein¬
stimmig ausgesprochen za hören, dass entschieden im neuen Entwurf stehen
muss, dass der Physikus keine Praxis, ausser der consultativen, haben darf, dann
wird auch die Bezahlung eine bessere werden.
Hr. Barnick (Flensburg): Ich vermisse in dem Vortrage des Herrn Wall ichs
etwas, was uns viele Arbeit und viele Feinde macht: den Kampf gegen das
Pfuscherthum. Ich bin früher auf dem platten Lande gewesen und habe mir
durch mein Eintreten gegen die homöopathischen Pfuscher viel Feinde erworben.
Seit V 2 Jahr wohne ich in einer Mittelstadt und übe eine ähnliche, wenn auch
nicht so ausgedehnte Thätigkeit aus wie Hr. Wall ichs in Altona. Als ich nach
meinem jetzigen Wohnorte binkam, verzog ein homöopathischer Arzt von dort,
weil, wie er sich äusserte, der Homöopalhenfresser dahin versetzt wäre. Wir
haben in Holstein eine Masse practischer Homöopathen, welche Arthur Lutze
in Altona ausgebildet hat. Dies sind Leute, welche einen grossen Anhang haben,
und ich halte es für meine Pflicht, gegen dieselben, soweit das Gesetz es gestattet,
einzuschreiten. Der practische Arzt thut dies nicht, er wendet sich an den
Physikus und, gehe ich gegen jene vor, so bestraft sie die Polizei, aber ich habe
viel Arbeit, denn die Nachforschungen, Gerichtstermine, nehmen meine Zeit in
Anspruch und oft werde ich 1 — 2 Stunden als Zeuge, nicht einmal als Sach¬
verständiger vernommen.
Hr. Mittenzweig: Ich bin nicht ganz einverstanden mit allem, besonders
nicht mit dem, was Hr. Wallichs über die Pflichten des Physikus gesagt hat.
Wir haben ganz verschiedenartige Verrichtungen, welche auch von verschiedenen
Seiten bezahlt werden. Als Kreisphysici haben wir einmal alles zu ihun, was die
Regierung uns aufgetragen hat und wofür uns leider die Instruction fehlt. Dann
haben wir ferner viel als Aerzte, unbesoldete Gemeinde-Beamte, Schulvorstand
u. s. w. zu thun und zwar umsonst als Bürger unserer Gemeinden. Drittens — und
das ist der brennendste Punkt — thun wir als Physici par usance sehr viel, was
wir, umsonst zu thun, gar nicht verpflichtet sind, und das sind besonders Aufträge
für die Orts-Polizeibehörde. So ist es ein grosser Unterschied, wenn der Ober-
Bürgermeister, falls er zugleich Landrath ist, als solcher mir etwas aufträgt oder
als Vertreter der Orts-Polizeibehörde, denn im letzteren Falle muss die Orts-
Polizei bezahlen. Diese beiden Verrichtungen, die staatlichen als Physikus und
die Verrichtungen als Polizeiarzt, sind auseinander zu halten, und das ist sehr
schwierig, wenigstens ist es mir oft so ergangen, dass ich beim Ober-Bürgermeister-
Amte Iiquidirte, diess mich an die Regierung verwies und letztere wiederum
erklärte, dass die Stadt bezahlen müsse. Ebenso giebt die Staatsanwaltschaft
der Orts Polizeibehörde mitunter den Auftrag, uns als Sachverständige zu ver¬
nehmen, und ist dann natürlich zur Zahlung der Gebühren verpflichtet, sonst
aber die Gemeinde. Deshalb lasse ich mir immer einen schriftlichen Auftrag
geben und, wer unterschrieben hat, muss schliesslich für die Kosten aufkommen.
Eine grosse Schwierigkeit für unsere Thätigkeit liegt an dem Mangel einer In¬
struction. Diese müssen wir entschieden haben, ob dazu aber ein neues Gesetz
nöthig ist, weiss ich nicht. Der Vorschlag des Herrn Rapmund ist meines Er¬
achtens sehr zu erwägen. Ein solcher kleinerer Ausschuss könnte auch eine
Instruction ausarbeiten, mag sie nun verwerthet werden oder nicht. Wir wissen
dann, was wir zu thun und was wir zu fordern haben.
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246
Preussischer Medicinalbeatuten-Verein.
Hr. Wallichs: Ich wende mich zunächst gegen Herrn Mittenzweig. Er
hat vollkommen Recht, dass zwischen Gemeinde-Arzt und Staatsarzt za unterschei¬
den ist; doch es ist hier die Grenze schwer zu zeichnen und ioh habe ausdrücklich
gesagt, dass nach meiner Ansicht der Staatsarzt auch Gemeinde- uud Polizeiarzt
sein müsse. In Folge dessen habe ich auch bei meinen Ausführungen die Thätig-
keit beider im Auge gehabt und hierbei vielleicht von ihren Pflichten, die eben
schwer zu trennen sind, manches durcheinander geworfen. Was weiterhin die
Bezahlung für meine vorher geschilderte amtliche Thätigkeit betrifft, so habe ich
dies alles natürlich nicht für die 900 Mark zu thun, welche mir der Staat bezahlt,
sondern die Gemeinde giebt mir eine Pausch-Vergütigung.
Allerdings ist auch, wie Herr Kirchhoff betonte, nach dem jetzigen Ge¬
setze eine Thätigkeit möglich und ich glaube, diess für meine Person erwiesen zu
haben; aber ich kann nicht zugeben, dass dieser Zustand der richtige ist, im
Gegentheil glaube ich, ebenfalls nachgewiesen zu haben, dass an unsere Leistun¬
gen Ansprüche gemacht werden, welche mit unserer Stellung und ihrer Einnahme
in entschiedenem Widerspruche stehen.
Herrn Rapmund möchte ich erwidern, dass uns die Frage der Executive
nicht veruneinigen soll; ich gebe sie leicht preis. Doch erwähnt die Holsteinische
Physicats-Ordnung, dass der Physikus eine gewisse Executive hat und z. B. bei
Ausbruch bösartiger Krankheiten in entfernteren Orten das Recht besitzt, bei der
Localinspection auf eigene Hand die Schliessung der Schule anzuordnen, ohne
vorher erst den Landrath zu fragen. Aber wie gesagt, ich lege auf diesen Punkt
gar kein grosses Gewicht.
Was die Commission anlangt, welche Hr. Rapmund in Vorschlag ge¬
bracht hat, so habe ich keine Einwendung dagegen, vorausgesetzt, dass Sie mich
nicht in dieselbe hineinwählen. Ich habe meinem Herzen zunächst damit genügt,
dass ich mich über diese Angelegenheit, welche mioh schon lange beschäftigt
hat, hier unter meinen Special-Collegen ausgesprochen habe, und ich denke, dass
die Commissionsarbeit schon etwas zu spät kommt. Immerhin kann sie aber
Nutzen haben: denn, kommt ein Entwurf in den Landtag, so kann sie den Inhalt
erwägen und eventuell eine ausserordentliche Generalversammlung berufen, damit
wir uns mit dem Gewichte, das unserem Verein doch immerhin zusteht, äussern
könnten. Jedenfalls halte ich es für sehr richtig, was Hr. Rapmund gesagt bat,
dass, wenn auch das Tax Gesetz einmal einer Besprechung unterzogen werden
soll, dies nicht im Plenum geschehen kann, sondern zuerst in einer Commission
vorberathen werden muss.
Hr. Rapmund: Herrn Mittenzweig entgegne ich, dass gerade die Be¬
stimmung, wonach die Gemeinden die Leistung des Physikus besonders bezahlen
müssen, höchst nachtbeilig für dessen sanitätspolizeiliche Thätigkeit ist, denn
die Besorgniss vor den Unkosten giebt nur zu leicht Veranlassung, dass seine
Hilfe gar nicht in Anspruch genommen wird, und ich habe in Folge dessen häufig
da, wo es zweifelhaft war, ob es sich um ein communales oder staatliches
Interesse handelte, lieber auf die Tagegelder und Reise-Kosten verzichtet, damit
nur überhaupt etwas gethan wurde. Es ist dies wieder ein Beweis mehr, wie
nothwendig es auch im gesundbeitspolizeilichen Interesse ist, dass wir durch
anderweitige Stellung, Gehalt etc. nicht darauf angewiesen seien, von Diäten
und Gebühren zu leben; bekämen wir für alle derartige Arbeiten ein Pausch-
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Zweiter Sitzungstag. 26. September 1885.
247
quantum an Dienstaufwands-Geldern, ähnlich wie die übrigen technischen Beamten
z. B. Kreis-Bau-Inspeotoren u. a. m., so würden jene streitigen Fragen über die
Kosten von selbst wegfallen.
Andererseits hat bereits die kurze Discussion gezeigt, wie sehr die einzelnen
Ansichten nnd Wünsche betreffs unserer Stellung als Medicinalbeamte noch aus¬
einander gehen; sind wir nicht einmal hinsichtlich der Hauptpunkte einig, dann
werden auch alle unsere Verhandlungen ergebnislos und ohne jeden Einfluss
nach aussen hin bleiben. Einstimmige oder wenigstens mit grosser Mehrheit ge¬
fasste Beschlüsse im Plenum dürften wohl nur dadurch zu erzielen sein, dass sie
durch eine gründliche und ruhige Berathung inmitten einer Commission vor¬
bereitet werden, und ich bitte demgemäss dringend, meinem Anträge bezüglich
Commissions-Berathung zuzustimmen.
Hr. Falk: Ich erkläre mich mit aller Entschiedenheit gegen die Ein¬
setzung der Commission, und zwar vor allem schon aus 'geschäftlichen Gründen.
Eine solche Commission, deren Mitglieder über das ganze Königreich zerstreut
sind und welche aus 13 Herren bestehen soll, ist sehr schwer zusammenzubrin¬
gen und die Kosten, welche daraus erwachsen, stehen in keinem Yerhältniss zu
dem zu erwartenden Ergebniss. Die Erörterungen in pleno würden auch damit
nicht abgekürzt werden, ich halte daher die Commission für entbehrlich, wenn
nicht schädlich.
Hr. Dyrenfurth (Bütow): Die Commission erscheint auch mir überflüssig.
Wir haben die tröstliche Aussicht, noch in diesem Winter eine Vorlage im Landtage
zu bekommen; angenommen aber, dass diese nicht stattfinden würde, so glaube
ich, dass diese 13 Herren nicht mit der gehörigen Autorität bekleidet sind, um
an und für sich sohon ein Gutachten abzugeben, welches als vollkommen in die
Wagschale gelegt werden kann und inhaltreich genug ist, um allen Anschauun¬
gen zu genügen.
Hr. Rubensohn: Ich halte es für selbstverständlich, dass der Antrag
ohne lange Berathung angenommen wird. Wenn Hr. Falk meint, dass es
schwierig sei, die 13 Herren zusammenzuberufen, so gebe ich zu, dass viel¬
leicht Einer oder der Andere fehlen wird, indessen halte ich den von Herrn
Rapmund vorgeschlagenen Modus für sehr practisch. Ich selbst habe als Me-
dicinalbeamter in 2 Provinzen gearbeitet und weiss, dass die Stellungen in beiden
verschieden sind. Deshalb ist es sehr wünschenswerth, wenn aus jeder Provinz
ein Abgeordneter in die Commission kommt.
Hr. Rapmund: Herrn Falk möchte ich erwidern, dass geschäftliche
Schwierigkeiten nicht vorhanden sind, denn ich wiederhole, dass wir nach un¬
seren Kassen-Verhältnissen ganz gut in der Lage sind, den einzelnen Comissions-
Mitgliedern Reisekosten, wo nicht gar Tagegelder gewähren zu können.
Hr. Wernich (Cöslin): Ich constatire als Thatsache, dass der Deutsche
Aerzte-Vereins-Bund und der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege
Jahr zu Jahr solche Commissionen zusammenberufen.
Hr. Wiener (Graudenz): Für die Einsetzung einer Commission erkläre ich
mich gleichfalls, nicht aber auch zum Zweck der Ausarbeitung einer Dienst-
Instruction. Dies überlassen wir besser den Herrn Ministerialräthen, die ja
sämmtlicb auch Kreis-Medicinalbeamte gewesen sind.
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Preussischer Medicinalbeamten-Verein.
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Hr. Kanzow: Der Antrag, wonach die Commission auch eine Dienst-
Instruction entwerfen soll, ist soeben zurückgezogen worden. —
Der Antrag, „eine Commission einzusetzen, die, aus dem Vorstande und je
einem Mitgliede aus jeder Provinz bestehend, die Stellung des Kreis-Physikus
als Medicinalbeamten einer eingehenden Besprechung unterziehe, eventuell auch
das Tax-Gesetz vom 9. März 1872 borathen und der nächsten Haupt-Versammlung
Bericht erstatten soll“ — wird mit 47 gegen 34 Stimmen angenommen.
Hr. Rapmund: Für die Wahl dieser Commission mache ich einen Vo
schlag, welcher bei der Wahl der Abgeordneten der Central-Hülfskasse m
Erfolg durchgeführt worden ist. Darnach wird von dem Vorstande ein Vereir.
mitglied aus jeder Provinz mit der Leitung der Wahl beauftragt; dasselbe t
die übrigen Vereinsmitglieder seiner Provinz zur schriftlichen Abgabe ihi
Stimmen für einen Delegirten und dessen Stellvertreter aufzufordern, auf Gru
der einlaufenden Voten das Wahl-Ergebniss festzustellen und nöthigenfalls emo
Stichwahl zu veranlassen. —
(Es erhebt sioh kein Widerspruch.) 4
?>
Der Vorsitzende schliesst nun um 1l 3 4 Uhr die Sitzung mit dem Wuns ,
eines recht fröhlichen Wiedersehens in der nächsten Haupt-Versammlung. —
Um 12 Uhr fand ein gemeinsames Gabel-Frühstück im „Franziskan
statt; nach Beendigung desselben führten Eisenbahn und Sonder-Dampfboot lie
Theilnehmer zu den städtischen Wasserwerken am Tegeler See. welche unter
sachkundiger Leitung einer eingehenden Besichtigung unterzogen wurden. —
Nachdem im Schloss-Restaurant zu Tegel der Kaffee eingenommen worden, ging
mit Pferdebahn die Rückfahrt nach Berlin vor sich, woselbst an der Weiden-
dammer-Brücke um 6 2 Uhr Nachmittags die Ankunfi erfolgte.
Abends fand die Schluss-Vereinigung wiederum in den „Kaiserhallen“
statt. — —
Gedruckt bei L. Schumacher in Berlin.
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Erklärung der Tafeln.
Tafel II.
Fig. 1. Magen der mit Belladonnabeeren vergifteten Hebenstreit (6. Fall),
nebst dem untersten Stück des Oesophagus und dem Anfangsstücke
des Duodenums. Auf der Oesophagusschleimhaut, sowie auf der
Schleimhaut des Magengrundes ist ein meist stark dunkel (blutig) ge¬
färbtes croupöses Exsudat aufgelagert; an der kleinen Curvatur (cc)
1 nebstdem oberflächliche Substanzverluste. Die Ausschnitte bei a und b
1 entsprechen den für die mikroskopische Untersuchung verwendeten
Partien.
;ig. 2. Die verschiedenen Crystallfornien. die bei der mikroskopischen
Untersuchung der Fälle 7 u. 8 gefunden wurden. — Grosse, säulen¬
förmige Crystalle (1,4, 5. 6, 7) meist unvollkommen entwickelt (7,
oder Wachsthumsformen, sog. CrysLaliscelette (1, 6), die mitunter
schon starke Verwitterung zeigen (4, 5). Mit diesen verwachsen sind
die büschel- oder sternförmigen Aggregate von Crystall-
' nadeln (1,6. 7), die auch isolirt Vorkommen (3). Diese büschel-,
nadelförmigen Crystalle, die sich physikalisch und optisch scharf
differenziren, sind die Atropincrystalle. Weiters kommen noch
tesserale Formen vor. die entweder mit den .säulenförmigen (1, 6;
oder auch mit den Atropincrystallen (2) verwachsen sind.
Tafel III.
Fig. 1. Durchschnitt durch die Wand des Oesophagus.
cc Croupöses Exsudat mit eingesprengtem freiem und in Zellen eingeschlos¬
senem Pigment und einer dünnsten Epithelschichte an deren Oberfläche.
Die übrigen Schichten der Oesophaguswand (d. a) zeigen keine Verän¬
derung.
Fig. 2. Durchschnitt der Magenschleimhaut.
ff Fibrinnetz des aufgelagerten croupösen Exsudates,
pp Pigmenthaltige Zellen im croupösen Exsudat.
p t p t Freies Pigment im croupösen Exsudat. Allenthalben im croupösen
Exsudat eingesprengte rothe Blutkörperchen (bb) wahrnehmbar,
d Obere veränderte Drüsenschichte.
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I. Gerichtliche Medicin.
1 .
Das Verhaltet der Leichen nach Arsenik-Vergiftung.
Von
Prof. Dr. T« Zaafjer in Leiden.
Um die Mitte December 1883 wurde Maria Catharina Swanenburg,
Ehefrau des Fabrikarbeiters Johannes van der Linden, zu Leiden ver¬
haftet und zwar wegen Verdachts, drei ihrer Verwandten (Vater, Mutter
und Sohn) vergiftet zu haben. Bald darauf zeigte es sich, dass es
sich hier nur um die Schlussscene einer ganzen Reihe von Vergiftungen
handelte, welche von derselben Frau während mehrerer Jahre aus¬
geführt wurden.
Frau van der Linden wurde am 1. Mai 1885 vom Gerichtshöfe
im Haag zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurtheilt.
In der öffentlichen Sitzung des Gerichtshofes hat es sich gezeigt:
dass rauthmasslich der erste Vergiftungsversuch schon im Jahre 1869
gemacht wurde, aber ohne dass die Person, für welche es bestimmt
war, das Gift zu sich genommen hat;
dass muthmasslich der erste Giftmord schon im Oetober 1877
begangen wurde;
dass sie muthmasslich im Februar 1879 für das erste Mal einer
Person Gift gegeben hat, die in Folge dessen krank geworden ist;
dass sie muthmasslich ausser den 4 Personen, welche sie mit
Gift getödtet hat, für welche Giftmorde sie verurtheilt ist (S. unten:
Eigene Beobachtungen I, II, IV, VI), noch 19 Andere vergiftet hat,
während 36 Personen in Folge des beigebrachten Giftes erkrankten;
von diesen letzten 36 Personen sind 5 zweimal, 2 dreimal, 1 viermal,
1 fünfmal und 1 sechsmal erkrankt;
dass sie muthmasslich noch an 14 Personen (deren 1 zweimal
und 1 dreimal) Vergiftungsversuche gemacht hat; das Gift wurde je¬
doch aus verschiedenen Ursachen von diesen Personen nicht zu sich
genommen. —
Vienelj&hrsschr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 3.
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UNiVERSUY OF IOWA
250
Dr. T. Zaaijer,
Die anatomische Untersuchung der Leichen von 16 muthmass-
lichen Opfern dieser Frau wurde von der Gerichts-Obrigkeit dem
hiesigen Prosector Herrn Dr. P. de Koning und mir aufgetrageu.
Die chemische Untersuchung wurde dem hiesigen Professor der
Pharmacie und Toxieologie, Herrn Dr. E. A. van der Burg, über¬
geben.
Indem ich hoffe, später noch etwas Näheres über diese merk¬
würdige Vergiftungsgeschichte publiciren zu können, habe ich am
30. Mai 1885 in der Sitzung der physikalisch-mathematischen Klasse
der Königl. Akademie der Wissenschaften in Amsterdam einen Theil
der gewonnenen Resultate mitgetheilt. Ich beschränkte mich dabei
hauptsächlich auf eine Besprechung des Einflusses auf die Schnellig¬
keit des Verlaufes der Leichen-Fäulniss, der dem beim Leben bei-
gebrachteu Arsenik ziemlich allgemein zugeschrieben wird. Ich hatte
mir vorgenommen, die Frage, ob man Recht hat, eine sogen,
arsenikalische Mumification anzunehmen, einer näheren Prüfung zu
unterziehen.
Die von mir der Königl. Akademie angebotene Abhandlung ist
seitdem erschienen unter dem Titel: „De toestand der lijken na
arsenicum-vergiftiging. Eene gcrechtelijk-geneeskundige Studie door
T. Zaaijer. Amsterdam, 1885.“
Dem Wunsche des Herrn Herausgebers zufolge werde ich den
Hauptinhalt meiner Arbeit hier mittheilen.
Einleitung.
Unter dem Einflüsse verschiedener Ursachen unterliegt die Leiche
ganz verschiedenen Veränderungen. Die gewöhnliche Modification ist
diejenige der Fäulniss in ihren verschiedenen Arten (Verwesung,
Fäulniss). Das Medium, worin die Leiche sich befindet, ist hier von
sehr grosser Bedeutung. Dem Wasser kommt hierbei eine Hauptrolle
zu; grosse Wassermengen können unter Umständen den Zersetzungs¬
prozess verzögern und zur Bildung von Fettwachs (Adipocire) führen,
das der weiteren Zersetzung sehr lange widersteht. Ist aber die
Wasserzufuhr gering, so dass der Fäulnissprozess nicht fortschreiten
kann, dann trocknet die Leiche unter günstigen Bedingungen mehr
oder weniger vollständig aus, sie mumificirt; sie behält dabei im
Allgemeinen ihre Form, auch in den Gesichtszügen. Das Gewicht
nimmt aber sehr bedeutend ab durch den mehr oder weniger voll¬
ständigen Verlust des grossen Wassergehalts des Körpers.
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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung.
251
Die Mumification (Vertrocknung) ist entweder natürlich oder künstlich.
Bei der natürlichen Mumification ist die Leiche sich selbst überlassen.
Bei der künstlichen Mumification dagegen wird die Austrocknung durch Kunst¬
griffe verschiedener Art vorbereitet und meistens vollkommener erreicht.
Die natürliche Mumification ist durchaus keine seltene Erscheinung und sie
hat stets, auch im Alterthum, grosses Interesse erregt.
Auf einigen Friedhöfen und in einigen Grüften (Kellern) sind die Bedin¬
gungen für das Zustandekommen der Leichen-Mumification äusserst günstig.
Beispiele davon findet man in Toulouse, Bordeaux. Bonn, Bremen. Paris,
Dünkerken und anderswo. Auch in unserem ziemlich nassen Boden finden sich
derartige Stellen. Ein Keller mit mumificirten Leichen befindet sich in Wieuwerd
(Provinz Friesland), ein zweiter, den ich selbst besucht habe, in Voorburg (beim
Haag). Das Vorkommen natürlicher Mumien ist also sehr allgemein verbreitet;
sie sind unter allen Zonen und in jedem Klima gefunden.
Die künstliche Mumification ist schon sehr alt; sie erreichte, wie bekannt,
die höchste Stufe ihrer Vollkommenheit bei den alten Egyptern und bei den
Guanches auf den Canarischen Inseln. Bei den späteren, mehr civilisirten Völkern
wurde das Balsamiren der Leichen nur selten geübt und verschiedene Substanzen,
hauptsächlich aromatische und würzige Stoffe und Harze, wurden dabei ange¬
wendet, öfters jedoch mit sehr geringem Erfolge.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die von Swammerdam
und Ruysch in der Anatomie eingeführte Methode der Injeciion der Blutgefässe
von W. Hunter auch beim Balsamiren der Leichen angewendet. Aromatische
und harzige Substanzen waren dabei die Hauptingredienzen. Später W’urden
Sublimat (Chaussicr). Holzessig (Monge), Zinnchlorid (Tauflieb), Zink¬
chlorid (Sucquet, Richardson) und Aluminiumsalze (Gannal) als Injections-
masse benutzt.
Ritter hat zuerst den Vorschlag gemacht, eine Lösung von Arsenik in
destillirtem Wasser und Alkohol in dieGefässe zu führen und nachher verschiedene
aromatische Substanzen in die Körperhöhlen zu bringen. Diese Methode kam aber
nicht in Anwendung; erst im Jahre 1835 publicirte Giuseppe Tranchina
seine bis dahin geheim gehaltene Methode des Balsamirens. welche ausschliess¬
lich auf der Wirkung des Arseniks beruht. Zwei Pfund arsenige Säure genügen
zur Conservirung einer Leiche.
Man hat auch einigen, bei Lebenszeit beigebrachten Giften das Vermögen,
die Zersetzung zu verzögern oder sogar zu verhindern, zuerkannt. Als solche
werden Alkohol. Sublimat. Schwefelsäure, Wurstgift (Liebig. Schürmaver)
und vor Allem Arsenik genannt. Dieser letztere soll in vielen Fällen die Mumi¬
fication der Leichen damit Vergifteter zur Folge haben.
I. Geschieht liehe s.
Es finden sich bei den Alten nur sehr spärliche Angaben über
den Einfluss der Gifte überhaupt auf das Verhalten der Leichen.
Nach Paulus Zacchias beweist die schnelle Zersetzung der Leiche,
dass der Tod von einem innerlichen Gifte veranlasst wurde; die
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252 Dr. T. Zaaijer,
Leichen dagegen derer, welche von einem äusserlichcn Gifte getödtet
sind, faulen sehr langsam.
Es ist auffallend, dass fast alle Autoren des letzten Jahrhunderts
der Meinung waren, dass der nach der Vergiftung im Körper zurück¬
gebliebene Arsenik die Eäulniss der Leiche beschleunigt.
Diese beinah vollkommene Meinungsübereinstimmung erlitt plötz¬
lich einen wichtigen Umschwung durch die bekannte Geschichte der
Frau Geh.-Räthin Ursinus in Berlin im Anfänge dieses Jahrhunderts.
Es wird wohl kaum der Erinnerung bedürfen, dass die Leichen des Ehemannes
und der unverheirateten Tante der Ursinus von Welp er untersucht worden.
Beide Leichen (die eine war in Berlin, die andere in Charlotten bürg beerdigt)
waren nicht auf die gewöhnliche Weise zorsetzt, sondern sie waren beide gut
bewahrt geblieben und hatlon ein mumienartiges Vorkommen; obgleich kein
Arsenik in den Leichen naebgewiesen werden konnte, wurde dies jedoch dem
zugeführten Arsenik zugeschrieben.
In Zusammenhang mit gleichartigen, von Welper schon früher gemachten
Beobachtungen fesselte diese Auffassung in hohem Masse die Aufmerksamkeit
der gerichtlichen Aerzte. und Viele glaubten bald fest an die Unverweslichkeit
der Leichname nach Arsenik-Vergiftung.
Die Zustimmung war aber nicht allgemein. Metzger bestritt aus triftigen
Gründen die Meinung Welper’s. Die an Welper gerichtete Bitte, Näheres
über die beiden Fälle der Ursinus mitzutheilen, ist ohne Erfolg geblieben. Die
Meinung vieler, auch späterer Autoren, dass Welper selbst etwas über die
Sache mitgetheilt habe, hat sich mir als unrichtig gezeigt.
Indessen wurden von Kelch, in Verbindung mit Metzgor, Versuche ge¬
macht, welche die Auffassung Welper’s zu bewähren schienen. Die Versuche
Jäger’s dagegen führten zu einem ganz entgegengesetzten Resultate. Auch von
Klanck wurden, auf don Rath Welper’s, Versuche angestellt, und diese
stimmten in den Ergebnissen wiederum mit denen Kelch’s überein.
Das Dogma der Arsonik-Mumification erhielt bald eine bedeutende Stütze
in den Beobachtungen Bachmann’s (1812), der drei Leichen untersuchte von
Personen, die von der Anna Margaretha Steinacker, Wittwe Zwanziger,
mit Arsenik vergiftet waren. Spuren von Mumification wurden an allen diesen
Leichen, jedoch in sehr abweichendem Grade, angetrofFen. Es ist aber deutlich,
dass Bachmann ganz von der Auffassung Welper’s beherrscht wurde. Viele
späteren Beobachter, Anhänger der Wclper’schen Meinung, haben es nicht
unterlassen, sich auf die Erfahrung Bachmann’s zu berufen.
Spätero Beobachtungen und Versuche hatten theils positive (Hünefeld),
theils negative (Hebreard, Wendt, Seemann, Jäger) Erfolge.
Es ist deshalb um so mehr zu bedauern, dass, wenigstens soweit mir bekannt
ist, so dürftige Mittheilungen gemacht sind über den Zustand der Leichen der
zahlreichen Opfer der Gesche, Margarethe Gottfried, geh. Timm, der berüch¬
tigten Giftmörderin aus Bremen, wo sie am 20. April 1831 enthauptet wurde 1 ).
l ) Die Geschichte der Frau van der Linden stimmt in vielen Punkten mit der
der Bremischen Missethäterin überein.
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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung.
253
Die lückenhaften Mittheilungen scheinen jedoch den Schluss zu rechtfertigen, dass
die Untersuchung der in Bremen exhumirten Leichen die fäulnisswidrigen Eigen¬
schaften des Arseniks nicht bestätigt hat.
Die Zahl derjenigen, welche mehr oder weniger bestimmt den Einfluss des
Arseniks in toxischen Dosen auf die Zersetzung der Leichen leugnen, ist gering.
Ich nenne hier allererst Orfila (1831). der seine Meinung auf Versuche stützte,
und weiter Graff (1831) und Ganlke (1863).
Bis jetzt besteht also noch keine Uebereinstimmung über diesen Punkt.
Zum Beweise dafür habe ich in meiner Abhandlung eine Reihe von Citaten aus
der allerletzten Zeit zusammengestellt. Der Kürze wegen muss ich darauf ver¬
weisen.
Da sich nun die Gelegenheit bot, einige arsenikhaltige und einige arsenik¬
freie Leichen zu verschiedenen Zeilen nach dem Tode zu untersuchen, so habe
ich es für meine Pflicht gehalten, durch die Mittheilung meiner Resultate etwas
zur Lösung der noch immer schwebenden Frage beizutragen.
II. Fremde Beobachtungen.
Zur Beantwortung der erhobenen Frage kam es mir wünschens-
werth vor, auch fremde Beobachtungen zu Rathe zu ziehen. Meine
eigenen Erfahrungen sind nicht zahlreich genug, wenn auch die Re¬
sultate, meiner Meinung nach, in manchem Punkt entscheidend sind.
Ich habe also 60 Beobachtungen Anderer zusammengestellt. Es
wäre leicht gewesen, diese Zahl sehr bedeutend zu vergrössern. Für
das gesteckte Ziel war dies aber unnöthig, ja sogar überflüssig..
ln 19 Fällen wurde die Leiche vor der Beerdigung untersucht.
Die übrigen 41 Beobachtungen beziehen sich auf vor kürzerer oder
längerer Zeit beerdigte Leichen.
In allen der ersten Kategorie zugehörigen Leichen wurde Arsenik
nachgewiesen, in 4 sogar in grosser Quantität. Einer dieser Fälle
betraf ein 17jähriges Mädchen, das 10 Grm. Rattenpulver zu sich
genommen hatte und nach 72 Stunden starb.
Der Zeitverlauf zwischen dem Tode und der Untersuchung war
sehr verschieden (Minimum 17 1 2 Stunden, Maximum 4 Tage).
Die Fäulniss der Leichen war in sehr verschiedenem Grade fort¬
geschritten. Dieser Unterschied fand aber fast ohne Ausnahme seine
Erklärung in der Jahreszeit, worin der Tod stattfand, und in der
Zeitdauer nach dem Tode.
Hieraus ist also zu sc,hlicssen, dass der bei Lebzeiten
beigebrachte Arsenik in den ersten Tagen nach dem Ab¬
sterben die Leichen-Fäulniss nicht beeinflusst. —
Ich komme jetzt zu den beerdigten Leichen, 41 an der Zahl.
ln 6 Fällen wurde kein Arsenik in der Leiche vorgefunden. Ich
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UNIVERSUM OF IOWA
254
Dr. T. Zaaij e r,
habe diese Fälle doch mitaufgenommen, obgleich der positive Beweis
einer stattgefundenen Arsenik-Vergiftung fehlt. Zwei dieser Fälle sind
dem Prozess Ursinus entnommen und konnten als historisch wichtig
nicht übergangen werden; in den übrigen Fällen beweisen die sonstigen
Umstände die Vergiftung mit genügender Sicherheit. In einem Falle
(der Schädel und verschiedene Knochenreste wurden nach mehr als
20 Jahren im Sarge gefunden) waren die Sachkundigen über das
Vorhandensein des Giftes uneinig. Arsenik wrnrde in allen übrigen
Leichen in geringerer oder grösserer Quantität nachgewiesen. 6 Mal
war eine reichliche Menge des Giftes vorhanden.
Die kürzeste Zeit, zwischen dem Tode und der Untersuchung
verlaufen, war 7 Tage (2 Fälle); der längste Zeitverlauf nach dem
Tode war 22 Jahre (der bekannte Fall von Steinhäuser).
Zwei Mal wurden geringe Fäulnisszeichen vorgefunden. Der Ein¬
fluss der Jahreszeit (die Leichen waren im Winter begraben) auf den
Gang der Fäulniss ist hier nicht zu leugnen.
Weit fortgeschrittene Fäulniss fand sich 9 Mal (nach 3 Monaten,
15 Tagen, 8 Tagen, 7 Monaten, 13 Tagen, 9 Tagen, 4 Wochen, 7 Tagen,
13 Tagen).
In 13 Fällen waren die Weichtheile ganz o$er fast ganz ver¬
schwunden (nach 3 Jahren und 3 Monaten, 3 Jahren und 9*/ 2 Monaten,
2 Jahren und 3 Monaten, 4 Jahren, 10 Monaten). In den übrigen 8 Fällen
hatten die Leichen länger als 6 Jahre im Grabe gelegen (15 Jahre,
7 Jahre, 10 Jahre und 5 Monate, 6'/ 2 Jahre, 8 Jahre, 22 Jahre,
14 Jahre, mehr als 20 Jahre).
Die restirenden 17 Leichen boten mehr oder weniger deutliche
und mehr oder weniger vollständige Zeichen der Mumification dar.
An einer Leiche wurden schon nach 3 Monaten (am frühesten unter
den mitgetheilten Fällen) geringe Spuren der Mumification beobachtet.
An einer anderen Leiche wurde 6 Jahre nach dem Tode (Maximum)
die Haut der Bauchdecke, der Oberschenkel und der Kniegelenke
mumificirt gefunden. Die Weichtheilc der Leichen, welche vor
mehr als 6 Jahren bestattet waren, waren ganz oder beinahe ganz
verzehrt.
Die Mumification trifft relativ häufig die Bauchwand.
Die Bauchwand allein war mumificirt in 3 Fällen. Mumification
der Bauch wand nebst der der Brustwand fand sich ebenso 3 Mal.
Dabei kam Mumification des Gesichts (2 Mal), der Haut des rechten
Vorderarms und der Hand-, Knie- und Fussgelenkc (1 Mal) vor. In
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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung.
255
einem Falle war die Haut der Bauchwand, der Oberschenkel und der
Kniegelenke mumificirt.
In 7 Fällen fand sich mehr vollständige Mumification des ganzen
Körpers, wenigstens der Haut, vor.
Zur Lösung der Mumificationsfrage sind die Controle-Beobach-
tungen, welche von einigen Autoren mitgetheilt sind, von der höchsten
Wichtigkeit. Keber erwähnt Folgendes:
Die Leiche eines Mannes wurde nach 3 Jahren und 5 Monaten exhumirt.
Der Boden des Kirchhofes war abschüssig. Das Grab lag am erhabensten Theile
des Kirchhofes. Der Sarg war unversehrt. Die Bauchwand und die Haut des
rechten Vorderarmes, der Hand-, Knie- und Fussgelenke waren mumificirt. Arsenik
wurde in Leber, Herz, Bauchdecke und in den Ueberresten der Baucheingeweide
nachgewiesen. Auf demselben Friedhofe wurde eine andere Männerleiche nach
3 Jahren und 9 Monaten exhumirt. Man vermuthete, dass auch dieser Mann
mit Arsenik vergiftet war. Es zeigte sich jedoch später, dass er an Apoplexie
gestorben war, während keine Spur von Arsenik in der Leiche nachgewiesen
werden konnte. Diese Leiche war ebenso zum Theil mumificirt und einige Or¬
gane waren noch besser erhalten als im vorigen Falle. Keber erwähnt noch
einer dritten, nach 5 ,; 2 Jahren ausgegrabenen Leiche, welche grösstentheils gut
erhalten und mumificirt gefunden wurde. Auch hier war keine Spur von Arsenik
nachzuweisen.
Es ist deutlich, dass der wohlbewahrte Zustand dieser Leichen
von anderen Ursachen, als von dem fäulnisswidrigen und mumifici-
renden Einflüsse des Arseniks bedingt wurde.
Ich erinnere weiter an die von Kelp mitgetheilten Fälle:
Drei Leichen (Vater, Mutter und Tochter) lagen auf demselben Kirchhofe
neben einander. In den Leichen des Vaters und der Tochter wurde Arsenik vor¬
gefunden, in derjenigen der Mutter, bei der von stattgehabter Vergiftung nicht
die Rede war, nicht. Die drei Leichen zeigten ungefähr denselben Fäulnissgrad.
Der Vater war vor 6V 2 Jahren, die Tochter vor 8 Jahren, die Mutter vor
9 Jahren gestorbon.
Zum Schluss erwähne ich noch die Beobachtung Gaulke's, der
eine arsenikfreie Leiche 8 Jahre nach dem Tode besser bewahrt fand,
als eine andere arsenikhaltende Leiche, welche nach 4 Jahren ex¬
humirt wurde.
• Die an den ausgegrabenen Leichen erworbenen Resultate werden
im letzten Capitel näher besprochen werden.
III. Eigene Beobachtungen.
Meine eigenen Beobachtungen sind 18 an der Zahl; 16 davon
beziehen sich auf den Prozess der Frau van der Linden. Kurz nachher
wurden noch zwei Frauenleichen von uns untersucht, welche wegen
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Dr. T. Zaaijer,
Vermuthung auf Vergiftung ausgegraben waren, die erste 48 Tage,
die zweite 2 Jahre nach dem Tode. In keiner dieser Leichen wurde
weder Arsenik, noch irgend ein anderes Gift aufgefunden. Ich glaubte
jedoch, diese Beobachtungen nicht unerwähnt lassen zu dürfen. Die
erste Leiche war wichtig des in kurzer Zeit weit fortgeschrittenen
Fäulnissgrades wegen; die zweite ist ein sehr interessanter Beitrag durch
den Zustand der Mumificirung, worin wir die Leiche angetroffen.
Dem Wohlwollen meines verehrten Collegen van der Burg ver¬
danke ich die Mittheilung der chemischen Untersuchungsresultate.
Ich lasse die Beobachtungen hier in chronologischer Ordnung folgen.
I. Maria van der Linden, Ehefrau des Hendrik Frankhuizen (III),
Schwägerin der Damnatin, 43 Jahre alt.
Section am 15. December 1883, Vormittags 10 Uhr, 52 Stunden nach
dem Tode.
Die Leiche ist von gutem Ernährungszustände, massigem Fettpolster, kräf¬
tiger Muskulatur. Starke Leichenstarre an den unteren Extremitäten; diese ist
an den oberen Extremitäten viel geringer und fehlt beinahe ganz am rechten
Arm. Ausgedehnte Todtenflecken an der Rückenfläche des Rumpfes. Die Bauch¬
docke ist an verschiedenen Stellen grünlich gefärbt. Die linke Brust ist viel
grösser als die rechte. Lippen roth ohne Erosionen oder merkbaren Substanz¬
verlust. Mundhöhle, Pharynx, Oesophagus normal mit blasser Schleimhaut. Die
Magenschleimhaut zeigt hier und da, besonders in der Mitte der grossen Curvatur
und im Pylorustheile dunkelrothe Stellen verschiedener Grösse (1—3 Ctm.) mit
Extravasat im Gewebe. Im ersten Theile des Zwölffingerdarms kommt auch eine
derartige Stelle vor. Um die Mitte des Krummdarms ist die Schleimhaut über
eine Länge von 10 Gtm. roth mit starken Gefässinjectionen. Verfettung der
Leber. Leichte Entzündung der Kehldecke und der Ligamenta ary-epiglottica.
Kleine Ecchymosen im Herzmuskelfleisch und unter dem Endocardium.
Chemischer Befund. Arsenik nachgewiesen in der Leber, der linken
Brust und im Inhalte des Magens, des Duodenum und des Dünndarms. In der
Leber entspricht die Menge des Arseniks 0,1236 Grm. arseniger Säure.
Bemerkung. Da die Frau ihr Kind (III) stillte, wurde die linke Brust
zur chemischen Untersuchung der Leiche entnommen. I und III wurden am Abend
des 8. December 1883 vergiftet. Die Damnatin hatte ihnen ein arsenikhaltendes
Pulver in die Abendsuppe gestreut.
II. Hendrik Frankhuizen, Sohn von 1 und III, 8 Monate alt.
Section am 15. December 1883, Nachmittags um 2 Uhr, 35 Stunden
nach dem Tode.
Gut genährte Kindesleiche. Geringe Leichenstarre nur an den unteren
Extremitäten. Ausgedehnte Todtenflecken an der Rückenfläche des Rumpfes und
der Glieder. Keine Zeichen der Fäulniss. Mundhöhle. Pharynx, Oesophagus
normal. Um die Mitte der grossen Magencurvatur befindet sich ein circumscripter,
rother Flecken (1,5 — 2 Ctm.) ohne Substanzverlust. Sehr grosse Mesenterial¬
drüsen. Einzelne Peyer’sohe Drüsengruppen roth und angeschwollen. Scbleim-
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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung. 257
haut des Dickdarms über eine grosse Strecke roth und geschwollen. Verfettung
der Leber.
Chemischer Befund. Arsenik in geringer Menge im Mageninhalt, noch
weniger im Darminhalt. Der in der Leber (Gewicht 310 Grm.) nachgewiesenen
Menge des Arseniks entspricht 0,0165 Grm. arseniger Säure.
III. Hendrik Frankhuizen, Wittwer von L Vater von III, 35 Jahre alt.
Section am 20. December 1883. Nachmittags um 2 Uhr, 14Stunden
nach dem Tode.
Wohlgenährte Leiche mit kräftiger Muskulatur. Sehr starke Leichenstarre
des ganzen Körpers, der einer erstarrten Masse glich. Ausgedehnte Todten-
flecken an der Rückenfläche des ganzen Körpers. Keine Fäulnisszeichen. Stellen¬
weise Verlust der Oberhaut am rechten Ohr, am linken oberen Augenlid, am
rechten Arm, an der rechten Hinterbacke, am Scrotum.
Der sichtbare Theil der Lippenschleimhaut ist roth, hier und da mit
schwarzen, sich leicht lösenden Krusten bedeckt. Substanzverlust unter den
Krusten. Kleinere, trockene, gräuliche Krusten finden sich an der unteren Hälfte
der Wangen, insbesondere der rechten, bis in den unrasirten Bart.
Die Schleimhaut der Zungenwurzel ist roth. stark angeschwollen, ohne
Substanzverlust. Am rechten Arcus palato-glossus ist eine Stelle (1 Ctm. lang
und 0,5 Ctm. breit) mit einer gelblichen, speckigen Masse bedeckt; der Boden
ist roth mit Substanzverlust.
Vom Isthmus faucium bis zum After ist die Schleimhaut des Darmtractus
dunkelrotb bis schwarz, stark geschwollen, jedoch ohneGeschwüre oder Erosionen.
Das Epithel der Darmzotten ist bis auf einige Fetzen verschwunden. Verfettung
der Leber, der Nieren, des Herzens und des Magendrüsenepithels. Erosive. von
einer gelblichen Masse bedeckte Stellen finden sich am linken Obenrande und
an der Hinterfläche der Kohldecke und auf den Ligamenta ary-epiglottica: der
Boden ist roth, leicht blutend. Croupöse Entzündung des Kehlkopfes, der Luft¬
röhre und des linken Bronchus. Mässige Pleuritis rechts.
Chemischer Befund. Arsenik wurde in der Leber, den Nieren, dem
Inhalt des Dünn- und Dickdarms vorgefunden, konnte aber im Inhalt des Magens,
des Duodenum und im Liquor pericardii nicht nachgewiesen werden. In dom
im Leben entleerten Urin waren Spuren Arsenik vorhanden. In der Leber allein
ist eine Quantität Arsenik gefunden, 0,05211 Grm. arseniger Säure entsprechend.
Bemerkung. Der Mann lebte noch 11 Tage, nachdem er das Gift zu sich
genommen hatte.
IV. Susanna Aben, 5 Jahre alt.
Section am 21. December 1883, Vormittags um 9 1 2 Uhr, 20 Tage nach
dem Tode.
Beim Oeffnen des Sarges verbreitet sieb ein modriger Geruch. Die Leiche
stammt yon einem wohlgenährten Kinde. Geringe Leichenstarre an den unteren
Gliedern. Augen lief eingesunken. Die Haut hat eine grüne Farbe an den
rechten Augenlidern, auf dem Kehlkopfe, an den ersten vier Ripponknorpeln der
linken Seite, an der Bauchdecke und links bis über das Hypochondrium hinauf.
Die Haut des Rückens und der Lendengegend ist bläulichroth, an den Hinter¬
backen mehr roth. An der Palmarfläche der Hände und an der Sohlenfläche der
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Dr. T. Zaaijer,
Füsse ist die Haut feucht, gerunzelt. Eine dünne, weisse Schimtnellage bedeckt
die Innen- und Vorderfläche der Oberschenkel und (wenn etwas dicker) die Um¬
gebung der Mund- und Nasenöffnung.
Die Schleimhaut an der Znngenwurzel blass, stark angeschwollen. Die
Magenschleimhaut ist glatt, meistens gräulich, stellenweise röthlich gefärbt.
Zwei Invaginationon iui Krummdarme, die eine ist 5, die andere 3 Ctm. lang.
Einzelne Partieen der Schleimhaut des Dünndarms und Dickdarms sind ge¬
schwollen. An den geschwollenen Stellen sind die solitären Follikel deutlicher
wie anderswo. Einzelne Peyer’sche Drüsengruppen sind roth und geschwollen.
Die Mesenterialdrüsen sind gross.
Chemischer Befund. Arsenik wurde in der Leber, den Nieren, dem
Magen- und Darminhalte vorgefunden. Die Menge des in der Leber gefundenen
Arseniks entspricht 0.01 Grm. arseniger Säure.
V. Catharina Maria Aben. Schwester von IV. 11 Monate alt.
Section am 21. December 1883, Nachmittags um 2 Uhr, 29 Tage nach
dem Tode.
Ein modriger Geruch (wie in feuchten Kellern) verbreitet sich beim Oeffnen
des Sarges. Wohlgenährte Kindesleiche. Am Halse und an beinahe der ganzen
Vorderfläche des Rumpfes ist die Haut grün gefärbt. Unten am Rücken ist ein
handpalmgrosser Theil der Haut ohne Epidermis und von einer grossen Menge
Leichenmaden bedeckt. Eine dünne weisse Schimmellage überzieht die Oben-
und Innenfläche der unteren Extremitäten. In den Leistengegenden und in der
Geschlechtsöffnung wird eine Anzahl Leichenmaden gesehen.* Die Haut an der
Palmfläche der Hände und an der Sohlenfläche der Füsse ist weiss, wie aufge¬
weicht und gerunzelt. Die Augenlider sind tief eingesunken. Die Haut der
Wangen ist gelb, hart beim Anfühlen; die Haut der Extremitäten ist gleichfalls
hart. Leichenmaden sind in die Speiseröhre bis an den Magen hervorgedrungen.
Einzelne nahe an der Bauchwand liegende Darmschlingen sind grün. Einzelno
solitäre Follikel sind geschwollen. Leichenmaden werden bis in den Bronchial¬
ästen dritter Ordnung gesehen. Ein grosser Theil des unteren hinteren Lappens
der rechten Lunge ist atelectatisch.
Chemischer Befund. Arsenik wurde in der Leber, den Nieren, dem
Magen- und Darminhalte vorgefunden. Berechnet als arsenige Säure kommt auf
die ganze Leber (Gewicht 317 Grm.) 0,0086 Grm.
VI. Arend de Hees, Neffe der Damnatin. Sohn von VII, Bruder von VIII,
21 Jahre alt.
Section am 27. December 1883, Vormittags um 9 1 /, Uhr, 2 Jahre und
2 Monate nach dem Tode.
Ekelhafter Geruch (wie im Abzugsgraben). Die Weichtheile des Gesichts
fehlen zum Theil. Die noch übrige Haut ist hart, aber leicht zu durchschneiden.
Die Brust- und Bauchhöhle sind geschlossen, aber besonders die letztere stark
eingesunken. Die Haut, besonders der Bauchdecke, ist consistent, aber leicht
zu schneiden; ihre Farbe ist hellbraun. An den oberen Gliedern sind die Weich¬
theile verschwunden. Die Obcrschenkelhaut ist der der Bauchdecke ähnlich. Die
Muskeln bilden eine weiche, missfarbige Masse. Am linken Unterschenkel fehlen
die Weichtheile. Am rechten Unterschenkel sind sie noch zum Theil da; die
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Des Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung.
259
Haut ist ebenfalls consistent. Das Gehirn bildet eine äusserst übelriechende
Masse. Von den Hirnhäuten ist nichts zu finden. Die Weichtheile der Mund¬
höhle, des Halses und Nackens fehlen. Von den Brustorganen ist nichts mehr
zu erkennen. Die Leber und einzelne Darmschlingen sind noch zu unterscheiden.
Magen und Milz sind nicht zu finden. An der Steile der Nieren liegt eine
schmierig graue Masse.
Chemischer Befund. Arsenik wurde nachgewiesen in grosser Menge in
der Leber, dem Gedärme, den Nieren, in geringer Quantität aber im Gehirn, im
Haupthaar und in der Flüssigkeit aus dem Sarge. Die im Gedärme und in den
Nieren (Gesammtgewicht 1120 Grm.) vorhandene Menge Arsenik entspricht
0,1074 Grm. arseniger Säure.
Bemerkung. Beim Ausgraben war der Sarg grösstentheils gefüllt mit
einer wasserähnlichen, schwarzen, ekelhaft nach Abzug riechenden Flüssigkeit.
Der Schwere wegen war ein grosser Theil dieser Flüssigkeit entfernt. Bei der
Section war die Flüssigkeit noch zu einer Höhe von 8 Ctm. im Sarge vorhanden.
VII. Cornelia van der Linden, Wittwe des Petrus Jacobus de Hees,
Schwägerin der Damnatin, Mutter von VI und VIII, 46 Jahre alt.
Section am 27. December 1883, Nachmittags um 1 l / a Uhr, 2 l / 2 Jahre
nach dem Tode.
Die Leiche ist von einem Sohne der Verstorbenen erkannt. Das Fettpolster
ist sehr dick. Das behaarte Haupt ist von einer dicken weissen Schimmellage,
wie von einer Mütze, überzogen. Die Haut des Gesichts ist gelbbraun, von einer
schlüpfrigen Masse bedeckt. Die Nasenspitze fehlt. Die Augenlider sind tief ein¬
gesunken. Fettwachs unter der Wangenhaut und in den Augenhöhlen, welche
damit ausgefüllt sind. Am Halse und am Nacken sind die Weichtheile fast ganz
verschwunden. Körperhöhlen geschlossen. Die Haut der Brust und des Bauches
ist gelbbraun, schlüpfrig, weich. Bauch tief eingesunken. Die Haut der auf der
Nabelgegend ruhenden linken Hand ist dunkelbraun, trocken und hart. Die
Fäulniss des ganzen rechten Arms ist weit vorgeschritten. Die unteren Glieder
sind in Verbindung mit dem Rumpfe und haben ihre Form beibehalten. Das
Gehirn ist in eine graue, breiartige Masse verwandelt. Die Zunge bildet eine
weiche, schmierige Masse. Lungen zu unterscheiden. Vom Herzen findet sich
ein Stück, wahrscheinlich der linken Kammer. Leber zu unterscheiden. Magen
und Milz nicht zu finden. Eine ekelhaft stinkende Masse liegt an der Stelle der
Nieren. Einzelne Darmschlingen sind noch zu erkennen. Viel Fettwachs in der
Umgebung des rechten grossen Lendenmuskels und an vielen anderen Stellen.
Chemischer Befund. In der Leber und ihrer Umgebung (Gewicht
692 Grm.) ist eine Menge Arsenik nachgewiesen, welche 0,239 Grm. arseniger
Säure entspricht. Die übrigen Organe sind nicht untersucht.
VIII. Willem de Hees, Neffe der Damnatin, Sohn von VII, Bruder von VI,
18 Jahre alt.
Section am 28.December 1883, Vormittags um 9Uhr, beinahe 2 1 /., Jahre
nach dem Tode.
Die Weichtheile sind fast ganz verzehrt. An den Hü ft- und Kniegelenken
finden sich Ueberreste der Gelenkbänder vor. Die Leber bildet eine trockene,
dunkelgraue Masse mit sehr unebener Oberfläche (Gewicht 150 Grm.).
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Dr. T. Zaaijer,
Chemischer Befund. In der Leber und ihrer Umgebung (Gesammt-
gewicht 158 Grm.) ist eine Quantität Arsenik vorgefunden, welche 0,01257 Grm.
arseniger Säure entspricht.
Bemerkung. Die Form der Beckenknochen erhob das Geschlecht der
Leiche über allen Zweifel. Hieraus und aus dem Verhalten der Synchondrosis
spheno-occipitalis, der Zähne und verschiedener Röhrenknochen war zu schliessen,
dass die Leiche von einem ungefähr 18 jährigen Jüngling stammte. Wir glaubten
ferner die Ursache der beinahe vollkommenen Zersetzung der Weichtheile im muth-
masslich hohen Fäuinissgrade der Leiche bei der Bestattung suchen zu müssen.
Die Temperatur war damals in Leiden sehr hoch (S. unten).
IX. Johanna Maria Oosterbrug, Ehefrau des Dirk van der Lin¬
den, angeheirathete Tante der Damnatin, 55 Jahre alt.
Section am 3. Januar 1884, Vormittags um 9 Uhr. 1 Jahr und 5 Monate
nach dem Tode.
Die Leiche ist vom Eheraanne erkannt. Wenig Geruch. Stirn und Haupt¬
haar mit einer weissen Schimmelkruste überzogen. Die Haut des Gesichts ist
unter einer schmutzigen, schwarzbraunen, weichen Schicht ziemlich consistent.
Augenlider tief eingesunken. Ohrmuschel und Nasenspitze fehlen. Die Nasen¬
beine liegen offen zu Tage. Körperhöhlen geschlossen. Bauchwand tief einge¬
sunken. Haut des Rumpfes weisslich, stellenweise mehr braun gefärbt. Die
harte Hirnhaut ist unversehrt. Einzelne Gehirnwindungen sind noch vorhanden;
der Unterschied zwischen grauer und weisser Gehirnmasse ist noch bemerkbar.
Das Gehirn hat einen äusserst ekelhaften Geruch. Die Fossae spheno maxillares
sind mit Fettwachs ausgefüllt. Die Weichtheile des Mundes und des Halses sind
fast ganz verschwunden. Bei der Oeffnung der trocknen Brusthöhle verbreitet
sich ein eigenthiimlich saurer Geruch, wie von Milchsäure. Lungen sehr zusam¬
mengefallen neben der Wirbelsäule. Herz normal. Innenfläche der Aorta glatt.
Von der Speiseröhre ist nichts zu sehen. Die Bauchorgane sind zu unterscheiden;
von den Beckenorganen aber (Gebärmutter, Eierstöcke. Harnblase) ist keins mehr
zu erkennen.
Chemischer Befund. In 100 Grm. der Leber wurde nur eine Spur des
Arseniks vorgefunder.. Die übrigen Organe sind nicht untersucht.
X. Willem Fuchs, Wittwer der Hester Bekooy, 64 Jahre alt.
Section am 3. Januar 1884, Nachmittags um 1V 2 Uhr, 1 Jahr und
1 1 Monate nach dem Tode.
Eine dünne, schwärzliche, ekelhaft nach Abzug riechende Flüssigkeit be¬
deckt den Boden des Sarges zu einer Höhe von 12 Otm. Die Leiche liegt
grösster»theils in dieser widerwärtigen Flüssigkeitsmasse und ist nicht wieder zu
erkennen. Die Haut des behaarten Kopfes ist zum Theil verschwunden. Die linke
Ohrmuschel ist noch da. während die rechte fehlt. Augenlider tief eingesunken.
Die Weichtheile der Nase sind verzehrt. Die gelblichgraue, weiche Haut des
Gesichts ist von einer schlüpfrigen Schicht überzogen. Die Rumpfhaut ist leicht
braun. Die Weichtheile der Glieder sind zum Theil verschwunden. Die Fossae
spheno-maxillares sind mit Fettwachs ausgefüllt. Das Gehirn ist als eine schmutzig¬
graue, sehr übelriechende Masse von der harten Hirnhaut umgeben. Von den
Weichtheilen der Mundhöhle und des Halses sind nur wenig Ueberreste zu er-
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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung.
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kennen. Lungen dunkelblau, breiartig. Die Warzenmuskeln, Chordae tendineae
und Klappen des Herzens sind wohl zu unterscheiden. Die Innenfläche der Aorta
ist glatt. Speiseröhre und Magen fehlen. Leber und einzelne Darmschlingen wohl
zu unterscheiden.
Chemischer Befund. Als aiöenigc Säure berechnet wurde aus der ganzen
Leber (Gewicht 512 Grm.) 0,04534 Grm. abgesondert. Die übrigen Organe sind
nicht untersucht.
XI. Abraham Fuchs. Sohn von X. 29 Jahre alt.
Section am 4. Januar 1884, Vormittags um 9 Uhr, 1 Jahr und 9 Monate
nach dem Tode.
Die Leiche ist von einem Beksinnten des Verstorbenen wieder erkannt. Die
Haut der Stirn und des Gesichts ist ziemlich trocken. Augenlider tief eingesunken.
Die Weichtheile der Nase und die rechte Ohrmuschel sind verzehrt. Die Haut an
der Vorderfläche des Rumpfes ist trocken, am Bauche bräunlich schwarz, auf der
Brust etwas leichter tingirt, weich beim Durchschneiden. Körperhöhlen ge¬
schlossen. Fettpolster gering. Weichtheile der Extremitäten grossentheils ver¬
schwunden. Das Gehirn bildet eine äusserst ekelhafte, graue, modrige Masse,
welche einen unerträglichen Geruch verbreitet. An den Weichtheilen der Mund¬
höhle, des Pharynx und des Halses ist nichts mehr zu erkennen. Lungen durch
Adhäsionen mit der Brustwand verwachsen. Herz klein, Klappen normal. Innen¬
fläche der Aorta glatt. Magen gut erhalten, nicht von der Milz zu trennen.
Leber, Gedärme und Nieren wohl zu unterscheiden. Pancreas und Harnblase
nicht zu finden.
Chemischer Befund. Als arsenige Säure berechnet wurde aus der Leber
(Gewicht 582 Grm.) 0,075 Grm. abgesondert. Die übrigen Organe wurden
nicht untersucht.
XII. Lambertus van der Linden. Wittwer der Maria van der Mark,
Schwager der Damnatin, 50 Jahre alt.
Section am 4. Januar 1884, Nachmittags um 1 1 2 Uhr, 2 Jahre und
11 Monate nach dem Tode.
Die Haut des Gesichts ist dunkelbraun, schlüpfrig, an den Jochbeinen von
weissen Schimmelflecken bedeckt. Die Augenlider sind wenig eingesunken. Die
Weichtheile der Nase und die linke Ohrmuschel fehlen. Die Lippen sind dünn,
wie ausgetrocknet. Die Haut des Halses (insofern sie noch da ist) und des
Rumpfes ist braun, feucht. Die Brusthöhle liegt an der rechten Seite offen da.
Der Bauch ist tief eingesunken und die Haut ist beiderseits dem Darmbeinkamme
entlang eingerissen. Die Fäulniss der oberen Glieder ist weit vorgeschritten. Die
linke Hand liegt mit der Palmarfläche der Regio epigastrica an. Die Haut der
Rückenfläche (mit Einbegriff der ersten Phalangen) ist trocken und hart. An der
Palmarfläche ist der noch restirende Theil der Haut, weich. Die kleinen Daumen¬
muskeln sind grösstentheils verzehrt. Viel Fettwaclis an der Vorder- und Innen¬
fläche der Oberschenkel. Die Muskeln der Unterschenkel sind fast ganz zersetzt.
Augenhöhlen und Fossae spheno-maxillares mit Fettwachs ausgefüllt. Das Gehirn
verbreitet einen äusserst ekelhaften Geruch. An den Weichtheilen der Mundhöhle,
des Pharynx und des Halses ist nichts mehr zu erkennen. Die Lungen liegen als
eine dunkelblaue, schmutzige, breiartige Masse neben der Wirbelsäule. Ein Stück
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Dr. T. Zaaijor,
des Herzens, wahrscheinlich der linken Kammerwand, ist noch zu erkennen. Das
Diaphragma fehlt. Loher sehr klein. Von den übrigen Bauchorganen sind nur
einzelne Darmschlingon zu unterscheiden.
Chemischer Befund. Die in der Leber und einem anhängenden Lungen-
sliiek (Gesamnugewicht 395 Grm.) Vorgefundene Menge Arsenik entspricht
0.0255 Grm. arseniger Säure. Die übrigen Organe wurden nicht untersucht.
XIII. PetronellaJohannaSwanenburg, Wittwe des Johannes Le -
pelaar (XIV). Schwester der Damnatin, 35 Jahre alt.
Section am 10. Januar 1884, Vormittags um 9 Uhr, 7 1 ., Monate nach
dem Tode.
Die Leiche ist von verschiedenen Verwandten der Verstorbenen reoognoscirt.
An verschiedenen Stellen ist das Haupt von weissen Schimmelflecken bedeckt. Die
Haut des Gesichts ist schmutzig grün, schlüpfrig. Die Augenlider sind tief ein¬
gesunken. Die Haut des Halses, des Rumpfes und der Extremitäten ist braun,
an der Innenfläche der Oberschenkel jedoch bläulichschwarz. An der linken
Wade ist die Oberhaut in grossen, von einer schmutzig braunen Flüssigkeit ge¬
füllten Blasen erhoben. Körperhöhlen geschlossen. Bauchwand tief eingesunken.
Die Muskeln der Extremitäten sind leicht zu unterscheiden; ihre Farbe ist roth
oder heilbraunroth. Am behaarten Kopfe löst die Haut sich leicht. Die harte
Hirnhaut ist boinahe unverändert. Die schmutziggraue Gehirnmasse ist rechts
consistenler als links und hat einen stark faulenden Geruch. Die Weichtheile
der Mundhöhle, des Pharynx und des Halses lasson sich wohl unterscheiden. Die
Spitze der rechten Lunge ist mit der Brustwand verwachsen. Die dunkel ge¬
färbten Lungen bilden eine schwarze, modrige Masse. Das Herz ist gut erhalten.
Die Innenfläche der Aorta ist glatt. Die Speiseröhre ist deutlich zu unterscheiden.
Magen, Gedärme. Leber, Pancreas und Nieren sind da. Einzelne Pyramiden, Mark-
und Rindensubstanz sind wohl zu erkennen. Die Harnblase ist mässig mit Gas
angefüllt. Die Gebärmutter bildet eine schmutzige, missfarbige Masse. Von den
Eierstöcken ist nichts zu finden.
Chemischer Befund. Die Menge des Arseniks aus der ganzen Leber
(Gewicht 70G Grm.) abgesondert, entspricht 0,074 Grm. arseniger Säure. Die
übrigen Organe wurden nicht untersucht.
XIV. Johannes Lepelaar, verheirathet mit XIII, Schwager der Dam¬
natin, 32 Jahre alt.
Section am 10. Januar 1884, Nachmittags um 1 1 2 Uhr, 11 Monate
nach dem Tode.
Die Leiche ist von Verwandten des Verstorbenen recognoscirt. Beide Ohr¬
muscheln sind da. Die Nasenbeine liegen offen zu Tage. Die Nasenspitze ist
weich, hinabgesunken. Das Haupthaar ist nass. Die Haut der Stirn und des
Gesichts ist braun, schlüpfrig; an jeder Wange ist eine grünlich tingirte Stelle.
Die Haut des Halses und des Rumpfes ist braun und hart, derjenigen des ge¬
räucherten Schinkens am meisten ähnlich. Körperhöhlen geschlossen. Bauch tief
eingesunken. Die Ruthe ist platt, schwarz, eingetrocknet. Die Haut des rechten
Oberarms ist an der Oberfläche dunkelbraun, lederzähe, an der Unterfläche da¬
gegen weich und weisslich. Die Muskeln sind weich, blass, nicht deutlich zu
erkennen. Die Haut des Vorderarms und der Hand ist ebenso dunkelbraun und
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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung.
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lederartig; die Muskeln sind hellbraun gefärbt. Die Nägel hallen noch. Die
Haut des linken Oberarms ist an der Oberfläche dunkelbraun und zähe; die Mus¬
keln sind braun. An der Unterfläche ist die Haut weisslic-h, sehr gut erhalten,
wie kurz nach dem Tode. An der Oberfläche des Vorderarms ist die Haut braun,
sehr zähe; an der Unterfläche ist ein Thcil der Haut verzehrt Die Muskeln sind
halb verzehrt. Dio Nägel hallen noch. Die Haut der unteren Extremitäten ist
lederhart, braunroth mit schwarzen Flecken; das Fettpolster ist 1 Ctm. dick.
Kräftige Muskulatur. Die Muskeln sind weich, röthlichbraun. Beim Durch¬
schneiden kommt eine dünne, blutige Flüssigkeit aus deu grossen Blutgefässen
hervor. Die harte Hirnhaut ist intact. Das Gehirn bildet eine dunkelgraue,
weiche kleiartige Masse, welche einen unbeschreiblich ekelhaften Geruch ver¬
breitet. Die Weichtheile der Mundhöhle, des Pharynx und des Halses sind beinahe
alle wohl zu unterscheiden. Lungen dunkelblau, zusammengefallen, stellenweise
mit Adhäsionen. Schleimhaut der Trachea und Bronchi trocken, dunkelbraun
gefärbt. Herz klein; Höhlen und Klappen normal. Innenfläche der Aorta ebenso.
Schleimhaut der Speiseröhre schieferartig blau, mit einer schmutzig grauen,
dünnen, schleimigen Masse überzogen. Diaphragma intact. Die Haut der Bauch¬
wand ist lederzäh; die Muskeln sind hellbraun gefärbt; das Bauchfell ist matt-
weiss. Magen klein, ohne Inhalt; Mucosa schieferblau, stellenweise gefaltet. Dio
Gedärme sind platt, ihre verschiedenen Abtheilungen schwer von einander zu
trennen. Leber schmutzig blau. Milz sehr klein, geschrumpft. Die Nieren bilden
eine schmutzig graue, weiche Masse. Die Harnblase ist leer.
Chemischer Befund. Die in der Leber (Gewicht 694 Grm.) Vorge¬
fundene Quantität des Arseniks entspricht 0,032 Grm. arseniger Säure. Die
übrigen Organe wurden nicht untersucht.
XV. Clement Swanenburg, Wittwer von XVI. Vater der Damnatin,
72 Jahre alt.
Section am 11. Januar 1884, Vormittags um 9 Uhr, 1 l / 2 Jahr nach
dem Tode.
Die Leiche wurde von zwei Söhnen des Verstorbenen recognoscirt. Die
Haut der Stirn und des Gesichts ist feucht, hellgrau, stellenweise gelblich tingirt
mit einzelnen weissen Flocken. Augenlider nicht eingesunken. Die Haut des
Halses ist hellgelb; an der Vorderfläche des Rumpfes ist die Farbe mehr hell¬
grau. Die Körperhöhlen sind geschlossen. Bauch wenig eingesunken. Die Haut
der Glieder ist blass und mürbe. Die Muskeln sind weich, hellroth und braun¬
gelb gefärbt. An den Händen hat die Oberhaut sich in grossen Lappen gelöst;
die Nägel sind meistens gelöst oder abgefallen. Die Schienbeine liegen beinahe
ganz zu Tage. Die Nägel der Zehen sind meistens gelöst. Die harte Hirnhaut
ist mattweiss. Das Gehirn ist sehr weich, ekelhaft stinkend; an der Oberfläche
ist die Farbe schmutzig grau. Die weisse Gehirnsubstanz hat ihre normale Farbe.
Die Weichtheile der Mundhöhle, des Pharynx und des Halses sind gut erhalten;
die Schleim häute sind blass. Lungen sehr mürbe, nahezu schwarz, sehr zu¬
sammengefallen, stellenweise mit der Brustwand verwachsen. Grosse Fäulniss-
blasen an der Oberfläche. Schleimhaut der Trachea blass, der Bronchialäste
modrig schwarz. Herzmuskel mürbe, bräunlich. Klappen normal. Kalkplatten im
Bogen und im Brusttheil der Aorta. Schleimhaut der Speiseröhre glatt, dunkel.
Diaphragma unversehrt. Haut der Bauchwand weich, Muskeln gut erhalten.
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Dr. T. Zaaijer,
Bauchfell mattweiss, Bauchhöhle trocken. Bauchorgano wohl conserrirt mit Aus¬
nahme des Pankreas, das nicht zu finden ist.
Chemischer Befund. In 150 Grm. der Leber (Gewicht 410 Grm.) und
im Mageninhalt konnte kein Arsenik nachgewiesen werden. Die übrigen Organe
wurden nicht untersucht.
Bemerkung. Der Mann war Morgens um V 2 9 Uhr noch auf die Strasse
gegangen und starb um 11 Uhr Vormittags, nachdem er ein Brötchen gegessen
hatte. Eine gräuliche, homogen breiartige Masse von ganz frischem Vorkommen
stellte den Mageninhalt dar.
XVI. Johanna Dingjan, Ehefrau von XV, Mutter der Damnatin,
72 Jahre alt.
Section am 11. Januar 1884, Nachmittags um 1 */ a Uhr, 1 Jahr und
9 Monate nach dem Tode.
Die Leiche ist von zwei Söhnen der Verstorbenen recognoscirt. Die Haut
der Stirn und des Gesichts ist weich, schmutzig grau mit grünlich tingirten
Stellen. Die missfarbige Zunge hängt aus dem Munde heraus. Am Halse und an
der Brust ist die Haut blassgelb, am Bauche aber mehr gelb. Körperhöhlen ge¬
schlossen, Bauch tief eingesunken. Die Haut der Arme ist lederzähe. Die Mus¬
keln sind hellroth. ziemlich consistent Die Nägel der Finger sind beinahe alle
abgefallen. Die Haut der Oberschenkel ist blass, zähe. Die Waden sind dick,
die Haut schwarz und hart. Die Muskeln sind hellroth. Die Nägel der Zehen
sind abgcfallen. Die harte Hirnhaut ist consistent. Das Gehirn ist weich, ekel¬
haft stinkend, rothgrau gefärbt. In der Mundhöhle und im Pharynx sind die
Weichtheile gut erhalten. Die Schleimhaut der Speiseröhre ist glatt, schmutzig
schwarz, stellenweise röthlich. Im Keklkopf und in der Trachea ist die Schleim¬
haut dunkelgrau, meist trocken. Beim Oeffnen der Brusthöhle verbreitet sich ein
eigenthümlich saurer Geruch, wie von Milchsäure. Lungen schieferartig blau mit
grossen Zersetzungsblasen. Herzmuskel bräunlich roth, Klappen normal. Innen¬
fläche der Aorta glatt. Diaphragma unversehrt. Haut der Bauchwand fest. Mus¬
keln hellbraun, Bauchfell mattweiss, Bauchhöhle trocken. Der Magen ist der
grossen Curvatur entlang offen, sonst jedoch wohl conservirt. Auch die übrigen
Bauchorgane sind wohl erhalten, mit Ausnahme des Pankieas und der Eierstöcke.
Chemischer Befund. In 100 Grm. der Leber (Gewicht 340 Grm.) ist
keine Spur von Arsenik nachzuweisen. Die übrigen Organe wurden nicht unter¬
sucht. —
XVII. Section der Leiche einer mehr als 30jährigen Frau, 48 Tage
nach dem Tode.
Die Leiche verbreitet einen ekelhaften süsslichen Geruch. Das Haupthaar
ist nass, die behaarte Haut löst sich leicht ab. Die Stirnhaut in der Nähe des
Haares ist braun, trocken; sonst ist die Haut der Stirn und des Gesichts feucht
und schlüpfrig, braun, stellenweise röthlich. Augenlider tief eingesunken. Die
Weichtheile der Nase und die Ohrmuschel sind verschwunden. Der Unterkiefer
liegt in der Nähe des Kinns offen zu Tage. Die Haut des Halses ist hier und da
wie eingerissen, sehr mürbe, gelbbraun. Brust- und Bauchhöhle geschlossen,
Haut hell gelbbraun, weich. Das rechte Schlüsselbein und der obere Theil der
Brustmuskeln sind von der Haut nicht mehr bedeckt. Bauchwand tief einge-
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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung.
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sunken, so dass die Wirbelsäule durch die Bauchdecke hervorragt. Die Verwesung
der oberen Extremitäten ist schon weit vorgeschritten. Die Muskeln sind weich,
aber wohl zu unterscheiden: die Knochenhaut löst sich stellenweise leicht ab. An
der Dorsalfläche der Hände liegen die Strecksehneu ganz offen; die Zwischen¬
knochenmuskeln sind grösstentheiis verschwunden. Die Nägel sind abgefallen, die
Nagelglieder der Daumen ebenso. Die unteren Glieder zeigen ungefähr denselben
Fäulnissgrad. Von der harten Hirnhaut sind nur einige Fetzen übrig geblieben.
Das Gehirn bildet eine gräuliche, sehr übelriecheude Masse. Von den Weich-
theilen der Mundhöhle und am Halse ist wenig zu erkennen. Die Lungen sind
sehr faul, beinahe schwarz, stark zusammengefallen neben der Wirbelsäule. Der
Herzmuskel ist sehr mürbe. Von der Valvula tricuspidalis sind noch einige Fetzen
da. Die Aorta- und Pulmonalklappen sind normal. Die Innenfläche der Aorta ist
glatt, ihr Lumen gering. Von der Speiseröhre ist nichts zu finden. Diaphragma
unversehrt. Die Baucheingeweide sind ziemlich gut erhalten; sie verbreiten je¬
doch einen höchst putriden, süsslicben Geruch. Magen wie ein platter Sack mit
geringem Inhalte. Milz klein, sehr mürbe. Leber sehr weich, modrig; Gewicht
255 Grm.; zahlreiche Tyrosin-Krystalle an der Oberfläche. Pankreas zu erkennen.
Darmschlingen platt, an vielen Stellen mit einander verklebt, leicht zerreissbar.
Nieren weich, schmutzig braun. Gebärmutter wie eine schmutzig braune, weiche
Masse. Harnblase sehr mürbe, leer.
Chemischer Befund. Die Resultate sind negativ.
Bemerkung. Die Frau war unter Symptomen des allgemeinen Hydrops
gestorben. Der Kirchhof hat einen hohen, trocknen Sandboden; der Sarg stand
ungefähr 1 Meter unter dem Sande. Der Boden des Sarges war defect.
XVIII. Section der Leiche einer jungen Frau. 2 Jahre nach dem Tode.
Die Haut des behaarten Hauptes löst sich leicht ab. Der vom Leichentuch
nicht bedeckte Theil des Gesichts ist mit dicken, weissen Schimmelkrusten über¬
zogen. Die Nasenspitze und die linke Ohrmuschel fehlen, von der rechten Ohr¬
muschel ist noch ein kleiner Theil übrig. Die Augenhöhlen sind beinahe leer.
Die Haut ist am Gesicht lederhart, am Halse fehlt sie grösstentheiis. Die Haut
des Rumpfes und der Glieder ist meist trocken und hart; die Farbe ist braun¬
schwarz, an der Vorderfläche des Rumpfes aber etwas heller, an den Ober¬
schenkeln, besonders an der Aussenseite, sehr dunkel, beinahe schwarz. Die
Körperhöhlen sind geschlossen. Die Bauchdecke ist kuppelförmig aufgehoben und
klingt beim Anklopfen. Die Haut der oberen Glieder ist bräunlich, lederzähe.
Rechts ist das Fettpolster consistent; die Muskeln sind braun, stellenweise röth-
lich gefärbt, deutlich zu unterscheiden. An der linken Seite sind die Weichtheile
beinahe ganz in Fettwachs umgewandelt. Die beiden Hände liegen unbedeckt
der Regio epigastrica an; die Dorsalfläche ist von einer dicken weissen Schimmel¬
kruste bedeckt. Die Finger sind braun, die Nägel braunroth; einzelne Nägel sind
gelöst. Die Haut der Hände und Finger ist trocken, lederartig. Die dicken Ober¬
schenkel liegen knapp aneinander. Die Haut ist lederhart. Das Fettpolster ist
fest, an der Innenfläche 3—4 Ctm. dick. Die kräftigen Muskeln sind vollkommen
erhalten und sehen meist ganz frisch aus; die Farbe ist frisch roth, stellenweise
etwas bräunlich. Beim Durchschneiden der Muskeln verbreitet sich ein sehr
Viert»»IJatarsselir. f. -er. Mod. N. F. XUV. 2. iv
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Dr. T. Zaaijer,
starker Geruch nach altem faulendem Käse. Die Muskeln der Unterschenkel sind
etwas leichter gefärbt und an der Unterseite stellenweise etwas missfarbig. Am
rechten Fusse ist die Haut hart und trocken, am linken dagegen schlüpfrig. Von
den Hirnhäuten ist nichts zu sehen. Das Gehirn bildet eine schmutzig grane,
ziemlich consistente Masse von einem äusserst ekelhaften, putriden Geruch. Fett¬
wachs in der rechten Fossa spheno-maxillaris. Die Weichtheile der Mundhöhle,
des Pharynx und des Halses sind verschwunden. Die Haut der Bruslwand ist
hart, das Fettpolster dick und fest, die Muskeln sind blass. Der Nervus
phrenicus mit den begleitenden Blutgefässen ist beiderseits deut¬
lich zu sehen und weiter zu verfolgen. Das Herz ist im Herzbeutel sehr
gut conservirt. Muskelsubstanz trocken, braun. Klappen normal. Innenfläche der
unversehrten Aorta glatt. Speiseröhre nicht mehr zu erkennen. Die beinahe
schwarzen Lungen liegen ganz frei, stark zusammengefallen, knapp an der
Wirbelsäule. Grosse Zersetzungsblasen an der Oberfläche. Diaphragma intact.
Die kuppelförmig aufgehobene Bauchdecke behält ihre Form nach dem Durch¬
schneiden. Beim Oeffnen der Bauchhöhle verbreitet sich wieder der üble Geruch
von altem faulendem Käse. Haut lederartig, zähe; Fettpolster 2—3,5 Gtm. dick,
consistent; Muskeln braun, dünn wie ausgetrocknet; Bauchfell glänzend. Die
Eingeweide liegen der Hinterfläche der Bauchhöhle platt an. Magen geschlossen,
nach unten hinabgesackt, schwer von der Umgebung zu trennen. Pankreas nicht
zu finden. Leber bläulich grau, Gewicht 250 Grm. Zersetzungsblasen verschie¬
dener Grösse zeigen sich beim Durchschneiden. Milz zum Tlieil erkennbar,
schwer zu isoliren. Darmschlingen platt, gelbroth, miteinander verklebt. Nieren
weich, von der Umgebung nicht zu trennen. Harnblase leer. Gebärmutter wohl
conservirt. Eierstöcke und Eileiter wohl zu unterscheiden.
Chemischer Befund. Die Resultate sind negativ.
Bemerkung. Die Gruft war trocken, der Sarg wie neu, gut schliessend,
hatte an allen Seiten frei in der Gruft gestanden. Die Leiche war mit vielen,
auch wollenen Kleidern bedeckt.
Es zeigt sich also, dass die untersuchten Leichen meistens sehr
gut conservirt waren, mit Ausnahme von VIII und XVII.
Von VIII war fast nur das Skelett übrig. Folgende Umstände
erklären dies, meiner Meinung nach, hinreichend. Der 18jährige
Jüngling war nur 4 oder 5 Tage krank gewesen und starb am
15. Juli 1881. Die Temperatur war damals in Leiden hoch (am
15. Juli 22,7°C., am 16. Juli 23,3°C., am 17. Juli 23°C., am 18. Juli,
dem Tage der Bestattung, 22,9°C. in einem geschlossenen, nicht ge¬
heizten Zimmer, Vormittags um 8 Uhr). Die Leiche ist also wahr¬
scheinlich in weit vorgeschrittener Fäulniss zur Erde bestattet, und
die Erfahrung im Secirsaale hat mir wiederholt gezeigt, dass, wenn
die Fäulniss einmal einen gewissen Grad erreicht hat, sie sehr rasch
fortschreitet und selbst mit Antiseptica schwer gehemmt werden kann.
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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung.
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Ausserdem stand der Sarg obenan im Grabe und auch dies kann die
Verwesung beschleunigt haben. 1 )
Die Fäulniss der Leiche von XVII war sehr weit vorgeschritten
in der relativ kurzen Zeit von 48 Tagen. Die Frau war jedoch Anfang
September, also in der warmen Jahreszeit, unter Symptomen des all¬
gemeinen Hydrops gestorben, und solche Leichen gehen gewöhnlich
sehr rasch zu Grunde (S. unten). Der Sarg war ausserdem defect und
war in einem allgemeinen grossen Grabe nur von einem Meter Sand
überdeckt gewesen.
In 14 der 18 von uns untersuchten Leichen wurde Arsenik vor¬
gefunden; alle diese 14 Leichen stammten von Personen, welche muth-
masslich von Frau van der Linden vergiftet waren.
Die Menge des Arseniks in den Organen der verschiedenen Lei¬
chen angetroffen, war sehr verschieden. Bei VI wurde die grösste
Quantität vorgefunden und wurde das Gift bis in dem Haupthaare
nachgewiesen. In 100 Grm. der Leber von IX wurde nur eine Spur
des Arseniks gefunden; diese rührte wahrscheinlich von den Medica-
menten her, welche die Damnatin ihrer angeheiratheten Tante gereicht
hatte. Die von ihr gereichten Medicamente konnten zufällig mit einer
geringen Quantität des Giftes vermischt sein, und dies konnte leicht
geschehen, da sie das Gift täglich in den Händen hatte.
In Bezug auf die totale oder partielle Mumification der Leichen
ist Folgendes zu erwähnen.
Die Haut von VI war an verschiedenen Stellen (Gesicht, Bauch¬
wand, untere Extremitäten) hart, jedoch sehr leicht mit dem Messer
zu trennen. Von den Brustorganen war nichts mehr zu erkennen.
Die Verwesung der Bauchorgane war sehr weit vorgeschritten; vom
Magen und von der Milz war sogar nichts zu finden und nur einige
Darmschlingen waren noch zu unterscheiden. Es kann also in diesem
Falle von Mumification nicht die Rede sein.
An VII und XII wurden Spuren der Mumification an einer Hand
angetroffen. Ich bemerke hierzu, dass die beiden Hände der Regio
epigastrica anlagen, dass sie also relativ zu den übrigen Leichentheilen
hochgestellt waren; weiter erwähne ich abermals meiner anatomischen
') Die Leiderer Leichen (IV—XVI) waren auf zwei Kirchhöfen beerdigt. Der
Boden beider besteht aus Klei. Drei Särge werden in einem Grabe aufeinander¬
gestellt. Der Deckel des oberen Sarges befindet sich 30—40 Ctm. unter der Erd¬
oberfläche.
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Dr. T. Zaaijer,
Erfahrung, welche mich belehrte, dass Hände überhaupt sehr geneigt
sind, in einen Zustand der Mumification zu gerathen.
Eine nahezu vollständige Mumification wurde au der Leiche von
XIV vorgefunden. Die äussere Erscheinung dieser Leiche stimmte
hauptsächlich mit den betreffenden Mittheilungen verschiedener Schrift¬
steller. Der Geruch nach altem Käse, dessen die meisten Autoren
erwähnen, fehlte jedoch hier. Die Menge des Arseniks in der Leber 1 )
des Johannes Lepelaar vorgefunden, entsprach nur 0,032 Grm. arse-
niger Säure, war also nicht sehr gross, wenigstens um mehr als die
Hälfte geringer als in anderen, nicht mumificirten Leichen, z. B. XIII.
Lepelaar (XIV) jedoch war 4 oder 5 Tage krank gewesen, seine Frau
(XIII) nur 2 Tage; bei dieser stimmte die Menge des in der Leber
Vorgefundenen Arseniks mit 0,074 Grm. arseniger Säure.
An der Leiche von XVI fanden sich ebenfalls Mumificationszeichen,
jedoch in geringerem Grade als bei XIV. In diesor Leiche wurde keine
Spur von Arsenik vorgefunden.
Unsere Beobachtung XVIII ist ohne Zweifel eine der wichtigsten.
Die Leiche stimmte in vielen Punkten mit der von XIV überein, war
aber im Ganzen noch besser erhalten und verbreitete sehr intensiv
den Geruch des alten faulenden Käse. Es ist jedenfalls bemerkens-
werth, dass 2 Jahre nach dem Tode der Zwerchfellsnerv mit den be¬
gleitenden Blutgefässen deutlich zu sehen und zu verfolgen waren, und
dass die Oberschenkelmuskeln ganz frisch aussahen. Die Bedingungen,
unter welchen die Leiche verkehrt hatte, waren aber, wie unten ge¬
zeigt werden soll, dem Zustandekommen der Mumification sehr günstig.
Ueberdies war die Frau mitten im Winter gestorben; auch war sie
sehr corpulent, was für das Entstehen der Mumification als ungünstig
betrachtet wird. Die Leiche enthielt weder Arsenik, noch etwa ein
anderes Gift.
In Bezug auf die Mumification kommen wir also zu den fol¬
genden Resultaten:
In 10 der beerdigten Leichen wurde Arsenik vorgefunden. 8 ) Eine
dieser Leichen (XIV) war nahezu vollständig mumificirt; bei VII und
XII wurde eine Hand mumificirt angetroffen.
Die übrigen 5 begrabenen Leichen waren arsenikfrei. Eine dieser
fl ) Der grossen Leichenzahl und des Untersuchungsumfangs wegen wurden die
übrigen den Leichen entnommenen Organe nur untersucht in denjenigen Fällen,
für welche Frau van der Linden vor Gericht gestanden hat.
*) Ich rechne IX hier zu den arsenikfreien Leichen.
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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung.
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Leichen (XVIII) war beinahe vollständig, eine andere (XVI) war un¬
vollständig mumificirt.
Hieraus ist also auf Grund unserer Beobachtungen zu
schliessen, dass Mumification mehr bei arsenikfreien als
bei arsenikhaltigen Leichen angetroffen wird.
IV. Schluss.
In meiner oben erwähnten Abhandlung habe ich die Bedingungen,
welche den Fäulnissprozess der Leichen beeinflussen, etwas ausführlich
auseinandergesetzt. Ich beschränke mich hier auf Folgendes.
Jene Bedingungen sind sehr verschiedener Art; sie sind entweder
in der Leiche selbst oder ausserhalb derselben zu suchen. Es ist aber
nicht immer möglich, den Einfluss dieser verschiedenen Bedingungen
genau festzustellen, da bekanntlich auf diesem Gebiet noch Vieles
unaufgeklärt ist.
Zu den inneren Fäulnissbedingungen werden gerechnet:
1) das Alter. Allgemein wird behauptet, dass die Leichen sehr
junger Kinder rascher faulen als diejenigen Erwachsener und besonders
von Greisen. Hofmann ist aber der Meinung, dass in bei Weitem
den meisten Fällen die Leichen Neugeborener nicht schneller in Zer¬
setzung gerathen als Andere, dass aber der Zersetzungsprozess, der
geringeren Grösse wegen, natürlich eher zu Ende ist. Die Leichen
von Säuglingen dagegen faulen zweifelsohne früher, besonders wenn
sie an den Folgen eines Darmkatarrhs gestorben sind; die Bauchdecke
färbt sich dabei bald grün.
2) Das Geschlecht für sich hat hier wohl gar keinen Einfluss.
3) Die Constitution ist tür den Fäulnissgang nicht ohne Be¬
deutung. Alle sind darüber einig, dass fette, corpulente, lymphatische
Leichen rascher in Fäulniss gerathen als magere und hagere.
4) Die Todesursache. Die Leichen an einer akuten Krankheit
Gestorbener zersetzen sich, unter gleichen Umständen, schneller als
solche, welche den an chronischen Leiden Gestorbenen angehören.
Wenn aber gesunde Menschen plötzlich sterben, dann faulen die Lei¬
chen, caeteris paribus, weniger schnell. Hierbei kommen aber sehr
merkwürdige, individuelle Unterschiede vor, welche ihrem Wesen nach
völlig unbekannt sind. Casper und Lira an haben hierüber sehr
belehrende Beispiele mitgetheilt, und ich kann dieselben aus persön¬
licher Erfahrung bestätigen.
Nach einigen akuten Krankheiten geht die Zersetzung sehr schnell,
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Dr. T. Zaaijer
z. B. nach Septicämie, Blattern, Typhus u. s. w., vor sich; Cholera¬
leichen dagegen leisten länger Widerstand, erstens des grossen Flüssig¬
keitsverlustes wegen und zweitens wegen der Entleerung von Magen
und Gedärmen. Ir. diesem letzten Punkte stimmen sie mit den Lei¬
chen mit Arsenik Vergifteter überein.
Den folgenden Todesursachen wird ein beschleunigender Einfluss
auf die Zersetzung zugeschrieben: Erstickung im Rauch, Kohlenoxyd-
und Schwefelwasserstoffgas, die verschiedenen Arten des Erstickungs¬
todes (Ertrinkung, Erstickung, Strangulation), narcotische Gifte, Blau¬
säure, Morphium und andere Pflanzengifte.
Den schon früher als faulnissverzögernd genannten Giften, Alkohol,
Sublimat, Schwefelsäure, Wurstgift und Arsenik, sind noch Cyankalium
(Hofmann), Thymol (Husemann), Zinkchlorid und Antimonium
(Taylor) hinzuzusetzen.
Wassersüchtige Leichen faulen schnell durch den grossen Wasser¬
gehalt. Das finde ich durch meine Beobachtung XVII und öfters in
meiner anatomischen Praxis bestätigt.
Es ist selbstverständlich, dass den äusseren Bedingungen ein mehr
entscheidender Einfluss auf den Gang des Verwesungsprozesses zu¬
kommt. Von diesen äusseren Fäulnissbedingungen seien hier erwähnt:
1) die atmosphärische Luft. Zutritt von Luft mit Mikro¬
organismen (Fäulnissbacterien) ist für das Zustandekommen der Ver¬
wesung unbedingt nothwendig. Je nachdem die Luft freier zutreten
kann, wird die Fäulniss innerhalb gewisser Grenzen beschleunigt wer¬
den. Wenn aber die Luft sehr schnell gewechselt wird und besonders
wenn sie überdies sehr trocken ist, dann verdunstet das Wasser der
Leiche, die Zersetzung wird gehemmt und die Leiche kann austrocknen
(mumificiren). Aus diesem Grunde hat Dr. Ledder die Mumification
der Leichen im Keller zu Wieuwerd erklärt, und ich glaube dieselbe
Erklärung für die Voorburg’schen Mumien annehmen zu müssen.
2) Die Temperatur. Die Temperatur der Luft ist von grösster
Bedeutung; dies ist aber auch für das Wasser und für das Grab gültig.
Bei niedriger Temperatur zeigt sich die Fäulniss nur langsam; die
Leiche kann erfrieren und mehrere Jahre hindurch unverändert bleiben.
Wenn aber gefrorene Leichen oder Leichentheile wieder aufthauen, dann
schreitet, meiner Erfahrung nach, die Fäulniss sehr schnell fort.
Nach Taylor ist die Temperatur zwischen 21° und 38°C. für die
Zersetzung am meisten günstig. Ist die Temperatur aber bedeutend
höher und die Luft dabei sehr trocken, dann wird die Verdunstung
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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung.
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der Leiche bedeutend vermehrt; die Leiche trocknet aus wie die
Menschen- und Thierleichen in den Wüsten Afrika’s und anderswo.
3) Die Feuchtigkeit. Eine bedeutende Menge Wasser oder
Wasserdampf wird für die Leichenfäulniss erfordert. Unter günstigen
Umständen reicht aber der hohe Wassergehalt des Körpers (65 pCt.
ungefähr) dazu vollständig aus. Ein grosser Theil dieses Wassers ver¬
lässt die Leiche, bald nachdem die Zersetzung begonnen hat. Sind
nun für die Ausdünstung günstige Bedingungen da, fliesst das eigene
Wasser der Leiche weg und kommt keine hinreichende Menge von
aussen hinzu, dann kann die Wassermenge für den gehörigen Fäulniss-
gang zu gering werden, und dies führt am Ende zu einer mehr oder
weniger vollständigen Muraification. Die Fäulniss schreitet aber sehr
schnell fort, wenn die Wasserzufuhr abwechselnd zu gering oder
reichlich ist.
Zur Bestätigung des Einflusses des Feuchtigkeitszustandes der
Luft ist folgende Mittheilung wichtig. Nach Pettigrew ist es be¬
sonders die Trockenheit der Luft, welche in Ober-Egypten die Fäulniss
hemmt. In Unter-Egypten gehen die Mumien bald zu Grunde, wenn
sie der Aussenluft ausgesetzt sind. Madden sah in Alexandrien, wo
die Luft sehr feucht ist, mehrere Mumien, welche während vielleicht
40 Jahrhunderte gut erhalten geblieben waren, in 40 Stunden in Zer¬
setzung gerathen. —
Der Luftzutritt zu den Leichen kann auf verschiedene Weise ge¬
hemmt, ja sogar verhindert werden. Die Kleider, der Sarg und das
Grab kommen hierbei in Betracht.
4) Die Kleider. Der Einfluss besonders eng schliessender Kleider
auf den Fäulnissgang ist sehr gross und wird allgemein anerkannt;
er lässt sich sowohl an in der Luft liegenden Leichen, als an Wasser¬
oder beerdigten Leichen nachweisen. Sehr interessante Mittheilungen
über den verzögernden Einfluss der Kleider auch an beerdigten Leichen
sind von Creteur gemacht, der mit der Desinfection des Schlacht¬
feldes bei Sedan beauftragt war. Gummimäntel sollen am meisten
verzögernd gewirkt haben. Kiene fand an zwei Leichen (nach 10 und
nach 18 Jahren) unter den wahrscheinlich wollenen Strümpfen raumi-
ficirte Hautstücke. Diese Beobachtung ist hier von höchstem Interesse.
5) Der Sarg. Selbstverständlich kommt hierbei die Holzart, die
Dicke der Wände, die mehr oder weniger vollständige Schliessung in
Betracht. Metallene, besonders bleierne, luftdicht geschlossene Särge
werden also die Fäulniss am meisten verzögern. Särge von dickem
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Dr. T. Zaaijer,
Eichenholz werden bessere Dienste leisten als dünne Fichtenholzsärge.
Die weit vorgeschrittene Fäulniss in unserer Beobachtung XVII kann,
wie es mir scheint, zum Theil der fehlerhaften Zusammensetzung des
Sarges zugeschrieben werden.
6) Das Grab. Die Natur des Bodens hat für sich nicht den
überwiegenden Einfluss, den man ihm zuzuschreiben geneigt ist, es sei
denn, dass schon viele faulende thierische oder pflanzliche Substanzen
im Boden vorhanden sind. Viele sind der Meinung, dass Leichen im
Sandboden weniger schnell verwesen, als im Klei- oder Lehmboden.
Die Möglichkeit des Luftzutritts und der Feuchtigkeitsgrad sind hierbei
aber wichtige Momente, und weiter ist es nicht ohne Belang, ob der
Feuchtigkeitsgrad constant oder abwechselnd ist. Der Feuchtigkeits¬
grad des Bodens hat einen sehr bedeutenden Einfluss auf den Luft¬
zutritt. So hat es sich aus den Untersuchungen Fleck’s heraus¬
gestellt, dass vollkommen trockener Sand zweimal so viel Luft durch¬
lässt, als mit Feuchtigkeit gesättigter Sand. Nach Toussaint soll
die Mumification der Leichen durch Eisen in der Kirchhofserdo ge¬
fördert werden. Boucherie fand wenigstens Eisen in der Haut der
Mumien des St. Michaelskellers in Bordeaux.
Die höhere oder tiefere Lage des Grabes in Beziehung zu seiner
Umgebung ist von grösserer Bedeutung, als die Art des Bodons. Die
geringere oder grössere Ständigkeit der Feuchtigkeit ist davon abhängig.
Auch die Tiefe des Grabes ist von Einfluss und machen sich hierbei
die schon erwähnten Factoren: Temperatur, Luftzutritt, Feuchtigkeit
deutlich in ihrer Wirkung geltend. —
Da so verschiedene Einflüsse die Fäulniss der Leichen beherrschen,
so ist es klar, dass auch der Erfolg sehr verschieden sein wird. Daraus
erklärt es sich zugleich, dass die Angaben über die Zeit, welche zur
Vernichtung der Weichtheile hinreichen soll, sehr verschieden sind.
Die Versuche Orfila’s zeigten, dass die Weichtheile schon nach
14, 15 oder 18 Monaten beinahe ganz verschwunden waren, sogar
wenn die Leichen in Särgen begraben und mit einem Leichentuch um¬
geben waren. Der Meinung Anderer nach wird ein Verlauf von 3
oder sogar 6 Jahren zur totalen Vernichtung der Weichtheile gefordert,
und Orfila bekämpfte diese Ansicht. Taylor dagegen hält es für
wahrscheinlich, dass gewöhnlich ungefähr 10 Jahre hinreichen werden
zur vollständigen Verwesung der Weichtheile von Leichen, welche in
dünnen, hölzernen Särgen begraben sind.
Dergleichen Angaben ist selbstverständlich nur ein sehr relativer
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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung.
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Werth beizulegen. Der Zustand der Leiche nach einem gewissen Zoit-
verlauf ist zunächst und hauptsächlich abhängig von dem Zustande,
worin sie zur Erde bestattet wurde. Ist alsdann die Fäulniss deutlich
da oder schon weit vorgeschritten, so wird, selbst unter sonst günstigen
Bedingungen, die Vernichtung der Weichtheile bald folgen. Ich ver¬
weise auf meine Bemerkungen zur Beobachtung VIII. Hat dagegen
die Fäulniss bei der Beerdigung noch nicht begonnen, so ist ein
späteres Auftreten und langsameres Fortschreiten der Verwesung zu
erwarten. — —
Mit Rücksicht auf die vorhergehenden Mittheilungen werde ich
jetzt zuerst die schon früher besprochenen fremden Beobachtungen
näher in’s Auge fassen.
Wir gelangten für die 19 nicht begrabenen Leichen zu dem
Ergebniss, dass der Fäulnissunterschied bei den verschiedenen Leichen
fast ohne Ausnahme seine Erklärung fand in der Jahreszeit des Ab¬
sterbens (also in Temperaturunterschiede) und in der Zeitdauer nach
dem Tode, dass also der im Leben beigebrachte Arsenik in den ersten
Tagen nach dem Absterben die Leichcnfäulniss nicht beeinflusst.
Für die übrigen 41 Fälle wird es selbstverständlich schwieriger
sein, aus dem Gegebenen einen wohl motivirten Schluss zu ziehen.
Es fehlen doch in vielen Fällen die schwer zu entbehrenden Details.
Scheinbar geringfügige Details haben mich aber öfters zu einer hin¬
reichenden Erklärung geführt.
Die 2 Fälle mit geringen Fäulnisszeichen und die 9 Fälle mit
weit vorgeschrittener Zersetzung bedürfen keiner weiteren Erörterung,
und ebensowenig die 13 Fälle, wobei die Weichtheile ganz oder fast
ganz verschwunden waren.
In Anknüpfung an die Mittheilung über die Durchschnittszeit,
welche die Weichtheile zu ihrer vollständigen Verwesung brauchen,
erinnere ich an die 8 Leichen, welche länger als 6 Jahre unter der
Erde gelegen hatten und wobei die Weichtheile ganz oder beinahe
ganz verzehrt waren; nur in einem Falle wurde kein Arsenik in den
Ueberresten nachgewiesen. Die Weichtheile mehrerer dieser Leichen
waren vernichtet in kürzerer Zeit, als Taylor bei gewöhnlichen, d. h.
arsenikfreien Leichen dafür erforderlich meinte. Dieselbe Bemerkung
trifft natürlich noch mehr für diejenigen Fälle (5 an der Zahl), wobei
die Zersetzung der Weichtheile in weniger als 6 Jahren vollendet war.
Auch hier wurde nur in einem Falle kein Arsenik vorgefunden. —
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Dr. T. Zaaijer,
Schliesslich bleiben also noch die 17 Fälle übrig, wobei Zeichen
der Mumificirnng vorgefunden wurden. In den meisten Fällen habe
ich die muthmsissliche Ursache des eigentümlichen Zustandes der
Leiche ausfindig machen können, ohne dabei den Einfluss des Arseniks
zur Hülfe zu ziehen; ich glaube sogar in einzelnen Fällen den posi¬
tiven Beweis liefern zu können, dass dem Arsenik dabei gar keine
Rolle zukommt. Zuvor muss ich noch bemerken, dass beinahe Alles,
was die Zersetzung verzögert, der Mumification förderlich sein kann.
In 3 Fällen (1, 55, 57) 1 ) konnte die Abmagerung als Ursache des guten
Zustandes der Leichen betrachtet werden. In den beiden ersten Fällen wird diese
von mir auf hinreichende Gründe vermuthet, in der letzteren Beobachtung wird
sie absichtlich erwähnt. Im Falle 55 können weiter die Sterbenszeit (November)
und die Lage des Sarges in trockenem Sande, und für 57 die hohe Lage und der
Eisengehalt des Bodens des Kirchhofes in Betracht gezogen werden.
Zwei Personen (30, 38) werden als Potatores erwähnt. Der Erste war
überdies schon bejahrt (62 Jahre), starb im Deoember und wurde am zweiten
Tage nach dem Tode schon bestattet. Auch war die Leiche mit vielen Kleidern
bedeckt. Im Falle 38 wurde die Leiche zwei Mal untersucht, das erste Mal
5 Tage nach dem Tode im Monat April. Damals wurden der Magen und die
Gedärme aus der Leiche genommen. Die Fäulniss kann dadurch verzögert sein.
In 5 Fällen (2, 20. 30 (S. oben), 45 und 55 (S. oben)) ist der Zeitpunkt
des Sterbens wichtig; 2 starb im Januar, 20 im November. Ueberdies war im
letzten Falle der Kirchhof hoch und trocken. 45 starb im December. Der Sarg
war intact. Das Grab lag an der höchsten Stelle des abschüssigen Kirchhofes.
Der trockene Zustand des Kirchhofes wird absichtlich vermeldet in 3 Fällen
(5, 13, 14) und ausserdem in den Fällen 20. 55, 57 (S. oben).
Die nachfolgenden drei Fälle (23, 25, 46) sind in hohem Maasse inter¬
essant. weil dabei, wie es mir scheint, der Einfluss des Arseniks ohne Zweifel
ganz ausgeschlossen werden kann.
Im ersten Falle wurde der Sarg nach beinahe 1 1 2 Jahren so gut wie neu
gefunden und in der Leiche wurde kein Arsenik nachgewiesen. Beim Oeffnen
des Sarges wurde aber von allen Umstehenden ein schwacher, aber deutlich
wahrnehmbarer Knoblauchgeruch bemerkt. Im zweiten Falle war die Mumifica¬
tion beinahe vollständig; der Sarg stand 4—5 Fuss tief in einem sehr festen
Lehmboden. Nach 4 Jahren und 7 Monaten waren die roth baumwollenen Merk¬
zeichen des Hemdes noch deutlich zu lesen. Die Quantität des Vorgefundenen
Arseniks war gering. Der Boden des Kirchhofes im dritten Falle war durchweg
trocken und bestand aus festem Lehm, mit wenig Sand gemischt. Der Sarg war
nach 6 Jahren völlig erhalten; die rothe Beize, mit welcher er bestrichen war,
war sogar unversehrt. In der mumificirten Bauchdecke wurde kein Arsenik vor¬
gefunden.
Ausser dem beigebrachten Arsenik, der im ersten Falle nicht einmal nacb-
gewiesen werden konnte und im letzten Falle in der mumificirten Baucbdecke
') Zahlen der Tabelle meiner Abhandlung.
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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik*Vergiftung.
275
fehlte, müssen also Bedingungen vorhanden gewesen sein, in Folge deren nicht
nur die Leichen, spndern auch die Särge und sogar die Merkzeichen des Hemdes
nach relativ langer Zeit so gut erhalten geblieben sind. Für die beiden letzten
Fälle ist eine dieser Bedingungen im Boden der Kirchhöfe zu suchen; im ersten
Falle wird darüber nichts mitgelheilt. —
Es bleiben also von den 17 Mumificationsfällen nur drei (4, 6, 56) übrig,
wobei es mir nicht gelungen ist, einige Erklärung der Mumificirung zu finden.
Ich bemerke jedoch, dass in allen diesen Fällen die Fäulniss sehr weit vorge¬
schritten und die Mumification nur partiell war und besonders in der Bauchwand
angetroffen wurde. Ueberdies sind die Mittheilungen über die Art des Kirchhofes
für die ersten zwei Fälle entweder lückenhaft oder sie fehlen ganz.
Ich werde jetzt versuchen, die relativ häufige Mumification der
Bauchwand zu erklären.
Wenn im Verlaufe der Zersetzung das eigene Wasser der Leiche
durch Ausdunstung verloren geht und der Verlust nicht durch Zufuhr
von aussen hergestellt wird, so werden diejenigen Weichtheile zuerst
austrocknen (mumificiren), welche eine relativ grosse Oberfläche haben
und relativ dünn sind. Der Verlust der Oberhaut begünstigt ausserdem,
wie bekannt, die Ausdunstung. Man kann annehmeu, dass die Ober¬
haut in den meisten Fällen, um welche es sich hier handelt, fehlen
wird. An der von Czermak untersuchten, übrigens wohl conservirten
Mumie aus dem St. Michaelskeller in Bordeaux waren nur sehr undeut¬
liche Spuren der Oberhaut und sogar des Corpus papillare übrig. Die
Bauchwand entspricht den oben gestellten Bedingungen (relativ grosse
Oberfläche und geringe Dicke), und ich glaube darin die Hauptursache
ihrer häufigen Mumification gefunden zu haben. Diese Auffassung wird
dadurch unterstützt, dass andere Körpertheile, welche denselben Bedin¬
gungen entsprechen, ebenso oft in mumificirtem Zustande angetroffen
werden, z. B. die Brustwand, die Haut am Brustbein, des Vorderarms,
um die Hand-, Knie- und Fussgelenke und an den Händen und Fingern.
Die Haut der Stirn, der Nase, der Ohren, der Augenlider und des be¬
haarten Hauptes scheinen hierbei eine Ausnahme zu machen. Man
bedenke aber, dass die letztgenannten Körpertheile gewöhnlich nicht
von Kleidern bedeckt sind, dass Fliegen und andere Insecten häufig
sehr bald nach dem Tode ihre Eier in die Augen- und Mundwinkel
legen, und dass die erwähnten Theile also mehr als irgend andere der
vernichtenden Wirkung von Maden u. s. w. ausgesetzt sind.
Für das behaarte Haupt kommt noch eine andere Ursache
hinzu; das Haar ist sehr hygroskopisch und wird gewöhnlich sogar
an ziemlich vollständig mumifieirten Leichen sehr feucht angetroffen.
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276 Dr. T. Zaaijer,
Die Mumification der unter den feuchten Haaren befindlichen Haut
wird also verhindert.
Ich glaube ferner noch eine andere Ursache für die Mumification
besonders der Baach- und Brustwand gefunden zu haben in der An¬
wesenheit wollener Kleider und wollener Gürtel um den Bauch (23, 56).
Ich hatte es schon früher für wahrscheinlich gehalten, dass diese
wollene Bedeckung den Mumificationsprozess beeinflusst. Durch die
schon erwähnte Beobachtung Kiene’s, der an arsenikfreien Cadavern
mumificirte Hautstücke fand unter wahrscheinlich wollenen Strümpfen,
wird diese Auffassung in hohem Maasse unterstützt. —
Bei der Besprechung meiner eigenen Beobachtungen kann ich
nach dem am Schlüsse des dritten Capitels darüber Mitgetheilten
sehr kurz sein.
Die 13 begrabenen Leidener Leichen hatten alle unter denselben
Bedingungen verkehrt, was die Art der Kirchhöfe betrifft. Beachtet
man den Zeitverlauf nach dem Tode, so war, unabhängig von der
An- oder Abwesenheit und von der Quantität des in den Leichen Vor¬
gefundenen Arseniks, wenig Unterschied im Verlaufe der Fäulniss zu
bemerken. Nur unsere Beobachtung VIII macht hiervon eine Aus¬
nahme, deren Erklärung schon früher gegeben wurde. Die Muraifica-
tion der Hände (VII, XII) lässt sich leicht erklären aus dem, was
ich über die Ausdunstung der Körpertheile mit relativ grosser Ober¬
fläche und relativ geringer Dicke auseinandergesetzt habe.
Ueber die nahezu vollständige Mumification der Leiche des
Johannes Lepelaar (XIV) ist noch zu bemerken, dass die dem Boden
des Sarges zugekehrten Hauttheile weich und weiss waren und stellen¬
weise vollkommen frisch aussahen. Es verdient noch Erwähnung, dass
die in der Leber Vorgefundene Arsenikmenge geringer war, als in
anderen nicht mumificirten Leichen, und zum Schlüsse, dass eine
aridere Leiche (XVI), welche keine Spur des Arseniks enthielt, deut¬
lich mumificirt war.
Als controlirende Beobachtung ist unsere Beobachtung XVIII
höchst interessant. Unter günstigen Bedingungen (trockenes Grab,
dicker, wohl geschlossener Sarg, viel wollene Kleider, Tod mitten im
Winter) mumificirte hier die arsenikfreie Leiche der jungen, corpulenten
Frau in 2 Jahren nahezu vollständig.
Man hat vielfach behauptet, dass besonders der Magen und die
Gedärme unter dem Einflüsse des beigebrachten Arseniks besser er¬
halten bleiben; ich verweise in dieser Beziehung auf die wichtigen
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Das Verhalten der Leichen nach Arsenik-Vergiftung.
277
Resultate in unserer Beobachtung XV. Hier waren in einer arsenik-
freien Leiche, welche vom 3. Juli 1882 bis zum 10. Januar 1884 (also
gut IV', Jahre) unter der Erde gelegen hatte, der Magen und die
Gedärme so gut erhalten geblieben, dass sogar mit Gewissheit zu
entscheiden war, welche Nahrung der Mann zuletzt zu sich genommen
hatte. —
Wir sind also zu den nachfolgenden Schlüssen gelangt:
Der Fäulnissgrad der arsenikhaltenden Leichen wird in den ersten
Tagen nach dem Tode (vor der Bestattung) hauptsächlich von Tem¬
peraturverhältnissen beherrscht.
In einzelnen Fällen schreitet die Verwesung im Grabe schnell, in
anderen dagegen langsam fort. Mit Ausschliessung des Einflusses des
Arseniks konnte die langsame Zersetzung in beinahe allen Fällen hin¬
reichend erklärt werden.
Für viele Fälle ist es bewiesen, dass der beigebrachte Arsenik die
Verwesung und die Mumification nicht beeinflusst und in beinahe allen
übrigbleibenden Fällen war die muthmassliche Ursache der Mumification
anderswo zu finden. —
Ich halte mich für berechtigt, meine Ergebnisse folgenderweise
zu formuliren:
1) Die Leichen-Mumification kommt sehr häufig vor.
2) Anderer und meine eigenen Controle-Beobachtungen
beweisen, dass arsenikfreie Leichen unter denselben
Bedingungen als arsenikhaltige ebenso gut erhalten
bleiben und auch mumificiren.
3) Die relativ häufige Mumification der Bauch- und Brust¬
wand, der Haut um die Hand-, Knie- und Fussgelenke
und der Haut der Hände und Finger (Füsse und Zehen)
ist, unabhängig von dem Einflüsse des Arseniks, sehr
gut zu erklären.
4) Es giebt (namentlich für die toxischen Dosen) keine
sog. Arsenik-Mumification.
5) Die Leichen-Mumification ist gerichtlich-toxikologisch
ohne Bedeutung.
Leiden, 25. Januar 1886.
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2 .
Znn Tad des Neugeborenen durch Abgehneiden des Halses
und durch fragliche Sturxgebnrt.
Erörterung bemerkenswerther Leichenbefunde unter Zugrunde¬
legung zweier gerichtsärztlicher Fälle.
Von
Dr. BKorlte Frey er,
Kreisphysikus in Darkehmen.
Die beiden gerichtsärztlichen Fälle, die meinen nachstehenden
Erörterungen zu Grunde liegen, boten in ihren Einzelheiten einige
bemerkenswerthe Leichenbefunde dar, die ich theils zur Bereicherung
der einschlägigen, besonders in dem ersteren Falle nicht sehr grossen
Casuistik der Veröffentlichung werth, theils für die ßeurtheilung ähn¬
licher Fälle ebenso von wissenschaftlichem, wie von wesentlich prakti¬
schem Interesse halte.
Ich werde mich zur Erörterung jener Befunde der Darlegung der
beiden Fälle in der Weise bedienen, dass ich ihren sachlichen Hergang
in kurzen Zügen schildere und unter Reproducirung der bezüglichen
Sectionsbefunde deren gutachtliche Motivirung nebst den mir sonst noth-
wendig erscheinenden Bemerkungen damit verbinde.
L Tod des Neugeborenen durch Abschneiden des Halses.
Kindesmord durch Abschneiden des Halses wird im Ganzen selten
beobachtet. Blumenstok') beschreibt einen Fall, in welchem er
nicht mehr aus der Beschaffenheit der Halsschnittwunde — denn das
Kind war in viele Theile zerstückelt und diese waren mit Erde, die
erst fortgewaschen werden musste, incrustirt — auf deren vitale Ent¬
stehung schliessen konnte, sondern erst durch den Nachweis des Ver¬
blutungstodes überhaupt zu folgern im Stande war, dass die Hals¬
schnittwunde den Verblutungstod hervorgerufen hatte und dass sie
mithin dem Kinde noch im Leben beigebracht worden war. Meistens
sind ja in allen diesen Fällen die wichtigen in Betracht kommenden
Reactionserscheinungen theils durch Fäulniss, theils durch andere
*) Wiener medic. Wochenscbr. 1875. No. 21 u. 22.
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Tod des Neugeborenen durch Abschneiden des Halses.
279
Momente, wie auch in dem vorliegenden Falle neben der Fäulniss
ebenfalls durch erdige Incrustirung, mehr oder weniger erheblich ver¬
wischt, und da es in dem einzelnen Falle immerhin auf den Nachweis
vitaler Reaction ankomrat, so dürfte für die Beurtheilung ähnlicher
Fälle jede einschlägige Erscheinung von Wichtigkeit sein. Eine solche
besondere Erscheinung bot der vorliegende Fall in der Gewebsretraction
eines bestimmten Organs, der Trachea, dar, und auf diesen Befund die
fachwissenschaftliche Aufmerksamkeit besonders hinzulenken, erscheint
der nachstehende Fall mir durchaus von Werth.
Die Angeschuldigte erzählt über den Geburtsvorgang und den Tod
des Kindes Folgendes.
Um die Geburt zu verheimlichen, sei sie Abends spät, als sie den Beginn
der Geburt gemerkt, hinter die Scheune gegangen und habe, als der Kopf des
Kindes aus den Geschlechtstheilen herrorgetreten, denselben erfasst und das Kind
hervorgezogen. Dasselbe habe gleich geschrieen. Sie habe es dann aufgenommen,
in den anstossenden Garten getragen und, mit ihrer Schürze bedeckt, unter einen
Strauch gelegt. Das Wetter sei kalt und windig gewesen. Am folgenden Morgen,
zwischen 5 und 7 Uhr, sei sie nach dem Kinde sehen gegangen, und da sie be¬
merkt, dass es noch gelebt, habe sie aus der Stube ein Messer geholt und das¬
selbe dem Kinde „in den Hals gesteckt“, worauf es nach wenigen Minuten
unter Zuckungen zu leben aufgehört habe. Hierauf habe sie es unter demselben
Strauche verscharrt, drei Tage später jedoch auf dem Kirchhofe bestattet.
Die Angeschuldigte hatte zwei Jahre vorher schon einmal geboren.
Die 13 Tage später ausgeführte Section der Kindesleiche ergab unter
Fortiassung der auf das Gelebthaben, die Reife und den Tod des Kindes
bezüglichen Befunde folgendes Bemerkenswerthe:
1) Die Leiche des neugeborenen Kindes ist männlichen Geschlechts und an
seiner gesammten Körperoberfläche von einer schwarzen, 2—4 Mm. dicken,
harten, trocknen Erdkruste überzogen, so dass der Leichnam eine unförmliche
schwarze Masse darstellt. Um einen Einblick in die Beschaffenheit der Oberfläche
der Körperhaut gewinnen zu können, ist es nothwendig, dass die fest ange¬
trocknete Erdkruste mit kaltem Wasser erweicht und heruntergewaschen wird.
Bei dieser Prozedur ist es nicht zu verhüten, dass die Epidermis in Fetzen sich
loslöst und mit heruntergewaschen wird; es ist ferner nicht zu vermeiden, dass in
den an der Vorderfläche des Halses befindlichen, weiter unten zu beschreibenden
Hautdefect, der sich augenscheinlich oberhalb des Brustbeins nach der Brust¬
höhle hin in die Tiefe fortsetzt, Wasser hineinfliesst und bei Druck auf den
Brustkasten mit Luftblasen gemengt zurücksprudelt.
8) Beim gänzlichen Zurückschlagen des Kopfes in den Nacken präsentirt
sich an der Vorderfläche des Halses ein Defekt, welcher in der Richtung vom
Kinn nach dem oberen Rande des Brustbeins 9 Ctm., von rechts naoh links 6 Ctm.
beträgt. Die Ränder dieses Defektes werden von der mit einer dicken Fettschicht
versehenen Haut gebildet und sind ringsherum scharf und glatt. Der Grund des
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280
Dr. M. Freyer,
Defektes erscheint zerklüftet, während sich in demselben unregelmässig geformte
Muskelmassen, sonstigeGewebsfetzen, Fettklümpchen und sandige Erde bemerkbar
machen. Ein Biudegewebsstrang spannt sich von oben nach unten über den Grund
des Defektes. In dem leizteren lässt sich bei genauerer Besichtigung foststelien,
dass der Kehlkopf unterhalb der Basis des Kehldockels quer durchschnitten ist,
so dass der Kehldeckel zugleich mit der Zunge nach dem Boden der
Mundhöhle zurückgesunken ist, während der übrige Kehlkopf nach
der Brusthöhle hin zurückgesunken ist. Die Durchtrennungsflächo lässt
sich, soweit dieselbe durch das knorplige Gerüst des Kehlkopfes geht, als eine
absolut glatte Fläche erkennen, in der sich die Durchschnittsflächen der einzelnen
Kehlkopfsknorpel, speciell die der Giessbeckenknorpel, ganz besonders markiren;
zwischen den letzteren, soweit dieselben dem oberen, zum Kehldeckel gehörigen
Theilo des Kehlkopfes angehören, spannt sich eine 1 Ctm. lange, haarfeine,
strangförmige Membran, unterhalb welcher die Stimmbänder und zwischen ihnen
die sogen. Morgagni’sche Tasche frei zu Tage liegen. Weiter in der Tiefe zeigt
sich auch die Speiseröhre durch einen haarscharfen Rand ringsum quer durch¬
trennt. und noch weiter in der Tiefe befinden sich zwei Einschnitte in die Wirbel¬
körper und zwar der obere, etwa im Bereich des dritten Halswirbels gelegene,
quer durch die Wirbelkörper gehende, ist 4 Ctm. lang, beginnt am äussersten
Ende des linken Seitenfortsatzes des Wirbelkörpers und geht bis in den rechten
Processus mastoideus hinein, in der Mitte des Wirbelkörpers 1 Ctm. tief, während
die ebenfalls 1 Ctm. auseinanderklaffenden Schnittflächen wiederum absolut glatt
sind und die noch knorplige Beschaffenheit der einzelnen Theile des durch¬
schnittenen Wirbelkörpers erkennen lassen. Der zweite, tiefer liegende Schnitt
befindet sich etwa in Höhe des 6. Halswirbels, läuft dem ersten parallel, ist
2 Ctm. lang, etwa 3 / 4 Ctm. tief, klafft 1 Ctm. auseinander und verläuft nur
innerhalb des Wirbelkörpers. Wie weit Blutgefässe und Nerven zu beiden Seiten
des Halses mitverletzt sind, lässt sich bei der äusseren Besichtigung nicht er¬
kennen. Am Nacken ist nichts Abnormes zu bemerken.
27) Die Venen am Halse sind blutleer; dieselben werden in ihrem ganzen
Verlaufe vom Herzen an freipräparirt und zeigen sich etwa in der Mitte des
Halses, im Bereich des vorher beschriebenen Halsdefektes quer durchtrennt und
von unregelmässig zackig geformten, fetzigen Rändern umgeben; ganz dasselbe
ist von den Schlagadern und grossen Nerven am Halse zu sagen, welche ebenfalls
quer durchtrennt in dem Defekt frei endigen.
Nach dem vorläufigen Gutachten hatte das Kind
1) gelebt und geathmet,
2) war es reif und lebensfähig gewesen,
3) war es an Verblutung gestorben, und
4) war der Verblutungstod durch die Schnittwunde am Halse
herbeigeführt worden.
Die ersten drei Punkte Hessen sich durch die bezüglichen Sections-
befunde leicht motiviren, nur musste beim dritten Punkte in Betracht
gezogen werden, dass ein Theil der Blutarmuth der Leiche auf Rech¬
nung der recht weit vorgeschrittenen Fäulniss zu setzen, dass jedoch
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Tod des Neugeborenen durch Äbschneiden des Halses.
281
bei dem Fehlen einer anderen Todesursache gegenüber dem Vorhanden¬
sein der grossen Verletzung am Halse der Verblutungstod als sicher
anzuerkennen war.
Bei der Motivirung des vierten Punktes war der ursächliche Zu¬
sammenhang zwischen Verblutungstod und Halsverletzung des Näheren
zu erörtern, wobei zunächst festzustellen war, dass die letztere erstens
in der That eine Schnittwunde bildete, und zweitens dem Kinde
noch während des Lebens zugefügt worden sei.
Das Erstere war nach Beschaffenheit der gesammten Wunde, wie
sie sich beim Zurückschlagen des Kopfes in den Nacken präsentirte,
nicht schwierig zu beweisen. Die scharfen und glatten Wundränder
der Haut, sowie die glatten Schnittflächen im Bereich des Kehlkopfes
und der Wirbelkörper, ferner der geradlinige Verlauf der Wunde und
ihre nach der Tiefe hin sich trichterförmig verjüngende Form Hessen
über die Natur der Wunde als einer Schnittwunde keinen Zweifel.
Zog man nun neben der glatten und geradlinigen Beschaffenheit der
Wundränder noch die abnorme Tiefe und Ausdehnung der Wunde selbst
in Betracht, mit der dieselbe sogar einen Centimeter tief in die Knochen¬
substanz der Wirbel und seitwärts selbst bis in den rechten Zitzen¬
fortsatz eingedrungen war, so dürfte weiter gefolgert werden, dass der
Kopf bei Zufügung der Wunde nach hinten übergebeugt, die
vordere Halshaut also gespannt gewesen sein musste, da bei Neigung
des Kopfes nach vorn und bei Erschlaffung der vorderen Halshaut
leicht mehrere Schnittlinien, ähnlich dem bekannten Schnitte am zu¬
sammengefalteten Tuche, hätten entstehen können, zweitens dass der
Schnitt mit erheblicher Kraft und, bei dem Vorhandensein eines
zweiten, in Höhe des 6. Halswirbels befindlichen parallelen Schnittes,
in der Tiefe wenigstens, doppelt geführt gewesen ist.
Mehr Schwierigkeiten machte dagegen die Erörterung der zweiten
Frage, ob die Wunde dem noch lebenden Körper oder etwa
erst der Leiche beigebracht worden sei. Denn es wäre denkbar
gewesen, dass die Angeschuldigte, da sie angeblich erst am nächsten
Morgen zu dem Gewaltakte geschritten sein wollte, das Kind für lebend
gehalten, während es bereits todt gewesen, und nun dem schon todten
Kinde die Halswunde beigebracht habe. Der Umstand, dass Verblutung
als Todesursache angenommen werden konnte, überhob uns der Erörte¬
rung dieser Frage keineswegs. Denn die allgemeine Blutleere musste,
wie schon angedeutet, zum Theil wenigstens auf Rechnung der Fäulniss
VUrtelJ ahnsehr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 2. |<j
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282
Dr. M. Freyer,
gesetzt werden, sie konnte aber auch aus der ununterbunden
gefundenen Nabelschnur zu Stande gekommen sein. Es musste
also für die Entstehung der Halsschnittwunde während des Lebens
erst der Beweis geführt werden, und hierzu schien mir vorwiegend ein
Befund geeignet, wie ich ihn weder in den gangbaren Lehrbüchern
speciell hervorgehoben, noch in dem einen von Blumenstok') be¬
schriebenen Falle angedeutet gefunden habe.
Bekanntlich werden Für die Begründung der vitalen Reaction ge¬
wöhnlich zwei Eigenschaften angeführt: die vitale Retractionsfähigkeit
der durchschnittenen Weichtheile und die Blutung. Die letztere konnte
in dem vorliegenden Falle wenig in Betracht kommen, da ein Ein¬
gedrungensein von Blut zwischen die durchtrennten Gewebsschichten
an der Leiche nicht zu constatiren gewesen ist und auch nicht vor¬
handen gewesen zu sein brauchte. Denn bei grossen Schnittwunden,
bei denen das Blut in schnellem Strome nach aussen sich ergiesst,
pflegt es zu einem Eindringen von Blut in die Gewebsschichten meistens
gar nicht zu kommen. Gesetzt aber, es wäre in dem vorliegenden
Falle dazu gekommen gewesen, so konnte das etwa vorhanden gewesene
Blut theils durch die innige Berührung der Wunde mit dem Erdreich,
mit dem sie bedeckt gewesen, theils durch das Wegwaschen des letzteren
bei der Section mitentfernt worden sein. In Betreff der vitalen Re-
traction der Weichtheile dagegen kamen hier verschiedene Gebilde von
mehr oder weniger grossem Werthe in Betracht. Ein Klaffen der Haut¬
ränder war als nur wenig charakteristisch heranzuziehen, weil dasselbe
durch Lage und Stellung, des Halses nach dem Tode noch leicht raodi-
ficirt sein konnte, je nachdem eben der Kopf gebeugt oder zurück¬
geschlagen wurde. Bei der Section wurde er nach vorn und etwas
zur linken Seite gebeugt gefunden. Etwas mehr Werth schien mir der
Befund der durchschnittenen Muskeln zu haben, die als „unregelmässig
geformte Muskelmassen“ sich am Grunde der Wunde bemerkbar ge¬
macht hatten; sie konnten aber ebensowohl als aktiv rotrahirt. wie
als postmortal zusammengedrückt angesehen werden. Den grössten
Werth mit Bezug auf vitale Retraction glaube ich jedoch dem Zu¬
stande der durchtrennten Luftröhre beimessen zu müssen. Die
Luftröhre war im oberen Theile des Kehlkopfes quer durchtrennt, und
während die obere Partie des letzteren dicht unter der Zunge am Boden
der Mundhöhle gefunden wurde, konnte die untere Partie desselben
*) l. c.
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Tod des Neugeborenen durch Abschneiden des Halses.
283
nebst den übrigen Theilen der Luftröhre erst nach längerem Suchen
hinter dem oberen Rande des Brustbeins entdeckt werden. Die beiden
Theile der Luftröhre waren somit um 8—9 Ctm. auseinandergewichen,
und in diesem bedeutenden Auseinandergewichensein er¬
blickte ich und erblicke ich noch ferner ein ganz wesent¬
liches Merkmal vitaler Reaction. Denn unter allen Gebilden
des Körpers, die Gefässe miteingeschlossen, dürfte kaum ein anderes
vermöge seines anatomischen Baues sowohl, als auch seiner anato¬
mischen Lage eine solche Elasticitat an sich und eine so bedeutende
Retractionsfähigkeit im Ganzen besitzen, als eben die Luftröhre. Durch
elastische Faserbänder aneinandergekettet, werden die einzelnen C-förmi-
gen Knorpel noch durch organische Muskelfasern an ihren Enden ver¬
bunden, während eine elastische Faserhaut das Innere der Luftröhre
auskleidet und nach Luschka longitudinale Muskelfasern auch längs
der hinteren Wand herabziehen. Dazu kommt, dass die gesammte
Luftröhre seitlich nirgends fixirt ist, sondern in einem der von den
Halsfascien gebildeten Schläuche, von laxem, grossblättrigem Binde¬
gewebe umgeben, gewissermassen lose darinsteckt. Dementsprechend
lehrt auch die Erfahrung, dass bei Verletzungan, durch welche die
Luftröhre vollständig quer durchtrennt wird, die beiden Enden der¬
selben weit auseinanderweichen und besonders das untere Ende sich
bis in das Jugulum retrahiren kann ‘). Die Retraction konnte in dem
vorliegenden Falle in um so ausgedehnterem Maasse statthaben, als
gleichzeitig sämmtliche Nachbargebilde und vor Allem die Speiseröhre,
mit der die Luftröhre noch am festesten zusammenhängt, mit durch¬
trennt waren. Ich stehe daher nicht an, diese ausgiebige Retractions¬
fähigkeit der Luftröhre als ein recht werthvolles Merkmal vitaler
Reaction ganz besonders hervorzuheben, zumal wenn die übrigen Merk¬
male in dieser Beziehung Charakteristisches zu bieten weniger geeignet
sind. Denn auch diejenigen Gebilde, die hier noch weiter in Betracht
zu ziehen gewesen sind, die durchschnittenen Gefässe, zeigten sich bei
genauerer Präparation wol quer durchtrennt, doch an ihren Enden
theilweise unregelmässig zackig und fetzig auseinandergezerrt, jeden¬
falls nicht genügend charakteristisch, um für den Beweis vitaler
Reaction verwerthet werden zu können. Immerhin wird daher unter
denjenigen Körperthcilen, deren vitale Retraction sich intensiv
*) Koenig, Lehrbuch der spec. Chirurgie, I. 13d. 1. Aufl. p. 430.
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Dr. M. Freyer,
zu äussern pflegt, künftighin nicht nur auf das Verhalten der
Arterien und gewisser Aponeurosen, worauf die Lehrbücher hinweisen,
sondern auch auf das der Luftröhre hinzuweisen sein.
IL Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt
Es hat den Anschein, als ob sich neuerdings eine Strömung kund¬
geben sollte, bei fraglichen Kindesmordsfällen überhaupt und gar bei
fraglicher Sturzgeburt noch ganz besonders die Gerichtsärzte in der
Auffassung des Falles misstrauisch zu machen. Der neueste Autor
auf diesem Gebiete, Prof. Winckel in München, der eine Uebersicht
über 216 präcipitirte Geburten zusammengestellt hat, sagt in dieser
Beziehung am Schlüsse seiner Arbeit ganz ausdrücklich, man müsse
„beträchtliche“ Knochenbrüche als einfache Folgen solcher Sturz¬
geburten immer mit Misstrauen auffassen. Dieses Misstrauen wird
allerdings einestheils durch die Thatsache gerechtfertigt, dass wir natur-
gemäss nur über eine geringe Anzahl authentisch beobachteter Fälle
verfügen, weil Sturzgeburten an und für sich selten sind und die
meisten dazu noch bei heimlichen Geburten angegeben werden,
anderntheils durch den Umstand, dass die einschlägigen, mit Kindes¬
leichen angestellten Experimente, da sie den natürlichen Vorkomm¬
nissen doch nur annähernd entsprechen, auch nur als unter¬
stützende Beweismomente dienen können. Wir werden daher gerade
bei der Sturzgeburt nach wie vor darauf angewiesen bleiben, in jedem
gegebenen Falle ganz genau zu individualisiren und, handelt es sich
gar um eine complicirtere Schädelfractur, das Pro et Contra auf
Grund bekannter wissenschaftlicher Erfahrungen um so gewissenhafter
abzuwägen. Keinenfalls aber wird man, etwa von der bekannten
Hohl’schen Voraussetzung, nach welcher alle Angaben solcher Ange¬
schuldigten als „reine Lügen“ betrachtet werden müssen, ausgehend,
unter den „beträchtlichen“ Knochenbrüchen im Sinne Winckel’s schon
jede complicirtere Schädelfractur verstehen und dieselbe ohne Weiteres
als absichtliche Verletzung ansehen dürfen. Vielmehr wird man
hier noch mehr als bei jedem anderen Falle von Kindesmord ohne
Voreingenommenheit durch Hohl’sche Auffassung von den Angaben
der Angeschuldigten auszugehen und dieselben an der Hand der ob-
jectiven Befunde auf ihre Wahrscheinlichkeit zu prüfen haben, wobei
man zuweilen unter Combinirung der fach wissenschaftlichen Erfah¬
rungen mit Ueberlegungen mehr physikalischer Natur zu dem Resultat
gelangen kann, in einer complicirteren Schädelfractur, die beim ersten
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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt.
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Anblick leicht für eine absichtlich erzeugte gehalten werden könnte,
noch die Folgen einer Sturzgeburt zu sehen. So war es in dem vor¬
liegenden Falle, der zwischen den Obducenten und dem Medicinal-
Collegium zu einer Meinungsverschiedenheit, auf die ich weiter unten
zurückkommen werde, geführt hat, und den ich daher mit Bezug auf
denjenigen objectiven Befund, um den sich die Hauptfrage, die Frage
nach der Sturzgeburt, dreht, nämlich die Vorgefundene Schädelfractur,
der weiteren fach wissenschaftlichen Beurtheilung zur Verfügung zu
stellen nicht für unwerth halte.
Ueber den Vorgang der Geburt giebt die Angeschuldigte an, sie habe
Abends, als sie bereits zu Bett gegangen, Sohmerzen verspürt, sei dann aufge¬
standen und habe die nächsten Stunden theils umhergehend, theils mit der Stirn
gegen den Ofen gelehnt dastehend zugebracht. Dann sei ihr plötzlich eine
grössere Menge Flüssigkeit aus den Gescblechtstheilen abgegangeu und eine halbe
oder ganze Stunde später, während welcher Zeit die Schmerzen ununterbrochen
angedauert hätten, sei sie, als sie eben wieder mit der Stirn gegen den Ofen
gelehnt dagestanden, unter heftigem Schmerz plötzlich besinnungslos zusammen¬
gestürzt. Wie lange sie an der Erde gelegen, wisse sie nicht, sie wisse nur. dass
sie beim Erwachen auf dem Rücken gelegen, mit den Füssen nach dem Ofen, mit
dem Kopfe nach der Mitte des Zimmers hin, und dass neben ihr, zur Rechten,
das neugeborene Kind, mit den Füssen nach ihr, mit dem Kopfe nach der seit¬
wärts stehenden Wiege, mit dem Gesicht, wie sie glaube, zur Erde gekehrt, mit
durchtrennter Nabelschnur dagelegen habe. Unter dem Kinde habe sich eine grosse
Lache theils flüssigen, theils geronnenen Blutes befunden, und auch auf der einen
Wiegengangel, in deren Nähe der Kopf des Kindes gelegen, habe ein Klumpen Blut
gelagert, während zu beiden Seiten der Gangei das Blut hinuntergelaufen gewesen
sei. Das Kind sei ihrer Meinung nach todt gewesen; sie habe es dann in die
Schürze gewickelt und anfangs im Kasten, dann im Keller verborgen gehalten.
Als die Sache etwa 14 Tage später ruchbar wurde, brachte die
An geschuldigte den Leichnam zum Physikus nach der Stadt uud ver¬
langte eine private Besichtigung der Leiche und ein Attest darüber,
dass das Kind eines natürlichen Todes gestorben sei.
Eine private Besichtigung wurde natürlich abgelehnt, und es fand
die gerichtliche Section statt, die mit Bezug auf die fragliche Schädel¬
verletzung folgenden Befund ergab:
No. 56 d. S,-P. Die bedeckenden Weichtheile werden durch einen Schnitt
von einem Ohr zum anderen durchtrennt und abgezogen. Es zeigt sich dabei
auf der Innenfläche der Kopfhaut, hauptsächlich entsprechend dem Hinterhaupts¬
bein, ein bedeutendes Quantum dunkel geronnenen Blutes, welches die Gegend
der oberen Hälfte des ganzen Hinterhauptsbeines einnimmt und zwischen Bein¬
haut und weicher Kopfbedeckung in einer Dicke von */ 2 Ctm. lagert. Der ganze
Bluterguss hat eine Ausdehnung von 5 */ 2 Ctm. Breite und 4 Ctm. Höhe. Ferner
befindet sich ein zweiter Bluterguss über der medianen Hälfte des linken Scheitel-
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Dr. M. Frcyer,
beines und zwar unterhalb der Beinhaut, nach deren Entfernung sich die hintere
Ecke des betreffenden Scheitelbeines, welche an die kleine Fontanelle anstösst,
in einer Ausdehnung von 2 , / J Ctm. Durchmesser schräg abgebrochen erweist.
Der Bruchrand bildet eine halbmondförmige, feinzackige Linie, die Bruchfläche
verläuft schräg von hinten aussen nach vorn innen. Ein zweiter Bruch befindet
sich in demselben Scheitelbein, und zwar verläuft die eine Bruchlinie, am me¬
dianen Rand des Scheitelbeines in der Nähe des hinteren Winkels der grossen
Fontanelle beginnend, in einer Länge von 5 Ctm. nach dem Scheitelbeinhöcker
hin, die andere Bruchlinie, 2 Ctm. weiter nach hinten beginnend, etwa 4 Ctm.
weit nach demselben Scheitelbeinhöcker hin, ohne daselbst die erste Bruchlinie
vollständig zu erreichen; es ist somit aus dem Scheitelbein ein dreieckiges
Segment von 2 Ctm. Basis und 5 Ctm. Höhe herausgebrochen und nur an dem
Scheitelbeinhöcker durch eine 4 Mm. breite Brücke mit dem Scheitelbein noch in
Verbindung. Während die erstbeschriebene Bruchlinie quer durch den Knochen ! )
durchgeht und im Ganzen eine etwas zackige Linie bildet, verläuft die zweite
Hin U'rhauptsbcin
Stirnbein
Linkes
Scheitelbein
Rechten
Scheitelbdn
l ) soll bedeuten: senkrecht durch die Dicke des Knochens.
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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt.
287
Bruchlinie von vorn aussen nach hinten innen ebenfalls in einer unregelmässig
zackigen Linie. Endlich befindet sich ein Knochenspalt in dem Hinterhaupts¬
beine und zwar an der kleinen Fontanelle beginnend, 2 Ctm. lang nach dem
Hinterhauptshöcker verlaufend.
57) In der Kopfschwarte erweist sich das Gewebe besonders in der Gegend
des Hinterhauptes und des linken Scheitelbeines ziemlich gleichmässig mit Blut
durchsetzt.
61) Auf dem Gehirn lagert entsprechend dem linken Seitenwandbein und
auf dem vorderen Lappen eino dünne Schicht dickflüssigen, dunkeln Blutes.
62) Nach Entfernung des Gehirns .... zeigt sich auch am ganzen Schädel¬
grunde eine dünne Schicht zähflüssigen, dunkeln Blutes.
64) Verletzungen der Knochen am Schädelgrunde sind nicht zu constatiren.
65) Das durch Brüche beschädigte linke Scheitelbein wird in Asservation
genommen.
Von demselben ist die angefügte Zeichnung nach der Natur gefertigt
worden.
Mit Bezug auf die übrigen Sectionsbefunde konnten wir sowohl
in unserem vorläufigen, als auch später in dem motivirten Gutachten
begründen:
1) dass das Kind nach der Geburt gelebt und geathmet hatte,
2) dass es reif und lebensfähig gewesen,
3) dass es an Blutung in die Hirnhöhle gestorben, und
4) dass die tödtliche Blutung derselben Gewalteinwirkung ihre
Entstehung zu verdanken gehabt, durch welche die Schädel¬
verletzung erzeugt worden.
Denn wenngleich ein direkter Zusammenhang zwischen den internen
Blutergüssen und den Fracturen, resp. den dieselben umgebenden Blut¬
ergüssen durch die Obduction nicht nachzuweisen war, so war ihr
indirekter Zusammenhang doch ein ganz augenscheinlicher. Erstens
waren die Blutergüsse vermöge ihrer Reichlichkeit und theilweise ge¬
ronnenen Beschaffenheit als während des Lebens entstanden an¬
zusehen, zweitens correspondirten dieselben mit Bezug auf den Ort der
Affection — linkes Scheitelbein, linke Hirnhälfte — so auffallend,
dass aus diesen Umständen auf ihre gemeinsame Entstehungsursache
geschlossen werden musste.
Somit lag eine tödtliche Schädelverletzung vor, deren Entstehungs¬
ursache nach der Schilderung des GeburtsVorganges seitens der An¬
geschuldigten in einer aus dieser Schilderung zu folgernden Sturz¬
geburt zu suchen war.
In Betracht konnten dagegen noch kommen: intra partum ent¬
standene Schädelverletzung und vorsätzliche Schädelverletzung nach
der Geburt.
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288
Dr. M. Freyer,
Von dem Vorliegen einer Schädelverletzung intra partum durfte
füglich abgesehen werden, da weder die Geburt nach Schilderung des
Herganges bei derselben als eine abnorm schwere anzusehen war,
noch nach dem Ergebniss der nachträglichen Beckenuntersuchung etwa
abnorme Beckenenge und demgemäss ein räumliches Missverhältniss
zwischen mütterlichem Becken und Kindesschädel constatirt worden ist,
noch an dem letzteren endlich Ossificationsdefecte oder sonst abnorm
brüchige Stellen an den einzelnen Knochen gefunden worden sind.
Dagegen sprach für eine vorsätzliche Schädelverletzung nach der
Geburt im Allgemeinen zunächst die Mannigfaltigkeit der Schädel¬
knochenverletzung.
Um die Frage nun, ob vorsätzliche Schädelverletzung oder Sturz¬
geburt als vorliegend anzunehmen sei, zur Entscheidung zu bringen,
mögen wir uns die Form und Ausbreitung der Verletzung etwas
genauer ansehen und dann prüfen, wie weit dieselbe mit der einen
oder anderen Annahme in Einklang zu bringen ist.
Die Verletzung am Schädel betraf drei verschiedene Stellen: auf
der Mitte des linken Scheitelbeins befanden sich die beiden radiär vom
Scheitelbeinhöcker zum Pfeilnahtrande zwischen den Ossificationsstrahlen
verlaufenden Fissuren a und bb nebst einer kleinen Nebenfissur c, die
übrigens erst nach dem Trocknen des Knochens erkennen Hess, dass
der letztere an dieser Stelle auffallend dünn war; ferner an der
hinteren oberen, der kleinen Fontanelle angrenzenden Ecke desselben
Scheitelbeins die zackige, schräg über die Ossificationsstrahlen hinweg¬
ziehende Bruchlinie d, längs welcher die gesammte Ecke in schräger
Richtung von vorn innen nach hinten aussen vom übrigen Knochen
abgebrochen war; und endlich am Hinterhauptsbein die von der Spitze
nach dem Höcker desselben verlaufende, 2 Ctra. lange Fissur e.
Hält man dieser Mannigfaltigkeit der Verletzungen dasjenige gegen¬
über, was Skrzeczka und andere Autoren mit Bezug auf Verletzung
der Kopfknochen durch Kindessturz sagen, so scheint die vorliegende
Verletzung in den Rahmen der durch Kindessturz für gewöhnlich
entstehenden Schädelknochenverletzungen auf den ersten Blick nicht
hineinzupassen. Skrzeczka 1 ) sagt nämlich mit Bezug auf den
Kindessturz:
„Ist der Schädel verletzt, was hei mangelhafter Ossifioation besonders leicht
der Fall sein wird, so findet man den Brach an einem oder dem anderen Seiten¬
wandbein, seltener am Hinterhaupt. Der Bruch ist einfach, spaltförmig, meistens
') Uaschka, Handbuch der gerichtlichen Medioin, Bd. I. p. 967.
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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt.
289
vom Knochenrande nach dem Verknöcherungspunkt verlaufend; seltener gehen
vom letzteren zwei Knochenbrüche aus; zwei verschiedene Knochen kön¬
nen nur verletzt werden, wenn von einem Punkte einer Naht aus
ein Bruch in die beiden sie begrenzenden Knochen hineingeht.“
Auch Hofmann*) sagt in dieser Beziehung:
„Am häufigsten findet man einen Sprung, der vom Pfeilnahtrande, meist
gegen die Mitte zu, beginnt, zwischen den Ossificationsstrahlen radiär zum
Scheitelhöcker hinzieht und von da aus unter einem nahezu rechten Winkel aber¬
mals radiär entweder gegen die Kranznaht oder gegen die Lambdanaht sich fort¬
setzt. Auch nur eine einfache solche Fissur kann sich bilden.' Seltener sahen
wir wirkliche zackige Fracturen entstehen, indem der Knochensprung
schräg über die Ossificationsstrahlen hinwegzog, immer den inneren Theil des
Seitenwandbeins betreffend. Zweimal fanden wir in dem einen Scheitelbein eine
winklige Fissur, im anderen eine zackige Fractur, aber in allen Fällen hatten
die betreffenden Schädelbrüche eine solche Beschaffenheit, dass sie deutlich ihre
Entstehung aus plötzlicher Gompression der Wölbung des Schädels erkennen liessen.
Eine unregelmässige oder mehrfache Zertrümmerung der Schädelkno-
cben kann sich nur bei Sturz aus grosser Höhe bilden, während
solche Beschädigungen bei absichtlicher Tödtung des Kindes leicht Vorkommen
können . .
Und endlich heisst es bei Casper-Liman 2 ):
„Mehrfache Fracturirungen verschiedener Schädelknochen, die gleich¬
zeitig vorgefunden werden, z. B. eines oder beider Scheitelbeine und des Stirn¬
oder eines Schlaf- oder des Hinterhauptbeins lassen die Annahme eines zu¬
fälligen Kindessturzes um so weniger zu, als blosser Contrecoup bei der Nach¬
giebigkeit des Schädels des Neugeborenen nicht stattfinden kann.“
Wir sehen also alle Forscher mit Bezug auf den Kindessturz an '
die Form der Schädelknochenverletzung gewisse Bedingungen knüpfen,
sofern sie möglichst einfachen, radiären Verlauf der Bruchlinien, vor¬
wiegend Beschränkung auf das Scheitelbein und vor Allem eine gewisse
Einheitlichkeit der Verletzung an sich verlangen. Sind jedoch
mehrere Verletzungen an einem oder gar an zwei verschiedenen
Knochen vorhanden, so werden die Bedingungen noch strenger, indem
nach Skrzeczka 3 ) die Verletzungen alsdann von einem Punkte einer
Naht aus in die beiden sie begrenzenden Knochen hineingehen müssten,
nach Hofmann 4 ) der Sturz mindestens aus grosser Höhe stattgefunden
haben müsste, und nach Casper-Liman 3 ) die Annahme einer Sturz¬
geburt alsdann überhaupt nicht zulässig sei.
') Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin, II. Aufl. 1881. p. 689.
*) Casper-Liman, Prakt. Handb. der gerichtlichen Medicin, 6. Aufl. 1876,
II. Bd. p. 955.
*) L c. «) 1. c. *) 1. c.
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Dr. M. Freyer.
Von diesen Bedingungen finden wir nun an der Knochenverletzung
des vorliegenden Falles durchaus nicht alle erfüllt, und dennoch wird,
wie wir sehen werden, die Entstehung der vorliegenden Verletzungen
durch Kindessturz durch Form und Nebenumstände nicht nur in das
Bereich der Möglichkeiten, sondern zum Mindesten in das der grössten
Wahrscheinlichkeit gerückt.
Wir haben es hier mit einer dreifachen Schädel Knochen¬
verletzung zu thun, und zwar unter Betheiligung zweier ver¬
schiedener Knochen (des linken Scheitel- und des Hinterhaupts¬
beines) und zweier verschiedener Stellen desselben Knochens
(Mitte und hinterer Ecke des medianen Theiles des linken Scheitel¬
beines). Es handelt sich also um eine complicirte, mehrfache Zer¬
trümmerung der Schädelknochen, bei der neben zwei zwischen den
Ossificationsstrahlen radiär zum Scheitelbeinhöcker hinziehenden Fissu¬
ren (a und bb ) eine dritte Fractur (d) schräg über die Ossifications¬
strahlen desselben Knochens hinwegzieht, ohne dass diese letztere
mit der Fissur des benachbarten Knochens, des Hinterhauptbeins (e),
einen direkten Berührungspunkt besitzt.
Bei dieser Mannigfaltigkeit der Verletzung wird daher in erster
Linie die Einheitlichkeit ihrer Entstehung zu prüfen sein.
Denn, sollen alle diese einzelnen Knochenverletzungen mit der An¬
nahme einer Sturzgeburt in Einklang gebracht werden können, so
müsste die gesammte Verletzung auf einmal, durch eine einmalige
Gewalteinwirkung, wie sie die Sturzgeburt bedingt, entstanden sein
können. Und das ist nach meiner Auffassung durchaus der Fall. Es
lässt sich, wie ich eben meine, für die Entstehung dieser complicirten
Verletzung durch Kindessturz eine einfache und ungezwungene Erklä¬
rung geben.
Ich stelle mir nämlich vor, dass beim Aufschlagen des Schädels
auf den harten Fussboden das eine etwa in der Näho des Höckers
getroffene Scheitelbein, hier das linke, an seiner Wölbung eingedrückt,
der schalenförmige Knochen also expandirt werden wird, wobei er von
seiner Wölbung aus nach dem Rande hin oder in umgekehrter Rich¬
tung in der hier constatirtcn Weise radienförmig leicht ein- oder mehr¬
mals einplatzen kann. Bei der durch den Stoss bewirkten starken
Ucber- und Untereinanderschiebung der einzelnen Knochen und der
dadurch bedingten Niveauverschiebung der letzteren wird danu das
getroffene Scheitelbein sich unter das andere Scheitelbein und auch
unter das Hinterhauptsbein, das sonst unter jenes geschoben zu sein
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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt. 2t) t
pflegt, hinunterschieben, die hintere Ecke dos Scheitelbeins wird sich
gegen die nun emporgerichtete Spitze des Hinterhauptsbeins anstemmen
und, wenn die Kraft des Stosses ausreicht und vielleicht gerade mehr
nach dieser Ecke hin gerichtet ist, sogar abbrechen, während die
Hinterhauptsspitze, die nicht weiter nach hinten ausweichen kann, in
Folge der Zerrung, der sie hierbei unterworfen ist, nur einplatzt.
Dieses Einplatzen wird vielleicht noch durch den Umstand begünstigt,
dass an dieser Stelle des Hinterhauptsbeins der Sitz einer spaltförmigen
Ossificationslüeke zu seiu pflegt. So ist es mir durchaus denkbar und
erscheint mir auch mit den Gesetzen der Physik in Einklang stehend,
dass alle Verletzungen auf einmal, durch eine einmalige
Gewalteinwirkung, also auch durch Sturzgeburt entstanden
sein können.
Was nun die Form und Natur der einzelnen ßruchlinicn anlangt,
so sind nach vorstehender Erklärung die beiden, zwischen Höcker und
Pfeilnaht gefundenen Fissuren a und bb als direkt durch den Stoss
erzeugte anzusehen, welche Auffassung der an wirklich beobachteten
Sturzgeburten und durch Experimente mit Leichen gewonnenen Erfah¬
rung entspricht, nach der bei direkter und plötzlicher Einwirkung der
Gewalt auf das Scheitelbein Fissuren und zwar zwischen den Ossifica-
tionsstrahlen verlaufende Fissuren entstehen. Ob ihre Entstehung vom
Rande nach dem Scheitelhöcker oder in umgekehrter Richtung vor
sich geht, hängt nach v. Hofmann') von der Stelle der Gcwalt-
einwirkung ab, indem beim Ein wirken der Gewalt auf die Scheitel¬
höhe, also auf die Gegend der Fontanelle, in Folge allzu starker
Wölbung der Knochen und Verkürzung ihres sagiltalen Durchmessers
der Knochen vom Höcker nach dem Rande hin einplatzt, während bei
Einwirkung der Gewalt auf den Höcker selbst oder dessen nächste
Nähe in Folge der Erweiterung des Spannungsbogens die Ossifications-
lücken gewissermassen fächerartig auseinandergespreizt werden, die
Fissuren also vom Rande aus beginnen, ln dem vorliegenden Falle
würde der gegebenen Erklärung entsprechend letzterer Vorgang statt¬
gefunden haben, womit auch der Umstand leichter übereinstiramen
würde, dass die Fissuren nach demselben Nahtrande ausliefen und
nicht, wie es sonst auch beobachtet wird, nach verschiedenen Nähten
divergirten.
Die zackige Fractur d an der Fontanellecke dagegen ist als eine
') Siehe die in der Anmerkung unten citirte Schrift desselben.
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Dr. M. Freyer,
indirekte, durch plötzliche Unterbrechung der Expansion des Kno¬
chens entstanden, aufzufassen, wofür zunächst die schräg von vorn
innen nach hinten aussen verlaufende Richtung der Bruchlinie spricht.
Analogieen für diese Form der Verletzung, sofern dieselbe eine in¬
direkte Verletzung neben der direkten Verletzung desselben
Knochens darstellt, bieten die einschlägigen Beobachtungen nicht dar;
nach dem obigen Citat sah Hofmann wol, wenn auch selten, wirk¬
liche zackige, schräg über die Ossificationsstrahlen hinwegziehende
Fracturen des einen Scheitelbeins; alsdann befanden sich aber die
zwischen den Ossificationsstrahlen verlaufenden Fissuren in dem an¬
deren Scheitelbein. Dennoch sehe ich in meiner Auffassung über die
Entstehung dieser zackigen Fractur als einer zugleich mit der direkten
Verletzung desselben Knochens entstandenen indirekten Fractur nichts
Gezwungenes; man darf nur berücksichtigen, dass es sich um eine
ziemlich spitz auslaufende Ecke des Knochens handelt, die in Folge
der Expansion desselben dem Hinterhauptsbein näher gerückt und in
Folge des an dem letzteren gefundenen Widerstandes in der Nähe
des Widerstandspunktes — die grösste Entfernung von der Spitze
des Knochens zur Mitte der Bruchlinie beträgt nach nachträglicher
Messung 18 Mm. — abgebrochen ist. Anders wäre es vielleicht, läge
die Bruchlinie von der Fontanellecke weiter entfernt und mehr nach
der Mitte des Scheitelbeins hin.
Der Spalte in der Hinterhauptsspitze endlich ist möglicherweise aus
einer bereits präformirt gewesenen Ossificationsspalte hervorgegangen,
doch übertraf er dieselbe, da eine solche in der Regel nur 1—1V 2 Ctm.
lang zu sein pflegt, alsdann um %—1 Ctm. an Länge. Seine Entstehung
ist dann ebenfalls eine indirekte, allerdings entgegen der Auffassung
von Casper-Liman 1 ), die eine gleichzeitige Fracturirung eines oder
beider Scheitelbeine neben der der Hinterhauptsschuppe als einer
Fractur par Contrecoup nicht gelten lassen, dagegen in Uebereinstim-
mung mit Hofmann 2 ), der das Vorkommen indirekter Fracturen, im
anderen Scheitelbein wenigstens, anerkennt, und mit Skrzeczka 3 ) in¬
sofern in Uebereinstimmung, als man wenigstens die Gegend der kleinen
Fontanelle als den gemeinsamen Ausgangspunkt der indirekten Gewalt¬
einwirkung für Spalt e und Schrägbruch d gelten lassen kann. *)
') 1. c. *) 1. c. *) 1. c.
4 ) Wie sehr übrigens meine theoretischen Erwägungen mit Bezug auf die
Deutung einzelner Fracturen als indirekter, sowie meine Annahme der Entstehung
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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt.
293
War somit dio Möglichkeit der Entstehung sämmtlicher Schädel-
knochenfracturen durch Sturzgeburt gegeben, so wurde die Wahr¬
scheinlichkeit dieses Geburtsvorganges in dem vorliegenden Falle
noch durch folgende Umstände offenbar.
Von Seiten des Kindes war zu bemerken, dass die Nabelschnur
in der Nähe des Nabels (10 Ctm. von demselben entfernt) durch-
rissen und ununterbunden gefunden wurde. Die am Hinterkopf
constatirte Kopfgeschwulst, die bei Sturzgeburten übrigens ebensowol
fehlen, als vorhanden sein kann, sprach durch ihr Vorhandensein
ebensowenig gegen die Annahme einer Sturzgeburt, wie der Umstand,
dass der Schädel nach dem Sitz der Kopfgeschwulst am Hinterhaupte
mit diesem voran zur Geburt in’s Becken sich eingestellt haben musste.
Denn deswegen brauchte derselbe beim Hervorstürzen nicht gerade mit
dem Hinterhaupte auf den Fussboden aufzuschlagen; beim Hinunter¬
stürzen ändert der Körper vermöge der verschiedenen möglichen Körper¬
haltungen seinen Schwerpunkt so mannigfach, dass der Schädel eben¬
sowol mit dem Hinterhaupte, wie mit einem oder beiden Scheitelbeinen
sämmtlicher Fracturen durch einmalige Gewalteinwirkung, also auch durch Auf¬
stürzen des Schädels gerechtfertigt erscheinen, entnehme ich nachträglich aus
v. Hofmann’s neuester Schrift über die Entstehung sogenannter „löffelformiger“
Eindrücke 1 ), indem derselbe einen Fall beschreibt, in welchem sich neben einem
löffelförmigen Eindruck des linken Scheitelbeins ein klaffender, feinzackiger, zwischen
den Ossificationsstrahlen nach dem Höcker und von diesem nach der hinteren äusse¬
ren Ecke verlaufender Knochensprung im rechten Scheitelbein befand. Auf Grund
nach dieser Richtung hin mit Leichen Neugeborener angestellter Versuche gelangte
v. H. entgegen seiner vorherigen gutachtlichen Aeusserung neben der Hauptfrage
nach der künstlichen Erzeugung löffelförmiger Eindrücke für den fraglichen Fall
zu der weiteren Schlussfolgerung, dass Impression und Winkelfissur nicht durch
zwei verschiedene, sondern durch eine Gewalt entstanden seien, und zwar erstere
auf direktem, letztere auf indirektem Wege, ferner dass beide Läsionen durch Auf¬
stürzen des Schädels entstanden sein können. Er nimmt also auf Grund seiner
Experimente indirekte Entstehung von Fracturen neben direkter Entstehung der¬
selben ausdrücklich an und findet, dass unter Umständen beide Läsionen durch
eine Gewalteinwirkung entstanden sein können, Schlussfolgerungen, auf die ich
am Schlüsse meiner Ausführungen vorwiegend auf Grund theoretischer Erwägungen
ebenfalls hinausgekommen bin.
! ) E. v. Hof mann, Zur Casuistik der intrauterinen Verletzungen der Frucht
und der Befunde, die dafür gehalten werden können. Versuche, betreffend die
Entstehung von sog. löffelförmigen Eindrücken am Schädel des Neugeborenen und
Bemerkungen über Brüche der letzteren. Separat-Abdruck aus der Wiener medic.
Presse, 1885, No. 18, 20, 21, 24, 26 und 28.
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294
Dr. M. Frey er,
aufschlagen kann, welches letztere erfahrungsgemäss sogar häufiger
geschieht. Ferner waren sämmtliche Schädeldurchmesser, sowie auch
die übrigen Körpermaasse als normale, keineswegs übermässig grosse
zu bezeichnen, und die stellenweise unvollkommene Luftfüllung der
Lungen war ebenfalls eher geeignet, die Annahme einer Sturzgeburt
zu stützen, da diese den Tod meist rasch herbeizuführen pflegt.
Von Seiten der Mutter kamen in erster Linie die Beckenmaasse
in Betracht, die nach dem Resultat der vorgenommenen Untersuchung
sich als durchaus normale und zu den Maassen des Kindskopfes in
einem solchen Verhältnis stehend sich erwiesen, dass sie der Annahme
einer stattgehabten Sturzgeburt nicht widerstreiten durften. Eine flache
Narbe am Damm der Angeschuldigten als Zeichen eines beim Geburts-
vorgange entstandenen Einrisses durfte ferner für ein stürmisches
Hindurchgetretensein des Kindskopfes durch die Geschlechtswege und
somit ebenfalls für Sturzgeburt sprechen, desgleichen der Umstand,
dass die Gebärende in dem vorliegenden Falle Erstgebärende war,
da Sturzgeburten erfahrungsgemäss häufiger gerade bei Erstgebärenden
Vorkommen.
In Betreff der allgemeinen Umstände endlich, die der Fall
darbot, war hervorzuheben, dass weder die lokalen Verhältnisse, noch
die Schilderung des ganzen GeburtsVorganges mit allen seinen Neben¬
umständen irgend etwas Unwahrscheinliches darboten, vielmehr durchaus
einem Vorgänge entsprachen, wie er beim Statthaben einer Sturzgeburt
sich abspielen kann. Der anfangs zögernde Geburtsverlauf, die Unruhe,
die die Kreissende thcils durch Umhergehen, theils durch Stehen neben
dem Ofen zu bemeistern sucht, der Abgang des Fruchtwassers kurz
vor Eintritt der Katastrophe, das ohnmächtige Zusammensinken beim
Eintritt derselben, die Situation, in der sich die Mutter beim Erwachen
aus der, Ohnmacht neben dem Kinde an der Erde findet, der harte,
gedielte Fussboden, vielleicht gar die eine mit Blut besudelte Wiegen¬
gangel, auf die das Kind mit dem Schädel aufgestürzt sein mochte:
alles dieses waren Momente, die den Vorgang als den einer Sturz¬
geburt durchaus plausibel erscheinen Hessen.
Weniger leicht lässt sich nun nach meiner Meinung Form und
Ausbreitung der Schädelknochenverletzung mit der Annahme einer
absichtlichen Tödtung in Einklang bringen. Und hiermit komme ich
auf die abweichende Auffassung des Falles seitens des Medicinal-
Collegiums.
Ausgehend von der Erfahrung, dass Sturzgeburten überhaupt
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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt.
295
selten seien und tödtlich verlaufende Sturzgeburten noch seltener,
wurde die Ausdehnung der Knochenverletzungen doch so gross ge¬
funden, dass für die Entstehung derselben eine stärkere Gewalt¬
einwirkung vorausgesetzt wurde, als sie die Sturzgeburt zu bedingen
pflegt. Ferner wurde mit Bezug auf die Mannigfaltigkeit der Ver¬
letzungen die Vorstellung für schwer zulässig gehalten, dass die drei
von einander entfernt liegenden Knochensprünge im Scheitelbein --
von dem Spalt im Hinterhauptsbein wurde ganz und gar abgesehen,
da derselbe ohne Weiteres für einen Verknöcherungsspalt angesehen
wurde — durch ein Aufstossen des Kindes bei einer Sturzgeburt her¬
vorgerufen sein sollten, zumal das andere Scheitelbein ganz intakt
geblieben war. Endlich wurde auch den verschiedenen Nebenumständen,
die in Betracht zu ziehen waren, eine von der meinigen abweichende
Deutung beigelegt: die stellenweise unvollkommene Luftfüllung der
Lungen wurde noch für zu ausgiebig gehalten, als sie bei einem durch
so ausgedehnte Knochenverletzungen und Gehirnblutungen bedingten
schnellen Tode hätte sein dürfen; Vorhandensein der Kopfgeschwulst
und Sitz derselben am Hinterhaupte sollten ebenfalls mehr gegen die
Sturzgeburt sprechen, ersteres, weil es eine verhältnissraässig lange
Dauer der Geburt bekundete, letzterer, weil das Kind, da es nach
diesem Sitz mit dem Hinterhaupte voran sieh zur Geburt eingestellt
haben musste, beim Hervorstürzen wahrscheinlicher mit diesem und
nicht mit dem Scheitelbein aufgeschlagen sein sollte; und endlich
sollte die Einrissnarbe am Damm als Zeichen des stärkeren Wider¬
standes, den die Weichtheile dem Vordringen des Kindes entgegen¬
gesetzt, weniger für ein stürmisches Hindurchtreten, als für eine
Verzögerung der Geburt überhaupt sprechen. So wurde schliesslich
das Resultat gewonnen, dass alle Befunde in ihrer Gesammtheit ihre
einfache Erklärung darin fänden, dass das Kind durch Schläge mit
einem stumpfen Werkzeuge gegen den Kopf getödtet und dass bei
dieser gegen das linke Scheitelbein gerichteten Gewalt dieser Knochen
zersplittert worden sei.
Es muss allerdings die Möglichkeit zugegeben werden, dass die
Verletzung, wie sie hier vorlag, auch durch einen mit einem stumpfen
Werkzeuge gegen den Kindesschädel geführten Schlag oder durch ein
Schleudern des Schädels gegen den harten Fussboden erzeugt sein konnte.
Allein auffallend bliebe alsdann die Mässigung, mit der dies geschehen
sein müsste, da bekanntlich bei absichtlicher Tödtung die Gewaltein¬
wirkung eine mehr rohe, weit über das Maass hinausgehende, die Ver-
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Dr. M. Freyer,
letzung demgemäss auch eine ausgedehntere zu sein pflegt und die hier
vermissten Verletzungen anderer Körpertheile nicht zu fehlen pflegen.
Ausserdem ist aber auch die Form der Knochenverletzung an sich nicht
die bei absichtlicher Tödtung gewöhnlich vorkommende. Es muss
hier ganz besonders betont werden, dass die beiden Spalte in der Mitte
des Scheitelbeins, die, welche Gewalteinwirkung hier auch angenommen
werden mag, für die Hauptverletzung anzusehen sind, zwischen den
Ossificationsstrahlen verliefen; die Erfahrung lehrt aber, dass
bei absichtlich erzeugten Schädelknochenverletzungen die Form der
Fissuren eine vorwiegend unregelmässige, den Verlauf der Strahlung
nicht durchaus einhaltende zu sein pflegt. Die Mannigfaltigkeit der
Verletzungen, die anfangs für absichtliche Tödtung zu sprechen schien,
ist hier nur eine scheinbare; sie wäre thatsächlich nur dann vorhanden,
wenn die Entstehung der Verletzungen in ihrer Gesammtheit durch
eine einmalige Gewalteinwirkung nicht zu erklären wäre. Hier lässt
sich aber eine solche Erklärung ganz ungezwungen geben. Auch der
Umstand, dass die Verletzungen sich vorwiegend auf das eine Scheitel¬
bein beschränkten, spricht nach meinem Dafürhalten eher für ihre
Entstehung durch Sturz, als durch absichtliche Gewalteinwirkung. Es
ist mir plausibeler, dass beim Aufschlagen des Schädels durch Sturz
nur das eine Scheitelbein und dieses, gerade an seiner Wölbung als
dem am meisten vorspringenden Punkte getroffen, nur bis zum Rande
zerbricht, ohne dass der Bruch über denselben hinaus auf das andere
Scheitelbein übergeht, als dass bei Schlägen mit einem stumpfen Werk¬
zeuge, als welches hier füglich nur ein Stock oder ein Stück Holz zu
denken wäre, gerade der eine Knochen allein getroffen werden sollte.
Auch würden in letzterem Falle Sugillationen unter die Haut und
Epidermisabschürfungen eher zu erwarten sein, als nach einem ein¬
maligen Aufstürzen des Schädels.
Mögen diese Erwägungen jedoch einer jeweilig verschiedenen sub-
jectiven Auffassung unterliegen: objectiv bleibt immerhin für den vor¬
liegenden Fall zu Gunsten der Sturzgeburt der Umstand von
Entscheidung, dass die als Hauptverletzung anzusehenden Knochen¬
spalte den Verlauf der Ossificationsstrahlen einhielten und im Verein
mit den Nebenverletzungen durch eine einmalige Gewalteinwirkung
erklärt werden können, während für die Annahme einer absichtlichen
Tödtung die Form der Schädelverletzung ein positives Merkmal nicht
darbietet.
Somit tritt zu der Möglichkeit einer vorliegenden Sturzgeburt
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Tod des Neugeborenen durch fragliche Sturzgeburt.
297
noch die Wahrscheinlichkeit einer solchen, über die hinaas jedoch
bei dem Fehlen jedes positiven Beweises füglich nicht gegangen
werden darf.
Wenngleich ein solcher positiver Beweis auf keine Weise zu er¬
bringen ist, weder durch das freisprechende Urtheil der Geschworenen
und Richter, noch durch ein nachträgliches Betheuern der Angeschul¬
digten, in keiner Weise Hand an das Kind gelegt zu haben, so bleibt
von praktischem Werthe für die Beurtheilung dieses und ähnlicher Fälle
immerhin die Thatsache, dass eine dreifache Schädelknochen¬
verletzung, bei der zwei verschiedene Knochen (Scheitel-und
Hinterhauptsbein) und der eine davon an zwei verschiedenen
Stellen fracturirt vorgefunden worden sind, die Annahme
eines zufälligen Kindessturzes unter gewissen Umständen
noch zulässt. Als weitere Folgerung würde mit Bezug auf die den
Kindessturz betreffenden, oben angeführten Citate der genannten gerichts¬
ärztlichen Autoren sich ferner ergeben, dass bei mehrfacher Zer¬
trümmerung der Schädelknochen neben direkten auch in¬
direkte Fracturen, selbst gleichzeitig an ein und demsel¬
ben Knochen, in Betracht kommen können.
3.
Erstickung des neugeborenen Kindes durch EinhAllen in einen
Rock und Vergraben in Sunde,
Von
Dr. Chlumgky,
Kreisphyiikm in Zielontig.
Dem Königl. Amtsgericht verfehlen wir nicht, in der Vorunter¬
suchungssache gegen die unverehelichte Pauline S. aus A. wegen Kindes¬
mords das erforderte motivirte Gutachten unter Rücksendung der Acten
nachstehend ergebenst zu erstatten.
Am 12. Juli 1885 wurde in der Warthe bei A. die Leiche eines Neugebor-
nen angeschwemmt gefunden, welches, wie spätere Recherchen ergaben, von der
19 Jahre alten unverehelichten Dienstmagd Pauline S. in der Nacht vom 7. zum
8. ej. ohne irgendwelchen Beistand geboren worden war.
Die Pauline S., die seit Weihnachten 1883 bei dem Eigenthümer H. in A.
in Diensten stand, und die ihrer eigenen Angabe zufolge bald nach Weihnachten
Vierteljahr*, ehr. f. gor. Med. N. P. XLTV. 3 .
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Dr. Chlumsky,
1884 mit dem za jener Zeit angezogenen Dienstkneoht P. in geschlechtlichen
Verkehr gerathen war, nach Angabe des letzteren jedoch solchen bereits vorher
mit dessen Vorgänger im Dienste gepflogen hatte, hat ihre Schwangerschaft, an
die sie selbst nicht geglaubt haben will, verheimlicht, bezw. dieselbe noch im
Anfang Juni 1885 auf Befragen ihrer Dienstherrschaft in Abrede gestellt.
Sie habe sich stets wohl gefühlt, and nur am Abend des 7. Juli habe sie
starke Kreuzschmerzen and Athembeschwerden bekommen, welche sie übrigens
auf eine 2 Tage zuvor beim Heuabladen stattgefundene Ueberarbeitung bezogen,
und derentwegen sie den p. P. ersucht habe, sie zu ziehen, was jener, indem er
seine Knie in ihr Kreuz stemmte, gethan, ohne dass sie eine Linderung der
Schmerzen empfunden hätte.
Ueber den Geburtshergang selbst macht sie nun die summarische Angabe,
dass, nachdem sie an jenem Tage Abends 11 Uhr sich in ihrer Kammer mit
Kleidern auf das Bett gelegt und sich w unter den furchtbarsten Schmerzen bis
V 2 3 Uhr früh wie ein Wurm gewunden“ hätte, zu dieser Stunde die Geburt
erfolgt sei, nachdem sie noch vor dem Act selbst sich umkleidete und ihr Bett
vor die Thür geworfen hatte. Das Fenster habe offen gestanden und der Zug
sei ihr über den Körper gegangen.
Sie habe vielfach und lange andauernd während der Geburtswehen um
Hülfe gerufen, ohne dass Jemand ersohien.
Hach Austritt des Kindes sei sie zunächst völlig ohne Bewusstsein gewesen,
bis sie dann durch das Gefühl des Frierens wieder zu sich gekommen sei. Als
sie dann das Kind, welches auch im Bett lag, berührte, habe sie bemerkt, dass
es ganz kalt und ohne Leben sei.
Sie habe sich nun, um Kräfte zu sammeln, eine kleine Weile wieder nieder¬
gelegt, habe das Kind mit einem alten Rocke überzogen, sei, in höchstem Maasse
angegriffen und mit zitternden Knieen aufgestanden und an die Scheune gegangen
und habe das Kind dort im Sande verscharrt.
Am Abend des 8. Juli habe sie, da ihr der Gedanke, dass die Hunde heran-
gehen könnten, Ekel eingeflösst habe, das Kind wieder ausgescharrt, den Rock
an Ort und Stelle zurückgelassen und die Leiche nackt am Ende einer Buhne
in die vorbeifliessende Warthe gelegt und dem Wasser überlassen.
Sie selbst sei demnächst wieder in ihren Dienst gegangen, den sie überhaupt
an keinem der Tage unterbrochen habe.
Am 14. Juli 1885 haben wir die Leiche des Kindes in R. obducirt
und darüber Folgendes zu gerichtlichem Protokoll erklärt.
A. Aeussere Besichtigung. 1) Die weibliche Leiche ist 49 Ctm. lang
und 1520 Qrm. schwer und gehört einem Neugebornen an. — 2) Dieselbe ist
von leidlich kräftigem Körperbau, das Fettpolster an den Oberschenkeln gut ent¬
wickelt, die Hautdecken glatt. — 3) Leiohenstarre ist nirgends vorhanden. —
4) Die Leiche ist am ganzen Körper reichlich mit Sand und Schlamm beschmutzt,
ganz besonders reichlich findet sich Sand am Kopf und Gesicht. An vielen
Stellen des Körpers finden sich zahllose kleine Maden vor, an der Innenseite des
linken Oberschenkels sitzt eine gewöhnliche Wasserschnecke auf. — 5) Die Farbe
des Körpers erscheint nach Abspülung des Schlammes im Allgemeinen als ein
blasses Blaugrün, so namentlich am Rumpf, während am Kopfe dieser Färbung
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eine mehr röthliche Nuance beigemischt ist. Am Rücken erscheint die Farbe im
Allgemeinen als ein dunkleres Grün, aus welchem schmutzigdunkelbläuliche und
schmutzigbraunröthliche Partien hervortraten. — 6) Die Oberhaut ist am ganzen
Körper, am Kopf wie Rumpf, vielfach abgelöst und zumeist nur noch in Fetzen
vorhanden, die unter dem Wasserstrahle flottiren. — 7) Eine Veränderung der
ad 5 beschriebenen Verfärbung ist durch Fingerdruck nirgends zu erzielen. Bei
Einschnitten in die verschiedensten Verfärbungsstellen, von denen sich die dunkel¬
bläulichen und die dunkelbraunröthlichen am Rücken etwas härtlich anfühlen,
tritt Blut aus durchschnittenen Gefässen fast nirgends hervor, und zeigt sich nur
das Gewebe überall vollkommen gleichmässig schmutzigblauröthlich, stellenweise
mit einem Stich ins Rosafarbene, durchtränkt; nirgends findet sich ins Gewebe
ausgetretenes Blut. — 8) Irgendwelche Spuren von käsigem Ueberzug der Haut
sind am ganzen Körper nicht vorhanden. — 9) Am Kopf, der, soweit die Ober¬
haut noch erhalten ist, mit ungefähr 1.5 Ctm. langen, anscheinend dunkelblonden
Haaren spärlich besetzt erscheint, beträgt der gerade Durchmesser 9,5, der quere
Durchmesser 8,0 und der diagonale 10,5 Ctm. Die Schädeldecken erscheinen
von der knöchernen Unterlage weit abgehoben und bieten dem Finger das Gefühl
der Schwappung und vollkommen schwammigen Consistenz; durch dieselben hin¬
durch sind die Kopfknochen als leicht beweglioh und übereinandergeschoben
hindurchzufühlen, insbesondere scheint das Stirnbein unter die Seitenwandbeine
verschoben zu sein. In den Ohrmuscheln finden sich beiderseits ebenfalls leicht
abspülbare Spuren von Sand und Schlamm, die Nasenöffnungen zeigen sich frei
von fremden Körpern. — 10) Die Ohrknorpel sind von durchaus weicher Be¬
schaffenheit, ohne jede Spur von knorpeliger Resistenz. Auch die Nasenknorpel
sind vollkommen weich, nachgiebig, und die Nase vollkommen zusammengefallen.
— 11) Die Augenlider sind halb geöffnet, die Augen quellen beiderseits als
lividbläuliche Blasen von etwa Haselnussgrösse vor, die getrübt und gänzlich
undurchsichtig erscheinen, so dass von dem etwaigen Vorhandensein einer Pu¬
pillenmembran nichts mehr constatirt werden kann. — 12) Der Mund steht halb
offen, die Lippen sind vollkommen blass, resp. z. Th. schmutziggrünlich, genau
von der nämlichen Farbe, wie die nächste Umgebung derselben; die Zunge ist
1,5 Ctm. weit vor den Kiefern vorgelagert und mit der Spitze in einer Falte
nach aussen und rückwärts zurückgelegt; fremde Körper sind auf der Zungen¬
spitze, ausser ein ganz klein wenig Schlamm von derselben Beschaffenheit wie
am übrigen Körper, nicht vorhanden. — 13) Der Hals normal beweglich, die
Oberhaut an demselben gut erhalten und vollkommen glatt, ohne jede Faltung.
— 14) Der Querdurchmesser der Schultern beträgt 10,25 Ctm.; Wollhaar ist
an den Schultern, wo die Oberhaut fast vollständig fehlt, nicht wahrzunehmen. —
15) Der Brustkorb erscheint mässig gewölbt und bietet sonst nichts zu bemer¬
ken. — 16) Der Bauch ist mässig aufgetrieben und bietet sonst nichts Auffal¬
lendes. — 17) Am Nabel, der als solcher noch nicht formirt erscheint und sich
nur undeutlich von der Nabelschnur selbst abhebt, befindet sich ein 11 Ctm.
langer Rest einer vollkommen weichen und feuchten, im Allgemeinen grauweiss-
röthlichen, z. Th. auch, mehr nach dem Nabel hin, schmutzigblaugrünlichen
Nabelschnur, an der noch 2 Windungen deutlich zu unterscheiden sind, und die
am freien Ende eine ziemlich scharfe Trennungsfiäche zeigt; ein Unterbindungs-
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Werkzeug ist an denselben nicht vorhanden. — 18) Die äusseren Geschlechts-
theile sind regelmässig gebildet, die kleinen Schamlippen liegen vollkommen frei
zu Tage, von den grossen gar nicht verdeckt. — 19) Die Nägel an den Fingern
und Zehen sind von etwas weicher, nachgiebiger Consistenz, erreichen an den
Zehen nicht vollkommen deren Spitzen und überragen dieselben nioht an den
Fingern, an letzteren die Spitzen knapp erreichend. — 20) Der After steht offen
und quillt aus demselben ein etwa haselnussgrosses Stück schmutziggrünlicher
Mastdarmschleimhaut ohne jede Spur von Kindspech hervor. — 21) Nach kunst¬
gerechter Blosslegung des unteren Endes des rechten Oberschenkelknochens wer¬
den von demselben feine, parallele Scheiben desKnorpels nacheinander abgetrennt
und dabei das vollständige Fehlen eines Knochenkerns constatirt, ebenso voll¬
ständig fehlt der Knochenkern in dem knorpligen Ende des linken Oberschenkel¬
knochens. — 22) Aeussere Verletzungen sind an dem Körper der Leiche nirgends
vorhanden.
B. Innere Besichtigung. I. Eröffnung der Brust- und Bauch¬
höhle. 23) Durch die vorläufige Eröffnung der Bauchhöhle durch einen Schnitt
vom Kinn bis zur Schamfuge wird festgestellt, dass der höchste Stand des
Zwerchfells beiderseits der 4. Rippe entspricht. — 24) Die Lage der Bauch¬
eingeweide bietet nichts Regelwidriges, die ganze Oberbauchgegend wird ein¬
genommen von der dunkelschwärzlichen Leber, erst nach deren Rücklagerung
zeigt sich der braungrünliche Quergrimmdarm und dahinter der ebenfalls schwärz¬
lich erscheinende, wenig ausgedehnte Magen. Ausserdem liegen vor zahlreiche
Schlingen des schmutziggrauröthlichen Dünndarms und die ziemlich ausgedehnte
verwasohen blassrothe Harnblase, und erst nach Aufhebung der Dünndarm¬
schlingen sieht man beiderseits dunkelgrünliche, offenbar Kindspech enthaltende
Schlingen des auf- und absteigenden Dickdarms. Das Netz vollkommen zart,
mässig fetthaltig, seine Gefässe nur äusserst spärlich gefüllt. Alle vorliegenden
Theile sind reichlich mit Maden besetzt, und an den Darmschlingen, wie am
Bauchfell, zeigen sich einzelne Fäulnissluftblasen von Erbsengrösse und darüber.
Fremder Inhalt ist in der Bauchhöhle nicht vorhanden,
a) Organe der Brusthöhle. 25) Nach vorschriftsmässiger Unterbindung
der Luftröhre oberhalb des Brustbeins und Eröffnung der Brusthöhle erscheinen
die Brusteingeweide in regelmässiger Lage, der obere Theil des Miltelfellraumes
ist von der mässig grossen Thymusdrüse eingenommen, im unteren liegt der
Herzbeutel in grosser Ausdehnung vor. Die Lungen füllen den Brustkasten
ziemlich gut ans, und sind so ausgedehnt, dass sie mit ihren vorderen Rändern
den Herzbeutel gerade erreichen, so zwar, dass ihre vorderen Ränder um 5 Ctm.
von einander entfernt bleiben; die rechte Lunge erscheint relativ etwas mehr
ausgedehnt als die linke. — 26) Die vorliegenden Lungentheile sind linkerseits
von schmutzigrosarother, rechterseits mehr dunkelbläulichrother Farbe, die aber
auch rechterseits einen leisen Stich, ins Rosafarbene zeigt. Dieselben fühlen sich
etwas weich, elastisch an, knistern jedoch bei Berührung nur in kaum wahrnehm¬
barer Weise. — 27) Die Brustfellsäcke sind leer, das Brustfell beiderseits von
verwaschen röthlicher Farbe, feucht. — 28) Am Herzbeutel und z. Th. auch an
den Lungen, namentlich der linken, einzelne Fäulnissluftblasen vorhanden. Die
grossen Gefässe der Brusthöhle erscheinen äusserlich nur wenig gefüllt. —-
29) Der Herzbeutel, der äusserlich eine ziemlich gute Fettauflagerung zeigt, ist
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an der Innenfläche vollkommen zart, von grauröthlicher Farbe, und erscheint
nach der Eröffnung vollkommen leer. Dabei zeigt sich, dass der reohte Seiten¬
rand des Herzens mit mehreren über haselnussgrossen Fäulnissluftblasen besetzt
ist. — 30) Das Herz, von der Grösse der Faust der Leiche, ist vollkommen
schlaff, wenig gewölbt, von blassbraunrother Farbe, die Kranzadern desselben
fast leer. — 31) Beim Aufschneiden des Herzens sind die linke Kammer, deren
Musculatur von matscher Gonsistenz, und die linke Vorkammer vollkommen leer;
die Vorhofskammermündung zeigt nichts Regelwidriges. Desgleichen ist die
rechte Kammer und Vorkammer vollkommen leer, die Vorhofskammermündung
zeigt nichts Regelwidriges. — 32) Der Botalli’sche Gang ist offen, die grossen
Blutaderstämme sind vollkommen leer. — 33) Die Thymusdrüse, 2,5 Gtm. breit
und 2,5 Ctm. hoch, ist von blassbraunröthlicher Farbe, auf dem Durchschnitt
des Gewebes matsch, grauroth, blutarm. — 34) Die Schilddrüse von gewöhn¬
licher Grösse ist auf dem Durchschnitt blass. — 35) Der Kehlkopf und die
Luftröhre oberhalb der Unterbindungsschlinge enthalten ziemlich reichlich eine
blassgrauröthlicbe, übrigens homogene Flüssigkeit, in welcher körperliche Elemente
nicht wahrzunehmen sind, ihre Schleimhaut ist von verwaschen blassröthlicher
Farbe. — 36) Nachdem die Luftröhre oberhalb der Unterbindungsschlinge
durchschnitten worden, werden die Lungen in Verbindung mit dem Herzen und
dem unteren Theil der Luftröhre herausgenommen. Die Oberfläche der Lungen
erscheint uneben, ihre Farbe ist auch an den hinteren Partien im Ganzen die
nämliche, wie vorn, nur am mittleren und unteren Lappen der rechten Lunge
zeigen sich einzelne schiefrige Nuancen. — 37) Die Lungen werden dann, zu¬
nächst in Verbindung mit dem Herzen und dann nach Abtrennung desselben, in
einem 20 Gtm. hoch mit reinem kaltem Wasser gefüllten Eimer auf ihre Schwimm¬
fähigkeit untersucht, wobei sich ergiebt, dass dieselben in beiden Fällen sich auf
der Oberfläche des Wassers ausbreiten, schwimmen und den Wasserspiegel über¬
ragen. — 38) Beim Einschneiden lassen beide Lungen überall ein ganz leises
Knistern wahrnehmen, und auf der Schnittfläche tritt bei Druck eine blutig¬
schaumige Flüssigkeit in massiger Menge, relativ am reichlichsten in den unteren
Lappen, hervor. — 39) Bei Einschnitten in verschiedene Theile der Lungen
unterhalb des Wasserspiegels steigen Luftblasen empor. — 40) Die Luftröhre
unterhalb der Unterbindungsschlinge und ihre Verzweigungen sind leer, die
Schleimhaut feucht, von blassröthlicher Farbe. — 41) Die einzelnen Lappen
beider Lungen, von einander getrennt, schwimmen auf dem Wasser, und von den
einzelnen Stückchen, in welche die Lappen zerschnitten werden, deren Gesammt-
zahl ungefähr 20 beträgt, schwimmen die bei weitem meisten, mit Ausnahme von
2 oder 3 Stückchen aus dem mittleren Lappen der rechten Lunge, welche langsam
untersinken. — 42) Bei Herausnahme der Halseingeweide zeigt sich die Mund¬
höhle frei von fremden Körpern. Zunge und Mandeln sind ohne krankhafte Ver¬
änderungen, die letzteren ein wenig gross. Schlund und Speiseröhre sind leer,
ihre Schleimhaut blass. — 43) Die HalsgeTässe sind leer. — 44) Sonst bietet
die Untersuchung der Brusthöhle und des Halses nichts Bemerkenswerthes.
b) Organe der Bauchhöhle. 45) Das Bauchfell, von schwärzlich grün¬
licher Farbe, ist feucht, das Netz massig fetthaltig, blass. — 46) Die Milz bildet
bei der Herausnahme einen schwarzschiefrigen, zerfliesslichen Brei, so dass die
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Dimensionen gar nicht mehr zu bestimmen sind. — 47) Die linke Nebenniere
ohne krankhafte Veränderung. — 48) Die linke Niere ungelähr 3 Ctm. lang und
2 Ctm. breit, 0,5 Ctm. hoch, ist von blassbraunrother Farbe, die Oberfläche ge¬
lappt, sonst glatt, die Consistenz vollkommen matsch zerfliesslich, daher das
Organ einer weiteren Untersuchung nicht zugänglich. — 49) Die rechtsseitige
Nebenniere und Niere zeigen dieselbe Beschaffenheit wie links. — 50) Die Harn¬
blase ist vollkommen leer, ihre Schleimhaut ist blass. — 51) Gebärmutter, Eileiter,
Eierstöcke und Scheide bieten nichts Regelwidriges. — 52) Der Mastdarm ist
vollkommen angeföllt mit dunkelgrünem Kindspech, seine Schleimhaut von grün¬
licher Farbe, blass. — 53) Der Zwölffingerdarm ist leer, seine Schleimhaut blass.
— 54) Der Magen ebenfalls leer, seine Schleimhaut von dunkelschiefriger Farbe,
blass; die grösseren Blutgefässe des Magens sind leer. — 55) Der Gallengang
ist wegsam, die Gallenblase zusammengefallen, ohne Inhalt, die Pfortader bietet
nichts zu bemerken. — 56) Die Leber misst von rechts nach links etwa 10,
von vorn nach hinten etwa 6 und in der grössten Dicke etwa 1.5—2.0 Ctm., ist
von dunkelschwarzgrünlicber, wie schiefriger Farbe, glatter Oberfläche und voll¬
kommen matscher, zerfliesslicher Consistenz. — 57) Bauchspeicheldrüse blass,
zeigt nichts Regelwidriges. — 58) Das Gekröse zart, ziemlich fetthaltig, die
Gekrösdrüsen zeigen nichts Regelwidriges. — 59) Der Dünndarm enthält Spuren
graulichen Schleims, seine Schleimhaut ist blass. — 60) Der Dickdarm enthält
ziemlich reichlich grünliches Kindspech von geringerer Consistenz als im Mast¬
darm, seine Schleimhaut grünlich, blass. — 61) Die grossen Gefässe der
Bauchhöhle sind leer. — 62) Wirbelsäule und Beokenknochen bieten nichts
zu bemerken.
II. Eröffnung der Kopfhöhle. 63) Nach Trennung der weichen Schä¬
deldecken von einem Ohr zum andern, wobei die Knochen des Schädels sich stark
gegen einander verschieben, werden dieselben zugleich mit der Beinhaut des
Schädels nach vorn und hinten zurückgesohlagen und erscheinen dabei feucht
und in dem ganzen Umfange des Schädeldaches in nach rückwärts abnehmender
Intensität von einer blutig-sulzigen, zwischen der Schädelhaube und der Beinhaut
gelegenen, die letztere nicht mitdurchtränkenden, blassröthlichen Flüssigkeit
durchsetzt. — 64) Gleichzeitig mit der Trennung und Zurückschlagung der
Schädeldecken weichen sämmtliche Knochen des Schädeldaches spontan aus¬
einander, und fliesst das gesammte Gehirn in Gestalt einer graubraunröthlichen,
etwa weinhefenfarbigen dünnen Flüssigkeit aus, so dass nur der leere Sack der
harten Hirnhaut verbleibt. — 65) Die Grösse der grossen Fontanelle konnte dem¬
nach nicht mehr bestimmt werden. — 66) Die einzelnen Schädelknochen sind
von Gartonblattstärke, blassgelbröthlicher Farbe, mässig durchscheinend, überall
unverletzt.
Auf Grund der Obduction haben wir folgendes vorläufige Gut¬
achten abgegeben:
1) Das Kind ist ein der Reife zwar nahes, aber nicht völlig aus-
getragenes gewesen.
2) Dasselbe hat in oder nach der Geburt geathmet und insofern
gelebt.
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Erstickung des neugeborenen Kindes. 303
3) Der Tod desselben ist höchst wahrscheinlich durch Erstickung
erfolgt.
4) In welcher Weise diese Erstickung herbeigeführt worden ist,
darüber werden wir uns erst dann aussprechen können, wenn
uns die vor dem Tode des Kindes stattgehabten Vorgänge und
insbesondere auch der Geburtshergang bekannt sein werden.
Dieses vorläufige Gutachten begründen und ergänzen wir wie folgt.
ad 1. Dass das Kind ein der Reife zwar nahes, aber nicht völlig ausge¬
tragenes gewesen, ergiebt sich aus den Thatsachen, welche im Obductions-
Protokoll ad 1, 2, 9, 10, 13, 14, 18, 19 und 21 verzeichnet sind.
Für nahezu vollendete Reife spricht insbesondere die Länge der Kindes-
leiche von 49 Ctm., welches Maass, namentlich beim weiblichen Geschlecht,
selbst von ganz reifen Kindern häufig nicht überschritten, sogar des Oefteren
nicht einmal erreicht wird; sodann der gute Ernährungszustand derselben, der
sich durch die Glätte der Hautdecken (2, 13) und die Entwickelung des Fett¬
polsters an den Oberschenkeln (2) dokumentirt. Ferner sprechen dafür die
Durchmesser des Kopfes (9) von 9,5—8,0 und 10,5 Ctm., welche Zahlen nur
um ein Weniges hinter den in den Casper-Liman’schen Tabellen als durch¬
schnittliche Minima für reife Kinder angegebenen bezüglichen — 9,8—7,8 und
11,7 Ctm. — Zurückbleiben, ja dieselben sogar in Hinsicht des queren Durch¬
messers noch um 0,2 Ctm. übertreffen; sodann auch das 1,5 Ctm. lange Kopf¬
haar (9) und in demselben Sinne, wie die Kopfdurchmesser, der Querdurchmesser
der Schultern (14) und einigermassen auch das gänzliche Fehlen von Wollhaar
an den letzteren, soweit hier die Oberhaut erhalten war.
Dass aber das Kind ein nicht völlig ausgetragenes gewesen ist, geht, ausser
aus den durchschnittlich um etwas geringeren eben angeführten Maassen, noch
aus der weichen Beschaffenheit der Ohr- und Nasenknorpel (10), der nachgiebig
weichen Consistenz der Nägel und insbesondere dem Umstande, dass die letzteren
die Fingerspitzen nicht überragen, resp. an den Zehen dieselben nicht ganz er¬
reichen (19), ferner aus dem Unbedecktsein der kleinen Schamlippen durch die
grossen (18) und aus dem vollständigen Fehlen des Knochenkerns (21) in dem
unteren Ende der Oberschenkelknochen auf beiden Seiten hervor. Gegenüber
dem auffallend geringen Gewichte der Kindesleiche (1) ist aber zu bemerken,
dass dasselbe — an sich minder constant als z. B. das Längenmaass — im vor¬
liegenden Falle durch die nach Ausweis des ganzen Obductions-Protokolls weit
vorgeschrittene und offenbar durch die stattgehabte Exponirung in drei verschie¬
denen Medien wesentlich geförderte Fäulniss — welche sich namentlich kundgab
durch Ablösung der Oberhaut und blaugrünliche Verfärbung der mit zahllosen
Maden besetzten Oberfläche, Maden in der Bauchhöhle, Luftblasen im Darm,
Bauchfell, Herzbeutel, Lungen und Herz, das gänzliche Verschwinden des Blutes
aus den Gefässen, sowie die mehr oder weniger matsche, zerfliessliche Consistenz
der hauptsächlichsten Organe, resp. die völlige Decomposition des Gehirns —
stark verändert, beziehungsweise im Sinne der Verminderung beeinflusst worden ist.
Gleicherweise kann es nicht zweifelhaft sein, dass auch die Weichheit und
Nachgiebigkeit der Ohr- und Nasenknorpel, sowie der Nägel an Fingern und
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Dr. Chlamsky,
Zehen za einem nicht unwesentlichen Theile auf Rechnung der Vorgeschrittenen
Fäulniss, resp. der Maceration im Wasser zu setzen ist.
Die völlig unerwiesene Angabe der p. S., dass ihr die Regel erst nach
Weihnachten weggeblieben sei, erscheint gegenüber dem objectiven Befunde von
nur untergeordneter Bedeutung., um so mehr, als die Fälle von Fortdauer der Men¬
struation in den ersten Monaten der Schwangerschaft keineswegs sehr seltene sind.
Der ganze Habitus der Kindesleiche machte für den Sachverständigen den
Eindruck der nahezu erreichten Reife, und schliessen wir hiernaoh und nach der
vorstehenden Erörterung der bezüglichen Einzelbefunde, dass das Kind entweder
Ausgangs des 9ten oder im Anfänge des lOten Schwangerschaftsmonates ge¬
boren worden ist.
ad 2. Dass das Kind in oder nach der Geburt geathmet und insofern ge¬
lebt hat, geht mit Bestimmtheit aus der Ausdehnung und Beschaffenheit der
Lungen (25, 26, 36), beziehungsweise den Ergebnissen der Lungenprobe (37,
38, 39 und 41) hervor.
Der Stand des Zwerchfells war zwar ein relativ hoher, indem er beiderseits
der 4ten Rippe entsprach (23), jedoch erscheint dieser Umstand im Vergleich
zu den übrigen Befunden und insbesondere den Ergebnissen der Lungenprobe
irrelevant und wird durch die Thatsache vollständig erklärt, dass in der Bauch¬
höhle in Folge vorgeschrittener Fäulniss eine Gasentwickelung stattgefunden
hatte (16). durch welche das Zwerchfell in die Höhe gedrängt worden ist.
Dagegen waren die Lungen so ausgedehnt, dass sie den Brustkasten ziem¬
lich gut ausfüllten und mit ihren vorderen Rändern den Herzbeutel erreichten (25).
Die vorliegenden Lungentheile waren links von schmutzig rosarother, rechts von
mehr dunkelbläulichrother Farbe, die aber auch rechterseits einen leisen Stich
in’s Rosafarbene zeigte (26), und auch an den hinteren Partien war die Farbe
der Lungen im Ganzen die nämliohe wie vorn (36). Die Lungen fühlten sich
etwas weich elastisch an und knisterten leise bei der Berührung (26): ihre Ober¬
fläche erschien uneben (36), und nach der Herausnahme schwimmen dieselben
nicht nur nach Abtrennung des Herzens, sondern auch schon im Zusammenhänge
mit demselben in der Art, dass sie sich auf der Oberfläche des Wassers aus¬
breiteten und den Wasserspiegel überragten (37). Beim Einschneiden liessen
beide Langen überall ein leises Knistern wahrnehmen und auf der Schnittfläche
bei Druck eine blutig-schaumige Flüssigkeit hervortreten (38), und bei Ein¬
schnitten in verschiedene Theile der Lungen unterhalb des Wasserspiegels stiegen
Luftblasen empor (39). Die einzelnen Lappen beider Lungen, von einander ge¬
trennt, schwammen ebenfalls auf dem Wasser, und von den einzelnen etwa 20
Stückchen, in welche die Lappen zerschnitten wurden, schwammen die bei Weitem
meisten, und nur 2—3 aus dem mittleren Lappen der rechten Lunge sanken
langsam zu Boden (41).
Die hiernach erwiesene umfängliche Lufthaltigkeit beider Lungen konnte
aber durch Fäulniss nicht bedingt sein. Denn es war die letztere insbesondere
an den Lungen, welche erfahrungsgemäss zu der Reihe der sog. spätfaulenden
Organe gehören, keineswegs in besonders erheblicher Weise vorgeschritten, und
wurden vielmehr nur gemäss No. 28 des Obd.-Prot. gleich nach Eröffnung der
Brusthöhle am Herzbeutel und zum Theil auch an den Lungen, namentlich der
linken, einzelne Fäulnissluftblasen constatirt.
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Erstickung des neugeborenen Kindes.
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Diese Fäulnissluftblasen würden aber jedenfalls eventuell nur die Schwimm¬
fähigkeit der von ihnen zunächst occupirten Theile, hier der vorderen Lungen¬
ränder, haben beeinflussen können, während bei der Schwimmprobe sich die linke
Lunge in ihren sämmtlichen Theilen gleichmässig und auch die rechte Lunge
nahezu in allen Abschnitten schwimmfähig erwies. Ueberdies spricht die Farbe
der Lungen, sowie namentlich die unebene Oberfläche derselben (36) mit Bestimmt¬
heit dafür, dass die Lungenzellen selbst durch Luft ausgedehnt gewesen sind.
Da aber ferner nach Lage des ganzen Falles hier weder von einem etwa
stattgehabten Luftathmen in der Gebärmutter, noch von einer künstlichen Luft¬
erfüllung nach der Geburt die Rede sein kann, so kann die in den Luogen nach¬
gewiesene Luft nur durch den Athmungsprozess hineingelangt sein, das Kind hat
demnach in und gleich nach der Geburt geathmet und gelebt.
Wie lange dieses Athmen gedauert habe, lässt sich mit Sicherheit nicht an¬
geben, der Befund von wenn auch sehr wenig umfänglichen nicht-lufthaltigen
Partieen im mittleren Lappen der rechten Lunge deutet darauf hin, dass dasselbe
sehr bald nach der Geburt behindert, beziehungsweise sistirt worden ist.
ad 3. Bezüglich der Todesursache haben wir in unserem vorläufigen Gut¬
achten uns dahin ausgesprochen, dass der Tod höchst wahrscheinlich durch
Erstickung erfolgt sei.
Wenn wir in dieser Beziehung unser Urtheil damals auf eine hohe Wahr¬
scheinlichkeit beschränken mussten, weil positiv beweisende materielle Unterlagen
für eine bestimmte, alle anderen ausschiiessende, Todesart sich aus der Section
selbst nicht in ausreichendem Maasse unmittelbar ergaben, so sind wir nunmehr
nach Kenntniss der vor dem Tode, resp. nach der Geburt des Kindes stattgehabten
Vorgänge in der Lage, uns bestimmter dahin auszusprechen, dass das Kind durch
Erstickung gestorben ist.
Denn da das Kind gesundheitsgemäss veranlagt war, und an den Organen
desselben keine krankhaften Veränderungen bestanden, durch welche seine Lebens¬
fähigkeit beeinträchtigt worden wäre, und da ferner an dem Körper desselben
irgendwelche Verletzungen nicht vorgefunden worden sind (22. 66, 68), so
kommen als mögliche Todesursachen nur Verblutung aus der nicht unterbunde¬
nen Nabelschnur oder Erstickung in Betracht.
Was die erstere Todesursache anbetrifft, so ist es an sich zwar zweifellos,
dass eine Verblutung aus der nicht unterbundenen Nabelschnur erfolgen kann,
aber ebenso zweifellos, dass sie thatsächlich, namentlich nach eingeleiteter
Athmung, äusserst selten erfolgt, weil durch die bei Beginn der Athmung ein¬
tretende physiologische Umwandlung der Blutumlaufsverhältnisse der Blutstrom
von den fötalen Bahnen abgelenkt wird.
Im vorliegenden Falle aber sind bei der Obduction besondere Befunde,
welche die Annahme eines Verblutungstodes rechtfertigen könnten, überhaupt
nicht erhoben worden.
Denn wenn auch die Herzhöhlen und die grossen Blutaderstämme blutleer
gefunden worden sind, so ist diese Erscheinung, wie bereits oben bemerkt wurde,
hier lediglich als Folge des weit vorgeschrittenen Verwesungsprozesses aufzufassen
und aus derselben allein ein Verblutungstod um so weniger zu vermuthen oder zu
erschliessen, als gerade in den Lungen, in welchen beim Verblutungstode die
Anaemie ganz besonders — bis zu aschgrauer Färbung derselben — ausge-
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sprochen za sein pflegt, eine irgend erhebliche Blutleere, wie sich aas der ad 26
and 36 constatirten Farbe derselben and dem Aastritt blutig-schaumiger Flüssig¬
keit auf der Schnittfläche (37) ergiebt, nicht vorgefanden worden ist, and auch
die Färbung der sonstigen Einzelorgane nicht dafür spricht, dass sie früher,
d. h. vor Eintritt der daroh die Fäulniss bedingten Veränderungen, in erheb¬
lichem Grade blutleer gewesen sind.
Ueberdies steht es noch gar nicht fest, dass die Nabelschnur überhaupt
nicht unterbunden worden ist, da das Fehlen einer Unterbindungsschlinge bei der
Obduction dies nicht unbedingt beweist , vielmehr die Möglichkeit offen bleibt,
dass die Ligatur — insbesondere beim Aufenthalt in fliessendem Wasser oder
anderweitig — verloren gegangen sein kann.
Somit sind aus dem objectiven Gesammtbefunde irgendwelche Unterlagen
für die Annahme eines Verblutungstodes aas der etwa nicht unterbunden ge¬
wesenen Nabelschnur nicht zu entnehmen.
Was den Tod durch Erstickung anbetrifft, so sind zunächst zwar eine Reihe
wesentlicher denselben charakterisirender Erscheinungen, diejenigen nämlich der
besonderen Blutvertheilung, namentlich in der Brust- und Schädelhöhle, und der
Beschaffenheit des Blutes, im vorliegenden Falle durch den vorgeschrittenen Ver¬
wesungsprozess verwischt, beziehungsweise der Wahrnehmung entrückt, indem
die Fäulniss es nicht nur, wie bereits wiederholt hervorgehoben wurde, zu Wege
gebracht hat. dass in der Leiche Blut als solches fast überall nicht mehr ange¬
troffen und namentlich die Herzhöhlen und grossen Blutaderstämme der Brusthöhle
blutleer gefunden worden sind, sondern auch, dass bezüglich der Eingeweide der
Schädelhöhle eine nähere Untersuchung überhaupt nicht mehr möglich gewesen ist.
Ein um so grösseres Gewicht ist aber deshalb auf anderweitige etwa vor¬
handene Symptome zu legen, die als mehr oder weniger charakteristisch für den
Erstickungstod erfahrungsgemäss anzusehen sind. Als solche sind aber zu nennen,
resp. waren im vorliegenden Falle vorhanden, vornehmlich eine gewisse relative
Blutfülle der Lungen, die sich durch die rosarothe, z. Th. dunkelbläulichrothe
Farbe derselben (26 und 36), sowie durch den Austritt von blutig-schaumiger
Flüssigkeit auf der Schnittfläche namentlich in den unteren Lappen (38) zu
erkennen gab; ferner die blassröthliche Färbung der Luftröhrenschleimhaut
(35 und 40) und der Befund einer ziemlich reichlichen blassgrauröthliohen
Flüssigkeit im Kehlkopf und dem oberen Theile der Luftröhre (35); endlich
auch die erhebliche Vorlagerung der Zunge vor den Kiefern (12), welche letztere
Erscheinung, an sich zwar nicht beweisend, in Verbindung mit den vorgenannten
Symptomen immerhin von Bedeutung namentlich insofern ist, als dieselbe bei
anderweitigen Todesarten doch nur äusserst selten beobachtet wird.
Wenn somit schon auf dem Wege der Ausschliessung anderweitiger Todes¬
arten die Annahme des Erstickungstodes als wahrscheinlichste ersohien, so wird
dieselbe ausserdem durch eine Reihe charakteristischer Symptome in positiver
Weise begründet, und gelangen wir nach alledem zu dem Urtheile, dass das Kind
den Tod durch Erstickung gestorben ist.
ad 4. Was schliesslich die specielle Art und Weise anbetrifft, in welcher
der Erstickungstod des Kindes herbeigeführt worden ist. so sind für Beanwortung
dieser Frage in den Angaben der p. S. genügende Anhaltspunkte enthalten.
Denn danaoh hat dieselbe, wie bereits Eingangs erwähnt, nachdem die
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Erstickung des neugeborenen Kindes.
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Geburt in der Nacht vom 7. zum 8. Juli er. früh um 2'/ 2 Uhr erfolgt war, das
auf dem Bette liegende Kind, an welchem sie kein Lebenszeichen wahrgenommen
haben will, mit einem alten Rocke überzogon, an die Scheune getragen und
dort mit dem Rocke im Sande verscharrt. Dass ein solches Verfahren nothwendig
den Tod des Neugeborenen durch Erstickung zur unmittelbaren Folge haben
musste, kann nicht zweifelhaft sein, indem darin mehr als ausreichende Momente
gegeben sind, geeignet sowohl den Zutritt der Luft zu den Athmungsöffnungen
zu behindern und abzusperren, als auch die Athembewegungen mechanisch zu
hemmen, so dass der Tod durch Erstickung nothwendig eintreten muss.
Ob das Kind noch lebend in die Erde gelangt ist, lässt sich mit Sicherheit
nicht entscheiden, weil Zeichen von Aspiration erdiger Theile bei der Obduction
nicht vorgefunden worden sind (9 und 42). und auch — da das Kind in den
Rock eingehüllt vergraben wurde — nicht vorgefunden werden konnten. Die
bei der Obduction (ad 12) auf der vorgelagerten Zungenspitze constatirte Spur
von Schlamm, von der nämlichen Beschaffenheit wie am übrigen Körper, kommt
in dieser Beziehung nicht in Betracht und ist lediglich als eine während des
Verweilens der Leiche in fliessendem Wasser erfolgte Absetzung anzusehen.
Mit Rücksicht auf die noch nicht vollendete Reife und die danach zu ver-
muthende geringere Lebensenergie des Kindes erscheint die Möglichkeit nicht aus¬
geschlossen, dass dasselbe bereits durch das Einhüllen in den Rock an Erstickung
zu Grunde gegangen und somit schon todt war, als es vergraben wurde.
Ob das Kind Lebenszeichen, beziehungsweise in welchem Umfange von sich
gegeben habe, und ob diese von der Mutter bemerkt worden sind, kann unserer¬
seits nicht festgestellt werden.
Nachdem wir durch die vorstehenden Erörterungen unser vor¬
läufiges Gutachten begründet und ergänzt haben, resumiren wir unser
definitives Gutachten nachstehend wie folgt:
1) Das Kind der Pauline S. ist ein der Reife zwar nahes, aber nicht
völlig ausgetragenes gewesen.
2) Dasselbe hat in und gleich nach der Geburt geathmet und gelebt.
3) Der Tod desselben ist durch Erstickung erfolgt.
4) Die Erstickung ist dadurch herbeigeführt worden, dass das Kind
unmittelbar oder bald nach der Geburt in einen Rock eingehüllt
und in diesem vergraben worden ist.
5) Die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, dass das Kind durch
die Einhüllung in den Rock bereits erstickt war, bevor es ver¬
graben worden ist.
Die Anklage wurde nur wegen fahrlässiger Tödtung erhoben und die Be¬
schuldigte in der Strafkammer-Sitzung vom 30. October 1885 unter Freispre¬
chung hiervon schliesslich wegen Beiseiteschaffung eines Leichnams zu 4 Wochen
Haft (durch die Untersuchungshaft verbüsst) und Tragung der Kosten verurtheilt.
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4.
Drei Fälle th Yerletzmng des Herzens, resp. des Bnllins
aertae.
Mitgetheilt von
Kreiswundarzt Dr. Schulte in Hörde.
Perforirende Verletzungen des Herzens oder solche der grossen Blutgefässe
innerhalb des Herzbeutels sind kein seltenes Vorkommen auf dem Sectionstische
des Gerichtsarztes. Tod durch Verblutung ist ihre gewöhnliche Folge, und der
Befund des Verblutungstodes mit seinen charakteristischen Merkmaleu ihr gewöhn¬
liches Ergebniss bei der Leichenöffnung.
Derartige Verletzungen können aber in Fällen, in denen der Herzbeutel
entweder gar nicht oder in einer Weise geöffnet ist, dass der Austritt des Blutes
aus demselben in hohem Grade oder gänzlich behindert ist, so dass mit der voll¬
ständigen Füllung des Herzbeutels die Blutung stehen muss, im Allgemeinen
nicht die Bedeutung und die Wirkung haben, dass dadurch der Tod durch Ver¬
blutung eintreten muss, namentlich dann nicht, wenn es sich um kräftige Per¬
sonen handelt, die einen Verlust von 6—800 Cctm. Blut — eines Quantums,
das der Capaoität des Herzbeutels im Allgemeinen entspricht, wol ertragen
können. Die Verletzuug wird unter solchen Umständen dadurch verhängnisvoll,
dass die in den Herzbeutel ausgetretene Blutmasse innerhalb desselben alsbald
einen solchen Grad von Spannung erreicht, dass der an sioh nicht sehr hohe
Druck des dem Herzen zufliessenden venösen Blutstromes nicht mehr genügt, die
Vorkammern diastolisch auszudehnen und zu füllen. Der Zufluss zum Herzen
kommt ins Stocken und die Girculation zum Stillstand. Der Verletzte stirbt als¬
dann aber nicht den Verblutungs- sondern den Erstickungstod.
Da der ganze Vorgang von dem Momente der Verletzung ab bis zu dem¬
jenigen des Stillstandes der Girculation sich nicht auf einmal vollzieht, sondern
einiger Zeit bis zu seiner Vollendung bedarf, und da während dieser Zeit in
Folge der, im Verhältniss zur Anschoppung des Herzbeutels zunehmenden Gom-
pression des Herzkörpers, der Zufluss zum Herzen mit jeder folgenden Diastole
mehr und mehr abnimmt, so entsteht in Folge dessen eine wachsende Abnahme
in der Füllung der Arterien und durch Rückstauung eine wachsende Zunahme
in der Füllung der Venen.
Ein mit Blut strotzend gefüllter Herzbeutel, Blutleere sämmtlicher Herz¬
höhlen und der grossen Arterien, und Blutfülle in den Venen beider Kreisläufe
werden die besonderen Befunde in derartigen Fällen abgeben.
Im Kreise Dortmund hatten der Kreisphysicus Herr Dr. Hagemann und
ich in diesem Jahre Gelegenheit in drei derartigen, in ihrer Art durchaas ver¬
schiedenen Fällen die gerichtliche Obduction zu machen. Ihre charakteristischen
Eigenthümlichkeiten mögen hier eine kurze Mittheilung finden.
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Drei Fälle von Verletzung des Herzens, resp. des Bulbus aortae. 309
1) Ein 53 jähriger Viehhändler S. war auf einem seiner unerlaubten Gänge
zu einer verheiratheten Frau von dem Ehemanne derselben, der ihm in feind¬
seliger Absicht nachgegangen war, angeblich und ohne Zeugen in dessen Wohnung
todt aufgefunden worden. Section 2 Tage p. m. Kräftig gebauter Körper mit
starkem Fettpolster; Verwesungserscheinungen gering; Todtenflecke über die
ganze Rückseite des Rumpfes verbreitet; nirgends eine Spur einer Verletzung
oder eines Blutaustritts ins Gewebe; an beiden Seiten des Rumpfes und an den
Oberschenkeln unzählbare, punktförmige Petechien; die Venen der Weicbtheile
des Kopfes und die Blutleiter der Schädelhöhle stark mit Blut gefüllt; die Venen
des Halses gefüllt, die Arterien daselbst leer; der intacte Herzbeutel prall gefüllt
mit einer theils flüssigen, theils geronnenen Blutmasse im Gehalte von ca.
800 Gotm.; Herzkörper schlaff, zusammengedrückt, mit einer dicken Fettlage
überzogen; sämmtliche Herzhöhlen leer; Herzfleisch mürbe und graugelb; sämmt-
liche Herzhöhlen, namentlich der linke Ventrikel, erweitert; das Aortenostium
bedeutend erweitert, die Semilunarklappen daselbst nicht schliessend, der Bulbus
aortae bis auf einen Umfang von 13 Gtm. erweitert, seine Wandung verdünnt,
wenig elastisch, seine Innenfläche zum Theil gelblich verfärbt; an seiner hinte¬
ren Seite ein 2 Gtm. langer, querverlaufender durchdringender Riss, mit zackigen,
leicht sugillirten Rändern. Brust- und Bauchaorta und Pulmonalarterien leer;
die grossen Venen der Brust- und Bauchhöhle gefüllt; die Lungen in ihren un¬
tern Lappen blauroth und stark bluthaltig.
Der vorliegende Fall bot noch insofern ein besonderes Interesse, als in
keinerlei Weise und auch nicht durch die Obduotion hatte ermittelt werden
können, was diesen entarteten Bulbus aortae grade in dem kritischen Momente
des Zusammentreffens des S. mit dem erzürnten Ehemanne zum Platzen gebracht
hatte. War es, was nach Lage der äusseren Umstände zu vermuthen nahestand,
eine gewaltthätige Einwirkung, die zu einer Sugillationsbildung durch den
raschen Eintritt des Todes nicht mehr die nöthige Zeit fand, oder war es der
vernichtende Einfluss eines hier leicht erklärbaren psychischen Affects, oder war
es das Spiel des Zufalls, was hier als nächste Veranlassung angesehen werden
musste.
Der Tod war bewirkt durch eine Ruptur des Bulbus aortae und diese
Ruptur bedingt durch eine krankhafte Entartung dieses Organs. Die Obduotion
aber halte keinerlei Befunde ergeben, welche eine gewaltthätige Einwirkung als
im ursächlichen Zusammenhänge mit der Todesursache stehend, annehmen Hessen.
Mit diesem Votum hatte der Fall auch gerichtlicherseits seine Erledigung
gefunden.
2) In einem Streite um ein Frauenzimmer hatte der in den mittleren Lebens¬
jahren stehende L. aus nächster Nähe 2 Revolverschüsse in die Brust erhalten
und War nach Verlauf von '/ 2 Stunde unter den Erscheinungen von Gyanose,
Athemnoth und Lungenödem verschieden.
Section 3 Tage p. m. Körperbau kräftig; Verwesungserscheinungen mässig;
Todtenflecke über die ganze Rüokseite verbreitet; auf der linken Seite der Brust
zwei, 8 Ctm. auseinander, in gleicher Höhe liegende, je 6 Mm. im Durchmesser
haltende Oeffnungen der Haut mit braunschwärzlichen Rändern, von denen die
eine dicht am Sternum durch den 5. Rippenknorpel, die andere durch den
4. Zwischenrippenraum in der Warzenlinie in die Brusthöhle hineinging. Nach
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310
Dr. Schulte,
Entfernung des Brustbeins lag dicht hinter dem durchbohrten Rippenknorpel auf
dem, in massigem Umfange mit ausgetretenem Blute leicht durchsetzten Zell¬
gewebe des vorderen Miltelfellraumes eine Revolverkugel von dem kleinen,
7 Mm. haltigen Calibcr; ein gleichbeschaffenes Geschoss steckte entsprechend
dem Sitze der zweiten Eingangsöffnung mit seiner Basis in der vorderen Wand
des, ad maximum ausgedehnten und schwappend prall anzufühlenden Herzbeutels.
Das Zellgewebe in der Umgebung des Projectils in massigem Grade mit aus¬
getretenem Blute durchsetzt; kein Blutaustritt in die Brustfellsäcke oder sonst
in den Brustraum. Der Herzbeutel enthält ca. 600 Cctm. theils flüssiges, theils
zu einer derben, filzigen Masse zerronnenes Blut; sämmtliche Herzhöhlen leer;
Herzfleisch derb und grauroth; Klappenapparate von gewöhnlicher Beschaffen¬
heit; die vordere Wand des linken Ventrikels nahe an der Herzspitze durchbohrt
von einem Wundcanal im Durchmesser von ca. 5 Mm., dessen an der Innenwand
des Herzens gelegene Oeffnung von einem unverletzten breiten Papillarmuskel
verdeckt und erst nach dessen Entfernung sichtbar wurde. Brust- und Bauch-
Aorta und Pulmonalarterien leer; die grossen Venen der Brust- und Bauchhöhle
und die des Halses stark gefüllt; Blutleiter der Schädelhöhle und Venen der Pia
gefüllt. Die Lungen in ihren unteren blaurothen Lappen viel rothe wässerige
Flüssigkeit enthaltend.
Im vorliegenden Falle hatte das Steckenbleiben der Revolverkugel in der
Herzbeutelöffnung den Austritt des Blutes aus dem Herzbeutel verhindert und
dadurch eine Verblutung nicht zustande kommen lassen. Das erst so späte,
V 2 Stunde nach stattgehabter Verletzung erfolgte Eintreten des Todes findet
seine Erklärung in dem Umstande, dass der die innere Oeffnung des Wundkanals
im Herzen überdeckende Papillarmuskel nach Art einer Ventilklappe den Austritt
des Blutes aus dem Herzen in hohem Grade behinderte und dadurch bewirkte,
dass die Anschoppung des Blutes im Herzbeutel erst nach so langer Zeit ihren
verhängnissvollen Grad erreichen konute.
3) Nach einem kurzen Wortwechsel erhielt der in den 20er Jahren stehende
P. einen Messerstich in die Brust; er verfolgte noch eine Strecke von ca.
15 Schritt den Thäter und brach dann todt zusammen. Obduction 3 Tage p. m.
Leiche von kräftigem Körperbau und guter Ernährung. Verwesungserscheinungen
in mässigem Grade vorhanden. Todtenflecke in grosser Ausdehnung über die
ganze Rückseite verbreitet. Im 5. Zwischenrippenraume dicht neben dem linken
Brustbeinrande eine 5 Ctm. lange, glattrandige, in die Brusthöhle hineingehende
Durchtrennung der Weichtheile; im linken Brustfellsacke 50 Cctm., zum Theil
geronnenes Blut. Der prall gefüllte Herzbeutol hat an der am meisten hervor¬
gewölbten, in ihrer natürlichen Lage noch von dem linken Rande des Brustbeins
überdeckt gewesenen Stelle der vorderen Wand eine 3 Ctm. lange, glattrandige
Oeffnung, deren Ränder wie verklebt dicht aneinanderliegen. Der Herzbeutel
enthält ca. 600 Cctm. theils flüssiges, theils geronnenes Blut; die vordere Wand
des rechten Ventrikels in ihrer Mitte in einer Länge von 3 Ctm. glatt durch¬
trennt. Sämmtliche Herzhöhlen leer. Brust- und Bauchaorta und Pulmonalarterie
leer. Die grossen Venenstämme der Brust- und Bauebhöhle stark gefüllt; die
Lungen, namentlich in ihren unteren Lappen beiderseits stark bluthaltig; die
Schleimhaut der Luftröhre und deren Aeste mit einem grauröthlichen Schleim
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Drei Fälle yon Verletzung des Herzens, resp. des Bulbus aortae. 311
überzogen; die Venen des Halses, die Blutleiter der Schädelhöhle und die Pia-
venen stark mit Blut gefüllt.
Die geringe Ausdehnung der Stichwunde im Herzbeutel und ihre relative
Lage zum Brustbein, welches mit zunehmender Ausdehnung des Herzbeutels
einen verstärkten passiven, dem Blutaustritte entgegenwirkenden Druck auf
diese Stelle ausüben musste, hatten es im vorliegenden Falle bewirkt, dass der
Tod nicht durch Verblutung, sondern durch Erstickung in Folge Compression
des Herzens erfolgte.
5.
Ob Dmeitii paralytica «der geistige Gesundheit?
Leidensgeschichte eines für unheilbar geisteskrank gehaltenen
Mannes,
dsrgestellt vom
Sanitätsrath Dr. Beckmann,
Kreisphysikus au Harburg.
(Fortsetzung.)
Im December 1880 hatte sich Herr R. nochmals an Herrn Dr. L.
zu A. gewandt, in Folge dessen ich unterm 26 . December 1880 von
dem Collegen einen zweiten Brief erhielt, in welchem er sich dahin
aussprach, die Erfahrung, dass alle bisherigen Gutachten und sonstige
Schreibereien gänzlich unnütz gewesen, mache ihn bedenklich, ohne
Weiteres auf den Wunsch des Herrn R., über seinen Zustand nochmals
ein Gutachten abgeben zu wollen, einzugehen, er halte es vielmehr für
unumgänglich nöthig, dass dieses Gutachten nur dann abgegeben werde,
wenn es zur Erreichung des Zwecks nütze. Da ich sehr gut wisse, in
welcher heillosen Lebenslage Herr R. stecken geblieben, so ersuche er
mich, ihn durch ein Paar Zeilen belehren zu wollen, auf welchem Wege
man glauben könne, von einem abermaligen Privat-Zeugnisse, das ja
ohne behördliche Aufforderung nur zu geben sei, Nutzen erzielen könne.
Er befürchte, dass man sich nur Aerger durch abermaligen Misserfolg
und unnütze Kosten machen würde.
Ja, wenn Herr R. geradeswegs auf die Sache losgehen, sich zur Beurtei¬
lung den Gerichtsärzten in H. stellen wolle, so wäre die Sache bald zu erledigen;
er sei jedoch zu sehr erzürnt über alles, was ihm widerfahren, als dass er sich
solches zu thuc überwinden könnte, und sei das Bedenken nicht fern zu halten,
dass er mit seinem aufbrausenden Naturell und seinem Magen voll Gift und Galle
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UMIVERSITY OF IOWA
312
Dr. Beckmann,
aaf H.’sche Gerechtigkeit nicht etwa die ganze Untersuchung durch zornige Auf¬
wallungen vereiteln würde. Darin liege ein bedenklicher Punkt. Denn so ver¬
ständig er in allen übrigen Lebensfragen denke und spreche, so exaltirt erscheine
er, wenn die Juristen und Staatsbehörden zu H. Gegenstand der Verhandlung
würden. gez. L.
Meine Antwort lautete dahin, dass ich keinen anderen Ausweg
wisse, als dass Herr R. sich der Commission zu H. stellen müsse, und
dass ich diesem meine Ansicht bereits mitgetheilt hätte. Er sei auf
meinen Rath vor längerer Zeit auch in Berlin gewesen und habe dort
vom Herrn Geheimrath W. denselben Bescheid erhalten.
Wenn Herr R. sich dennoch nicht entschliessen könne, vor der
Commission zu erscheinen, so müsse er hinsichtlich sonstiger zu er¬
greifender Massregeln einen bewährten Rechtsanwalt in Rath nehmen,
und zwar einen solchen, der mehr Interesse für seine Sache hege, als
Dr. St., der Nachfolger des Dr. Rle., bisher an den Tag gelegt. Auch
müsse er bei der Vormundschaftsbehörde in H. beantragen, dass ihm
ein anderer Curator, als sein mit ihm verfeindeter Schwager H., be¬
stellt werde.
In Folge dessen wandte sich nun Herr R. an Dr. jur. W. zu H., der ihm
den R&th ertheilte, vor allen Dingen sich zu bemühen, ein für ihn günstig
lautendes Gutachten von irgend einer psychiatrischen Autorität, z. B. von der
Direction einer provinzialständischen Irrenanstalt der Provinz H., zu erhalten.
Zu diesem Zweck empfahl er ihm den Director Dr. G. M. zu 0. Da Herr R. aber
der Ansicht war, dass Dr. M. seinen Wunsch um so gewisser erfüllen werde, wenn
er eine Instruction und eine Empfehlung des Kreisphysikus Dr. L. zu A. mit¬
brächte, so wandte er sich wiederum an diesen mit der hierauf bezüglichen Bitte.
Herr Dr. L. war auch bereit, eine solche Empfehlung auszufertigen und an Dr. M.
abzusenden, hegte indessen die Ansicht, dass diese um so mehr Naohdruck haben
würde, wenn auch Dr. jur. W. den Herrn Dr. M. instruirte und um Ausstellung
des gewünschten Gutachtens ersuchte.
Um solches zu erlangen, richtete Herr Dr. L. an Herrn Dr. W.
zu H. folgendes ausführliches Schreiben:
, , _ A., den 6. October 1881.
Hochgeehrter Herr!
Ihr Client, Herr Uhrmacher R., ist nun. von N. hierher zurückgekehrt, wie
seit 6 Jahren ganz verständig. Er hat mir die Mittheilung gemacht, Sie seien
überzeugt, die verfahrene Sache bei den Gerichten zu H. zum Austrag bringen
zu können, wenn er das Zeugniss einer psychiatrischen Autorität über seine
Gesundheit vermöge beizubringen. Auf Zureden des Herrn Dr. G. zu N. hat er
nun sich entschlossen, anfangs nächster Woche nach 0. zu reisen und sich dem
Herrn Director der provinzialständischen Irrenanstalt zur Untersuchung und Beob¬
achtung zu stellen, um von ihm das betreffende Zeugniss zu erlangen. Er hat
mich als seinen Begutachter im Jahre 1874 und späteren alljährlichen Beobachter
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Dementia paralytica oder geistige Gesundheit?
313
ersucht, Herrn Sanitätsrath H. zu 0. über meine bisherigen Beobachtungen Mit¬
theilung zu maohen, wie ich denn auch gerne gethan habe in einem ausführ¬
lichen Sohreiben.
So gross der Skandal ist, dass ein von aller Welt hier, auf N. und in Hbg.
als verständiger, ordentlicher, mässiger, freundlicher, fleissiger und ruhiger Mann
bekannter Mitbürger von dem Gerichte zu H. noch fortwährend der Disposition
über sein Vermögen verlustig gehalten bleibt, so sehe ich doch ein, dass das
Haupthinderniss seiner Rehabilitirung in R.’s Weigerung liegt, sich denselben
Sachverständigen jetzt zur Untersuchung zu stellen, welche ihn damals für
unheilbar geisteskrank erklärt hatten und ihn in der Irrenanstalt internirt
hielten, als seine damalige Krankheit (vielleicht Delirium potatorum?) längst ge¬
hoben war. Wenn Andere auch ruhiger darüber denken, so ist ihm dooh nicht
zu verargen, dass er diesen Herren nicht traut, und deswegen würde der Ausweg,
wie Sie ihn vorgeschlagen haben, durch das Zeugniss einer auswärtigen Autorität
den Beweis zu führen, mit grosser Bereitwilligkeit aufzunehmen sein, indem auch
R. sich ohne Umstände entschlossen hat.
Aber ich hoffe Ihre Entschuldigung zu finden, wenn ich mir im Interesse R.’s
ein paar Bedenken vorzutragen erlaube.
Erstlich ist die grosse Frage, ob Herr Director Dr. M. auf private Veran¬
lassung, auf den eigenen Antrag R.’s auf die Beurtheilung etc. eingehen wird.
Ich sehe voraus, dass er ohne behördlichen Auftrag sich für incompetent, die
Begutachtung für unnütz erklären wird.
Zweitens sehe ich nicht ein, wie es zu ermöglichen wäre, vom Gerichte zu H.
einen Auftrag für Herrn Director M. in dieser Beziehung direkt oder auf in¬
direktem Wege zu erzielen.
Drittens wird das Gericht zu H. ein auf privatem Wege erlangtes Zeugniss
schwerlich respectiren.
Sie, Herr Doctor, wissen das ja besser zu beurtheilen, und überlasse ich
Ihnen gern die nöthigen Schritte. Wofern Sie aber auf ein von R. erbetenes
und von Herrn Director Dr. M. abgegebenes Gutachten über R.’s gegenwärtigen
Geisteszustand Werth legen, den versumpften Prozess damit wieder in Schuss zu
bringen Aussicht haben, so würde, meiner unmassgeblichen Meinung nach, es sehr
wünschenswerth oder eigentlich wol unerlässlich sein, wenn Sie als R.’s Anwalt
dem Herrn Director M. das Ersuchen stellten, auf den Antrag des nächste Woche
dort Erscheinenden einzugehen, wofern es ihm möglich ist. Das würde doch R.
bei seinem Ansuchen viel wirksamer unterstützen, als die von mir und Herrn
Dr. G. an ihn gerichteten Privatbriefe, und das Eingehen des Herrn Directors M.
auf sein Ersuchen möglicherweise bestimmen, jedenfalls aber dahin führen, dass
derselbe die Gründe der eventuellen Ablehnung mittheilt und die zu erfüllenden
Bedingungen des Eingehens angiebt. Ohne Ihre Vermittelung sehe ich vorher,
dass R. eine vergebliche Reise machen und danach wieder in vermehrtem Masse
muthlos wird.
Ich habe ihm vor Ausfertigung meines Schreibens nochmals wieder eindring¬
lich zugeredet, tapfer in des Löwen Rachen zu rennen, sich den Medioinalbeamten
in H. zur Untersuchung zu stellen, da es ganz unmöglich sei, dass die Herren ihn
jetzt noch wieder in’s Irrenhaus stecken könnten; sein Hass gegen diese Herren
ist aber so gross und unauslöschlich, dass er hierzu nicht zu bewegen ist.
VierMljahi-Mohr. f. ger. M«d. N. F. XUV. 3.
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Dr. Beckmann,
„Lieber jedem Anderen, ab diesen Medioinalbeamten zu H.“, das ist seine
feste Antwort. — Er ist auf die Herren zu verbittert und 6 bis 7 Jahre, in denen
er doch in der allgemeinen Beurtheilung seiner Verhältnisse ausserordentlich riel
ruhiger geworden ist, haben diese Erbitterung nicht zu tilgen vermocht. Wenn
Sie können, kommen Sie dem unglücklichen Manne, der sich für ein Opfer der
Justiz hält, weil er den genauen Zusammenhang juristischer Formalitäten nicht
einsieht, zur Hülfe; er verdient es wol, denn er ist hier allgemein geschätzt und
geachtet. Mit vorzüglicher Hochachtung ganz ergebenst
Dr. L., Sanitätsrath, Kreisphysikus.
R. hat sich darauf auch wirklich zu Herrn Dr. M. in 0. begeben
und diesen um ein Superarbitrium ersucht, ist aber abschläglich be-
schieden worden, mit dem Bemerken, dass Herr Dr. R. in F. bei H.
ein viel zu kluger Mann und ein zu guter College sei, als dass er es
wagen möge, denselben durch ein vielleicht dessen Ansichten entgegen¬
stehendes Gutachten zu betrüben.
Herr R. ist daher auch von 0. unverrichteter Sache zurückgekehrt.
Nachdem also auch dieser Versuch fehlgeschlagen, war das Be¬
streben des Herrn-Rechtsanwalts Dr. W. dahin gerichtet, den Behörden
zu H. die Sache aus den Händen zu nehmen und dem Königlichen
Amtsgerichte zu Hbg. z,ur Beurtheilung zuzuwenden.
Er stellte daher unter dem 30. November 1881 bei dem hiesigen
Amtsgerichte folgenden Antrag:
An Königliches Amtsgericht za Harburg.
Antrag
auf Wiederanfhebnng der Entmündigung in Sachen und abseiten des Uhrmachers
J. C. R. zu Hbg., Imploranten, — vertreten durch Rechtsanwalt Dr. W. zu H. —
mit Anlage 1—6.
P. P.
Impetrant beantragt die Wiederaufhebung der im Jahre 1873 zu H. über
ihn verhängten Gura perpetua.
Sein Antrag begründet sioh folgendermassen:
Impetrant ist im Jahre 1873 in H. als seinem damaligen Wohnsitze auf
Veranlassung seiner Frau und seines ihm verfeindeten Schwagers, des Maklers
W. H., wegen Geisteskrankheit unter Cura perpetua des Letzteren gestellt worden,
nachdem er vorgängig in die Irrenanstalt zu F. geschafft worden war.
Im Jahre 1874 entwich er von dort, da er sich für gesund hielt, und begab
sich über Hbg. nach seinem Heimathsorte A.
Nachdem eine Wiedereinlieferung in die Irrenanstalt durch Intervention des
Herrn Oberamtsrichters G. und Landdrost v. Z. in A. gescheitert war, betrauten
die Behörden zu H. den dortigen Physikus Herrn Sanitälsrath Dr. L. mit Beob¬
achtung des Imploranten, als dessen Resultat nach 6monatlicher Dauer sich
ergab, dass Herr Physikus in einem ausführlichen Gutachten den Imploranten
für dispositionsfähig erklärte. Weit entfernt aber sich diesem Gutachten anzu-
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Dementia paralytica oder geistige Gesundheit?
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schliessen und nunmehr den Imploranten als einen Wiedergenesenen ?on der Cura
zu befreien, beschieden die Behörden zu H. den Impetranten dahin, er habe sich
in H. zur Untersuchung zu stellen, vorher könne von einer Aenderung in der an¬
geordneten Cura nicht die Rede sein. Dies geschah 1875 und es begann damit
ein hoffnungsloser Kampf gegen das formelle Recht, das den Behörden in U. zur
Seite stand. Die Einzelheiten dieses vergeblichen Ringens ausführlich zu referiren,
ist überflüssig, da die Curatelacte hierüber genügend Auskunft giebt. Aller Orten,
wo sich Impetrant seitdem aufgehalten hat, hat er sich von praktischen Aerzten
beobachten lassen und hat von Allen ausnahmslos die besten Zeugnisse seiner
Geistesklarheit erhalten, in A. vom Sanitätsrath Dr. Sch. und Obergeriohts-
Hülfsphysikus Dr. W., in Harburg vom Kreisphysikus Sanitätsrath Dr. Beck¬
mann, und im Seebade N., wo Impetrant 1875, 1876 und 1877 während der
Badesaison ein Uhrmachergeschäft etablirte, von den Badeärzten Herrn Medicinal-
rath Dr. G. und Herrn Sanitätsrath Dr. Fr. aus B., ferner die zahlreichsten
Zeugnisse von angesehenen Privatpersonen über seine moralische Führung und
seine geistige Tüchtigkeit.
Dass Impetrant sich nicht in H. zu einer Untersuchung stellen wollte, war
abseiten desselben keine grundlose Marotte, sondern die sehr erklärliche Soheu,
Aerzten gegenüber, die ihn für unheilbar geisteskrank erklärt und keinen Anstand
genommen, dies Urtheil zu einer Zeit zu wiederholen, wo Impetrant bereits aus der
Irrenanstalt entflohen und ihrer Beobachtung nicht mehr zugänglich war u. s. w.
Trotz der unsäglichsten Anstrengungen gelang es dem Impetranten nicht
nach alledem, die Behörden in H. zu bewegen, sich dem Urtheile auswärtiger
Aerzte zu unterwerfen, und so würde er wol sein Leben lang die ihm auferlegten
Fesseln dulden müssen, wenn nicht eine unerwartete Hülfe ihm in der Reform der
Reiohsgesetze entstanden wäre. Indem die Civilprozessordnung (§.617, — §. 84
a. 0.) das Verfahren auf Wiederaufhebung der Entmündigung vor das Amts¬
gericht, des allgemeinen Gerichtsstandes des Entmündigten verweist, sieht sich
Impetrant endlich in der Lage, das zu erreichen, was man ihm in unglaublicher
Starrheit Jahre lang verweigert hat, nämlich eine Untersuchung von Aerzten,
die mit seinem Wesen durch Beobachtung vertraut sind und durch keinerlei
Rücksichten und frühere eigene Urtheile oder solche von Berufscollegen desselben
engen Kreises beeinflusst werden könnten, und er ist mit Freuden bereit, sich
dem Urtheil dieser Aerzte zu unterwerfen.
Impetrant überreicht in Anlage 1—2 die erwähnten Gutachten des Herrn
Kreisphysikus Sanitätsraths Dr. Beckmann und des Herrn Sanitätsraths Dr. Sch.
zu A. in mit den Originalen gleichlautenden Copien.
Anlage 3. Abschrift eines Briefes des Herrn Kreisphysikus Dr. L. an
Herrn Dr. Beckmann.
Anlage 4. Ein die zuletzt von dem Impetranten unternommenen Schritte
illustrirendes, an den imploratorisohen Anwalt gerichtetes Schreiben desselben
Herrn.
Anlage 5. Ein charakteristisches Schreiben des Oberarztes der Irrenanstalt
zu F. an Dr. Beokmann.
Im Uebrigen muss sioh Impetrant bezüglich der weiteren Producenda auf
die Curatelacte der Behörde zu H. beziehen, welche alle erwähnten Gutachten
originaliter und das gesammte sonstige Material enthält.
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316
Dr. Beckmann,
Um Requisition dieser Acte von der Vormundschafts-Behörde
zu H. wird gebeten.
Obigen Ausführungen zufolge dürfte es nicht unangemessen sein, bezüglich
der Frage der Zuständigkeit des rom Impetranten angegangenen Königl. Amts¬
gerichts eine kurze juristische Deduction hinzuzufügen, sei dies auch nur eine
überflüssige Vorsicht gegenüber dem möglichen Auftauchen kaum zu erwartender
Bedenken.
Die Zuständigkeit gründet sich auf den Gerichtsstand des Wohnsitzes.
Dass Impetrant faktisch seinen Aufenthalt und den Mittelpunkt seiner
ganzen Thätigkeit in den Bezirk des Königl. Amtsgerichts verlegt hat und Willens
ist dort zu domiciliren, wird nicht in Zweifel zu ziehen sein; zweifelhaft dagegen
könnte e3 — wenigstens auf den ersten Blick — erscheinen, ob Impetrant selbst
(vorausgesetzt seine geistige Wiedergenesung), so lange er unter Cura steht, den
zur Verlegung des Domicils unentbehrlichen juristischen Animus domicilii zu
haben fähig ist. Diese Frage hängt von der allgemeinen Frage ab, ob die be¬
stehende Cura als solche die Handlungsfähigkeit des Curanden ausschliesst.
Erfährt dieselbe nun zwar in verschiedenen Rechtssystemen eine verschiedene
Beantwortung, wie z. B. eine Vergleichung der gemeinrechtlichen Sätze mit der
Vorschrift des Preussischen Landrechts Tit. 4. §. 25 ergiebt, so ist jedenfalls
die Theorie des gemeinen Rechts auf das Zweifelloseste präoisirt in der Lex 6
Cod. de cura pep. (5, 70), welche den Zustand der Dispositionsunfähigkeit der
Wahnsinnigen nicht, wie jene Vorschrift des Landrechts, an die gerichtliche
Interdiotion, sondern an den thatsächlichen Krankheitszustand knüpft.
Ist Impetrant demnach, wie behauptet wird, geistig gesund, so konnte er
sein Domicil verlegen und das Königl. Amtsgericht ist zuständig.
Eine Prüfung der Zuständigkeit, getrennt von einer Cognition in der Haupt¬
sache, ergiebt sich aus alledem als unmöglich. Mit der Anerkennung der that¬
sächlichen Unterlagen des impetrantischen Antrages in der Hauptsache ergiebt
sich von selbst aber auch die Begründung der Zuständigkeit.
Im Aufträge des Impetranten (siehe Vollmacht Anlage 6)
gez. Dr. W., Rechtsanwalt.
Vorstehenden Antrag sandte das Königl. Amtsgericht brm. s. p. r. an die
Vormundschafts-Behörde in H. mit der ergebensten Anfrage, ob wol dieselbe
geneigt sei, im Hinblick auf die erfolgte Wohnungsänderung des Mündels, die
Vormundschaft hierher abzugeben. Falls dieses der Fall sei, dürfe das Unter¬
zeichnete wol um gefällige Uebersendung der Acte ersuchen.
Hbg., den 14. December 1881.
Königliches Amtsgericht, gez. v. J.
Auf diese Anfrage erwiderte die Vormundschafts-Behörde zu H:
In Veranlassung eines von dem hier unter Cura perpetua stehenden J. C. R.
an das Königliohe Amtsgericht gerichteten Gesuchs um Wiederaufhebung der im
Jahre 1873 von dem vormaligen hiesigen Obergericht über ihn verhängten Cura
perpetua hat Königliches Amtsgericht an uns die Frage gerichtet, ob wir geneigt
wären, die Cura perpetua dahin abzugeben.
Ehe wir über diesen Antrag Beschluss fassen, ersuchen wir um gefällige
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Dementia paralytioa oder geistige Gesundheit?
317
Auskunft, ob wir den Antrag dahin richtig auffassen und verstehen, dass König¬
liches Amtsgericht zur Zeit seine Competenz, den von dem R. gestellten Antrag
— der nicht auf eine Uebertragung, sondern auf eine Aufhebung der Curatel
abzielt — zu erledigen, bezweifelt, und seine Zuständigkeit, auf den Antrag
selbst zu entscheiden, erst dann als begründet anseben würde, wenn ihm von
uns diese Curatel übertragen würde.
Die Vormundschafts-Behörde, gez. A.
H., den 23. December 1881.
Hierauf hat das Königl. Amtsgericht zu Hbg. folgenden Bescheid
ertheilt:
An die Vormundschafts-Behörde zu H.
Auf das gefällige Schreiben der verehrlichen Vormundschafts-Behörde vom
23. d. M., die für J. C. R. angeordnete Curatel betreffend, nehme ich keinen
Anstand zu erwidern, dass ich allerdings, wie es wol kaum eines Beweises wird
unterliegen können, mich erst dann für zuständig und befugt erachten würde,
ein Gesuch um Aufhebung der Curatel in Erwägung zu ziehen oder darüber
Beschluss zu fassen, wenn etwa die verehrliche Vormundschafts-Behörde auf
einen von dem oder den Betheiligten etwa direkt oder durch Vermittelung des
hiesigen Gerichtes dorthin gerichteten Antrag sich veranlasst finden würde, die
Vormundschaft nicht mir zu übertragen, sondern an mich abzutreten.
gez. v. J.
Die Vormundschafts-Behörde erwiderte alsdann:
Dem Königlichen Amtsgericht II. zu Hbg. erwidern wir anf die gefällige
Anfrage vom 14. December 1881. betreffend Uebergabe der hiesigen R. 'sehen
Curatelsache, dass wir keine Veranlassung sehen, die bei uns seit 1873 anhängige
Curatel, die einen hiesigen Bürger betrifft, der sein juristisches Domicil hier hat,
dessen Curator, wie dessen Vermögen sich hier befindet, abzugeben. Zugleioh
remittiren wir die Eingabe des Dr. W.
Die Vormundsohafts-Behörde. gez. M., Seoretair.
H., den 4. Januar 1882.
Königliches Amtsgericht fand sich bewogen, folgende Antwort
zu ertheilen:
In der Angelegenheit, die über den Uhrmacher J. C. R. angeordnete Curatel
betreffend, bin ich, nachdem ioh naoh Empfang des gefälligen Sohreibens vom
4. d. M. die Sache nochmals in Ueberlegung gezogen habe, zu der Ueberzeugung
gelangt, dass die in meinem Schreiben vom 27. December v. J. ausgesprochene
Ansicht doch wohl nicht zutreffend ist.
Ich bin damals von der Voraussetzung ausgegangen, dass die Bestimmung
des §.617 der mir der Zeit nicht vorliegenden Reichs-Civil-Proces-Ordnung, dass
für das Verfahren in betreff von Anträgen auf Wiederaufhebung der Entmündi¬
gung das Amtsgericht des Wohnorts des Entmündigten allein zuständig sei, sich
nur auf den Fall beziehe, dass die Entmündigung im Wege der gerichtlichen
Klage angefochten wird. Bei einer neuerdings vorgenommenen Prüfung des
Absatzes des fraglichen Paragraphen bin ich jedoch zu der Ueberzeugung gelangt,
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318
Dr. Beckmann,
dass derselbe auch auf derartige Anträge im Wege der vormundschaflsgericht-
lichen Verwaltung Anwendung finden soll. Hiernach stellt sich dafür, ob das
Unterzeichnete Amtsgericht sich im vorliegenden Falle für zuständig zu erklären
hat, die Frage als massgebend dar, ob der hiesige Ort als der Mittelpunkt der
bürgerlichen Thätigkeit des Petenten anzusehon ist. Indem ich mich daher
veranlasst finde, von meiner früheren. Auffassung zurückzutreten, behalte ich mir
weitere Beschlussnahme vor. gez. v. J.
Fiat. Ladung des p. R. zu seiner Vernehmung auf Donnerstag, den 27. d. M.
gez. v. J.
Geschehen Amtsgericht Hbg. den 27. Januar 1882.
Auf gerichtsseitige Ladung erschienen, wurde vernommen der Antragsteller
J. C. R.:
Ich heisse (wie angegeben), bin geboren zu A. den 21. Mäiz 1827 als Sohn
des Uhrmachers R. daselbst.
Nachdem ich in L. das Uhrmachergeschäft erlernt und dann länger in H.
conditionirt hatte, habe ich im Jahre 1852 ein Uhren-, Chronometer* und Juwelen-
Geschäft dort etablirt und bis Ostern 1873 demselben vorgestanden.
Ich machte sehr gute Geschäfte.
Ich war verheirathet mit der Tochter des Kammfabrikanten Hr. E. zu H.
Ostern 1873 bin ich bei der Confirmation meiner zweiten Tochter, Helene,
in der Kirche von einem Schlaganfall betroffen und bewusstlos zu Haus gebracht.
Nach mehrwöchiger Krankheit, von welcher ich keine Erinnerung habe,
bin ich in die Irrenanstalt zu F. gebracht. Ich will nicht bestreiten, dass ich
um jene Zeit geisteskrank gewesen sein mag. Kurz nachher war ich aber ganz
vernünftig.
Gleichwohl wurde ich in der Anstalt festgehalten, bis ich im April 1874
heimlich aus derselben entwich, und, nachdem ioh mich hier in Hbg. bei einem
Freunde, jetzt in H., einige Tage verborgen gehalten, zu Fusse über St. und
Stbg. nach Bm. und von da weiter nach E. per Bahn und dann per Post weiter
nach A. gefahren. Nachdem ich hier von meinem damals noch lebenden Vater
freundlich und unter Bezeigung grossen Erstaunens über meine Schicksale em¬
pfangen worden, wurde ich nach einigen Tagen auf Requisition der Vormund-
schaftsbehörde zu H. verhaftet, sodann aber, nachdem mein Vater mit seinem
ganzen Vermögen für mein ruhiges Verhalten einstehen zu wollen, erklärt hatte,
von dem Oberamtsrichter 0. sofort wieder auf freien Fuss gesetzt.
Auf Veranlassung der Behörde zu H. wurde vom Magistrate zu A. der
Kreisphysicus Dr. L. mit meiner Beobachtung beauftragt; ich selbst unterwarf
mich freiwillig der Beurtheilung des Medicinalraths Sch. und des Obergeriohts-
physicus (Hülfsphysicus) Dr. W. zu A. Nachdem ich mich etwa 1 ‘/ 2 Jahr nooh
in A. aufgehalten, ging ich, weil ich wünschte, wieder in der Nähe von H. zu
leben, nach Hbg. und liess mich von dem Sanitätsrath Dr. Beckmann beob¬
achten. Zugleich arbeitete ich als Volontair im Geschäfte des Uhrmachers P.
Im Sommer 1876 ging ich zuerst nach dem Seebade N. und etablirte dort für
die Dauer der Saison ein Geschäft als Uhrmacher und Mechaniker, welches mir
im ersten Jahre eine Brutto - Einnahme von 1011 Mark einbrachte. Dies habe
ich seitdem alljährlich fortgesetzt und betreibe das Geschäft noch jetzt. loh habe
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Dementia paralytica oder geistige Gesundheit?
319
unter Anderen für das Königliche Badecommissariat an der Telegraphenleitung
gearbeitet und habe für dieselbe die Uhren in den Königlichen Gebäuden in
Ordnung gehalten. Seit etwa 2 Jahren habe ich angefangen, mich an dem
Geschäfte von P. in Hbg. zu betheiligen, ich beabsichtige aber hier ein selbst¬
ständiges Uhrmachergeschäft zu begründen.
Ich lebe von einem von der Vormundschaftsbehörde aus den Aufkünften
meines etwa 42000 Mark betragenden, unter Curatel stehenden Vermögens, mir
ausgesetzten Oompetenz von monatlich 120 Mark und dem, was ich mir verdiene
und bewohne ein Logis bei dem Schlächtermeister M. hier, wo ich mich von
meinem Hauswirthe speisen lasse. Ich bezahle für Wohnung und Mittagstisch
monatlich 45 Mark. Frühstück und Abendessen muss ich mir selbst halten.
Bei M. wohne ich etwa 2 Morate. Vordem wohnte ich 2 Jahre lang ganz in
denselben Verhältnissen wie bei M. beim Gastwirth de W. und noch früher beim
Gastwirth P., ebenfalls auf dieselbe Weise.
V. G.
und ist Gomparent entlassen.
Zur Beglaubigung gez. v. J.
Notiz: Der Curande hat auf den Rath des Unterzeichneten die Einreichung
eines Nachweises darüber in Aussicht gestellt, dass er hier das Uhrmacherband¬
werk und zwar zunächst als Gehülfe betreibe.
Hbg., 29. Januar 1882. gez. v. J.
Am 6. Februar 1882 legte der Hausmakler H., Curator des
Herrn R., folgenden Protest ein:
Verwahrun g
abseiten des Hausmaklers C. M. W. H., wohnhaft zu H., als Curator perpetuus
des J. Ch. R.
Zufolge von der Vormundschaftsbehörde zu H. ihm gewordenen Weisung
legt der Unterzeichnete Curator perpetuus des J. Ch. R. hierdurch Verwahrung
ein gegen die Zuständigkeit des Königlichen Amtsgerichts Hbg. über einen Antrag
auf Wiederaufhebung der Entmündigung zu beschliessen.
Der §. 617 der C.-P.-O., Abschn. 1, kann solche Zuständigkeit nioht be¬
gründen. Der daselbst in Bezug genommene allgemeine Gerichtsstand, welcher
nach §.13 der C.-P.-O. durch den Wohnsitz bestimmt wird, ist für den Curan-
den, welcher nach eingetretener Entmündigung und damit constatirter Handlungs¬
unfähigkeit rechtlich ausser Stande ist, die Absicht eines Domicilwechsels zu
fassen, ausschliesslich H. was dauernd oder vorübergehend der Aufenthaltsort
des Curanden sein mag.
Eventuell beansprucht der Unterzeichnete auf Grund §.617 und §.597
in der Saohe gehört zu werden.
H., den 6. Februar 1882. C. M. W. H.
als Curator perpetuus des J. Ch. R.
Die Vormundschaftsbehörde ging auf das Gesuch des Curators
ein und decretirte unterm 15. Februar 1882:
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320
Dr. Beckmann.
dass an Stelle des anf sein Ansuchen and vorbehaltlich seiner Rechnungs-
pflichtigkeit zu entlassenden Curators H. nunmehr von Amtswegen der
Rechtsanwalt Dr. jur. H. zum Curator perpetnus zu ernennen sei.
Der Secretair der Vormundschaftsbehörde.
(L. S.) gez. M.
Unterm 28. Februar 1882 stellte Herr Dr. jur. W. beim Königl.
Amtsgericht zu Hbg. folgenden Antrag auf Wiederaufhebung der Ent¬
mündigung des J. Ch. E.:
Obgleich die dem gehorsamst Unterzeichneten nunmehr zu Händen gekom¬
mene Verwahrung des früheren Curators des R. vom 6. Februar durchaus dem
Rahmen des von der Civilprozessordnung vorgeschriebenen prozessualen Ver¬
fahrens entfällt und um so gegenstaudsloser etscheint, als der Verfasser nach
seiner am 15. Februar von der Vormundschaftsbehörde decretirten Entlassung
ein durchaus unbetheiligter geworden ist, soll zur möglichsten Förderung der
Angelegenheit doch nicht unterlassen werden, auf das in der gedachten Ver¬
wahrung hervorgehobene Zuständigkeitsbedenken, welches Unterzeichneter in sei¬
nem früheren Anträge bereits anticipando zu beseitigen versuchte, mit wenigen
Worten einzugehen.
Die Verwahrung sagt: Der Gerichtsstand des Wohnsitzes sei für den
Curanden, welcher nach eingetretener Entmündigung und nach constatirter
Handlungsunfähigkeit rechtlich ausser Stande ist, die Absicht eines Domicil-
Wechsels zu fassen, ausschliesslich H. etc.
Der Verfasser geht damit von dem Standpunkte aus, dass der Zustand der
gerichtlichen Interdiction genüge, um jede rechtliche Disposition des Curanden
auszuschliessen. Dies ist nach gemeinem Rechte zweifellos verkehrt, und sind
Handlungen, welche nicht in thatsächlichem Krankbeitszustande vorgenommen
worden sind, sofern dies nur erweislich ist, trotz der Interdiction rechtsverbindlich.
Dass in H. entgegengesetzte particularrechtliche Normen, sei es im Statut,
sei es in der Vormundschaftsordnung gegeben seien, ist ebenso unerfindlich, als
dass etwa eine derogirende Gerichtspraxis bestände, vielmehr ist überhaupt kein
Erkenntniss, welches das Gegentheil ausspräche, aufzufinden. Danach kann über
Geltung der gemeinrechtlichen Grundsätze kein Zweifel herrschen und muss ein
Domicilwechsel, vorausgesetzt die geistige Wiedergenesung des Curanden, als
rechtswirksam angesehen werden.
Der gehorsamst Unterzeichnete darf einer baldigen nunmehrigen Entschei¬
dung auf den von ihm gestellten Antrag auf Wiederaufhebung der Entmündigung
entgegensehen.
Hb., den 28. Februar 1882. Der Rechtsanwalt, gez. W.
(Schluss folgt.)
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6 .
Beitrag xar Casaistik der Blödsiaas-SiMilatiea.
Yon
Dr. Hngo Wiedemann in Praust.
Am 26. August 1881 wurde ich von der Königl. Staatsanwalt¬
schaft zu D. unter Uebersendung eines Actenfascikels aufgefordert, den
Handelsmann Julius B. in C. zu besuchen, ihn auf seinen Geisteszustand
zu untersuchen und darüber ein Gutachten abzugeben.
Geschichtliches.
Aus dem ziemlich umfangreichen Actenmaterial') ergab sich, dass B. be¬
schuldigt war, vor länger als einem Jahre in Gemeinschaft mit einem Andern
ein Schwein aus dem Stalle gestohlen zu haben. Sein Mitangeklagter war zur
Rechenschaft gezogen worden, hatte gestanden und war zu mehrwöchentlicher
Gefängnissstrafe verurtheilt worden, die er mittlerweile schon verbüsst hatte.
B. indessen, der zur Zeit des Diebstahls in W. als Arbeiter und Kartoffelhändler
wohnte, verschwand plötzlich und wurde mehrere Monate steckbrieflich verfolgt
und vergeblich gesucht, während welcher Zeit er sich ohne festen Wohnsitz
hernmgetrieben zu haben soheint. Endlich wurde man seiner im Mai 1881 in C.
habhaft, und er nach dem zuständigen Amtsgericht zu S. zur Untersuchungshaft
verbracht. Hier begann er nach zwei- oder dreitägiger Haft plötzlich zu toben.
Der dortige Gefängnissarzt, Sanitätsrath Dr. F., besuchte ihn im Gefängnisse
und begutachtete, dass B. zur Zeit „an Wahnsinn“ litte und nicht vernehmungs¬
fähig sei. Dieser wurde nun nach C. zu seiner Familie entlassen.
Nach Verlauf eines Vierteljahres wurde, nachdem Dr. F. inzwischen ver¬
storben war, ich aufgefordert, mich von dem Zustande des B. zu überzeugen und
ein Gutachten darüber abzugeben, ob B. noch an „Wahnsinn“ litte und noch
nicht vernehmungsfähig sei. Der weitere Verlauf der Sache ergiebt sich aus
dem Folgenden.
Gutachten.
In Folge Anschreibens der Königl. Staatsanwaltschaft zu D. vom
26. v. M. habe ich mich der ärztlichen Untersuchung des Handels¬
mannes Julius B. in Dorf C. in Bezug auf seinen Geisteszustand
wiederholt unterzogen.
') Leider steht mir dasselbe heute nicht mehr zu Gebote. Da ich mich erst
jetzt zur Veröffentlichung des folgenden Gutachtens entschlossen habe, kann ich
die obigen Angaben nur aus dem Gedächtnisse machen und muss darum auf
genauere Details verzichten.
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322
Dr. H. Wiedemann,
Bei meiner ersten Reise nach G. am 3. September d. J. Nachmittags fand
ich den B. nicht zu Hause; derselbe war nach Aussage seiner Ehefrau in Be¬
gleitung einer Frau aus L. nach D. zum Markt gefahren, um Kartoffeln zu ver¬
kaufen. Seine Frau sowohl wie deren gleichfalls anwesende Mutter schilderten
den B. als völlig geistesschwach, und gaben auf meine Frage, wie er denn in
diesem geistigen Zustande sein Kartoffelgeschäft abmachen könne, an, dass eben
darum jene Frau aus L. mitgefahren sei, da die eigene Frau vor erst drei Tagen
entbunden war. Auf weitere Fragen wurde mir erzählt, dass er häufig mit der
Polizei in D. in Conflict komme, und dass er erst seit seiner Untersuchungshaft
in S. so verwirrt sei. Seine Hausgenossen schilderten ihn gleichfalls als stets
unzurechnungsfähig und zeitweisen Wuihanfällen unterworfen. Während der¬
selben werde er sich und andern Menschen nicht gefährlich, wol aber schlage er
auf Thiere blindlings los und habe in einem solchen Anfalle seinem einzigen
Pferde ein Auge ausgeschlagen.
Der Ortsschulze, Gastwirth Z., hingegen hält ihn für völlig geistesgesund
und meinte erst auf Entgegen halten der seiner Ansioht widersprechenden, eben
erwähnten Angaben, dass es dann auch wol so sein könne; er wisse nichts
Genaueres darüber.
In der Wohnung und an den Hausgerätben des B. fand ich Nichts, was in
irgend welche Beziehung zu etwa bestehender Geisteskrankheit hätte gebracht
werden können. —
Montag, den 5. d. M., Nachmittags traf ich wieder in G. ein und fand den
B. auf Anordnung des Ortsschulzen zu Hause, aber auch auf mein Erscheinen
vorbereitet. Ich fand in ihm einen etwas über mittelgrossen, mageren jungen
Mann von bleicher Gesichtsfarbe mit hohlen Wangen; häufige Hustenstösse von
nicht langer Dauer unterbrachen die nun folgende Unterredung. Nach allem
diesem machte er äusserlich den Eindruck eines brustkranken Menschen; die
physikalische Untersuchung ergab spärliche Rasselgeräusche in beiden oberen
Brusthälften, besonders aber der linken, ohne deutliche Verdichtungserschei¬
nungen. Die Zahl der Athemzüge betrug 40 in der Minute. Puls und Tempe¬
ratur waren normal.
Aus der Unterredung, welche ich an diesem Tage mit B. führte,
und welche etwas über eine halbe Stunde währte, ergab sich der
oberflächliche Eindruck, als sei B. in hohem Grade schwachsinnig.
Inwieweit dieser Eindruck einer schärferen Kritik Stand hält, wird
sich aus dem Folgenden ergeben,
besonders in der Erinnerung haften
haltung herausheben:
Nun, heute treffe ich Sie also zu
Hause?
Hat er Ihnen gesagt, dass ich kom¬
men würde?
Wissen Sie, wer ich bin?
Sie sehen so elend aus; sind Sie
krank?
Zunächst will ich einzelne, mir
gebliebene Bruchstücke der Unter-
Ja, der Schulz hat mir gesagt, ich
soll zu Hause bleiben.
(Keine Antwort.)
Das weiss ich nicht.
Ja, ich bin krank.
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Beitrag zur Casuistik der Blödsinns-Simulation.
323
Was fehlt Ihnen denn?
Wie alt sind Sie?
Wann sind Sie geboren?
Wann ist denn Ihr Gebartstag?
Wo sind Sie geboren?
Leben Ihre Eltern noch?
Wo sind Sie denn hier?
Wo waren Sie vordem?
Waren Sie nicht einmal in W.? 3 )
Kennen Sie S.? 4 ) Sind Sie nicht
auch in S. 4 ) gewesen?
Ist dies Ihr Haus, in demSie wohnen?
Wem gehört es denn?
Wie viel Miethe zahlen Sie denn?
Wo wohnt Ihre Tante?
Lebt Ihre Matter noch?
Lebt Ihr Vater noch?
Haben Sie noch lebende Geschwister?
Haben Sie noch eine Schwester oder
einen Bruder?
Das ist Ihr Bruder? Haben Sie denn
einen Bruder?
Was ist das, was Sie sich da aus-
ziehen? (auf ein blaues Wollhemde
deutend.)
Die Jacke sieht aber sehr lang aus.
Ist das wirklich eine Jacke.
Wie viel Knöpfe haben Sie da an
der Jacke?
Na zählen Sie einmal.
Wie viel Finger haben Sie denn an
der Hand?
Ich weiss nicht, ich hab’ immer
Kopfschmerzen.
23, im 24sten. ')
Das weiss ich nicht.
(Pause) Das weiss ich nicht.
In M.')
Weiss ich nicht.
(Pause) In R. 2 )
Weiss ich nicht.
Nein. — Das weiss ich nicht.
Weiss ich nicht.
Nein. Das ist nicht mein Haus.
Meiner Grossmutter in D.
Das weiss ich nicht. Das bezahlt
alles meine Tante für mich.
In Berlin. Die ist sehr reich.
Weiss ich nicht.
Das weiss ich nicht.
(Keine Antwort.)
Ist das nicht mein Bruder da? (aus
dem Fenster auf eine Person auf dem
Felde deutend.)
Das weiss ich nicht.
Jacke.
Das ist eine Jacke.
Weiss ich nicht.
Dreizehn. (Nach kurzem Zaudern,
ohne einzeln zu zählen.)
Hundert.
') Entspricht der Wahrheit.
*) Name eines fast 2 Meilen entfernten Dorfes.
*) Sein Wohnsitz zur Zeit des Diebstahls.
4 ) Ort der Untersuchungshaft.
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UNIVERSITÄT OF IOWA
324
Dr. H. Wiedemann,
Wie heisaen Sie eigentlich? Weiss ich nicht. — Wischnewski.')
Und mit Vornamen? Vornamen? Das weiss ich nicht. —
Wischnewski.
Die Frau des B. erklärte anf Befragen, dass ihr Mann von seiner jetzt ver¬
storbenen Matter als kleines Kind an fremde Leute abgegeben sei. Der Vater
sei nicht bekannt, die Matter sei aach schwachsinnig oder geisteskrank gewesen.
Geschwister existirten nicht. Ihr Mann sei erst aas S. krank zurückgekommen;
vordem sei er ganz gesund gewesen. Er leide häufig an Krampfanfällen, während
welcher er bewusstlos sei; nach denselben sei er dann immer auffällig schwach¬
sinnig. Auch gerathe er häufig, namentlich Naohts in Aufregung und reisse
dann die Betten auseinander.
Während sich so im Allgemeinen das Bild eines ziemlich aas¬
geprägten Schwachsinns darbot, welches dadurch noch ergänzt wurde,
dass B. während der ganzen Dauer an derselben Stelle stehen blieb
und in eigentümlich monotomem, nichtssagendem Tone sprach, mussten
verschiedene Einzelheiten Verdacht erregen. Auffallend war zunächst
der Unterschied zwischen dem letzten Sonnabend, an dem B. noch eine
Geschäftsreise nach D. machen konnte, und dem in Rede stehenden
darauffolgenden Montag, an dem eine so tiefe Demenz zu Tage trat.
Auffallend war die häufige Wiederkehr der stereotypen Redensart:
„das weiss ich nicht.“ Ein allmälig in die Leere des Blödsinns Ver¬
sinkender ist sich seines geistigen Schwächezustandes kaum so deut¬
lich bewusst, dass er darüber wiederholt Rechenschaft geben sollte.
Er schweigt vielmehr oder giebt eben eine „blödsinnige“ Antwort,
hilft sich aber nicht dauernd durch das Geständniss, dass er keinen
Bescheid zu geben wisse.
Hier ist zugleich wol der Ort, auf die Natur der etwa voraus¬
zusetzenden Psychose einzugehen. Die Ausbeute an ätiologischem
Material ist minimal. Aus der Jugend des B. ist gar nichts bekannt.
Die Mutter soll schwachsinnig gewesen sein nach Angabe ihrer Schwieger¬
tochter. Indessen will ich hier gleich bemerken, dass die Angaben der
Frau einen nichts weniger als glaubwürdigen Eindruck auf mich ge¬
macht haben; sie schien wol volles Verständniss für die Bedeutsam¬
keit der Situation zu haben. Es bleibt sonach nur übrig, dass B. vor
3 Monaten plötzlich aus der Untersuchungshaft als „an Wahnsinn
leidend“ nach Hause gebracht worden ist. Nach Angabe der Frau
ist er in der Haft köpf krank geworden: „er hat sich das so zuge-
*) Ganz willkürlicher Name ohne jede Beziehung.
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Beitrag zar Casuistik der Blödsinns-Simulation.
325
zogen, weil er doch unschuldig ist.“ Von sogenanntem „Gefangenen¬
wahnsinn“ kann hier indess wol nicht die Rede sein; denn es fehlen
die melancholische Verstimmung, die hallucinatorischen Erscheinungen,
die Wahnideen. Auch hätte die Krankheit aller Wahrscheinlichkeit nach
durch eine Haft von nur wenigen Tagen nicht so bedeutend werden
können, dass sie bei ihrer erfahrungsgemäss guten Prognose nicht in
einem Vierteljahre verschwunden sein oder doch bedeutend gebessert
hätte erscheinen müssen. Anders steht es mit der Frage, ob ein bis
dahin latentes Seelenleiden durch die Haft zum Ausbruch gebracht sei.
Spricht einerseits auch hier die Kürze der Haft sowohl, wie der doch
kaum sehr deprimirende Eindruck gerade einer Untersuchungshaft
auf einen Menschen so niederer socialer Stellung gegen eine solche
Annahme, so tritt andererseits die Frage an uns heran, ob den Aus¬
sagen der Frau soweit Glauben zu schenken sei, dass ein epilepti¬
sches Leiden mit Wuthausbrüchen und Stupor-Anfällen anzunehmen sei.
Indessen auch das Bild eines postepileptischen Stupor, d. h. Betäubung,
ist nicht im Mindesten hier zu erkennen; dasselbe besteht vielmehr
in vollständigem Schweigen, das wol mitunter „durch abrupte Aeusse-
rungen eines vag-religiösen Deliriums unterbrochen“') wird. Auch eine
Verwirrtheit, wie sie wol mitunter nach epileptischen Anfällen vor¬
kommt, ist in unserem Falle nicht zu erkennen. Die ziemlich un-
motivirt in dem allgemeinen Auffassungs- und Erinnerungsdefekt her¬
vorspringenden Angaben über seine reiche Berliner Tante und seine
Grossmutter in D., die vielleicht hier angezogen werden könnten,
machen vielmehr einen überaus plumpen Eindruck, da sie eben in das
Bild des sonst zur Erscheinung gebrachten Schwachsinns gar nicht
hineingehören. Angeborener Schwachsinn ferner ist nach den eigenen
Angaben der Frau ausgeschlossen; für erworbenen Blödsinn fehlt jeder
Anhaltspunkt einer etwa voraufgegangenen psychischen Störung. Tiefe
Melancholie oder schwere Tobsuchtsanfälle, die wol in terminalen Blöd¬
sinn endigen, sind in keiner Weise angegeben worden oder vorauszu¬
setzen. Vielmehr erzählte die Frau ausdrücklich, ihr Mann sei die
ganzen drei Monate so gewesen wie jetzt. Auf die intercurrenten
angeblichen Aufregungszustände mit Bettzerreissen u. s. w. scheint sie
selbst als unbedeutend kein Gewicht zu legen.
Passt sonach das oben geschilderte Krankheitsbild des B. in den
Rahmen keiner einzigen Geisteskrankheit so recht hinein, so ist das
*) Schüle, Geisteskrankheiten. 2. Aufl. S. 381.
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UNiVERSUY OF IOWA
326
Dr. H. Wiedemann.
noch immer kein zwingender Beweis für geistige Integrität und ab¬
sichtliche Täuschung. Mein Verdacht war allerdings hinlänglich erregt,
zumal die Frau des B. ein gelegentliches Schmunzeln während meiner
Auskultation nicht ganz unterdrücken konnte, und die Art und Weise
ihres Eingehens auf meine Fragen durchaus den Eindruck eines be¬
gierigen Studiums der Symptomatologie psychischer Krankheit machte.
Da ich in Erfahrung gebracht hatte, dass B. auf dem Bezirks-
Amt S. ein oder mehrere polizeiliche Verhöre bestanden hatte, so
wandte ich mich persönlich an Herrn Amtsvorsteheher D. und erfuhr
von ihm und seinem Amtsschreiber, dass er auf Beide durchaus den
Eindruck völliger Geistesklarheit gemacht hatte. Herr D. war so gütig,
mich zu einem auf Montag, den 12. d. M., 11 Uhr Vormittags ange¬
setzten Termin einzuladen, an dem ich ungesehen einem mit B. durch
Herrn D. anzustellenden Verhöre beiwohnen sollte. Der Erfolg war
überzeugend. Die kurze Unterredung zwischen Herrn D. und ß., deren
Inhalt ich füglich übergehen kann, lieferte den untrüglichen Beweis,
dass B. wie jeder geistesgesunde Mensch über seine persönlichen Ver¬
hältnisse Rede zu stehen und die an ihn gestellten Fragen schnell
und sicher zu beantworten weiss, prompter und präciser vielleicht
als viele andere Menschen aus seiner Gesellschaftsklasse. B. hatte am
5. d. M. offenbar simulirt. Ob er ausserdem thatsächlich an Epilepsie
leidet, würde nur eine dauernde Beobachtung durch Sachverständige
endgültig entscheiden können.
Demnach formulire ich mein Gutachten dahin:
Der Handelsmann Julius B. in C. ist zur Zeit nicht „an
Wahnsinn“ krank.
Die dann folgende weitere Entwickelung der Sache bestätigte die Diagnose
auf Simulation. 6. wurde wieder zur Untersuchungshaft eingeliefert, gestand,
wurde verurtheilt und verbüsste einige Wochen Gefängnisshaft. Er lebt noch
heute als Instmann in C., und man hat nie wieder Etwas von Krämpfen oder
geistiger Störung an ihm bemerkt. Im Gegentheil stellt ihm sein Gutsherr das
Zeugniss aus. dass er einer der anstelligsten und schlauesten unter seinen
Leuten sei.
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UNIVERSUM OF IOWA
7.
Sind Draak and Beckmann geisteskrank!
Offener Brief an Herrn Dr. Mendel in Berlin
ron
Dr. WalUehs in Altona.
Sehr geehrter Herr Professor!
Sie haben sich die Freiheit genommen, an zwei meiner gerichts¬
ärztlichen (ungedruckten) Gutachten eine Kritik zu üben, welche durch
die Druckschriften eines gewissen Draak, auf dessen Geisteszustand
sich das erste dieser Gutachten bezieht, an die Oeflfentlichkeit gelangt
ist. Von diesen Druck- oder vielmehr Schmähschriften fährt die
erste den Titel: „Eine Hetzjagd auf Menschen, oder: Wie man
einen geistig völlig gesunden Menschen seines Geldes wegen und aus
Rache ins Irrenhaus zu sperren versuchte und wie der Plan misslang.“
— Bei dieser Affaire sind betheiligt: die Aerzte Dr. Ebert und Dr.
Heidemann in Wandsbeck, Dr. Wallichs in Altona, Geh. Med.-Rath
Dr. Wolff in Berlin und Dr. Jessen in Hornheim, ferner acht
Advokaten, unter diesen Wex in Hamburg, Hey mann in Altona etc.,
mehrere andere Amtspersonen und eine Menge falscher Zengen. —
Zur Warnung des Publikums veröffentlicht.
In diesem geschmackvollen Werk ist Ihres Gutachtens auf S. 19
nun in der Weise Erwähnung gethan, dass Sie (mit anderen überein¬
stimmend) festgestellt hätten, „zu einer Untersuchung auf Geistes¬
krankheit habe medicinischerseits nicht die geringste Berechtigung
Vorgelegen,“ und auf S. 9: „wonach bei mir (Draak) niemals auch
nur eine Spur von Geisteskrankheit vorhanden gewesen sei.“
Ob dies wörtlich so ausgesprochen, ist mir allerdings bei der Zuver¬
lässigkeit und Wahrheitsliebe des Schriftstellers nicht ganz sicher,
jedenfalls haben Sie ihn für geistig gesund erklärt. — Doch nicht
dies Zeugniss hätte mich zu einer öffentlichen Aeusserung veranlasst.
Ein zweites ist von Ihnen einem gewissen Beckmann ausgestellt, der
von mir gleichfalls gerichtsärztlich begutachtet war, dessen Anfechtung
der Entmündigung vom Landgericht verworfen ist, der dann auf An¬
ordnung des Oberlandesgerichts noch vom Provinzial-Medicinal-Colle-
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Original from
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328
Dr. Wallichs,
gium gleichfalls persönlich untersucht und, wie von mir, zweifellos
geisteskrank gefunden worden ist. Dieser Beckmann ist aus der
Irrenanstalt entwichen, ist den Spuren Draak’s gefolgt, und hat
gleichfalls das Glück, von Ihnen ein Zeugniss (vom 3. November 1885)
zu besitzen, welches sich — ich darf annehmen, wörtlich — abgedruckt
findet in einer andern (der dritten) Schmähschrift Draak’s, deren Titel
nur darin verändert ist, dass an die Stelle der „Hetzjagd auf Men¬
schen“ moderne Menschenjagd getreten ist, und unter den Verschwö¬
rern noch der Amtsgerichtsrath Bähr und der (verstorbene) Land-
gerichtsdirector Römer genannt sind. Die „fünfte Auflage“ davon
ist natürlich in Berlin gedruckt. Ob es Ihrer Neigung zusagt, an
solcher Stelle Ihre Auslassung abgedruckt zu finden? Jedenfalls
werden Sie mir darnach die Berechtigung nicht bestreiten können,
die Angriffe, welche Sie gegen meine amtliche Thätigkeit richten,
einmal öffentlich abzuwehren, öffentlich sage ich, aber in einer Fach¬
schrift und nicht in einem Pamphlet. — Sollten Sie die Verantwortung
dafür ablehnen wollen, dass Ihr Zeugniss an solcher Stelle steht, so
erinnere ich Sie daran, dass Sie darauf völlig gefasst sein mussten,
wenn Sie es dem Untersuchten in die Hand gaben. Sie kannten doch
seine Beziehungen zu Draak.
Von diesem letztgenannten Herrn muss ich jedoch den Lesern,
denen der Gegenstand dieses Handels fremd ist, das zum Verständniss
Nöthige berichten. Er ist im Jahre 1881 von mir gerichtsärztlich
untersucht worden. Bei der Art des Mannes war die Aufgabe, die
mir amtlich oblag, weder leicht noch angenehm. Die Sache zog sich
lange hin, — es wurden noch andere Sachverständige befragt, so der
Kreisphysicus Heidemann in Wandsbeck (durch ihn auch der Ober¬
arzt der Irrenanstalt Friedrichsberg Reye), das Provinzial-Medicinal-
Collegium in Kiel (Ref. Jessen-Hornheim) auf Grund der Acten uud
unserer Gutachten, endlich der Geh. Med.-Rath Wolff in Berlin, der
gleichfalls ein ausführliches Gutachten abgegeben hat. Auf Grund
aller dieser im Wesentlichen übereinstimmenden Urtheile wird Draak
am 29. Juni 1883 entmündigt. Die Anfechtungsklage beim Land¬
gericht zog er vor dem entscheidenden Termin zurück, weil er (bezw.
sein Anwalt und Vormund, der Rechtsanwalt Kaufmann in Berlin)
deren Verwerfung voraussah. Er veröffentlichte nun — im November
1884 — die Druckschrift, deren vollen Titel ich oben angegeben habe,
welche die unglaublichsten Schmähungen und Schimpfworte, Ver¬
dächtigungen und Unwahrheiten enthält, und den Character des wahn-
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Offener Brief an Herrn Dr. Mendel.
329
sinnigen Querulanten m. E. so zweifellos zu Tage treten lässt, dass
selbst Sie, Herr Professor, doch, wie ich hoffe, an Ihrem mit leichtem
Herzen abgegebenen Urtheil irre geworden sein müssen. Soll ich das
noch näher nach weisen? Genügt der Titel nicht schon? Sechs Aerzte,
acht Anwälte, eine Anzahl Richter, falsche Zeugen haben sich ver¬
schworen einen Menschen, der fast alle die genannten Personen nicht
das geringste anging, ins Irrenhaus zu bringen! Aber ich will Ihnen
noch weiter dienen, — nur vorher kurz meine Erzählung beenden. —
Die „Hetzjagd“ ward in Hamburg-Altona, in nahem und weitem Um¬
kreise, in vielen tausend Exemplaren, verkauft, das grosse Publikum
liebt ja den Skandal, und es musste an den Beschuldigungen wohl
etwas wahr sein, hatten doch eine Reihe von Aerzten, darunter nam¬
hafte Berliner Professoren und Fachmänner, dem Verfasser bezeugt,
dass er mit Unrecht für geisteskrank erklärt sei! — Was war da¬
gegen zu thun? — Es ist selbst für den durch allerlei Erfahrungen
Abgehärteten nicht angenehm, seinen guten Namen so in den Koth
der Presse gezerrt zu sehen. War der Thäter auch gering zu schätzen,
— Sie und andere Collegen stützten ihn in etwas. — Die Behörden
pflegen ja aus eignem Antrieb nicht gegen solchen Unfug einzu¬
schreiten. Ich stellte also Strafantrag gegen den Drucker und die
Verbreiter der Broschüre, — der Verfasser stand als geisteskrank
unter Vormundschaft, war deshalb nicht zu fassen. — Gedruckt ist
sie in Berlin, verbreitet hauptsächlich in Hamburg. Ob in Berlin
ein Verfahren gegen den Drucker eingeleitet ist bezw. Erfolg gehabt
hat, ist mir noch jetzt nach einem Jahr nicht bekannt geworden, —
in Hamburg sind die Verbreiter soeben zu je 20 Mark Geldstrafe
verurtheilt! allerdings eine grosse Genugthuung!
Inzwischen hat sich das Merkwürdige begeben, dass Draak —
natürlich mit Zustimmung seines Vormunds und Anwalts — seinen
Wohnsitz nach Stargard in Pommern verlegt hat und von dem dortigen
Amtsgericht die Entmündigung unterm 9. Juni d. J. aufgehoben ist!
Wunderliche Rechtszustände! — Nachher hat er nun zwei neue
Pamphlete (das dritte habe ich schon oben erwähnt) drucken lassen,
in denen eine stete Steigerung des gemeinsten Schimpfens bemerkens-
werth ist. Aus diesen Producten will ich Ihnen jetzt einige Stil¬
proben und zugleich noch einige weitere Beweise dafür, dass Draak
an Verfolgungswahn leidet, liefern.
Intriguen der gemeinsten Art — aus Gewinnsucht und Rache —
haben wir gegen ihn geübt. Er nennt uns „ehr- und gewissenlose
Vierteljahnsohr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 2. 22
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Dr. Wallichs,
Menschen, nicht viel anders als eine organisirte Räuberbande,“ —
unser Gutachten „schmutzig“. „W. ist und bleibt ein gemeingefähr¬
licher Mensch, der sogar im Stande ist, unschuldigen Leuten nach
dem Leben zu trachten, wenn er die von ihm verübten Schurken¬
streiche damit decken kann.“ — Wolff und ich haben durch „vor
Gericht eidlich falsch abgegebenes Zeugniss“ uns der Verläumdungen
gegen ihn (Draak) schuldig gemacht, um seine Ueberführung in ein
Irrenhaus zu erzielen und unsern gegen ihn verübten Schwindel damit
zu decken. — »Wie weit diese ehr- und gewissenlossen Aerzte ihr
schmutziges Handwerk treiben — — u. s. w.“
Alle diese Liebenswürdigkeiten werden mir gesagt, weil ich als
öffentlich bestellter Sachverständiger mein motivirtes Gutachten un¬
parteiisch und gewissenhaft, wie ich eidlich verpflichtet bin, dahin
abgegeben habe, dass Draak geisteskrank sei. — Dazu kommt noch,
dass seine Handlungsweise gegen seine Frau, deren Verwandte, den
Arzt auf solche Art die für ihn günstigste Auslegung erfuhr. Hätte
ich ihn gesund gehalten, so wären wohl andere Massregeln gegen ihn
in Anwendung gekommen. Motiv für mein Urtheil war dieser Umstand
natürlich nicht.
Nun habe ich Ihnen ausser dem Titel, den Schimpfworten, noch
einige andere Beweise für Draak’s Geistesstörung aus seiner Broschüre
zu bringen. Auf S. 5 findet sich folgender Passus: „Zu jener Zeit
bewohnte ich in Ottensen ein Gartenhaus. Längere Zeit hindurch
wurde dasselbe, wie meine Nachbarn mir mittheilten, fast Abend für
Abend von Unbefugten umstellt; bald aber wurde mir klar, dass es
auf einen directen Ueberfall gegen mich abgesehen war. Als ich
nämlich eines Abends spät meinen Garten betrat — —, stellten sich
mir mehrere mit dicken Stöcken bewaffnete Kerle entgegen, die —
ferner auf S. 9: „Eine Intrigue nach der andern wurde gegen mich
in Scene gesetzt, das Treiben artete schliesslich in eine wahre Ver-
folgungswuth aus. Auf offner Strasse sogar versuchte man mit mir
Streit anzufangen, mit Hohnreden wurde ich überschüttet, man wollte
mich eben zu einer Thätlichkeit-provoziren u. s. w.“ — S. 15:
„Eines Tages kam einer der rohesten Gesellen aus der Mitte meiner
Gegner in belebter Strassengegend mit einem Gegenstand, wie es
schien einem Messer, in der Hand auf mich zu und machte Miene,
handgreiflich gegen mich zu werden — —. Drei andere haben mir,
wie mir glaubwürdig mitgetheilt wurde, zwei Tage und zwei Nächte
hintereinander aufgelauert — —.“
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Offener Brief an Herrn Dr. Mendel.
331
Damit mag es genug sein. Ich brauche kaum hinzuzufügen, dass
von diesen angeblichen Nachstellungen und Angriffen kein Wort wahr
ist, so wenig wie von dem Zusammenhang seiner Hamburger Processe
mit der Entmündigung, wie von dem Ehebruch, den er seiner Frau
vorwirft, dem Complott gegen ihn, kurz, von dem ganzen Inhalt seiner
Schmähschrift von Anfang bis Ende. Ich habe diesen Dingen nahe
genug gestanden, um ein Urtheil darüber zu besitzen, ich habe sämmt-
liche Betheiligte gesehen, gehört, den gerichtlichen Verhandlungen
beigewohnt, kurz, mich sehr lange und eingehend mit dieser uner¬
quicklichen Untersuchung beschäftigt, und Sie dürfen es mir glauben,
ich stand ihr völlig unbefangen gegenüber. — Sie dagegen haben
allein aus der trüben (Sie werden es einräumen müssen: sehr trüben)
Quelle des Draak selbst geschöpft, dessen Angaben sammt und son¬
ders bewusste oder unbewusste Unwahrheiten sind, Delirien oder
Phantasiegebilde. Zu Ihrer Ehie muss ich annehmen, dass Sie den
Draak, wenn Sie seine Schriften gelesen haben, nicht mehr für geistes¬
gesund halten können, und von Ihrer Ehre fordere ich dann, dass Sie
es einräumen. Weil Sie ihm ein unrichtiges Zeugniss 1 ) ausgestellt
haben, sind Sie in gewissem Betracht mitschuldig an der skandalösen
Verläumdung, die er gegen viele unbescholtene und angesehene Per¬
sonen verübt hat. —
Es ist mir völlig unbegreiflich, dass Sie nach Einsammlung sol¬
cher Lorbeeren Ihre Dienste auch noch dem Gesinnungsgenossen und,
wie es scheint, Freunde des Draak, dem Beckmann aus Eidelstedt,
gewidmet haben. Meine Betheiligung an seinen Schicksalen ist wiederum
genau dieselbe. Ich habe ihn als „berufener“ Gerichtsarzt untersucht,
ihn häufig gesehen, seine Frau, seine Schwägerin, seine Schwieger¬
mutter, fast alle Zeugen in der Sache theils vorher, theils bei den
Verhandlungen vor Gericht gesehen, befragt, ich habe in Eidelstedt,
dem Wohnort des Entmündigten, Erkundigungen eingezogen, die Schrift¬
stücke geprüft, und endlich nach reiflicher Ueberlegung mein gewissen¬
haftes Urtheil dahin abgegeben, dass Beckmann geisteskrank sei.
Auch hier wieder — der Fall ist dem des Draak in mancher Be¬
ziehung analog — musste diese Auffassung in moralischer Beziehung
als die dem Beckmann günstigste erscheinen 2 ). — Sie dagegen haben
') „Nie sei auch nur eine Spur ron Geisteskrankheit an ihm vorhanden
gewesen?“
*) In dem Erkenntniss des Landgerichts vom 10. März v. J. heisst es: „Es darf
nicht unerwähnt bleiben, dass einzelne der Handlungen des Klägers, wenn sie von
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Dr. Wallichs,
wiederum nur aus der trüben (sehr trüben) Quelle der eignen An¬
gaben Beckmann’s geschöpft. Auch bei ihm ist es schwer zu trennen,
was er mit Bewusstsein, was mit gutem Glauben Falsches aussagt.
Aber unwahr ist er gleichfalls durch und durch. Auch über seinen
Geisteszustand stehe ich mit meinem Urtheil nicht allein. Zu den
Unwahrheiten darf ich auch wohl rechnen, dass Jemand wichtige
Dinge verschweigt. So hat Ihnen Beckmann verschwiegen, dass seine
Berufung gegen die Entmündigung verworfen ist, dass er von dem
Provinzial-Medicinal-Collegium in Kiel, dessen Mitglieder ihn untersucht
haben, mit grosser Entschiedenheit für geisteskrank erklärt worden ist.
Damit könnte ich schon zufrieden sein, — allein ich hoffe, Ihnen
auch in diesem Fall den Nachweis zu liefern, dass Sie wiederum sich
geirrt haben, als Sie Beckmann für geistesgesund erklärten. Zwar
bin ich nicht ausserordentlicher Professor der Psychiatrie und eben¬
sowenig „eine der ersten forensisch-psychiatrischen Autoritäten der
Gegenwart“, wofür Herr A. Eulenburg, der gleichfalls Draak so¬
wohl wie Beckmann geistige Gesundheit bezeugt hat, Sie hält, aber
ich habe doch auch einige Erfahrung in Beurtheilung von Geistes¬
zuständen, habe hunderte von Gutachten darüber erstattet, davon
manche sehr schwieriger Art, die durch alle Instanzen gegangen sind,
und habe bisher niemals darin geirrt. Keineswegs bin ich aber so
thöricht, mich für „unfehlbar“ zu halten, wie in einer Anmerkung
zu Ihrem Gutachten vom 3. November 1885 mir vorgeworfen wird.
Wenn ich von „unberufenen“ Attestausstellern gesprochen habe, so ist
selbstverständlich damit nur der Gegensatz zwischen dem amtlich dazu
berufenen Beurtheiler und dem Privatarzt, der auf Wunsch und gegen
Bezahlung des Betreffenden ihm bescheinigt, dass er geistesgesund sei,
gemeint, und nur eine übelwollende Auslegung kann etwas anderes
darin finden. Noch möchte ich bei dieser Gelegenheit bemerken, dass
mein „Verrücktmachungssystem“ (Draak) doch mehrfach solche Leute,
die geisteskrank zu sein Vorgaben oder Geisteskrankheit simulirten,
als gesund bezw. als Simulanten hat erkennen lassen.
Gern würde ich meine Gutachten in beiden Sachen wörtlich ab-
drucken lassen und damit dem öffentlichen Urtheil unterbreiten, aber
ich habe nach der Minist.-Verf. vom 13. März 1822 nicht das Recht
einem zurechnungsfähigen Individuum begangen waren, unter das Strafgesetz fallen
würden.“ Als solche Handlungen werden dann „mehrfache Verleitung zum Meineid“
und „falsche Denunciation“ bezeichnet
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Offener Brief an Herrn Dr. Mendel.
333
dazu, und muss mich daher begnügen, die Stellen, welche Sie (in
Ihrem Attest) zusammenhangslos herausgerissen und kritisirt haben,
zu vertheidigen. Es ist bekanntlich nicht schwierig, in solcher Weise
Kritik zu üben.
Zunächst soll ich also mein Urtheil — ich komme auf die Nutz¬
anwendung zurück — abgegeben haben ohne selbst im Stande zu sein,
aus eigner Wahrnehmung, aus selbstständigem Befund von Wahn¬
vorstellungen u. s. w. die bestehende Krankheit nachzuweisen. — Nun,
Sie sind in diesom Stück schwer zu befriedigen, wenigstens von mir.
Andere Psychiater werden, denke ich, aus meinem Beweismaterial
andere Schlüsse ziehen. — Beckmann hält sich für verfolgt, von
einem Complott') umgarnt, man sucht mit ihm Streit, seine Nachbarn
kränken ihn und legen falsches Zeugniss gegen ihn ab, seine nächsten
Angehörigen weigern sich, zu seinen Gunsten die Wahrheit auszu¬
sagen, seine Frau, die Mädchen bestehlen ihn, verschleppen Gegen¬
stände in das Haus der Schwiegermutter, die Zeugen in seinen Pro¬
cessen, die zu seinen Ungunsten aussagen, sind meineidig, die Richter
urtheilen parteiisch und ungerecht, — er selbst ist friedfertig u. s. w.
— Wenn nun durch beeidigte Zeugenaussagen vor Gericht nachgewie¬
sen ist, dass das grade Gegentheil von all diesem die Wahrheit ist,
hat dann Beckmann Wahnvorstellungen oder nicht? und habe ich sie
damit nicht nachgewiesen 2 )? In einem Stück habe ich mich freilich
nicht correct ausgedrückt, das muss ich Ihnen einräumen. Ich habe
erklärt, dass Beckmann sehr viel Selbstbeherrschung gegenüber dem
untersuchenden Arzte besitzt, dass er die tollen Ausbrüche seiner
leidenschaftlichen Empfindung unterdrückt, und dass er seine Wahn¬
ideen „wenn er deren hat“ nicht hervorkehrt, sondern zu verbergen
sucht. — Ich hätte sagen sollen, statt „wenn er deren hat“, welche
er hegt. Ich war aber zu vorsichtig, — denn ich habe ja zur
Genüge nachgewiesen, dass er falsche Vorstellungen hat. — Ich setzte
in der That nicht voraus, dass auch dies mein gerichtsärztliches Gut-
*) Landgericht. Erkenntniss: „Der Wahn, dass ein Complott gegen ihn ge¬
schmiedet sei, ist das Axiom, von welchem alle seine Gedanken aasgehen. Seine
Schwägerin, die Anstifterin, gilt ihm als die grösste Verbreoherin des Jahrhunderts,
seine Frau ist wahnsinnig, die Zeugen bestochen."
*) Erwähnen will ich noch, dass Beckmann eine Menge Postkarten mit den
tollsten Anschuldigungen gegen den Rechtsanwalt seiner Frau, diese selbst, seine
Schwägerin in die Welt geschickt hat. — Ueberhaupt ist Obiges nur eine Probe
aus der Fülle des Beweismaterials.
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Dr. Wallichs,
achten unter Ihr Secirmesser gelangen würde, und ich bin doch ganz
zufrieden, dass Sie nicht schlimmere Ausstellungen zu erheben ver¬
mochten. Allerdings haben Sie noch einige Zweifel an thatsächlichen
Verhältnissen, aber auch mit denen haben Sie kein Glück. Sie haben
doch zu viel Zutrauen in Beckmann’s Wahrheitsliebe gesetzt.
Sie wollen nicht zugeben, dass seine Streit- und Processsucht
notorisch sei. Ich lasse die Entscheidungsgründe des Landgerichts,
das doch wohl ein Urtheil darüber haben kann, reden: „Der Versuch
des Klägers, die Annahmen des Königlichen Amtsgerichts über seine
Streit- und Processlust zu widerlegen, muss als verfehlt betrachtet
werden. Es kommt hier nicht so sehr die Zahl der Streitsachen und
bezw. der Ausgang der einzelnen Processe und Privatklagesachen als
vielmehr der Umstand in Betracht, dass die Streitigkeiten nach dem
Zeugniss seiner Umgebung während der letzten Jahre fast den aus¬
schliesslichen Inhalt seines geistigen Lebens bildeten.“
Dies wird noch weiter ausgeführt.
Ferner: Beckmann bestreitet, was ich berichtet hatte, dass er in
einem Sühnetermin bei dem Pastor Rohde nicht erschienen sei. Auf
Ihre Erkundigung hat der genannte Pastor erwidert, er erinnere sich
dessen nicht genau, B. sei wohl einmal zu späterer Zeit gekommen.
Damit wollen Sie darthun, dass meine Behauptung, die sich auf eine
sehr positive und durchaus glaubwürdige Aussage der Ehefrau Beck-
mann’s gründet, nicht erwiesen sei! Das ist doch zu naiv, mehr als
naiv! An sich ist die Sache ja unwichtig, aber sie wirft auf Ihre
Taktik kein gutes Licht.
Nicht besser steht es mit dem Bestreiten des Schimpfens auf
Vorübergehende. Sie haben sich wieder die Mühe gegeben, an den
Oberstabsarzt Dr. Becker deswegen zu schreiben. Er gehört zu der
Serie von Aerzten, die Draak und Beckmann Gesundheitszeugnisse
ausgestellt haben. Nach seinen Erfahrungen war in Eidelstedt nichts
darüber bekannt. — Das glaube ich gern. Hören wir aus dem Er¬
kenntnis des Landgerichts die beeidigten Zeugenaussagen. „Während
derselben Zeit (es war von Beschimpfungen und Misshandlungen der
Hausgenossen die Rede, von förmlichen Wuthanfällen, bei denen ihm
der Schaum vor den Mund trat) konnte Kläger nicht unterlassen,
vorübergehende ihm völlig fremde Personen durch höhnende oder doch
neckende Zurufe zu reizen (die einzelnen, z. Th. kindischen Ausdrücke
sind nicht in das Protokoll aufgenommen).“
Genügt Ihnen dies, Herr Professor, um Ihren Glauben an Beck-
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Offener Brief an Herrn Dr. Mendel.
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mann wankend zu machen? Soll ich Ihnen noch über die Summen,
welche das Prozessiren gekostet, über die erbliche Belastung Nachweise
bringen? Ich denke, wir verzichten darauf, um noch ein Wort über
die Form der Krankheit anzufügen. Sie meinen vorübergehende
maniakalische Erregung (wenn überhaupt), nicht Verfolgungswahn.
Ich aber meine beides, Eines schliesst ja das Andere nicht aus, —
Beckmann leidet an fixirten Wahnvorstellungen, — ich könnte auch
der Systematik des Herrn Prof. Eulonburg den Gefallen thun zu
sagen: an Paranoia, — sogen. Verfolgungswahn; und diese meine An¬
sicht glaube ich mit guten Gründen gestützt zu haben. Vielleicht
interessirt Sie noch ein Satz aus dem öfter angezogenen Erkenntniss:
„Auch eine Neigung des Klägers zu Gewaltthätigkeiten muss als
erwiesen angesehen werden. Kläger hat bereits mehrfach erhebliche
Misshandlungen begangen und erscheint die Besorgniss begründet, dass
er sich zu noch schwereren Gewaltthaten fortreissen lassen wird!“
Und nun wiederhole ich einen Satz aus meinem Gutachten, der
Sie unangenehm berührt hat: „Es würde allerdings möglich sein, dass
ein Arzt, der sich herbeilässt über den Geisteszustand Jemandes nur
nach dem persönlichen Eindruck, also ohne Kenntniss seines Vorlebens
und etwa actenmässig ermittelter Vorgänge, zu urtheilen, und der dies
in Beckmann’s Fall thäte, denselben für gesund erklärt, und zwar
auch ein solcher, der auf dem Gebiet der Psychiatrie nicht unerfahren
ist. Ich halte es aber auch nicht für zulässig, nicht für Sache eines
gewissenhaften Arztes, ein derartiges Urtheil, zumal ein unberufenes,
wie es in dem dem Königlichen Amtsgericht wohlbekannten Fall
Draak’s mehrfach geschehen ist, ohne genaue Kenntniss des Voran¬
gegangenen zu fällen.“
Dass meine Anschauung über diesen Punkt durch die nun in der
That auch in dem Beckmann’schen Fall gemachte überraschende Er¬
fahrung sich nicht geändert hat, brauche ich wohl nicht erst zu ver¬
sichern. Es sind auch zu mir oft Leute gekommen, die z. B. in
Hamburg entmündigt waren und haben mich um Untersuchung ihres
Geisteszustandes gebeten. Ich habe eine solche stets abgelehnt, nicht
allein wegen der Schwierigkeit, die in vorstehendem Absatz ausge¬
drückt ist, sondern ebenso sehr wegen der üblen Verwicklungen, die
aus derartigen „unberufenen“ Attestirungen hervorzugehen pflegen. Es
stehen dem Entmündigten ja die Instanzenwege offen, und Sache der
Gerichte ist, Sachverständige, ja ganze Collegien von Experten mit
derartigen Untersuchungen zu beauftragen. Vorkommnisse, wie die-
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Dr. Wallichs,
jenigen, zu denen Sie und eine Reihe anderer Aerzte jetzt mitgewirkt
haben — es sind deren mir auch aus früherer Zeit erinnerlich —,
schädigen das öffentliche Interesse und schädigen den ärztlichen Stand.
Sollten Sie die Rolle eines Ritters der Unterdrückten in Anspruch
nehmen, so sehen Sie sich doch Ihre Schützlinge einmal näher nach
der Seite an.
Ein Antrag auf Entmündigung pflegt nicht gestellt, noch weniger
eine solche verhängt zu werden, wenn nicht dringende Gründe sie
erfordern. Nicht weil Jemand geisteskrank ist, wird er unter Vor¬
mundschaft gestellt, sondern wenn er als Geisteskranker Störungen
verursacht, sein Vermögen verbringt, gemeingefährlich ist u. s. w.
Draak verläumdete ehrenwerthe Personen, misshandelte seine Frau
und liess sie darben; Beckmann desgleichen, vernachlässigte überdies
seinen Besitz, wollte mit seinen Werthpapieren nach Amerika ent¬
weichen u. s. w., — deshalb stellten beide Ehefrauen, und wie stets
in solchen Fällen erst nach langem Dulden und Zögern, den Antrag
auf Entmündigung, — beide nur mit allzu viel Grund.
Ueber diese Angelegenheiten, die in ähnlicher Weise nur allzu
oft Vorkommen und die ein öffentliches Interesse an sich nicht haben,
ist durch die Draak’schen Schandschriften natürlich auch in den Press¬
organen niederster Gattung viel Lärm gemacht worden. Ganze Stösse
derselben mit wohlwollenden Aeusserungen über meine Thätigkeit sind
mir in’s Haus geschickt, — von Postkarten und Briefen mit Drohungen
und anderen Bosheiten nicht zu reden. Heftige Angriffe sind dabei
auch gegen das Gerichtsverfahren gerichtet worden, durch welches
einem Einzelrichter und einem Medicinalbeamten so gefährliche Macht
in die Hände gelegt werde. Ich bin nun freilich auch kein besonderer
Verehrer des für unsere Provinz neuen Entmündigungsverfahrens, und
schliesse aus meinen Erfahrungen, dass unser früheres besser war, —
aber jene Besorgniss ist durchaus unbegründet. Aus den vorstehenden
Mittheilungen geht zur Genüge hervor, dass diejenigen, welche glauben,
dass ihnen Unrecht geschieht, Gelegenheit genug haben, sich dagegen
zu wehren, und dass gerade in den beiden fraglichen Fällen eine
ganze Anzahl Sachverständiger gehört worden sind.
Sehr mangelhaft erscheint mir dagegen die Einrichtung, dass ein
Entmündigter, wenn sein Vormund ihm dabei behülflich ist und das
Vormundschaftsgericht ihn gewähren lässt, sich ein Gericht auswählen
kann, von dem er einen ihm günstigen Spruch erwartet; oder dass,
wenn ein gemeingefährlicher Geisteskranker entweicht oder in anderer
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Offener Brief an Herrn Dr. Mendel.
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Weise Unheil anrichtet, das Vormundschaftsgericht nicht den Vormund
zur Ergreifung von Sicherungsmassregeln zwingt. Ich habe, als Draak
seine Schmähschriften zu veröffentlichen anfing, in denen er nicht
allein mich, sondern eine Menge angesehener Personen verunglimpfte,
wiederholte Eingaben an das zuständige Berliner Amtsgericht abge¬
sandt, es möge den Vormund anhalten, den Draak in irgend einer
Weise von diesem gemeinschädlichen Treiben abzuhalten, oder einen
anderen Vormund bestellen, aber — nichts erreicht. Beckmann ist
aus einer Irrenanstalt entwichen, und hat, ebenso wie Draak, und
noch ein dritter wahnsinniger Querulant — es scheint System in der
Sache zu sein — bei dem Herrn Cultusminister eine Schrift mit einer
Reihe von ärztlichen Attesten über seine geistige Gesundheit einge¬
reicht, worin dieselben bitten, man möge mich vom Amte entfernen,
Disciplinaruntersuchung gegen mich einleiten, auch auf meinen Geistes¬
zustand untersuchen lassen u. s. w. — Mich wundert nur, dass nicht
gleich Sie, Herr Professor, und Ihr College Eulenburg als Sach¬
verständige dazu in Vorschlag gebracht sind.
Und nun zum Schluss will ich Ihnen noch den Grund sagen,
warum ich diesen Brief an Sie gerichtet habe. Es wird Ihnen viel¬
leicht nicht darum zu thun sein, ihn zu hören, aber das ist wiederum
kein Motiv für mich, ihn zu verschweigen: Von den zahlreichen Attest¬
ausstellern in den „Affairen Draak und Beckmann“ waren Sie nach
dem, was ich von Ihnen wusste und auch von Anderen hörte, am
meisten ernsthaft zu nehmen, und ich habe von Collegen, auch Ihres
Spezialfaches, vielfach Verwunderung darüber äussern hören, dass Sie
in dieser Schaar sich fanden. —
Wenn ich diesen Brief nicht sine ira geschrieben habe, so war
das nach dem Anlass desselben wohl nicht anders möglich, doch hoffe
ich, die Grenzen einer anständigen und zulässigen Polemik nicht über¬
schritten und, wie es meine Absicht war, den Gegenstand sachlich,
nicht persönlich behandelt zu haben.
Im November vorigen Jahres gelangte das in dem Draak'schen Pamphlet
„Moderne Hetzjagd“, 5te Aufl. (?), abgedruckte Gutachten des Herrn Professor
Mendel zu meiner Kenntniss. Mitte December habe ich die obige Abwehr eines
Angriffs auf meine gerichtsärztliche Thätigkeit an den Herrn Herausgeber dieser
Zeitschrift gelangen lassen, doch konnte sie erst im Aprilheft gedruckt werden.
Das Recht auf eine derartige öffentliche Vertheidigung wird man mir zugestehen
müssen, insbesondere nachdem ich ein Jahr lang geschwiegen und den zweiten
eclatanten Fall abgewartet habe. W.
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8 .
Offene Antwort
auf den offenen Brief des Herrn Dr. Wallichs in Altona
von
Dr. B. Hendel in Berlin.
Sehr geehrter Herr Kreisphysikus!
Ob die am Schlüsse Ihres offnen Briefes ausgesprochene Hoffnung
in Erfüllung gegangen ist, darüber mögen die Leser entscheiden. Ich
selbst bekenne offen, dass ich von sachlicher Kritik sehr wenig, um
so mehr persönliche Angriffe gefunden habe. Sie brauchen nicht zu
fürchten, dass ich in dem von Ihnen angeschlagenen Tone antworten
werde.
Vorerst muss ich jedoch das Compliment, das Sie mir anschei¬
nend machen wollen, in dem Sie mich „am meisten ernsthaft“ unter
der „Schaar“ der „Attestaussteller“ nehmen, im Interesse meiner
Collegen zurückweisen.
Wenn es auch erklärlich ist, dass derjenige, der ausschliesslich
ein Specialfach betreibt, in diesem Specialfach besonders bewandert
ist, und ich dies für mich in Bezug auf die Psychiatrie in Anspruch
nehme, so habe ich doch nie gemeint, dass, so oft ich auch im
Dissens mit Collegen war, diese ihre divergirende Ansicht und gerichts¬
ärztlichen Gutachten nicht ernsthaft genommen hätten.
Ihnen aber muss ich vor Allem den Vorwurf machen, dass Sie
mit Ihrem Briefe nicht so vorsichtig zu Werke gegangen sind, wie es
Ihr Beruf, Ihre Stellung und der versuchte Angriff erfordert hätten.
Sie halten den Draak für einen Geisteskranken, Sie geben an,
„dass seine Angaben sammt und sonders bewusste oder unbewusste
Unwahrheiten sind, Delirien oder Phantasiegebilde,“ trotzdem nehmen
Sie als im Wesentlichen richtig an, was er über mich geschrieben,
donn wozu sonst Ihre langen Ausführungen über seine Schmähschriften?
Ich soll erklärt haben, dass bei Draak zu einer Untersuchung auf
Geisteskrankheit nicht die geringste Berechtigung Vorgelegen, dass
niemals eine Spur von Geisteskrankheit bei ihm vorhanden gewesen sei.
Davon ist nun kein Wort wahr.
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Offene Antwort auf den offenen Brief des Herrn Dr. Wallichs. 339
Ich habe nach ca. 6 wöchentlicher Beobachtung des Draak, der
im Sommer in Pankow in meiner nächsten Nähe bei einer Familie
wohnte, von der ich speciell noch fast täglich Erkundigungen einzog,
bescheinigt, dass er zurZeit meiner Beobachtung keine krank¬
hafte Störung der Geistesthätigkeit gezeigt habe.
Sie behaupten, Draak war auch damals geisteskrank; dies sei
durch seine Schmähschrift bewiesen. Ich habe dieselbe nicht gelesen,
auch kein Verlangen danach, sie kennen zu lernen. Die weit aus¬
gedehnten Proben in Ihrem Briefe genügen mir. Aber Sie irren,
wenn Sie glauben, dass Draak dieselbe verfasst. Die Worte „Hetzjagd,
Menschenjagd“ u. s. w. finden sich wörtlich in einer gegen mich ge¬
richteten Schmähschrift, aus dem Anfang der 70er Jahre; dieselbe ist
zu Wahlzwecken von den Anhängern einer gegnerischen politischen
Partei, die Sie sicher nicht für geisteskrank erklären würden, 1878
neu aufgelegt worden. Die Fabrik dieser Schriften ist hier in Berlin.
Es würde zuerst zu untersuchen sein, wie sich Draak zu dem
Inhalt der Schmähschrift stellt, mir gegenüber hat er sich — auch
hierauf lege ich aber keinen grossen Werth — über Sie ganz anders und
zwar objectiv ausgesprochen. Aus der Schrift, die Draak nicht verfasst
hat, kann also eine Entscheidung darüber nicht getroffen werden, ob
derselbe geisteskrank war, es wäre leichtfertig von mir gehandelt,
wenn ich Ihrem Verlangen nachgeben und lediglich daraufhin zugeben
würde, dass ich mich geirrt und dass Draak auch zur Zeit meiner
Beobachtung geisteskrank war. Ich würde mich aber schon des¬
wegen hüten, den Draak jetzt für geisteskrank zu erklären, da ja am
9. Juni 1885, wie Sie angeben, die Entmündigung über ihn aufgehoben
ist. Durch meine „unberufene“ Erklärung würde ich dann wieder, wie
mit Ihnen, in Conflict mit dem „berufenen“ Arzte kommen, auf dessen
Urtheil hin das Gericht Draak für geistesgesund erklärt hat. l )
Ihre Ausführungen in Bezug auf Draak beruhen demnach, soweit
Sie mich betreffen, zum grössten Theil auf irrigen Voraussetzungen über
angeblich von mir geschehene Aeusserungen, wobei ich annehme, dass
Sie mir die Competenz (§. 597) und die Fähigkeit nicht absprechen,
*) Ihre Auffassung von „berufenen“ und „unberufenen“ Aerzten beruht auf
einer mangelhaften Kenntniss des Wesens des Civilprozesses, den Sic, wie ich schon
in meinem Gutachten ausführte, mit dem Strafprozess verwechseln. Zur Belehrung
über den Unterschied diene der Vergleich des §. 73 der Strafprozessordnung mit
dem §. 597, resp. 617 der Civilprozessordnung.
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340
Dr. E. Mendel,
ein Zeugniss für die Zeit meiner Beobachtung über Gesundheit oder
Krankheit des Beobachteten auszustellen.
Demnach ist auch der erste Satz Ihres Briefes, dass ich an zwei
Ihrer gerichtsärztlichen Gutachten Kritik geübt habe, unrichtig.
Ganz anders liegt die Sache mit Beckmann.
Vorerst hier die Richtigstellung einiger Irrthümer, die Ihnen
auch hier untergelaufen sind. Es ist vor Allem nicht richtig, wie Sie
behaupten, dass ich lediglich „aus der trüben Quelle der eignen
Angaben des Beckmann geschöpft.“ Bei Abfassung meines Gutachtens
haben mir Vorgelegen:
1) Beglaubigte Abschrift des Beschlusses in Betreff des Entmün¬
digungsverfahrens gegen Beckmann des Amtsgerichts, Abthlg. II.
Altona, vom 15. November 1884.
2) Die Klage gegen die Kgl. Staatsanwaltschaft.
3) Eine Reihe von Zeugnissen von Bekannten des pp. Beckmann.
4) Eine Reihe von Attesten verschiedener Aerzte, welche die
geistige Gesundheit des pp. Beckmann constatiren.
5) Ein ausführlicher, auf mein Ersuchen mir erstatteter Bericht
des Herrn Oberstabsarztes Dr. Becker.
6) Ein auf mein Ersuchen von Herrn Pastor Rhode gegebener
Bescheid.
7) Vor Allem aber Ihr eigenes, sehr umfangreiches motivirtes
Gutachten.
Gerade das letztere war es, das mich durch den Passus, den Sie
selbst in Ihrem Briefe citiren, und der im Wesentlichen darin gipfelt,
dass Sie diejenigen, die in dem Fall Draak ein anderes Urtheil, als
Sie, abgaben, nicht für „gewissenhafte Aerzte“ hielten, veranlasste,
Ihr eignes Gutachten auf das Sorgfältigste zu prüfen. Sie mögen nun
sagen, was Sie wollen, hübsch, collegial ist es nicht, solch’ schwere
Verdächtigungen auszusprechen, zumal an einer Stelle, an der die
Angeschuldigten gar nicht zu Worte kommen können.
Durch Ihre Vertheidigung in Ihrem Briefe wird die Sache nicht
besser, und wenn ich mich nicht überzeugt hätte, dass Sie — Sie
nehmen mir dies nicht übel, man kann ja in der Medicin nicht überall
zu Hause sein — in der Literatur der Psychiatrie nicht allzu bewan¬
dert sind, so könnte ich in Ihrer Bezeichnung: „Ritter der Unter¬
drückten“ eine Anspielung für mich auf jenen geisteskranken Querulan¬
ten Bayerns finden, der einen Verein der Unterdrückten gründete und
dem Könige Mittheilung von der Gründung machte, und würde dann
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Offene Antwort auf den offenen Brief des Herrn Dr. Wallichs.
341
vorsichtigerweise Ihren Gerichtssprengel in Zukunft sorgfältig zu
meiden haben.
Ihr Gutachten bringt nicht den Beweis, dass Sie selbst an dem
p. Beckmann Wahnvorstellungen haben nachweisen können, nur den,
dass die Aussagen Beckmann’s denen einer Anzahl von Zeugen, vor
Allem denen seiner Frau, seiner Schwägerin, seiner Schwiegermutter,
seiner Dienstmädchen widersprechen, und Sie haben vollständig Recht,
wenn Sie in Ihrem Gutachten sagen: „Immerhin, sofern er Wahn¬
vorstellungen hat, beherrscht er sie einigermassen, und es gelingt nicht,
ihn zum Ausdruck derselben, ausser etwa in dem Uebelreden von an¬
deren Menschen zu bringen.“
Das ist der cardinale Vorwurf, den ich Ihnen mache,
dass Sie den p. Beckmann für geisteskrank erklärt haben,
indem Sie sich lediglich auf Zeugenaussagen beriefen. Dies
ist im Entmündigungsverfahren, in dem es sich um Gegenwart und
Zukunft handelt, durchaus unzulässig; ist man nicht im Stande, die
Wahnvorstellungen oder die geistige Schwäche u. s. w. bei dem Kranken
selbständig — ja ohne Anamnese, Zeugen u. s. w. — festzustellen,
vermuthet aber doch die Krankheit, dann prorogire man; aber im
Gegensatz zu dem Verfahren im Strafprozess, in dem in erster Reihe
die „Zeit der Begehung der Handlung“, die Vergangenheit in Betracht
kommt, die durch Zeugenaussagen aufgeklärt werden muss, darf im
Entmündigungsverfahren das Vernehmen von Zeugen nur eine unter¬
geordnete Rolle spielen; sie können eine durch die Untersuchung ge¬
wonnene Ueberzeugung stützen, nie darf ein wissenschaftliches Gut¬
achten in der Weise von den Zeugenaussagen ausgehen, wie es in
dem Ihrigen der Fall ist.
Aber auch Ihre Zeugen selbst sind nicht einwandsfrei; ich will
nicht die moralische Seite erörtern, inwieweit die Frau berechtigt war,
dem Manne das Geld wegzunehmen, ich will nicht auf die Lehre von
der Schwiegermutter, die hierbei auch in Betracht zu ziehen wäre,
eingehen, thatsächlich hat aber die Königl. Staatsanwaltschaft selbst
in der Berufungsinstanz Ihre Erhebungen bemängelt, indem sie (Er¬
kenntnis der 2. Civilkammer des Königl. Landgerichts zu Altona,
d. d. 9. 3. 85.) anheimgab, „eine theilweise Erneuerung der vor dem
Amtsgericht stattgehabten Beweiserhebung, weil von den vernommenen
Zeugen mehrere nicht vereidigt sind, und weil der Sachverständige
(d. h. Sie) Thaturastände bei seiner Begutachtung berück¬
sichtigt hat, welche nur auf seinen Erkundigungen bei
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342
Dr. E. Mendel,
dritten als Zeugen nicht gerichtlich vernommenen Personen
beruhen.“
Hätten Sie, wozu Sie meiner Ansicht nach verpflichtet waren,
auf Grund eigener Wahrnehmung die Geisteskrankheit nachgewiesen,
dann wäre die Vernehmung der Zeugen überhaupt unerheblich gewesen.
Das einzig Thatsächliche, was ich in dieser Beziehung in Ihrem
Gutachten finde, ist Folgendes: „Sein (Beckmann’s) Aeusseres macht
einen recht unerfreulichen Eindruck-. Der Ausdruck seiner Züge
ist trotz seiner mir bekundeten Höflichkeit ein unangenehmer; die
letztere hat zu viel Absichtlichkeit.“ Sie werden mir zugeben, dass
dies wissenschaftliche Angaben nicht sind, vielmehr handelt es sich
hier um Geschmackssachen.
Die Angaben Ihrer Zeugen werden übrigens zum Theil durch
Angaben Anderer widerlegt, wie ich dies aus den Briefen von Herrn
Pastor Roh de und Herrn Oberstabsarzt Dr. Becker nachweisen kann.
Sie sagen aber in Ihrem Briefe, Sie hätten „zur Genüge nach¬
gewiesen, dass er (Beckmann) falsche Vorstellungen hat.“ Sie be¬
kunden damit, dass Ihnen nicht vollständig klar ist, worauf es über¬
haupt ankommt. Nicht darauf kommt es an, dass B. falsche Vor¬
stellungen hat, sondern dass er Wahnvorstellungen hat. Der Unter¬
schied zwischen beiden gehört zu den elementaren Dingen in der
Psychiatrie: Es kann Jemand bei gesundem Geist massenhaft falsche
Vorstellungen haben. Wären die falschen Vorstellungen entscheidend,
würde kaum Jemand sich finden, den man nicht unter Curatel stellen
könnte.
Während diese falsche Vorstellung Ihrerseits in Bezug auf den
springenden Punkt von principieller Bedeutung ist, halte ich die
Präcisirung der speciellen Form der Geistesstörung für nebensächlich.
Hier ist selbst noch keine Einigkeit unter den Psychiatern von Fach.
Darüber aber dürften Alle einig sein, dass Ihr Beckmann nicht an
Querulantenwahnsinn leidet. An psychiatrisch wissenschaftlichen De¬
finitionen kann auch die Entscheidung eines Landgerichts — selbst
des zu Altona — nichts ändern, die Sie für Ihre Auffassung in
Anspruch nehmen.
Zum Querulantenwahnsinn gehört das Queruliren, d. h. das Ein¬
bringen von Klagen, Eingaben, Beschwerden u. s. w. Nun ist gericht-
licherseits nachgewiesen, dass B. im letzten Jahre nur 4 Prozessfälle
gehabt hat; in 2 Fällen ist die von ihm erhobne Klage vom Gericht
als berechtigt anerkannt worden, in den beiden anderen Fällen war
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Offene Antwort anf den offenen Brief des Herrn Dr. Wallichs. 343
B. aber der Verklagte. Von Eingaben, abgesehen von denen, die
sich auf das Entmündigungsverfahren beziehen, ist nichts bekannt.
Nicht die Thatsache, „dass eine Streitsache den ausschliesslichen
Inhalt seines geistigen Lebens bildet“, macht, wie das Landgericht
irrthümlich meint, den Querulanten Wahnsinn, vielmehr kommt diese
Thatsache bei Melancholikern, bei Paranoikern, bei Paralytikern, bei
Dementia senilis, bei anderen Dementen u. s. w. vor.
Doch wollte ich all die Einzelheiten hier erwähnen, die in Ihrem
Gutachten vom psychiatrischen Standpunkt nicht vollständig zu recht-
fertigen sind, so würde ich weit über die Grenzen einer Antwort auf
einen Brief gehen; es mag genügen, wenn ich zum Schluss nur wie¬
derhole, dass ich trotz längerer und sorgfältiger Beobachtung an
Beckmann nichts Krankhaftes finden konnte, und dass, wenn ich auch
nicht bestreiten will, dass zur Zeit Ihrer Untersuchung derselbe
geisteskrank gewesen sein kann und dies auch in meinem dem Beck¬
mann übergebenen Gutachten ausgedrückt habe, in Ihrem Gutachten
für mich nicht der wissenschaftliche Nachweis für diese Thatsache
beigebracht ist.
Hätte ich übrigens vorher gewusst, dass Sie, wie Sie in Ihrem
Briefe mittheilen, „Hunderte von Gutachten erstattet und sich nie¬
mals geirrt hätten“, so hätte ich Sie für den hervorragendsten
Psychiater gehalten — denn die hervorragenden haben sich we¬
nigstens ein Mal geirrt, — nachdem ich aber aus Ihrem Briefe
ersehen, wie Sie die Schmähschrift eines Mannes, den Sie für geistes¬
krank halten, aus Ruhe und Fassung bringt, muss ich leider sagen:
Sie haben sich die Sporen in der Psychiatrie noch nicht verdient.
Wären Sie ein richtiger Psychiater, so würden Sie jenem schmähen¬
den Schriftsteller, wie jener österreichische Irrenanstaltsdirector, Ihre
Photographie übersandt haben, damit er dieselbe in der nächsten
Auflage zum Titelkupfer benutzen möge.
NB. Den zweiten Brief des Dr. Wallichs in dieser Sache s. S. 442.
D. Red.
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II. Oeffentliches Sanitätswesen.
l.
Gutachtliche Aeusserung
der Kgl. wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen
über
die prophylaktische Behandlung der Augeneatzündung
Neugeborener.
(Erster Referent: Schräder.)
Ew. Excellenz beehren wir uns die durch hohen Erlass vom
19. November a. er. von uns erforderte gutachtliche Aeusserung über
die prophylaktische Behandlung der Augenentzündung Neugeborener
unter Rücksendung der Beilagen hierdurch zu erstatten.
1. Dass das Crede’sche Verfahren der Einträufelung einer 2%
Höllensteinlösung in die Augen der Neugeborenen als ausführbar und
zweckmässig zu erachten ist, geht aus den mitgetheilten Beobachtungen
und Erfahrungen unzweifelhaft hervor. Die Manipulation ist eine ein¬
fache, die auch von Hebammen zuverlässig und ohne dauernden Nach¬
theil für das kindliche Auge ausgeführt werden kann. Ob dies mittels
Glasstäbchens oder Tropfgläschens ausgefdhrt wird, darauf können wir
einen besonderen Werth nicht legen. Wenn auch örtliche Reizerschei¬
nungen an der Bindehaut der Augen als eine nicht seltene Folge der
Einträufelung dieser differenten Lösung sich zeigen, so muss man doch
anerkennen, dass dieselben üblere Folgen nicht haben, sondern aus¬
nahmslos spontan wieder verschwinden. Dass aber diese durch die
Einträufelungen hervorgerufenen Reizerscheinungen Anlass bieten kön¬
nen, dass Hebammen wirkliche gefahrdrohende Blennorrhoen mit ihnen
verwechseln und deswegen bei den letzteren die rechtzeitige Herbei¬
ziehung der ärztlichen Hülfe versäumen, ist zuzugeben und muss es
als wünschenswerth erscheinen lassen, dass ein anderes Mittel gefunden
wird, welches in geringerem Grade oder gar nicht die Reizerschei¬
nungen hervorruft und denselben Grad der Zuverlässigkeit darbietet.
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Gutachtliche Aeusserung der K. Wissenschaft!. Deputation.
345
Dass in letzterer Beziehung — nämlich was die Zuverlässigkeit
anbelangt — die 2% Höllensteinlösung ein vortreffliches Mittel ist,
hat die Erfahrung in genügender Weise gezeigt. Alle Berichte stim¬
men darin überein, dass die Anzahl der Erkrankungen bei der pro¬
phylaktischen Anwendung dieses Mittels sehr erheblich gesunken ist,
so dass dabei nur noch von fast 0 pCt. bis höchstens 2 pCt. Er¬
krankungen vorgekommen sind. Auch bei dieser Anzahl handelte es
sich vielfach noch um Späterkrankungen, die gegen die Schutzkraft
des Verfahrens, welches nur gegen eine Infection bei der Geburt, nicht
aber gegen spätere Ansteckungen schützt, nicht angeführt werden
können.
Ein welch’ bedeutender Fortschritt hierin gegen früher liegt, wird
ausdrücklich in einem Bericht mit Zahlen belegt und auch wol von
allen anderen anerkannt. Freilich muss man berücksichtigen, dass
früher den Augen der Neugeborenen, so lange sie nicht erkrankt
waren, fast überall eine sehr geringe Berücksichtigung zu Theil ge¬
worden ist. Es waren deswegen, um die Frage entscheiden zu können,
wie gross der Vortheil dieser prophylaktischen Behandlung gegenüber
der sorgfältigen Reinhaltung der Augen sei, Controlversuche nöthig.
Diese sind in der Berliner Universitäts-Frauenklinik angestellt worden.
Sie haben ergeben, dass bei Einträufeln von destillirtem Wasser in
die Augen die Erkrankungen auf 4 pCt. stiegen, während das blosse
Auswischen der Augen mit einem reinen Tuch nur 1,3 pCt. Erkran¬
kungen brachte. Wenn auch die Zahlen, auf denen diese procentischen
Angaben beruhen, noch nicht genügend gross sind, so kann man es
doch wol zunächst als gültiges Resultat bezeichnen, dass, wenn auch
durch einfache Reinigung der Augen die Erkrankungen sich sehr
erheblich vermindern lassen, die prophylaktische Behandlung mit
Höllensteinlösung noch etwas bessere Resultate ergiebt.
2. Ob eine schwache Sublimatlösung — etwa 1:5000 — den
Vorzug vor der 2% Höllensteinlösung verdient, lässt sich nach den
bisher vorliegenden Erfahrungen noch nicht endgültig entscheiden. Da
wo sie angewendet worden ist, hat sie sich durchaus bewährt, so dass
sie an Zuverlässigkeit hinter der Höllensteinlösung nicht zurückstehen
dürfte, während sie den Vorzug hat, dass sie weniger leicht Reiz¬
erscheinungen macht. Auf jeden Fall verdient die Sublimatlösung
weitere eingehende Prüfung.
3. Die allgemeine Einführung eines prophylaktischen Verfahrens
VI«rtolJ»hrssehT. f. grr. Med. N. F. XLIV. J. 23
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346
Gutachtliche Aeusserung der K. wissenschaftl. Deputation,
in die gebnrtshülflichen Kliniken und Hebammen-Lehranstalten obliga¬
torisch zu machen und die zweckmässigste Art desselben vorzuschreiben,
halten wir für unnöthig und nachtheilig. Für unnöthig deswegen, weil
wol überall ein prophylaktisches Verfahren bereits eingeführt ist, und
für nachtheilig, weil die obligatorische Einführung eines bestimmten
Verfahrens weitere Erfahrungen über andere Methoden ausschliessen
und den Fortschritt, der jedenfalls auf diesem Gebiete noch zu er¬
streben ist, hemmen würde.
Bei dem Fehlen der Findelanstalten im preussischen Staate kann
nur von den Entbindungsanstalten die endgültige Lösung dieser Frage
erwartet werden. Auch die Vorstände der ophthalmologischen Kliniken
stimmen dem ausdrücklich zu. Wenn aber weitere Erfahrungen durch¬
aus wünschenswert!) sind — und die Nothwendigkeit derselben haben
wir schon betont und werden noch wieder darauf zurückkommen —
so muss man den Entbindungsanstalten freies Feld zu weiterer Forschung
lassen.
4. Von der Ausdehnung eines prophylaktischen Verfahrens auch
auf die Hebammenpraxis glauben wir ebenfalls entschieden abrathen
zu müssen. Denn einmal ist das Auftreten bösartiger Blennorrhoen
ausserhalb der Anstalten nicht gerade häufig, und dann handelt es
sich hier fast ausnahmslos um einzelne Fälle, niemals um wirkliche
Epidemien. Die Blennorrhoe ist zwar exquisit ansteckend, die An¬
steckungsfähigkeit ist aber an körperliche Stoffe, die von einem Auge
in das andere übertragen werden, gebunden. Deshalb ist es ganz
gewöhnlich, dass von einem erkrankten Auge aus das andere ange¬
steckt wird, dass der eine von Zwillingen den anderen in demselben
Bett schlafenden ansteckt, deshalb verbreiten sich in Anstalten, wo
eine grössere Anzahl von Neugeborenen zusammen liegt, die Augen¬
entzündungen oft genug, wenn nicht streng isolirt wird, von einem
Kind zum anderen, — deshalb ist es aber auch sehr selten, und
kommt fast nur bei ungewöhnlich schmutzigen Hebammen vor, dass
in der Hebammenpraxis die Krankheit verschleppt wird.
Es handelt sich bei dieser Krankheit also nicht um das Bedürfniss,
die Gesammtheit vor der Ansteckung durch inficirte Individuen zu
schützen, sondern nur darum, den Ausbruch der Erkrankung, die
übrigens bei rechtzeitiger ärztlicher Hülfe regelmässig einen günstigen
Ausgang nimmt, von einzelnen Individuen abzuhalten. Es dürfte sich
also wol keinesfalls rechtfertigen lassen, eine allgemeine prophylak-
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betr. die Prophylaxis der Augenentzündung Neugeborener.
347
tische Massregel obligatorisch einzuführen, doch aber dürfte es wün-
schenswerth erscheinen, gerade bei den bedrohten Individuen auf die
Wichtigkeit der Prophylaxe aufmerksam zu machen. Leider genügen
die bisherigen Erfahrungen noch nicht, um die wichtige Frage, welche
Kinder von der Blennorrhoe bedroht sind, als endgültig gelöst er¬
scheinen zu lassen.
Nach den uns mitgetheilten, in der Berliner Universitäts-Frauen¬
klinik angestellten Beobachtungen wären zwei Formen der Augen¬
entzündung scharf zu unterscheiden: eine gutartige mit dünnem Secret
einhergehende, auch ohne Therapie bald günstig verlaufende Entzün¬
dung der Conjunctiva, ähnlich der, wie sie auch nicht selten nach
Einträufelung der 2% Höllensteinlösung auftritt, und eine bösartige
mit fibrinös eitriger Secretion verlaufende und zur Erosion der Cornea
tendirende Form. Nach den mikroskopischen Untersuchungen, die in
der genannten Anstalt an den erkrankten Augen der letzten 1700
Neugeborenen vorgenommen wurden, fanden sich in den ersteren Fällen
keine Mikroorganismen im Secret, während in den letzteren, schon
klinisch deutlich unterscheidbaren Fällen ausnahmslos die Diplokokken
der Gonorrhoe gefunden sind. Man darf darnach annehmen, dass die
eigentliche Blennorrhoe der Neugeborenen — wenn man von gut¬
artigen, schnell vorübergehenden Reizerscheinungen der Conjunctiva
absieht — ausnahmslos durch gonorrhoische Infection hervorgerufen
wird. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass die Ansteckung der kind¬
lichen Augen regelmässig durch das Genitalsecret der Mütter erfolgt.
Leider ist der Nachweis der Diplokokken, der im Secret der kind¬
lichen Augen, in dem es sich regelmässig um eine Reincultur der¬
selben handelt, sehr leicht zu führen ist, in dem Wochenfluss der
Mutter, in dem es von Mikroorganismen und auch von ganz ähnlichen
Diplokokken wimmelt, sehr schwer zu erbringen.
Immerhin ist es nach dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens
sehr wahrscheinlich, dass es sich bei der bösartigen Form der Blen¬
norrhoe Neugeborener, die allein bei prophylaktischen Massregeln in
Betracht kommen kann, stets um eine gonorrhoische Infection handelt.
Wenn dies richtig ist, so sind in der Hebammenpraxis nur die Kinder
von Müttern, welche an Gonorrhoe leiden, der Krankheit ausgesetzt,
und schwerlich dürfte sich unter diesen Verhältnissen die allgemeine
obligatorische Einführung eines prophylaktischen Verfahrens als em-
pfehlenswerth erweisen.
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Gutachtliche Aeusflerung der K. wissenschaftl. Deputation.
Wir fassen zum Schluss noch einmal unsere Ansicht dahin zu¬
sammen :
dass das Credß’sche Verfahren sich als ausführbar und zweck¬
mässig bewährt hat, dass aber die Auffindung eines ebenso
zuverlässigen, aber weniger reizenden Verfahrens wünschens-
werth ist,
sowie
dass die obligatorische Einführung eines prophylaktischen Ver¬
fahrens weder für die Entbindungsanstalten, noch für die all¬
gemeine Hebammenpraxis empfehlenswerth ist.
Berlin, den 16. December 1885.
2 .
Zar aaimalea Vaccination.
Von
Sanitätsrath Dr. Rieel,
Vorsteher des Königl. Frovinzial-Impfinstltuts zu Halle VS.
Die Fortschritte, welche die animale Vaccination während der
letzten Jahre ausserhalb Italiens und namentlich in Deutschland ge¬
macht hat, sind recht erhebliche. Waren noch vor gar nicht langer
Zeit die Versuche, ihre Leistungsfähigkeit auch ausserhalb des Kälber¬
stalles zu erproben, nur schüchterne und wenig Vertrauen erweckende,
so ist man jetzt im Stande, den thierischen Impfstoff der Art zu
conservieren, dass der allgemeinen Verwendung desselben im Interesse
des Impfzwanges kaum noch wesentliche Hindernisse entgegenstehen
dürlten.
Es beginnen diese Fortschritte mit dem Versuche, die festen
Bestandtheile der Kälberpustel als Impfstoff zu verwerthen, wie er
zuerst im Jahre 1871 von dem Holländer Bezeth ausgeführt wurde.
Bezeth’s Neuerung indessen, mit der für Mitteleuropa die in Italien
seit Decennien gebräuchliche Art des Abimpfens in ihrem wesentlichen
Theile neu entdeckt war, konnte, obgleich die auffällige Besserung
der Impferfolge in Holland den besten Beweis für ihren Werth abgab,
doch nur langsam Platz gewinnen neben dem von La noix im Jahre
1865 angegebenen Verfahren (Lanoix, Etüde sur la vacc. anim ,
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Dr. Risel.
349
Paris 1866, p. 28), welches lediglich den mit der Quetschpincette
ausgepressten Gewebssaft zu verwerthen trachtet. Gegenwärtig kommt
sie, unter dem Namen der holländischen Methode, in einigen Modi-
ficationen, welche sämmtlich durch Schaben und Kratzen mit einem
stumpfen Instrumente den Impfstoff in Form einer breiartigen Masse
von der Pustel gewinnen, bei uns nur noch in Betracht 1 ) und hat
wohl überall die italienische Methode in ihrer ursprünglichen Gestalt
verdrängt. Letztere bietet ihr gegenüber auch nicht den mindesten
Vortheil. Sie schädigt das Impfthier in ganz unnöthiger Weise durch
das Ausschneiden der Pusteln und bringt dadurch viel unnützes Ma¬
terial in den Impfstoff, dass sie das Abschaben der Pusteln dem
Ausschneiden derselben folgen lässt. Das die Pustel tragende Haut¬
stück ist ja vollkommen blutleer, und demzufolge ist es ganz un¬
möglich, beim Abschaben die Pustel von ihrer Umgebung derart zu
unterscheiden, dass man ihre Grenzen nach der Breite und Tiefe hin
nicht überschreitet. So nimmt man leicht Theile von der unverän¬
derten Haut, Epidermis wie Corium, mit hinweg. Wenigstens fand ich
in mehreren Proben einer aus Mailand bezogenen Lymphconserve
ganze Convolute normaler Bindegewebsfasern und grössere Schollen
von Epidermis mit den darin steckenden Haarstümpfen, letztere nicht
selten zu zwei und drei nebeneinander 2 ).
Nach Bezeth’s Vorschrift geschieht das Abimpfen in der Weise,
dass man die Pustel so stark in die Quetsch pincette einklemmt, dass
sie platzt, und lässt dann das Abschaben folgen. Zur Gewinnung
eines tadellosen Impfstoffes ist indessen die Anwendung der Quetsch-
pincette ganz unnöthig.
') In Frankreich verwendet man aach gegenwärtig noch hier und da das —
man darf wohl sagen, zum Schaden für die Entwicklung der animalen Vaccination
erfundene — Verfahren Lanoix’. So in der Ecole de Val de Gräce bei den
Rekrutenimpfungen nach den Berichten Vaillard’s (Arcb. de m6d. mil. 1884.
No. 16 u. 17, Virchow-Hirsch’s Jahresb. f. 1884, II, 41). Auch das belgische
Landes-Impfinstilut befasst sich noch damit, neben anderen rationell hergestellten
Präparaten den Presssaft der Kälberpustel als animale Lymphe zu versenden
(üffelmann, Berl. kl. Wschr. 1885, No. 23).
*) Die ausserdem in der Lymphe gefundenen Kohlenpartikelchen, Pflanzen¬
fasern und andere Verunreinigungen sprechen nicht gerade zu Gunsten der in
Mailand auf das Abimpfen verwendeten Sorgfalt. Auoh der Einschluss in ganz
rohen Federkielen, in denen die Lymphe von dort verschickt wird, entspricht
nicht im Entferntesten unseren Begriffen von Reinlichkeit, geschweige denn von
Antisepsis.
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Dr. Risel.
Wenn es bisher auch nicht gelungen ist, den das Contagium der
Vaccine darstellenden Mikroorganismus zu isolieren und weiter zu
züchten •), mithin auch noch der Beweis fehlt, dass die Vaccine eine
durch Bacterien bedingte Krankheit ist, so drängen doch zahlreiche
Analogien zu dieser Annahme. Man hat somit vielleicht ein gewisses
Recht, das Contagium der Vaccine in dem Verbreitungsbezirke des
Mikroorganismus — in diesem Falle ein Mikrokokkus — zu suchen,
den man im Gewebe der Kälberpustel regelmässig an trifft, und wird
erwarten dürfen, dass die Theile der Pustel den besten Impfstoff
liefern werden, welche jenen in grösster Menge einschliessen. Die
Erfahrung hat dieser Erwartung vollkommen entsprochen. — Durch
die mikroskopische Untersuchung ist nachgewiesen, dass der betreffende
Mikrokokkus in dem die Pustel in ihrem wesentlichen Theile bilden¬
den Granulationsgewebe, welches die oberen Schichten des Corium
neben dem Rete Malpighi einnimmt, sich massenhaft vorfindet. Dieses
Granulationsgewebe haftet nun aber nur sehr locker an den un¬
veränderten tieferen Schichten des Corium. Am leichtesten überzeugt
man sich hiervon, wenn man von der in Alkohol gehärteten Pustel
Schnitte zu mikroskopischen Präparaten an fertigt. Gebraucht man
nicht besondere Vorsichtsmassregeln, so löst sich fast regelmässig
die eigentliche Pustel von ihrer Unterlage ab und es bleibt nur eine
dünne Schicht des Granulationsgewebes noch am Corium haften. Auch
am lebenden Gewebe vollzieht sich diese Trennung mit gleicher
Leichtigkeit, und die das Contagium bergenden Theile lassen sich
*) leb glaube nicht, dass die in Rede stehende Frage durch die anscheinend
zu positiven Ergebnissen gelangenden Arbeiten gelöst ist. Bisher ist kein Fall
bekannt, in dem die Vaccine anders als nach Uebertragung von Individuum zu
Individuum sich entwickelte. (Das angeblich vollkommen spontane, von jeder
Infection unabhängige Auftreten der originären Kuhpocken, wie es z. B. in Würt¬
temberg vielfach behauptet wird, wäre die einzige Ausnahme. Aber unzweifelhaft
ist doch nicht alles das Vaccine, was als originäre Kuhpocken bezeichnet wird.)
Dieser Umstand drängt zu der Vermuthung, dass die Vaccine ein obligater Parasit
im Sinne de Bary’s und ihr ein saprophytes Wachsthum — mit dem jene
Arbeiten ausschliesslich rechnen — versagt ist. Da nun ferner die Erfahrung
lehrt, dass die Vaccine nur bei einer geringen Zahl von Warmblütern haftet und
gedeiht, dass sie in ihrer Entwicklung durch intercurrente Ernährungsstörungen des
Geimpften, wie sie z. B. Magendarmkatarrhe und Infectionskrankheiten bedingen,
in der auffälligsten Weise beeinflusst wird, wird man nicht umhin können anzu¬
nehmen, dass sie in den Bedingungen ihrer Ernährung sehr schwierig gestellt ist,
und nur unter ganz besonders glücklichen Umständen für sie ein Nährboden
ausserhalb des Thierkörpers zu finden sein wird.
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Zar animalen Vaooination.
351
ohne jedes besondere Hülfsmittel und ohne besonderen Kraftaufwand
leicht und vollständig entfernen.
Zu einschlägigen Erfahrungen gab zunächst die eigenthümliche
Art des Aberntens flächenhaft angelegter Pusteln Veranlassung, welche
von Pfeiffer (Jahrb. f. Kinderheilk. N. F. Bd. XIX.) als „Aus¬
waschen“ der Pusteln bezeichnet und dadurch bewirkt wurde, dass
unter beständigem Auftropfen von Glycerin so lange mit einem Knochen¬
spatelchen auf der Impffläche hin und her gestrichen und gerieben
wurde, bis diese dunkelroth erschien, das Corium also blossgelegt und
somit die ganze Masse der Pustel abgelöst war. Dass das auf diese
Weise gewonnene Material einen tadellosen Impfstoff abgiebt, geht aus
Pfeiffer’s Erfahrungen, welche durch die meinigen aus den Jahren
1882 und 1883 voll bestätigt werden, unzweifelhaft hervor.
Sicherer und zielbewusster als Pfeiffer ging Reissner (Deutsche
med. Wochenschr. 1881, No. 30 u. 48) beim Abimpfen vor. Er ver¬
zichtet, wozu Pfeiffer die Ausdehnung seiner Impfflächen nöthigte,
auf die Anwendung jeder Quetsch Vorrichtung, spannt vielmehr nur
die Haut straff an und macht sie dadurch ziemlich blutleer. Als¬
dann kratzt er mit dem scharfen Löffel unter kräftigem Drucke
die Pustel ab und entfernt so in einem Zuge Alles, was dem
Corium an wirksamem Materiale aufsitzt. Handelt es sich um das
Abernten von Impfflächen, so ersetzt man das chirurgische Schabeisen
am einfachsten durch einen scharfkantigen Kaffeelöffel und hat dann
die beste Gelegenheit zu beobachten, wie leicht sich Alles entfernen
lässt — Das Reissner’sche Verfahren des Abimpfens muss als das
einfachste und bequemste bezeichnet werden. Ich selbst habe das¬
selbe seit dem Jahre 1883, wo ich es in Darmstadt kennen lernte,
ausschliesslich geübt. Es erfordert nicht den durch das Einklemmen
jeder einzelnen Pustel bedingten Zeitverlust und gestattet, da rund
um die Pustel kein Raum für die Application der Quetschpincette.
ausgespart zu werden braucht, die Pusteln auf der Impfstelle viel
dichter neben einander und die einzelne Pustel selbst in Form eines
beliebig langen Impfstriches anzulegen. Das einzelne Impfthier kann
infolge dessen in beträchtlich ausgiebigerem Masse als bei dem hol¬
ländischen Verfahren ausgenutzt werden. Der so gewonnene Impfstoff
steht in keiner Weise nach. Ausser Reissner’s eigenen Erfahrungen
(1. c.) beweisen dies die Mittheilungen Hager’s (Deutsche med.
Wochenschr. 1883, p. 490), Wesche’s (ebenda 1885, No. 21) und
Fickert’s (Deutsche Vjsohr. f. öff. Gespfl. Bd. XVI, p. 425), sowie
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352
Dr. Risel,
die Beobachtungen Pfeiffer’s und Widenmann’s (Stuttgart) und
endlich die des Schreibers dieser Zeilen vorn Jahre 1883 an.
Von den Methoden, die auf die eine oder andere Weise gewon¬
nene Substanz der Kälberpustel in ihrer Wirksamkeit zu erhalten, vor
Zersetzungsvorgängen zu schützen und in eine für die Versendung
wie für die Ausführung von Massenimpfungen gleich geeignete Form
zu bringen, kommt die Eintrocknung und die Vermischung mit Gly¬
cerin ausschliesslich in Betracht.
Die Eintrocknung, von Laurin, einem Thierarzt, angegeben (dell’
Acqua e Grancini, il vaccino animale e il vacc. umanizzato, Milano
1879, p. 170) und zuerst in Italien, dann in Holland (Roll, Wien,
med. Wochenschr. 1877, No. 13—15), in Wien von Hay (Hay, Er¬
fahrungen üb. Impf, mit Kühl., Wien 1878) und in Leipzig von Fürst
ausgeführt, ist von Reissner seit dem Jahre 1882 in allgemein
bekannter Weise im Grossen angewendet worden. Das auf diesem
Wege gewonnene grauweisse Pulver äudert, auch ausserhalb des
Exsiccators in gut verkorkten Gläsern aufbewahrt, jahrelang seine
physikalischen Eigenschaften nicht und büsst monatelang nichts von
seiner Wirksamkeit ein. Zum Gebrauche muss es in Glycerin sorg¬
fältig aufgeweicht werden und kommt dann wie die flüssigen Lymph-
conserven zur Verwendung. — Die äusserst zähe und hornartige
Beschaffenheit der getrockneten Pustelmasse mancher Kälber erschwert
zuweilen das Pulverisieren ungemein. Ferner scheint die Aussicht auf
Gewinnung einer wirksamen Conserve bei diesem Verfahren nicht mit
gleicher Regelmässigkeit wie sonst gegeben zu sein. Wie Meinel
(Deutsche Vjschr. f. öff. Gespfl. XVI, p. 270) sind Pfeiffer und mir
bezügliche Versuche zu verschiedenen Malen missglückt. Am meisten
ist aber zu Ungunsten desselben der Umstand ins Gewicht fallend,
dass es jedem einzelnen Impfarzt überlassen bleiben muss, sich selbst
das Präparat zur Verwendung fertig herzurichten. Und in welch’
unglaublicher Weise zuweilen schon mit den zum Gebrauche fertig
übersandten Conserven umgegangen wird, habe ich nur allzu oft
erfahren müssen. Da überdies das Impfpulver wohl kaum den Vorzug
einer längeren Dauer seiner Wirksamkeit hat, sind die eben erwähnten
Umstände die Veranlassung gewesen, dass die Eintrocknungsmethode
in Deutschland ausserhalb des Grossherzogthums Hessen nicht gerade
zahlreiche Anhänger gefunden hat. Auch in Italien, wo sie vor etwa
10 Jahren viel in Gebrauch war, scheint man von ihr zurückzukommen.
So erhielt ich im Februar 1884 von Margotta in Neapel, der sie
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früher mit besonderer Vorliebe cultivierte (dell’ Acqua e Grancini, 1. c.
p. 169), eine Glycerinemulsion, die derselbe gegenwärtig ausschliesslich
herstellt.
Das Glycerin, dessen Fähigkeit, thierisches Gewebe vor Zer¬
setzungsvorgängen zu schützen und die Vaccine lebensfähig zu erhalten,
allgemein bekannt ist, hat die ausgedehnteste Anwendung zur Con-
servierung auch der animalen Lymphe gefunden. — Immer ist es
nothwendig, um die Gewebsmasse der Pustel möglichst fein zu zer-
theilen und in innige Berührung mit dem Glycerin zu bringen, eine
ausgiebige Verreibung beider vorzunehmen, die so lange fortzusetzen
ist, bis die ganze Masse — ganz abgesehen von ihrer Consistenz —
ein vollkommen homogenes Aussehen angenommen hat. Je nach der
Menge des in dem fertigen Präparate enthaltenen Glycerins zeigt
ersteres verschiedene physikalische Eigenschaften. Mit geringem Gly¬
ceringehalt stellt es eine dicke, zähe Masse dar — ungefähr von dem
Aussehen des Ceruraen — die bei uns von ihrer ältesten Bezugs¬
quelle, dem Gomitato Milanese di vaccinazione animale (Mailand, via
Vigentina, No. 2) her Mailänder Paste genannt, als trefflicher Impf¬
stoff bekannt ist. Seit einigen Jahren wird ein dem Mailänder dem
äusseren Ansehen nach vollkommen gleiches Präparat von dem
Apotheker Aehle in Burg a. d. Wupper versendet. Ob es auch sonst
mit dem Mailänder identisch ist, ist mir unbekannt, da mir eine
chemische Analyse des letzteren fehlt. Die Aehle’sche Lymphe
enthält neben dem Glycerin eine reichliche Menge von schwefelsauren
Salzen, welche Schenk seit mehreren Jahren als das beste Mittel
zur Conservierung der Vaccine empfiehlt (Deutsche Vjschr. f. öff.
Gespfll. 1874, Bd. VI, p. 58 und Berl. klin. Wochenschr. 1885, No. 17),
ohne dass ihnen nach den Erfahrungen Anderer hierin ein Vorzug
beizumessen wäre.
Mit reichlicheren Mengen von Glycerin verrieben giebt die Pocken¬
substanz eine emulsionsartige Masse von graugelblicher, in Folge
geringer Beimengung von Blut zuweilen bräunlicher Farbe, die man,
ohne ihre Wirksamkeit zu beeinträchtigen, durch weiteren Glycerin¬
zusatz etwa bis zur Syrupsconsistenz verflüssigen kann. Dieses Präparat
ist von mir seit dem Jahre 1883 ausschliesslich hergestellt worden,
und es beziehen sich meine weiter unten raitgetheilten Erfahrungen
lediglich auf dasselbe. Es lässt sich ohne Mühe in weitere Capillaren
aspirieren und so bequem in einzelne Portionen theilen, wie sie der
Privatarzt für einzelne Impfungen bedarf. Handelt es sich um Massen-
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impfungen, so versendet man die Emulsion am bequemsten in kleinen
Reagensgläschen, deren Verschluss ein guter Kork in vollkommen
ausreichender Weise bewirkt.
Die Wirksamkeit der so eingeschlossenen Lymphe scheint auch
ein langer Transport während der heissen Jahreszeit nicht erheblich
zu beeinträchtigen. Wenigstens wurde mir über zwei von verschiede¬
nen Kälbern stammende Proben, welche ich Anfangs Juli v. J. auf
Veranlassung des Herrn Medicinalraths Reiche in Aurich nach Trans¬
vaal sandte, raitgetheilt, dass „dieselben durchaus ihre Schuldigkeit
thaten und die Pocken bei allen Geimpften gut aufgingen.“
Ohne irgendwie die Wirksamkeit dieser wie jeder anderen Glycerin-
conserve zu beeinträchtigen, kann man das sie enthaltende Gefäss
wiederholt öffnen und, je nach dem Bedarf verschiedener Impftermine,
zum Thcil entleeren, wenn man es nur immer wieder gut verschliesst,
in der Zwischenzeit an einem kühlen Orte aufbewahrt und seinen
Inhalt binnen wenigen Tagen verbraucht.
Die von Pissin, dem verdienten Förderer der animalen Vacci-
natiou in Deutschland, im Jahre 1881 (Berl. klin. Wschr. 1881. No. 44)
empfohlene Glycerinconserve wird abweichend von den übrigen dadurch
hergestellt, dass man den Pustelbrei durch wiederholtes sorgfältiges
Zerrühren und Mischen mit Glycerin auslaugt und durch mehrstündiges
Stehcnlassen die festen Bestandtheile aus dem Gemische scheidet.
Die obenstehende, nahezu klare Flüssigkeit wird dann als Impfstoff
aufgesammelt. Da die mikroskopische Untersuchung der zu Glycerin¬
emulsion verarbeiteten Pustel, bei der das stattgehabte Verreiben wohl
annehmen Hesse, dass die Mikroorganismen mechanisch von den zelligen
Elementen getrennt seien, ergiebt, dass dies nur in sehr unvollkommener
Weise geschehen ist, erscheint es bei dem Pissin’schen Verfahren,
bei dem eine solche mechanische Trennung gar nicht stattfinden kann,
unzweckmässig, dass gerade die wirksamsten Theile des Rohmaterials
gar nicht in das fertige Präparat gelangen. 1 )
*) Nach dem Berichte Uffelmann’s (I. c.) stellt man in Brüssel ein dem
Pissin’schen ähnliches, als „Vaocin liquid“ bezeichnetes Präparat in einer Weise
her, welche als Beispiel dafür dienen mag, wie man eine recht einfache Sache
durch vielgeschäftige Spitzfindigkeit recht umständlich machen kann. Uffelmann
schreibt: „Das Vaccin liquid wird aus der. eingeklemmten Pustel nach Abscbaben
der Pulpa gewonnen. Es sickert eine seröse Flüssigkeit aus, welohe aufgesammclt
wird. (Io Deutschland würde sich Niemand um diesos fast werthlose Serum küm¬
mern. R.) Um sie wirksamer zu machen, vermischt man sie mit etwas frischer
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Vielfach begnügt man sich bei Zubereitung der Glycerin-Conservcn
nicht mit der Verwendung des blossen Glycerins, sondern setzt neben
demselben noch sog. antiseptische Substanzen wie Borsäure, Salicyl-
säure, Thymol den Präparaten zu. Zu welchem Zwecke dies geschieht,
ist eigentlich nicht recht klar. Einmal genügt chemisch reines Gly¬
cerin, in ausreichender Menge mit dem Gewebe der Pustel innig ver¬
mischt, vollkommen, um dasselbe bei jeder Temperatur vor Zersetzungs¬
vorgängen auf unbegrenzte Zeit zu schützen. Verschiedene Proben der
Glycerinemulsion, die seit dem Sommer 1883 im meinem Schreibtische
liegen, zeigen auch heute noch in Bezug auf Consistenz, Geruch und
Reaction nicht die geringste Veränderung. Nur die Farbe hat einen
mehr bräunlichen Ton angenommen, der sich bei den pasteartigen
Gonserven schon ziemlich früh einstellt und die Folge des Wasser¬
verlustes des thierischen Gewebes an das Glycerin ist. — Zudem be¬
sitzt keine der zahlreichen Arten von Mikroorganismen, welche die
animale Lymphe enthält, die Fähigkeit, septische Zustände oder eine
der landläufigen Entzündungen hervorzurufen. Zahlreiche Versuche
haben mir und Anderen ergeben, dass die Glycerinemulsion in der
Menge mehrerer Cubikcentimeter in die Bauchhöhle von Warmblütern
(Kaninchen, Kälbern, Hunden) injiciert nicht mehr als eine ganz circum-
scripte Peritonitis hervorruft, welche das Allgemeinbefinden in irgend
nennenswerther Weise nie zu beeinflussen scheint.
Sollen aber die in Rede stehenden Stoffe allein thierisches eiweiss¬
reiches Material vor Fäulniss schützen oder irgendwie von irgend wel¬
chen schädlichen Beimengungen befreien, so müssen sie in solcher
Concentration sich in den Präparaten befinden, dass sie Mikroorga¬
nismen zu tödten im Stande sind. Denn die Vorgänge, deren Eintritt
man verhüten will, werden eben durch Mikroorganismen eingeleitet und
Pulpa, setzt eine der aufgesammelten serösen Flüssigkeit gleiche Menge von Gly¬
cerin hinzu, bringt die sorgfältig verriebene Masse auf ein sehr feines Metz von
Kupferdraht, fängt das Filtrat auf und bringt es in Capillaren.“
Das bisher Unerreichte an unnützer Spielerei wurde in dem städtischen Impf-
Institut zu Lyon geleistet. Nach Chambord (Lyon m6d. 1884. No. 8) wird dort
„die Pocke dicht über der Klemmpincette abgeschnitten, der flüssige Inhalt der¬
selben ausgesogen und die Pusteln abgekratzt. Die Pockenpusteln werden dann
mit Glycerinwasser abgewaschen und mit Zucker im Mörser gepulvert. Hierzu wird
die ausgekratzte Masse und das in der abgesogenen Flüssigkeit inzwischen ent¬
standene Gerinnsel, sowie etwas Tragacanthgummi und eine Mischung von Glycerin
und Wasser zu gleichen Theilen zugesetzt“, so dass eine breiartige Masse entsteht
(Yirchow-Hirsch’s Jahresb. f. 1884, II. 40).
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unterhalten. Nimmt man aber an, dass das Contagium der Vaccine
ein Mikroorganismus ist, so wird man auch weiter vorläufig annehmen
müssen, dass dasselbe die gleichen Lebensbedingungen hat und in
gleicher Weise desinficicrenden Einwirkungen unterliegt wie die übrigen
Mikroorganismen. Man darf daher, ohne Gefahr zu laufen die spe-
cifischc Vaccine zu tödten, beim Zusatz jener Stoffe zu den Lyroph-
conserven eine gewisse niedrige Grenze nicht überschreiten. Dann
bleiben aber auch die Fäulniss- etc. Organismen unbehelligt und der
beabsichtigte Zweck unerreicht. — ln Bezug auf das Thymol habe
ich dies in den ersten Jahren meiner amtlichen Thätigkeit zu ver¬
schiedenen Malen selbst erfahren. Die damals von mir ausschliesslich
verwendete Thymollymphe, aus gleichen Theilen concentrirter wässriger
Thymollösung und Kinderlymphe hergestellt, zeigte trotz aller Sorgfalt
bei der Zubereitung u. s. w. zuweilen einen auffälligen Fäulnissgerucb.
Auch die schwefelsauren Salze verhalten sich nicht anders. An einigen
im Juli v. J. untersuchten Proben der Aehle’schen Lymphe, in der
ja im Vergleich zu anderen Glycerinconserven die Menge der eiweiss¬
artigen Substanzen erheblich überwiegt, fiel ein eigenthümlicher Geruch
auf, der von verschiedenen competenten Beurtheilern mit Bestimmtheit
von stattgehabten Fäulnissvorgängen abgeleitet wurde. Die chemische
Untersuchung ergab auch das Vorhandensein von Fäulnissproducten,
wenn auch nur in äusserst geringen Mengen und nicht in der Form
von Fäulnisspeptonen. l )
Ist somit auf der einen Seite von dem Zusatz antiseptischer Sub¬
stanzen kein Vortheil zu erwarten, so machen auf der anderen Seite
eine Reihe von Erfahrungen sogar eine schädliche Einwirkung der¬
selben auf die Vaccine bei längerer Aufbewahrung der Conserven sehr
wahrscheinlich.
Von nicht ganz frischer Thyroollymphe ist ja bekannt, dass die
mit ihr erzeugten Schutzpocken mit auffällig geringen Entzündungs¬
erscheinungen einhergehen. In ähnlicher Weise verlaufen ja auch die
von animaler Lymphe stammenden Pusteln während der ersten Woche.
Um den 9. oder 10. Tag aber, auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung,
sind diese Pusteln von einer Röthung und Schwellung der ganzen Impf¬
stelle und von Fiebererscheinungen begleitet, wie man sie nach der
Impfung mit der bei uns landläufigen humanisierten Lymphe nur aus-
*) Herr Professor Robert in Dorpat, damals in Strassburg, hatte die Güte,
die betreffenden Untersuchungen auszuführen.
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nahmsweise zu sehen bekommt. Auch der Abfall der Krusten erfolgt
erheblich später, nicht selten erst in der Mitte der vierten Woche. —
Wesentlich anders gestaltet sich dagegen die weitere Entwicklung der
„Thymolpustel“. Wie der Anfang, so ist auch der Höhepunkt ihrer
Entwicklung durch gleich geringe und kurzdauernde allgemeine und
örtliche Entziindungserscheinungen charakterisirt. Der Inhalt der
Thymolpustel pflegt frühzeitig, nicht selten schon am 7. Tage, eitrig
zu werden, und mit dem 10. Tage die Areola ganz verblasst und die
Anschwellung der Impfstellen nahezu verschwunden zu sein. Auch
stossen sich die Krusten schon vor dem Ende der dritten Woche ab.
Die Beobachtungen Stern’s (Breslauer ärztl. Ztschr. 1879 No. 8 und
1880 No. 11) sind hierin mit den meinigen in vollem Einklang. —
Der milde Verlauf der „animalen Pustel“ in der ersten Woche ist
mithin nur durch Verzögerung der Entwicklung bedingt, der ein den
Organismus in ungewohnter Weise ergreifendes Stadium folgt. Bei der
Thymolpustel erfährt der milde Verlauf der ersten Woche auch später¬
hin keine Steigerung, sondern besteht vom Anfang bis zum Ende fort.
Demzufolge erscheint die Geringfügigkeit der Entzündungserscheinungen
bei der Thymolpustel, welche man vordem als einen Vorzug derselben
rühmte, als eine Abschwächung der Wirkung der Vaccine, die viel¬
leicht als durch vorzeitiges Absterben zahlreicher Einzelindividuen des
specifischen Mikroorganismus bedingt aufzufassen ist und einer Ver¬
ringerung der Menge des eingeimpften Contagiums gleichkäme. Die
Einwirkung des Thymols auf die Vaccine würde somit als eine Benach-
theiligung ihrer immunisierenden Wirkung, als eine direkte Schädigung
erscheinen.
Dass die übrigen Substanzen aus dieser Reihe sich in gleicher
Weise wie das Thymol verhalten, ist nach den Beobachtungen Pott’s,
welche Frey (H. Frey, Ueber den Vaccineverlauf bei Impfungen mit
aseptischer Lymphe. Dissertat. Halle 1881.) über Bor-, Carbol- und
Salicylsäurelymphe veröffentlichte, wohl als sicher anzunehmen. Er
fasst das Resultat dieser Beobachtungen in dem Satze zusammen:
„Die Entwicklungszeit dieser Pustel wird abgekürzt; dieselbe beginnt
später, und die nach dem 7. Tage entnommene Lymphe zeigt sich
schon eiterhaltig und trübe. Das Fieber wird herabgesetzt und ist von
kürzerer Dauer und die entzündliche Schwellung des Armes geringer.“
Und weiter: „Das Impferysipel, welches constant jede Eruption der
Pocken begleitet (soll heissen „die Areola“, R.), verliert bedeutend
an Intensität bei Anwendung aseptischer Lymphe, es muss also die
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Erysipel erzeugende Kraft der Lymphe (im Sinne Bohn’s, R.) ver¬
mindert werden.“
Die Verwendung antiseptischer Substanzen zum Zwecke der Rein¬
haltung der Lymphe im Allgemeinen und der animalen Lymphe im
Besonderen scheint mir daher in einer zweckentsprechenden und die
Vaccine nicht schädigenden Weise nur auf der Impfstelle vor dem
Abimpfen und an den in Gebrauch kommenden Instrumenten stattfiuden
zu können, als Zusatz zu den Lymphconserven selbst aber aufzugeben
zu sein. Es kommt ja nicht darauf an, den Verlauf der Vaccine bei
den Impflingen möglichst milde zu gestalten, sondern einen Stoff zu
verimpfen, der am sichersten Immunität gegen Variola zu schaffen im
Stande ist.
Neben der Beschaffenheit der Lymphe ist für den Ausfall des
Impferfolges die Art und Weise ihrer Verimpfung ein sehr wesentlicher
Factor. Auch ich muss, wie es von vielen Seiten bis in die neueste
Zeit geschehen ist 1 ), ausdrücklich betonen, dass die animale Lymphe
eine andere Impftechnik erfordert, als man sie von der humanisierten
her gewohnt ist, namentlich dass sie in ausgiebigeren Contact mit der
Impfwunde gebracht werden muss als diese. Die in den Conserven
enthaltenen Mikroorganismen sind ja allerdings zum Theil in dem
Glycerin suspendiert, aber wohl bei Weitem der grössere Theil derselben
haftet, wie bereits oben erwähnt, an den zelligen Elementen. Letztere
müssen nun von den glatten Rändern einer mit der Nadel oder scharfen
Lanzette erzeugten Impfwunde abgestreift werden und gelangen gar
nicht in die Tiefe derselben. Allseitige Erfahrung hat diese Voraus¬
setzung bestätigt und die Stichmanier bei der animalen Vaccination
verworfen. Die gebräuchlichen Impflanzetten erscheinen daher im All¬
gemeinen wenig zweckmässig. Ciaudo 2 ) und Chalybaeus 3 ) haben
für die animale Lymphe besondere Lanzetten angegeben, die sich durch
stumpfe, bezw. abgerundete Spitzen auszeichnen. Die von mir seit
mehreren Jahren gebrauchte Nickellanzette 4 ) hat dieselbe Eigenthüm-
lichkeit. Ihre Länge gestattet sie wie eine Schreibfeder zu fassen und
erleichtert dadurch ihre Handhabung bei längeren Impfterminen unge¬
mein, und die Resistenz ihres Materials gegen chemische und mecha-
*) So auch unausgesetzt von dem Mailänder Comite.
*) Ciaudo, du Yaccin de gänisse. Nice 1881.
*) Deutsche med. Wschr. 1884. No. 15.
4 ) Vom Instrumentenmacher Hellwig in Ualle zum Preise von 1 Mark zu
beziehen.
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nische Einwirkungen sichert die Sauberkeit und Unversehrtheit ihrer
Schneide. — Jedenfalls ist es nothwendig, die animale Lym¬
phe in der Weise zu verirapfen, dass man mit einer mög¬
lichst stumpfen Lanzette seichte, nicht blutende, lineare
Ritze mehr durch Kratzen als durch Sch neiden erzeugt. Die
Lymphe gelangt so sicher in reichlicher Menge in die Impfwunde 1 ).
Was von ihr auf die unversehrte Haut gerathen ist, mag man getrost
wegnehmen und anderweit verwenden; Nutzen bringt es dort doch
nicht. So wird der Verbrauch der Lymphe ein ziemlich sparsamer,
und eine Anzahl der von mir versorgten Irapfärzte pflegen mit einem
Cubikcentimeter Glycerinemulsion, der von mir als die für 100 Im¬
pfungen berechnete Menge abgegeben wird, 200 und 300, ja 500 Kinder
mit dem besten Erfolge zu impfen. 2 )
Es hat immer etwas Missliches, aus einer langen Reihe von Einzel¬
beobachtungen Folgerungen nur nach Anhalt des Gedächtnisses oder
oberflächlicher Notizen zu ziehen. Die nach der einen oder anderen
Richtung stattgehabten Eindrücke bleiben oft unter dem Einfluss ganz
fremder Dinge haften und werden dann bei der Formulierung der so¬
genannten Erfahrungen massgebend. Und wie weit diese von dem
Thatsächlichen abweichen, haben spätere genauere Untersuchungen nur
zu oft ergeben. Um ein möglichst objectives Urtheil über die Ver-
werthbarkeit der Glycerineraulsion zur Ausführung der obligatorischen
Impfungen im Grossen zu gewinnen, habe ich die Irapfärzte veranlasst,
selbst auf Zählkarten, deren Schema sich in dieser Zeitschrift (N. F.
Bd. 42. p. 129) findet, über die mit jeder Lymphsendung gewonnenen
Erfolge — personelle wie Schnitterfolge — zu berichten. Ich habe mich
der zeitraubenden Arbeit unterzogen, alle eingegangenen Zählkarten,
gleichviel ob sie die besten oder die dürftigsten Resultate enthielten, zu
verrechnen, und glaube, man wird meiner Statistik nicht den Vorwurf
machen können, dass die Zahl der Einzelbeobachtungen zu klein sei.
Die oben behauptete Abhängigkeit des Irapferfolges von der
*) Die pasteartigen Glycerinconserven pflegen auch in der Hand des weniger
Geübten verhältnissmässig befriedigende Erfolge zu geben. Der Grund hierfür ist
nur in dem Umstande zu suchen, dass die vor dem Gebrauche vorzunehmende
Verflüssigung sich nicht an allen Stellen des Präparates in gleichmässiger Weise
vollzieht, vielmehr zahlreich krümliche und bröckliche Massen Zurückbleiben, deren
Verimpfung ganz unabsichtlich und unbewusst zur Herstellung zweckmässiger Impf¬
wunden führt.
*) Vogel, Deutsche Medicinalzeitung 1885. No. 100.
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Impftechnik ergiebt sich aus den Zählkarten unwiderleglich. Zunächst
gestaltet sich derselbe verschieden, je nachdem dieselbe Lymphe in
Capillaren oder kleinen Reagensgläschen versendet, also zu Einzel¬
oder Massenimpfungen und dem entsprechend mit grösserer oder ge¬
ringerer Sorgfalt verwendet wurde. Ebenso ergiebt dieselbe Lymphe
aus demselben Gefäss von verschiedenen Impfärzten ziemlich zu
derselben Zeit verimpft so ungleichartige Resultate, dass man nach
den nackten Zahlen annehmen könnte, dieselben bezögen sich auf
ganz verschiedene Lymphsorten. — In der Regel sind die ersten
Versuche, animale Lymphe zu verwenden, von nur mässigem Erfolge
begleitet; derselbe bessert sich aber auffällig, sobald die Ueberzeugung
gewonnen ist, dass die gewohnte Impftechnik unzureichend ist. Aller¬
dings giebt es ja auch Collegen, deren Klagen über die „miserable
Lymphe“ kein Ende finden. Aber in den Händen dieser ewig Un¬
zufriedenen erwies sich vordem auch die beste und frischeste humani¬
sierte Lymphe gleich miserabel. Auf der anderen Seite finden sich
aber auch Collegen in nicht geringer Zahl, die von vornherein und
regelmässig die besten Resultate zu verzeichnen haben. Wie sich die
Verwendung der Conserve in der Hand sorgfältiger Irapfärzte bei dem
öffentlichen Impfgeschäft gestaltet, mögen die Zahlen des Landkreises
Erfurt aus den Jahren 1884 und 1885 zeigen, zu denen ich bemerke,
dass die Erfurter Collegen von Weimar her seit Jahren animale
Lymphe, wenn auch nicht zu Massenimpfungen, zu verwenden gewohnt
sind. Es wurden im Landkreise Erfurt ausgeführt:
Erstimpfungen.
1884 bei 801 Impflingen mit 4672 Schnitten 1 personeller Erfolg 100 pCt.
Erfolg - 800 - - 4464 Pusteln / Schnitterfolg 95,54 -
1885 bei 634 Impflingen mit 3615 Schnitten 1 personeller Erfolg 98,26 pCt.
Erfolg - 623 - - 3273 Pusteln / Schnitterfolg 90,53 -
Wiederimpfungen
1884 bei 654 Impflingen mit 3328 Schnitten 1 personeller Erfolg 99,54 pCt.
Erfolg -651 - - 3003 Pusteln / Schnitterfolg 90,23 -
1885 bei 501 Impflingen mit 2574 Schnitten 1 personeller Erfolg 96,60 pCt.
Erfolg - 484 - - 1553 Pusteln / Schnitterfolg 60,33 -
In solchen Händen hat auch die animale Lymphe „erfahrungs-
gemäss absolut sicheren Erfolg.“ Wenn derselbe aber in lymph-
händlerischen Anzeigen für irgend ein Präparat reclamiert wird, so
vergesse man nicht, dass für die Verimpfung animaler Lymphe vor
Allem der Satz gilt, „si duo faciunt idem, non est idem.“ — Unter¬
hält man bei den Impfärzten den Glauben, die Verimpfung der ani-
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malen Lymphe bedürfe besonderer Aufmerksamkeit nicht, so kommt
das öffentliche Interesse nur zu Schaden. Unachtsamkeit kann nur
die Impferfolge mangelhaft ausfallen lassen, und die Auto re vaccination
ist ein Mittel von sehr zweifelhaftem Werth für ihre Aufbesserung.
Sie kann nur dazu führen, einem grösseren Bruchtheile der Bevölke¬
rung nur einen unzureichenden Schutz vor Variola zu geben und so
die obligatorische Impfung in Misscredit zu bringen.
Die Nachfrage nach animaler Lymphe ist in den letzten Jahren
in nahezu geometrischer Progression gestiegen. Waren es im Jahre
1883 nur einzelne Impfärzte oder Ortschaften, an die ich sie abgab,
so wurden 1884 in den Kreisen Erfurt, Naumburg und Wittenberg,
und 1885 in den Kreisen Erfurt, Naumburg, Wittenberg, Gardelegen,
Liebenwerda, Oschersleben, Weissenfels und Zeitz sämmtliche und von
einer beträchtlichen Anzahl einzelner Impfärzte innerhalb und ausser¬
halb der Provinz Sachsen die ihnen übertragenen öffentlichen Impfun¬
gen mit der von mir gelieferten Lymphe ausgeführt. Dementsprechend
wurde abgegeben 1883 das Material für 3000, 1884 für 22800 und
1885 für 42000 Impfungen. Das Resultat der Verimpfung stellt sich
nach den ausgefüllt an mich zurückgekommenen Zählkarten folgender-
massen. Es wurden ausgeführt:
Ersti mpfungen.
1883 bei 1727 Impflingen mit 10934 Schnitten 1 personeller Erf. 82,76 pCt.
Erfolg - 1429 - - 6106 Pusteln / Sehnitterfolg 55,82 -
1884 bei 8817 Impflingen mit 52752 Schnitten 1 personeller Erf. 95,57 pCt.
Erfolg - 8331 - - 41098 Pusteln / Schnitteifolg 77,90 -
1885 bei 16953 Impflingen mit 91628 Schnitten \ personeller Erf. 92,48 pCt.
Erfolg - 15679 - - 68940 Pusteln / Schnitterfolg 75,23 -
Wiederi mpfungen. 1 )
1883 bei 493 Impflingen mit 2693 Schnitten \ personeller Erf. 88,23 pCt.
Erfolg - 435 - - 1518 Pusteln / Sehnitterfolg 52,65 -
1884 bei 7100 Impflingen mit 36823 Schnitten \ personeller Erf. 86,95 pCt.
Erfolg - 6174 - - 22753 Pusteln 1 Schnitterfolg 61,79 -
1885 bei 12570 Impflingen mit 67870 Schnitten \ personeller Erf. 87,64 pCt.
Erfolg - 11017 - - 37706 Pusteln / Schnitterfolg 55,55 -
Im Juni 1885 revaccinirte ich mit 2 Tage alter Glycerinemulsion in be¬
sonderen Impfterminen 521 Schulkinder mit 2605 Schnitten, davon erfolgreich
519 Kinder mit 2184- Pusteln. Der Erfolg zeigte sich bei 270 von ihnen in voll¬
kommen entwickelten Pusteln, die zum grössten Theil denen der Erstimpflingc
glichen, bei 164 in deutlichen Pusteln mit vorzeitigem Eitrigwerden und Ein¬
trocknen des Inhalts, und bei 85 in Form von Schorfen mit entzündlicher Röthung
an den Impfstellen. Der Erfolg kam mithin dem einer Revaccination von Arm
zu Arm vollkommen gleich.
VierteljnhräBchr. f. ger. Med. N. F. XL1V. 2. 94
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In der Hamburger Staatsimpfanstalt hatte man im Jahre 1884
nach Voigt’s Mittheilungen (Deutsche med. Wochenschr. 1885, No. 12)
bei 2863 Erstimpfungen einen personellen Erfolg von 97,78 pCt. und
bei 1231 Wiederimpfungen von 74,3 pCt. Erwägt man, dass diese
Impfungen von Aerzten vorgenommen wurden, welche mit der ani¬
malen Lymphe vertraut sind, so wird man den in meinem Wirkungs¬
kreise in den beiden letzten Jahren bei den Erstimpfungen erreichten
Erfolg von 95,5 bezw. 92,4 pCt. — die Wiederimpfungen in Parallele
zu stellen verbietet der Mangel eines einheitlichen Kriteriums — wohl
als sehr befriedigend bezeichnen dürfen. Gab es doch in jedem Jahre
eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Impfärzten, welche die animale
Lymphe zum ersten Male in die Hand bekamen und deren Verimpfung
erst lernen mussten! Der Schnitterfolg lässt ja noch immer viel zu
wünschen übrig, aber die Zahlen der Erfurter Collegen zeigen, wie er
sich ändert, wenn man die ersten Versuche hinter sich hat. Letztere
sind auch die Ursache, dass sich bisher eine stete Besserung des
personellen Erfolges nicht geltend machen konnte. Aber auch sie
wird nicht ausbleiben, wenn die Impftechnik nach und nach allgemein
eine zweckmässigere geworden ist. Die Tabellen, in welchen dell’
Acqua (Artikel „la vaccination animale en Italie“ des Sammel¬
werkes „Les institutions sanitaires en Italie“, Milan 1885, p. 227 bis
235) die Erfolge der animalen Vaccination in ganz Italien für die
Jahre 1869—1880 zusammengestellt, ergeben, dass er auch anderwärts
von denselben Bedingungen abhängig ist. So betrug er z. B. in
Mailand bei den Erstimpfungen im ersten Jahre (1869) nur 83 pCt.,
stieg im zweiten Jahre auf 95,2 pCt., um von 1878—1880 constant
sich auf 99,8 pCt. zu halten.
Die örtlichen Entzündungserscheinungen, welche, wie bereits oben
erwähnt, die von animaler Lymphe stammenden Schutzpocken auf
der Höhe ihrer Entwicklung zeigen, imponieren den mit den Verhält¬
nissen nicht Vertrauten gar häufig als Erysipel. Nach Bohn’s Lehre
würde eine derartige Auffassung auch vollkommen gerechtfertigt sein.
Hat doch Bohn (Handb. der Vaccination, Leipzig 1875, p. 174) den
Satz aufgestellt: „Die reine, klare Lymphe eines Jenner’schen Bläs¬
chens besitzt eine Erysipel erzeugende Kraft.“ Obschon Bo hn’s Nei¬
gung, eine Entstehung specifischer Krankheitsprocesse aus nicht spe-
cifischen, eine Transformation der Producte eines traumatischen oder
chemischen Reizes in ein Contagiura anzunehraen, auch z. B. bei seiner
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Besprechung des Pemphigus neonatorum (Gerhardt, Handbuch der
Kinderkrankh. Nachtrag. Tübingen 1883, p. 191) wieder hervortritt,
so macht doch seine Darstellung der Lehre vom Impferysipel in ihrer
Gesamratheit nicht den Eindruck, als ob er selbst „den jede legitim
verlaufende Impfung begleitenden Rothlauf“ als seinem Wesen nach
identisch mit dem Erysipel auffasse. Aber mag Bohn’s persönliche
Stellung zu der Frage sein, wie sie will, jedenfalls ist durch obigen
Satz eine grosse Unklarheit in die Anschauungen der Aerzte über das
Impferysipel gebracht worden — bezeichnet man doch bereits die
Areola der Vaccinepusteln als „normales Impferysipel“ —, deren prak¬
tische Consequenz Unsicherheit im Bewusstsein der Verantwortlichkeit
in dieser Beziehung bei den Impfärzten sein muss. Um dem entgegen¬
zutreten, muss, wie es bereits Pfeiffer (L. Pfeiffer, Die Vaccination.
Tübingen 1884, p. 58) auf meine Veranlassung that, auf das Be¬
stimmteste betont werden, dass die Areola der legitim verlaufenden
Vaccinepusteln ihrem Wesen nach mit dem Erysipel absolut nichts
gemein hat, höchstens nur nach gewissen Aeusserlichkeiten eine ent¬
fernte Aehnlichkeit mit ihm besitzt. Die langsame Entwicklung der
Areola, ihr typischer, man möchte sagen an concentrische Etappen
gebundener Verlauf und ihr typisches Verschwinden, die sich mit
grösster Regelmässigkeit abspielen, fehlen dem Erysipel vollständig.
Für letzteres ist gerade das Atypische in dem ganzen Verlaufe, das
Fortschreiten auf der einen, der plötzliche Nachlass auf der entgegen¬
gesetzten Seite im hohen Grade charakteristisch. Vor allem aber
spricht die Zeit des Auftretens der Areola nach der Impfung gegen
jeden causalen Zusammenhang mit dem Erysipel. Durch die Unter¬
suchungen Fehleisen’s ist man ja in der Lage, alle das Erysipel
betreffenden Fragen experimentell festzustellen, und bezüglich der
Incubation des Erysipels theilt Fehleisen selbst (Fehleisen, Die
Aetiologie des Erysipels. Berlin 1883, p. 21) 6 Fälle von Verimpfung
des Erysipelmikrokokkus auf den Menschen mit, welche keinen Zweifel
über die Dauer derselben lassen. Sie betrug kürzestens 15, längstens
61 Stunden, vom Momente der Impfung an bis zum Auftreten des
initialen Frostes berechnet, welcher mit dem Erscheinen der Röthung
ziemlich genau zusammenfällt. Tillmanns (Verh. d. deutsch. Ges.
f. Chirurgie, Bd. VII, p. 164) berechnet nach klinischen Erfahrungen
die Dauer der Incubation auf 19—50 Stunden. Eigener Beobachtung
aus dem ehemaligen Stadtkrankenhause zu Halle entnehme ich fol¬
gende Fälle, in denen sie sich in gleicher Weise verhielt.
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364
Dr. Risel,
a) Mann von 51 Jahren wnrde wegen offenen Tnmor albus des Kniegelenks
im unteren Drittel des Oberschenkels amputiert, nachdem ein von den Fisteln
ausgegangenes Erysipel der Kniegegend seit 2 Tagen verblasst und die Tempe¬
ratur nahe zur Norm gesunken war. Von der vom Erysipel nicht befallen ge¬
wesenen und gründlich desinficierten Haut der Wadengegend des amputierten
Gliedes werden Nachmittags 3 Uhr mehrere Stücke auf ein mit kräftigen Granu¬
lationen bedecktes Unterschenkelgeschwür eines im besten Wohlsein befindlichen
jungen Menschen transplantiert. Nach einem Schüttelfrost in der Nacht zeigt
Letzterer am nächsten Morgen bei einer Temperatur von 40,2° ein deutliches
Erysipel in der Umgebung des Geschwürs, dessen Granulationen missfarbig und
gequollen, zum Theil hämorrhagisch erscheinen.'
b) In der Untersuchung eines eben eingebrachten Falles von Erysipelas cruris
Abends zwischen 5 und 6 Uhr unterbrochen, vergesse ich die Hände zu desinfi-
cieren und betaste nach kurzer Zeit eine fast verheilte, oberflächliche Wunde auf
der Wange eines vollkommen gesunden Mannes. Schon in der folgenden Nacht
hat dieser einen Schüttelfrost und am nächsten Morgen bei hohem Fieber ein
Erysipel auf der Wange.
c) Nachm. 4 Uhr werden einem Manne die chronisch infiltrierten, mit unver¬
sehrter Haut bedeckten Inguinaldrüseu in der Chloroformnarcose entfernt, nach¬
dem der operierende Arzt zuvor eine unreine Wunde an der Hand eines anderen
Kranken verbunden hat. In der nächsten Nacht zwischen 12 und 1 Uhr Frost,
Vormittags hohes Fieber und Erysipel in der Umgebung der Operationswunde.
Dass sich bei dem eigentlichen Impferysipel, dem sog. Frühery¬
sipel, die Incubationsdauer nicht anders verhält als bei dem chirur¬
gischen Erysipel, beweisen eine ganze Anzahl in der Literatur ver-
zeichneter Fälle. In Sinnhold’s 4 Fällen (Jahrb. f. Kinderheilk.
N. F. Bd. IX, p. 383) trat es 16 — 24 Stunden, in Lyman’s Falle
(Boston raed. Journ. 1873, Jan. 23) 24 Stunden, in Vergely’s drei
Fällen (le Bordeaux m6d. 1878, No. 4 — 6) 20—24 Stunden, in
Strahler’s Fällen (Verh. d. deutschen Ges. f. Chirurgie, Bd. VII,
p. 106) in den ersten 24 Stunden und in den 59 Fällen, über welche
Meissner (Beob. über vaccinales Früherysipel. Dissertat. Halle 1880)
berichtet, 12—48 Stunden post vaccinationem auf. In einer Reihe
von Fällen, welche im Jahre 1880 in der Praxis eines Impfarztes im
Regierungsbezirke Merseburg vorkamen, wurden die Kinder früh Mor¬
gens über Land zu dem Arzte mit Erysipel um die Impfstellen ge¬
bracht, nachdem sie am vorhergehenden Tage Nachmittags geimpft
und zum Theil schon Abends erkrankt waren. Uebrigens erkrankte
hier einmal bei Impfung von Arm zu Arm der Stammimpfling gleich¬
zeitig mit den Impflingen an Erysipel.
Diese Thatsachen beweisen auf das Bestimmteste das Grundlose
der Bohn’schen Lehre. Die in der Umgebung der Vaccinepustel
auftretende, typisch verlaufende Dermatitis hat mit dem Erysipel
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Zur animalen Vaccination.
365
nichts gemein, und die Vaccine als solche ist niemals im Stande
Erysipel zu erzeugen, die animale Lymphe ebensowenig wie jede
Vaccine anderer Herkunft. Diese Thatsachen zeigen aber auch, dass
für die sogen. Späterysipele eine während des Impfactes stattgehabte
Infection gar nicht in Betracht kommen kann, und mahnen zu grosser
Vorsicht, für die nach Ablauf von 3 mal 24 Stunden post vaccina-
tionem auftretenden Erysipele diese Entstehungsursache anzunehmen.
Die ihrer schützenden Decke beraubte Vaccinepustel kann zu
jeder Zeit mit Erysipel inficiert werden: darin steht sie jeder anderen
Hautverletzung gleich. Aber auch bei den unzweifelhaft während des
Impfactes selbst gesetzten Infectionen wird man ohne Weiteres nicht
behaupten dürfen, dass der specifische Mikrokokkus des Erysipels
schon vor deren Verimpfung in der verwendeten Lymphe enthalten
war. Das wäre efst immer nachzuweisen oder wenigstens wahr¬
scheinlich zu machen. Denn die Uebertragung von Mensch zu Mensch,
durch directe Berührung oder durch Vermittlung von Instrumenten u.dgl.,
ist nicht die einzige oder auch nur gewöhnliche Art der Erysipel-
infection. Vielmehr ist gar nicht zu bezweifeln, dass die specifischen
Mikrokokken sich auch ausserhalb des menschlichen und thierischen
Körpers fortpflanzen und nur gelegentlich ihre Entwicklung auch in
letzterem durchlaufen. Es ist festgestellt, dass sie für ihr Gedeihen
nicht einmal thierisches Material und Blutwärrae bedürfen. Wie
Fe hl eisen fand, lassen sie sich nicht nur auf erstarrtem Blutserum
und Nährgelatine, sondern auch auf Kartoffeln züchten und zwar
schon bei gewöhnlicher Zimmertemperatur (1. c. p. 84). Nach der Art
des Auftretens der Epidemien und dem Gebundensein des häufigen
Vorkommens von Erysipel an bestimmte Oertlichkeiten muss man
annehmen, dass ihre ekanthrope, saprophyte Fortpflanzung und Ent¬
wicklung die gewöhnliche und regelmässige ist.
Gegen derartige gelegentliche Infectionen der Impfwunde oder der
zerstörten Impfpusteln kann natürlich auch die animale Lymphe nicht
schützen. Reinlichkeit des Körpers, der Kleider und der Wohnung
des Impflings, der Hände und Instrumente des Impfers, sowie des
Impfraumes werden allein im Stande sein, diese bei weitem wichtigste
unter den Coraplicationen des Impfverlaufes zu verhüten. Hier ist
Alles das am Platze, was man als antiseptische Massregeln zu be¬
zeichnen pflegt. Hier werden aber auch nach allgemeiner Einführung
der animalen Vaccination die Impfärzte eine grosse Verantwortlichkeit
nach wie vor voll zu tragen haben.
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3.
Heber die sanitätspolizeiliehe (Jeberwachung der Heilquellen.
Von
Dr. Ernst Lehmann in Oeynhausen (Rehme).
Der staatliche Heilquellenschutz ist besonders in letzter Zeit in unserem
Vaterlande Gegenstand der öffentlichen Discussion gewesen. Ich verweise hier
nur auf die Verhandlungen des 8. und 9. schlesischen Bädertages'), die Sitzungs¬
berichte der balneologischen Section 1880 und 1882 2 ), sowie auf die in dieser
Zeitschrift erschienene Arbeit von Kribben 3 ).
Bei der Unvollkommenheit der für die staatliche Heilquellenüberwachung
in Deutschland bestehenden gesetzlichen Bestimmungen war es naturgemäss,
für gesetzgeberische Vorschläge die ausländische Gesetzgebung zu beachten. —
So entstanden lobenswerthe Uebersetzungen namentlich der französischen und
spanischen Heilquellenschutzgesetze, die dann als Grundlage unseres Heilquellen¬
schutzes dienen sollten.
Studirt man aber die betreffende Literatur eingehender, so wird man bald
zur Ueberzeugung gelangen, dass die gesetzlichen Bestimmungen für Heilquellen¬
überwachung in keinem Lande ausreichen.
Ich möchte dieses gerade hier Kribben gegenüber betonen, der die spa¬
nische Gesetzgebung „durchaus erschöpfend“ nennt. — Was die letztere aber
über den eigentlichen Heilquellenschutz besitzt, hat sie, wie es mir scheint, den
französischen bezüglichen Gesetzen nachgebildet. Zum grössten Theil aber
handeln die spanischen Bestimmungen über Organisation der Kuranstalten, die
Pflichten der Inspectoren etc. und können daher für unsere Betrachtung kein
weiteres Interesse beanspruchen.
Das einzige ausserdeutsche Land, welches, wenn auch durchaus kein aus¬
reichendes, so doch einigermassen eingehendes Specialgesetz über Heilquellen¬
schutz hat, ist Frankreich.
Die ersten Anfänge der bezüglichen französischen Gesetzgebung datiren
') Denglcr, Ueber den Schutz der öffentl. Heilquellen. — Gesammelte Vortr.
u. Verhandl. des VIII. u. IX. schles. Bädertages. Reinerz, 1881.
*) Beissei, Ueber den gesetzlichen Schutz der Heilquellen. Veröffentl. der
balneolog. Section der Gesellsch. für Heilkunde in Berlin, 1880. p. 69—78; und
Noetzel, Ueber eine Petition des Colberger Magistrats, betr. Schutz von Sool-
bädern. Ebendas. 1882. p. 52.
*) Ueber den gesetzlichen Schutz der Mineralquellen in den verschiedenen
Culturstaaten, mit bes. Rücksicht auf Spanien. Diese Zeitschrift 1881, Bd. 34,
mir Vorgelegen in Balneolog. Ausstellungs-Zeitung 1881. Frankf. a./M.
No. 15-22.
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Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Heilquellen.
367
schon ans den Jahren 1781 und 1823 (Ord. royal du 18. Juin) 1 ). Die Heil¬
quellen werden als im Besitze des Staates, der Gemeinden und der öffentlichen
Wohlthätigkeitsanstalten angesehen.
Ein weiteres Gesetz vom 8.—10. März 1848 setzt zum ersten Male einen
für jede Heilquelle obligatorischen Schutzbezirk (perimetre de protection)
gegen Bohrarbeiten etc. fest.
Durch Gesetz vom 14. Juli 1856 wird dieser Bezirk facultativ. Zugleich
werden die Heilquellen als mit dem Charakter der „Oeffentlicbkeit“ ausgestattet
erklärt (Döclaration d’interet public), ein Ausdruck, auf den wir noch zurück¬
kommen werden.
Das Gesetz regelt dann noch andere für den Heilquellenschutz wichtige
Fragen. Wir ziehen es der Uebersichtlichkeit wegen vor, an anderer Stelle auf
dieselben zu recurriren.
In Deutschland bestehen ausser Specialgesetzen für die nassauischen
Bäder (Ems, Wiesbaden, Sohwalbach etc.) zum Schutze der Heilquellen nur
polizeiliche Vorschriften. So sind in Preussen die Quellen gegen Bergwerks¬
arbeiten durch das Berggesetz vom 24. Juni 1865 in Schutz genommen. (Aehn-
liche Gesetze existiren auch im übrigen Deutschland.) §. 4 des erwähnten Ge¬
setzes verbietet das Schürfen auf Grundstücken, wenn Gründe des öffentlichen
Interesses entgegenstehen. §§. 196 und 197 gestatten den Oberbergämtern,
durch Bergpolizeiverordnung besondere Schutzmassregeln, eventuell durch Ab¬
grenzen von Schutzbezirken zu treffen (vgl. auch die Interpretationen dieser
Paragraphen durch Klostermann und Berghauptmann Brassert) 2 ).
Dass diese in unserem Vaterlande bestehenden gesetzlichen Bestimmungen
nicht ausreichend sind,' die Heilquellen zu schützen, wie vom Standpunkt der
Volkswirthschaft und der öffentlichen Gesundheitspflege gewünscht werden muss,
hat die Erfahrung gezeigt. Nichtsdestoweniger sind bisher alle in diesem Sinne
an die betreffenden Behörden und das Abgeordnetenhaus gerichteten Petitionen
ohne Erfolg gewesen. Es wurde die Bedürfnissfrage einer bezüglichen Erweite¬
rung der gesetzlichen Bestimmungen nicht anerkannt; man verwies auf die
bestehenden Gesetze.
Der Zweck der folgenden Zeilen ist nun, diejenigen Verhältnisse und
Ereignisse kurz zu berühren, die erfahrungsgemäss vorgekommen sind als Ge¬
fahren für Aufkommen und Bestand von Heilquellen und, daran anknüpfend,
Vorschläge für Schutzmassregeln zu machen.
Als mächtigster und, weil weit verbreitet, gefährlichster Feind der Heil¬
quellen ist wohl unstreitig der Bergbau anzusehen. — Es beweisen dies die
zahlreichen Beispielo, wo lange Zeit, ja Jahrhunderte bestehende Quellen durch
den Bergbau zum Versiegen gebracht oder doch sehr beeinträchtigt worden sind.
Ich erinnere hier nur an die gänzliche Quellenversiegung in Altwasser im
Jahre 1869 und die momentane Versiegung der Ursprungsquelle von Baden bei
Wien (durch Anlage eines Stollens in dem ziemlich weit vom Ausfluss der Quelle
*) Labarthe, Les eaux minörales et bains de mer de France. Paris 1873.
Reinwaid & Cie. p. 21 ff.
*) cf. D engl er 1. c. p. 9 ff.
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368
Dr. E. Lehmann.
entfernten Schoberberg), welche jedoch nach Zuscbüttung des Stollens langsam
ihren früheren Wasserspiegel wieder erreichte 1 ).
Namentlich verweise ich aber auf die so grosses Aufsehen machende Kata¬
strophe der Teplitzer Quellen im Jahre 1879. Dieselbe wurde hervorgerufen
durch den Betrieb der Kohlenbergwerke von Dui und Ossegg, indem die Gesteine,
aus welchen nach Ansicht der Geologen die genannten Quellen ihren Ursprung
nehmen, an einer tieferen Stelle als die natürliche Quellenmündung liegt, „ge¬
schlitzt“ wurden.
Dem Berichte nach standen bei der Katastrophe in wenigen Minuten die
tieferen Kohlengruben von 19000 Cbmtr. unter Thermalwasser. 2—3 Tage
nach dem Eintritt des Unglücks waren in Teplitz die Quellen verschwunden 2 ).
Beweist dies zuletzt genannte Ereigniss einerseits die Möglichkeit des
leichten Entstehens eines die Existenz der Heilquelle bedrohenden Unglücks
durch Bergbauarbeiten, so erhellt andererseits aus dem Angeführten, wie un¬
zureichend der Heilquellenschutz in Oesterreich ist.
Letzteres Land schützt seine Heilquellen gegen Bergbauarbeiten nach
Massgabe des dort gütigen Berggesetzes. Nach §. 222 desselben werden analog
wie in Frankreich für gewisse Orte, die nicht gefährdet werden sollen, Schutz¬
bezirke abgegrenzt. Dass dieser Schutzkreis nicht genügend immer schützen
kann, beweist ebenfalls das Teplitzer Unglück.
Der Schacht, in welchem der Wassereinbruch erfolgte, liegt ca. eine Meile
von der Teplitzer Urquelle entfernt. — Es hätte demnach ein Schutzkreis von
einer Meile Radius nicht ausgereicht.
In Preussen bieten, wie schon erwähnt, §§. 196 und 197 des Berggesetzes
eine Handhabe zur Beschützung der durch Bergbauarbeiten bedrohten Heilquellen.
Die Existenz dieser Handhabe soll auch nicht geleugnet werden. Jedoch
liegt der Uebelstand darin, dass dieselbe Persönlichkeit, welche die Bergbau¬
interessen wahrnehmen soll, berufen ist, im Fall eine Beschützung der Heil¬
quellen nöthig ist, jenen hinderlich in den Weg zu treten. — Trotz des Strebens
nach möglichst objectivem Urtheil ist die Collision hier gegeben.
Es fehlt hier ein neu zu schaffendes Element, welches nur die Interessen
der Heilquellen wahrzunehmen hat. — Wie dasselbe zu schaffen ist — Heil¬
quellen-Amt—, wird unten angegeben werden.
Diesem Heilquellen-Amt müsste vorzüglich obliegen, die Quellen genau zu
beobachten, ihre Ergiebigkeit, Fassung, Temperatur und deren Schwankung etc.
zu studiren, um durch Beobachtung der benachbarten Bergbauarbeiten jeden
Vorläufer einer den Heilquellen drohenden Katastrophe frühzeitig genug zu ent¬
decken und vorbeugende Massregeln zu treffen.
In Teplitz hätte man z. B. durch Beachtung der Vorläufersymptome der
Katastrophe Vorbeugen können. — Denn in den betreffenden neu getriebenen
Strecken der Duxer Bergwerke wurden die „aufgedeckten Gesteinschichte“ immer
nässer, die Grubenwässer nahmen von Monat zu Monat zu und zeigten eine
höhere Temperatur als gewöhnlich. Die wegen der bedeutend grösseren Wasser¬
zuflüsse aufgesetzten Pumpen zogen im Döllinger Schacht schon 18° R. warmes
Thermalwasser. „Die in der Nähe des Schachtes befindliche warme Rieseuquelle,
') Den gier 1. o. *) ibid.
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Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwachang der Heilquellen.
369
deren Zusammenhang mit den Teplitzer Quellen man schon vor dem Grubenbau
angenommen hatte, blieb, jemehr die Pumpen hoben, vorübergehend aus, bis sie
im Juni ganz versiegte.“ ').
Es fragt sich, ob das hereinbrechende Unglück nicht frühzeitig genug zur Ab¬
wehr erkannt worden wäre, wenn tüchtige und fachmännisch gebildete Beobachter
lediglich zum Schutz der Heilquellen die Bergbauarbeiten zeitweise controlirthätten.
Noch eine zweite Frage ist hier zu erörtern, ob die Festsetzung eines obli¬
gatorischen Schutzbezirks von bestimmter Grösse für jede öffentliche Heil¬
quelle den in Preussen und jetzt auch in Frankreich gültigen Bestimmungen
vorzuziehen, nach welchen der Umfang des Schutzbezirks je nach der Lage des
Falles festgesetzt wird resp. werden kann.
Der schlesische Bädertag ist seiner Zeit wieder für Einsetzung eines Schutz¬
bezirks, der eine bestimmte Minimalgrösse haben muss, eingetreten 2 ) und hat sich
damit der anfänglichen französischen Gesetzgebung genähert. Letzteres hat den
Vorlheil, dass unter Umständen Irrthümer seitens der Behörden ausgeschlossen
sind, und innerhalb des bestimmten Bezirks keine Gefährdung der Quellen durch
Bergbau eintreten kann.
Der Nacbtheil liegt, wie auch v. Cuny als Berichterstatter in der Justiz¬
commission über Petitionen im preussischen Abgeordnetenhaus im Jahre 1882 83
richtig sagt 3 ), darin, „dass eine allgemein gleiche Bemessung des Schutzbezirks
möglicherweise einzelnen Quellen nicht den ausreichenden Schutz gewährt“
(Teplitz), während sie für andere Orte vielleicht weit über das Bedürfniss hinaus¬
gehen und dem Bergbau unnöthige volkswirthschaftlich schädliche Beschränkun¬
gen auferlegen würde.
Es erhellt dieses ja a priori aus der Betrachtung, dass Quellen, die aus
grosser Tiefe entspringen, durch Bergbau. der nur mittlere Schichten freilegt,
nicht, andere dagegen durch schon relativ unbedeutende „Einschnitte“ gefährdet
werden können.
Nach unserer Ansicht muss man daher im Falle einer Spezialgesetzgebung
zum Heilquellenschutz von einer einheitlichen Feststellung der Grösse des
Schutzbezirks für alle Heilquellen als unzweckmässig absehen. Dagegen müsste
eine jede öffentliche Heilquelle nach sachverständiger (geologischer, hydro¬
logischer, topographischer) Beurtheilung entweder mit einem ihr angemessenen
Schutzbezirk umgeben oder als eines solchen nicht bedürftig ausdrücklich erklärt
werden. — An die Gefahren, welche den Heilquellen durch Bergbauarbeiten
drohen, schliessen sieb diejenigen an, welche durch andere unterirdische
Arbeiten (Anlegen von Steinbrüchen, von Gruben zur Gewinnung von Material
oder Wasserbrunnen gegraben, Fundamentirung von Häusern, Einschnitte zur
Anlage eines Weges) entstehen können.
Hierher gehören auch die „Concurrenzbestrebungen “ in Bädern, wo
Adjacenten benachbarter Quellen, sei es zu Neugewinnung solcher oder zur
Verbesserung schon bestehender auf Kosten der anderen Quellen auf eigenem
*) Den gl er 1. c. pg. 57.
*) ibid. pg. 47. §.11.
*) Erster Bericht der Commission für das Justizwesen über Petitionen. I. Session
der 15. Legislatur-Periode 1882—83 des preuss. Abgeordnetenhauses, No. 56,
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370
Dr. E. Lehmann.
Grand and Boden Neu- resp. Tiefbohrungen vornehmen. — Es ist dieses u. A.
in Neuenahr 1858 vorgekommen, wo die Augusta- und Victoriaquelle durch be¬
nachbarte Bohrungen geschwächt und in ihrer Temperatur herabgesetzt wurden 1 ).
Ebenso verweise ich zur Illustration der durch selbst relativ unbedeutende unter¬
irdische Arbeiten möglicherweise entstehende Gefährdung von Heilquellen auf
das von Kribhen und Beissel 2 ) erwähnte Ereigniss in Burtscheid.
Im letzteren Orte wurde im Jahre 1873 wegen eines Strassenprojects (NB.)
ein 30 */ 2 Fuss tiefer Schacht abgeteuft und durch Pumpwerke eine Zeit lang
leer gehalten. Die Burtscbeider Quellen verloren immer mehr an Ergiebigkeit,
bis sie gänzlich versiegten.
Alle Eingaben und Petitionen der Geschädigten und der ev. zukünftigen
Schaden fürchtenden Quellenbesitzer an die competenten Behörden um Erlass
von Schutzmassregeln gegen solche hier besprochene Gefahren, haben, so drin¬
gend die Nothwendigkeit des Schutzes allgemein anerkannt wurde, nicht zum
Erlass eines betreffenden Spezialschutzgesetzes geführt. — Den sioh näher dafür
Interessirenden verweisen wir auf die citirten Arbeiten vonKribben undBeissel.
Wie sind nun die Heilquellen gegen die durch unterirdische Arbeiten aller
Art entstehenden Gefahren zu schützen, da das Berggesetz hierbei nicht heran¬
gezogen werden kann?
Bei Beantwortung dieser Frage sei darauf hingewiesen, dass die nassaui-
sehen Bäder durch ein, wie wir oben erwähnten, dort noch bestehendes Spezial-
geseiz im Allgemeinen gegen die besprochenen Gefahren geschützt sind.
So war es naturgemäss, dass der schlesische Bädertag, welcher die Ange¬
legenheit des Heilquellenschutzes eingehend discutirte, eine Petition an das
preussische Abgeordnetenhaus um Erlass von Spezialgosetzen (ähnlich den in
Nassau bestehenden) richtete. Die Forderung wurde aber auch hier als unnötnig
und unausführbar abgewiesen 3 ).
Kribben schlug vor, dass die Heilquellen eine gewerbliche Concession
beantragen sollten, nach deren Erlangung die Königliche Regierung befugt wäre,
in einem bestimmten Umfange andere ähnliche Anlagen und sonstige schädigende
Arbeiten zu verbieten, und ebenso dem Concessionar Bedingungen aufzuerlegen,
wodurch andere schon bestehende benachbarte Quellen vor Schaden bewahrt
würden. — Diese ursprünglich für Aachen und Burtscheid aufgestellte Forderung
könnte unserer Ansicht nach gesetzlich verallgemeinert werden. — Der Staat
schützt alle öffentlich erklärten und so privilegirten Heilquellen in
ihrem Bestand gegenüber Dritten, welche auf ihrem Eigenthum durch die oben
namhaft gemachten Arbeiten die Existenz der Quelle bedrohen. — Mit dem neu-
geschaffenen Recht treten natürlich auch neue Pflichten (Schadenersatz etc.) für
die Heilquellen in Kraft.
Es kann bei diesem Vorschläge nicht verkannt werden, dass unter Umstän¬
den grosse Eingriffe in Privatrechte erfolgen müssen. — Diese Schattenseite tritt
aber hier nicht anders, wie bei den übrigen, dem öffentlichen Wohle dienenden
Einrichtungen und Schöpfungen auf. — Volle Entschädigung der Betroffenen
') 1. c. *) 1. c.
*) cfr. Petitionsbericht 1882/88 No. 5G. Berichterst. v. Cuny.
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Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwaohung der Heilquellen. 371
and, wenn diese es fordern, selbst Expropriation des fraglichen Besitzes müsste
gewährleistet werden. —
Kurz sei hier sodann auf die Bedeutung des Waldscbutzes für die Er¬
haltung der Heilquellen hingewiesen.
Es ist eine schon von Aristoteles ausgesprochene Ansicht, dass die
Quellen ihren Wasserreichthum den Feuchtigkeitsniederschlägen der Atmosphäre
verdanken 1 ). — Der Waldbestand befördert nun einerseits die Menge der Luft¬
feuchtigkeit, besonders auch des Regens einer Gegend 2 ). Andererseits verhin¬
dert der Wald durch seinen Schatten die Verdunstung der von ihm beschützten
Erdoberfläche und setzt durch die Wurzeln der Bäume und die Vegetation im
Walde dem Abfluss der aus der Atmosphäre niederfallenden Miederschläge ein
wesentliches Hinderniss entgegen. Dengler 3 ) sagt ganz recht: Die Wälder sind
„die Condensatoren der in der Luft vorhandenen unsichtbaren Wassermassen.“ —
Die Bedeutung des Waldes für den Quellenreichthum eines Landes steht daher
wohl heute ausser allem Zweifel.
Scholz 4 ) führt an, dass die Quellen derjenigen Sohweizercantone, wo man
die Berge ganz abholzte, versiegt seien. — Die Sanitätspolizei hat demgemäss
sicher im Interesse des Wasserbestandes der Heilquellen ein wachsames Auge
auf den Waldbestand zu üben.
Da in unserem Vatorlande für die Cultur und Pflege der Wälder, sofern sie
Gemeinden, öffentliche Anstalten, Kirchen und sonstige Corporationen als Eigen-
thümer haben, und ebenso für die Neu-Cultivirung bisher nicht beforsteter Flächen
im allgemeinen Landesinteresse duroh die bestehende Gesetzgebung hinreichend
gesorgt ist, so interessirt besonders die Frage, wie es mit den in Privatbesitz
befindlichen Wäldern zu halten, falls der betreffende Besitzer aus pecuniärem
Vortheil ohne Rücksichtnahme auf das etwa bedrohte Allgemeinwohl dieselben
vernichten will. — Dengler weist auf die Möglichkeit hin, das Gesetz über
Enteignung von Grundeigenthum d. d. 11. Juni 1874 und §. 9 der preussiscben
Verfassungsurkunde in solchen Fällen zur Anwendung zu bringen. — Sollte
letzteres vom juristischen Standpunkt möglich sein, so wäre eine weitere Gesetz¬
gebung nicht erforderlich. — Im anderen Falle müsste beim Erlass eines Heil¬
quellenschutzgesetzes darauf Rücksicht genommen und den Heilquellen das Recht
zur Expropriation von Waldungen, die für ihren Bestand von Werth, zugesprochen
werden. —
Während die bisher besprochenen Gefahren, welche den Heilquellen drohen,
von aussen liegenden Verhältnissen ausgingen, so haften einige Gefahren den
Heilquellen selbst an. — Man hat die Erfahrung gemacht, dass Heilquellen
sich selbst überlassen, dadurch geradezu versiegen können, dass ihr Ausfluss
sich durch sedimentirende Salze verstopft.
Es ist wahrscheinlich, dass dieses Ereigniss hauptsächlich, vielleicht aus¬
schliesslich, bei künstlich durch Bohrung entstandenen Quellen eintreten kann.
Erforderlich ist, dass der Salzgehalt der Quelle ein beträchtlicher und durch Ver-
') Uhle, Das Weltall. 3. Aufl. 1859. p. 357.
*) v. Humboldt, Kosmos II. 1847. p. 322.
•) I. c. p. 6.
4 ) ibid. p. 50.
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372
Dr. E. Lehmann,
flüchtigang der im Wasser enthaltenen Gase zn Sedimentirung geeigneter ist. —
Anfangs, wenn die Quelle erbohrt worden ist, wirkt der mächtige hydrostatische
Druck und die eventuell binzukommende gewaltige Gasspannung, um das Wasser
rapide zu Tage zu fördern. Allmählich und kaum merklich lässt der Druck und
die Gasspannnng nach, und die Schnelligkeit des Wasserausflusses wird dem¬
gemäss langsamer. Hiermit geht gleichzeitig eine Absetzung von Salzen an die
Quellenwandungen einher. Dieselben machen die lichte Weite des Bohrloches
geringer nnd verstopfen endlich dasselbe gänzlich, wenn keine Abhilfe geschieht.
Es war dieses der Fall in Oeynhausen (Rehme). Seit fast 20 Jahren
konnte man eine stetig wachsende Abnahme der Quellenergiebigkeit beobachten.
Statt dem Uebel durch Reinigung des Bohrloches, welches jedes Jahr zu wieder¬
holen, abzuhelfen, ignorirte man anfänglich den Uebelstand und legte zur Hebung
des letzteren ein neues Bohrloch an. dem ein drittes bald folgte. Man erhielt
aber weder eine vermehrte Ergiebigkeit noch eine der alten gleichwerthige. wenn
man die Wassermengen aus allen 3 Quellen zusammennahm. — Das Uebel wurde
immer schlimmer, bis Anfangs der 70er Jahre die Hauptquelle dem Versiegen
nahe war. Die Noth war gross. Jetzt ging man daran, das alte 1. Bohrloch zu
„räumen“, die alten Quellenwege neu zu erbohren, was denn auch von zufrieden¬
stellendem Resultat begleitet war.
Hach dieser Erfahrung droht also den erbohrten Heilquellen eine Gefahr,
wenn sie sich selbst überlassen werden. Die officiell stattfindende Beobachtung
ist hier dringend nöthig. Die Abhilfe liegt in der regelmässigen „Reinigung“
des Bohrloches. —
Besondere Rücksicht hat die Sanitätspolizei sodann auf event. Vergeudung
und Verschlechterung der Heilquellen zu nehmen. Erstere entsteht dadurch,
dass das Wasser der betreffenden Quelle Tag und Nacht, Winter und Sommer
auch ohne Kurzweck abfliesst. und die Wassermengen abnehmen.
Wenn nicht technisch oder hydrologisch zu begründende Schwierigkeiten
entgegenstehen, darf dieses beständige zwecklose Abfliessen nicht stattfinden.
Hier wird eine genaue Beobachtung der Ergiebigkeit, die eine Constanz oder
Abnahme erkennen lässt, frühzeitig an prophylactische Massregeln denken lassen
können.
Eine Verschlechterung kann dadurch entstehen, dass die Fassung resp.
Leitung der Heilquelle eine ungenügende ist. — Es können dann leicht „wilde“
Wasser zu den Quellen treten und dieselben in ihrer physikalischen und chemi¬
schen Zusammensetzung alteriren.
In Oeynhausen z. B. constatirte man vor der „Verrohrung“ des Bohr¬
loches No. 1 bis auf ca. 1900 Fuss Abnahme der Temperatur und Verschlechte¬
rung des Thermalwassers, welches zum Theil dem Zutritt „wilder“ Wasser zuzu¬
schreiben war.
Die Beaufsichtigung nach diesen den Heilquellen drohenden Gefahren ist
also nicht zn vernachlässigen. — Abhilfe ist ja nach den bestehenden Verhält¬
nissen mehr oder minder leicht zu schaffen. —
Als eine der wichtigsten Aufgaben der sanitätspolizeilichen Heilquellen-
Ueberwachnng erscheint die Sorge für zweckmässige Verwendung der
Heilquellen.
Es ist einleuchtend, dass eine Heilquelle, welche ihrer Zusammensetzung
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Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Heilquellen. 373
nach von grösstem Werth ist, nie eine solche Wirksamkeit für die Allgemeinheit
erlangt, wie es vom Standpunkt der öffentlichen Gesundheitspflege zu wünschen,
wenn der Heilquellenbesitzer, sei es aus Mangel an Einsicht, oder an den nöthi-
gen Geldmitteln, sei es aus reinem Eigensinn, es unterlässt, diejenigen Einrich¬
tungen für die Benutzung der Quelle zu treffen, welche vom Standpunkt der
Wissenschaft zu fordern.
Nach dem französischen Gesetze vom Jahre 1848 (Titr. 1 Art. 12) 1 ) steht
in solchen Fällen dem Staat das Recht zu, die Heilquelle und die zu ihrer Be¬
nutzung nothwendigen Zugehörigkeiten zu expropriiren.
In unserem Lande fehlt bis jetzt eine derartige Bestimmung. Dass aber
eine solche durchaus nothwendig, erhellt nicht nur aus dem Gesagten, sondern
wird auch dadurch bewiesen, dass man, wie die Geschichte der Bäder beweist,
in unserem Vaterlande zur Expropriation in einem Falle geschritten ist, auf
Grund eines Erkenntnisses des damaligen preussischen Obertribunals.
Es sei gestattet, diesen Fall, der häufig besprochen, hier kurz mitzutheilen:
In den Jahren 1829—45 hatte in Oeynhausen eine Bohrarbeit, welche
Steinsalz aufsuchen wollte, stattgefunden und eine Tiefe von über 2000 Fuss
erreicht. Hierbei war die noch heute berühmte Thermalsoole zu Tage getreten.
Der Eigenthümer des Bohrterrains, ein westfälischer Bauer, nahm in seinem
Eigensinn allen Anerbietungen gegenüber die erbobrte Quelle als sein Eigenthum
in Anspruch. — Die Analyse der letzteren hatte ergeben, dass das Wasser seiner
Zusammensetzung nach ein besonders seltenes und heilkräftiges war. Umsomehr
war der Wunsch der Behörde gerechtfertigt, die Heilquelle als eine dem allge¬
meinen Wohle dienende auch zur vollen Wirksamkeit zu bringen. — Der betr.
Bauer aber gab au, diese Wirksamkeit im eigenen Nutzen anzustreben, liess
einige rohe Bretterverschläge herrichten und Bäder an Heilsuchende aus der
Nachbarschaft verabreichen.
Dass diese Art der Verwendung eines so seltenen und heilkräftigen Wassers
den zu machenden Anforderungen nicht entsprach, liegt auf der Hand. — Oeyn¬
hausen wäre mit diesen Badeeinrichtungen nur immer ein Bad für die nähere
Umgebung geblieben, sicher aber nicht ein Weltbad geworden.
In Folge dieser Erkenntniss suchte der Fiskus dem bäuerlichen Eigenthümer
das Bohrterrain abzukaufen, doch vergeblich. — So machte sich der Wunsch
nach Expropriation dringend fühlbar. Das Recht zu einer solchen hätte zweifellos
bestanden, wenn das Ziel Salzgewinnung gewesen wäre; aber die 4procentige
Soole erschien nicht siedewürdig. — Für eine Heilquelle bestand aber und
besteht ja noch heute keine Befugniss zur Expropriation. — Dennoch verklagte
die Behörde den Bauer, damit er verurtheilt würde, in die Expropriation willigen
zu müssen. Der Bauer gewann jedoch in 2 Instanzen. Erst in der 3. Instanz,
vom damaligen Obertribunal, wurde dem Fiskus das Recht der Expropriation
zugesprochen.
Es ist nicht unsere Aufgabe, zu forschen, auf welche juristische Grundlage
hin das Urtheil gefällt wurde. — Die Tbatsache, dass der höchste preussische
Gerichtshof in einem Spezialfall ein Urtheil auf Expropriation fällte, beweist wohl
die Nothwendigkeit des Erlasses eines allgemein giltigen Gesetzes, wonach dem
1 ) Labarthe 1 c.
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UNIVERSITÄT OF IOWA
374
Dr. E. Lehmann,
Staate das Hecht zusteht, in analogen Fällen den Besitz der Heilquelle an sich
zu nehmen.
Es sei nebenbei erwähnt, dass schon früher Mo hl') für eventuelle Zwangs-
Expropriation eingetreten ist.
Ob die von einem Heilquellenbesitzer getroffenen Einrichtungen dem Heil¬
werth und somit den vom Gesichtspunkt der Gemeinnützigkeit zu machenden
Anforderungen entsprechen, darüber steht dem „Heilquellen-Amt“ die Ent¬
scheidung zu, gegen die ein Reccurs beim zuständigen Minister zulässig ist.
Das Interesse, welches die Allgemeinheit an Heilquellen haben kann, macht
es dringend nothwendig, das Berggesetz vom 24. Juni 1865 in einem Punkte
abzuändern resp. zu ergänzen. — Dieses bestimmt nämlich, dass Soolqueilen
innerhalb der beliehenen Felder dem Bergwerkseigenthümer gehören, selbst wenn
dieselben auch von fremder Hand aufgedeckt worden sind und von ihm zur Salz¬
gewinnung nicht benutzt werden, vielleicht auch des zu geringen Salzgehaltes
wegen nicht benutzt werden können.
Es war dieses in Golberg der Fall, wie u. A. aus dem dritten Bericht der
Commission für das Justizwesen über Petitionen in der Session 1882 des preuss.
Abgeordnetenhauses hervorgeht. — In genanntem Badeorte hatten 2 Private auf
Grund erlangter Muthung auf eine Soolquelle eine Gewerkschaft zur Gewinnung
von Steinsalz gebildet. Die gegründete Gewerkschaft „Joachim-Nettelbeck“
besass das Muthungsrecht auf einem fast 2V 2 Millionen Quadratmeter betragen¬
den Grund und Boden, welcher den grössten Theil der Stadt Colterg und des
zwischen ihr und dem Meere gelegenen Terrains einnahm. — Nachdem die Bohr-
versuclie als aussichtslos eingestellt, wurden nicht allein die neu erbohrten, son¬
dern auch die früher schon vorhandenen Soolquellen als „unbenutzbar“ auf¬
gegeben und weder salinische noch Badezwecke angestrebt.
Nichtsdestoweniger beanspruchten die Bergwerksbesitzer ein Recht auf
alle innerhalb ihres zur Muthung gehörigen Bezirkes befindlichen Soolquellen,
auch wenn dieselben von anderen Privaten erbohrt und schon vor der erhaltenen
Muthung zu Bädern benutzt worden waren. — Sie forderten demgemäss für die
Benutzung dieser Quellen zu Badezwecken unverhältnissmässig hohe Pachtsum¬
men und hinderten selbst Hospitäler die auf deren eigenem Grund und Boden
befindlichen Heilquellen zu benutzen. — Nachdem die verschiedenen Instanzen
zu Gunsten der Bergwerksbesitzer auf Grund der gesetzlichen Bestimmungen ent¬
schieden, wandten sich Magistrat und Stadtverordnete der Stadt Colberg mittelst
Petition an das Abgeordnetenhaus um Abänderung des Berggesetzes v. J. 1865.
In der Commission, in der diese Petition berathen, nahm die Mehrheit die
Möglichkeit an, die bestehende Gesetzgebung in dem Sinne des §. 57 des Berg¬
gesetzes dahin auszulegen resp. zu erweitern, dass der Bergwerkseigenthümer
verpflichtet werde, diejenigen Soolquellen, welche er nicht bergmännisch ver-
werthe, gegen Erstattung seiner Gewinnungskosten dem Grundeigentümer behufs
Anlage von Heilbädern zu überlassen. In diesem Sinne wurde die Petition der
Regierung zur Erwägung überwiesen.
Wir schliessen uns aus ganzer Ueberzeugung dieser Auffassung an, indem
wir es für nothwendig halten, dass diese Verpflichtung gesetzlich ausgesprochen
') Schürmayer, Handb. der med. Polizei. 1856. p. 386 Anm.
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UNIVERSUM OF IOWA
Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Heilquellen. 375
und so bei jeder Mutbung dem betreffenden Erwerber selbstredend auferlegt
wird. —
Nachdem wir bisher die Gesichtspunkte kennen gelernt, auf welche sioh die
sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Heilquellen zu erstrecken hat; nachdem
wir versucht haben, einer solchen Ueberwachung kurz die Mittel und Wege vor¬
zuzeichnen. auf denen die Aufgabe zu erreichen, erübrigt es nunmehr anzugeben,
wer denn die Ueberwachung ausüben soll.
Vorher ist es jedoch nothwendig, auf eine wichtige Frage aufmerksam zu
machen. Da der Heilquellenschutz, wie wir in der obigen Abhandlung gesehen,
— soll er überhaupt wirksam sein — oft tief einschneidende Massnahmen dem
Privateigenthum oder Institutionen von gemeinnützigem Charakter gegenüber
erfordert, so entsteht nothwendig die Frage, ob alle Heilquellen ohne Unter¬
schied den gleichen sanitätspolizeilichen Schutz gemessen sollen. — Man ist
anfänglich leicht geneigt, diese Frage ohne Weiteres zu bejahen. Bei näherem
Studium wird man jedoch bald einsehen, dass es einen Unterschied giebt, ob
Heilquellen bereits seit langer Zeit in Wirksamkeit waren, oder ob sie erst eine
solche beginnen wollen, oder ob sie trotz ihres Werthes vernachlässigt worden
und gar nicht zur Wirksamkeit gelangen.
Daher ist es dringend nöthig, eine irrthumsfreie Vorstellung von den Forde¬
rungen zu gewinnen, welche der Staat in erster Linie an die Heilquellen stellen
muss, denen er seinen vollen Schutz angedeiben lassen will. Hierfür bedürfen
wir eines in dem bezüglichen Sinne, so viel uns bekannt, von L. Lehmann 1 )
zuerst gebrauchten und auch in dieser Abhandlang bisher häufiger angewandten
Attributs der Heilquellen, nämlich des Attributs „öffentlich“.
Alle öffentlichen Heilquellen müssen einen gleichwerthigen sanitäts¬
polizeilichen Schutz geniessen, während die nicht öffentlichen der Ueberwachung
nicht entbehren sollen, aber in Fällen widerstreitender Interessen nicht gleich*
werthigen Schutz zu verlangen berechtigt sind.
Indem wir dasjenige, was wir unter „öffentlich“ verstehen, noch näher
auseinandersetzen werden, muss hier bemerkt werden, dass bisher in allen über
Heilquellenschutz existirenden Abhandlungen „öffentlich“ als mit dem Begriff
„gemeinnützig“ identisch aufgefasst wurde. — So sind z. B. die gesammelten
Vorträge von Dengler’-) zwar betitelt: „Ueber den Schutz der öffentlichen
Heilquellen.“ In den Vorträgen selbst dagegen ist nur von „gemeinnützig“,
„Gemeinnützigkeitserklärung“ u. s. w. die Rede. Ebenso in dem Bericht der
Justizoommission über die vom schlesischen Bädertage eingereichte Petition, den
Erlass eines Gesetzes zum Schutz „gemeinnütziger“ Heilquellen betreffend. 3 )
Es scheint das Wort „gemeinnützig“ aus der Uebersetzung des französischen
„intöröt public“ hervorgegangen zu sein.
„Gemeinnützig“ und „öffentlich“ sind aber keine sich deckenden Begriffe.
Es giebt z. B. gemeinnützige Einrichtungen, Anstalten, welche nicht „öffentlich“
sind. So sind Schulen, Krankenhäuser doch sicher gemeinnützig, aber nicht alle
Schulen, nicht alle Krankenhäuser sind öffentlich: es giebt Privat-Krankenhäuser,
Privat-Schulen. Der Unterschied beider Attribute beruht darin, dass in dem
*) Eulenberg’s üandb. d. öffentl. Gesundheitswesens. 1881. I. p. 241.
*) 1. c. *) 1. c.
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UMIVERSITY OF IOWA
376
Dr. E. Lehmann,
Falle der Oeffentlichkeit der Staat neben bestimmten Forderungen bestimmte
Garantien, in dem anderen Falle die Forderung, ohne seinerseits Garantien zu
bieten, stellt. Heilquellen, die nicht gemeinnützig sind, kenne ich nicht.
Aber nicht alle sind öffentlich.
Da nun, wie wir sagten, nur die öffentlichen Heilquellen in allen
Fällen vollen Anspruch auf staatlichen Schutz erheben dürfen, so muss eine
Heilquelle, welche einen solchen Schutz verlangt, in erster Linie nach weisen,
dass sie zu den als „öffentlich“ anerkannten gehört. — Diese Forderung stellte
mit Recht schon L. Lehmann 1 ), ohne auf die Erfordernisse einer Oeffentlich-
keits-Erklärung näher einzugehen.
Bevor nun Heilquellen öffentlich werden können, bedarf es des Nachweises
bestimmter zu prüfender Eigenschaften. — Letztere sind:
1) die chemische Zusammensetzung;
2) die physikalischen Eigenschaften;
3) gewisse technische Fertigstellung, als Quellenfassung, Leitung;
4) die geologischen Verhältnisse der Heilquelle;
5) die topographischen Verhältnisse, und zwar:
a) Umfang des Besitzes und des Eigenthums, in welchem die Heil¬
quelle aufgeschlossen; in welchem Abstand die nächsten Grund¬
stücke Dritter;
b) Charakter der Oertlichkeit der Heilquelle und ihrer Umgebung,
ob gesund oder nicht, ob die Nähe grosser Stadt, ob Grossindustrie
und Bergbau etc. benachbart.
Alle diese Punkte müssen sorgfältig geprüft werden.
Dass auch der 5te Gesichtspunkt sehr wesentlich ist, möge ein Beispiel
beweisen: Gesetzt, dass in unmittelbarer Nachbarschaft von Elberfeld—Barmen
eine Heilquelle erschlossen würde, so dürfte dieselbe nicht öffentlich erklärt
werden. Es würde einerseits der hygienische Charakter der Nachbarschaft für
eine mustergültige Benutzung der Heilquelle an Ort und Stelle ungeeignet sein.
Andererseits müssten die einer öffentlichen Heilquelle zu gewährenden Privilegien
voraussichtlich zu vielen Collisionen und begründeten Einsprachen der lange Jahre
daselbst bestehenden Industrie, der Ernährerin der gesammten dortigen Bevölke¬
rung, führen.
Die passende Oertlichkeit ist eine unerlässliche Forderung für die
Oeffentlichkeitserklärung einer Heilquelle. — Doch müsste im eben besprochenen
Falle die Benutzung der Heilquelle, wenn ihr Bositzer auf „Oeffentlichkeit“ für
dieselbe verzichten will, diesem ungestört anheimgegeben bleiben, ohne Präjudiz
für berechtigte Einspraohen Dritter. —
Es entsteht nun die Frage, wer denn die berührten Punkte vor der Oeffent-
iichkeitserklärung zu prüfen hat.
Da die Prüfung grosse Sachkenntniss in den verschiedensten Specialfächern
erfordert, so ist es nicht thunlich, einem Beamten die Aufgabe zuzuweisen. Es
ist vielmehr ein Collegium von Fachmännern als eine eigens zu diesem Zwecke
zu schaffende Behörde anzuempfehlen.
Die letztere muss bestehen aus einem Mitglieds, welches Chemie und Physik,
*) Eulenberg’s Handbuch 1. c.
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UMIVERSITY OF IOWA
Ueber die sanitätspolizeiliche Ueberwachung der Heilquellen.
377
einem, welches Bergbau und Geologie, einem, welches Balneologie und Hydro¬
logie vertritt, und deren Berathungen unter Vorsitz des Reichsgesundheitsamts-
Directors stattfinden.
Hiermit ist schon angedeutet, dass die genannte Behörde einen Theil des
Reiohs-Gesundheits&mts ausmacht. Als Bezeichnung dürfte sich Heil¬
quellen-Amt empfehlen.
Ich bemerke, dass auch L. Lehmann 1 ) auf eine aus dem Reichs-Gesund¬
heitsamt hervorgehende, die Quellen beaufsichtigende Commission hinweist.
Das Heilquellen-Amt stellt die überwachende Behörde sämmtlicher
öffentlicher Heilquellen dar.
Wird nun eine beantragte Heilquelle als für die OeffentlichkeitserkläruDg
geeignet beurtheilt, so wird darüber ein Zeugniss vom Heilquellen-Amt ausge¬
stellt. Unter Beifügung dieses Zeugnisses wird der Antrag auf Oeffentlichkeits-
erklärung der betreffenden Heilquelle beim Landraths-Amte gestellt, welch
letzteres nun das für Concession gewerblicher Unternehmen in der Gewerbe¬
ordnung d. d. 31 v 6. 1869 festgesetzte Verfahren einzuleiten und durchzu¬
führen hat.
Vorher hat jedoch noch der die Concession der Oeffentlichkeit nach¬
suchende Heilquellen-Besitzer die bindende Verpflichtung einzugehen, nach der
erfolgten Oeffentlichkeitserklärung diejenigen Einrichtungen zu treffen, welche
nach dein Gutachten des Heilquellen-Amts als dem Zweck der Quelle entsprechend
angesehen werden müssen. — Hat der Heilquellen-Besitzer nicht die erforder¬
lichen Mittel hierzu, oder unterlässt er nach erlangter Oeffentlichkeits-Concession
seinen Pflichten nachzukommen, so ist das Heilquellen-Amt binnen einer Prä-
clusivfrist berechtigt, den Erwerb der Quelle auf Kosten des Staates, sei es
durch freiwilligen Verkauf oder durch Expropriation, zu beantragen.
Dasselbe kann stattfinden, wenn eine Quelle von grossem Heilwerth ge¬
funden, deren Besitzer aber nicht zu bewegen, einen Gebrauch derselben zu
bewerkstelligen. —
Es empfiehlt sich sodann nach Vorgang der Franzosen Heilquellen-
Register anzulegen, in welche alle als öffentlich erklärten Heilquellen einge¬
tragen werden 2 ). Die Register befinden sich in den Registraturen der König¬
lichen Regierungen.
Mit der Eintragung in das officielle Register erhält die Heilquelle die für
sie nolhwendigen Privilegien und Rechte, auf die wir im Laufe der Abhandlung
als nothwendig schon hingewiesen und die durch ein eigenes Quellenschutz-
Gesetz festzustellen sind.
Diese den Heilquellenschutz darstellenden Rechte sind im Zusammenhänge
folgende:
1) Die Befugniss, das Eigenthum eines Dritten zu expropriiren, wenn dieses
für die Benutzung der Quelle nothwendig.
2) Macht die Fassung oder Leitung einer Quelle die Benutzung des Terrains
Dritter nothwendig. so darf diese (natürlich gegen volle Entschädigung) nicht ver¬
weigert werden.
') 1. c. p. 242.
s ) Eulenberg’s Handb. p. 245 (L. Leh mann).
Vi«r».rlj^hrsKchr. i. Rer. Med. N. F. XLIV. 2. 25
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UMIVERSITY OF IOWA
378
Dr. E. Lehmann.
3) In einem gesetzlich näher festzustellenden Quellenbezirke sollen gleiche
oder ähnliche Heilquellen nicht den Charakter der Oeffentlichkeit erhalten, da es
wünschenswert ist. die der Concurrenz eigene Zwietracht in diesem Falle fern¬
zuhalten.
4) Jede öffentliche Heilquelle wird vom Heilquellen-Amt unter Zuziehung
des Oberbergamts auf die Notwendigkeit und eventuell notwendige Grösse eines
Schutzbezirks gegen Bohrungen, Bergbau etc. geprüft. Erhält eine Quelle einen
solchen Schutzbezirk und ergiebt die officielle Beobachtung die Unzulänglichkeit
desselben, so wird der Bezirk nachträglich erweitert.
5) Das Heilquellen-Amt ist befugt, zu den Bergbau-Arbeiten in der Nahe
von Heilquellen einen die Verhältnisse beobachtenden Beamten zu senden, der über
jedes aussergewöhnliche Vorkommen sofort Bericht zu erstatten hat. Die Requi¬
sitionen des Heilquellen-Amts bei den Oberbergämtern müssen sofort Erledigung
finden.
6) Werden in der Umgebung von öffentlichen Heilquellen andere unter¬
irdische Arbeiten vorgenommen, so ist das Heilquellen-Amt befugt, die Sistirung
derselben auf Antrag des Besitzers sofort anzuordnen. Macht die folgende Prü¬
fung es klar, dass die Heilquelle durch jene Arbeiten beeinträchtigt wird in
ihrem Bestände, so dürfen dieselben nicht wieder aufgenommen werden. Der
gehemmte Unternehmer wird natürlich entschädigt; auf Wunsch des Letzteren
muss sein Terrain expropriirt werden.
7) Das Heilquellen-Amt lässt durch sachverständige Beamte jede öffentliche
Heilquelle nach ihrer constanten und variirenden Beschaffenheit beobachten. —
Beobachtet werden namentlich einmal jährlich Temperatur, spec. Gewicht, Ergiebig¬
keit der Heilquelle und was sonst an derselben sich Auffälliges erkennen lässt.
Es empfiehlt sich, über jede Heilquelle laufende Tabellen fortzuführen.
Alle Streitigkeiten werden auf dem Wege des * Verwaltungsstreitverfahrens*
entschieden. —
Für diese den öffentlichen Heilquellen gewährten Privilegien haben die
Besitzer folgende Verpflichtungen zu übernehmen:
1) Eine Contribution zu den öffentlichen Fonds, aus welchen die Besoldung
der für sie neugeschaffenen Organe bestritten wird, zu leisten.
2) Die Zustimmung zur Beaufsichtigung des Staates in einer ähnlichen Weise
zu geben, wie sie bereits für Apotheken-Revisionen besteht. Der revidirende
Beamte ist ein vom Heilquellen-Amt dafür zu deputirender, für die Sache der
betreffenden Heilquelle instruirter Beamter.
3) Die öffentlichen Heilquellen sind niemals ohne Zustimmung des Heil¬
quellen-Amts und des zuständigen Ministers ihrer öffentlichen Bestimmung zu
entziehen. — Ein Vermerk dieses Inhalts ist im Grundbuche des betreffenden
Besitzers einzutragen.-
Es ist der Erlass eines specieilen Heilquellenschutz-Gesetzes nach den
in dieser Arbeit entwickelten Principien dringend erforderlich.
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UNIVERSUM OF IOWA
4.
Die artesischen, Floss-, Duell- and Pamp-Wässer ven Hamborg
ond Umgegend.
(II. Abhandlung.)
Von
Dr. Niederstadt in Hamburg.
Die ersten Anfänge zur besseren Versorgung der Stadt mit Trinkwasser
sind, soweit es bekannt ist, im 15. Jahrhundert gemacht. Es bildeten sich
Interessenschaften, welche gemeinschaftlich Trinkwasserleitungen durch Röhren¬
leitungen in die Stadt hineinlegten. — Von diesen sogenannten Feldbrunnen¬
leitungen existiren bis auf die heutige Zeit nur noch zwei, beide etwa im
15. Jahrhundert angelegt: der Rödingsmarkt-Feldbrunnen und der Dammthor-
Feldbrunnen, welche ein stark verunreinigtes, namentlich salpelersäurehaltiges
Wasser liefern. — Es wurden Wasserkünste, mit Wasserrädern getrieben, in alter
Zeit angelegt und das Wasser dazu aus der Alster entnommen. Diese Wasser¬
künste gingen durch den grossen Brand von 1842 zu Grunde. In St. Pauli,
auf dem Grasbrook wurden in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts Wasserwerke
in Betrieb gesetzt, welche aus der Elbe schöpften. Nach der Einrichtung der
jetzigen Stadtwasserkunst in den fünfziger Jahren wurden die gesammten An¬
lagen von der städtischen Wasserkunst übernommen, welche im Jahre 1844 be¬
schlossen wurde, 2 Kilometer oberhalb der Stadt in Rothenburgsort anzulegen.
Nach 4 Jahren war der Bau dreier Ablagerungsbassins, der Bau des Maschinen¬
hauses und des Wasserthurmes in Angriff genommen. Ein jedes der jetzt vor¬
handenen Bassins misst 220,000 Qu.-Fuss Oberfläche und hat bei vollständiger
Füllung eine Wassertiele von etwa 12 Fuss. Das Wasser wird nun bei der Elbe
in die Bassins gelassen und fliesst ohne jede Hinderung direkt von der Elbe ein.
Der Consum des Wassers hat seit 1857 von 6 l / 2 Million Cub.-Meter auf
30 Millionen Cub.-Meter sich vergrössert. Während in den ersteren Jahren eine
8 tägige Ablagerung sich vollzog, die feineren erdigen Theile sich in dieser Zeit
zu Boden setzen konnten, ist bei dem jetzigen grossen Consum eine Klärung des
Wassers nicht mehr möglich, und findet es sich mit allen organischen und un¬
organischen Theilen verunreinigt, welche der Strom selbst mit sich führt. Der
Wasserverbrauch ist durch die Nichtanwendung von Wassermessern zu einer
Vergeudung geworden, welche nur ihre Erklärung durch die ausgedehnte An¬
wendung der Schwemmsiele findet, da hierdurch der Abfluss der bedeutenden
Wasserquantitäten stattfindet.
Hamburg verbrauchte
1873 pro Kopf täglich 193 Liter,
London
145 -
Berlin
- - - 80 -
Breslau
- - - 81 -
Altona
- - - - 87 -
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25*
Original from
UNIVERSITÄT OF IOWA
380
Dr. Niederstadt,
Die Stadtwasserkanst hat jetzt 6 Dampfmaschinen mit 17 Dampfkesseln
and 1000 Pferdekräften im Betriebe, und 4 Kornwall-Pumpmaschinen treiben
das Wasser in das Steigerohr und in den Thurm, welcher in der Mitte den ge¬
meinschaftlichen Schornstein für die gesammten Dampfkessel-Anlagen enthält,
wo das Wasser je nach Zweckmässigkeit Tags bis 40 Meter. Nachts bis 60 Meter
in die Höhe gepumpt wird und von wo sich endlich das Wasser in vier Haupt¬
speiseleitungen vertheilt.
Das Elbwasser, welches unseren Hausleitungen entströmt ohne jede Reini¬
gung, kann nicht ohne Filtration zum Hausgebrauch verwendet werden und
wird es fast überall vorher durch geeignete Filtrationsvorrichtungen gereinigt. In
dem Zustande, worin es sich befindet, ist es nicht geradezu gesundheitsschädlich,
nur unappetitlich, durch Filtration werden eine Menge suspendirter Thontheilchen
beseitigt und die organischen gelösten und ungelösten Theile auf eine geringe
Menge, 6—7 Theile in 100,000 Theilen, herabgemindert. Es wird eine Fil¬
tration durch Sand nach vorheriger Ablagerung beabsichtigt, welche etwa
6'/ 2 Millionen Mark inclusive aller Anlagekosten, der Hochreservoire, Filter-
anlagon. Röhrennetze kosten wird. Da jetzt Wassermesser nicht vorhanden, die
Wohnungen je nach dem Miethspreis lediglich zum Wassergeld beisteuern, ist
die oben bezeichnete Wasservergeudung, welche alle anderen Städte übersteigt,
möglich. Die grössere Menge der Brunnen, welche lange von der Bevölkerung
zu Trinkzwecken benutzt und als Gesundheitswässer bezeichnet wurden, sind als
stark verunreinigt längst bekannt, theils ganz ausser Benutzung gesetzt, und
dient das Elbwasser, welches durch Sandfiltration ein gesundes weiches Wasser
liefern würde, fast ausschliesslich jetzt der Benutzung.
Es sind hier eine Anzahl Brunnen und Quellen derartig gelegen, dass sie
entweder unmittelbar aus inficirtem Erdreiche entspringen oder auch Schichten
durchströmen, welche stark verunreinigt sind. Im Band XL. dieser Zeitschrift
(S. 123 u. f.) befinden sich Quellen wie die im botanischen Garten beschrieben,
bei der Gesagtes stattfindet.
Unsere 11 Hauptkircbhöfe, die 16,5 Hectar Raum umfassen und unmittelbar
dicht aneinander vor dem Thore liegen, enthalten einige Brunnen, bei denen die
Verunreinigung mehr oder weniger stattgefunden bat. Es folgen hier:
1) Der Brunnen vom Catharinen-Kirchhof:
Datum der Probenahme:
4. August 1885.
Temperatur des Wassers:
13°C.
Specifisches Gewicht:
1,002231.
Chlornatrium . . . .
.... 16,31
Chlorkaiium . . . .
.... 18,77
Kohlensaurer Kalk . ,
.23,14
Schwefelsaurer Kalk .
.... 87,41
Schwefelsäure Magnesia .... 7,50
Salpetersaures Natron
.... 14,88
168,01
Organische Substanzen
.... 37,90
205,91
Ammoniak
Salpetrige Säure
in quantitativ nicht bestimmbarer Menge.
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bv Google
Original frnm
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Die artesischen etc. Wässer von Hamburg und Umgegend.
381
Das Wasser zeichnet sich durch seine bedeutende Härte, grössere Menge
Salpetersäure und organischer Stoffe aus; auch wird die stattgehabte Verun¬
reinigung durch Leichentheile. durch die Menge des Magnesiasalzes klar erwiesen.
Das Wasser ist klar und geruchlos und hat einen geringen Bodensatz. Die mikro¬
skopische Untersuchung ergab eine Menge Krystallisationen von Qips, keine
Bacterien, keine Bacillen.
2) Der Brunnen vom St. Petri-Kircbhof:
Datum der Probenahme: 4. August 1885.
Temperatur des Wassers: 13,5°C.
Specifisches Gewicht: 1,000701.
Chlornatrium. 3,52
Chlorkalium. 4,47
Kohlensaurer Kalk.14,11
Schwefelsaurer Kalk ..... 8,97
Schwefelsäure Magnesia . . . 6,81
Salpetersaures Natron .... 12.35
50,23
Organisohe Substanzen . . . . 17.70
67,93
Eisenoxyd und Thonerde \
Ammoniak > in Spuren.
Salpetrige Säure t
Dieses Wasser beweist eben seine starke Verunreinigung durch die Menge
der Salpetersäure und die grössere organischer Körper, welche sich in ihr befindet.
Es ist daher als Trinkwasser zu verwerfen, und höchstens zum Sprengen und
Giessen zu verwenden. Das Aussehen desselben ist klar und farblos. Die mikro¬
skopische Untersuchung ergab keine lebenden Organismen.
3) Der Brunnen auf dem St. Nicolai-Kirchhof:
Datum der Probenahme: 21. August 1885.
Temperatur des Wassers: 14°C.
Specifisches Gewicht: 1,000972.
Chlornatrium.
8,75
Chlorkalium.
. 5.29
Kohlensaurer Kalk.
. 19.65
Schwefelsaurer Kalk ....
. 36,45
Schwefelsäure Magnesia . . .
3,84
Schwefelsaures Natron . . .
2,41
Salpetersaures Natron . . .
7,26
Eisenoxyd und Thonerde . .
0,82
Kieselsäure.
. 0,85
Organische Substanzen . . .
85,32
. 16,67
Ammoniak .
101,99
1,31
Salpetrige Säure.
0,71
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Gck igle
Original frnm
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382
Dr. Niederstadt.
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In diesem sehr harten Wasser finden sich viel salpetersaure Salze, salpetrige
Säure und Ammoniak, was auf sehr starke Verunreinigung durch Zersetzung
organischer S.ofle schliessen lässt. Es eignet sich daher nicht zum Genuss. Das
Wasser ist färb- und geruchlos und wenig getrübt durch suspendirte Flocken,
welche sich beim Stehen absetzen. Die mikroskopische Untersuchung ergab
wenige undeutliche Krystalle und einzelne Bacillen und Bacterien.
4) Der Brunnen auf dem St. Gertrud-Kirchhof:
Datum der Probenahme*.
21. August 1885.
Temperatur des Wassers:
1 3.5°C.
Specifisches Gewicht:
1,001062.
Chlornatrium . . . .
.... 3,35
Chlorkalium . . . .
.... 1,91
Kohlensaurer Kalk . .
.... 31.93
Schwefelsaurer Kalk .
.... 40,52
Schwefelsäure Magnesia ... 3.36
Schwefelsaures Natron
.... 6,23
Salpetersaures Natron
.... 11.32
Eisenoxyd und Thonerde . . . 1,40
Kieselsäure . . . .
.... 0,78
100,80
Organische Substanzen
.... 17,91
118,71
Ammoniak . . . .
.... 0,30
Salpetrige Säure . .
.... 0,42
Dieses Wasser ist ebenfalls durch viel salpetersaure Salze, salpetrige Säure
und Ammoniak stark verunreinigt und muss als Wasser zum Genuss für Menschen
verworfen werden. Es ist färb- und geruchlos und getrübt durch suspendirte
Flocken, die nach längerem Stehen einen starken Bodensatz bilden. Die mikro¬
skopische Untersuchung ergab Krystallisationen von Gips, wenig organische Ge¬
bilde. keine lebenden Organismen.
5) Der Brunnen auf dem Kath. Begräbnissplatz:
Datum der Probenahme: 21. Aug. 1885.
Temperatur des Wassers: 12,5°C.
Specifisches Gewicht: 1,001106.
Chlornatrium.
3,81
Chlorkalium.
4,84
Kohlensaurer Kalk.
7,11
Schwefelsaurer Kalk.
44,03
Salpetersaurer Kalk.
5,82
Schwefelsäure Magnesia . . .
5,85
Salpetersaures Natron ....
11,04
Eisenoxyd und Thonerde . . .
0.90
Kieselsäure.
0,75
84,15
Organische Substanz .
Gck igle
. . 11,06
95,21
Original frn-m
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Die artesischen etc. Wässer von Hamburg und Umgegend.
383
Ammoniak. 0,55
Salpetrige Säure. 0,02
Dieses Wasser ist auch durch salpetersaure Salze, Ammoniak und salpetrige
Säure verunreinigt und zum Genuss nicht zu verwenden. Es ist klar, färb- und
geruchlos und hat organischen Bodensatz. Die mikroskopische Untersuchung
ergab zahlreiche Krystalle von Gips und sehr viel organische Stoffe in fein zer-
theiltem Zustande; Bacillen, Bacterien und lebende Körper sind nicht vorhanden.
6) Brunnen bei Schiewer, Grindel-Allee 71:
Datum der Probenahme: März 1885.
Temperatur des Wassers: 13°C.
Specifisches Gewicht: 1,00143.
Chlornatrium. 5,265
Schwefelsaurer Kalk .... 19,040
Kohlensäure Magnesia .... 2,255
Schwefelsäure Magnesia . . . 0,349
Kohlensaures Natron \ . ,
Kohlensaures Kali / ’ * * ' ’
Eisenoxyd und Thonerde . . . 0,800
Kieselsäure. 0,650
43,444
Organische Substanzen . . . 3,476
46,920
Die Zusammensetzung dieses Wassers zeigt, dass es weiter nicht inficirt ist.
Der hohe Gehalt an Gips bewirkt die Härte desselben. Die sonstigen Merkmale
für ein durch jauchige Abflüsse verunreinigtes Wasser sind nicht vorhanden. Es
ist nicht zu beanstanden. Obgleich es mit dem Dammthor-Feldbrunnen, der
durch Magnesia, salpetrige und Salpeter-Säure stark verunreinigt ist, in der¬
selben geognostischen Schicht liegt, zeigt es nicht dieselben Eigenschaften. Die
mikroskopische Prüfung ergab Abwesenheit von lebenden Organismen und zeigte
nur organischen Absatz. Das Wasser ist klar und farblos.
7) Pumpbrunnen bei Heeschen, heim kleinen Schäferkamp. Das Terrain
in dieser Gegend ist meist Sand. Circa 13 Meter tiefes Wasser:
Datum der Probenahme: Februar 1885.
Temperatur des Wassers: 12°C.
Specifisches Gewicht: 1,0009269.
Chlornatrium. 4,680
Schwefelsaurer Kalk .... 12,240
Schwefelsäure Magnesia . . . 3,000
Schwefelsaures Natron . . . 3,170
Kohlensaures Natron ) R{ ,„
Kohlensaures Kali / * * ’ b,byd
Eisenoxyd und Thonerde . . . 0,650
Kieselsäuie. 1,150
31,583
Organisohe Substanzen . . . 2,844
34,427
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384
Dr. Niederstadt,
Mikroskopischer Befund: amorphe organische Substanzen, keine lebenden
Organismen. Das Wasser ist klar und farblos.
8) Pumpbrunnen von Holst, Altona, Holstenstr. 77:
Die Bohrungen in dieser Gegend ergaben folgendes Resultat: bis 33 Mtr.
Thon, dann eine 2'/ 2 Mtr. starke Schicht Sand mit Wasser, darauf bis 61 Mtr. tief
Thon und bis 125 Mtr. Thon theils fest, theils mit Sand, bis 150 Mtr. feiner und
grober Sand, in dem eine Braunkohlenschicht eingeschlossen ist.
Datum der Probenahme: Marz 1885.
Temperatur des Wassers: 14°C.
Specifisches Gewicht: 1,00103.
Chlomatrium. 5,850
Schwefelsaurer Kalk .... 19,844
Kohlensaurer Kalk. 7,113
Kohlensäure Magnesia .... 1,900
Kohlensaures Natron \ _ . _ _
Kohlensaures Kali / ' ’ ’ >0
Eisenoxyd und Thonerde . . . 2,400
Kieselsäure. 1.200
45,760
Organische Substanzen . . . 3,950
49,710
Die mikroskopische Untersuchung ergab: organische amorphe Körper, orga¬
nischen Absatz und Krystalle der Salze des Wassers, welches klar und farblos ist.
9) Wasser aus dem Brunnen am Heiligen Geistfeld, Eimsbiittelerstrasse:
Die in jener Gegend vorgenommenen Bohrungen ergaben bis 160 Mtr. Thon¬
schichten mit Sand und festerem Gestein abwechselnd, darauf 1 5 Mtr. Sand mit
einer Braunkohlenschicht von 1,5 Mtr. Dicke.
Datum der Probenahme: Ende Juni 1884.
Temperatur des Wassers: — —
Specifisches Gewicht: — —
Chlornatrium ..
2,210
Kohlensaurer Kalk ....
8,460
Kohlensäure Magnesia . . .
0,060
Schwefelsaures Natron . . .
9.840
Kohlensaures Natron . . .
8,460
Eisenoxyd und Thonerde . .
1.400
Kieselsäure.
0.600
31.030
Organische Substanzen . .
1,900
32,930
Ammoniak.
0,0
Salpetersäure ) . 0
Salpetrig. Säure / ,n S P ur ™
vorhanden.
Mikroskopischer Befund: humusartige, organische, zusammenhängende
braune Substanzen, reichliche Krystallisationen.
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Die artesischen etc. Wässer von Hamburg und Umgegend.
385
10) Quelle am Müllernthor, auf dem Platz der Gartenbau-Ausstellung:
Datum der Probenahme: Ende Juni
Temperatur des Wassers: — —
Specifisches Gewicht: — —
1884.
Chlornatrium.
1.210
Kohlensaurer Kalk.
9,400
Kohlensäure Magnesia ....
3.200
Kohlensaures Natron ....
9,350
Schwefelsaures Natron . . .
9,210
Eisenoxyd und Thonerde . . .
1,300
Kieselsäure.
0,500
34,170
Organische Substanzen . . .
1,580
35,750
Ammoniak.
0,0
Salpetersäure \ . _
Salpetrige Säure J in P uren>
11) Trinkwasser von Borgfelde, sog. Gesundbrunnen an der Borgfelderstr.:
Datum der Probenahme: Ende Mai
Temperatur des Wassers: 12°C.
Specifisches Gewicht: — —
1884.
Chlornatrium.
10.50
Schwefelsaurer Kalk ....
29.10
Schwefelsäure Magnesia . . .
6.30
Salpetersaure Magnesia . . .
0,50
Kohlensäure Magnesia ....
16,40
Eisenoxyd und Thonerde . . .
1,20
Kieselsäure.
1.80
65,80
Organische Substanzen . . .
5.0
70,80
Mikroskopischer Befund: sehr geringe organische Gebilde, keine Bacterien,
keine lebenden Organismen. Kryslalle von Gips.
12) Wasser aus dem Brunnen dicht am Lübecker Bahnhof, am Schienenstrang:
Die Bohrungen in der Nähe dieser Gegend
hatten folgendes Resultat: bis
8 Mtr. Lehm, von da bis 25 Mtr. Sand, dann bis circa 70 Mtr. Thon, in dem
Braunkohlen enthalten; bis 90 Mtr. wieder Thon mit Sand, in dem sich zahl¬
reiche Muscheln, auch ein Stück Bernstein fanden; bei 90 Mtr. ist Wasser, bis
180 Mtr. Sand und Thon, von dort bis zu einer Tiefe von 200 Mtr. Sand, der
mit viel compacter Braunkohle durchsetzt ist.
Datum der Probenahme: 7. Juli 1884.
Temperatur des Wassers: 11°C.
Specifisches Gewicht: — —
Chlornatrium. 1,20
Kohlensaurer Kalk. 8,20
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UNIVERSITÄT OF IOWA
386
Dr. Niederstadt,
Kohlensäure Magnesia .... 0.60
Kohlensaures Natron. 6,90
Schwefelsaures Natron .... 7,40
Eisenoxyd und Thonerde . . . 1.00
Kieselsäure. 0.50
25.80
Organische Substanzen .... 2,00
27.80
Ammoniak. 0,0
Salpetersäure
Salpetrige Säure
Mikroskopischer Befund: keine organisohen Gewebe, keine Baclerien und
lebenden Organismen. Das Wasser ist klar.
Im Anschluss an diese Wasser-Untersuchungen möchte ich auf einen Uebel-
stand aufmerksam machen, nämlich die Verunreinigung der Alster durch die ver¬
schiedensten Abflusswässer der Fabriken, Brennereien u. s. w., die bei zweck¬
mässigen Einrichtungen noch nutzbringend sein können, wie man dies leicht aus
den Anlagen des Herrn Helbing in Wandsbeck ersehen kann.
Die Abflusswässer der Brennerei jenes Herrn hinter Wandsbeck an der Zoll¬
strasse flössen früher direkt in die Wandse ab. Dieses weisslich aussehende, mit
trübem, flockigem Inhalt versehene Hefewasser, welches in Folge der Hefe in
Gährung tritt und einen unangenehmen Geruch verbreitet, enthält die Eiweiss¬
stoffe in einer für die Pflanzen leicht assimilirbaren Form, wie diese Eiweissstoffe
auch in der Ernährungslehre der Thiere eine so wichtige Rolle spielen.
Die Untersuchung dieses Hefewassers ergab in 100 Theilen 0,0945 Grm.
Rückstand, bestehend aus organischen Stoffen, namentlich Hefebestandtheilen
und Stärketheilchen mit einem Stickstoffgehalt von 0,184 Grm. und 0,006 Fett
und folgenden anorganischen Bestandtheilen:
Chlornatrium . .
0.00468
Kalk .
0,01130
Schwefelsäure . .
0,00567
Phosphorsäure . .
0,00169
Kali .
0,00430
Magnesia ....
0,00131
Dieses Wasser mit so vielen Nährstoffen wird nun mittels einer Dampf¬
maschine von 8 Pferdekräften auf das sog. Königsland, ein Grundstück jener
Brennerei, abgeleitet, welches wie die Rieselfelder vieler Städte im Grossen, so im
Kleinen angelegt ist. Der Boden absorbirt die meisten Nährstoffe und das aus
den Drains abfliessende Wasser ist nur noch von schwacher Farbe, frei von
salpetriger und Salpeter-Säure, mit nur wenigen Spuren Ammoniak und derart
von organischen Stoffen befreit, dass es auf seinem Verlauf nicht mehr schädlich
wirken kann. Unter diesen Einrichtungen, welche das überschüssige Wasser
stets abführen, die richtige Zuführung von Nahrung an die Pflanzen also veran-
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Die artesischen etc. Wässer von Hamburg und Umgegend. 387
lassen, unter Vermeidung des schädlichen Einflusses eines zu feuchten Bodens,
gedeihen aui diesem Ackerland alle möglichen Feldfrüchte aufs Besto.
Auch sind seitens des Staates einige Anlagen gemacht, z. B. bei der Straf¬
anstalt in Fuhlsbüttel, bei dem Krankenbans in Friedrichsberg, dem Werk- und
Armenhaus in Barmbeck, um die Abwässer zu verwerthen, jedoch haben diese
Anlagen in Folge nicht zweckmässiger Einrichtungen und ungünstiger Boden¬
verhältnisse bis jetzt nicht den gewünschten Erfolg.
Es schliesst sich hier an eine Untersuchung des Seewassers an der Düne
von Helgoland von der Oberfläche entnommen, welche sich anderweitigen Unter¬
suchungen der Nordsee ähnlich verhält.
Dieses Salzwasser hat eine tiefblaue Farbe, ist klar und brechen sich die
Wogen weiss schäumend an dem Strand. Es sind eine Menge zoologischer Specia-
litäten dort vorhanden, Infusorienthierchen etc. Der Salzgehalt ist wechselnd
beim Meerwasser, abhängig von den Zuflüssen, sich vermindernd in der Nähe des
Festlandes, selbst an den Küsten kleiner Inseln; nimmt in vielen Fällen mit der
Tiefe des Meerwassers an Gehalt zu.
Das Resultat ist:
Temperatur des Wassers: 15°C.
Specifisches Gewicht: 1,0258.
Trockenrückstand in 100,000 Theilen: 3504 Theile.
100 Ccm. Wasser enthalten:
2,672 Theile Chlornatrium,
0,488 - Chlorcalcium,
0,042 • Schwefels. Kalk,
0,156 - - Magnesia.
0,136 - - Kali,
0,010 - Bromnatrium,
3,504
Es finden sich eine Anzahl Algen, besonders Fucus-Arten, dort reichlich,
welche Jod absammeln.
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5.
Die verschiedenen Bestattnngsarten menschlicher Leichname)
vom infange der Geschichte bis heute.
Von
Medicinalrath Dr. Friedrich Küchenmeister.
(Fortsetzung.)
2. Abschnitt: Die LeielienVerbrennung in festen, mehr weniger voll¬
kommen pyrotechnisch construirten Verbrennungsöfen. ')
1. Abtheilung.
1. Periode: Spuren solcher Oefen in der römischen Kaiserzeit.
Ich halte es für am geeignetsten, zunächst folgende Notiz in
Uebersetzung mitzutheilen aus „Atti della B. academia dei Lincei
(der Luchse), anno CCLXXVII. 1879/80, Serie Terza; Memorie della
classe di scienzi morali, storiche e filologiche Vol. V, Roma oovitypi
del Salviucci 1880, p. 87, 88, Tafel VIII, Fig. 13, 14.“ „Notice dagli
scavi di antichitä nel mense di octobre 1879, von G. Fiorelli.“
„VII. Cenisola (di Calice, Ligurien, bei Podenzana): Ausgrabungen vor
1878. Allo Gräber waren Behälter für Asche (cenerarii = Urnengräber); sie
waren aus 6 Platten eines am Orte befindlichen thonigen Gesteines construirte
Hohlbauten (costrutti a cassetta), mit Ausnahme von zweien, welche, anstatt aus
Platten aus 6 grossen Ziegeln von der gewöhnlichen, römischen Form angefertigt
waren. Die Platten waren etwa ebenso gross wie die Ziegel und diese sowol wie
jene derartig angeordnet, dass eine don Boden, die andere den Deckel und die
Seitenwnnde des Grabes bildeten. Alles war umgeben und bedeckt mit einem
Steinhügel, der nach allen Richtungen etwa */ 2 Mtr. erreichte; über den Steinen
war etwas Erde ausgebreiiet. Weder in den Gräbern, noch um dieselben fanden
sich Ueberreste von einem Rogus mit Ausnahme der in den Urnen befindlichen
verbrannten Knochen. Aber immer machte sich ein grosser Stein auf des Feldes
Oberfläche bemerk lieh, der einem darunter befindlichen Grabe entsprach. Aus
allen diesen Umständen ersieht man, dass bei der Bestattung eine 1 — 1 ’/ 2 Mtr.
im Quadrat breite und eine ca. 1 Mtr. tiefe Grube gegraben wurde. Id der Mitte
') Zufällige Verbrennungen bei Häuser- oder Strassenbrändeu sind nicht mit
eilige:eiht. Man hat sie als Zu- und Unglücksfälle zu betrachten. Nach den
meisten Berichten findet man die Leichen unter dem Brandschutt als zusammen¬
geballte, unkenntliche Kohlenkluinpen wieder. Es hat also hier nur Verkohlung,
nicht Verbrennung stattgefunden.
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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname.
389
dieser Grube errichtete man den Begräbnissraum (la cassa sepolcrale), den man
aussen mit Steinen umgab. Nachdem die Urne nebst den andern sie begleitenden
Gegenständen auf den Boden gesetzt und das Grab (la cassa) mit der letzten
grossen Platte (lastrone) bedeckt war, wurde die Grube mit anderen Steinen
(sassi) und endlich mit Erdo überschüttet. Hierauf brachte man auf denselben
einen grossen Gedenkstein (pietra), um den Ort für die von den Hinterlassenen
darzubringenden Werke der Pietät (pietä) zu bezeichnen.
Die Gräber waren weder in regelmässigen Reihen, noch in gleichen Ent¬
fernungen von einander angeordnet, sondern hier und da in Gruppen vertheilt:
einige von ihnen waren zu gleichem Zwecke in die Felswand eingelassen, die
von W. her den Begräbnissplatz einscbliesst. Oie 2 Ziegel befanden sich da,
wo die grössere Zahl von ihnen vorhanden war, fast im Centrum. Das Erdreich
der Gräber enthielt weder Scherben (cocci), noch Thierknochen; und es ist daraus
ersichtlich, dass hier keine Leichenmale (pasti funebri) abgehalten wurden. Auch
Kohlen waren hier selten; doch fanden sie sich an ca. 3—4 Stellen zwischen den
Gräbern angehäuft. Der auf der Westseite bemerkenswertheste Haufen füllte bis
zur Hälfte ein rundes, concaves Loch (buca), das ca. 1 Mtr. Durchmesser und
etwa eine gleiche Tiefe hatte. Unter den Kohlen lag Asche, über denselben
Steine und Erdo.
Es könnte dieser Kohlenbehälter (carbonaia) späteren Datums als die
Gräber sein. obgleich niemals etwas auch nur Aehnliches in ihrem Innern ge¬
funden worden war (sebbene mai simil cosa siasi trovata lä intorno); es
fanden sich jedoch an der entgegengesetzten Seite, gegen Osten, offenbar
Spuren eines Ofens, den man als antik ansehen muss (Taf. VIII,
Fig. 13, 14). Er halte eine viereckige Form, ca. V 2 Meter per Seite
und wurde von 3 Seiten von einer etwas über 1 2 Meter hohen Wand
von Steinen eingeschlossen, die noch Sp uren (Zeichen) von Feuer
an sich trugen. Im Innern fand sich sehr schwarze und schmierige
Erde; auf dieser lagen Stücke einer 3 Ctm. dicken, aus gebranntem
Thon bestehenden, schwarzen Platte (lastra cotta), die so con-
sistent waren, dass keine Kraft ausreichte, sie mit den Händen zu
zerbrechen. Diese Platte war von vielen kleinen Löchern durch¬
bohrt; wahrscheinlich hatte sie auf den Steinen geruht, und war
der Rost des Ofens, über welchem sich eine Schicht Kohlen und
dann Erde hinzog. so dass der Bau bis zur Tiefe von ca. 1 Meter
hinabreiebte (sieche la costruzione discendeva alla profondita di oa. 1 metro).
Ein Ofen zum Kochen von Speisen konnte auf diese Weise (cosi) nicht unter der
Erde eingescblossen sein; auch konnte Fiorelli aus der Beschreibung
der Ausgrabenden nicht folgern, dass das Terrain vor ihm offen
gewesen wäre. An einer andern Stelle habe ich schon bemerkt, dass Leichen-
schmause auf dem Bestattungsplatze nicht abgehalten wurden. Ich halte
dieses Oefchen (Fornello) daher für ein Ustrinum. Der Rost konnte dazu
gedient haben, die weichen Theile des Leichnams abfliessen zu lassen und die
Reste der zu sammelnden Knochen (über der Rostplatte) zurückzuhalten. Die
Aschen und Kohlenmassen konnte man in ein Loch, wie es vorhin beschrieben
worden (buca), begraben oder sie mittelst der vom Regen entstehenden Strömung
nach abwärts hinunter spülen lassen.“
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390
Dr. Fr. Küchenmeister,
Wenn ich diesen Ofen in die Kaiserzeit und zwar die Nero’s
setzte, so geschah dies deshalb, weil auf p. 86, wo Ausgrabungen in
Cenisola von 1877 besprochen wurden, Fiorelli bei den in den da¬
selbst besprochenen Gräbern gefundenen Münzen von einer der Sage
nach versenkten „Corona di Nerone“, wenn auch scherzend, spricht.
Castelfranco scheint, wenn ich ihn richtig verstanden habe, auch an
die Möglichkeit von Leichen Verbrennungen in deren aufrechter (verti-
caler) Stellung im Alterthume zu denken. In verticaler Stellung
verbrannte man in den Culinen die an den in deren Mitte befind¬
lichen Mastbäumen mit Nägeln befestigten Leichen. Es wäre also
immerhin möglich, dass die Alten auch in einem besonderen Ofen
obiger Art die Leichen vertical zu verbrennen gesucht hätten *).
2. Periode: Verbrennungsöfen zu Begräbnisszwecken im Mittelalter.
Man vergleiche (S. 325 des vorigen Bandes) die kurze Notiz Pini’s
über das Crematorium, das 1298 bei dem Hospital „Utini“ in Udine
bestand. Auch in Hostin in Böhmen ist ein einem Backofen ähn¬
licher Ofen wahrscheinlich aus gleicher Zeit aufgefunden worden, der
jedenfalls zu Leichen Verbrennung gedient hatte.
3. Periode: Die Verbrennung in Oefen mit zerkleinertem Holze und
durch chemische, sich selbst im Feuer entzündende Substanzen;
die kurze Zeit von 1869 bis Mitte 1873.
Am 10. März 1869, am 20. Januar, 18. und 25. Februar, sowie
am 15. März 1870 stellte Ludovico Brunetti, Prof, der patholo¬
gischen Anatomie zu Padua, seine ersten Versuche von Verbrennung
menschlicher Leichen in seinem, mit kleingespaltenem Holze gespeisten
Reverberirofen an. Dadurch dass Brunetti ein Modell seines Ofens
und die bei seinen Versuchen gewonnene Asche auf der Wiener Welt¬
ausstellung 1872 ausstellte und daselbst seine kleine Schrift: „La
cremation des cadavres“, an deren Spitze sich die Worte des 19. Verses
des 3. Capitels des I. Buch Mosis 2 ): „Pulvis es, et in pulverem re-
verteris“ und das Distichon Occioni’s:
*) Ich benutze diese Stelle, um ausdrücklich zu betonen, dass, wenn man
auch in Cenisola und anderwärts Urnen-Nccropolen errichtete, die Urnenfelder der
einst in Mitteldeutschland wohnenden und Leichen verbrennenden Völker ganz
anders construirt waren. Hier stellte man die Urnen gruppenweise nebeneinander
in Ein Urnengrab.
*) Der mosaische Spruch lautet wörtlich: „Und im Schweisse Deines Angesichts
sollst Du Dein Brod essen, bis dass Du kehrest zur Adamah, von der Du genom-
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Die verschiedenen Bestattungsarten der menschlichen Leichname. 391
Vermibns erepti puro consumimur igne,
Indocte vetitum mens renovata petit')
befanden, an die Besucher vertheilen liess. wurde gerade er der Haupt¬
verbreiter der Lehre von der Feuerbestattung.
1871 hatte Golfarelli sich für die Feuerbestattung ausgesprochen.
1872 am 12. Juni und 12. Septbr. hatten Jean Polli, der be¬
rühmte Professor der Chemie, und Prof. Claricetti thierische Körper-
theile im Leuchtgase verbrannt und zwar nach einer eigenen Modification
der Verbrennung und hiervon Mittheilung an das Lombardische Institut
der Wissenschaften gemacht. Letzteres schrieb in Folge dessen am
1. August 1872 einen Preis über die Leichenverbrennungsfrage aus,
(dessen ersten Polli, der sich selbst bei der Preisbewerbung betheiligt
hatte, im Jahre 1877 erhielt, d. i. 844 Lire für den Preis Secco Comneno).
1872 am 16. Decbr. wendete sich Polli an die italienische Regie¬
rung mit dem Gesuche: „es möge Italien mit der Feuerbestat¬
tung, diesem wirklichen Fortschritte der Civilisation, den
anderen Ländern vorangehen.“
1872 (am 9. April, 17. und 20. August und 7. Septbr.) verbrannte
Paul Gorini in Lodi Theile menschlicher Leichname in seinem geheim
gehaltenen „Liquide plutonique.“
Schon Ende 1871 hatte ich (K.) in meinem „Lehrbuche von der
Verbreitung der Cholera“ die Feuerbestattungsfrage in Deutschland von
Neuem angeregt, und empfahl sie besonders bei Epidemien, wie Cholera,
als Schutz gegen die Weiterverbreitung der Seuchen, bezüglich daran
Verstorbener, sowie ich auch rieth, die flüssigen Dejecte bei Cholera,
Ruhr, Typhus in Sägespänen und die Borken und Desquamations-
producte bei Hautkrankheiten durch Zusaramenkehren zu sammeln und
zu verbrennen, und dabei von Gestattung facultativer Feuerbestattung
sprach.
Im selben Jahre treten für die Feuerbestattung ein: J. E. Neild,
E. A. Parkes (in seiner Hygieine), Gaetan Pini (Gazette de Milano
men bist; denn Du bist Aphar, und Apbar sollst Du werden (oder zu Aphar kehrest
Du zurück). 1 * Nun ist aber Adamah der aus seinen Atomen congloraerirte feste
Erdboden und Aphar sind die Erdatome = der Erdstaub, der den festen Erdboden
zusammensetzt. Es biesse also etwa so viel, als: Du, Mensch bist lebend ein
festes Conglomerat von Erdatomen, und sollst sterbend wieder zerfallen in Erd¬
atome (Staub).
1 ) „Den Würmern entrissen werden wir in reinem Feuer verzehrt; der wieder
erneuerte (erweckte) Verstand erstrebt das ohne Klugheit Verbotene.“
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392
Dr. Fr. Küchenmeister,
und la Sant6 de Genes), Antoine Moretti (Annalen der Chemie,
dieser selbst als Dichter), Flavio Valeroni, Cesar Musattis,
Ayr, du Jardin.
1872 Novbr. interpellirle Amato Amati den Mailänder Stadtrath
über seine Stellung zur Feuerbestattungsfrage.
1873 adoptirte zwar die italienische Kammer den neuen Code
sanitaire nicht, aber Maggiorani hatte doch bei den Verhandlungen
im Senate trotz der Gegenreden Lanza’s und Burci’s erreicht, dass
der Antrag auf facultative Feuerbestattung im Princip genehmigt und
an eine Commission verwiesen wurde.
Unter den Italienern sind weiter ausser den Genannten zu nennen:
Anelli, Giacchi, del 1 ’ Acqua, de Pietra Santa, Laura, ein
Ungenannter in »Salute Genova“, Polizzi, Ferrari.
Auch in Deutschland wurde der Kampf lebhafter in „für“ und
„gegen“ durch Kräl (philosophische Betrachtungen über die Auf¬
erstehung), Mauchot (Prediger in Bremen), Fleck (Kirchhofwässer);
in England wurde durch Thompson, und selbst in Australien
durch Neil in Melbourne die Frage gleichfalls angeregt.
4. Periode: Die Verallgemeinerung der Feuerbestattung in Folge von
Verwendung von Gasen und erhitzter atmosphärischer Duft;
von Mitte 1873 bis heute.
1874. Nachdem am 13. Juli Betti und Teruzzi nach dem
Systeme Dujardin eine menschliche Leiche verbrannt hatten, wurde
durch Gesetz vom 22. Juni 1874 die Feuerbestattung in Italien als
erlaubt anerkannt und in’s Reglement vom 6. Septbr. 1874 eingestellt;
doch musste für jeden Einzelfall die Erlaubniss der Feuerbestattung
vom Minister des Innern eingeholt werden.
Wir begegnen i. J. 1874 21 Schriftstellern für Feuerbestattung:
Ayr, Bondielli, Grosoli, Montegazza, Boceardo, Cajus Pey-
rani, Charles Foldi, Bernardin Biondelli, Melscns, Musatti,
Roboletti, de Tedesco, Brunetti, deil’ Acqua, Pisani, Rodolfi,
de Pietro Santa, Montegazza, Delitala und einem Uebersetzer
meiner Schrift.
Besonders treten nun die Deutschen (23) in den Vordergrund
mit Ullersperger, Baginsky, Bernstein, Elischer, E. Richter,
Volkmann (Begräbniss), Roth (2mal Begräbnissplätze), Unger,
Reel am (4mal in Gartenlaube, wie seine Arbeit auch in’s Französische
übersetzt wurde), Althert (Pfarrer), ich selbst (6mal und einmal
in’s Italienische übersetzt), Moschkau, Stein mann (mit einem Ver-
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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname.
393
brennungsapparate), v. Dücker (gegen Feuerbestattung), desgleichen
v. Hellwald, v. Steinbeiss (mit einer neuen Bestattungsart), Katz
(Stellung der Juden zur Feuerbestattung), Lange (Prof, der kathol.
Theologie in Bonn), Brunnhofer, Stanek (neue Bestattungsart),
Mohr (Schrift gegen Feuerbestattung), Fischer, Scholl und ein Paar
Ungenannte in Schriften aus Rahmer’s Verlag, die Leipz. illustr. Zeitung,
Siesta, Beiblatt zum Frankfurter Beobachter, sowie Fleck (Kirchhof¬
wässer, Gräbergase, Beiträge zur Leichenverbrennungsfrage). Mehrere
der Autoren sind mehrmals vertreten.
In der Schweiz wurde die Feuerbestattungsfrage besonders da¬
durch angeregt, dass auf dem Kirchhofe „an der hohen Promenade
in Zürich“ die Leichen in ihren Gräbern unverwest und in Adipocire
verwandelt gefunden wurden. Von Autoren sind zu nennen: Weg-
mann-Ercolani, Weith, Goll, Lang, Heim und der Züricher
Congress der Freunde der Feuerbestattung vom 7. und 10. März 1874.
In Oesterreich behandelte der Wiener Gemeinderath am 6. Febr.
1874 (und später wiederholt, wie auch der Landtag des Erzherzog¬
thums Oesterreich) die facultative Feuerbestattung bei Gelegenheit der
Errichtung eines neuen Friedhofes in Wien; kurz darauf that dies auch
die kaiserliche Academie der Medicin. Am lebhaftesten verwendeten
sich unter den 7 Autoren dafür der Bezirksarzt (Kreisphysikus) von
Wien Dr. Innhäuser, Dr. Vitlacil, Adler, Neustadt, Lanisi,
Stanek und ein gewisser H—n.
In England finden wir 12 Autoren: Sir Henry Thompson
(3mal), Eassie, Frazer, Holland, Bernays, Blyth, den angli-
canischen Bischof Wordswoth von Lincoln (in seinen Predigten),
Touth Suker, A. Rolleston, Wheelhouse und Autoren in ver¬
schiedenen Nummern der Medical Times and Gazette.
Von französischen Autoren sind zu nennen: Prosper de
Pietra Santa, Sales-Girons, Devreux, Temtarier, Fossa-
grives, Fonteret, du Camp, Dorvant, Cherean, Bouchardat,
ein Uebersetzer Reclam’s und verschiedene Artikel in Union me-
dicale und Annales d’hygiene, sowie ein Bericht über die Feuer¬
bestattungsfrage an den Minister Waddington.
In Belgien finden wir ausser Cröteur, Henri Berge und
M. A.Prins; in Holland: van der Heggezij ven, einen Uebersetzer
Wegmann’s und die Zeitschriften Genees Courant und Neve
Rotterdamske Courant; in Spanien: de Monilla, Vergas,
Gilroann; in Nord-Amerika: Hoffmann (Philadelphia), Brinton,
VierteIJahrucbr. f. ger. Med. N. F. XL1V. 2. 26
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394
Dr. Pr. Küchenmeister,
Bayles, wie auch die Medic. Times and Gazette einen Bericht
über die Cremation in Amerika gaben; in Süd-Amerika beschäftigt
sich damit die: Revue med. e quir. Buenos-Ayres.
Praktisch greift zuerst diese Frage Italien an durch
die öffentliche Verbrennung der Leiche des Baron Albert Keller
(verstorben am 23. Januar 1874 in Mailand), der testamentarisch
verlangt hatte, dass man seine Leiche im Feuer bestatte und der der
Stadt Mailand eine beträchtliche Summe für Errichtung eines Crema-
torium und Columbarium ausgesetzt hatte. Das Gesuch Polli’s und
einer grossen Anzahl von Freunden, sowie der Familie von Keller’s um
Gestattung der Feuerbestattung wurde vom Ministerium abgeschlagen,
man ging zur vorläufigen Einbalsamirung des Baron Keller über und
schickte sich in Mailand an, unter Leitung Polli’s, Claricetti’s
und des Baumeisters Maciachini einen Verbrennungstempel auf
einem von dem Mailänder Magistrat geschenkten Terrain auf dem
Monumental-Kirchhof zu errichten. Am 6. April petitionirte eine
Versammlung von 600 Freunden der Feuerbestattung in Mailand beim
Ministerium um die Genehmigung der Feuerbestattung. Die Antwort
lautete verneinend und dauerte es 2 Jahre, bis man unter dem frei¬
sinnigen Ministerium Nicotera die Erlaubniss erhielt, und was hier
gleich eingeschaltet werden soll, am 22. Januar 1876 die Leiche des
Baron Keller verbrennen konnte.
Inzwischen war man in Deutschland weiter vorgegangen.
Professor Reclam in Leipzig hatte sich an den Dresdner Pyro¬
techniker Steinmann mit der Anfrage „über die geeignetste Art der
Verbrennung von Leichnamen?“ gewendet und war von Letzterem an
Friedrich Siemens in Dresden gewiesen worden, in dessen Eta¬
blissement für Glasfabrikation sich ein Gas - Regenerationsofen in
Thätigkeit befindet. Nachdem Herr Siemens daran einen Feuer¬
bestattungsofen angebaut hatte, wurden seit dem 2. Juli 1874 Theile
von Thiercadavern (200 Kilo Pferdecadaver in kleine Theile zerlegt),
am 6. August ein Pferdecadaver, am 10. ein ganzes Schwein und am
15. August 3 Hammel verbrannt.
Da ich an allen einzelnen Versuchen von Anfang an Theil ge¬
nommen, berichtete ich hierüber in No. 44 u. 48 der deutschen Klinik
von 1874.
Am 9. October 1874 wurden diese Versuche auch auf Verbren¬
nung eines menschlichen Leichnams, des der Frau Dr. Thilenius,
daselbst ausgedehnt.
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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname.
395
Um allen Weiterungen aus dem Wege zu gehen, und in Gemässheit
des Princips, auf dem ich stelle (wo möglich stets vorherige Section des
zu verbrennenden Individuum, so lange wir keine „coroner“ haben),
hatte ich bei der obersten Behörde ausgewirkt, dass zuvor die Section
der Leiche durch den Stadtbezirksarzt vorgenommen würde. Dieser
ersten, ebenfalls in der deutschen Klinik von 1874 von mir be¬
schriebenen Verbrennung wohnte Prof. Reel am ebenfalls bei. Es
fanden noch 2 dergleichen Feuerbestattungen bei Siemens statt, bis
die Behörde weitere Verbrennungen untersagte und nur noch zu Demon¬
strationszwecken die eines Selbstmörders seitens der Militär-Sanitäts-
Direction erfolgte. Noch würde für 1874 zu erwähnen sein, dass am
18. Juli und 15. August 1874 (wie später nochmals im Februar 1875)
Polli, Claricetti und der Ingenieur Venini Versuche anstellten,
um (wie schon früher Hermann Eberhard Richter in der Garten¬
laube gerathen hatte), Thiercadaver in Leuchtgas zu verbrennen.
Es mag dabei hier zugleich noch erwähnt sein, dass nach dem
Systeme Polli die erste Leichen Verbrennung in Italien, die des Baron
Keller, vorgenommen worden ist. Man benutzte es hierauf noch zwei
Mal. Dann wurde das System gänzlich verlassen.
Das Jahr 1875: Der Hauptführer der Be- und Gegenbewegung
wurde jetzt Deutschland. Wir begegnen hier 19 Autoren: Fischer
(2 Mal), ich selbst (K.) 2 Mal, Neumann, Schneider, Lion sen.,
Engelmann (in Strassburg, französisch geschrieben), Winkler,
Reclam, Arthes, Roth, Pfarrer Albrecht, Ullersperger, Heil¬
mann (Kirchhofgeschichte), Reichardt, Ecker, Mohr, Wittmeyer,
die Leipziger illustrirte Zeitung (Verpackung der Leichen aus
St. Francisco nach China), wie auch Haweis ins Deutsche übersetzt
wurde; der grössere Theil der Autoren für, der kleinere gegen Feuer¬
bestattung. Unter den Italienern finden wir Guidini, dell’Acqua,
Cloetta, Palasciano, Rota, Delitala, Da Camino, Bevizzardi,
Rodolfi; unter den Holländern: Schneider, Prediger Thoden,
v. Velzen, Beijer, Plantenga, Hartogh, Heiss van Zoute-
veen, Harting, Adrairaäl; unter den Engländern: Hadcn, Haweis
(auch in’s Deutsche übersetzt), Eassie, Castle, Lowndes, Yan-
dell, Traill-Green; ausserdem noch Schweizer: ein Winterthurer
Techniker, Wegmann-Ercolani, Kopp, Wyss, Goll, Zehnder;
Nord-Amerikaner: Adams, Cole, Leconte (über Bestattungs¬
weisen der nordamerikan. Indianer), Berraiogham; Franzosen:
Pages, Martin-Barbet; Oestcrreichcr: Rozsay, Nowack; den
26*
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396
t)r. Fr. Küohenmeister,
Dänen: Hornemann und den Russen: Smelet. Vom prakti¬
schen Gesichtspunkte aus ist für dieses Jahr noch zu erwähnen:
In Paris hatte sich die Commission für Errichtung des neuen
Kirchhofs von Mery sur Oise schon am 17. August 1874 zu Gunsten
der Crümation ausgesprochen und auf den Antrag Levels der Com-
munal-Conseil 1875 einen Preis für den besten Apparat ausgesetzt und
dabei verlangt, dass:
1) der Apparat geruchlos und ohne Rauch und ohne schädliche
Gaserzeugung wirke;
2) dass die Identität der Person bei der Verbrennung gesichert
werde;
3) dass man die Asche rein und ohne alle Beimischung fremder,
fester Substanzen (die vom Brennmateriale stammen) erhalte;
4) dass das anzuwendende Brennmaterial, wie der Apparat selbst,
leicht zu haben und billig sei, und endlich
5) dass der Verbrennungsact selbst nicht die religiösen Gebräuche
tangire.
Man stellte 3 Preise von 25, 15 und 10000 Frcs.
Der Concurs unterblieb in Folge einer Verordnung vom 15. Fe¬
bruar 1875.
Als 1875 die Feuerbestattungsgesellschaft in London einen
Feuerbestattungsofen in London errichten wollte, erhielt sie zwar die
Erlaubniss hierzu, der Bischof von London aber setzte es durch, dass
der schon begonnene Bau auf einem ihr auf dem grossen Septentrional-
Kirchhof überlassenen Platze sistirt werden musste.
Im Jahre 1875 verliess endlich noch Gorini sein bisheriges
chemisch-pyretisches System und stellte den Plan eines neuen Ofens
fertig, der, nachdem er auf Stadtkosten auf dem Kirchhof Aiolo in
Lodi errichtet und am 6. September 1877 in Gebrauch gesetzt worden
war, jetzt unter dem Namen „Crematorio Lodigiano“ in Italien der
allgemein verbreitetste geworden ist.
Das Jahr 1876. Es zeigt sich nahezu eine gleiche schriftstelle¬
rische Thätigkeit unter den Franzosen mit Marmier, Bertheraud,
Janssens, Prunieres, Devergie (neue Bestattungsart), Dela-
siauve, Peres, Baube-Bouchardat-Boussingault und Troost,
Gannal, Galopin, Mermier, wie auch ein Ungenannter in Annöe
müdical und eine Uebersetzung von Steinbeiss, und unter den
Deutschen: Pastor Weber (als Gegner der Feuerbestattung), Wett¬
meyer, G. Vogt (neue Bestattungsweise), Gerstel, Reclam (mehr-
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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname.
397
raals), Jacob, Gottfried Kinkel, Kopff, Wasserfuhr (Elsässer),
Verhandlungen des 1. europäischen Congresses der Freunde der
Feuerbestattung, illustrirte Zeitung: Pieperund Lilienthal,
Bach (Gräbergase); und nahezu gleich Viele unter den Italienern:
Belletrino, Jardin, Gabba und Valsuani, Musatti, Pini (wie¬
derholt), San Roman, Pace, Gorini, de Pietra Santa. Weiter
begegnen wir den Oesterreichern: Schneller, Popper, Kronfeld;
dem Russen: Schuchoff; den Spaniern: Salcedo y Ginestal und
de la Vögas; den Holländern: van Harset, Franchiment
(Leyden) und Abhandlungen in Mededeelingen der Vereenigung
von Lijkverbrending; den Engländern: Tiffeny, Haweis und
Sanitary Review; den Nord-Amerikanern: Hoffmann (Indianer¬
bräuche), Le Moyne, Adams, Oeker, Pittsburger Rep. Bd.
Health und Boston med. and surg. Journal; den Süd-Ameri¬
kanern: Papper (Chile) und Cruis (Brasilien); sowie über Japan
Dönitz (2mal) berichtete.
Das Wichtigste aber in diesem Jahre und das, was zugleich dies
Jahr 1876 zu dem wichtigsten in der neueren Geschichte der Feuer¬
bestattung macht, sind die praktischen Vorgänge. Dass am 22. Jan.
1876 die Leiche des Baron Keller in Mailand im Feuer bestattot
wurde, ist schon erwähnt.
Am 25. Februar 1876 wurde von Neuem in Frankreich über die
Feuerbestattung verhandelt und der Conseil beschloss, dem Anträge seiner
Commission (Baube, Bouchardat, Troost, Boussingault) gemäss:
1) durch bei der Metallurgie angewendete, ähnliche Gasöfen kann
geruchlos verbrannt werden;
2) die Creraation ist dem Begräbniss in Fosses communes vor¬
zuziehen, in denen jeder Leichnam ungenügenden Platz hat;
3) nur von der medicinal-crirainellen Seite gebe es Bedenken und
deshalb auch solche für die öffentliche Sicherheit (welch letzteren Punkt
auch die Sociöte fran<jaise de raedecine legale betonte). —
Im Juni (6. und 7.) 1876 wurde der internationale Congress
für Feuerbestattung in Dresden abgehalten, auf welchem die
Schweiz, Holland, England und Frankreich vertreten waren; Italien
aber fehlte, weil (wie Pini sich beschwert) bei der Einladung Italien
vergessen worden war (was unter allen Verhältnissen, wenn dies ge¬
schehen, unabsichtlich geschehen war). Nachdem Kinkel eine be¬
geisterte Rede (die später in der Augsburger allgemeinen Zeitung er¬
schienen ist) über die Feuerbestattung gehalten hatte, ergriff ich selbst
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398
Dr. Pr. Küchenmeister,
(damals Vorsitzender des Congresses) zur Einleitung in die Debatte
das Wort, und indem ich erklärte, dass die Hauptsache sei, einen
Feuerbestattungsofen in Deutschland zu errichten, wozu sich in Gotha
die Gelegenheit biete, wenn die nöthigen Geldmittel bereit gestellt
würden, legte ich 100 Mark auf den Directorialtisch hierzu nieder.
Sofort wurden von Frau Bontems-Riebe aus Leipzig 3000 und
von Herrn Privatus D....ch ebenso 3000 Mark gezeichnet, und durch
eine sofort angefertigte Liste theils in der Sitzung, theils bald nachher
nahe an 20000 Mark gezeichnet und dem Stadtrath von Gotha als
Beitrag zum Bau offerirt. So entstand der Feuerbestattungsofen nach
Siemens’schen System in Gotha, indem die Stadt Gotha selbst
60000 Mark für den Bau gewährte. Das nachgebaute Cinerarium
(Columbarium) wurde von der Stadt errichtet, nachdem die ebengenannte
Dame auch hierzu eine weitere Summe nachgesteuert hatte. Es sei
hier gleich noch erwähnt, dass die erste Verbrennung in Gotha am
10. Decbr. 1878 stattfand.
Das ist die Geschichte der Entstehung dieses Ofens, der bis zum
15. März 1886 in Summa 316 Mal benutzt worden ist. Leider macht
jede Einzel Verbrennung zur Zeit noch sehr erhebliche Ausgaben, weil —
wie der pyrotechnische Ausdruck heisst — das immer neue Ausblasen
des Ofens und sein neues Anblasen nicht unbeträchtliche Kosten macht,
die nur dann aufgehoben werden, wenn der Ofen unausgesetzt im
Brande bleiben kann.
1876 veranstaltete endlich noch Reclam bei der Naturforscher-
Versammlung in Breslau die Verbrennung einer ohne alle Angehörigen
im „Allerheiligen Spitale“ verstorbenen Pfründnerin im Leuchtgas-
Ofen (in einer Leuchtgas-Retorte). Leider hatte er unterlassen, zuvor
die Erlaubniss der Behörden hierzu einzuholen und sich nur mit der
Hospitals-Direction in Einvernehmen gesetzt. Was ich, sobald ich dies
gehört, aussprach, traf ein. Der Vorgang erregte den lebhaftesten
Widerspruch der Behörden und lauten Tadel.
Ich werde nun zunächst von 1877 an die literarische Thätigkeit
verfolgen.
Das Jahr 1877. In Deutschland zeigt sich eine fortgesetzte
Thätigkeit. Wir begegnen: Schwarz (Geschichte), Fischer, Reiner,
Essek, Schultze (Victor), Reclam (mehrmals Berichte über Feuer¬
bestattung in der deutschen und französischen Schweiz, Deutschland
und Frankreich); neue Verfügungen der Stadt Gotha über
Feuerbestattungen; Nägeli, Schneider, Wasserfuhr (Elsässer,
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Die verschiedenen Bestatlungsarten menschlicher Leichname.
399
über Kirchhöfe); Zeitschrift Urne; Vierteljahrssehrift für öffent¬
liche Gesundheitspflege; Thüringer medic. Correspondenz-
blatt. Gleiches beobachtete man in Frankreich durch Becquerel,
Cadets, Decroix, duMesnil, Level, Lacassagne und Dubuis-
son, Feroci (Kirchhofsfrage), und darüber der Belgier Nirrahc; ferner
rühren sich in Südamerika: Lockrridge (Louisville), Vinelli (Rio-
Janeiro); Nordamerika: Reyes (Mexico), Ottersoon (Brooklyn),
Saturday Review (Leichenverbrennung in Amerika). In Oester¬
reich finden wir: Wittelshöfer (Kirchhoffrage) und Mittheilungen
des Vereins der Aerzte für Niederösterreich; während die Thätigkeit
nachliess in Italien: dell’ Acqua; in Holland: Harting; in der
Schweiz: Schmidt; und in England: Eassie, Day; wie auch noch
Ercolani in’s Spanische übersetzt wurde. Neu tritt Schweden ein:
Wallis.
Im Jahre 1878 nimmt die Behandlung der Frage der Feuer¬
bestattung im Ausland etwas ab; aber sehr thätig wird darüber in
Deutschland verhandelt: Sonntag, Spiess, Thaler; Beschreibung
des Systems von Friedrich Siemens (auch französisch); Ecker,
Reclam (mehrmals), Schuchardt (über Gotha), Senft, Engel
(Pfarrer), Kerchsteiner, Thaler, Berger (Kirchhoffrage). In
Frankreich finden wir: Prunieres, Riant, Zaberowski, Ueber-
setzung von Friedrich Siemens, Vallin, Rochu, Beau. In
Italien, in dem man an immer mehr Orten Feuerbestattungsöfen
errichtet hat, begegnen wir: Gasparotte, de Christoforis und
Pini, Panizza, Breccia; in England: Eassie (3 Mal) und
Parkes; in Oesterreich: Presl und Kratter (Adipocirung); in
Spanien und Nord-Amerika: Genesta und Smart.
Von 1879 an tritt an die erste Stelle Frankreich: Maunoury,
de Pietra Santa, Forfer über Kerchensteiner, Morin, Talmy,
Lacassagne und Dubuisson, Ladreit de Lacharriere, Napias-
Gallard-Lagneau-Riant, Morin, Lauth (Assanirung der Kirch¬
höfe), de Pietra Santa, de Medici, Kuborn und Jacques,
Gambetta, A. Cadet, Cousin, Max du Camp, E. Lacan, Tis-
sandier, Vivieu, Salomon, Napias, Prat, Leriche, Maret
und vor Allem der frühere Elsässer, jetzige Maire des IX. Pariser Arron¬
dissement: Köchlin-Schwartz. In Italien finden wir: Gorini,
Caporali und Ungenannte in der Gaz. med. ital., prov. Venete, in
Giorn. della Soc. Ital. d’Hygiena, Giorn. d’Hyg., Venelli, in Eng¬
land: Richardson, Williams, Wakley (2 Mal), Gross und
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400
Dr. Fr. Küchenmeister,
Artikel in: Med. Presse and Circul, Sanit. Rec., Lancet (mehrmals),
Sanit. Record; in Deutschland und in der Schweiz: Schultze
(M. V.), Reclam, C. Vogt, Wiss, Uffelmann; in Süd-Amerika:
Dupont (Buenos-Ayres), de Sonza (Lima), Dupont; in Spanien:
Creus (Barcelona), übersetzt von Schütz; in Nord-Amerika:
Rachel.
Im Jahre 1880 überwiegt Frankreich alle Länder an Schrift¬
stellern: H. Molliere, Fassy, Riant, Ladreit de Lacharriere,
Perr ineile, Norm and (über den 8. Congress d’Hyg. in Turin),
Robinet (Gegner); Referat über Vinelli in Ann. d’Hyg. publ.;
Journ. d’Hyg.: über Polli’s Verbrennung; Vallin, Revue d’Hyg.,
Cyrnos. Dann folgt Deutschland mit Friedländer, Wernher,
Fleck (Bodendurchlässigkeit auf Kirchhöfen), Wiesemes (Anlage
der Kirchhöfe); niederrh. Corresp.-Blatt für öffentl. Gesundheitspflege;
Italien: Pini und Giorn. della Soc. Ital. igica; Schweiz:
Cossier (Kirchhoffrage); Nord - Amerika: Yarrow, Petersen;
über Japan: Beukema und Plügge.
Im Jahre 1881 wird es in der Literatur noch ruhiger und fast
nur in Frankreich findet man unsere Frage betreffende Schriftsteller:
de Fournes, * de Pietra Santa und de Nansouty, Martin,
du Mesnil (Sanirung der Kirchhöfe), Vallin (dasselbe); in Deutsch¬
land nur Hampe (Grundsätze für Friedhofanlage); in Italien:
Colombo und Guidini; in Dänemark: Hornemann und Hosp.
Tid.; in Schweden: Linroth; in Oesterreich: Die Leichen Verbren¬
nung in Wien und Schmid (Kirchhofsanlage); in Nord - Amerika:
Yarrow und Purdy; über Japan: de Pietro Santa.
Im Jahre 1882 finden wir fast alleinige Thätigkeit in Italien:
Lussana, Vitali; Statut der Gesellschaft Paolo Gorini (in Co-
dogno), der in Modena und der in Domo Dossola; Conferenz der
Professoren Sormani, Gentile, Zenoni e Cantoni; sul’ incine-
rimento dei cadaveri (Pavia); in Frankreich: Arnold (Bull,
möd. du Nord), Verrier, Gosse; in England: Eassie (W.), Mayr.
Leach; in Nord-Amerika: Um burial (New-York), Cobb, Gil-
man; in Deutschland: Eulenberg, Kuby, Böhm, Schuster
(sämmtlich über Beerdigungswesen).
Literarisch noch stiller verläuft 1883. Vor Allem finden wir
Italiener: Ambrosioni, Turpitulini, Ellero, Mandelli, Porro,
Maestri, Rota, Giani, Cucaro, Cantoni; dann in Frankreich:
Monin, Brouardel, Gavien, Malo, de Pietra Santa; in Deutsch-
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Die verschiedenen Bestatlungsarten menschlicher Leichname.
401
land: Hensch und Bericht des Berliner Feuerbestattungs-Vereins; in
Oesterreich: Hlavac v. Rechtwall.
Im Jahre 1884 begegnen wir der grössten Thätigkeit in England:
Williams, Haden, Lambert, Fairland (über Indien), Eassie,
Fowler (New-England), und London med. Rec.; und in Nord-
Amerika: verschiedene Zeitschriften: The legal aspect of cre-
mation (New-Orleans med. and surg. Journal), Beugless (Sanitarina
New-York), Formento (Transact. of the Louisiana med. Soc.), The
Lancaster crematorium (med. and surg. Report. Philadelph ), ferner
Cremation versus interment (San. Engin.), United States Cre-
mation Company (New-York, Brooklyn), und Wiekes: ßegräbniss-
geschichte. Dann folgen noch Italiener: Venuncio, Prieto, Bru-
netti, Moretto, und die Statuten für Leichenverbrennung in Brescia
und Mailand; Franzosen: Chevee-Leroy, Thouvenet (Kirchhöfe
und Verbrennung), Brouardel, der Progres med., und der Belgier
van den Carput; und in Süd-Amerika: Gache (Buenos-Ayres).
1885 endlich sind zu nennen: Italiener: • Pini, Bezi, Buti;
Deutsche: Anderl, ich selbst (K., diese Zeitschrift), und der
Uebersetzer Pini’s; Engländer: Hutton, S. Wells, Cremation
Society of England: in Nord-Amerika: Boneil, Keating,
Marble (mehrmals), Davey (Bristol); in Süd-Amerika: erste Ver¬
brennung in Buenos-Ayres; in Dänemark: Ugesk. f. Laeger (Ko-
penbagefi), Budde; in Schweden: Hamberg. Hauptgegner der
Missionspriester: Giacomo Scurati, Mailand.
Ueber Verbrennung von Thierleichen und Assanirung von
Schlachtfeldern:
Diese Frage wird, nachdem die Russen schon 1814/15 Thierleichen bei
Paris verbrannten, angeregt 1830 von den Franzosen: Parent-Duchatelet;
und Trebuchet spraoh über das Begräbniss der im Jahre 1814/15 Gefallenen.
Praktischen Werth erhielt die Frage erst im 1870/7 ler Kriege. Wir begegnen
da 1870 dem Deutschen: Schultz-Schultzenstoin; dann 1871 zunächst
besonders Belgiern: Orloff und Guillery, Dupuy, Tardieu, Cröteur,
dem Gonseil sup. d’Hygiöne de Belgique, dem Bericht in Gaz. heb-
domad.; im Jahre 1872: Döle und Pein (Belgier und Franzose), dann den
Deutschen: W. Roth, Frölich (beide Militärärzte in Sachsen), M. Hirsch;
1875: Friedrich Siemens (Feldverbrennungsofen in meinem Handbuch der
Lehre von der Verbreitung der Cholera); 1876: Marmier (These, Paris),
Kuborn und Jacques (Belgier, Journ. d’Hyg.) und Kuborn allein (Bull. deP
Acad. de Med., Belg.); 1878: Duroux (Thöse, Paris); 1879: Erisman, Des-
infection der Schlachtfelder im russisch-türkischen Kriege. —
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402
Dr. Fr. Küchenmeister,
Verfolgen wir nun endlich die praktische Seite der Aus¬
breitung der Feuerbestattung nach einzelnen Staaten, so ergiebt sich
bezüglich Italiens: Im Jahre 1877 milderte Nicotera die Bestim¬
mung vom 22. Juni 1874 (Einholung der Erlaubniss für jeden Fall
direkt beim Minister) dahin ab, dass dieselbe stets nur beim Bürger¬
meister (Präfect) einzuholen sei. In Folge dessen ist die Feuer¬
bestattung in vielen Städten Italiens (cfr. infra) eingeführt
worden.
Das mit den Präfecten vereinbarte und vom Conseil provincial
sanitaire genehmigte Reglement wurde am 1. October 1878 eingeführt
und am 2. April 1880 nochmals revidirt.
Bei der Wichtigkeit, welche Mailand in der Geschichte der Feuer¬
bestattung spielt, mögen die Vorgänge in Mailand hier im Zusammen¬
hänge folgen.
Bis April 1876 benutzte man in Mailand zunächst das System
Polli Claricetti; dann auf ganz kurze Zeit das System Betti-
Terruzzi; dann bis Mitte 1880 das System II Gorini’s (das des
Crematorio Lodigiano); seitdem dessen Verbesserung durch Verini.
Gleichzeitig baute man das Columbarium um, zu dessen Vergrösserung
die Stadt 40000 Frcs. beisteuerte. Man stellte ausser dem einen für
Einheimische benutzten, noch einen zweiten Apparat auf für zugeführte
Fremde und für an ansteckenden Krankheiten Verstorbene. Es gilt
der Mailänder Apparat als eine Musteranstalt und wird viel besucht
von Technikern und Hygienisten, sowie bei Congressen (Congres inter¬
national d’Hygiene in Turin, der günstigen Bericht darüber gab,
12. Septbr. 1880) und bei Ausstellungen (z. B. der Nationalausstellung
daselbst 1881). Man stellte eine Taxe für die Verbrennung, Aschen¬
sammlung und Transport an den Sterbeort auf.
Was noch hierüber bis heute zu berichten wäre, ist Folgendes.
Mailand wurde auf dem Congress der Vereine und Freunde der Feuer¬
bestattung 1883 84 zum Vorort und Sitz des Präsidiums und Bureaux
der Commission über die Feuerbestattungsfrage gewählt, nachdem die
Freunde der Feuerbestattung einen Congress in Modena abgehalten,
der Congres international d’Hygiene am 7. Novbr. 1882 über Feuer¬
bestattung verhandelt und am 9. Septbr. 1883 zu Gunsten der Feuer¬
bestattung gestimmt hatte. Man sucht vornehmlich Bestimmungen über
die AschenaufbeWährung zu treffen und macht in Italien sich immer
von Neuem an das Studium der criminalistischen Bedenken und deren
Widerlegung.
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Die verschiedenen Bestattangs&rten menschlicher Leichname. 403
Da der Minister (und mit vollem Rechte, K.) einem Herrn Cam-
berti die Aufbewahrung der Asche seiner Tochter in seinem Hause
abgeschlagen hatte, suchte der Mailänder Feuerbostattungsverein um
die Erlaubniss nach, die Asche in Wohlthätigkeitsanstalten (z. B. im
Institut der Rhachitischen), Kirchen oder in anderen dem Cultus ge¬
weihten Gebäuden aufbewahren zu dürfen, und führten die Verhandlungen
endlich dazu, dass der Mailänder Verein ein Cinerarium oder Colum-
barium selbst errichtete. Loria beantragte, um den criminalistischen
Bedenken gerecht zu werden, dass die Anlegung eines Sectionszimmers
mit Zubehör (Mikroskop etc.) im Crematoriura und dass die Section
jedes zu verbrennenden Leichnams hier oder im pathologisch-anato¬
mischen Laboratorium durch den städtischen pathologischen Anatom
vorgenommen werde (was Beides genehmigt wurde). Ausserdem setzte
Loria einen Preis (1000 Lire 5% Rente) für Widerlegung der ge¬
richtlichen Bedenken aus. 1 )
In England trat der Congress des Sanitary Institut of Great-
Britain 1877 in Lemington in lebhafte Verhandlung über die Feuer¬
bestattung, und beschloss 1879 auf dem Congress in Manchester mit
Polli und Claricetti über den Apparat zu verhandeln; man berief
jedoch Gorini, um auf dem grossen Kirchhof in Wolking ein Creraa-
torium nach seinem System zu bauen. Den Bau führten Turner und
Easie aus, doch richteten sie Coaksfeuerung ein.
Inzwischen spielte sich in England ein eigentümlicher Prozess ab.
„Sterbend hatte ein gewisser Grokenden bestimmt, verbrannt za werden, und
seine Freundin Miss Elise Williams beauftragt, der Verbrennung seiner Leiche
beizuwohnen, die Asche zu sammeln und nach Belieben mit ihr zu verfahren.
') Was die Affaire Garibaldi anlangt, so hatte dieser in seinem Testament
vom 30. Juli 1881 und Codicill vom 9. Septbr. ej., eröffnet 1882 in Codigno, be¬
stimmt: „Mein Leichnam soll verbrannt werden mit Holz von Caprera an dem
Orte, den ich durch eine eiserne Stange bezeichnet habe, und eine volle Hand
(Faust) voll Asche soll in einer Graniturne im Grabe meiner Töchter unter der
dort stehenden Acazie plaoirt werden. Meine sterbliche Hülle soll das rothe Hemd
umhüllen; das Haupt soll im Sarge oder auf dem kleinen Eisenbette mit dem
Rücken gegen die Mauer (gegen N.) liegen mit verhülltem Gesicht, die Füsse gegen
die Stange. Die Füsse des Sarges oder kleinen Eisenbettes sollen mit kleinen
Eisenketten festgehalten werden, der eine am andern. — Man hat meinen Tod
nicht eher dem Syndaco anzuzeigen, als bis mein Körper verbrannt sein wird.“
Der Minister entsandte Pini und die Professoren To dar o und F. Crispi
unmittelbar nach Garibaldi’s Tode nach Caprera; aber schon hatte Professor
Albanese die Einbalsamirung begonnen und Pini kehrte am 13. Juni unver¬
richteter Sache zurück.
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404
Dr. Pr. Küchenmeister,
Die Verwandten nahmen jedoch die Lerche und begruben sie an einer Stelle bei
B re mp ton, die zwar nicht consecrirt, aber durch einen katholischen Geistlichen
benedicirt worden war; Alles trotz des Protestes der Miss, die nach 3 Monaten
die Exhumation des Crokenden unter der Angabe durchsetzte: „sie wolle die
Leiche an einem schicklicheren Platze (in der Grafschaft Montgommery) beisetzen
lassen.“ Zur Feuerbestattung hatte der Staatssecretär die Erlaubniss nicht er-
theilt. Die Miss aber entführte die so erlangte Leiche nach Mailand, wo sie am
11. April 1878 verbrannt wurde.
Das Gericht sprach in einem von der Miss gegen Crokenden’s Verwandte
angestrengten Prozesse ihr die Restituirung der durch die Feuerbestattung er¬
wachsenen Unkosten nicht zu. sondern verurtheilte sie in alle Unkosten, da die
Wegführung der Leiche nach Mailand illegal und ein Betrug gewesen sei. Denn
„es könne ein Individuum nicht über seinen Leichnam Bestimmung treffen, und
die Feuerbestattung sei vom englischen Gesetze zur Zeit noch nicht anerkannt.“
Das iu Mailand errichtete Columbarium wird Cinerarium genannt.
Belgien, v. Carabergh erstattete in der Commission centrale
de santö de Bruxelles dahin Bericht, dass trotz einiger Bedenken vom
criminellen Gesichtspunkte aus die Incineration die vernünftigste und
nützlichste Bestattungsroethode sei, in Rücksicht auf die Zersetzung
des Körpers.
Schweiz. Am 26. Juli 1877 nahm der Staatsrath von Zürich
Bestimmungen über Feuerbestattung in das neue Gesetz über öffent¬
liche Hygieine auf. Man sammelt jetzt in der Schweiz für und ver¬
handelt mit Mailand über die Errichtung eines Verbrennungsofens nach
dem System: Gorini-Venini.
Nordamerikanische Freistaaten (und zwar nördliche Hälfte).
In Folge der 1874 75 eingeleiteten Bewegung fing man an, nach dem
Systeme Lemoyne (ähnlich dem von Betti und Torussi), das sehr
mangelhaft, langsam wirkend und sehr theuer ist, im Feuer zu be¬
statten und zwar in grosser Zahl in New-York und Philadelphia. So
wurden bestattet: Baron Palm, Lemoyne selbst (16./X. 1879), Jane
Pittmann etc. Man baut jetzt in vielen Städten Crematorien.
Frankreich. Den hier, besonders lebhaft seit 1877 entbrannten
Kampf beschreibe ich besonders nach Pini’s Zusammenstellung, der
ich die gefälligen Mittheilungen des „Fräulein Jenny Nereschko,
Redacteur“, mit Dank für dieselben einflechte.
Im Ausstellungsjahre 1878 wollte der Vorstand des Vereins für
Feuerbestattung in Paris die letztere dadurch praktisch beweisen, dass
er (bei der für Franzosen fehlenden behördlichen Erlaubniss zur Feuer¬
bestattung) eine in Italien von deren Angehörigen erworbene Leiche
mit Zustimmung der Verwandten nach Paris bringen liess, um sie
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UMIVERSITY OF IOWA
Die verschiedenen Bestattungsarien menschlicher Leichname.
405
daselbst in einem errichteten Apparate zu verbrennen. Das Gouver¬
nement aber verweigerte die Erlaubnis dazu.
In demselben Jahre verhandelte man über die Feuerbestattungs¬
frage auf dem Congres international d’hygiene und in der Sociötö
franQaise de mödecine legale. Man führte dagegen insbesondere nur
criminelle Gesichtspunkte an, obwohl der Wiener Arzt Dr. Pichl be¬
tonte, dass bei 673,580 in Wien innerhalb 25 Jahre stattgefundenen
Begräbnissen die Exhumation nur 2 Mal (und wie mir früher schon
persönlich mitgetheilt worden war, nebenbei bemerkt, ohne Resultat
für die Criminaljustiz, K.) vorgenommen werden musste.
Obgleich man seitens der Behörden schon damals und bis in das
gegenwärtige Jahr in Frankreich für die facultative Feuerbestattung die
Erlaubnis verweigerte (gestützt theils auf die Gutachten des Conseil
d’hygiene de France und des Conseil de salubritö du döpartement de
la Seine, die sich auf criminalistische Gründe beriefen, theils auf die
Einsprüche von Juristen, welche angaben, ein Decret vom 23. Prairial
des Jahres XII [1803] verbiete jede unter irgend welchem Vorwände
vorgenommene andere Bestattung, als im Erdgrabe, und erheische die
Erlaubniss zur Feuerbestattung ein besonderes für sie günstiges Gesetz),
wiederholte doch Morin im Conseil provincial seinen früheren Antrag
auf Erlaubniss der Feuerbestattung wieder am 8. Mai 1879 und im
Juli 1880. Der internationale Congres d’flygiene in Turin und Genua
im Septbr. 1880, sprach sich, nachdem er das Crematorium Mailand’s
in Augenschein genommen, dafür aus, besonders auch, weil es immer
mehr an Orten fehle, in denen eine schnelle und vollständige Zersetzung
der Leiche stattfinde; auch ein neuer gleicher Congress nahm eine
gleiche Resolution an: aber der Siegelbewahrer Cazot verweigerte die
Erlaubniss theils wegen des genannten Decretes, theils wegen Stellen im
Code civil und penal, und der Minister des Innern, Constans, sah
sich genöthigt, dem Seine-Präfecten zu verbieten, dass man Versuche
mit Verbrennung von Leichen Secirter in Anatomien und Kranken¬
häusern vornehme. Man sträubte sich auch gegen Letzteres deshalb,
weil eine solche Erlaubniss den Eintritt Kranker in’s Krankenhaus
beeinträchtigen würde. Obgleich der frühere Minister des Innern
Lepere die Errichtung eines Feuerbestattungsofens im Seine-Departe¬
ment erlaubt und in einem Schreiben an den Generalrath der Seine
und den Municipalrath von Paris für einzelne besondere Fälle gestattet
hatte (weil ja auch nach dem Kriege 1870/71 und nach den Tagen
der Commune Leichenverbrennungen Gefallener vorgenommen und der
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406
Dr. Fr. Küchenmeister,
Radjah von Kellapore verbrannt worden war), so bestätigte doch
Constans die Ansichten Lepere’s nicht und schlug alle Anträge des
Stadtraths (19. Octbr. 1880) und des Seine-Präfecten vom 24. Decbr.
1880 rund ab.
Die Gesellschaft für Leichenverbrennung in Paris wendete sich
nach dem Sturze des Ministeriums Gambetta an den neuen Minister
Goblet. Letzterer erklärte, er wolle nicht principiell opponiren, aber
die Sache müsse durch ein besonderes Gesetz geregelt werden, man
möge Vorschläge zur Abänderung der alten Gesetze einbringen.
Paul Casimir Pörier legte einen von 19 Mitgliedern, darunter
Gambetta, unterstützten Gesetzentwurf vor, dahingehend:
1) Jeder kann sich verbrennen lassen in Folge testamentarischen Wunsches,
oder des der Familie oder Beauftragter.
2) Erhebt sich Opposition, so kann der Local-Friedensrichler das Begräbniss
auf 24 Stunden hinausschieben oder auch interimistische Beerdigung an¬
ordnen.
3) Wird der Verdacht eines Verbrechens erhoben, oder verlangt der Minister
des Innern die Section. so muss die Section gemacht oder event. interi¬
mistisch begraben werden.
4) Es ist ein besonderes Regulativ über Alles zu erlassen.
5) Alles, was der Erlaubniss der Feuerbestattung im alten Gesetz widerspricht,
ist aufzuheben.
Die Commission beschloss: Jeder hat das Recht, über seinen Leichnam
Bestimmung zu treffen; die Cremation hat historische Rechte und wird gegen¬
wärtig an manohen anderen Orten erneuert; sie ist ein Erforderniss der öffent¬
lichen Gesundheitspflege, Hygieine und socialen Oeconomie; sie hat nichts Be¬
leidigendes für die Religion, noch Respectwidriges gegen die Todten oder Heilig¬
keit der Familie; sie macht die Gefahr präcipitirter Inbumationen schwinden;
deshalb ist der Perier’sche Gesetzentwurf in Erwägung zu ziehen.
Statistisch wurde noch bemerkt: In 10 Jahren kamen in Frankreich
617 Vergiftungsfälle vor; fast immer begann die Verfolgung des Verbrechens
24 Stunden nach dem Tode des Vergifteten; 512 wurden ausgeübt mit dem bei
Verbrennungen nachweislichen Arsen, Kupfersulfat und Vert de gris (Grünspan);
mehrere mit dem allerdings im Feuer unnachweislichen Phosphor; 105 mit
dem ebenso im Feuer unnachweislichen Nicotin, Cantharidin, Digitalin; hätte
man Sectionen gemacht, würde man sie haben entdecken können; auch würde
man sie bei längerem Liegen im Erdgrabe auch nicht haben entdecken können,
so dass die Exbumation (an sich in ihren Resultaten wissenschaftlich oft sehr
fraglich) auch nutzlos gewesen sein würde. Zählt man die Fälle mit, wo die
Nachweisung des Giftes unmöglich ist, dann kommen auf etwa 4 Millionen Menschen
je eine solche Vergiftung. Man soll das Werk der Criminaljustiz nicht stören;
aber soll man wegen eines so problematischen, hypothetischen und beschränkten
Interesses willen auf die Leichenverbrennung überhaupt verzichten?
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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname.
407
Dieser Bericht (aas dem man ersieht, dass die Commission die
feste Ueberzeugung hatte, dass Morde durch mechanische äussere Gewalt
mittels einer wohlgeordneten, allerdings nothwendigen Leichenschau
erkannt werden können und müssen, da die Commission nur die Ver¬
giftungen in den Kreis ihrer Betrachtungen zieht, K.) gelangte, als die
Cholera 1882 drohte, und nachdem der Genfer internationale Congress
für Verwundungen im Kriege und für Hygieine sich für die Feuer¬
bestattung ausgesprochen hatte, und in Folge eines neuen Gesuches
bei der Pariser Präfectur, (unterm 17. Juli 1883) an die Kammer.
Der Municipalrath forderte den Seine-Präfecten auf, von den Aus¬
nahme-Verordnungen vom 12. Messidor des Jahres VIII (30. Juni 1798)
und 3. Brumaire des Jahres IX (9. Nov. 1798) Gebrauch zu machen,
und bei der Regierung gleichzeitig die nöthigen Schritte zu thun, da¬
mit die Stadt Paris die Befugniss erhalte, auf dreien der grössten Kirch¬
höfe Crematorien errichten zu können, die vorläufig nur beim Ausbruch
einer Epidemie benutzt werden sollten. Mit dem Gutachten über diese
Anträge wurde seitens des Conseil d’Hygiene des Seine-Departements
und seitens der Präfectur Brouardel betraut, doch stellte derselbe
der Sache einen so entschiedenen Widerspruch entgegen, dass der
Präfect die Sache ruhen liess. Der Municipalrath beruhigte sich dabei
nicht, sondern sandte eine Extradeputation unter Führung des schon
genannten Köchlin-Schwartz am 26. August 1883 an die Präfectur
ab, welche betonte, dass Brouardel ein principieller Gegner der
Feuerbestattung und deshalb sein Urtheil ein präjudicirtes sei.
Der Behauptung Brouardel’s, die Auffindung von Vergiftungs¬
fällen werde durch die Feuerbestattung unmöglich gemacht, trat
Köchlin-Schwartz (selbst ein bewanderter Chemiker) mit den im
Vorhergehenden schon angedeuteten Angaben über die in der Asche
nachweislichen Gifte und über die Unmöglichkeit „organische Gifte“
im Erdgrabe nachzuweisen und damit entgegen, dass man in Italien
im Gegentheil der Ansicht sei, die Feuerbestattung beeinträchtige die
Criminaljustiz nicht.
Man verlangte, „wenigstens mit den Resten der in Spitälern zu
medicinischen Zwecken freigegebenen Leichen die Feuerbestattung vor¬
nehmen zu dürfen, und weiter die facultative für Solche, deren An¬
gehörige hierzu die Erlaubniss des Präfecten (jedesmal von Fall zu
Fall) eingeholt hätten“, bemerkte auch dabei: „es sei unwahr, dass
man mehr Personal bei der Feuerbestattung nöthig habe; das Personal
für die Einsenkung der Leichen in das Erd- und Feuergrab sei der
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Dr. Fr. Küchenmeister,
Zahl nach dasselbe; der Feuermann entspräche dem Todtengräber, wel¬
cher Letztere ausserdem noch Gehülfen habe; die Angabe Brouardel’s,
dass eine einzelne Feuerbestattung 4 Stunden dauere, sei unwahr; im
Apparat Gorini dauere sie nur eine reichliche Stunde (bei Siemens
etwa auch, höchstens l l / 2 Stunde, K.); bei Errichtung mehrerer Oefen
vermöge man in 24 Stunden 100 Leichen zu verbrennen; die schnelle
Zersetzung bedinge keinen Schaden für die Lebenden, die Verbrennung
zerstöre sogar epidemische Infectionsstoffe. “
Der Seine-Präfect Paubelle verwies die Angelegenheit, da sie
Paris allein und nicht das ganze Seine-Departement angehe, an den
Polizei-Präfecten von Paris (Camescasse), der sich deshalb an den
Minister des Innern wendete. Dieser hatte nichts gegen den Antrag
an sich, und gestattete, Versuchs-Crematorien zu errichten, deren Platz
das Comite consultatif d’hygiene de Paris auszusuchen oder wenig¬
stens zu genehmigen hätte. Die Freunde der Feuerbestattung wurden
an das Handelsministerium gewiesen, und ersuchten dies, das Weitere
zu veranlassen.
Camescasse sagte zu, die oben gestellten, fraglichen Punkte
untersuchen zu lassen, und erliess das nachfolgende Schreiben an den
Seine-Präfecten Pau belle, indem er zugleich die beigefügten Pläne
für Crematorien von Bartel, Ingenieur der Wege und Anpflanzungen,
untersuchen liess:
„Mein Iheurer Herr College! Durch Depesche vom 21. März beauftragt mich
der Handelsminister, Ihnen mitzutheilen, dass er meinen Vorschlag betreffs In¬
stallation eines Crematioiis-Apparates in einem unserer grossen Kirchhöfe (der
Ostgegend) dem berathenden Comite des Gesundheitsamtes von Frankreich unter¬
breitet hat. Der Herr Minister lässt mich zu gleicher Zeit wissen, dass genanntes
Comite nach genauem Studium aller Fragen beschlossen hat, die erhöhten Stellen
des Ostfriedhofes zu dem von uns erbetenen Zwecke zu überlassen, und das
Urtheil gefällt hat, dass die von dem Polizei- und Seine-Präfecten gut geheissene
Art der Leichenverbrennung keine Gefahren für die öffentliche Gesundheitspflege
in sich schliessen dürfe. Würde jedoch die Cremation in einem Ofen vorgenommen,
in dem nicht ein permanentes Feuer unterhalten würde, so könnte zu Anfang der
Operation eine Entwickelung schädlicher, übelriechender Gase vor 6ich geben.
Deshalb wünsche das Comite, dass man um des gemeinen Wohles willen sich
blos eines Ofens mit ununterbrochener Feuerung bedienen solle.“
Auf Antrag der 2. Commission des Municipalrathes wurden der
Ingenieur Bartel und der Stadtbaumeister (Architect) der Stadt Paris
Förmige beauftragt, einen geeigneten Bauplan vorzulegen. Sie be¬
reisten Deutschland und Italien und entschieden sich für den in Mai¬
land und Rom bräuchlichen nach dem System Gorini (II). Das
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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname. 409
Brennmaterial sind Holzscheite, die erzeugte Hitze übersteigt nicht
600°C.; übler Geruch bei der in 1—1V 2 Stunde vollendeten Ver¬
brennung fehlt. Kosten für jede Verbrennung in Paris 15 Frcs. incl.
Verbrennungsmaterial, Dienstpersonal und kleine Aschenurnen.
Der für den Verbrennungsapparat ausgcwählte Platz ist die
87. Division des Kirchhofes Pere Lachaise, gerade gegenüber dem
neuen Eingang, auf einer noch unbenutzten, kahlen Höhe.
Das „berathende Gesundheitscomitö von Frankreich“ hat nach
erfolgter Prüfung Alles genehmigt und nur den Wunsch ausgesprochen,
einen Ofen mit unausgelöschtem Brande zu errichten.
Bartel und Formigö reichten nun zwei verschiedene Pläne ein.
Erster Plan, bestimmt für allgemeine Feuerbestattung: Das Ge¬
bäude besteht aus einem Erdgeschoss mit gewölbten Gallerien, welche die Urnen
derjenigen, die kein Erbbegräbnis besitzen (Commission perpötuelle), aufnehmen
sollen. Darüber befinden sich die Säle für das Publikum, die in drei Halbkreise
(Hemicyclen) ausmünden, deren jeder einen sarkophagähnlichen Verbrennungs-
Apparat enthält. Eine die Schornsteine verdeckende Kuppel überwölbt Alles.
Das Gebäude hat also einen monumentalen Charakter, und will man dadurch
dem Apparate alles Abschreckende und an Fabrikgebäude Erinnernde nehmen.
Kosten des Baues 629,774 Frcs.
Zweiter Plan, beschränkt auf die Verbrennung von Spitals-
abgängen (und acceptirt): Allo monumentalen oder architectonischen Zier¬
rathen fehlen. Es finden sich einfach die drei Oefen, die von einer Ziegelmauer
umgeben sind. Bei einem regelmässigen Dienste von täglich 8 Stunden können
in ihnen täglich 12 Cremationen (im Jahre also die von 4380 Leichen, was
ungefähr mit der Zahl der Spitalsleichen übereinstimmt) vorgenommen werden.
Vermehrung der Arbeitsstunden und grössere Geschwindigkeit in den Einzel¬
verbrennungen könnten diese Ziffer steigern. Erbauungspreis 45,975 Frcs.
Weiteres ist bis dahin nicht vorgesehen.
Auch Brouardel hatte im Laufe der Zeit seinen principiellen
Einspruch fallen gelassen, oder wenigstens wesentlich gemildert.
Dr. Bourneville benutzte nun, nachdem durch Beschluss des
Municipalrathes vom 28. Juli 1885 die Ausführung des 2. Planes ge¬
nehmigt worden, die gegebene Erlaubniss, die Leichenreste vou auf
der Anatomie benutzten Leichen, sowie die aus der pathologischen
Anatomie der Hospitäler erhaltenen Leichname zu verbrennen.
Der in Paris geführte Kampf beruhigte sich hierdurch nur schein¬
bar; aber die Hauptführer der Bewegung: Köchlin - Sch wartz,
Pietra Santa und Max de Nansonty suchen die Erlaubniss zu
einer Verallgemeinerung der Feuerbestattung und zwar die Erlaubniss
zur facultativen Feuerbestattung überhaupt zu erlangen.
Vlerlelj&hrsschr. f. ger. Med. N. F. XLIV. 2. 27
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410
Dr. Pr. Küchenmeister,
Dies ist der Stand der betreffenden Frage in Frankreich im Sep¬
tember 1885.
Ich gehe über zur Darstellung des Standes der Angelegenheit in:
Deutschland und Oesterreich. Es steht fest, dass die erste,
freilich nur als Versuch zu betrachtende Feuerbestattung in Deutsch¬
land bei uns in Dresden im Siemens’schen Ofen versuchs¬
weise unternommen worden ist, bis nach 3maliger Ausführung
die Behörde weitere Verbrennungen untersagte.
Hierauf wurde die Feuerbestattungsfrage im hiesigen Stadtverord-
neten-Colleg ventilirt, ein entscheidendes Resultat aber nicht bei der
Abstimmung erzielt.
Auf eine Interpellation des Abgeordneten zur 2. sächs. Stände¬
kammer Herrn Rechtsanwalt Emil Lehmann vom 15. Juni 1876 ver¬
hielten sich die Herren Minister des Innern und der Justiz ablehnend.
Wenn aber die Rede war, dass nicht Jeder reich genug sei, um sich
ein Columbarium im eignen Hause zu bauen, so hat die Dresdener
Feuerbestattungsgesellschaft dies nie angestrebt, da sie immer darauf
gedrungen hat, dass den Angehörigen die Asche nur zur Aufbewahrung
im Columbarium des Friedhofs oder in einem ermietheten Einzel- oder
Familiengrab, aber nicht zur Aufbewahrung im Wohnhaus und zur
Herumschleppung bei Umzügen übergeben werde — was ernste Freunde
der Frage für eine Ungehörigkeit betrachten.
Die weiteren Vorgänge in dieser Angelegenheit in Sachsen sehe
man weiter unten, ebenso wie das, was über Gotha zu sagen ist.
In Oesterreich, besonders in der Reichshauptstadt Wien, fing
man noch während der Zeit der Versuche in Dresden an — vorbereitet
durch die Wiener Weltausstellung, auf der der Brunetti’sche Ofen
ausgestellt war — sich lebhaft für die Feuerbestattung zu interessiren.
Die Behörden der Stadt Wien und der Landtag von Niederösterreich
erklärten sie mindestens für die Grossstadt Wien für ein Bedürfniss.
Erstere hatten ihre Medicinalbeamten zu den Dresdener Versuchen
delegirt, und diese hatten sehr günstigen Bericht erstattet; aber die
Ausführung stiess stetig auf Widerspruch in den höheren Instanzen.
Graf Taafe hatte einer Deputation, die um Behebung des Wider¬
spruches bat, erklärt, die Regierung habe nichts principiell dagegen
einzuwenden, aber es hänge die Einführung der Feuerbestattung vom
Reichsrathe ab. Der Sanitätsreferent im Ministerium des Innern, Hof¬
rath Dr. Schneider, erklärte sich entschieden, wenigstens für Wien
dafür. Nachdem aber eine Vernehmung dieses Ministerium mit dem
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Die verschiedenen Bestattungsarten menschlicher Leichname.
411
der Justiz und des Cultus stattgefunden, wurde das Gesuch um Feuer¬
bestattung im Mai/Juni 1885, selbst bezüglich der facultativen, zurück¬
gewiesen. Eine eigentliche Motivirung der Gründe für diesen Bescheid
habe ich in den Zeitschriften nicht finden können; man berief sich
hauptsächlich „auf das im grossen Publikum dagegen herrschende
Vorurtheil.“ Also dieselbe Stellung, die in dem Gespräch zwischen
Minutius Felix und Octavius sich findet (cfr. pag. 316 vorigen
Bandes).
Ueber den Stand der Frage in Ungarn bin ich ohne Mittheilungen
geblieben.
(Fortsetzung folgt)
III Verschiedene Mittheilungen.
Entscheidung des Reichsgerichts, betreffend die Haftpflieht des Gewerbe-Unter¬
nehmers für die einem Arbeiter entstandene Beschädigung beim Cansalsnsam-
menbang derselben mit einer sam relativen Sehutie geeigneten Vorrichtung.
Gewerbeordnung §. 120.
In Sachen des Kupferschmieds Tb. zu H., Klägers und Revisionsklägers,
wider den Fabrikanten K., jetzt dessen minderjährige Kinder, vertreten durch
ihre Mutter, dieWittwe K. zu H., Beklagte und Rerisionsbeklagte, hat das Reichs¬
gericht, Dritter Civilsenat, am 14. November 1884 für Recht erkannt:
das Urtheil des Ersten Civilsenates des K. pr. Ober-Landesgerichts zu G. vom
23. Mai 1884 wird aufgehoben und die Sache zu anderweiter Verhandlung
und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen; die Entscheidung
über die Kosten der Revisionsinstanz bleibt dem Endurtheil Vorbehalten.
Thatbestan d.
Gegen das seine Berufung wider das die Klage abweisende Urtheil des
Königlichen Landgerichts zu Stade vom 17. Januar 1881 verwerfende Unheil
des Königlichen Ober-Landesgerichts zu Celle vom 23. Mai 1884 hat der Kläger
die Revision eingelegt.-
En tscheidungs gründe.
Der Berufungsrichter stellt auf Grund der erhobenen Beweise fest: dass der
Kläger am 31. Mai 1880 bei einer ihm von dem Werkmeister des Beklagten
aufgetragenen Arbeit durch das Abspringen eines Eisensplitters eine Verletzung
des linken Auges erhalten und in Folge davon die Sehkraft dosseiben ein-
gebüsst habe, dass bei dieser Arbeit die Augen der Gefahr, durch absprin¬
gende Splitter beschädigt zu werden, ausgesetzt waren, und dass diese Gefahr
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412
Verschiedene Mitteilungen.
durch die Anwendung von Schutzbrillen vermindert, insbesondere im vorlie¬
genden Falle voraussichtlich die Verletzung dadurch vermieden sein würde,
da der Splitter, welcher den Kläger verletzt habe, nicht von der Grösse gewe¬
sen sei, dass er eine Brille, mochte sie von Glas oder Draht sein, habe durch¬
bohren können. Der Berufungsrichter verneint trotzdem die Verpflichtung des
Beklagten zum Ersätze des dem Kläger durch die Verletzung entstandenen
Schadens, weil er sich über den Werth der Schutzbrille für einen Gewerbe¬
betrieb, wie den des Beklagten, noch nicht klar sei und mit Rücksicht auf die
widersprechenden Gutachten der Sachverständigen sich nicht davon habe
überzeugt halten können, dass die Lieferung von Schutzbrillen an die Arbeiter
des Betriebes eine im Sinne des §. 120 der Reichs-Gewerbeordnung nothwen-
dige Einrichtung gewesen, noch weniger aber folgeweise davon, dass die
Nichtlieferung dem Beklagten als haftbar machendes Verschulden anzurech¬
nen sei.
Diese Entscheidung verletzt die Bestimmungen in §. 120 der Reichs-
Gewerbeordnung.
Nach der aus dem Dienstmiethvertrage sich ergebenden, in §. 120 cit. ge¬
setzlich geregelten Verpflichtung des Gewerbeunternehmers für die Sicherung von
Leben und Gesundheit der von ihm beschäftigten Arbeiter Sorge zu tragen, liegt
demselben allgemein ob, alle diejenigen Einrichtungen herzustellen und zu
unterhalten, welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbe¬
betriebes und der Fabrikstätte zur thunlichsten Sicherung der Arbeiter gegen
Gefahr für Leben und Gesundheit nothwendig sind, und er haftet für den durch
Verletzung seiner Arbeiter entstandenen Schaden, sobald die zur Sicherung des¬
selben gegen die mit den ihnen aufgetragenen Arbeiten verbundenen Gefahren
nothwendigen Schutzvorkehrungen von ihm nicht getroffen sind, vorausgesetzt,
dass ein Gausalzusammenhang zwischen diesem Mangel der Schutzvorrichtungen
und dem eingetretenen Unfall anzunehmen ist, und dass nicht besondere Um¬
stände vorliegen, aus denen sich ergiebt, dass auch bei Aufwendung aller Sorg¬
falt und Sachkunde, welche ein ordentlicher Gewerbetreibender besitzen und an¬
wenden muss, die zum Schutze der Arbeiter bei der betreffenden ihnen auf¬
getragenen Arbeit geeigneten Schutzvorrichtungen zur Zeit des Unfalls nicht
getroffen werden konnten. Nach dem Gutachten der vernommenen Sachverstän¬
digen und den Feststellungen des Berufungsgerichts kann es nun keinem Zweifel
unterliegen, dass eine Schutzbrille eine geeignete Vorkehrung ist, um gegen die
Gefahr der Verletzung des Auges, welche mit der dem Kläger am 31. Mai 1880
aufgetragonen Arbeit vermöge ihrer besonderen Beschaffenheit verbunden ist,
Schulz zu gewären, und es wird die Annahme, dass die Lieferung von Schutz¬
brillen bei Arbeiten, wie den hier in Frage stehenden, eine nothwendige im Sinne
des §. 120 der Reichs-Gewerbeordnung sei, dadurch nicht ausgeschlossen, dass
die Schutzbrillen nicht unter allen Umständen den mit dieser Arbeit beschäftig¬
ten Arbeitern einen absoluten Schutz gegen die Verletzung ihrer Augen durch
abspringende Eisensplitter gewähren, da nach §. 120 der Gewerbeunternehmer
auch zur Herstellung der nur einen relativen Schutz gewärenden Schutz mass-
regeln verpflichtet ist. Irrig ist es ferner, wenn das Ober-Landesgericht deshalb
die Nothwondigkeit der Lieferung einer Schutzbrille an den Kläger bei Vornahme
der ihm aufgetragenen Arbeit für ausgeschlossen erachtet, weil mit Rücksicht
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Verschiedene Mittheilungen.
413
darauf, dass mit dem Gebrauche von Schutzbrillen in dem Gewerbebetriebe der
Eisen- und Stahlindustrie auch Nachtheile und Gefahren verbunden seien, in den
Kreisen der betheiligten Fabrikunternehmer Meinungsverschiedenheit über den
Werth der Schutzbrillen herrsche, ein Theil derselben den Nutzen, ein Theil die
Nachtheile für überwiegend erachte. Wesentlich ist nur, ob die Schutzbrille ein
geeignetes Mittel ist, um gegen die mit der betreffenden Arbeit, bei deren Vor¬
nahme der Arbeiter verletzt ist, verbundene Gefahr für Gesundheit und Leben
Schutz zu gewähren, mag sie auch nicht geeignet sein, gegen die mit anderen in
diesem Gewerbebetriebe vorzunehmenden Arbeiten verknüpften Gefahren zu
schützen oder deren Gebrauch bei diesen sich nicht empfehlen. Da nun nach
den Feststellungen des Berufungsgerichts an dem Causalznsammenhange zwischen
der Nichtlieferung der Schutzbrille an den Kläger und dem eingetretenen Unfälle
nicht zu zweifeln ist, auch sonstige besondere Umstände nicht vorliegen, welche
geeignet wären, die aus der Nichtlieferung der Schutzbrille entstehende Ver¬
pflichtung des Beklagten zum Schadensersätze zu beseitigen, so muss diese als
feststehend erachtet werden. Das angefochtene Urtheil war daher aufzuheben.
Dem Anträge des Revisionsklägers auf Zusprechung der Klage konnte jedoch nicht
deferirt werden, weil über den dem Kläger durch die erlittene Verletzung ent¬
standenen Schaden die erforderlichen Feststellungen noch nicht getroffen sind,
es musste vielmehr die Sache zu diesem Zwecke zur anderweiten Verhandlung
und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
Entscheidung des Reichsgerichts, betreffend die Verantwortlichkeit des Fabrik¬
herrn für vorsätzliches wie fahrlässiges Znlassen der Beschäftigung ven Rin¬
dern unter 12 Jahren in der Fabrik. Gewerbeordnung §§. 135, 146, No. 1.
ln der Strafsache wider den Fabrikbesitzer M. F. H. zu F. hat das Reichs¬
gericht, Zweiter Strafsenat, am 12. December 1884 für Recht erkannt,
dass auf die Revision des Staatsanwalts das Urtheil der Strafkammer bei dem
K. pr. Amtsgerichte zu S. vom 27. October 1884 nebst den demselben zu
Grunde liegenden thatsächlichen Feststellungen aufzuheben und die Sache zur
anderwoiten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht der ersten Instanz
und zwar an das K. pr. Landgericht zurückzuverweisen.
Gründe.
Die Revision des Staatsanwalts, welche Verletzung der §§. 135 Abs. 1 und
146 Abs. 1 Nr. 2 der Reichs-Gewerbeordnung (Reichs-Gesetzblatt 1883, S. 177)
rügt, muss für begründet erachtet werden.
In der dem Angeklagten und seinem Bruder W. H. gehörigen, von beiden
gemeinschaftlich geleiteten Tuchfabrik zu F. arbeitet der Tucbmacbergeselle St.
gegen stückweise Bezahlung. Die noch nicht 12 Jahre alte Tochter desselben,
Elisabeth St., hat, wie der Vorderrichter der für durchaus glaubhaft erklärten
Doposilion des Zeugen Zwirners A. H. entnimmt, seit Sommer 1883 bis März
1884 dem Vater fast täglich das Mittagessen in die Fabrik gebracht und ist
dann fast immer bis 8 Uhr Abends in der Fabrik geblieben, in welcher sie für
ihren Vater die Pfeifen aufsteckle. Während der Schulzeiten war sie nicht in
der Fabrik, kam aber dann wieder und setzte die Arbeit fort, ging dann ab und
zu auch vor 8 Uhr nach Hause. Nach einer am 24. October 1883 stattgehabten
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414
Verschieden« Mittheilungen.
polizeilichen Revision der Fabrik verbot der Angeklagte dem St. das fernere
Mitbringen seiner Tochter mit den Worten: „er wolle das nicht haben; wenn
etwas passire, würde er für nichts anfkommen.“ Die Elisabeth St. blieb dann
auch einige Zeit fort, kam aber wieder nnd arbeitete weiter. Ihrer Angabe, dass
der Angeklagte sie, als sie Fäden angeknüpft, einmal gesehen und bei dem
Einpacken von Pfeifen zu ihr gesagt habe, „sie solle sie recht sauber einpacken“,
schenkt der Vorderrichter keinen Glauben. Derselbe erachtet zwar für erwiesen,
dass die Elisabeth St. im Sommer 1883 bis März 1884 zu F. in der H.scben
Fabrik zeitweise ihrem Vater auf dessen Wunsch in der Arbeit geholfen hat,
und zwar durch Anknüpfen von Fäden und Einpacken von Pfeifen,
dagegen für nicht erwiesen,
dass der Angeklagte das Alter der Elisabeth St. gewusst und dass er ihr
überhaupt Beschäftigung in seiner Fabrik zu F. gegeben hat.
Im Weiteren erklärt der Vorderrichter:
Es sei Sache des Werkführers E. gewesen, so oft er Mädchen, von deren Alter
er sich nicht überzeugt, in der Fabrik arbeitend betraf, dasVerbot zu arbeiten
auszusprechen. Ihn treffe daher eigentlich die Schuld des Unterlassens des
Verbots an die Elisabeth St. nnd deren Vater; denn er (E.) sei, wie aus dem
ganzen Vorfälle hervorgehe, der Fabrik als Aufseher und Werkführer vor¬
gesetzt gewesen, während der Angeklagte als Fabrikherr unmöglich in der
Lage sich befinde, selbst wenn er dies wollte, tagtäglich, ja stündlich die
Fabrik zu diesem Zwecke zu untersuchen und zu revidiren, zumal der dieses
Verbot enthaltende Anschlag in den Fabrikräumen zu Jedermanns Kenntniss
angebracht sei. Ausserdem stehe aber fest, dass der Angeklagte dem St. das
Mitbringen, beziehentlich Arbeiten seiner Tochter geradezu untersagt habe,
ohne dass er ihr Alter, wohl aber wusste, dass sie noch schulpflichtig war . .
habe aber der Angeklagte der Elisabeth St. Beschäftigung im Sinne des
§.146 Abs. 1 Nr. 2 der Gewerbeordnung nicht gegeben, so könne er, selbst
wenn der Vorfall, den die Elisabeth St. angebe, richtig gewesen wäre, dafür
nicht gestraft werden.
Die so begründete Freisprechung des Angeklagten beruht in mehrfacher
Beziehung auf Rechtsirrthum.
Der §. 135 der Gewerbeordnung enthält in Abs. 1 das allgemeine Verbot,
dass Kinder unter zwölf Jahren in Fabriken nicht beschäftigt werden dürfen,
und gestattet in den folgenden Absätzen in Ansehung der Kinder unter vierzehn
Jahren und der jungen Leute zwischen vierzehn und sechszebn Jahren, welche
beide Kategorien der §. 136 unter der Bezeichnung „jugendliche Arbeiter“ zu¬
sammenfasst, sowie in Ansehung der Wöchnerinnen die Beschäftigung in Fabri¬
ken nur unter gewissen, durch §. 136 noch erweiterten Beschränkungen. In
§. 146 Abs. 1 Nr. 2 werden mit Strafe bedroht: Gewerbetreibende, welche den
§§. 135, 136 zuwider Arbeiterinnen oder jugendlichen Arbeitern Beschäftigung
geben.
Es kann nun zunächst keinem Zweifel unterliegen, dass diese Strafsatzung
auch auf das in §. 135 Abs. 1 enthaltene Verbot Betreffs der Kinder unter zwölf
Jahren sich bezieht und dass darin der Ausdruck „jugendliche Arbeiter“ nicht
in dem beschränkten Sinne des §. 136, sondern in dem weiteren Sinne von Per¬
sonen bis zu sechszehn Lebensjahren verstanden ist.
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Verschiedene Mittheilnngen.
415
Mit der Strafe sind bedroht vorab Gewerbetreibende, das heisst nach dem
Sprachgebrauche der Gewerbeordnung die Personen, welche das Gewerbe selb¬
ständig betreiben und daher durch den Betrieb des Gewerbes die in Beziehung
darauf gesetzlich begründeten Verpflichtungen überkommen haben. Gewerbe¬
treibender im Sinne des §. 146 Abs. 1 Nr. 2 ist vorliegend daher der Angeklagte
und dessen Bruder, als Inhaber der Tuchfabrik, die sie auf ihren Namen und
für ihre Rechnung betreiben, nicht der Werkführer E., wenn derselbe auch von
jenen der Fabrik „als Aufseher und Werkführer“ vorgesetzt war. Der letztere
erhielt dadurch namentlich nicht die Eigenschaft eines Stellvertreters im Sinne
der §§. 45, 151 der Gewerbeordnung, sondern blieb ein Gehülfe in dem von dem
Angeklagten und dessen Bruder betriebenen Gewerbe (Entscheidungen in Straf¬
sachen Band 2 S. 321, Band 4 S. 307). Deshalb konnte sich E. des Vergehens
gegen den gedachten §. 146 Abs. 1 No. 2 als Thäter oder Mitthäter nicht
schuldig machen, sondern nur wegen Anstiftung oder Beihülfe strafbar sein,
wenn die Voraussetzungen der §§. 48 oder 49 des Strafgesetzbuchs Vorlagen und
daher insbesondere das Delict von dem Gewerbetreibenden dolos begangen
wurde. Die Verantwortlichkeit des Angeklagten und seines Bruders für die
Erfüllung der auf den Betrieb der Fabrik bezüglichen gesetzlichen Verpflichtun¬
gen bestand nach der Bestellung des E. zum „Aufseher und Werkmeister“ im
ganzen Umfange fort. Dieselben waren und blieben verpflichtet, dafür zu sorgen,
dass in ihrer Fabrik dem gesetzlichen Verbote, wonach Kinder unter zwölf Jahren
darin nicht beschäftigt werden durften, nicht zuwider gehandelt wurde und
machten sich strafbar, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig — das Gesetz hat
beide Arten der Verschuldung im Auge — unterliessen, dem Verbote Geltung zu
schaffen. Es ist daher die Ausführung des Vorderrichters, dass es Sache des
Werkführers E. gewesen sei, der Elisabeth St. und deren Vater das Arbeiten der
ersteren zu verbieten, und dass den E. eigentlich die Schuld des Unterlassens
des Verbots treffe, sofern damit die Verantworlichkeit des Angeklagten aus¬
geschlossen oder eingeschränkt werden soll, rechtlich unzutreffend, und auoh die
weitere Ausführung, dass der Angeklagte als Fabrikherr unmöglich sioh in der
Lage befinde, selbst wenn er dies wollte, tagtäglich, ja stündlich die Fabrik in
Rücksicht auf die Zulässigkeit der darin arbeitenden Personen zu untersuchen
und zu revidiren, wird durch den Rechtsirrthum beherrscht, als habe der An¬
geklagte durch die Bestellung des E. zum Aufseher und Werkmeister seinen
gesetzlichen Obliegenheiten in Ansehung der Zulassung jugendlicher Arbeiter
genügt. Die letztere Ausführung enthält keine den concreten Thatsaohen ent¬
nommene Feststellung, dass der Angeklagte in Beziehung auf die Beschäftigung
der Elisabeth St. weder dolos noch auch fahrlässig gehandelt hat. Vorliegend
kam es darauf an, das Verhalten des Angeklagten nach den concreten Umständen
zu prüfen, insbesondere daher zu prüfen, was der Angeklagte bezüglich der ihm
obliegenden Aufsicht über die Fabrik gethan bat, welche Anordnungen und
Vorkehrungen zur Verhütung der Beschäftigung unzulässiger jugendlicher Ar¬
beiter getroffen waren, und ob diese und die sonstigen Umstände zu der Annahme
führen, dass dem Angeklagten die fortgesetzte Beschäftigung der nicht zwölf
Jahre alten Elisabeth St. in der Fabrik, wenn er um dieselbe nicht wusste, doch
ohne dass ihn der Vorwurf der Fahrlässigkeit trifft, habe verborgen bleiben
können (Entscheidungen in Strafsachen Baud 4 S. 307). In dieser Beziehung
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Verschiedene Mittheilungcn.
ist der die Bestimmungen über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter enthal¬
tende Ausbang in den Fabrikräumen, welchen das Gesetz unter besonderer Straf¬
androhung vorschreibt (§§. 138, 149 Nr. 7 der Gewerbeordnung), ohne Be¬
deutung, und wenn der Angeklagte nach der am 24. October 1883 geschehenen
polizeilichen Revision der Fabrik dem St. auch das Mitbringen seiner Tochter
Elisabeth und deren Beschäftigung untersagt hat, so kommt doch die lange Zeit
der trotzdem bald wieder aufgenommenen, bis in den März 1884 fortgesetzten
Beschäftigung der Elisabeth St. sowie der Umstand in Betracht, dass der An¬
geklagte. soviel bis jetzt erhellet, das Verbot nur dem St. gegenüber erklärt und
den Werkführer E. demgemäss zu instruiren unterlassen hat. Wenn der Vorder¬
richter hervorhebt, dass der Angeklagte zur Zeit jenes Verbotes das Alter der
Elisabeth St. nicht kannte, wohl aber wusste, dass sie noch schulpflichtig war,
so blieb zu erwägen, ob nicht auch des Angeklagten Nichtkenntniss, dass die St.
noch nicht zwölf Jahre alt war, auf Fahrlässigkeit beruht. Denn nach §. 137
a. a. 0. in der Fassung des Gesetzes vom 22. Juli 1878 ist die Beschäftigung
eines Kindes in Fabriken, soweit sie nach §. 135 überhaupt zulässig, also eines
Kindes von zwölf bis vierzehn Jahren nicht gestattet, wenn dem Arbeitgeber nicht
zuvor für dasselbe eine (Jahr und Tag der Geburt enthaltende) Arbeitskarte der
Ortspolizeibehörde eingehändigt ist. und nach Artikel 15 (vergl. Artikel 13) des
Gesetzes vom 1. Juli 1883. betreffend Abänderung der Gewerbeordnung (Reichs-
Gesetzblatt S. 159) gilt vom 1. Januar 1884 ab das Gleiche auch hinsichtlich
der noch zum Besuche der Volksschule verpflichteten jungen Leute zwischen
vierzehn und sechszehn Jahren. Es kann daher davon nicht die Rede sein, dass
der Angeklagte ohne Verletzung der ihm gesetzlich obliegenden Pflichten über
das Alter der Elisabeth St. hätte im Unklaren bleiben können.
Wenn der Vorderrichter aber die Freisprechung des Angeklagten ferner
darauf stützt, dass derselbe der Elisabeth St. Beschäftigung in seiner Fabrik
überhaupt nicht gegeben habe, so gebt auch dieser Entscheidungsgrund nicht
minder rechtlich fehl. Kinder unter zwölf Jahren dürfen in Fabriken nicht be¬
schäftigt werden. Beschäftigung giebt diesen der Fabrikbesitzer, welcher ihre
Beschäftigung iu der Fabrik und für deren Zwecke, sei er vorsätzlich oder fahr¬
lässig, zulässt. Es ist gleichgültig, ob der Fabrikbesitzer selbst mit denselben
in ein Vertragsverhältniss tritt und ihnen den Lohn zahlt, oder ob ein Arbeiter
der Fabrik dieselben zu seiner Hülfe bei dem von ihm in der Fabrik und für die
Fabrik zu leistenden und ihm zu lohnenden Arbeiten annimmt (vergl. Entschei¬
dungen in Strafsachen Band 9 S. 102 und das Urtheil vom 21. October 1882 in
der Rechtsprechung des Reichsgerichts Band 4 S. 753). Das Verbot, dass Kin¬
der unter zwölf Jahren in Fabriken nicht beschäftigt werden dürfen, beruht auf
einer Vorsorge des Gesetzgebers für deren Wohl und Gedeihen, und richtet sich
gerade gegen den Inhaber der Fabrik, — den Gewerbetreibenden — der, wie er
allein dazu in der Lage, so auch verpflichtet ist, die Beschäftigung solcher Kinder
in der Fabrik zu hindern, und sich strafbar macht, wenn er vorsätzlich oder
fahrlässig ihre Beschäftigung in der Fabrik zulässt und ihn6n damit Beschäfti¬
gung giebt. Es ändert darin auch nichts, dass vorliegend die Elisabeth St. von
ihrem Vater zu seiner Hülfsleistung in der Fabrik bei seinen Akkordlohnarbeiten
herangezogen ist. Eine solche Disposition des Vaters über die Arbeitskraft seines
nicht zwölf Jahre allen Kindes verbielet das Gesetz, und es war gerade Sache
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Verschiedene Mitlheilungen.
417
des Angeklagten, als Mitinhabers und Leiters der Fabrik, die Beschäftigung des
Kindes in der Fabrik nicht zuzulassen und zu gewähren.
Dass den Angeklagten in Bezug hierauf ein Verschulden, insbesondere
Fahrlässigkeit, nicht trifft, hat der Vorderrichter jedenfalls nicht auf Grund
lediglich thatsächlicher Erwägungen, sondern von Rechtsirrthum beeinflust an¬
genommen.
Gemäss der §§.393, 394 der Strafprocessordnung war deshalb auf die
Revision des Staatsanwalts das angefochteue Urtheil mit den demselben zu
Grunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur anderweiten
Verhandlung und Entscheidung in die erste Instanz zurückzuverweisen, und zwar
an das Königl. preuss. Landgericht zu G.
Entscheidung des Reichsgerichts, betreffend die strafreehtliehe Yerantwertlieh-
keit eines Fabrikbesitzers wegen der dnreb den mangelhaften Zustand einer
Treppe im Fabrikgebäude veranlassten Körperverletzung eines Arbeiters.
Strafgesetzbuch §. 230 Abs. 2. Gewerbeordnung §. 120 Abs. 3.
In der Strafsache wider den Fabrikanten M. in B. hat das Reichsgericht,
Zweiter Strafsenat, am 9. Januar 1885 für Recht erkannt,
dass die Revision des Angeklagten gegen das Urtheil der Vierten Strafkammer
des K. pr. Landgerichts I zu B. vom ll.October 1884 zu verwerfen und
dem Beschwerdeführer die Kosten des Rechtsmittels aufzuerlegen.
Gründe.
Die Revisionsbeschwerden erweisen sich als ungerechtfertigt.-
Die dem Wortlaut des §. 230 des Strafgesetzbuchs Abs. 1 und 2 ent¬
sprechende Schlussfeststellung ist vom ersten Richter auf folgenden, für erwiesen
erachteten Sachverhalt gestützt. Der Angeklagte betreibt eine Photographie¬
rahmen- und Goldleistenfabrik mit etwa 400 Arbeitern in einem mehrstöckigen
Gebäude zu B.
Zu dem Arbeitssaal in der ersten Etage führt eine Treppe, deren Geländer
nur aus einer Griffstange (Holm) bestand und keine Verbindung mit den Treppen¬
stufen durcli Sprossen besass.
Am 9. December 1883 stolperte beim Niedersteigen der 15jährige Arbeits¬
bursche H. auf der Treppe, glitt mehrere Stufen herab, stürzte durch die offene
Lücke im Geländer auf den Treppenabsatz des Erdgeschosses und rollte von da
noch über einige Stufen in den Hausflur. Er erlitt erhebliche Kopfverletzungen
und blieb 11 Wochen in ärztlicher Behandlung. Der Sturz war dem Zustand
des Treppengeländers zuzuschreiben.-
Der erste Richter hat für dargethan erachtet, dass der Angeklagte die
Verletzung des H. verursacht hat, indem er zu der Aufmerksamkeit, welche er
aus den Augen setzte, vermöge seines Gewerbes besonders verpflichtet war. Es
ist angenommen, dass es zu den gewerblichen Pflichten desselben, als Unter¬
nehmers gehörte, die zum Erreichen und Verlassen der oberen Arbeitsstätten für
die Fabrikarbeiter bestimmte Treppe in solchem Zustande zu erhalten, dass ihre
Benutzung thunlichst ohne Gefahr für Leben und Gesundheit erfolgen konnte.
Es ist Bezug genommen auf §. 120 Abs. 3 der Reichs - Gewerbe¬
ordnung.
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Verschiedene Mittheilungen.
Diese Vorschrift verpflichtet die Gewerbeunternehmer, alle diejenigen Ein¬
richtungen herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf die beson¬
dere Beschaffenheit des Gewerbebetriebes und der Betriebsstätte zu thunlichster
Sicherheit gegen Gefahr für Leben und Gesundheit nothwendig sind.
Die Revision bekämpft die Heranziehung dieser Vorschrift mit der Aus¬
führung, dass durch die Anlage der Treppe eine „besondere Beschaffenheit“ der
Betriebsstätte im Sinne jener Vorschrift nicht gegeben sei; dass damit nur die
Beschaffenheit der inneren, durch die Zwecke der Gewerbeart gebotenen Anlage
bezeichnet werden sollte unter Ausschliessung von nützlichen, indess zur Aus¬
übung des Gewerbes nicht unbedingt unentbehrlichen Nebenanlagen; also auch
von Treppen, die nur zur Betriebsstätte hinführen.
Diese Ausführung verkennt den Begriff der Betriebsstätte. Darunter ist
nicht blos der Maschinenraum, der Arbeitssaal, oder die Arbeitsstelle jedes ein¬
zelnen Arbeiters, sondern die Räumlichkeit in ihrem vollen Umfange zu verstehen,
in welcher ein Gewerbebetrieb stattfindet. In diesem Sinne ist der Ausdruck in
der Reichs-Gewerbeordnung durchweg gebraucht; vergleiche §§. 3, 16, 25, 27,
147. -Zur Theilung der zum Gewerbebetrieb gehörigen Anlagen in Haupt- und
Nebenanlagen bietet der Wortlaut des Gesetzes in §. 120 a. a. 0. keinen Anhalt.
Sie würde auch mit dem Zweck desselben, denjenigen Personen, welche in ge¬
werblichen Betriebsstätten verkehren und arbeiten, Schutz gegen körperliche
Gefährdung zu sichern, in Widerspruch treten.
Erheischte die besondere Beschaffenheit der Fabrikanlage des Angeklagten
ein Betreten verschiedener Stockwerke durch die Arbeiter, so bedurfte es keiner
besonderen Ausführung darüber, dass die Einrichtung von genügend bewährten
Treppen einen nothwendigen Besiandtheil der Einrichtung der Betriebsstätte bil¬
dete, und der Angeklagte zu ihrer Unterhaltung in genügend schützendem
Zustande verpflichtet blieb.
Mit Recht sind die hieraus erhellenden Pflichten als dem Angeklagten ver¬
möge seines Gewerbes besonders obliegend bezeichnet und der Vorschrift des
Abs. 2 des §. 230 des Strafgesetzbuchs unterstellt. Die Einwendung der Revi¬
sionsbegründung. dass hier unter „besonderen“ Verpflichtungen nur solche zu
verstehen seien, welche durch die wesentliche Bestimmung des Gewerbes, durch
dessen Gegenstand begründet werden, und sich als unmittelbaren Ausfluss der
Gewerbthätigkeit characterisiren lassen, trägt in die obige Gesetzesbestimmung
eine unzulässige, überdies jeder sichern Begrenzung unzugängliche Unterschei¬
dung. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass in einer Goldleistenfabrik die ge¬
werblichen Pflichten nicht erst mit dem Augenblick und nur für diejenigen
Thätigkeilen ihren Anfang nehmen, mittels deren das Holz zu Leisten hergestellt
und vergoldet wird, dass vielmehr die dazu erforderlichen vorbereitenden oder
begleitenden Thätigkeiten gleichfalls innerhalb des Gewerbebetriebes und der
damit verbundenen Pflichten liegen.
Im Hinblick auf die Sachlage bedarf es einer weiteren Erörterung darüber
nicht, dass, auch wenn §. 120 Abs. 3 der Reichs-Gewerbeordnung nicht bestände,
der erste Richter zur Anwendung des Absatzes 2 des §. 230 des Strafgesetzbuchs
doch ohne Rechtsirrthum hätte gelangen können. Die im §. 120 a. a. 0. präcisir-
ten Verpflichtungen folgen im Wesentlichen schon aus allgemeinen Rechtsregeln.
Eröffnete der Angeklagte einen Gewerbebetrieb, der die Arbeiter zur Benutzung
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Verschiedene Mittheilnngen.
419
von Treppen nötbigte, so übernahm er damit auch die besondere Verpflichtung,
ihnen durch deren Zustand keine Gefahr zu bereiten, andernfalls nicht nur civil-
reohtlich, sondern in jeder Richtung für mittelbare Folgen ihrer gefährdenden
Beschaffenheit einzustehen (Allgemeines Landrecht Theil I Tit. 3 §.5, 10) und
auch diese Verpflichtung knüpfte sich im Sinne des §. 230 Abs. 2 des Straf¬
gesetzbuchs an den Betrieb des Gewerbes.
Da auch in anderen Richtungen, insbesondere bezüglich der Strafzumessung
dem erstrichterlichen Urtheil Bedenken nicht entgegenstehen, so war die Revision
zu verwerfen, und wegen der Kosten nach §. 505 der Strafprocessordnung zu
erkennen.
Reiehsgcrlehtliehe Entscheidungen als Beiträge sar gerichtlichen Iffedieia. Zu¬
sammengestellt vom Oberstabsarzt Dr. H. Frölich zu Möckern bei Leipzig.
I.
Die Fleischer G.’schen Eheleute zu V. sind vom Landgericht aus §.10 des
Nahrungsmittel-Gesetzes vom 14. Mai 1879 verurtheilt. Nach dem fest¬
gestellten Beweisergebnisse haben die Angeklagten Hamburger, d. h. amerikani¬
sches Schmalz zerlassen, unter Zusatz einer Zwiebel mit Schweinefett von frisch
geschlachteten Schweinen vermischt und diese Mischung an das Publikum als
„Schweinefett“ oder „Schmeerfett“ verkauft, während das Publikum in der
dortigen Gegend unter dem Namen „Schweinefett“ oder „Schmeerfett“, wenn
es diese Waare kauft, das Schmeerfett von Schweinen versteht und verlangt, die
im Lande frisch geschlachtet worden sind, solches Fett und amerikanisches Fett
im gemeinen Verkehr als Nahrungsmittel von verschiedener Güte gelten, die
daher auch einen verschiedenen Preis haben, und diese Verkehrsansicht objectiv
ihren Grund in dem Umstande bat, dass es für den Consumenten etwas Anderes
ist, ob er frisches Fett von Thieren, die im Inlande unter Beobachtung der in¬
ländischen sanitätspolizeilichen Vorschriften geschlachtet worden sind, oder ob
er Schweinefett erhält, dessen Ursprung er nicht kennt, und von dem er nicht
weiss, ob es nicht schon Monate oder Jahre alt ist.
Die Revision der Angeklagten wendet ein, dass die von ihnen verkaufte
Waare weder nachgemacht, noch verfälscht sei, denn der Begriff „verfälschen“
setze eine Verschlechterung der Qualität des Nahrungsmittels voraus, und er¬
fordere der Begriff „nachmachen“, dass der Schein einer anderen Sache hervor¬
gerufen werde.
Das R.-G. III. Strafsenat hat am 4. Juni 1883 die Revision verworfen, da
dieselbe von einem rechtlich irrigen Ausgangspunkte ausgeht. Die gesetzlichen
Begriffe „nachmachen“ und „verfälschen“ im §. 10 des Nahrungsmittel-Gesetzes
setzen eine gewisse Norm voraus, an welcher diejenige Waare zu bemessen ist,
um deren Nachahmung oder Verfälschung es sich bandelt; diese Norm besteht
jedoch nicht in deijenigen Beschaffenheit der Waare, welche dem Einzelnen
nach seinen subjectiven Zwecken oder seinem subjectiven Ge¬
schmack e als die wünschenswerthe erscheinen mag, und auch nioht, oder
doch nur unter besondern, hier nicht in Betracht kommenden Verhältnissen, in
einer objectiv absolut festen und ein für allemal bestimmbaren
Beschaffenheit der Waare, sondern regelmässig in derjenigen Beschaffenheit,
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Verschiedene Mittheilungen.
welche nach Zeit und Ort der redliche gutgläubige Verkehr bei der
Waare fordert und die demgemäss das Publikum erwartet und zu erwarten
ein Recht hat, wenn es die Waare unter der im Verkehr hergebrachten Be¬
zeichnung oder äussem Form und Gestalt fordert und kauft. Dass die Ange¬
klagten eine dieser Norm nicht entsprechende Waare lieferten, als sie
ihre Mischung unter dem Namen „Schweinefett“ oder „Schmeerfett“ in den Ver¬
kehr brachten, hat das Landgericht in deutlichster Weise auseinandergesetzt und
festgesteilt. Gleichzeitig ergiebt sich aus den Urtheilsgründen, dass, gegenüber
dieser Norm, die Abweichung der von den Angeklagten verkauften Waare
nicht nach der Seite einer Verbesserung, sondern nach der einer Ver¬
schlechterung derselben ging, theils insofern, als die Käufer, statt der er¬
warteten zweifellos frischen, eine hinsichtlich ihres wirklichen Alters
nicht controlirbare Waare erhielten, theils sogar insofern, als, nach dem
Obigen, die verkaufte Waare zum Theil an sich schlechter als frischo
und erst durch eine besondere Manipulation scheinbar der frischen gleich-
gemacht worden war, (Leipz. Tageblatt v. 23. Nov. 1883.)
II.
Der Bauergutsbesitzer N. zu W. ist vom Landgericht wegen fahrlässigen
Verkaufs eines verdorbenen Nahrungsmittels verurtheilt, weil fest¬
gestellt war, dass derselbe im December 1882 auf dem Markte zu Halberstadt
an die Ehefrau des Postsecretairs Weisker für den höchsten Marktpreis eine
geschlachtete und gerupfte Gans verkauft, von welcher er auf Befragen der
Käuferin versicherte, dass sie jung und gesund sei, deren Fleisch sich jedoch
bei der am folgenden Tage stattgehablen thierärztlichen Untersuchung als in
hohem Grade verfault und für den Genuss von Menschen ungeeignet
erwies, während die Eingeweide breiartig und stinkend waren und die Haut grün¬
liche Verwesungsflecke zeigte. — Der Angeklagte will die Gans erst zwei Tage
vor dem Verkaufe geschlachtet und von dem verdorbenen Zustande derselben zur
Zeit des Verkaufs keine Kenntniss gehabt haben. Das Landgericht hat auch
diese Wissenschaft des Angeklagten nicht für erwiesen erachtet, wohl aber an¬
genommen, dass derselbe bei dem Verkaufe der Gans, deren Fleisch als verdor¬
ben bezeichnet wird, fahrlässig gehandelt habe. Diese Annahme gründet
sich auf die Erwägungen, dass nach dem Gutachten des Thierarztes die am
14. December 1882 in einem so vorgeschrittenen Verwesungszustande befundene
Gans entweder vor dem 11. desselben Monats geschlachtet worden oder schon
beim Schlachten krank gewesen sein müsse, und dass dem Angeklagten, welcher
sich geständlich mit dem Aufziehen, Schlachten und Verkaufen von Gänsen
beschäftige, bei gehöriger Aufmerksamkeit nicht hätte entgehen können, dass die
fragliche Gans zur Zeit des Verkaufs bereits verdorben war. indem
schon der faulige Geruch derselben ihn zu dieser Annahme hätte führen müssen.
Der Angeklagte wendet in seiner Revision ein, dass das Landgericht den
Rechts begriff der Fahrlässigkeit verkannt habe. Das R.-G., III. Strafsenat,
hat am 17. September 1883 die Revision verworfen, da die Fahrlässigkeit des
Angeklagten darin gefunden ist, dass er ein im hohen Grade verdorbenes
Nahrungsmittel auf öffentlichem Markte verkaufte, wiewohl er bei gehöriger
Aufmerksamkeit das Verdorbensein hätte erkennen und demzufolge von dem
Verkaufe hätte abstehen oder dem Käufer von der wahren Beschaffenheit der
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Verschiedene Mittheilungen.
421
Waare Mittheilung machen müssen. Das Landgericht ist dabei zweifellos von
den durchaus zutreffenden Annahmen geleitet worden, dass der Angeklagte als
gewerbsmässiger Verkäufer von dergleichen Nahrungsmitteln die besondere
Verp flieh tung gehabt habe, sich über den Zustand der zum Verkauf gebrachten
Gegenstände durch sorgsame Prüfung zu vergewissern und dass bei solcher
Prüfung der verdorbene Zustand der Gans für den sachkundigen Angeklagten
ohne Weiteres erkennbar gewesen sein würde. Wenn in letzterer Beziehung der
faulige Geruch der Gans als Erkonnungsmittel speciell hervorgehoben ist, so liegt
hierin zugleich die von der Revision vermischte Feststellung, dass zur Zeit des
Verkaufs ein derartiger Geruch vorhanden und leicht wahrnehmbar gewesen sei.
Die letzterwähnte Annahme erscheint aber auch ohnehin unbedenklich und einer
specielleren Motivirung nicht bedürftig, wenn man die schon am Tage nach dem
Verkaufe constatirte hochgradige Verwesung des Fleisches und die damals
herrschende niedrige Temperatur der Luft in Betracht zieht, bei welcher die
Fäulniss nur langsam vorschreitet. Angesichts dieser den Thatbestand des §.11
des Gesetzes vom 14. Mai 1879 erschöpfenden Feststellung war es ohne Erheb¬
lichkeit und konnte daher unentschieden gelassen werden, ob der Grund des
Verdorbenseins in der einen oder der anderen der von dem ThieraTzte auf¬
gestellten Alternativen zu suchen sei. Denn dem Angeklagten wird nicht zur
strafbaren Verschuldung zugerechnet, dass er ein krankes Thier geschlach¬
tet und verkauft, oder dass er nicht schon beim Schlachten den Einfluss der
von da bis zum Verkaufe verlaufenden Zeit auf die Beschaffenheit des Fleisches
sich richtig vorgestellt, sondern dass er es unterlassen habe, sich im Zeitpunkte
des Verkaufs von dem Zustande der Gans diejenige Kenntniss zu verschaffen,
welche man von ihm fordern durfte. (Leipz. Tagebl. vom 14. Januar 1884.)
III.
Wegen wissentlichen Feilhaltens gesundheitsschädlichen Flei¬
sches ist der Fleischer Anton T. und dessen Ehefrau zu L. vom Landgericht
verurtheilt. Nach dessen Feststellung hat die angeklagte Ehefrau das Fleisch
oiner von ihrem Ehemanne gekauften und geschlachteten Kuh, welche an der
Perlsucht gelitten hatte, am 3. Februar 1883 nach Deutsch-Eylau auf den Markt
gefahren, dasselbe dort zum Verkauf ausgestellt, auch ein Wenig davon verkauft.
An der Brust dieser von der Angeklagten zum Verkaufe ausgestellten Kuh hat
der Zeuge, Fleischer W., kleine gelbe Bläschen bemerkt, auch der Stadtwacht¬
meister K. kleine gelbe oder weisse Bläschen an den Rippen constalirt und den
Weiterverkauf des Fleisches inhibirt. Das von der Angeklagten aus Deutsch-
Eylau zurückgebrachte Fleisch dieser Kuh hat sodann der Angeklagte zu Löbau
in seinem Geschäft verkauft.
Dem Gutachten des Kreisphysicus Dr. W. folgend, nimmt das Landgericht
an, dass der Genuss von rohen, mit den der Perlsucht eigenthümlichen Knöt¬
chen durchsetzten Fleisch-, Lungen- oder Eingeweidetheilen bei Mensohen Scro-
pheln and selbst Tuberculose hervorrufen kann, wohingegen der Genuss
der nicht mit diesen Knötchen behafteten Theile auch perlsüchtiger Thiere, sowie
der Genuss der von der Perlsucht ergriffenen Theile, wenn letztere gekocht, d. h.
längere Zeit mindestens einer Temperatur von 70° C. ausgesetzt sind, nicht
schädlich ist. Den Umstand, dass hiernach die für die Gesundheit ge¬
fährlichen Wirkungen des Genusses von Fleisch- und sonstigen Theilen perl-
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Verschiedene Mittheilungen.
süchtiger Thiere durch Absonderang der inficirten Stellen oder durch Kochen
verhütet werden können, erachtet das Landgericht für die Anwendbarkeit des
§. 12 des Gesetzes vom 14. Mai 1879 als unerheblich, weil insbesondere Rind¬
fleisch auch im rohen oder halbrohen Zustande zur Nahrung verwandt
werden könne und nicht selten verwandt werde. Endlich erklärt das Landgericht
in näherer Begründung für feststehend, dass beiden Angeklagten die von den
Zeugen bekundeten Krankheitserscheinungen nicht entgangen sind, dass sie
wussten, dass dieselben auf Perlsucht schliessen liessen und auch
wussten, dass die von der Perlsucht ergriffenen Theilo für Menschen
nicht geni essbar, d. h. ihr Genuss unter Umständen der Gesundheit schädlich
ist. Bei diesen thatsächlichen Unterlagen hat das Landgericht die Anwendung
des §. 12 No. 1 des Gesetzes vom 14. Mai 1879, wonach zu bestrafen ist, wer
wissentlich Gegenstände, deren Genuss die menschliche Gesundheit zu
beschädigen geeignet ist, als Nahrungs- oder Genussmittel ver¬
kauft. feilhält oder sonst in Verkehr bringt, gegen die beiden Angeklagten
für gerechtfertigt erachtet.
Hiergegen macht die Revisionsschrift der Angeklagten geltend, dass unter
den Gegenständen, deren Genuss die menschliche Gesundheit zu schädi¬
gen geeignet sei, im Sinne jenes Gesetzes nicht alle Gegenstände zu ver¬
stehen seien, welche überhaupt einmal schädlich werden können, sondern
nur solche, welche bei dem gewöhnlichen und ordnungsmässigen Ge¬
brauche schädlich auf die Gesundheit einwirken. Das Letztere treffe nach
dem Gutachten des Kreisphysicus Dr. W. hier nicht zu; denn der allgemeine
Gebrauch gehe dahin, Rindfleisch nur in gekochtem Zustande zu verzehren,
in welchem es eben nicht schädlich sei.
Das R. G., II. Strafsenat, hat am 26. Februar 1884 die Revision verworfen,
da vom Landgericht thatsächlich festgestellt ist. dass Rindfleisch nicht selten
auch im rohen oder halbrohen Zustande zur menschlichen Nahrung
verwendet wird, so dass von dem behaupteten „allgemeinen Gebrauch “
oder auch nur von einem „gewöhnlichen und ordnungsmässigen Ge¬
brauch“, Rindfleisch nur in gekochtem — d. h. längere Zeit mindestens
einer Temperatur von 70° C. ausgesetzten — Zustande zu verzehren, hier nicht
die Rede sein kann. Das Gesetz will aber auch überhaupt vorbeugend wirken
gegen jede Beschädigung der menschlichen Gesundheit, welche Gegenstände, die
als Nahrungs- oder Genussmittel verkauft, feilgehalten oder sonst in
Verkehr gebracht werden, durch ihren Gebrauch als Nahrungs- oder
Genussmittel bereiten. Es kommt deshalb jede mögliche von dem Ver¬
käufer u. s. w. voraussehbare Art des Gebrauchs in Betracht, welche der den
Gegenständen gegebenen Bestimmung, als Nahrungs- oder Genussmittel
zu dienen, entspricht. (Leipziger Tagebl. vom 20. Juli 1884.)
IV.
Der Gutsbesitzer R. zu B. ist vom Landgericht aus §. 12 des N ahrungs-
mittelgesetzes vom 14. Mai 1879 verurtbeilt, weil er wissentlich Ochsen¬
fleisch. dessen Genuss die menschliche Gesundheit zu beschädigen geeignet war,
als Nahrungsmittel verkauft hat. Nach dem zu Grunde gelegten Sachverhalt
wurde am 15. Juni 1883 auf Gut B., auf welchem der Angeklagte R. Verwalter
ist, ein bereits seit längerer Zeit kranker, überaus abgemagerter Ochse, nachdem
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Verschiedene Mittheilungen.
423
er zerlegt war, an den Fleischer F. verkauft, welcher Theile davon weiter ver-
äussert hat. Der Ochse war, wie die spätere Untersuchung des Fleisches durch
den Kreisthierarzt ergehen, an ausgeprägter Lungenschwindsucht und an sogen.
Franzosenkrankheit crepirt und zweifellos erst, nachdem der Tod eingetreten,
geschlachtet, unter diesen Umständen aber der Genuss des Fleisches absolut
gesundheitsschädlich. Die Verkaufsverhandlungen waren in Abwesenheit des
Angeklagten R. von dessen Ehefrau durch Vermittlung des Amtsschreibers M.
mit dem Fleischer F. geführt und so der Handel auf 10 Pfg. pro Pfund zwischen
beiden abgeschlossen. F. begab sich darauf von dem Gute B. nach Hause, um
sich Fuhrwerk und Geld zu beschaffen. Als er am Nachmittag zurückgekehrt
war, wog in seiner Gegenwart der Schreiber M. den zerlegten Ochsen auf
370 Pfund ab, erklärte aber, dass F. denselben für 30 Mark habe solle. F.
zahlte die 30 Mark an M. und bat diesen, das Geld dem Angeklagten R., welcher
inzwischen zurückgekehrt war, mit dem Ersuchen zu übergeben, ihm, dem F.,
eine Bescheinigung zu ertheilen, dass er das Fleisch weiter verkaufen dürfe. Er
erhielt hierauf eine von dem Angeklagten R. in seiner Eigenschaft als Amts*
Vorsteher ausgestellte und unterschriebene Bescheinigung, wonach er „vom
hiesigen Dominium einen ganzen geschlachteten Ochsen gekauft“ hat, und begab
sich mit dieser Bescheinigung und dem Ochsen auf den Heimweg.
Der Angeklagte R. hat wegen seiner Verurtheilung Revision eingelegt, in
welcher er geltend macht, dass das Gesetz vom 14. Mai 1879 in §. 12 keines¬
wegs erfordere, dass die gesundheitsgefährlichen Gegenstände durch einen
rechtsgiltigen Verkauf weiter voräussert seien, sondern nur, dass die Weiter-
verausserung durch ein Rechtsgeschäft erfolgt sei, welches den formellen Erfor¬
dernissen des Kaufs entspreche. Daraus folge, dass das Vergehen gegen §. 12
jenes Gesetzes bereits durch den, wenn auch rechtsungiltig von der Ehefrau des
Angeklagten abgeschlossenen Verkauf des Ochsen vollendet gewesen sei, und
weiter, dass der Angeklagte in Folge seiner nachträglichen Genehmigung nicht
als Thäter des bereits durch einen Anderen vollendeten Vergehens betrachtet
werden könne.
Das R.-G., II. Strafsenat, hat am 26. Februar 1884 die Revision verworfen
und dabei ausgeführt: Wenn der §.12 No. 1 des Gesetzes vom 14. Mai 1879,
welches den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genussraitteln und Gebrauchs-
gegenständen betrifft, denjenigen mit Strafe bedroht, wer wissentlich Gegenstände,
deren Genuss die menschliche Gesundheit zu beschädigen geeignet
ist, als Nahrungs- oder Genussmittel verkauft, feilhält oder sonst in
Verkehr bringt, so wird das Verkaufen solcher Gegenstände als Nahrungs¬
oder Genussmittel nur als eine besondere Gestaltung des Inverkehrbringens
aufgefasst, welches, aus welchem Grunde es auch erfolgen möge, an sioh strafbar
ist. Das Inverkehrbringen des gesundheitsschädlichen Fleisches legt vor¬
liegend das Landgericht dem Angeklagten R. zur Last, weil derselbe in Geneh¬
migung des von seiner Ehefrau in Vertretung seiner Person mit dem Fleischer F.
abgeschlossenen Kaufsvertrags und zu dessen Erfüllung das Fleisch dem F. über-
liess. Das Thun des Angeklagten R. war auch mit Recht als ein Verkaufen
zu bezeichnen, weil durch seine Genehmigung des abgeschlossenen Ver¬
trages, welchen er auch überdies durch Uebergabe in Vollzug setzte, zwischen
ihm und F. das Rechtsverhältniss eines Verkäufers und Käufers hergestellt
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424
Verschiedene Mittheilnngen.
war. Dass die Ehefrau des Angeklagten R., als sie mit F. den Kaufvertrag über
das Fleisch abschloss, wusste, dass dessen Genuss die menschliche Gesund¬
heit zu beschädigen geeignet war, ist nicht festgestellt. Es kann daher
nicht davon die Rede sein, dass sie das Vergehen gegen §. 12 No. 1 des Gesetzes
vom 14. Mai 1879 begangen, oder auch nur strafbar versucht hatte, als der
Angeklagte den geschlossenen Kauf genehmigte und in Vollzug setzte. Richtig
aber ohne Bedeutung für vorliegende Sache ist die Behauptung der Revisions¬
schrift, dass der §.12 des Gesetzes vom 14. Mai 1879 auf die civile Rechts¬
gültigkeit des geschlossenen Kaufes kein Gewicht legt. Es hat dies eben darin
seinen Grund, dass der Verkauf lediglich in Rücksicht auf den Zweck und Erfolg
des Inverkehrbringens betrachtet wird. Es kommen deshalb auch die als verletzt
bezeichneten Grundsätze des preussisohen allgemeinen Landrechts über die Per-
fection eines Vertrages hier nicht weiter in Betracht. Nach den festgestellten
Thatsachen liegt der Thatbestand des Vergehens gegen den gedachten §. 12 No. 1
bezüglich des Angeklagten R. vor. (Leipziger Tagebl. v. 22. Juli 1884.)
V.
Der Wurstfabrikant R. zu L. ist vom Landgericht aus §. 12 des Nahrungs¬
mittelgesetzes vom 14. Mai 1879 wegen Feilhaltens gesundheitsschäd¬
lichen Fleisches verurtheilt. Der Sachverhalt war folgender: Der Angeklagte
kam am 27. April 1882 Abends mit seinem einspännigen Wagen in den Gasthof
zur Stadt Aachen in B. Auf diesem Wagen befanden sich die vier Viertheile
eines geschlachteten Rindes, dessen Fleisch einen auffallenden Fäulnissgeruch
verbreitete und vollständig verdorben war. Der Angeklagte schickte sodann
einen Mann in die Wohnung des Wurstfabrikanten M. und liess durch diesen die
Ehefrau M., welche allein zu Haus war, auffordern, sie möge doch das Fleisch
aus der „Stadt Aachen“ holen lassen. Auf die Frage dieser Frau, welche der
Meinung war, ihr Ehemann habe das in Frage stehende Fleisch käuflich erwor¬
ben, von wem dasselbe gekauft sei, erwiderte dieser Mann, es sei von dem
Fleischermeister R., ihr Mann werde es schon behalten und er werde sich am
nächsten Morgen den Bescheid holen. Als die Ehefrau M. daraufhin ihren Lehr¬
ling mit einem Handwagen zur Abholung des Fleisches nach der „Stadt Aachen“
schickte, traf dieser den Angeklagten und einen andern Mann, welche gemein¬
schaftlich mit ihm drei Viertheile des Rindes von dem Einspänner des Angeklag¬
ten herabnahmen und auf den Handwagen des M. schafften. Als der Lehrling
mit seinem Handwagen aus dem Thorweg herausfuhr, wurde er von einem
Schutzmann betroffen, der das Fleisch mit Beschlag belegte. Der mit der
Untersuchung des Fleisches beauftragte Sachverständige erklärte, dasselbe sei
zweifellos schon am 27. April 1882 höchst übelriechend und verdorben und des¬
halb in einem Zustand gewesen, dass dessen Genuss die menschliche Gesundheit
beschädigen konnte und musste. Das Landgericht hat auf Grund dieses Sach¬
verhalts als thatsächlich festgestellterachtet, dass der Angeklagte wissentlich
Gegenstände, deren Genuss die menschliche Gesundheit zu schädigen
geeignet sei, als Nahrungsmittel feilgehalten und in Verkehr gebracht
hat, indem es als erwiesen ansah, der Angeklagte habe, als er das Fleisch zum
Kauf anbot. davon Kenntniss gehabt, dass dasselbe verdorben sei und
annahm, derselbe habe als früherer Fleischer und Wurstfabrikant auch wissen
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Verschiedene Mittheilungen. 425
müssen, dass der Genuss solchen Fleisches der menschlichen Gesundheit
Gefahr bringe.
Die von dem Angeklagten gegen seine Verurtheilung eingelegte Revision ist
vom R.-G. I. Strafsenat am 31. März v. J. verworfen und hierbei Folgendes aus¬
geführt: Die Annahme, dass der Angeklagte das verdorbene Fleisch feilgehal¬
ten habe, ist damit begründet, dass er dasselbe dem Wurstfabrikanten M. durch
einen Dritten hat zum Kauf anbieten lassen. In Verkehr gebracht hat
der Angeklagte das Fleisch auch dadurch, dass er sich an dem Transport dessel¬
ben auf dem Handwagen von M. betheiligte, indem durch dieses Wegschaffen die
Möglichkeit geschaffen wurde, dass das Fleisch nun von dritten Personen
verzehrt werden konnte. Durch die thatsächlichen Feststellungen des land¬
gerichtlichen Urtheils ist der Thatbestand des in §. 12 Ziff. 1 des Gesetzes vom
14. Mai 1879 vorgesehenen Vergehens erschöpft. Auch lässt sich nicht erken¬
nen, dass denselben ein Reohtsirrthum zu Grunde liegt. Insbesondere ist ein
solcher in der Annahme nicht zu finden, das Anbieten des Fleisches zum
Zweck des Verkaufs sei als ein Feilhalten im Sinne des Gesetzes anzu¬
sehen. Die Feststellung, dass der Angeklagte das verdorbene Fleisch als Nah¬
rungsmittel feilgehalten hat, obgleich er wusste, dass dessen Genuss
geeignet sei, die menschliche Gesundheit zu schädigen, genügt aber,
um die Anwendung des §. 12 Z. 1 des angeführten Gesetzes zu rechtfertigen.
Es kommt deshalb nicht darauf an, ob der Angeklagte dieses Fleisch auch
noch in anderer Weise in Verkehr gebracht hat, wie das Landgericht an¬
nahm, denn das blosse Feilhalten ist ebenso wie der Verkauf als ein „In¬
verkehrbringen“ im Sinne des §. 12 anzusehen. (Leipziger Tageblatt vom
19. Augnst 1884.)
ler VI. Jahreseoagress des Vereins für öffentliche Gesundheitspflege in
England wurde vom 25. — 29. September 1883 in Glasgow abgehalten. Mit
demselben war, wie bisher, auch diesmal eine Hygiene-Ausstellung verbunden.
Der Vorsitzende, Professor G. M. Humphry, eröflfnete in einer allgemeinen
Versammlung die Verhandlungen mit einem einleitenden Vortrag über „Gesund¬
heit“. Am Schlüsse desselben betonte er die Wichtigkeit der Bildung eines
besonderen Ministeriums für Gesundheitspflege, zu dessen Ressort a) die
Oberaufsicht über den sanitären Zustand der Städte und Landgemeinden, der
Marine und Armee, der Schiffe und Hauslhiere; b) die Einführung sanitärer
Verbesserungen; c) die Ausbildung und Prüfung der Medicinalbeamten und der
Sanitätspolizei - Inspectoren gehören müsste. Der Vortragende bezeichnet die
Errichtung eines besonderen Ministeriums für Gesundheitspflege als eine drin¬
gende Zeitfrage, nach deren Verwirklichung ernstlich gestrebt werden müsse.
Eine entschiedenere und zahlreichere Vertretung der Aerzte und Hygieniker in
dem Parlamente würde diesem Ziele näher führen.
In der Section für Gesundheitspflege und Prophylaxis wurden
6 Vorträge gehalten, welche in einem kurzen Referate besprochen werden sollen,
insoweit sie ein allgemeines Interesse beanspruchen.
Professor Gairdner sprach über Verhütung der Krankheiten. Ein¬
leitend betonte derselbe, dass die mediciniscbe Prophylaxis zu oft als werthlos
Vierteljährlich!-, f. ger. Med. N. F. XLIV. 2.
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426
Verschiedene Mittheilungen.
betrachtet würde, nicht allein von dem grösseren Publikum, weil dieselbe nichts
eintrage, sondern auch weil sie in Erwägung der grossen Schwierigkeiten, welche
die Feststellung der Aetiologie bereite, unsicher sei und wenig praktische Erfolge
aufweisen könne. Entgegen der letzteren Auffassung constatirte der Vortragende
auf Grund der medicinal-statistischen Untersuchungen von Dr. Farr die Ver¬
minderung der Mortalität an Cholera und Pocken im Zusammenhang mit der
eingeleiteten Prophylaxis. Bei Typhus und Recurrens seien die Erfolge der
letzteren bis jetzt weniger bemerkbar. Gairdner weist ferner darauf hin, dass
nicht allein gegen die Infectionskrankheiten, sondern auch gegen entzündliche
und chronische Erkrankungen der Lungen, welche in den grossen Städten auf
die Höhe der Mortalitätsziffer nicht minderen Einfluss ausüben, propbylactische
Massregeln zu ergreifen seien. Als solche bezeichnet er Ventilation und Rein¬
haltung in den Wohnungen der Armen und Verminderung der Volksdichtigkeit.
Dr. James Christie sprach über Cholera-Epidemie, ihre Aetiolo¬
gie, Art der Ausbreitung und Prophylaxis, mit besonderer Bezug¬
nahme auf Quarantaine. Die schlechteste Methode, einer Cholera-Epidemie
entgegenzutreten, sei die, zu warten, bis sie uns erreicht habe, und sie dann erst
zu bekämpfen. Die grösste Schwierigkeit läge immer darin, die Regierung und
die Lokalbehörden in Bewegung zu bringen. Die Prophylaxis gegen Cholera
falle zusammen mit der Hebung des allgemeinen Gesundheitszustandes. Mit einer
von der Quelle bis zum Ausfluss rein erhaltenen Wasserleitung und einem einiger-
massen rationellen Abfuhrsystem würde die Gefahr der Ausbreitung in erheb¬
lichem Grade vermindert. Bezüglich der Quarantaine ist der Vortragende der
Meinung, dass die durch diese hervorgerufene häufige Störung des indischen
Handels zur Untersuchung der sanitären Zustände in Indien und zu Verbesserun¬
gen daselbst Veranlassung geben müsste. Im concreten Falle müsste allerdings
jedes Schiff, welches Kranke an Bord habe, einer sachverständigen Inspection
unterzogen und eventuell unter Qnarantaine gestellt werden, d. h. es müsse mit
dem Schiffe, seiner Ladung und seinen Passagieren gerade so verfahren werden,
wie im Falle von Infectionskrankheiten mit seinem Hause und seinen Bewohnern
in einer übervölkerten Stadt. Gesunde und Kranke müssen getrennt und letztere
in einem besonderen Krankenhaus untergebracht, um dieses aber ein sanitäts¬
polizeilicher Cordon gezogen werden. In der Zwischenzeit müsse das Schiff
gerade so, wie ein inficirtes Haus, gereinigt und desinficirt werden. Würde die
Quarantaine und Sanitäts-Cordon in dieser Weise gehandhabt, dann würde der
Ausbreitung der Cholera in Indien wie in Europa vorgebeugt. Egypten und alle
Länder, welche sich in einem unsanitären Zustande befinden, müssten von Zeit
zu Zeit von Cholera-Epidemien heimgesucht werden. Ein Specificum für die
curative Behandlung der Cholera gäbe es nicht, dagegen aber ein specifisches
Prophylacticum, welches darin bestände, ihre Nester und Schlupfwinkel — den
Schmutz — wegzuräumen, und sanitäre Zustände zu schaffen.
In der Discussion betonte Prof, de Chaumont, dass die Quarantaine
allein unwirksam sei, wenn nicht der menschliche Verkehr, durch welchen die
Cholerakeime von Ort zu Ort verschleppt würden, wirksam inhibirt würde. Er
exemplificirte auf die letzte Cholera-Epidemie in Egypten. Rings um Alexandrien
war ein sanitäts-polizeilicher Cordon gezogen, um das Einlaufen der Eisenbahn¬
züge in die Stadt zu verhindern, dagegen wanderten die schmutzigen Araber un-
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Verschiedene Mittheilungen.
427
gehindert zu Fuss ein, die Krankheit in die Stadt einschleppend. Quarantaine
störe den Handel empfindlich, dagegen sei der durch sie zu gewährende Schutz
häufig ein illusorischer. Um dies zu beweisen, erinnert Redner an die Mittheilun¬
gen eines Sohiffeigenthümers auf dem Oongresse in Amsterdam, welcher die
erhebliche Schädigung des Handels durch die Quarantaine hervorhob, auf der
anderen Seite aber auch behauptete, dass er in jedem Hafen der Welt durch Be¬
zahlung eines „backsheesh“ die Belästigungen der Quarantaine umgehen könne.
Redner erachtete die Hebung der Gesundheitspflege im Allgemeinen für wich¬
tiger zur Bekämpfung der Ausbreitung der Cholera, als die unnützen Versuche,
welohe mit Quarantaine und sanitätspolizeilichen Cordons gemacht würden.
Dr. J. F. Sutherland sprach über Typhus, dessen Aetiologie und
Prophylaxis. Der Vortragende ging davon aus, dass der ätiologische Zusam¬
menhang des Typhus mit Canälen, Aborten und Senkgruben eine unbestrittene
Thatsache sei, und forderte demgemäss eine vollständige Umänderung der Bau¬
polizei auf dem Wege der Gesetzgebung, namentlich mit Bezug auf die Haus¬
und Zimmerdrainage und den pro Kopf der Bewohner erforderlichen Cnbikraum.
Die Section für Ingenieure und Architeoten wurde von dem
Vorsitzenden, Prof. Roger Smith, mit einem Vortrag über die Wohnungs¬
verhältnisse in London eröffnet. Derselbe schilderte die in sanitärer Be¬
ziehung äusserst ungünstige Beschaffenheit der Häuser in vielen der älteren
Stadttheile, tadelte indess auch die neuen, mit Prachtaufwand errichteten Ge¬
bäude, sowie die hygienische vieler Villen in den Vorstädten, namentlich mit
Bezug auf mangelnde Drainage und Wasserzufubr. Am gesündesten seien die
für die Arbeiterclasse in den Vorstädten erbauten Häuser, welche meist nur für
2 Familien mit je 3 Zimmern eingerichtet seien, ein Gärtchen vor dem Hause
und genügenden Hofraum hinter demselben hätten, und daher Licht und Luft in
ausreichendem Masse enthielten. Redner erachtete eine Aenderung der Baupolizei
auf dem Wege der Gesetzgebung nicht für nothwendig, die ausreichend sei, wenn
nur die Bevölkerung im Allgemeinen mehr Sinn fiir hygienische Wohnungs¬
einrichtungen als für schöne Tapeten und äusseren Zierrath habe. Redner gab
ferner eine Uebersicht über die Verbesserungen der Arbeiterwohnungen in den
letzten 50 Jahren und rühmte insbesondere die segensreiche Thätigkeit der
Vereine und Gesellschaften, welche es sich zur Aufgabe gemacht, gesunde Ar¬
beiterwohnungen herzustellen. Allein im Sommer 1881 seien durch diese für
11000 Familien bessere Wohnungen mit einem Kostenaufwand von Lstr. 1.900000
geschaffen worden.
In der Discussion führte Dr. B. W. Richardson aus, dass in den
Häusern der besseren Gesellschaftsclassen die Dinge meist noch schlimmer lägen,
als in jenen der unteren Classen. und es sei kaum zu begreifen, wie unter sol¬
chen Umständen London nur eine Mortalitätsziffer von 22 auf 1000 und das
Jahr habe. Prof. Smith wies darauf hin, dass der niedrige Stand der Mortali¬
tätsziffer zum grossen Theil durch die Bevölkerungszunahme, bezw. durch den
enormen Zuzug von Aussen zu erklären sei. Der grösste Theil der Zuziehenden
hätte die Krankheiten und Gefahren der ersten Lebensjahre hinter sich und
stände meist im kräftigsten Alter, und London befände sich thatsächlicli nicht
in einem sanitär so günstigen Zustande, wie man dies aus dem Studium der
Mediciualslatistik allein schiiessen könnte.
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Verschiedene Mittheilungen.
Prof, de Chaumont führte aus, dass die geschilderten ungünstigen Woh-
nungsverhältnisse Londons in den meisten englischen Grossstädten anzutreffen
seien. —
Dr. Wallace hielt einen Vortrag über den „Bau der Wohnungen in
sanitärer Beziehung.“ Mit Uebergehung der Hausdrainage, deren hygieni¬
sche Construction er als bekannt voraussetzte, besprach Redner die übrigen Be¬
dingungen eines gesunden Wohnhauses, insbesondere die baulichen Vorkehrungen,
um demselben volles Licht und soviel als möglich reine und trockne Luft zu
verschaffen. Auf dem Wege der Gesetzgebung müsse eine Norm für das richtige
Verhältniss der Höhe der Häuser zu der Breite der Strassen geschaffen werden.
In unseren Breitegraden dürfte die Höhe des Hauses zwei Dritttheile der Strassen-
breite nicht überragen, das würde für eine 45—55 Fuss (3 englische Fuss =
0,914 Meter) breite Strasse eine Höhe von 3 Stockwerken, und bei 60—70 Fuss
Strassenbreite 4 Stockwerke ergeben. Der Vortragende betont, dass diese Maasse
nicht allgemein gültig, sondern für unsere Breitegrade berechnet seien, indem
z. B. eine Strasse von 15—20 Fuss Breite in Cairo in den unteren Stockwerken
besser beleuchtet sei, als eine 40—50 Fuss breite Strasse in Stockholm.
Bezüglich der Richtung einer Strasse sei die nord-südliche vorzuziehen.
Gin auf der Westseite einer solchen Strasse gelegenes Haus erhalte Sonnenlicht
vom Morgen bis Mittag in der Front, und vom Mittag bis Abend an der hinteren
Seite. In einer Strasse dagegen mit ost-westlicher Richtung erhalten die Häuser
auf der Südseite nur spärliches, und im Winter gar kein Sonnenlicht in der
Front, während derselbe Mangel in der Hinterfront der auf der Nordseite gelege¬
nen Häuser bestände. Kein W'ohnraum könne als ein vollkommen gesunder
erachtet werden, der nicht zeitweise am Tage direktes Sonnenlicht habe. Sei eiu
Zimmer so situirt, dass ihm das direkte Sonnenlicht fehle, so könnte durch die
Anlage möglichst grosser Fenster einigermassen Ersatz geschaffen werden, da sie
wenigstens so viel als möglich Tageslicht einlassen.
Ganz reine Luft könne nur in vollständig trockenen Wohnräumen erwartet
werden. Ein Uebermass von Feuchtigkeit entstehe aber durch Absorption von
Wasser sowohl vom Boden aus als von den porösen Mauersteinen. Eine weitere
Quelle der Luftverderbniss bilde die Schwammbildung oder Trockenfäule, welche
das Holzwerk nicht allein in den unteren Stockwerken, wie man gewöhnlich an¬
nehme, angreife, sondern hauptsächlich da, wo die Balkenenden in porösem Stein
ruhen. Als ein Mittel hiergegen würden „Schuhe“ aus glasirtem Thon oder
ähnlichem Material empfohlen, welche, in das Mauerwerk eingelassen, die Enden
der Balken umfassen. Die einzelnen Arten von Bausteinen seien mehr oder
minder porös. Dr. Wallace hat in einer früheren Arbeit auf experimentellem
Wege festgestellt, dass der härteste und beste Sandstein in 100 Theilen
annähernd 8 Theile Wasser absorbire, und geringere Sorten 12 —15 Theile.
Hiernach würde ein Cubikfuss Stein 5 — 9 Pfund Wasser absorbiren. Die Ab¬
sorptionsfähigkeit gewisser Steinarten träte so rasch in Wirksamkeit, dass bei
leichtem Regen die ganze Masse des Niederschlages imbibirt würde. Ein grosser
Tlieil verdampfe wieder von der Oberfläche des Steines, ein anderer Theil aber
nähme seinen Weg in das Innere, der um so grösser sei, je mehr die Oberfläche
des Steines durch Regen feucht erhalten würde.
Eine andere Eigenthümlichkeit des Sandsteins bestände darin, dass er für
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Verschiedene Mitteilungen.
429
Luft und andere Gase durchlässig sei. Mehr oder weniger bestände diese Fähig¬
keit, Luft zu diffundiren, bei allen zum Bau benutzten Steinarten, ein Umstand,
der auf die Beschaffenheit der Lnft in einem Wohnhause von grossem Einfluss
sei. Wenn ein Sand- oder Backstein mit Wasser gesättigt sei, dann bliebe für
die Dauer der Sättigung die Absorptionsfähigkeit für Luft aufgehoben, oder wenn
noch ein Bestandtheil Luft diffundirt würde, so wäre dieser mit Wasserdampf
überladen und daher in sanitärer Beziehung von geringerem Werth als hei nor¬
malem Feuchtigkeitsgrade. Durch das Anstreichen der Steine mit Oel, Oelfarbe,
mit einer Auflösung von kieselsaurem Natron oder mit ähnlichen Mitteln würde
zwar der Absorption des Regenwassers vorgebeugt, allein es würde hierdurch
gleichzeitig der Eintritt von reiner Luft in das Haus, und der Austritt der un¬
reinen Luft aus demselben verhindert. Die einzige Möglichkeit, deD geschilderten
Uebelständen vorzubeugen, bestände darin, doppelte Wände mit einem mehrere
Zoll breiten Zwischenraum anzubringen. Die äussere Wand müsste an Decke
und Boden 3 Quadratzoll grosse, 6 Fuss von einander entfernte, nach oben
gerichtete Oeffnungen für den Ein- und Austritt der Luft enthalten, die innere
Wand könne von Backsteinen in der Dicke von 4‘/ 2 — 9 Zoll entsprechend der
Höhe hergestellt werden, und beide Wände müssten durch dicke Eisenstangen
miteinander verbunden sein.
Bezüglich des Anstreichens der Zimmerwände sei das Tünchen mit Kalk
oder Wasserfarben mehr zu empfehlen als der Oelanstrich, weil durch diesen der
freie Luftaustausch verhindert würde. Auch Tapeten seien in dieser Beziehung
dem Oelanstrich. ersteren aber wieder der Anstrich mit Kalk oder Wasserfarben
noch aus anderen sanitären Gründen vorzuziehen.
Die übrigen acht in dieser Section gehaltenen Vorträge und die an dieselben
anknüpfende Discussion, sowie die Arbeiten der Section für Chemie, Meteorologie
und Geologie lieferten ein eingehendes Material zur Verwertbung für die Förde¬
rung der Gesundheitspflege in ihren einzelnen Zweigen. Da sie indess vorwiegend
lokale Interessen berühren, auch vielfach die englische Gesetzgebung und die
dem Parlamente vorzulegenden Entwürfe streifen, so muss ich mir ein näheres
Eingehen auf dieselben an dieser Stelle versagen, und erwähne nur noch, dass
das Octoberheft 1883 des Sanitary Record ein ausführliches Referat über die
gesammten Verhandlungen des Congresses enthält. Die wichtigeren Vorträge
sind im Wortlaut mitgetheilt. Ebertz (Weilburg).
Der Jahresbericht über das Sanitätswesen im Staate Leuisiana für das
Jahr 1881. (Sanitary Record, Sept. 1883.) — Die geographische Lage, Klima
und Handelsbeziehungen von Louisiana verleihen diesem Berichte ein besonderes
Interesse, namentlich bezüglich der Lösung einzelner Fragen der Aetiologie und
Prophylaxis der tropischen Fieber und Pocken.
Louisiana gehört zu den Vereinigten Staaten von Amerika, mit der Haupt¬
stadt Neu-Orleans, und wird zum grossen Theil von dem Delta des Mississipi
durchflossen. Trotzdem zeigt Louisiana in tellurischer Beziehung grosse Ver¬
schiedenheiten, weite Lagunen und Sümpfe wechseln mit bewaldeten Hügeln
Prärieen, geschlossenen Wäldern und bebautem Land. N
Während die Sommertemperatur derjenigen von Vera Cruz oder Havannah
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430
Verschiedene Mitlheilungen.
gleicht, sind Winter und Frühjahr um 6—11°F. (3,4—6°C.) kälter als dort.
In einigen Districten ist der Regenfall im Sommer, in anderen im Winter grösser;
derselbe variirt im ganzen Jahre von 40 —100 Zoll, und die Feuchtigkeit von
80—88° je nach der Jahreszeit. Die Vegetation ist üppig.
Die Gesundheit der Bevölkerung ist, wenn keine Epidemieen herrschen, im
Allgemeinen eine gute. Die Sommerhitze wird durch frische Winde gelindert,
während im Winter durch leichte Fröste und Schneefall das Klima die Gesund¬
heit fördert.
Das gelbe Fieber erfordert zu seiner Entstehung und Ausbreitung eine
Temperatur von 70 — 85°F. (,21—29.5°C.) wie sie in den heisseren Monaten
ziemlich constant ist Sobald kühleres Wetter eintritt, erfolgt Nachlass, und der
Winter bringt vollständigen Stillstand, so dass bei aller Intensität eine Epidemie
doch nie einen endemischen Charakter annimmt.
Uebrigens hängt die Entstehung und Ausbreitung des gelben Fiebers nicht
allein von der hohen Temperatur ab, indem gerade einzelne der heissesten
Sommer der letzten Jahre frei von Gelbfieber blieben. Noch weniger aber ist die
Annahme zutreffend, dass zwischen dem Quantum des Regeufalles und der
Zu- oder Abnahme des Fiebers irgend ein Causalneius bestände.
Durch ein sorgfältiges Studium der Epidemieen der letzten 20 Jahre ist
Dr. Jones, der Director des Gesundheitsamtes zu dem Resultat gekommen, dass
die Einschleppung des gelben Fiebers durch eine rigoros durcligeführte Quaran-
taine. in Verbindung mit anderen Vorsichtsmassregeln, verhütet werden kann.
Wird ein ankommendes Schiff in einem unreinen Zustande getroffen, oder sind
an Bord desselben Krankheitsfälle während der Reise vorgekommen, so muss
eine gründliche Reinigung und Desinfection der Schiffsräume mit Carbolsäure
vorgenommen und hierauf das ganze Holzwerk getheert werden. In keinem Falle
aber dürfen auch anscheinend gesunde Personen in die Stadt eintreten, bis der
Termin der Absperrung (10 Tage) verstrichen ist.
Das Gelbfieber hat ein Incubationsstadium von 6—9 Tagen, welches für
die Dauer der Quarantaine in Anschlag zu bringen ist.
Mit den Vertretern des Handelsstandes lebt das Gesundheitsamt bezüglich
der Quarantaine in beständigem Kampf. So oft in einer längeren Periode von
Immunität eine gewisse Laxität in der Befolgung dieser Massregeln, namentlich
bezüglich der Dauer der Retention und der Ausführung der Desinfection, einge¬
treten war, folgte nach der Prognose von Dr. Jones regelmässig eine heftigere
Epidemie von Gelbfieber. Dies war der Fall im Jahre 1858, als nach zwei¬
jähriger Dauer einer verhältnissmässigen Immunität 2855 Personen an Gelb¬
fieber starben, und ebenso im Jahre 1878 mit 3107 Todesfällen.
Malariafieber fehlen nie und stehen, wie überall, in Beziehung zur
Temperatur.
Die Höhe der Mortalitätsziffer in Neu-Orleans hängt, abgesehen von
aussergewöhnlichen Fluctuationen, von dem Bestehen oder Nichtbestehen der
Epidemieen von Gelbfieber, Cholera etc. ab. In den Fieberjahren stieg sie auf 68,
einmal sogar bis 99 auf 1000 und das Jahr. Dagegen ging sie in den gewöhn¬
lichen fieberfreien Jahren nicht über 23—30 hinaus, eine Mortalität, wie sie
derjenigen anderer Grossstädte mit gemässigtem Klima in der alten und neuen
Welt gleichkommt. Wenn man alle Todesfälle an Gelbfieber ausschliesst, hat die
Mortalität 47 auf 1000 und das Jahr nie überschritten.
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Verschiedene Mittheilungen.
431
Die periodischen Inundalionen des Mississipi soheinen auf den allge¬
meinen Gesundheitszustand einen ungünstigen Einfluss nicht auszuüben, ein
Beweis für die Reinheit des Flusswassers. Nachdem dasselbe die erdigen Massen
abgesetzt, bleibt nur ein Rückstand von 11,9 Gran auf den Gallon (3,785 Liter),
der meist aus kohlensaurem Kalk und Chlornatrium besteht, während organische
Beimischungen in kaum bestimmbarer Menge vorhanden sind.
Obwohl die weisse Bevölkerung, ausgenommen im Jahre 1858, immer
schwerer an Gelbfieber erkrankt, als die Schwarzen, so übersteigt dooh seit dem
Jahre 1853 die allgemeine Mortalität unter den Letzteren diejenige der weissen
Bevölkerung im Verhältniss von 5:4, und bisweilen noch mehr.
Unter den niederen Volksklassen in Neu-Orleans herrscht grosse Armuth.
Man kann dies schon daraus schliessen, dass ein Dritttheil aller Todesfälle in
Hospitälern, Arbeitshäusern und unter der aus öffentlichen Mttteln unterstützten
Bevölkerungsklasse vorkommt. Ein Fünftheil sterben ohne jede ärztliche Behand¬
lung und Pflege.
Yaws (Frambösi) und Aussatz sind in Louisiana keine seltenen Krank¬
heiten. Ein Hospital für Aussätzige besteht in Neu-Orleans bereits seit dem
Jahre 1778. Der Aussatz ist auch einheimisch in Neu-Braunschweig und Canada,
und mehrere der letzten Fälle von Aussatz in Louisiana werden auf die Einwan¬
derung von dort gekommener französischer Ansiedler bezogen. Uebrigens kommt
der Aussatz nicht allein bei der armen und schmutzigen Bevölkerung, sondern
auch in besser situirten Familien vor. Die Annahme ist unter den amerikanischen
Aerzten eine ziemlich allgemeine, dass der Aussatz auf dem Wege des Contagiums
übertragen werde.
Die Pocken waren in den 70er Jahren in Neu-Orleans sehr verbreitet. In
den 10 Jahren von 1868—77 waren von 6 Personen 1 an den Pocken erkrankt,
und dies gerade in einer Periode, wo die Inspection und Desinfection der Woh¬
nungen in rigoroser Weise ausgeführt wurde. Die stärkste Pocken-Epidemie
herrschte in Neu-Orleans (216000 Einw.) im Jahre 1877 mit 4263 Erkran¬
kungen und 1727 Todesfällen. Seitdem ist die Vaccination und Revaccination
als Zwangsmassregel eingeführt worden, nachdem man sich von der Nutzlosigkeit
aller übrigen prophylactischen Massregeln zur Bekämpfung der Krankheit über¬
zeugt hatte. Die Wirkung der eingeführten Zwangsimpfung war eine augenschein¬
liche, indem in den letzten 3 Jahren die Pocken beinahe ganz verschwanden. Im
Jahre 1879 war kein, und in den Jahren 1880—81 nur je 1 Todesfall an Pocken
registrirt worden.
Die Aborteinrichtungen und Entfernung der Fäcalien sind in
Neu-Orleans noch primitiver Natur. Erst in der letzten Zeit hat sich eine Gesell¬
schaft zur Einführung der Canalisation gebildet. Der Canalisationsplan von
Memphis soll als Muster dienen und wird von dem Gesundheitsamt und anderen
sachverständigen Autoritäten befürwortet.
Die Schwierigkeiten bezüglich der Gesetzgebung über den Handel mit
Giften werden ausgiebig erörtert.
Zum Schlüsse folgen statistische Tabellen, meist nur von lokalem
Interesse. Ebertz (Weilburg).
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Verschiedene Mittheiluugen.
Sehwefelräueheraugen. — Wie Lewy de Mericourtin der Sitzung der
Acad. de med. vom 23. September d. J. za Paris (Gazette des Höpitaux 1884,
No. 111) mittheilte, stellte er, wenngleich die von Vallin angestellten Unter¬
suchungen mit Schwefelräucherungen in Bezug auf deren desinfioirende Wirkung
weitere überflüssig gemacht hätten, trotzdem solche noch einmal, um ganz sicher
zu sein, in folgender Weise an:
In einem 51 Cubikmeter grossen Zimmer wurden eine Bettmatratze, ein
Kopfpolster, ein Federkissen und zwei wollene Decken, von welchen die eine
16 fach zusaminengelegt und die andere aufgerollt und mit einem Stricke fest
umwunden war, aufgehängt und an verschiedene Stellen diesen Gegenständen
Stückchen blaues Lakmuspapier, das bekanntlich die Eigenschaft hat, sich bei
der geringsten Berührung mit Schwefeldämpfen zu röthen, gelegt.
Hierauf wurden auf den Fussboden jenes Zimmers drei Gefasse mit so viel
Schwefel, dass hiervon 20 Grm. auf ein Cubikmeter kamen, gestellt und
angezündet.
Die nach 24 Stunden angestellte Untersuchung wies überall, die innerste
Partie der wohl zu fest zusammengeschnürten wollenen Decke ausgenommen,
eine rothe Färbung des blauen Lakmuspapiers nach.
Nach Feststellung dieses Vorganges kam es noch darauf an zu erforschen,
wie es sich in dieser Hinsicht mit den Wohnräumen verhält.
Zu diesem Zwecke kam jetzt das fragliche Desinfectionsverfahren in einem
in Holz erbauten Isolirpavillon des Marinehospitals in Rochefort, nachdem in
demselben vom 23. December bis zum 21. März 35 Pockenkranke gelegen hatten,
mit dem Erfolge zur Verwendung, dass jener Raum vom 18. Mai ab Masernkran¬
ken unbeschadet als Aufenthalt diente.
Ebenso verhielt es sich mit einem anderen am 1. Mai derselben Behandlung
unterworfenen Pavillon, der während der Monate Februar, März und April Kranke
derselben Art beherbergt und wegen Mangels an Raum schon am 5. Mai verwun¬
dete Soldaten aufgenommen hatte, sowie mit einem Saal, auf welchem mehrere
Fälle von Diphtheritis zur Entwicklung gekommen waren und welchen alsbald
geleert und ausgeschwefelt 2 Monate nachher ohne weiteren Nachtheil Kranke
bezogen hatten.
Der Gesundheitsrath von Paris (Gaz. des Höp. 1884, No. 66) empfiehlt
besonders die Schwefelräuchernngen in Zimmern, in denen Diphtheritiskranke
verweilt haben, während die während der Krankheit getragenen Kleidungsstücke,
die Leib- und Bettwäsche nach einem längeren Verbleiben in Lauge mit einer
desinficirenden Lösung (1 Grm. Thymol auf 1 Liter Wasser) auszuwaschen sind.
Die übrigen Theile des Bettes werden ebenfalls der Durchräucherung unterworfen.
_ Pauli (Cöln).
Vorschläge rar Verbesserung der Luge Geisteskranker. — ln der Sitzung
der Acad. de med. vom 18. März d. J. zu Paris (Gaz. des Höp. 1884, No. 34)
theilt Blanche, nachdem er den von einigen Seiten gemachten, die forensische
Intervention betreffenden Vorwurf deshalb als ungerechtfertigt zurückgewiesen
bat, weil dem Arzt nur die Behandlung des Geisteskranken, die Entziehung der
Freiheit desselben und die Vertretung seiner materiellen Interessen aber dem
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Verschiedene Mittheilungen.
433
Richter zusteht, folgende Vorschläge, wie sie von der zur Verbesserung der Lage
jener Kranken niedergesetzteD Commission gemacht worden sind, mit:
1) Das Gesetz vom 30. Juni 1838, so wohlthätig sich dasselbe auch bei
seinem Erscheinen erwies, entspricht heute nicht mehr den Anforderungen.
2) Da jede Geisteskrankheit fast immer die Freiheit des betr. Individuums
mehr oder weniger in Frage stellt, so soll, mag dasselbe in einer öffentlichen
oder privaten Anstalt untergebracht sein, dessen gerichtliche Interdiction nach
Vortrag des Arztes alsbald ausgesprochen werden.
3) Die Aufnahme eines Alinirten in eine Anstalt findet nur nach Ausstel¬
lung zweier besonderen ärztlichen Atteste oder auch nur eines, aber von zwei
Aerzten unterschriebenen statt, woraus die Natur des Leidens und die Nothwen-
digkeit eines solchen Aufenthalts hervorgeht. Derselbe, anfänglich ein proviso¬
rischer, wird erst später auf Grund eines besonderen richterlichen Ausspruchs
zu einem dauernden.
4) Im Interesse der öffentlichen Sicherheit erscheint es geboten, die Be¬
dingungen der Aufnahme möglichst zu vereinfachen, damit letztere rasch in's
Werk gesetzt werden kann.
5) Interdicirten Personen steht das Recht zu, sich behufs Wiedererlangung
ihrer Freiheit direkt an das zuständige Gericht zu wenden.
6) Es empfiehlt sich, alle Geisteskranke betreffenden Angelegenheiten dem
Ministerium des Innern und zwar einer besonderen Ablheilung desselben mit
einem Collegium zu überweisen, sowie
7) besondere Anstalten für geisteskranke Strafgefangene, die nur nach
gerichtlicher Entscheidung in Freiheit gesetzt werden dürfen, einzuricbten.
Alle diese Vorschläge wurden nach Abstimmung angenommen.
_ Pauli (Cöln).
, Eile UagdtHernde •hnmeht. Von Edward Berdoe. (The Lancet, 1885,
20. Juni.) — B., von der Polizei beauftragt, einen in einem der Armenhäuser
Edinburgh befindlichen 74 Jahre alten Mann zu untersuchen, fand denselben am
29. April c. besinnungs- und gefühllos auf dem Fussboden liegen. Soine daneben¬
sitzende Frau erklärte auf Befragen, dass er, von einer Ohnmacht ergriffen und
zu Boden gestürzt, sich schon seit sechs Tagen, ohne etwas zu sich genommen
zu haben, in dieser Lage befinde.
Als man ihn aufhob und in das Bett legte, klebte die Haut der betreffenden
Gesichtshälfte so fest am Fussboden, dass sie theilweise an demselben hängen
blieb, und die Stelle, wo der Körper gelegen hatte, durch die von der Haut aus¬
geschwitzte Feuchtigkeit markirt wurde.
Unfähig zu schlucken lebte hiernach der Mann noch 14 Stunden.
Die gerichtlich angeordnete Section ergab allgemeine hochgradige Abmage¬
rung, Gangrän aller der Körperpartien, welche mit dem Fussboden in Contact
gewesen, das bekannte durch Hungertod bedingte Aussehen der inneren Organe,
enorme Hypertrophie und Dilatation des Herzens, allgemeine atheromatöse Ent¬
artung und ein grosses Aneurysma des Arcus Aortae. Pauli (Cöln).
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434
Verschiedene Mittheilungen.
SelbstMtrdversuehe mH Petnlen. Von Duguet. (Gaz. des Höp. 1885.
No 69.) — Die dem Alcoholismus ergebene 48jährige Näherin Rosa B. trank
in der Absicht, den schon seit längerer Zeit gehegten Gedanken an Selbstmord
in’s Werk zu setzen, am 8. Mai d. J. ungefähr ' 2 Liter käufliches Petroleum,
das, sofort Brennen im Munde und Magen hervorrufend, die Aufnahme in das
Hospital Lariboisiere nothwendig machte. Hier verordnete man auf Grund dieser
Angabe und des Geruchs nach dieser Flüssigkeit aus dem Munde 2 Grm. Ipeoa-
cuanhapulver und, um den Breohact zu erleichtern, reichlichen Milchgenass. Die
so herausbefördorten Massen, sowie der durch ein purgirendes Lavement entleerte
Stuhl rochen nicht nur deutlich uach Petroleum, sondern liessen dasselbe auch
leicht erkennen, was auch in besonders markirter Weise der abgesetzte Urin that.
In der darauf folgenden Nacht verscheuchten die psychische Aufregung der
Kranken, sowie Schmerzen im Kopfe und Magen den Schlaf; trotzdem waren bei
dem fortgesetzten Milchgebrauche bis auf die Kopfschmerzen, die indess alsbald
einigen Gaben schwefelsauren Chinins wichen, eine bedeutende Besserung und
nach Verlauf von 10 Tagen ein völlig normaler Zustand eingetreten.
Der Petroleumgeruch der Excrete dauerte, täglich schwächer werdend,
4 Tage an. Ebenso verhielt es sich mit den Epiihelien der Nierencanälchen und
dem Eiweiss im Urin, der in der ganzen Zeit normal reagirte, aber 10 Tage
stehen gelassen noch nicht die ammoniakalische Gäbrung zeigte.
(Dieser günstige Ausgang kommt jedenfalls auf Rechnung des Umstandes,
dass das Petroleum mit so viel Harnwassor die Nieren passirte, dass es in den¬
selben ausser einer leichten Aufquellung und Lockerung der Glomerulusepiihelien
eine stärkere deletäre Wirkung nicht zu veranlassen vermochte. Anders war es
in dem von Lassar mitgetheilten Falle (Virchow’s Arch. LXXII. p. 132). wo
mehrere Wochen vor dem Tode 4 Tage hindurch die ganze Haut mit Petroleum
eingerieben und dadurch eine wohl constatirte Glomerulo-Nephritis hervorgerufen
worden war. Ref.) Pauli (Cöln).
ler lliliu der Belagerung reit Paris auf die wahrend derselben eenei-
pirtea Kinder schildert Legrand du Saulle (Gaz. des Höpit. 1885, No.49):
Um jenen Einfluss in seiner ganzen Tragweite zu verstehen, stelle man sich
einen Ehemann vor, der, in die Nationalgarde eingestellt, seine vielon freien
Stunden mit unnützen und aufregenden Gesprächen und bei immer knapper wer¬
dender Kost mit Trinken verbringt.
Kann es da Verwunderung erregen, dass am Ende der Belagerung so viele
Trinker Verfolgungswabnsinn, Gesichtshallucinationen, melancholische Augst¬
zustände, Selbstmordideen etc. darboten?
Andererseits dessen Ehefrau, die Morgens einen schwachen Kaffee trinkt
und dazu ein Stück gelieferten Schwarzbrodes zu essen versucht. Zitternd vor
Kälte verlässt sie dann ihre Wohnung, um an den bezeicbneien Stellen ihre Brod-
und Pferdefleischportion in Empfang zu nehmen.
Doch Schwäche und Kälte machen es ihr unmöglich, hier so lange zu
warten, bis die Reihe an sie kommt, sie kehrt mit leeren Händen nach Hause
zurück und, preisgegeben der bittersten Noth, verfällt sie bald in einen Zustand
von Erschöpfung, zu der sich Sinneshallucinalionen und selbt momentane Manie
gesellen.
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Verschiedene Mittheilnngen.
435
Hierzu kommen noch beide Ehehälften zugleich treffende Schädlichkeiten:
patriotische Emotionen, demüthigendes Gefühl der Niederlage, das Pehlen jeg¬
licher Nachrichten. Steht unter diesen Umständen schon a priori eine missliche
Nachkommenschaft zu erwarten, so bestätigt diese Voraussetzung auch die Er¬
fahrung, denn von 120 im Jahre 1871 geborenen Kindern, deren Eltern während
der Belagerung Paris bewohnt hatten, war die eine Hälfte mit den verschieden¬
sten physischen und psychischen Leiden behaftet und die andere augenscheinlich
in der Entwicklung zurückgeblieben.
Aehnliche Beobachtungen haben Bourneville und Ladreit de laChar-
riöre gemacht.
Mögen auch nicht alle diese Fehler und Gebrechen auf Rechnung der zeiti¬
gen Verfassung der Erzeuger, sondern allgemeiner Familienanlage oder bluts¬
verwandtschaftlicher Verbindungen kommen, so trugen sie doch alle den Ausdruck
der Entartung der Rasse zur Schau.
Verbessern wir daher dieselbe durch den Kampf gegen den Alcoholismus
und gegen alle die Factoren, welche den Massregeln der Hygiene zuwiderlaufen.
_ Pauli (Cöln).
lauf ge Reeidive v«n Erysipelas beobachtete Verneuil (Gaz. des Höp.
1885. No. 120) in drei Fällen, bei welchen Erysipelas mehrere Male, in einorn
144 Mal, ein und dasselbe Individuum heimgesucht hatte, und stellte folgende
Behauptung auf:
Erysipelas-Mikrokokken hausen bei vielen Subjecten an gewissen Stellen
des Körpers, dringen bei gebotener Gelegenheit in denselben ein, — daher die
grosse Vorliebe dieser Dermatitisform für gewisse Körperstellen, — erzeugen die
selbe aber nur unter dem Einflüsse gewisser Gelegenheitsursachen: Erkältung,
Emotion etc. Pauli (Cöln).
lieber niailt Vaeelaatiaa. — Kreiswundarzt Dr. Bredow zu Predel
im Kreise Zeitz ist der Ansicht, dass man ohne grosse Kosten die Impfung mit
Kälberlymphe einführen könne. Derselbe führt hierüber Folgendes aus: Ich selbst
bin im Grossen und Ganzen ein Verehrer von Verimpfen von guter Menschen¬
lymphe, womöglich von Arm zu Arm. Nun da ich aber vor vielen Jahren während
meiner Militairdienstzeit den traurigen Fall einer Sypbilisüberimpfung bei einem
Soldatenkinde selbst erlebt, oftmals Impferysipel zwar ohne letalen Ausgang
beobachtet, so würde auch ich dem Verimpfen mittels Thierlymphe den Vorzug
geben; auch schon darum würde ich dafür sein, weil es dem Impfer leichter und
bequemer gemacht und für jede Einzelimpfung die Lymphe geliefert wird. Wer,
wie ich, alle Jahre die grossen Unannehmlichkeiten und Sorgen des Abimpfens
durcbgemacht bat, wünschte lieber gar nicht öffentlicher Impfarzt zu sein. Für
uns öffentliche Impfärzte des Zeitzer Kreises war es daher höchst willkommen,
im Jahre 1885 die Kosten für das Impfen mittelst Thierlymphe vom Kreistag
bewilligt zn sehen. Uns war aufgegeben, diese Lymphe vom Königl. Impfinstitut
zu Halle zu beziehen. Leider waren viele Fehlimpfungen zu verzeichnen und
stellte sich bei einigen Impflingen Erysipel ein. Bei der darauf folgenden Be¬
nutzung der Aehle’schen Lymphe aus Burg an der Wupper entwickelten sich
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436
Verschiedene Mittheilangen.
normale Pastein. Die Lymphe stellt eine braune Paste dar, die in einem Feder¬
kiel aufbewahrt ist und mit Glycerin verdünnt werden muss. Die Risel’sche
Lymphe berechnet sich für die Einzelimpfung auf 13 Pf., die Aehle’sche auf
10—11 Pf. Jede Portion reichte für 25 Kinder aus und da ihre Handhabung
sehr bequem ist, so bin ich der Ansicht, dass mit der Aehle’schen Lymphe die
Impfung mit animaler Lymphe leicht einzuführen ist. Elbg.
(Jeher Aehle’sche Lymphe. —- Kreisphysikus Dr. Vanselow zu
Schlawe hat mit der Aehle’schen Lymphe die öffentliche Impfung
ausgeführt. Es wurden bei Erstimpfungen und Revaccinationen 6 je l / 2 Ctm.
lange, seichte Schnitte auf dem linken Oberarm applicirt. Am 2. und 3. Juli
wurden mit der am 30. Juni bezogenen Lymphe 257 Erstimpfungen und
268 Wiederimpfungen ausgeführt. Die Revision am 9. Tage nach der Impfung
ergab:
Bei 58 Erstimpflingen hatten sich mehr als 6 Pusteln entwickelt,
während bei den übrigen Kindern die Zahl der Pusteln zwischen 1 und 6
schwankte. Der Personalerfolg betrug 95 pCt., der Schnitterfolg bei den mit
Erfolg Geimpften 1097 : 1464.
Unter 268 Revaccinanden wurden 173 mit Erfolg, 98 ohne Erfolg
geimpft und betrug der Personalerfolg 64,5 pCi., der Schnitterfolg bei den mit
Erfolg geimpften Kindern 612 : 1038.
Die entwickelten Pusteln waren kräftig und gross, wobei die Reactions-
erscbeinungen in der Umgebung gering waren. Die Kosten beliefen sich auf
10 Pfg. für den Impfling. Elbg.
Me Dhsera-Epidemie in Jahre 1885 in Regieriagsheiirk Königsberg.
Von Reg.-Med.-Rath Dr. Nath zu Königsberg. — Der erste Erkrankungsfall im
Kreise Heilsberg ist auf Einschleppung zurückzuführen. Im 2. Quartal war hier
die Zahl der Erkrankungen bis zur Höhe von 1895 gestiegen. Demnächst waren
die Kreise Allenstein. Rössel und Brandenburg, weniger Memel und Heiligenbeil
bei der Epidemie betheiligt. In der Stadt Königsberg beginnt die Epidemie
im 2. Quartal und steigert sich dann im 3. Quartal bedeutend. Im Kreise
Pr.-Eylau erkrankten die Kinder so massenhaft, dass in kurzer Zeit 10 Dorf¬
schulen geschlossen werden mussten. Im ganzön Bezirke wurden 120 Schulen
geschlossen.
Im 2. Quartal kamen auf 11 Kranke 3 Todesfälle,
- 3. - - 223 - 1 Todesfall,
- 4. - - - 5133 - 207 Todesfälle,
Summa 5368 Kranke 211 Todesfälle.
Aus den Landkreisen liefern nur die Heilsberger Krankenanzeigen auch
Todesmeldungen. Von 3336 in 3 Quartalen vorgekommenen Erkrankungen sind
280 Todesfälle zu registriren.
Die Einschleppung im Dorfe Sommerfeld, Kreis Heilsberg, erfolgte durch
einen Soldaten, der aus Potsdam zu Weihnachten 1884 kam und bald darauf
au den Masern erkrankte, die sich vom 5.—10. Januar auf 6 Mitglieder der
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Verschiedene Mittheilungen.
437
Familie verbreitete. Von dieser Hausepidemie ans verbreitete sich die Epidemie
auf den ganzen Bezirk. Im 1. Quartal blieb sie auf den Kreis Heilsberg be¬
schränkt, endigte erst im 3. Quartal und verbreitete sich im 2. Quartal auf vier
Kreise des Bisthums Ermland. In Königsberg erkrankte im 1. Quartal nur ein
Kranker, im 2. Quartal erkrankten 11, im 3. 223 und im 4. 5133.
Im Kreise Heilsberg war die Epidemie am intensivsten; von 3336 Personen
starben 280, d. h. 8,4 pCt. In der Stadt Königsberg betrug die Sterblichkeits¬
ziffer 3,9 pCt. Hier batte seit Anfang des Jahres 1883 bis Ende 1885, also
fast 3 Jahre hindurch eine Scharlach-Epidemie geherrscht. Unter 1659 Erkran¬
kungen kamen auf der Höhe der Epidemie, in der 46. Woche des Jahres, 22
(5 pCt.) Sterbefalle vor. Dem Scharlach folgten dann die Masern. Aus dem
ganzen Regierungsbezirk liegen 14133 Masernerkrankungen vor. Elbg.
Les transports mertuaires speeialeuent par chemla de fer par le Dr.
Schoenfeld, President du Comite de salubrite publique ä Saint-Gilles les
Bruxelles etc. Extrait de la Revue d’hygiöne 1885. Paris 1885. Verf. beab¬
sichtigt, den Transport der Leichen auf Eisenbahnen durch den Gebrauch von
desinficirenden Mitteln zu erleichtern. Er empfiehlt Salicylsäure, Borsäure. Thy¬
mol, Naphthalin, Resorcin, um die Fäulniss aufzuhalten. Um den cadaverösen
Geruch zu beseitigen, hat er sich auch in der Privatpraxis mit Vortheil folgender
Mischung bedient: Salicylsäure, Aether, Glycerin, Lawendelspiritus ana 30 Grm.,
Weingeist 200 Grm. Nach Besprechung der bekanntesten desinficirenden Mittel
gelangt Verf. zu folgenden Schlusssätzen: 1) In gewöhnlichen Fällen soll man
die Leiche und den Sarg mit einer desinficirenden Flüssigkeit abwaschen; wo
man metallische Gegenstände zu schonen hat, vermeide man Plumb. nitric.
2) Bei beginnender Fäulniss umgebe man die Leiche mit einem desinfici¬
renden und absorbirenden Pulver, wie Holzkohlepulver, Sägespäne, namentlich
von Mahagoniholz, Eichenlohe, Torf, Kaffeesatz etc., versetzt mit '/ 20 Salicylsäure
oder Plumb. nitric., nachdem die Waschungen mit den desinficirenden Flüssig¬
keiten vorausgegangen sind. 3) In allen Fällen, in denen es sich um Leichen der
an contagiösen Krankheiten Gestorbener handelt, ist die Sublimatlösung
(1:2500—5000) am Platze; man wende sie erst an, nachdem die Leiche in
einen metallenen Sarg gelegt worden ist. 4) Die Bahnhofsbeamten haben darauf
zu sehen, dass diese Massregeln unter der Aufsicht eines Arztes oder Apothekers
ausgefuhrt sind und fallen die Kosten dem Absender zur Last.
Alle Behörden, welche die öffentliche Gesundheit zu überwachen hätten,
müssten sich mit dem Studium einer rationellen Desinfection befassen und jedes
Dorf sollte in seinem Gemeindehause einen Vorrath davon besitzen, der ebenso
wichtig wie die Feuerspritze sei. Elbg.
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IV. Literatur.
„Lehrbuch für Heildiener“ mit Berücksichtigung der Wunden¬
pflege, Krankenaufsicht und Desinfection. Vom Regierungs¬
und Medicinalrath Dr. Werntch. Berlin, 1884. bei Hirschwald.
Kachdem das Ravoth’sche „Handbuch für Heilgehülfen“ gänzlioh veraltet,
war es in der Tbat ein dringendes Bedürfniss, für die moderne Krankenbehand¬
lung ein leicht fassliches und den jetzigen Anschauungen entsprechendes Lehr¬
buch den Heildienern an die Hand zu geben. — Kur zu leicht passirt es dem
Fachmann, der Bücher für Laien schreibt, dass er zu weit geht und zu viel ver¬
langt; denn mehr als anderswo gilt hier das Wort: In der Beschränkung zeigt
sich der Heister. Es ist aber nicht zu leugnen, dass der Verfasser dieses Lehr¬
buches für Heildiener in der Auswahl des zur Sache gehörigen Stoffes, sowie im
Treffen des seinem Publikum verständlichen Tones der Darstellung äusserst glück¬
lich gewesen ist. — Das 1. Kapitel handelt vom Bau des Körpers, seinen Theilen
und deren Verrichtungen, und bespricht das für den Heilgehülfen Wissenswerthe
und Verständliche in wahrhaft classischer Kürze. Zehn in den Text eingefügte
Illustrationen erleichtern das Verständniss. — Im 2. Kapitel werden die bei
plötzlichen Unglücksfällen erforderlichen Hülfeleistungen vorgeführt; die künst¬
liche Athmung wird in verständlicherWeise nach dem Howard’schen Verfahren
gelehrt; bei den verschiedenen Vergiftungen ist sehr zweckmässig die Anwen¬
dung solcher Mittel empfohlen, die stets zur Hand sind; bei den Verstauchungen,
Verrenkungen und Knochenbrüchen wird die Anlegung der Verbände gelehrt,
soweit sie Sache des Heilgehülfen ist, und vor der Vielgeschäftigkeit bei diesen
Veranlassungen gewarnt; bei den Wunden werden zunächst die Blutstillungs-
Methoden durch Gompression der Arterien an Illustrationen erläutert, und sodann
die Grundsätze der antiseptischen Verbandmethode in klarer, veiständlicher Dar¬
stellung erörtert. — Das 3. Kapitel giebt für den Transport Verletzter und
Schwerkranker sehr praktische Verhaltungsmassregeln unter Zugrundelegung der
bewährten, in der Armee gültigen Instruction für Krankenträger. — Im 4. Kapitel
wird die Hülfeleistung bei den vom Arzte ausgeführten Operationen in zweck¬
entsprechender Woise mit Berücksichtigung der Antiseptik besprochen und die
Anlegung fester Verbände gelehrt. — Im 5. Kapitel, welches von der selbst¬
ständigen Thätigkeil des Heildieners im Bereiche der sogen, kleinen Chirurgie
handelt, hätte vielleicht die Erwähnung der Scarificationen wegbleiben können
und vielleicht auch die ausführliche Abhandlung über den Aderlass, da dessen
Ausführung nach den jetzigen Anschauungen den Heildienern wol überhaupt zu
entziehen sein dürfte. Vorzüglich ist dagegen die Pflege der Zähne und das
Ausziehen derselben gelehrt und besprochen. — Das 6. Kapitel behandelt die
Krankenaufsicht und Krankenpflege von dem sehr richtigen Standpunkte aus¬
gehend, dass auch der eigentliche Krankenwärterdienst dem Heilgehülfen be¬
kannt und geläufig sein muss. An Stelle der etwas zu allgemein gehaltenen
Besprechung der Massage wäre für eine folgende Auflage des Buches vielleicht
eine Anleitung zur praktischen Ausführung derselben, an Beispielen erörtert, zu
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Literatur.
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empfehlen, wie sie heutzutage bei chronischen rheumatischen Leiden vom
Publikum verlangt wird. — Besonderen Weith erhalt das Lehrbuch für Heil¬
diener durch die im 7. Kapitel enthaltene amtliche Anweisung zur Desinfection,
die jetzt hervorragende Berücksichtigung verdient. — Das 8. Kapitel giebt eine
Zusammenstellung der gesetzlichen und behördlichen Verfügungen, Strafbestim¬
mungen und Taxen, und zählt die für den Heildiener nöthigen Instrumente,
Geräthe und Verbandgegenstände auf. — Ein 3 Seiten langer Anhang enthält
ein alphabetisches Wörterverzeichniss, welches den Heildiener mit den von Aerzten
am häufigsten gebrauchten Fremdwörtern bekannt macht.
Der Verfasser hat sich durch die Anfertigung des besprochenen Lehrbuchs
für Heildiener ein grosses Verdienst erworben. In Berlin ist die Vorzüglichkeit
des Buches allgemein von competenter Seite anerkannt, und es ist nur zu
wünschen, dass dasselbe auch sonst im Lande die verdiente Anerkennung und
Benutzung finde. Dr. H. Becker.
Die Typhus-Epidemie in Mainz im Sommer 1884. Bericht des
Grossherzogi. Kreisarztes Geh. Med.-Rath Dr. Helwig. Mainz, 1885.
Wir sehen von der Beschreibung des Verlaufes der Epidemie, die an der
Hand eines Stadtplanes näher erläutert ist, ab und heben hier nur hervor, dass
die Stadt Mainz bis in die neueste Zeit vielfach von Ueberschwemmungen heim¬
gesucht worden. Grossartige Uferbaulen am Rhein haben indess den ilochfluthen
gegenwärtig einen Damm entgegengesetzt; die Anlage der Aborte, der Abfluss
der Dejectionen wurden geregelt; auch die Canalisation ist schon über die Hälfte
durchgeführt und eine Trinkwasserleitung vollendet.
In den letzten 35 Jahren sind durchschnittlich nur 45 Typhuskranke pro
Jahr im St. Rochus-Hospital behandelt worden. Es wird der Nachweis geliefert,
dass in Mainz weder ein siechhafter Boden, noch auch derGrundwasserstand, resp.
die denselben hier bedingenden Wasserstände des Rheins einen bestimmenden
Einfluss auf die Entstehung des Typhus überhaupt darbieten; vielmehr musste
die Ursache der Entstehung und Verbreitung der Epidemie in den Monaten Juli
bis November 1884 auf den Genuss von künstlichem Selterswasser aus einer
städtischen Fabrik zurückgeführt werden. nachdem von den in das St. Rochus-
Hospital aufgenommenen 67 Kranken 27 und von den von praktischen Aerzten
in der Stadt behandelten 59 Kranken 22 den Genuss von solchem Wasser zu¬
gegeben hatten.
Das für die Fabrikation des Selterswassers benutzte Brunnenwasser war
nachweislich verunreinigt worden. Der Deckel des Brunnenschachtes lag genau im
Niveau einer Flossrinne und unmittelbar an diese angrenzend. Letztere nahm den
grösseren Theil eines Pissoirständers und den Auslauf aus einer Waschküche auf.
Bei stärkerer Füllung der Flossrinne und namentlich bei Regenwetter floss ihr In¬
halt über den Kranz undDeckel des Brunnenschachtes und musste bei der defeoten
Beschaffenheit von Deckel und Einfassung direkt in den Schacht hineinlaufen.
Das Ergebniss der Arbeit gipfelt in der Annahme der Möglichkeit, dass
ein verunreinigtes Trinkwasser zur Verbreitung des Typhus beitragen könne und
der siechbafte Boden nicht als die einzige Bedingung zur Entstehung des Typhus
aufzufassen sei.
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Literatur.
Dr. Felix Schenk , Fabrikant orthopädischer Apparate in Bern, Zur Aetio-
logie derSkoliose. Vortrag, gehalten in der chirurg. Section der
58. Versammlung deutscher Naturf. und Aerzte in Strassburg i. E.
Erweitert durch Beschreibung eines Thoracographen, sowie eines
Apparats zur Untersuchung u. graphischen Darstellung der Schreib¬
haltung bei Schulkindern. Beitrag zur Lösung d^er Sub¬
sellienfrage. Mit 10 Abbildungen. Berlin, 1885.
Der Titel weist auf den wesentlichen Inhalt der Brochüre hin. Dieselbe
berührt noch schwebende Streitfragen und wendet sich namentlich gegen die
Schlüsse, welche Berlin und Reinhold aus ihren Messungsergebnissen gezogen
haben. Die Ursache, dass die neuen Schulbänke allgemeine Anerkennung ge¬
funden haben, beruhe darauf, dass die Lehrer sich durch die mit der Minus¬
distanz erzwungene aufrechte Stellung täuschen liessen und diese für besser an-
sehen als eine vorgeneigte, weil ihnen die Bedingungen zur Entstehung der
Skoliosen unbekannt seien. Die Subsellienfrage befände sich gegenwärtig noch in
einem traurigen Stadium und dürfe nicht als eine abgeschlossene betrachtet werden.
Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde. Medic.-chirurg.
Handbuch. Herausgegeben von Prof. Dr. Albert Eulenburg. Zweite
vermehrte Auflage. Wien, Urban & Schwarzenburg.
Wir machen einstweilen darauf aufmerksam, dass auch der 3. Band fertig
vorliegt und in derselben Weise, wie dies mit den ersten beiden Bänden ge¬
schehen ist, vielfache Erweiterungen erfahren hat. Im nächsten Hefte werden
wir mehr auf Specielles eingehen.
Illustrirtes Lexikon der Verfälschungen und Verunreinigung
der Nahrungs- und Genussmittel. Herausgegeben von Dr. Otto
Dämmer. Leipzig. J. J. Weber.
Das Werk schreitet in derselben Gediegenheit und Vollständigkeit, welche
wir bereits bervorgehoben haben, fort und enthält in der 3. Lieferung grössere
Artikel über Getreide, Grassamen, Gewebe, Hopfen, Kaffee, Tabak etc., die sich
durch sehr sorgfältige mikroskopische Abbildungen auszeichnen.
Bericht über die Allgemeine Deutsche Hygiene-Ausstellung
zu Berlin 1882—83. Berlin, bei Soholtländer.
Der 2. Band ist erschienen und soll noch ein 3. Band folgen. Hach Voll¬
endung des ganzen Werkes werden wir auf die einzelnen Gegenstände zurück¬
kommen.
Ueber die Ausbreitungsweise von Diphtherie und Croup. Von
Dr. Ernst Alonquut , Hygieniker der Stadt Göteborg. Göteborg, 1885.
Die Schrift enthält eingehende geschichtliche Studien über die Verbreitung
und Aetiologie der genannten Krankheiten, und liefert interessante Beiträge zur
Epidemiologie nebst einer epidemiologischen Karte über Schweden, welche den
Zustand des Landes hinsichtlich der Diphtherie und des Groups um das Jahr 1860
erläutert. Bei der Untersuchung der heimgesuchten Wohnungen, Häuser und
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Literatur.
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Quartiere gelangt Verf. zu dem Schlüsse, dass Feuchtigkeit, Luftlosigkeit und
Schmutz der Wohnungen am meisten zur Diphtherie disponiren. Mehrmals habe
er gesehen, dass dieselben Missstände im Hause sowohl für den „Typhoidpilz
als für die Diphtherie günstig seien, wobei beide Krankheiten nacheinander oder
gleichzeitig auftreten könnten. In Wohnungen über Ställen habe er mehrmals
Diphtherie getroffen. Neue Häuser seien oft gefährlicher als alte, obgleich auch
viele Fälle gezeigt hätten, dass das neue Haus nicht an und für sich gefährlich sei.
Nicht nur die Feuchtigkeit der Wände sei für die Diphtherie nöthig, die Krank¬
heit brauche wahrscheinlich auch angehäufte alte Schmutzmassen. Quartiere, die
ganz mit hohen Häusern umgeben waren, wo zugleich die Reinlichkeit viel zu
wünschen übrig liess, wo die schlechte Luft staute und der enge Hof viele Winkel
hatte etc., wurden vorzugsweise heimgesucht. Eine rationelle Anwendung
des freien Raumes der Grundstücke sei von grosser Wichtigkeit.
Ob der durch gesunde Menschen oder Gegenstände verschleppte Krankheitsstoff
gleich ansteckend wirke oder zuerst einen Herd im Hause bilde, sei noch nicht
erwiesen.
Kritisch beleuchtet ist die Literatur über Contagiosität und die miasmatische
Verbreitung von Diphtherie und Croup, sowie die Dauer der Incubation. Da die
deutsche Literatur vollständige Berücksichtigung gefunden hat, so ist das Studium
der vorliegenden Schrift um so mehr zu empfehlen, als sie eine sehr gute
Uebersicht des gegenwärtigen Standes der Wissenschaft betreffs der in Rede
stehenden Krankheiten gewährt und zu manchen Anregungen Anlass giebt. .
Dr. Hugo Schulz, Prof, in Greifswald, Die officinellen Pflanzen und
Pflanzenpräparate. Zum Gebrauche für Studirende und Aerzte.
Wiesbaden, 1885.
Die Schrift bezweckt, den Studirenden der Medicin Gelegenheit zu bieten,
sich über Herkommen und Beschaffenheit der officinellen Pflanzen, sowie der aus
ihnen dargestellten Präparate zu unterrichten. Hübsche Abbildungen erläutern
die Beschreibung und wäre sehr zu wünschen, dass nicht nur Studirende, son¬
dern auch angehende Aerzte die Gelegenheit benutzten, um sich über einen wich¬
tigen Zweig der Pharmakognosie zu unterrichten.
Prof. Dr. Birch-Hirschfeld, Lehrbuch der pathologischen Ana¬
tomie. In zweiter Auflage. Leipzig, bei Vogel. 1885.
Das nun vollständige Werk wird dem praktischen Arzte und Medicinal-
beamten in seiner gedrängten Zusammenstellung ein klares Bild über das grosse
Gebiet der pathologischen Anatomie gewähren, zumal sehr sorgfältige Abbildungen
das Verständniss erleichtern. Für den Medicinalbeamten ist besonders das Kapitel
über die pathologisch-anatomischen Befunde nach Vergiftungen und bei Staub-
inhalations-Krankheiten, und nicht minder das über Atelektase der Lungen Vorge¬
tragene von Wichtigkeit. Eine wesentliche Bereicherung hat das Werk auch durch
die Mittheilung der Abbildungen der Hirnwindungen nach Eokear erhalten. Wir
können dasselbe hiernach in seiner völlig umgearbeiteten zweiten Auflage nur
wiederholt und angelegentlich empfehlen. Elbg.
Viertelj&hrsschr. f. ger. lled. N. F. XLIV. 2.
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Zweiter offener Brief an Herrn Dr. Mendel in Berlin
von Dr. Wallichs in Altona.
Sehr geehrter Herr Professor!
Der Herr Herausgeber dieser Zeitschrift hat mir in dankenswerther Weise
Gelegenheit gegeben, auf Ihre Antwort noch einige (wie ich hoffe: die letzten)
Worte über diese Angelegenheit folgen zu lassen.
Ich habe natürlich nicht erwartet, dass mein Schreiben eine sonderlich
freundliche Aufnahme bei Ihnen finden würde, und lege darauf auch keinen Werth.
Jedenfalls haben Sie kein Recht, mir „den angeschlagenen Ton“ vorzuwerfen.
Zunächst habe ich thatsächlich zu berichtigen, dass ich am Eingang meines
Briefes (S. 327) ausdrücklich meine Zweifel ausgesprochen habe, ob Ihre angeb¬
lichen Aeusserungen, nach denen bei Draak nie eine Spur von Geisteskrankheit
vorhanden gewesen sei u. s. w., in der That von Ihnen gethan seien, und habe
ausdrücklich erklärt, dass meine Polemik nicht darauf fusse. Wenn Sie dennoch
sagen, dass ich dies „als im Wesentlichen richtig annehme“, so trifft das nicht
zu. Ich habe nur betont, dass Sie ihn für geistig gesund erklärt haben. Eben¬
falls ist es unrichtig, dass ich der Angreifer bin. Darüber sagt die Bemerkung
am Schluss meines ersten Briefes das Nöthige. Meinem Beruf und meiner Stel¬
lung habe ich gerade die Abwehr des Angriffs schuldig zu sein geglaubt.
Mir ist es nun nicht allein und nicht einmal vorzugsweise darauf angekom¬
men, die Geisteskrankheit der beiden Personen nachzuweisen, sondern darauf,
darzuthun, dass aus der Attestausstellung „unberufener“ Aerzte in Fällen, wie
die fraglichen sind, Schädigung öffentlicher Interessen und des ärztlichen Standes
erwächst. Nebenbei sind dann noch einige andere mehr juristische Fragen von
allgemeiner Bedeutung berührt. — Meine Auffassung des ersteren Punktes beruht
nicht auf einer mangelhaften Kenntniss von dem Wesen des Civilprozesses, den
ich nicht mit dem Strafprozess verwechsele. In dem §. 597 der Civilprozess-
Ordnung wird betreffs Vernehmung der Sachverständigen ausdrücklich auf die
Bestimmungen im achten Titel des ersten Abschnitts hingewiesen, und Sie können
sich hier aus dem §. 369 „belehren“, dass „die Auswahl der zuzuziehenden
Sachverständigen durch das Prozessgericht erfolgt“, somit ganz wie im Straf¬
prozess. — Meines Wissens sind weder Sie, noch die übrigen Aerzte, welche
Draak und Beckmann Atteste ausgestellt haben, vom Gericht aufgefordert oder
vernommen; Sie Alle haben „gerichtsärztliche Gutachten“ nicht ausgestellt,
sondern privatärztliche. Sie waren also „unberufen“. Und deshalb (nicht weil
Sie ein anderes Urtheil abgaben) und weil dadurch ein öffentliches Aergerniss
hervorgerufen ward, halte ich meinen Tadel völlig berechtigt. Dass Ihr Ver¬
fahren in dieser Angelegenheit etwa hübsch oder collegial war, will weder mir,
noch anderen Aerzten, deren Meinung ich gehört habe, einleuchten.
Dass die Draak’sche „Hetzjagd“ Ihnen unbequem ist, begreife ich. Sie
suchen deshalb das Beweisstück aus dem Wege zu räumen. Sie haben es nicht ge¬
lesen (!), Draak hat es nicht verfasst, die Fabrik soloher Schriften ist in Berlin. —
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Dr. Wallichs: Zweiter offener Brief an Herrn Dr. Mendel.
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Dagegen habe ich za erinnern, dass, wenn auch ohne Zweifel bei der Ab¬
fassung noch andere Kräfte mitgewirkt haben, Draak sich ausdrücklich als den
Verfasser bezeichnet, die Schrift persönlich verbreitet hat, dass der wesentliche
Theil des Inhalts nur von ihm herrühren kann, dass die Mittheilungen, auf die
es hauptsächlich ankommt, nämlich über die angeblichen Verfolgungen (S. 330
Abs. 2), das Complott u. s. w., in gleicher Weise schon bei der Untersuchung
von ihm vorgebracht sind. — Sie wollen die Augen schliessen, thun Sie doch
sie einmal auf und lesen das hübsche Werk!
Es ist nicht meine Absicht, hier von Neuem in eine Erörterung über die
Geisteskrankheit Beckmann’s und deren Form einzugehen. — Ihnen lag einiges,
aber keineswegs alles Material zur Beurtheilung vor. Es ist unrichtig, dass ich
mich lediglich auf die Zeugenaussagen gestützt habe, und Ihr bezüglicher „cardi-
naler Vorwurf“ ist ganz hinfällig. Ich habe alles benutzt, was mir zu Gebote
stand. Die persönliche Untersuchung bot nicht allzu viel, weil der Kranke sehr gut
zu dissimuliren verstand. Uebrigens ist es unrichtig, dass die wenigen von Ihnen
aus meinem Gutachten wörtlich angeführten Sätze alles dasjenige enthalten, was
ich an Beckmann selbst beobachtet habe. — Ausser den Zeugenaussagen lag mir
ferner z. B. eine Menge Beckmann’scher Schriftstücke vor, und die Gesammtheit
der Umstände war es, worauf ich mein Urtheil gründete. Ihre (gesperrt gedruckte,
S. 341 unten) Bemängelung, dass in meinem Gutachten Thatumstände berück¬
sichtigt waren, die von nicht gerichtlich vernommenen Zeugen stammen, hat ja
gar keinen Sinn. Aus rein formalen Gründen ist die nachträgliche Beweiserhebung,
die jene Aussagen vollauf bestätigte, verfügt. Die Beweise für die vorhandene
Geistesstörung halte ich nach wie vor geradezu erdrückend, nun — darüber
mögen Andere urtheilen.
Welcher Wortklauberei Sie sich dann mit den falschen und Wahnvorstel¬
lungen mir gegenüber schuldig machen, das wird bei näherer Ueberlegung
hoffentlich Ihnen selbst einleuchten.
Zugestehen will ich gern, dass ich nicht die ganze psychiatrische Literatur
kenne und den „Ritter der Unterdrückten“ ihr in der That nicht entnommen habe.
Also deshalb wagen Sie sich immerhin in meine Nähe! — Zugestehen will ich
ferner, dass ich in der Systematik der Psychiatrie nicht „auf der Höhe“ stehe, —
ich bin ja nicht Professor und fühle mich frei von Selbstüberhebung, — doch
nehme ich eine gewisse Uebung und Erfahrung in Beurtheilung von Geistes¬
zuständen für mich in Anspruch. Bisher hatte ich das Glück (nicht Verdienst),
Irrthümern darin zu entgehen; — wenn ich noch etwas lebe, werde ich schwer¬
lich stets so begünstigt sein. Begegnet mir ein menschliches Fehlen, so will ich
mit christlicher Geduld es zu tragen suchen, mit der Ruhe und Fassung, die
ich nach Ihrer Ansicht durch Draak’s Schmähschrift eingebüsst habe. In andert¬
halb Jahren sollte ich sie billig wieder gewonnen und meine Worte reiflich
erwogen haben. Dass sie auf Unbefangene solchen Eindruck machen, wage ich
zu hoffen.
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Offene Antwort auf den zweiten Brief des Herrn Dr. Wallichs
von Dr. Mendel in Berlin
ln Bezug auf den mir vorliegenden zweiten offenen Brief des Herrn
Dr. Wallichs habe ich nur zu bemerken, dass eine weitere wissenschaftlich
psychiatrische Discussion zwecklos sein würde, da derselbe den Unterschied
zwischen falschen und Wahnvorstellungen als „Wortklauberei“ bezeichnet. Die
Polemik des Herrn Dr. Wallichs wird dadurch charakterisirt, dass er in seinem
ersten Briefe behauptet, ich hätte „nur aus der trüben Quelle der eigenen An¬
gaben Beckmann’s geschöpft“, im zweiten, mir hätte „einiges, aber keineswegs
alles Material Vorgelegen.“
Was die technisch-forensische Seite des Streites betrifft, so widerspricht
es dem Geist, dem Wortlaut, wie der Praxis der Civilprozess-Ordnung, dem Ver¬
klagten, d. h. dem zu Entmündigenden die Beweisführung gegen die angestellte
Klage zu beschränken, und die Sachverständigkeit zu monopolisiren: thatsächlich
bildet ausserdem den Ausgangspunkt der Klagen auf Entmündigung (§.592 al. 2)
wie deijenigen für die Wiederaufhebung derselben (§. 619 al. 3) weitaus in der
Mehrzahl der Fälle ein privatärztliohes Gutachten, d. h. ein „unberufenes“.
Gtdrnekt bei L. Schumacher in Berlin.
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