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Full text of "Vierteljahrsschrift Für Gerichtliche Medizin Und Öffentliches Sanitätswesen ( 3. F.) 40.1910"

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gerichtliche Medizin 

und 

öffentliches Sanitätswesen. 


Unter Mitwirkung der Königl. wissenschaftlichen Deputation 
für das Medizinalwesen im Ministerium der geistlichen, 
Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten 

herausgegeben 


Dr. R. Abel, und Prof. Dr. F. Strassmann, 

Geh. Ober-Med.-Rat in Berlin. Geh. Med.-Rat in Berlin, 


Dritte Folge. XL. Band. 

Jahrgang 1910. 

Mit 2 Tafeln und 3 Abbildungen im Text. 


BERLIN, 1910. 

VERLAG VON AUGUST HIRSCHWALD. 


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NW. UNTER DEN LINDEN 68. 


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Inhalt. 


i. 

1. 


2 . 


3. 


4. 


5. 


6 . 

7. 

8. 

9. 


10 . 


\\ 


11 . 


12 . 


- Seit« 

Gerichtliche Medizin . 1—103. 215—327 

Aas dem pathologischen Institut des Hafenkrankenhauses zu Hamburg. 

Ueber die Entstehung und Bedeutung der Ekchymosen beim Neu¬ 
geborenen und beim Fötus. Von Dr. Fahr, jetzt Prosektor an den 

städtischen Krankenanstalten zu Mannheim. 1 

Die Verwendung der Quecksilberchloridjodidreaktion zum forensischen 
Blot- und Spermanachweis. Von Dr. Larass, Kreisarzt in Koschmin. 

(Mit 2 Abbildungen im Text.) . 11 

Beitrag zur gerichtsärztlichen Bedeutung des Verblutungstodes. Von 

Dr. Kurt v. Sury in Basel.23 

Ein Beitrag zur Kasuistik der Herzverletzungen. Von Dr. Thomas, 

Kreisassistenzarzt in Marienwerder. (Mit 1 Textfigur.).52 

Aus dem gerichtsärztl. Institut der Königl. Universität in Breslau (Di¬ 
rektor: Prof. Dr. A. Lesser). Ueber tödlicho Bromäthyl- und Brom¬ 
äthylen-Vergiftung. Von Dr. G. Marmetschke, Assistent ... Gl 
Sympathiekuren. Von Gerichtsassessor Dr. jur. Albert Hellwig, 

Berlin-Friedenau.78 

Beitrag zur Lehre vom Erhängungstode. Von Digl.-Ing. C. Krug, 

Frankfurt a. M.95 

Besprechungen, Referate, Notizen.99 

Aus der Prosektur des Katharinenhospitals in Stuttgart (Prosektor: 

Med.-Rat Dr. Walz). Ueber den Entstehungsmechanismus der Leber¬ 
rupturen durch stumpfe Gewalten. Von Med.-Rat Dr. Walz und Stabs¬ 
arzt Dr. Holle.215 

Aus der experimentellen Abteilung des Instituts für Hygiene und experi¬ 
mentelle Therapie zu Marburg (Vorstand: Prof. Dr. Römer). Die Ver¬ 
wertung der spezifischen Ueberempfindlicbkeits- Reaktion zur biolo¬ 
gischen Eiweissdifferenzierung, mit besonderer Berücksichtigung foren¬ 
sischer Zwecke. Von Berthold Bachrach, Medizinalpraktikant . . 235 

Aus der Untemchtsanstalt für Staatsarzneikunde der Kgl. Universität 
Berlin (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. F. Strassmann). Das Ver¬ 
halten der Leukozyten bei Erstickung. Von cand. med. Hoohstetter, 
Studierender der Kaiser - Wilhelms - Akademie in Berlin. (Hierzu 

Tafel I u. II).272 

Aus dem Institut für gerichtliche Medizin der Kgl. Universität Turin 
(Vorstand: Prof. M. Carrara). Ueber den gleichzeitigen Befund krimi- 

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IV Inhalt. 


Reite 

nell erzeugter und spontaner Läsionen bei Neugeborenen, mit besonderer 
Berücksichtigung der Diagnose der „intra vitam“ erzeugten Läsionen. 

Von Dr. L. Lattes. Assistent.302 

13. Zur Kasuistik des § 224 Str.-G.-B. Von Oberarzt Dr. Mönkemöller, 

Hildesheim.307 

14. Besprechungen, Referate, Notizen.326 

II. Oeffentliches Sanitätswesen . 104—210. 328—411 

1. Aus dem hygienischen Institut der Universität Jena. Sind die aus Lot 
hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? Von Geh. Hofrat 
Prof. Dr. med. A. Gärtner.104 


2. Der augenblickliche Stand der Abwasserfrage in Sulfit-Zellstoffabriken. 

Von Dr. A. Pritzkow, Wissenschaftlichem Mitglieds der Königlichen 
Prüfungsanstalt für Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung . . 145 

3. Die Gesundheitskommissionen im Regierungsbezirk Allenstein, ihre 
Tätigkeit in den Jahren 1906—08 und ihre Bedeutung im allgemeinen. 

Nach amtlichen Quellen bearbeitet von Regierungs- und Medizinalrat 


Dr. Solbrig-Allenstein und Kreisarzt Dr. Zelle-Lötzen .... 167 

4. Sammelreferate.186 

5. Besprechungen, Referate, Notizen.203 

6. Gutachten der Kgl. Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinal¬ 

wesen vom 27. Juli 1910, betreffend Korn- und Malzkaffee. Referenten: 
Rubner und Kraus.328 

7. Ueber die Verwendung der Bleiröhren zu Hausanschlüssen. Von Dr. 


Hartwig Klut, Wissenschaftlichem Mitgliede der Kgl. Prüfungsanstalt 
für Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung zu Berlin .... 330 

8. Ueber Grubenwasserleitungen und ihre Gefahren, mit besonderer Be¬ 
rücksichtigung der Erfahrungen in Altwasser (Schlesien). Von Dr. 

G. Hagemann, Kreisarzt und ständigem Hilfsarbeiter bei der Königl. 
Regierung zu Breslau.339 

9. Die ärztliche Organisation bei Unfällen. Von Dr. Ernst Joseph, Stellv, 
ärztlichem Direktor der Unfallstationen vom Roten Kreuz in Berlin . 347 

10. Zur Verhütung des Entstehens von Unfallneurosen Von Dr. Alfred 


Jacoby, Gross-Lichterfelde.358 

11. Besprechungen, Referate, Notizen.401 

III. Amtliche Mitteilungen .211—214. 412—426 


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I. Gerichtliche Medizin. 


1 . 

Aus dem patholog. Institut d. Hafenkrankenhauses zu Hamburg. 

Uefoer die Entstehung und Bedeutung der 
Ekchymosen heim Neugeborenen und beim Fötus. 1 ) 

Von 

Dr. Fahr. 

Jetzt Prosektor an den Stttdt. Krankenanstalten zu Mannheim. 


Ausserordentlich häufig wird der Gerichtsarzt vor die Frage 
gestellt, ob ein neugeborenes Kind, dessen Leiche ihm zur Sektion 
übergeben ist, nach der Geburt noch gelebt hat oder nicht, und worin 
man im ersteren Falle die Todesursache zu suchen hat. 

Die Frage, ob das Kind gelebt hat, wird sich, wenn die Fäulnis 
an der Leiche nicht schon allzu erhebliche Grade erreicht hat, in der 
Regel mit Hilfe der Lungenprobe usw. einwandfrei beantworten lassen, 
die Beantwortung der zweiten Frage dagegen stösst viel häufiger auf 
Schwierigkeiten. 

Fast durchweg handelt es sich ja um heimlich beseitigte Kinder 
und gewöhnlich fehlen deshalb über die Vorgänge bei und direkt 
nach der Geburt jegliche Angaben. Der Obduzent ist in der Haupt¬ 
sache auf den anatomischen Befund allein angewiesen, und die Ge¬ 
richtsärzte haben deshalb von jeher nach Kennzeichen gefahndet, die 
sich bei den hier hauptsächlich in Betracht kommenden Todesarten 
mit Bestimmtheit für eine gewisse Diagnose verwenden liessen. Die 
Todesart nun, die bei lebendgeborenen und nach der Geburt be¬ 
seitigten Kindern in der Mehrzahl der Fälle in Frage kommt, ist die 
Erstickung, sei es, dass das Kind direkt erdrosselt, oder durch Auf¬ 
legen der Hand oder eines Bettstücks auf den Mund erstickt wird, 


1) Nach einem Vortrag, gehalten am 19. Oktober 09 in der biologischen Ab¬ 
teilung des ärztlichen Vereins zu Hamburg. 

Vierteljahrgschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. I. | 


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Dr. Fahr, 


sei es, dass man das Kind nach der Geburt ins Klosett oder ins 
Wasser befördert, wo es ertrinkt, oder sei es schliesslich, dass das 
Kind einfach nach der Geburt zwischen den Beinen der Mutter mit 
dein Gesicht nach unten in der Geburtsflüssigkeit liegen bleibt und 
durch Aspiration derselben erstickt. 

Ein Kennzeichen nun, das sich in ganz objektiver Weise für die 
Erstickung verwenden Hesse, glaubte man früher in den Ekchymosen, 
den kleinen subserösen namentlich an Pleura und Perikard sichtbaren 
Blutaustretungen vor sich zu haben. 

Der grosse Tardieu namentlich hat diesen Standpunkt mit 
allein Nachdruck vertreten, er ist sogar noch einen Schritt weiter 
gegangen, indem er die Ekchymosen nicht nur als ein Zeichen der 
Erstickung, sondern als ein Zeichen von gewaltsamer Erstickung 
ansah und behauptete, dass sie beim Ersticken im weiteren Sinne, 
bei der Aspiration von Flüssigkeiten nicht gefunden würden, ja er 
ging sogar soweit, ihre Anwesenheit beim Erhängen und Erdrosseln 
zu leugnen, sie sollten nur bei einem Verschluss der Luftwege von 
aussen, also bei der Erstickung im engsten Sinne Vorkommen. Er 
sagt in der diesbezüglichen Abhandlung wörtlich: „que ces signes“ 
— er meint damit die Ekchymosen — „permettent, de distinguer 
sürement la mort par suffocation de la submersion, de la pendaison 
et memo de la Strangulation u *). 

Diese Ansicht Tardieus hat in Deutschland sehr bald den 
energischsten Widerspruch gefunden, und es ist vor allem das Ver¬ 
dienst von Liman (6), der schon in den sechziger Jahren des vorigen 
Jahrhunderts die für die gerichtlich-medizinische Praxis höchst ge¬ 
fährliche Lehre Tardieus bekämpfte und nachwies, dass die Ekchy¬ 
mosen bei jeder Art von Erstickung Vorkommen können, und dass 
es andererseits Fälle gibt, bei denen es sich zweifellos um eine Er¬ 
stickung im engsten Sinne, im Sinne Tardieus durch einen Verschluss 
von Mund und Nase von aussen handelte, und bei denen es trotzdem 
nicht zum Auftreten von Ekchymosen kommt. 

Die Auffassung Lim ans fand in Deutschland allseitige Zu¬ 
stimmung. Skrzeczka (8), v. Hofmann (5) vertraten sie ebenso 
nachdrücklich und schon im Jahre 1878 erlebte Liman die Genug¬ 
tuung, dass auf dem internationalen gerichtlich-medizinischen Kongress 


1) Zitiert bei Liman, Bemerkungen zum Tod durch Ersticken, Erdrosseln 
und Erwürgen. Vierteljahrssolir. f. gericktl. Med. 2. Folge. Bd. 8. 


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lieber die Entstehung und Bedeutung der Ekchymosen beim Neugeborenen etc. 3 


y.u Paris 1 ) seine Ansicht allgemein anerkannt und in Form einer 
Resolution ausgesprochen wurde, dass man die Ekchymosen nicht als 
differential-diagnostisches Merkmal zwischen den verschiedenen Er¬ 
stickungsarten verwenden dürfe. 

Seitdem ist die Bedeutung der Ekchymosen noch weiter einge¬ 
schränkt worden. 

Liman (6), v. Hofmann (5), Fritsch (3) erwähnen ihr Vor¬ 
kommen bei marastischen Asphyxien, bei schwerer Erschütterung 
•durch Verschütten, bei vielen Infektionskrankheiten, bei Blitzstrahl, 
bei Hirnverletzungen, bei manchen Vergiftungen, wie Kohlenoxyd-, 
Ph os ph or-, Bla usäurevergiftu ng. 

Diese Ursachen freilich würden sich beim Neugeborenen in vielen 
Fällen mühelos ausschalten lassen und es bliebe den Ekchymosen 
ihr Wert, wenn sie sich nach Abzug der eben genannten Momente 
für die Diagnose der Erstickung verwenden Hessen. Aber das Wort 
Erstickung darf hier nicht in dem landläufigen Sinne, sondern es 
muss in dem weiten Sinne als Asphyxie gefasst werden. 

Strassmann (9) hat die Frage auf dem internationalen Kongress 
in Moskau im Jahre 1898 in der Weise beantwortet, dass die Ekchy¬ 
mosen nichts weiter beweisen, als dass die Respiration früher aufgehört 
hat als der Herzschlag, und damit verlieren sie natürlich jede prak¬ 
tische Bedeutung, denn sie beweisen nichts für das den Richter in 
erster Linie interessierende Moment, ob eine Schuld dritter Personen 
vorliegt. Der primäre Atemstillstand kann ja durch die verschieden¬ 
sten Ursachen zustande kommen. Der Fall ist gegeben beim Er¬ 
sticken, Erhängen, Erdrosseln, aber auch bei Hirnverletzungen während 
der Geburt sowie bei jeder Flüssigkeitsaspiration, sei es nun, dass 
diese schon in utero oder erst nach der Geburt stattgefunden hat. 

Ja man kann den Begriff der Asphyxie noch etwas weiter fassen. 

Es ist schon seit langem bekannt — Maschka(7), Fritsch (3) 
haben derartige Fälle beschrieben —, dass die Ekchymosen gelegent¬ 
lich auch bei faultoten Kindern gefunden werden. Man kann sich 
nun vorstellen — in dem Casper-Limanschen Lehrbuch ist dies 
so dargestellt —, dass es sich hier um ein Ersticken in utero durch 
vorzeitige Atembewegungen und Aspiration von Fruchtwasser handelt, 
doch fragt es sich, meint Fritsch (3) in seiner gerichtlichen Geburts- 


1) Zitiert in dem Handbuch der gerichtlichen Medizin von Casper-Liman. 
.Bd. 2. S. 641. 


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Dr. Fahr, 


hilfe, ob nicht, wie mehrere Geburtshelfer meinen, bei sehr allmählich 
sich vollziehender Kohlensäureintoxikation der Tod auch ohne vor¬ 
herige Atmung durch ganz allmähliches Erlöschen des Atemzentrums 
eintreten kann. Es würden bei derartigen Kindern die Ekchymoscn 
auf die Kohlensäureintoxikation zu beziehen sein. Die Vermutung 
Fritschs scheint mir sehr viel für sich zu haben und ich glaube, 
dass Beobachtungen, die ich am Material des Hafenkrankenhauses 
gesammelt habe, sich sehr gut in diesem Sinne verwerten lassen. 
Ehe ich aber auf meine eigenen Beobachtungen eingehe, möchte ich 
noch kurz die sonstigen Theorien, mit denen man das Zustande¬ 
kommen der Ekchymosen erklärt, rekapitulieren. Einmal kommt hier 
die sog. Schröpfkopftheorie in Frage. Man hat dabei folgende Vor¬ 
stellung: Beim gewaltsamen Abschluss der Luftröhre kann bei den 
Inspirationen keine Luft mehr durch die verschlossene Trachea in 
die Luftröhre eindringen. Es wird vielmehr durch die Inspirations¬ 
bewegung ein luftverdünnter Raum in der Brusthöhle erzeugt und in 
diesen luftverdünnten Raum wird das venöse Blut mit so grosser 
Gewalt hineingesogen, dass einzelne Kapillaren bersten. Für viele 
Fälle ist diese Entstehungsweise plausibel, es liegt der beschriebene 
Mechanismus beim Ersticken im Sinne Tardieus, Erhängen und 
Erdrosseln vor, aber beim Ertrinken z. B. nicht. 

Bei den tiefen Inspirationen, die hier nach dem Eintritt der 
Bewusstlosigkeit erfolgen, ist von der Bildung eines solchen luft¬ 
verdünnten Raumes nicht die Rede, es dringt hier ja Wasser in die 
Lunge ein und erfüllt Bronchialbaum und Alveolen, auch für das 
Auftreten von Ekchymosen unter anderen Umständen, wie Hirn¬ 
verletzungen, bei der Epilepsie usw. gibt die Schröpf kopftheorie keine 
befriedigende Erklärung: Eine solche hat v. Hof mann (5) zu geben 
versucht, indem er lehrte, dass die Hauptrolle bei der Entstehung 
der Ekchymosen dem vasomotorischen Krampf zufalle, der sich auf 
der Höhe der Erstickung einstellt, die bedeutende Vermehrung des 
Seitendrucks, welche die Gefässwandungen dabei auszuhalten haben, 
soll zur Berstung einzelner Kapillaren führen, v. Hof mann ist der 
Ansicht, dass man die Ekchymosen nicht findet, w r enn der Tod ohne 
Krampferscheinungen eintritt und dass sie beim Tierexperiment fehlen, 
wenn man die Erstickung vor dem Eintritt des konvulsivischen 
Stadiums unterbricht. 

Begünstigt wird natürlich das Auftreten der Ekchymosen durch 
die starke Stauung, welche bei jeder Erstickung im Kreislauf besteht, 


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Ueber die Entstehung und Bedeutung der Ekchymosen beim Neugeborenen etc. 5 


und bei Neugeborenen, bei denen die Ekchymosen ja ganz ausser¬ 
ordentlich viel häufiger gefunden werden, wie bei Erwachsenen, kommt 
noch hinzu, dass hier die Gefässe viel zarter sind und sehr viel 
leichter reissen, als beim Erwachsenen. Schliesslich hat Haberda (4) 
noch darauf aufmerksam gemacht, dass bei starker Stauung Ekchy- 
mosen gelegentlich einmal durch Blutsenkung postmortal entstehen, 
oder dass kleinste vital entstandene Ekchymosen durch postmortale 
Senkung, durch Nachsickern von Blut sich soweit vergrössern können, 
dass sie dem blossen Auge sichtbar werden. Doch gibt es sicher¬ 
lich Fälle, bei denen keine der soeben besprochenen Erklärungen 
befriedigt, bei denen man vielmehr am besten mit der von Fritsch 
gegebenen Vermutung auskommt, dass es sich um eine allmählich 
wirkende Kohlensäureintoxikation handelt und man hätte diese Ekchy- 
inosen denen gleichzusetzen, die auf toxischer Basis, bei Kohlenoxyd- 
Blausäure Vergiftung z. B. entstehen. 

Mir war schon seit längerer Zeit aufgefallen, dass bei den Föten, 
die in ziemlich beträchtlicher Zahl in die Anatomie des Hafen¬ 
krankenhauses eingeliefert werden, häufig Ekchymosen an Pleuren 
und Perikard gefunden wurden, ohne dass man von einer eigentlichen 
Erstickung sprechen konnte. Ich habe seit l 1 /, Jahren etwa genauer 
auf diesen Punkt geachtet und möchte mir im folgenden erlauben, 
über die Befunds zu berichten, die ich im Laufe der genannten Zeit 
an 150 Frühgeburten gesammelt habe und die ich durch Beob¬ 
achtungen an Neugeborenen und durch Tierversuche zu ergänzen 
suchte. 

Bei diesen 150 Frühgeburten habe ich Ekchymosen 71 mal, also 
in der Hälfte der Fälle, gefunden. 

30 von diesen Frühgeburten hatten nach der Geburt etwas ge¬ 
atmet, in 4 Fällen habe ich notiert, dass die Lungen fast völlig luft¬ 
haltig waren. Von einer Erstickung konnte hier vielfach nicht die 
Rede sein, in einer Anzahl von Fällen hatte freilich eine Flüssigkeits¬ 
aspiration in oder ausserhalb des Uterus stattgefunden, häufig aber 
waren die Atemwege frei durchgängig, trotzdem starben die Kinder, 
und ich möchte annehraen, dass man es hier mit einem Analogon zu 
den im Mutterleibe ohne vorzeitige Atembewegungen allmählich ab¬ 
sterbenden Früchten zu tun hat. Wir würden auch lUer mit einer 
allmählich sich vollziehenden Kohlensäureintoxikation zu rechnen haben, 
die sich einstellt, weil die Föten zu schwach sind, um ausgiebige 
Atembewegungen zu machen, so dass infolge der allzu flachen, un- 


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Dr. Fahr, 


genügenden Inspirationen das Atemzentrum allmählich erlischt, l'cr- 
selbe Effekt wie bei der Erstickung, Ceberladung des Blutes mit 
Kohlensäure, wird auch hier schliesslich erreicht, und man könnte 
diese Art des Todes deshalb auch der Erstickung zurechnen, aber nur 
bei einer sehr weiten Auffassung des Begriffs, die von der landläufigen 
und bei Gericht üblichen durchaus abweicht. 

Nun ist der Gedanke naheliegend, dem Moment der Kohlensäure¬ 
intoxikation auch bei dem eigentlichen Erstickungstode, beim Er¬ 
hängen, Erdrosseln, bei der Flüssigkeitsaspiration usw. eine Rolle bei 
Entstehung der Ekchymosen zuzuschreiben, doch will ich damit die 
bereits besprochenen Theorien durchaus nicht in ihrer Bedeutung ab¬ 
schwächen. Dass durch das Ansaugen des Venenbluts, ebenso wie 
durch vasomotorischen Krampf in Verbindung mit der Stauung Ekchy¬ 
mosen zustande kommen können, halte auch ich für ganz zweifellos, 
nur wird man, glaube ich, gut tun, nicht eine dieser Ursachen prin¬ 
zipiell für die Entstehung dor Ekchymosen verantwortlich zu machen, 
sondern man wird besser von Fall zu Fall entscheiden. 

v. Hofmann hat vielleicht den vasomotorischen Krampf zu sehr 
in den Vordergrund gerückt. Ich will die Wichtigkeit dieses Moments, 
wie gesagt, nicht bestreiten. Die Befunde von Ekchymosen bei Epi¬ 
leptikern, die im epileptischen Krampf starben, werden sicherlich stets 
mit Recht als direkter Beweis für die Brauchbarkeit der Theorie 
herangezogen werden. Ein anderes Beweismoment dagegen, das 
v. Hof mann anführt, scheint mir auch einer anderen Deutung zu¬ 
gänglich zu sein. v. Hofmann gibt an, dass man beim Tierversuch 
die Ekchymosen vermisst, wenn man den Erstickungsvorgang vor dem 
Eintritt des konvulsivischen Stadiums abbricht. Ich glaube, dass 
dieser Befund sich ganz ungezwungen auch in der Weise erklären 
lässt, dass dann die Kohlensäureintoxikation noch nicht hochgradig 
genug war und nicht lange genug eingewirkt hat, um zur Bildung 
von Ekchymosen zu führen. Ich habe die Ueberzeugung, dass die 
Dauer des Erstickungsvorgangs von wesentlichem Einfluss auf die 
Entstehung der Ekchymosen sei, schon bei meinen Beobachtungen an 
unserem Fötenmaterial gewonnen, und ich habe sie weiterhin noch 
durch Tierversuche befestigt. 

Wenn ich die beiden Kategorien von Föten mit positivem und 
negativem Ekchymoscnbefund miteinander verglich, so kehrten bei der 
zweiten Gruppe mit negativem Befund im grossen und ganzen alle die 
Verhältnisse wieder, die sich auch bei der ersten Gruppe fanden. 


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lieber die Entstehung und Bedeutung der Ekchymosen beim Neugeborenen etc. 7 

21 von den 79 Föten der zweiten Gruppe hatten etwas geatmet, 
und unter denen, bei welchen die Lungen luftleer gefunden wurden, 
waren manche zweifellos durch vorzeitige Atembewegungen in utero 
erstickt, während man bei anderen beim Mangel jeglicher Flüssigkeit 
in den Luftwegen mehr an ein Absterben ohne vorherige Atem¬ 
bewegung denken musste. 

Nur ein Unterschied fand sich zwischen beiden Kategorien. 
Während sich bei der ersten Gruppe mit positivem Ekchymosenbefund 
nur ein Fötus befand, dessen Länge weniger wie 25 cm betrug, zeigte 
die zweite Gruppe davon 18, und während in der ersten Gruppe das 
Entwicklungsstadium zwischen 25 und 30 cm Länge in 23 Exemplaren 
vertreten war, fanden sich in der zweiten fast ebenso grossen Gruppe 
davon 47. Nun weiss ich ja freilich in der Mehrzahl meiner Fälle 
von den klinischen Verhältnissen so gut wie nichts, aber man darf 
ja wohl sicher annehmen, dass die in einem früheren Entwicklungs¬ 
stadium stehenden Föten im allgemeinen schneller absterben als die 
älteren, und das Ueberwiegen dieser frühen Stadien in der zweiten 
Gruppe führte mich zu der Vermutung, dass auch bei den anderen 
älteren Föten der zweiten Gruppe das Fehlen der Ekchymosen darauf 
zurückzuführen sein könnte, dass sie aus irgend einem Grunde rascher 
abstarben als die analogen Fälle der ersten Gruppe. Natürlich könnte 
man aber auch im Sinne der v. Hofmannschen Theorie sagen, dass 
die Fälle der ersten Gruppe mit, die der zweiten ohne Konvulsionen 
gestorben seien. 

Ich habe nun die Frage durch Tierversuche zu entscheiden ge¬ 
sucht. Ich habe eine Anzahl Meerschweinchen, jüngere und ältere, 
auf verschiedene Art und Weise erstickt. Ich kam dabei zu dem 
Ergebnis, dass in der Tat ein Parallelismus zwischen dem Auftreten 
der Ekchymosen und der Dauer des Erstickungsvorgangs zu bestehen 
scheint. 

Am raschesten starben die Tiere, die ich ertränkte, am lang¬ 
samsten diejenigen, die ich erhängte und erdrosselte. Konvulsionen 
wurden in jedem Falle beobachtet, trotzdem fehlten bei einem er¬ 
tränkten Tier, bei dem das Leben schon nach 2 Minuten erloschen 
war, die Ekchymosen völlig, bei zwei weiteren Tieren, einem jüngeren 
und einem älteren, die (ebenfalls) nur ca. 3 Minuten lebten, waren 
sie ganz vereinzelt, während sie bei den Tieren, die länger lebten 
(einige über 5 Minuten), meist in reichlicher Menge gefunden wurden. 

Ich bin dann weiterhin bei zwei trächtigen Meerschweinchen in 


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Dr. Fahr, 


der Weise vorgegangen, dass ich ihnen in leichter Narkose den Uterus 
aufschnitt, die Föten rasch herauswälzte und dann die Nabelschnur 
abkleramte. Ich wollte hier analoge Verhältnisse schaffen, wie bei 
den Föten, die nach der Geburt noch etwas geatmet hatten und dann 
abgestorben waren. Bei dem einen Tier standen die Jungen schon 
direkt vor der Geburt, das eine blieb trotzdem nach dem Abklemmen 
der Nabelschnur aus unaufgeklärten Gründen sofort tot, das andere 
fing richtig gehend zu atmen an und blieb am Leben. Dieser Ver¬ 
such war also unbrauchbar. Mehr Glück hatte ich bei dem anderen Tier. 

Die Föten — es waren 4 — waren hier noch unentwickelter. 
Sie machten nach dem Abklemmen der Nabelschnur flache Atem¬ 
bewegungen, die bald aufhörten, während das Herz noch eine Weile 
weiterschlug. Bei zweien fand ich in der Tat deutliche Ekchymosen 
an der Pleura. 

Von einer Verlegung der Atemwege war hier ebensowenig die 
Rede, wie von Konvulsionen. Ich glaube mit diesen Befunden auch 
eine experimentelle Stütze für die Auffassung gewonnen zu haben, 
dass die allmähliche Kohlensäureintoxikation eine Rolle beim Zustande¬ 
kommen der Ekchvmosen spielt, ja dass sie gelegentlich allein für 
deren Entstehen verantwortlich zu machen ist. 

Wenn ich seither die Lokalisation der Ekchvmosen erwähnte, so 
nannte ich immer Pleura und Perikard. In der Tat finden sie sich 
dort auch vorwiegend, doch kommen sie gelegentlich, wie allen früheren 
Beobachtern sehr wohl bekannt war, an allen möglichen Stellen vor. 

v. Hof mann (5) erwähnt als Lokalisation ausser Pleura und 
Perikard die Schleimhaut der Respirationsorganc, Epiglottis, Kehlkopf, 
Trachea, Nasenschleimhaut, ferner Paukenhöhlen, weiche Schädel¬ 
decken, Magen- und Darmschleimhaut. Strzeczka (8) nennt ausser¬ 
dem Milzkapsel, Nicrenkapsel, Mesenterium, serösen Ueberzug des 
Uterus und Konjunktiven, Fritsch (3) noch Bindegewebe des Me¬ 
diastinums, Thymus, Retina und äussere Haut. 

Von den genannten Lokalisationen ist die an der Thymus recht 
häufig, die anderen dagegen weniger alltäglich. Eine Lokalisation 
dagegen fehlt in der Aufzählung, die nach meinen Befunden beim 
Fötus wenigstens gar nicht so sehr selten ist, nämlich an der Leber¬ 
kapsel. Ihrem Aussehen nach stellen sich diese Blutungen an der 
Leberkapsel als etwas anderes dar, als die gewöhnlichen Ekchymosen, 
doch muss man sie ihrer Genese nach wohl vielfach als eine den 
Ekchymosen analoge Erscheinung auffassen. Es handelt sich hier 


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Lieber die Entstehung und Bedeutung der Ekchymosen beim Neugeborenen etc. 9 

mitunter um beträchtliche Blutergüsse, welche die Leberkapsel auf 
w r eite Strecken hin abheben, so dass es zu grossen, von Blut unter¬ 
wühlten Vorwölbungen der Leberkapsel kommt. Gelegentlich reisst 
die Kapsel und das Blut ergiesst sich in die Bauchhöhle. Unter den 
71 Föten mit positivem Ekchymosenbefund habe ich diese Kapsel¬ 
blutungen an der Leber 23 mal gesehen, gelegentlich habe ich sie 
auch bei ausgetragenen Neugeborenen, jedoch wesentlich seltener als 
bei Föten beobachtet. In der Literatur habe ich sie nur in einer 
Arbeit von Dittrich (1): „Ueber Geburtsverletzungen des Neu¬ 
geborenen und deren forensische Bedeutung“ erwähnt gefunden. 
Dittrich fasst dort diese Blutungen als traumatische, entstanden 
durch die Manipulationen der Geburtshelfer, auf. Gelegentlich könnten 
sie nach seiner Ansicht schon durch den Druck, den der kindliche 
Körper während des Geburtsvorgangs im Genitalschlauch auszuhalten 
hat, veranlasst sein. Dass sie auf mechanische Weise entstehen 
können, halte auch ich für sicher. Wie man sich leicht an der Leber 
des Fötus oder auch noch des Neugeborenen überzeugen kann, sitzt 
hier der seröse Ueberzug der Leber der Unterlage äusserst locker 
auf und lässt sich sehr leicht abheben, das Lebergewebe ist sehr 
w r eich und brüchig, ausserdem sehr blutreich, und dass beim Druck 
auf den Bauch hier leicht Blutungen zustande kommen können, liegt 
auf der Hand. 

Ich habe diese Kapselblutungen aber auch bei Föten gesehen, 
bei denen von einer Kunsthilfe keine Rede war, einige Male auch bei 
leicht mazerierten Früchten, die also bei der Geburt schon tot waren 
und bei denen die Kapselblutungen wohl schon in utero entstanden 
sein müssen. Man geht wohl nicht fehl, wenn man für das Auftreten 
dieser Kapselblutungen die gleichen Ursachen verantwortlich macht 
wie für das Entstehen der Ekchymosen. Dass es an der Leber zu 
so viel grösseren und anders ausschenden Blutaustretungen kommt, 
wie an den anderen serösen Häuten, liegt eben an dem lockeren Auf¬ 
liegen der Leberkapsel und dem ausserordentlichen Blutreichtum der 
fötalen Leber. Zur Stütze meiner Auffassung kann ich mich auch 
auf das Zeugnis von Bernhard Schultze berufen. In einer 
F’ussnote zu der Dittrichschen Arbeit ist eine briefliche Acusserung 
B. Schultzes erwähnt, in welcher sich dieser Autor dahinausspricht, 
dass die Hämatome an der Leber bei asphyktisch geborenen Kindern 
auf die Asphyxie zu beziehen seien. 

Wenn ich zum Schluss noch einmal die Bedeutung der Ekchy- 


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10 Dr. Fahr, lieber <1. Entstehung u. Bedeutung d. Ekchymosen b. Neugeborenen. 

mosen würdige, so kann ich mich nach dem Gesagten dahin aus¬ 
sprechen, dass sie nur als Symptome der Erstickung im weitesten 
Sinne aufgefasst werden können, wobei man also unter Erstickung 
unter Umständen nur eine Lieberladung des Blutes mit Kohlensäure, 
entstanden durch allmähliches Erlöschen des Atemzentrums ohne 
anderweitige Behinderung der Atemtätigkeit, zu verstehen hätte. Meine 
Befunde am Fötus bilden also eine weitere Stütze der von Strass¬ 
mann (9) auf dem internationalen Kongress zu Moskau vertretenen 
Ansicht, dass den Ekchymosen keine praktische Bedeutung für den 
Gerichtsarzt zukommt, und dass man sich hüten soll, auf den Befund 
von Ekchymosen hin Tod durch Erstickung in dem landläufigen, dem 
Richter geläufigen Sinne zu diagnostizieren. 


Literaturverzeichnis. 

1. Dittrich, Ueber Geburtsverletzungen der Neugeborenen und deren forensische 
Bedeutung. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 3. Folge. Bd. 9. 

2. Casper-Liman, Handb. d. gerichtl. Med. 2. Teil. 

3. Fritsch, Gerichtliche Geburtshilfe. Handb. d. Geburtshilfe von Müller. 
Bd. 3. Kapitel XI: ,.Die Ekchymosen.“ 

4. Haberda, Ueber das postmortale Entstehen von Ekchymosen. Vierteljahrs¬ 
schr. f. gerichtl. Med. 3. Folge. Bd. 15. 

5. v. Hofmann, Lehrb. d. gerichtl. Med. 

6. Lim an, Bemerkungen zum Tod durch Ersticken, Erdrosseln und Erwürgen. 
Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 2. Folge. Bd. 8. 

7. Maschka, Prager Vierteljahrsschr. 1858. II. S. 99; zit. in dem Handbuch 
von Casper-Liman. Bd. 2. S. 639. 

8. Skrzeczka, Zur Lehre vom Erstickungstod. Vierteljahrsschr. f. gerichtl.Med. 
2. Folge. Bd. 7. 

9. Strassmann, Die subpleuralen Ekchymosen und ihre Beziehung zur Er¬ 
stickung. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 3. Folge. Bd. 15. 


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J 


2 . 

Die Verwendung 

der Quecksilberchloridjodidreaktion zum 
forensischen Blut- und Spermanachweis. 

Von 

Dr. Larass, Kreisarzt in Kosehmin. 

(Mit 2 Abbildungen im Text) 

Die in Heft 4 Jahrgang 1909 dieser Vierteljahrsschrift nieder¬ 
gelegten Untersuchungen über die Struktur der menschlichen Erytho- 
zvten lassen wühl von vornherein annehmen, dass die Quecksilber¬ 
chloridjodidreaktion des Hämoglobins auch in älteren Blutproben, 
Auflösungen von Blutflecken verschiedenster Herkunft positiv ausfallrn 
wird, solange sie Hämoglobin in ursprünglicher Zusammensetzung ent¬ 
halten. Die Möglichkeit, das Hämoglobin auch im lackfarbenen Blute 
in annähernd der Konfiguration nachzuweisen, wie im intakten roten 
Blutkörperchen, legt diesen Gedanken nahe. Forensische Bedeutung 
wird die beschriebene Reaktion indessen nur dann erlangen können, 
wenn sie einmal in höherem oder geringerem Grade spezifisch für 
Hämoglobin ist und ihr weiterhin auch sonst noch Eigenschaften inne- 
wohnen, die die bisher gebräuchlichen Untersuchungsmethoden auf Blut 
bezw. Blutfarbstoff in mancher Richtung zu ergänzen geignet sind. 

Die ersten Untersuchungen richteten sich nur auf die roten Blut¬ 
körperchen des Menschen. Es hat sich aber weiterhin ergeben, dass 
die Erythrozyten aller Wirbeltierklassen dieselben Einlagerungen zeigen. 
Ein bemerkenswerter Unterschied besteht nur zwischen den kernlosen 
und den kernhaltigen roten Blutzellen insofern, als bei diesen das 
Hämoglobin in der Randzone angehäuft ist, während die Kerne kein 
Hämoglobin enthalten. Die auch hier im übrigen allem Anschein 
nach homogene Randschicht ist bei den kernhaltigen Erythrozyten 
meist auch wesentlich breiter als bei den kernfreien. Ebenso ergeben 

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Dr. Larass, 

sich bei dem vom Stroma befreiten Hämoglobin keinerlei Unterschiede 
in dem Ausfall der Reaktion, sodass ich nicht anstehe, die Queck¬ 
silberchloridjodidreaktion als eine allgemeine Blutreaktion anzusprechen. 

Ihr Verlauf, das Auftreten der rubinroten, stark lichtbrechenden 
Tröpfchen und mehr blassroten Schollen in dem intakten roten Blut¬ 
körperchen sowohl wie im lackfarbenen Blute ist dabei so charakte¬ 
ristisch und auffallend, dass es zur weiteren Prüfung der Frage auf¬ 
fordert, ob diese Reaktion dem roten Blutfarbstoff der Wirbeltiere 
tatsächlich allein zukommt 

Dies hat zu einer Reihe von Untersuchungen geführt. Es wurden 
ausser menschlichen Sekreten, Exsudaten und Eiter verschiedener 
Herkunft auch Organe und besonders Kölomflüssigkeit von niederen 
Tieren, auch in ihren verschiedenen Entwickelungsstadien durchsucht, 
und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass das Phylloporphyrin 
chemisch identisch mit dem Hämatoporphyrin ist, auch das Chlorophyll 
in alkoholischen bezw. alkoholisch-ätherischen Auszügen und die 
Chlorophyllkörper im ausgepressten Pflanzensaft und in Schnitten. 
Ebenso wurden einzellige Lebewesen, besonders aus der Fauna und 
Flora des Süsswassers, Pilze, Hefezellen und Bakterien in den Bereich 
der Untersuchungen gezogen. Wenn nun auch bei dem geringen Um¬ 
fange des mir zu Gebote stehenden Materials nur ein verhältnismässig 
sehr kleiner Teil der Mikroorganismen untersucht werden konnte, so 
habe ich doch weder bei den mir erreichbaren pathogenen Keimen, 
noch bei mancherlei Schimmelpilzen, noch bei Hefezellen, noch bei 
einzelligen Lebewesen des Tier- und Pflanzenreichs des Süsswassers 
ähnliche Bildungen wie in den roten Blutzellen finden können. Da¬ 
gegen scheint eine gleichartige Reaktion sich überall da zu finden, 
wo eine Differenzierung durch Organbildung sich eingestellt hat, bei 
den Tieren sowohl wie im Pflanzenreich. Im Zupfpräparat der verschie¬ 
denen Organe der niederen Tiere, wie auch in der Kölomflüssigkeit 
tritt an einzelnen Stellen in derselben charakteristischen Tröpfchen¬ 
bildung die Reaktion ein, hin und wieder sind auch in den Kölom- 
flüssigkeiten kernhaltige Rundzellen zu bemerken, die nach der Ein¬ 
wirkung des Quecksilberchloridjodids sich mit ähnlichen roten Tropfen¬ 
gebilden erfüllt erweisen wie die roten Blutzellen der Wirbeltiere. 
Auch in den Chlorophyllauszügen der grünen Pflanzenorgane bleibt 
die Reaktion nicht aus, und im au.sgepressten Saft zerkleinerter Blätter 
wie in Schnitten sind auch einzelne Chlorophyllkörner in höherem 
oder geringerem Grade mit roten Tröpfchen beladen. Allerdings 

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Verwendung d. Quecksilbercbloridjodidreaktion z. forensisch. Spermanachweis. 13 

können auch in nicht mit Quecksilberchloridjodid vorbehandelten 
Pflanzenteilen und niederen tierischen Lebewesen ähnliche rötliche 
Gebilde im mikroskopischen Bilde zu bemerken sein, vergleichende 
Untersuchungen haben mich aber doch zu der Ueberzeugung gebracht, 
dass hier tatsächlich Produkte einer ähnlichen Reaktion vorliegen 
können. Freilich sind sie im Ganzen viel seltener zu finden, meist 
liegen die roten Tröpfchen ziemlich zerstreut und nur hin und wieder 
zeigen sie sich in grösserer Anhäufung, so u. a. bei Insekteneiern 
in der Umgebung der Keimanlage. 

Bei allen diesen Untersuchungen ist von einer Färbung irgend¬ 
welcher Art meist Abstand genommen worden. Es erfolgte nach 
mehrmaligem Durchziehen des lufttrockenen Präparates durch die 
Flamme, das sich als nützlich zur Verhinderung einer lamellenartigen 
Ablösung des Präparates beim Abspülen erwiesen hat, lediglich eine 
etwa 5 Minuten dauernde Einwirkung der Quecksilberchloridjodidlösung 
und nach Abspülen mit Wasser und Trocknen Untersuchung in Kanada¬ 
balsam. Nur hin und wieder wurde daneben eine leichte Kernfärbung 
mit Hämatoxylin vorgenommen. Als Nebenwirkung des Reagens ergab 
sich bei stärkehaltigen Pflanzenteilen eine Blaufärbung der Stärkekömcr, 
die aber nicht unmittelbar unter dem Quecksilberchloridjodid erfolgt, 
sondern sich erst allmählich beim Auswässern des Präparates einstellt. 

Die Reaktion ist demnach nicht auf das Blut des Menschen und 
der Wirbeltiere beschränkt, sondern kann auch in Substraten pflanz¬ 
licher Herkunft und bei niederen Tiereti, und zwar sowohl in den 
gesehlechtsreifen Individuen als in den Vorstufen der Entwicklung, 
den Eiern und Larven beobachtet werden, eine Beobachtung, die 
übrigens auch für das Eigelb der Vogeleier und die Eier der Fische, 
wahrscheinlich auch der Amphibien und Reptilien zutrifft. Ob dies 
den forensischen Wert der Methode wesentlich zu beeinträchtigen ge¬ 
eignet ist, darauf soll später noch eingegangen werden. 

Es bleibt weiterhin zu prüfen, ob ihr nicht noch weitere Fehler¬ 
quellen anhaften. Geben doch auch andre, für Blut in erster Linie 
angegebene chemische Reaktionen mit andern Stoffen als Blut einen 
positiven Ausfall und werden sie doch, wie die Teich mann sehe 
Häminprobe durch gewisse Beimengungen erschwert oder auch un¬ 
möglich gemacht. 

Eiter aus Abszessen, Exsudaten und eitrigen Schleimhautabsonde¬ 
rungen, soweit er nicht durch putride Zersetzung auch in seinen 
/.eiligen Bestandteilen nahezu zerfallen ist, habe ich immer, auch wo 


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Dr. Larass, 


er makroskopisch keine Spur von hämorrhagischer Beschaffenheit 
zeigte, von roten Blutzellen in mehr oder weniger grosser Menge 
durchsetzt gefunden. Sie zeigen freilich selten noch eine normale 
Struktur, meist deuten Lücken, Zerklüftungen und andre Form¬ 
veränderungen auf Zerfallsprozesse, auch das Hämoglobin ist in gröberer 
Verteilung und unregelmässiger Anordnung in ihnen enthalten. Freie 
Hämoglobintröpfchen kann man hin und wieder zwischen den zeitigen 
Bestandteilen bemerken. Bei den Leukozyten kommen wohl Granu¬ 
lierungen des Protoplasmas vor, nachweisbare Hämoglobintröpfchen 
oder ähnlich reagierende Substanzen enthalten sie indessen niemals. 
Wo sich also im Eiter eine positive Quecksilberchloridjodidreaktion 
nachweisen lässt, fehlt auch nicht der sichtbare Zusammenhang mit 
hämoglobinhaltigen Blutzellen. In ähnlicher Weise verbindet sich in 
frischen Exkreten, Stuhlgang und Urin, der Nachweis frei vorkommen¬ 
der charakteristischer Tröpfchen mit dem Vorhandensein mehr oder 
weniger veränderter, aber noch durch das Fehlen des Kernes und den 
Gehalt an Hämoglobin als solche erkennbarer Erythrozyten. In den 
sonst den Körper isoliert verlassenden Zellen, also abgesehen von 
den farblosen Eiterzellen hauptsächlich in den Epithelien, habe ich 
nie einen positiven Ausfall der Reaktion konstatieren können mit 
Ausnahme der Spermatozoon, die am Schluss eine gesonderte Be¬ 
sprechung finden werden. Auch in eingetrocknetem Eiter, trocknen 
Exkrementbesudelungen u. dergl. wird daher m. E, auch wenn in 
der Aufschwemmung zellige Bestandteile mit Hämoglobingehalt nicht 
mehr anzutreffen sind, der positive Ausfall der Quecksilberchlorid¬ 
jodidreaktion nicht eine Fehlerquelle der Methode bedeuten, sondern für 
das Vorhandensein von Blut sprechen, das durch Verdauung, Fäulnis 
und andere schädigende chemische und thermische Agentien in der Zu¬ 
sammensetzung seines Hämoglobingehalts noch nicht erheblich beein¬ 
flusst ist. Ueber die Natur des untersuchten Objektes werden daneben 
etwa aufgefundene tierische oder pflanzliche Zeilen, unverdaute Fleisch¬ 
fasern u. a. Aufschluss geben. Die Bedeutung der Reaktion in Exkre¬ 
menten für klinische Zwecke, vor allem die Möglichkeit, auch ver¬ 
einzelte rote Blutkörperchen mit Sicherheit als solche anzusprechen, 
soll hier nur angedeutet werden. 

Wichtig für die Beurteilung der forensischen Verwendbarkeit der 
Methode ist die Beantwortung der Frage, wie lange der Blutfarbstoff 
des getrockneten Blutes unter verschiedenen Verhältnissen die Reaktion 
gibt und ob etwa durch Beimengung andrer Stoffe die Reaktion er- 


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Verwendung d. Quecksilberchloridjodidreaktion z. forensisch. Spermanachweis. 15 


schwert bezw. verhindert wird. Da aus Gründen, die aus den weiteren 
Ausführungen noch näher hervorgehen werden, die Lösung des Blutes 
zur Anstellung der Probe nur in Wasser erfolgen kann, ist eine wenn 
auch nur minimale Löslichkeit der Blutproben Vorbedingung. Diese 
schwindet beim alternden Blute immer mehr und hängt mit der Um¬ 
wandlung des Hämoglobins in wasserunlösliche Verbindungen zusammen. 
Die erste der Altersveränderungen ist die in Methämoglobin, das 
noch wasserlöslich ist. Da es im alternden Blute sehr selten rein 
vorkommt, sondern gewöhnlich, wie die spektroskopische Untersuchung 
zeigt, mit Hämoglobin gemischt, so könnte es zunächst zweifelhaft 
sein, ob die Quecksilberchloridjodidreaktion dem Hämoglobin allein oder 
auch dem Methämoglobin zukommt. Wenn man aber gelöstes Hämo¬ 
globin durch Ferrizyankalium ganz in Methämoglobin überführt, so 
erhält man doch die Probe in positivem Sinne. Ein Tropfen von der 
ursprünglichen Hämoglobinlösung und ein Tropfen Methämoglobinlösung 
nebeneinander auf dem Objektträger verdunstet und dann mit dem 
Reagens behandelt, zeigen in Zahl, Form und Farbe der roten Tropfen 
und blassroten Schollen keinerlei Unterschiede. Dagegen reagiert das 
weitere Umwandlungsprodukt, das Hämatin, das auch den Uebergang 
in die wasserunlöslichen Hämoglobinderivate bedeutet, nicht mehr. 

Bestimmte Zeitangaben für den Ablauf dieser Altersprozesse zu 
machen, ist nicht möglich, da sie bekanntlich nicht allein von der 
Zeit, sondern noch von vielerlei andern Momenten, Dicke der Blut¬ 
schicht, Einfluss von Licht, Luft, Wärme und sonstigen physikalischen 
und chemischen Agentien abhängig sind. Wie hoch u. a. der Einfluss 
des Lichtes zu veranschlagen ist, geht daraus hervor, dass im Blut¬ 
ausstrichpräparat schon nach einer wenige Tage dauernden Einwirkung 
direkten Sonnenlichts Hämoglobin mit Hilfe des Quecksilberchlorid¬ 
jodids nicht mehr nachzuweisen ist, während die Reaktion bei diffusem 
Tageslicht erst nach Wochen erlischt und bei im Finstern aufbewahrten 
Präparaten noch nach Monaten vorhanden ist. Auch die Farbe des 
Lichts ist nicht ohne Bedeutung, insofern als die kurzwelligen blauen 
und violetten Strahlen die Reaktion früher ausschliessen als das rote 
und gelbe Licht. 

Bei den zur forensischen Begutachtung kommenden Blutspuren 
wird es sich nun unter gewöhnlichen Verhäjtnissen um wesentlich 
dickere Blutschichten handeln, als es die erwähnten Ausstrichpräparate 
sind. Und da die Altersurmvandlungen des Blutes von der Oberfläche 
des Fleckens nach den zentralen Partien nur sehr langsam fortschreiten, 


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Dr. Larass, 


wird cs im allgemeinen dem Nachweise durch Quecksilberchloridjodid 
in derartigen Blutproben sehr viel länger zugänglich bleiben. Die 
ältesten, mir zur Verfügung stehenden Proben waren mehrere Jahre 
altes, in Glaskapillaren eingeschlossenes Blut. Die Reaktion war hier 
mit derselben Leichtigkeit und Deutlichkeit zu erzielen als bei eben 
getrockneten Blutstropfen. Wenn es sich in diesem Falle auch um 
Blut handelte, das äusseren Einflüssen in einer Weise entzogen war, 
wie es in der gerichtsärztlichen Praxis kaum Vorkommen dürfte, so 
ist doch nicht daran zu zweifeln, dass die Reaktion in dickeren Blut¬ 
schichten, wenn sie auch ungeschützt aufbewahrt wurden, noch nach 
vielen Jahren wird positiv ausfallen können, besonders in Partikeln 
aus den zentralen Partien. Auch bei 6—8 Wochen altem und der 
atmosphärischen Luft und dem Lichte dauernd ausgesetztem pulveri¬ 
sierten Blute, das makroskopisch bereits keine Löslichkeit in Wasser 
mehr aufwies, waren mikroskopisch neben den amorphen ungelösten 
Schollen doch noch charakteristische rubinrote Tröpfchen zu bemerken. 
Immerhin handelt es sich hier noch immer um Ballen von Blutkörperchen 
mit einer gewissen Dicke. Bei noch dünnerer Verteilung erlischt die 
Reaktionsfähigkeit doch in verhältnismässig früherer Zeit völlig. Und 
so gelingt es bei Blutspuren, die in dünnster Schicht auf glatte 
Flächen, Glas, Metall, Holz und dgl. aufgetragen und unbedeckt auf¬ 
bewahrt werden, und ebenso bei Blutflecken, die von stark verdünntem 
Blut herrühren, gewöhnlich nach einigen Wochen — exakte Zeit¬ 
bestimmungen sind auch hierbei nicht zu machen — nicht, mit 
Quecksilberchloridjodid in den abgeschabten oder mazerierten Partikeln 
noch Blut nachzuweisen, während eine sorgfältige Teichmannsche 
Probe noch Häminkristalle ergeben kann. 

Thermische Einflüsse wirken verschieden auf die chemische Kon¬ 
stitution des Blutfarbstoffs, je nachdem Wasser zugegen ist oder nicht. 
Schon makroskopisch tritt dies in Erscheinung. Trockne Blutstücke 
verändern ihr Aussehen erst in höheren Hitzegraden, wenn die Ver¬ 
kohlung beginnt, in Blutlösungen und feuchtem Blut werden Serum- 
eiweiss und Hämoglobin schon unter dem Siedepunkte koaguliert und 
fallen als schmutzig graubrauner Niederschlag aus. In diesem Nieder¬ 
schlag ist die Quecksilberchloridjodidreaktion nicht mehr zu erhalten. 
Die Erhitzung kann ohpe Beeinträchtigung der Reaktion nicht wesent¬ 
lich über die Temperaturgradc fortgesetzt werden, unter deren Einfluss 
das Blut lackfarbig wird. Bezüglich der trocknen Hitze ist schon in 
meiner ersten Arbeit bemerkt, dass die Erhitzung des Blutausstrichs, 


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Verwendung d. Quecksilberchloridjodidreaktion z. forensisch. Spermanaohweis. 17 


wie sie von Ehrlich zur Fixierung eingeführt wurde, die Darstellung 
des Hämoglobins in den Erythrozyten nicht beeinträchtigt. Dement¬ 
sprechend können auch Blutproben die trockne Erhitzung auf 100 bis 
120° C. für mehrere Stunden, höhere Hitzegrade aber nur für 
verhältnismässig kürzere Zeit ertragen, ohne dass dadurch die Queck¬ 
silberchloridjodidreaktion unmöglich gemacht würde. Höhere Hitze¬ 
grade heben, wenn die Dauer der Einwirkung zum vollständigen 
Durchdringen der Proben hinreicht, ihre Wasserlöslichkeit vollständig 
auf, sodass auch nach Auslaugung in staubförmig pulverisiertem Zu¬ 
stande keine Reaktion mehr zustande kommt. 

Von dem Blut beigemischten fremdartigen Stoffen werden, wie 
aus den Ausführungen bei der Besprechung der Altersveränderungen 
des Hämoglobins zum Teil hervorgeht, diejenigen für den Blutfarbstoff 
differenten chemischen Verbindungen die Reaktion unmöglich machen, 
die Umsetzungen unter die Grenze des Methämoglobins zustande 
bringen. Blutaustritte, die mit ätzenden Substanzen, Säuren, Laugen, 
gewissen Metallsalzen in Berührung kamen, geben, soweit die Aetz- 
wirkung, deren Produkte meist saures oder alkalisches Hämatin sind, 
reicht, keine Reaktion. Ebenso heben sie Vermischungen des Blutes 
mit Seife ganz oder teilweise, je nach dem Grade der Beimischung, 
auf. Dagegen wird sie nicht beeinträchtigt durch Stoffe, die das 
Hämoglobin nur in Methämoglobin verwandeln, so das gelbe Blut¬ 
laugensalz, das Chlorkali u. a. und weiterhin durch wasserunlösliche 
anorganische und alle organischen Verunreinigungen, Staub, Erde, 
allerhand Schmutzstoffe. Vor allem wird sie nicht durch die Gegen¬ 
wart von Rost gestört, der so leicht an verdächtigen Metallflächen 
haftet und die Teich mann sehe Probe besonders erschwert. Die roten 
Hämoglobintröpfchen heben sich von den braunen Rostkörnern mit 
genügender Deutlichkeit ab. Fett und ölige Stoffe verhindern die 
Reaktion, wenn das zu untersuchende Objekt völlig von ihnen durch¬ 
zogen ist, geringere Fettbeimengungen haben keinen nennenswerten 
Einfluss. 

Im feuchten, faulenden Blute gehen die Umwandlungen des Hämo¬ 
globins viel schneller vor sich, als im trocknen, aber verschieden 
schnell je nach dem Grade der Verdünnung und der durch die Aussen- 
temperatur und die Art der Fäulniskeime bedingten Schnelligkeit des 
Fäulnisprozesses. Immerhin hält sich die Reaktion doch für einige 
Zeit mit Sicherheit. So sind in verdünnten Blutlösungen, die unbe¬ 
deckt dem Eindringen von Luftkeimen ausgesetzt waren und im Laufe 

Yierteljahrssehrift f. ger. Med. u. Öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 1. 

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Dr. Larass, 


der Zeit unter fötider Zersetzung einen hellbraunen Farbenton an¬ 
genommen hatten, noch nach 2 Monaten Spuren der Reaktion von- 
handen gewesen, und im unverdünnten faulenden Blute, zumal wenn 
es zeitweilig austrocknet und dadurch der Fäulnisprozess verzögert 
wird, kann sie noch wesentlich länger, mindestens mehrere Monate 
nachweisbar sein, wenn sie auch immer spärlicher wird, je weiter die 
Blut Veränderungen vorgeschritten sind. 

Die skizzierten Eigenschaften der Quecksilberchloridjodidreaktion 
deuten an, in welcher Weise sie dem forensischen Blutnachweise 
dienstbar gemacht werden kann. Bezüglich der Technik mag indessen 
noch bemerkt werden, dass die Reaktion Trockenheit des Objektes 
verlangt. Sie lässt sich nicht in vitro anstellen. Der Grund liegt in 
den sauren Eigenschaften der Lösung, die bei Gegenwart von Wasser 
das Hämoglobin spaltet und in saures Hämatin verwandelt. Härao- 
globinlösungen und feuchte Blutausstriche nehmen unter ihr ein 
schmutzig graubraunes Aussehen an, aus Lösungen fällt ein grauer, 
feinflockiger Niederschlag aus, in dem die Reaktion nicht erkennbar 
ist. Bei der Untersuchung verdächtiger Objekte verfährt man so, dass 
die in Wasser oder besser in physiologischer Kochsalzlösung mazerierte 
und möglichst fein verteilte Substanz in dünner Schicht auf den 
Objektträger gebracht wird. Bei Flüssigkeiten lässt man einen kleinepi 
Tropfen auf dem Objektträger verdunsten. Nachdem die Schicht luft¬ 
trocken geworden ist, kann sie durch mehrmaliges Durchziehen durch 
die Flamme fixiert werden. Bei dickeren Schichten, die sich bei dem 
späteren Abspüien mit Wasser leicht ablösen, empfiehlt sich dies be¬ 
sonders, da die Schicht dann besser am Glase haftet. Bei dünnen 
Ausstrichen kommt auch ohne Hitzefixierung ein Ablösen nicht vor. 
Nach etwa 5 Minuten dauernder Behandlung mit der Quecksilber¬ 
chloridjodidlösung folgt mehrmaliges Abspülen in Wasser, Trocknen 
und ohne sonstige Färbung Einschluss in Kanadabalsam, wonach bei 
der Untersuchung mit Oelimmersion und enger Blende leicht die roten 
Tropfen und bei reichlicherem Vorhandensein von Hämoglobin ausser¬ 
dem grössere, mehr hellrote unregelmässig verzweigte Schollen ge¬ 
funden werden. Die Reaktion ist also von grosser Einfachheit und 
verlangt keine komplizierten Hilfsmittel. Aeltere trockne Objekte, 
bei denen sich für das blosse Auge keine Löslichkeit zeigt, werden 
zweckmässig nach möglichst feinkörniger Zerkleinerung mit einem 
Tropfen physiologischer Kochsalzlösung oder Wasser unter Bedecken 
längere Zeit mazeriert und auf den Objektträger zur weiteren Be- 


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Verwendung d. Qaecksilberchloridjodidroaktion z. forensisch. Spermanachweis. 19 

handlung gebracht. Zur Lösung sind chemisch differente Mittel nicht 
zu verwenden, also auch nicht die zur Isolierung von Blutzellen aus 
alten Blutflecken angegebenen Flüssigkeiten. 

Ein Nachteil der Methode liegt darin, dass dip Reaktion zu all¬ 
gemein ist. Es muss aber hervorgehoben werden, dass zwischen der 
Deutlichkeit, mit der sie bei Blut auf tritt und ihrem Vorkommen in 
pflanzlichen Stoffen und im Körper niederer Tiere ein erheblicher 
gradueller Unterschied besteht. Die beigefügte Figur 1, die als Bei¬ 
spiel für eine deutlich positive Reaktion gelten kann, zeigt die Rand¬ 
partie eines kleinen angetrockneten Tropfens einer schwachrötlichen 
Blutlösung. Die Häufung roter Tröpfchen und grösserer rötlicher 
Schollen springt so ins Auge, dass an der Diagnose Blut in diesem 
Falle kaum ein Zweifel sein kann. Ausser in Stoffen aus der Pflanzen- 
und niederen Tierwelt ist nur bei hochgradiger Blutverdünnung, altem 
nur minimale Spuren löslicher Hämoglobinverbindungen enthaltendem 

Abb. 1. 



.» 

C 



Blute und faulendem Blutwasser die Reaktion so schwach, dass nach 
ihr gesucht werden muss. In diesen Fällen muss die Beurteilung 
zweifelhaft bleiben, wenn auch in vielen Fällen wenigstens mit Wahr¬ 
scheinlichkeit eine Differentialdiagnose noch dadurch möglich sein 
wird, dass zeitige Bestandteile eindeutiger Herkunft, besonders die 
widerstandsfähigen epidermoidalen Bildungen, Haare, Stacheln, Schuppen 
u. dgl. oder Fragmente davon gefunden werden. 

Der Anwendung der Methode in der Praxis sind weiterhin da¬ 
durch Grenzen gezogen, dass sie eine mikrochemische Reaktion ist, 
die selbstverständlich da wegbleiben kann, wo die vorhandenen Blut¬ 
mengen zur spektroskopischen Feststellung genügen. Andrerseits 
iegt darin ein Vorzug. Bei sehr geringer Menge des zu untersuchenden 
Materials genügt ein staubförmiges, für die weitere Untersuchung sonst 
nicht in Betracht kommendes Partikelchen, um unter Umständen ein 
weit sicheres Urteil zu erhalten, als mit einer der chemischen Hilfs- 

2 * 


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Dr. Larass, 


proben, den Guajakolproben und dem Wasserstoffsuperoxyd. Dabei 
leidet sie nicht unter einigen Mängeln wie die andre mikrochemische 
Reaktion, die Teichmannsche, die besonders durch Rostbeimengung 
ganz undeutlich »werden kann. Sie ist auch mit noch geringeren 
Mengen Material anzustellen als diese. Die winzigsten Teilchen 
können der Untersuchung nicht entgehen, wenn man das angetrocknete 
Tröpfchen mit einem Diamantsplitter umkreist und sich so das Auf¬ 
finden unter dem Mikroskop erleichtert. Bei der Teichmannschen 
Probe kommt es bei so minimalen Mengen leicht zur Verschleppung. 
Wo es also darauf ankommt, möglichst viel Material zu sparen, also 
um auch bei den kleinsten Blutstückchen eine differentielle biologische 
Blutprobe, etwa nach der Hauserschen Modifikation noch möglich zu 
machen, da dürfte die Quecksilberchloridjodidreaktion zweifellos am 
Platze sein. Fällt sie bei sehr geringfügigem Untersuchungsmaterial 
deutlich positiv aus, so ist die Diagnose Blut so gut wie sicher, fällt 
sie schwach oder negativ aus, so kann es sich um durch Alter, 
Fäulnis und chemische Stoffe verändertes Blut oder um anderes 
Material handeln. In diesen Fällen dürfte durch den Versuch, durch 
die Teichmannsche Probe Häminkristalle zu erhalten, die Sachlage 
weiter zu klären sein. 

Die Quecksilberchloridjodidreaktion ist weiter noch in anderer 
Richtung geeignet, die Teichmannsche Probe zu ergänzen. Durch 
die letztere wird etwa noch vorhandenes Hämoglobin bzw. Methämo- 
globin künstlich in Verbindungen übergeführt, die sich dem Nach¬ 
weise durch Quecksilberchloridjodid entziehen. Sie gibt daher auch 
noch Resultate, wo unter natürlichen Bedingungen diese Veränderungen 
des Hämoglobins in Hämatin sich vollzogen haben, während die 
Quecksilberchloridjodidreaktion hier versagt. Die Verbindung beider 
Reaktionen kann aus diesem Grunde bei sehr dünnen Blutschichten, 
wo die in Betracht kommenden äusseren Einflüsse in ihrer Wirkung 
auf das Hämoglobin noch am ehesten zu übersehen sind, unter 
Berücksichtigung aller dieser beeinflussenden Momente einen gewissen 
Rückschluss auf das Alter der Blutprobe gestatten. Positive Teich¬ 
mannsche Probe und deutlich positive Quecksilberchloridjodidreaktion 
bedeuten mit Sicherheit Blut und zwar relativ frisches Blut, positive 
Teichmannsche Probe mit schwach positiver oder fehlender Queck¬ 
silberchloridjodidreaktion dagegen Blut in höheren Altersstufen. Ihren 
Grad abzumessen wird meist nur annähernd auch bei sorgfältigster 
Beachtung aller der Momente möglich sein, die im gegebenen Falle 


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Verwendung d. Quecksilberchloridjodidreaktion z. forensisch, ßlutnachweis. 21 

bei der Umwandlung des Hämoglobins in unlösliches Hämatin mit¬ 
gewirkt haben konnten. Aber auch eine derartige annähernde, auch 
mit kleinsten Mengen durchführbare und durch objektive Hilfsmittel 
festzulegende Bestimmung kann hin und wieder von Bedeutung sein. 

Nach den vorliegenden Untersuchungen ist die Quecksilber- 
chloridjodidreaktion eine sehr feine, dabei leicht anzustellende mikro¬ 
chemische Reaktion auf wasserlösliche Hämoglobinverbindungen, Hämo¬ 
globin und Methämoglobin. 

Sie ist keine streng spezifische Reaktion auf Blutfarbstoff und 
gestattet die Diagnose auf Blut nur bei deutlich positivem Ausfall, 
der allerdings schon bei makroskopisch kaum sichtbaren Mengen Blut 
zustande kommen kann. 

Sie wird beeinträchtigt durch alle Stoffe und Vorgänge, die 
Umsetzungen des Blutfarbstoffs unter die Grenze des Methämoglobins 

Abb. 2. 


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bewirken oder das Untersuchungsmaterial wasserunlöslich machen, 
dagegen nicht durch Rost und chemisch indifferente Verunreinigungen. 

Sie ist in allen Fällen von Wert, wo eine sehr geringe Menge 
Untersuchungsmaterial zum Sparen nötigt und hierbei eine Vorprobe 
von ziemlich grosser Sicherheit. 

In Verbindung mit der Teichmannschen Probe gestattet sie 
unter gewissen Umständen annähernde Rückschlüsse auf das Alter 
von Blutspuren. 


Es ist bereits erwähnt, dass unter allen Zellen, die den mensch¬ 
lichen Körper in isoliertem Zustande verlassen können, die Sperma- 
tozoen in ihrem Verhalten gegenüber dem Quecksilberchloridjodid eine 
Ausnahmestellung einnehmen. Wie aus: dem ;im.Flgür2 wieder-' 

gegebenen Bilde eines mit Wasser ausgelaugten Spc+iiiaflqdcens : ,her- 

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vorgeht, sind in den Köpfen der Spermatozoen 'fast duröhwög' hin 


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22 Dr. Larass, Verwendung der Quecksilberchloridjodidreaktion etc. 

oder mehrere Granula enthalten, die unter dem Mikroskop ebenfalls 
einen roten Farbenton zeigen. Nach allem, was ich untersucht habe, 
halte ich diese hämatoiden Granula für charakteristisch für die 
Spermatozoen, zum wenigsten kommen bei den sonst unter Um¬ 
ständen noch in den Spermaflecken vorhandenen zelligen, kernhaltigen 
Gebilden gleichartige Einlagerungen nicht vor. Täuschungen wären 
vielleicht möglich bei mit Eiter gonorrhoischer und anderer Natur 
vermischtem Sperma, das dann sowohl hämoglobinhaltige Erythro¬ 
zyten als auch freie Hämoglobintröpfchen führen kann. Eine genaue 
Durchsuchung des Präparates wird aber Irrtümer aus dieser Quelle 
vermeiden lassen, sodass die gerichtliche Medizin in dem Sperma¬ 
nachweis nicht mehr mit der bisherigen Notwendigkeit an das Auffinden 
unversehrter Spermatozoen und die ebenfalls nicht absolut sicheren 
chemischen Spermareaktionen gebunden ist. Da die Granula nur in 
den Köpfen der Spermatozoen sich finden und alle Spermatozoenköpfe 
mit wenigen Ausnahmen diese Einlagerungen zeigen, werden die 
mikroskopischen Bilder eindeutig sein, sobald man überhaupt noch 
erhaltene Spermatozoenköpfe in dem Präparat ausfindig machen kann. 

Die Technik ist sehr einfach. Das Objekt wird zerkleinert und 
in Wasser ausgelaugt. Von der ausgepressten trüben Flüssigkeit wird 
ein Tropfen auf dem Objektträger ausgebreitet und zum Verdunsten 
gebracht. Wenn das Präparat lufttrocken ist, wird es für etwa 
5 Minuten dem Reagens ausgesetzt und dann gründlich mit Wasser 
abgespült. Wohl können schon im ungefärbten, eingebetteten Prä¬ 
parate mit Hilfe der Oelimmersion die charakteristischen Granula in 
den durchsichtigen Köpfen ganz gut beobachtet werden, das Auffinden 
wird aber durch eine ganz leichte Kernfärbung doch wesentlich er¬ 
leichtert. Ich habe hierzu Hämatoxylin oder wässriges Methylenblau 
in schwacher Konzentration verwendet. Die Köpfe sind dann leicht 
bläulich gefärbt und die roten Granula heben sich mit aller Deutlich¬ 
keit von dem blauen Grunde ab. Stärkere Kernfärbungen sind zu 
vermeiden, da sie die Granula dann leicht verdecken. 


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3. 


Beitrag zur gerichtsärztlichen Bedeutung des 
V erblutungstodes. 

Von 

Dr. Kurt v. Snry in Basel. 

Es handelt sich im folgenden nicht um eine umfassende Dar¬ 
stellung der Lehre des Verblutungstodes, es sollen vielmehr aus 
diesem Gebiete an Hand der Literatur, eigener Experimente und aus¬ 
gedehnter Untersuchungen auf den Schlachtbänken von Basel und 
Wien, sowie auf Grund des einschlägigen Materials des Wiener gericht¬ 
lich-medizinischen Institutes') einige forensisch bedeutsame Punkte 
erörtert werden. 


1. Physiologische Bemerkungen. 

Die Gesamtblutmenge des Menschen ist offenbar abhängig von 
individuellen Eigentümlichkeiten. Geschlecht, Alter, Grösse und Ge¬ 
wicht sind für den Blutgehalt des einzelnen massgebend. Dies geht 
zur Evidenz aus den Untersuchungen von Haldane-Smith 1 2 ), Oerum 3 ), 
Plesch 4 ) u. a. hervor. Es ist unmöglich, die Blutmenge in 
einem für alle Menschen zutreffenden absoluten Zahlen¬ 
verhältnisse auszudrücken. Die Prüfung der verschiedenen Me¬ 
thoden zur Bestimmung der Gesamtblutmenge ist Sache des Physio¬ 
logen und Klinikers. Plesch hat über dieselben im Zusammenhänge 
mit eigenen Untersuchungen neuestens ausführlich berichtet. Nach 
den an Menschen mit der direkten Bestimmung (Welcker) und der 

1) Für die Ueberlassung desselben danke ich den Herren Froff. Kolisko 
and Haberda in aufrichtiger Weise. 

2) Haldane-Smith, Journal of pbysiology. XXV. 1900. S.331. 

3) Oerum, Deutsches Archiv für klin. Med. 1908. Bd. 93. S. 356. 

4) Plesch, Zeitschr. f. experiment.Pathol. u.Therap. 1909. Bd. 6. S. 380. 


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24 


Dr. Kurt v. Sury, 


indirekten Infusions- oder Kohlenoxydinhalationsmethode gewonnenen 
Kesultaten verschiebt sich das Verhältnis von Körpergewicht und 
Blutmenge zu Ungunsten des letzteren. Die Annahme Welckers 
(Prager Vierteljahrsschr. 1854, Bd. IV, S. 145), die Blutmenge sei 
gleich Vis des Körpergewichts, ist nach den vorliegenden Ergebnissen 
nicht richtig. Der Blutgehalt reduziert sich auf ca. V 19 oder ca. 5 pCt. 
des Körpergewichts. 

Mehr noch als die Grösse der Gesamtblutmenge wird der das 
Leben gefährdende Blutverlust von individuellen Verhältnissen beein¬ 
flusst. Neugeborene Kinder 1 ), Kranke und Marantische erliegen einer 
Blutung viel rascher als kräftige und gesunde Personen. Nach 

Landois 2 ), Lexer 3 ) und Schloffer 4 5 ) werden Verluste von 50 pCt. 
der Blutmenge ertragen, bei Ausfluss von 70 pCt. erfolgt Exitus 
[Krehl 6 )]. 

Ahlfeld 0 ) hat exakte Messungen des möglichen Blutverlustes 
während der Geburt ausgeführt. Nach seinen Erfahrungen sind Blut¬ 
verluste bis 1000 g bei gesunden Frauen ohne Bedeutung. Von 

6000 Gebärenden verloren vier Blutmengen von 2500—3000 g, eine 
Patientin noch mehr. Die fünf Frauen genasen. 

Die klinische Beobachtung ergab in den Fällen von Ahlfeld 
folgenden Befund 7 ): bei Blutverlusten 

von 1000—1500 g Beschleunigung der Herzaktion, Kleinerwerden 
des Pulses, blasse Haut; 

von 1600—1800 g Kälte der Körperspitzen, kalter Schweiss, 

Erbrechen, Gähnen, beginnender Lufthunger, Durst, Schwindel, Angst, 
Ohnmacht, Aussetzen des Pulses, event. Exitus; 

bis 2500 g Verfall, Bewusstlosigkeit oder grosse Unruhe, Muskel¬ 
krämpfe, Inkontinenz, Unterbrechung der Atmung und Aufhören der 
Herztätigkeit. 

1) Nach der Angabe von Biorfreund (Archiv f. klin. Chir. 1891, Bd. 41, 
S. 54) sollen Neugeborene schon nach Verlust von 40—53 g zugrunde gehen. 

2) Landois, Lehrbuch der Physiologie. 5. Aull. S. 69. 

3) Lexer, Allg. Chirurgie. 1906. Bd. 1. S. 11. 

4) Schloffer in Wullstein-Wilms Lehrbuch der Chirurgie. Bd. 1. S. 26. 

5) Krehl, Patholog. Physiologie. 1907. S. 130. 

6) Ahlfeld, Zeitschr. f. Geburtsb. und Gynäkol. 1904. Bd. 51. S. 341. 

7) Conf. auch die Zusammenstellung der klinischen Erscheinungen bei 
Sachs, Friedreichs Blätter für gerichtl. Med. 1899. S.321; 1900. S.18; Schröder, 
Lehrbuch der Geburtshilfe; Hildebrand, Allg. Chir. 1905. S. 25; Schloffer, 
1. c.; Lexer, 1. c. 


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Beitrag zur gerichtsärztlicben Bedeutung des Verblutungstodes. 25 

Die Ausbildung dieser Symptome in fast typischer Reihenfolge 
sehen wir beider protrahierten Verblutung, z. B. im Wochenbett, 
bei Ulcus ventriculi, nach Verletzung kleiner Gefässe. Verläuft hin¬ 
gegen bei Verletzung eines grossen Gefässes, der Aorta, oder nach 
Platzen eines ausgedehnten Aneurysmas die Verblutung foudroyant, 
so bietet das klinische Bild wenig Charakteristisches. Der Tod kann 
fast momentan, shockartig, oder im Verlaufe von Sekunden bis wenigen 
Minuten unter den Zeichen eines schweren Kollapses erfolgen. Das 
Wesentliche des rasch letalen Verlaufes liegt in der 
Schnelligkeit des Blutaustrittes. Diese ist abhängig von der 
Zahl und der Grösse der verletzten Gefässe. 

Das Tierexperiment ist zum Studium des Verblutungstodes 
schon frühzeitig von Schramm 1 ), Cohnheim 2 ), Holovtschiner 3 ) 
herbeigezogen worden. Um uns im Anschluss an den letzteren Autor 
über die Erscheinungen von seiten des Respirations- und Zirkulations¬ 
apparates ein eigenes Urteil zu bilden, haben wir an Hunden und 
Kaninchen einige Versuchsreihen vorgenommen und dem Schächten 
von Kälbern und Ochsen beigewohnt. 

I. Hund versuche (I—VI). Durchschneiden der freipräparierten Karotis. 
Die Atmung vertieft sich nach ca. 10—20 Sekunden; 1—2 Minuten später setzt sie 
aus und wird oberflächlich. Im terminalen Stadium heftige Inspirationen, der 
Körper bäumt sich auf, der Kopf wird nach hinten geworfen, die Atemmuskeln 
spannen sich krampfhaft an. Die Schnappbewegungen dauern 2—3 Minuten an, 
flachen dann ab und sistieren schliesslich ganz. 

Der Blutstrahl aus der Karotis entleert sich anfänglich in rhythmischem 
Strahle, wird aber bald kleiner und versiegt völlig. In drei Fällen pulsierte das 
Herz nach Aufhören der Atmung noch 30 Sekunden fühlbar weiter. Das Herz 
eines anderen Tieres wurde sofort nach Erlöschen der Respiration freigelegt, es 
zeigte deutliche Pulsation, 37 Schläge pro Minute und stand erst nach 16 Minuten 
52 Sekunden still. 

Die Zeit vom Karotidendurchsohnitt bis zum definitiven Sistieren der Atmung 
dauerte ca. 4—5 Minuten, bei einem Tiere 12 Minuten. Ausser den inspira¬ 
torischen Streckkrämpfen im letzten Stadium sah ich keine anderen unwill¬ 
kürlichen Muskelbewegungen. Ein rascher Abfall der Körpertemperatur während 
und nach der Verblutung trat nicht ein. Einige Hunde zeigten nach dem 
Tode rektal dieselbe Temperatur wie zu Beginn des Versuches, andere wiesen 
ein geringes Sinken der Hg-Säule um 0,5—1,0° C. auf. Der tödliche Blutverlust 


1) Schramm, Wiener med. Jahrb. 1885. S. 489. 

2) Cohnheim, Allg. Pathologie. 2. Aull. 1882. Bd. 1. S. 385. 

3) Holovtschiner, Archiv f. Anat. ond Physiol. Physiol. Abt. 1885/86. 
Suppl. S. 232. 


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26 Dr. Kart v. Sury, 

variierte zwischen 3,22—5,6 pCt. des Körpergewichts und betrug im Mittel 
4,4pCt.i). 

II. Kaninchen versuche (VII—XVIII). Fünf Tiere wurden zu ander¬ 
weitigen Versuchen, Ersticken und Zerstückelung, verwendet. Bei den übrigen 
gelangte folgendes Verfahren zur Anwendung 1 2 ): In die freigelegte Trachea 
T-förmige Kanüle, diese in Verbindung mit einer 5 Liter fassenden Glasflasche [An¬ 
lehnung an den Gadschen Aeroplethysmographen 3 4 )], die ihrerseits mit 
dem Schreiber verbunden ist. In eine der Karotiden eine Glaskanüle; zur Druck¬ 
überleitung auf den mit dem Schwimmer armierten Quecksilbermanometer wird 
20 proz. Natriumsulfatlösung benutzt. An den freien Schenkel der Trachealkanüle 
wird ein kleiner Gummischlauch mit Schraubenhahn angesetzt; durch Regulierung 
des seitlichen Luftzutrittes lässt sich die Grösse des Schreiberausschlages genau 
feststellen. Die Kurven wurden teils auf Russtrommeln, teils auf fortlaufenden 
Papierrollen aufgezeichnet Aderlass aus einer oder beiden Kruralarterien. 

Der Blutdruck verhielt sich in allen Fällen gleich. Blutet sich das Tier 
aus, so sinkt er langsam und konstant. Bei Unterbrechung des Aderlasses ver¬ 
harrt er auf derselben Höhe, steigt mitunter auch wieder etwas an. Die Puls¬ 
schläge verflachen und beginnen auszusetzen. 

Duroh den Aderlass wird die Atmung anfänglich etwas beschleunigt, all¬ 
mählich aber verlangsamt. Die Exspirationszeit wird länger, es treten Atempausen 
auf, unterbrochen von den schon bei den Hundeversuchen beobachteten Schnapp¬ 
bewegungen, die trotz der Bewusstlosigkeit den bestehenden Luftbunger des Tieres 
bezeugen. Während dieser synkoptischen Atmung setzen die Verblutungs¬ 
krämpfe ein, eine Kombination von klonisch-tonischen Krämpfen der Körper¬ 
muskulatur. Ihr Auftreten ist nicht konstant. 

Die verlorenen Blutmengen betrugen 3,7—4,27 pCt. des Körpergewichts*). 
Die Messung der Rektaltemperatur vor und nach dem tödlichen Eingriff ergab 
geringe Schwankungen bis 1 0 C. 

III. Schächtung von 55 Kälbern und 10 Ochsen. Nach dem Hals¬ 
schnitt einige Sekunden Atemstillstand, dann tiefe Inspirationen, dabei Oeffnen 
des Mundes, Mitbewegen von Lippen und Zunge. Während der Inspirationen ver¬ 
minderter, zur Zeit der Exspirationen vermehrter Blutabfluss. Durch die motorische 
Unruhe wird die Blutung beschleunigt. Atmungsstillstand nach 3—4—5 Minuten, 


1) Unsere Befunde stimmen mit denjenigen von Cohn heim (1. c.) überein. 
Er berechnete die Menge des bei Hunden direkt ausfliessenden Blutes auf 3,5 bis 
4,0 pCt. des Körgergewiohts. Panum, Virchows Archiv, Bd. 29, dieselbe Menge 
auf 60—80 pCt. der Gesamtblutmenge. 

2) Die Kurven wurden im Laboratorium der medizinischen Klinik gewonnen; 
für die Erlaubnis zur Benutzung der Apparate danke ich Herrn Prof. Dr. Gerhardt 
bestens. 

3) Gad, Archiv f. Anatomie n. Physiol.; Physiol. Abteil. 1879,1880. 

4) Uebereinstimmend betragen die tödlichen Blutverluste für Kaninchen nach 
den Untersuchungen von Gürber, Sitzungsbericht d. physik.-med. Gesellschaft in 
Würzburg (1872, S.72) 3,5 pCt. des Körpergewichts, was einer Abnahme der roten 
Blutkörperchen um mehr als 2 / 3 entspricht. 


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Beitrag zur gerichtsärztlichen Bedeutung des Verblutungstodes. 


27 


Herzschlag nooh weiter fühlbar, auch aus den durchschnittenen Halsgefässen ent¬ 
leert sich noch Blut in schwachem Strahle. Im terminalen Stadium krampfartiges 
Zusammenziehen des ganzen Körpers verbunden mit fibrillären Zuckungen der 
Muskulatur. 

Aus diesen Beobachtungen geht hervor, dass der Verblutungstod 
in der Regel kein Herztod ist. Nur bei foudroyanter Verblutung, wo 
der Blutdruck plötzlich abfällt, kann primärer Herzstillstand auf 
reflektorischem Wege eintreten. Bei langsamer Verblutung wird 
durch den Verlust des Hämoglobins der Sauerstoffgehalt des Blutes 
in so hohem Grade heruntergesetzt, dass eine rationelle Ernährung 
der Gewebe nicht mehr möglich ist. Der Blutdruck sinkt stetig, 
trotz anfänglicher Kompensierung in Form von Verengerung des 
Gefässsystems, Aufnahme des Reserveblutes aus der Leber und 
Transsudation von Gewebsflüssigkeit in die Gefässe [Nicolai 1 )]. 
Das klinische Bild ist durch den Lufthunger des Organismus be¬ 
herrscht, die ganze Muskulatur wird zur Hilfeleistung beigezogen. 
Der Sauerstoffmangel ergibt die letzte Ursache für den 
Eintritt des Todes durch innere Erstickung. 

2. Anatomischer Befund. 

Die anatomische Diagnose des Verblutungstodes gründet sich auf 
alle diejenigen Erscheinungen an der Leiche, welche den vitalen 
Blutverlust und den Zusammenhang zwischen Verletzung und dem 
eingetretenen Tode sicher beweisen. Um Wiederholungen zu ver¬ 
meiden, verweise ich im allgemeinen auf die in der Literatur 2 ) 
niedergelegten Erfahrungen. 

Ueber die Möglichkeit des Fehlens der Totenflecke ist lange 
gestritten worden. Devergie 3 ) und Casper 4 ) machten als erste an 
Hand ihrer Fälle auf den Mangel der Livores aufmerksam. 


1) Nicolai, Handbuch der Physiologie des Menschen. 1909. Bd. I. S. 741. 

2) v. Hofmann-Kolisko, Lehrb.d.gerichtl.Med. 1903. S.356. Haberda, 
Behördliche Obduktionen in Dittrichs Handb. d. ärztl. Sachverständigentätigkeit, 
Bd. II. Richter, Gerichtsärztl. Technik u. Diagnostik. S. 178. Strassmann, 
Lehrb. d. gericbtl. Med. 1895. Puppe, in Schmidtmanns Handb.d.gerichtl.Med., 
Bd. II. S. 13. Stumpf, in v. Winckels Handb. d. Geburtshilfe, Bd. III. S. 629. 
Heuduck, Deutsche Medizinalzeitung. 1907. S. 427, 435. 

3) Devergie, Mödecine ldgale. 1836. I. S. 36. 

4) Casper, Ueber Tätowierungen. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1852. 


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28 


Dr. Kurt v. Sury, 


Chlumsky 1 ), Ebertz 2 ), Bornträger und Berg 3 ) bestätigten in 
einschlägigen Beobachtungen den negativen Befund. 

In der Mehrzahl von unseren 96 Beobachtungen (s. unten) 
fanden sich die Livores sehr spärlich oder kaum angedeutet an den 
abhängigen Körperpartien vor. Nur in drei Fällen mangelten 
sie gänzlich. Die Blutungsquelle war eine sehr grosse: Abort, Hals¬ 
schnitt, Zertrümmerung von Leber und Milz (s. Kas. No. 10, 23). 
Zweimal dagegen waren die Totenflecke reichlich entwickelt (s. Kas. 
No. 9, 17). Wegen der Seltenheit des vollständigen Fehlens 
sind bei scheinbarem Mangel der Totenflecke die druckfreien Stellen 
zwischen den Schulterblättern oder in der Ausbuchtung der Lenden¬ 
wirbelsäule genau zu untersuchen [Haberda 4 )]. 

Von dem Blutgehalt der Organe in unseren Fällen hebe 
ich zusammenfassend hervor: Das Gehirn und seine Häute sowie 
die Lungen 5 ) zeigten öfters einen auffallend wechselnden Blut¬ 
gehalt. Besonders das Gehirnmark und die Meningen erschienen 
nicht so selten recht blutreich, Gefässästchen der letzteren mit Blut 
ausgespritzt und auf den Gehirndurchschnitten relativ viele Blutpunkte. 
In einem Falle waren die Hirnhäute sehr bluthaltig, das Gehirn selbst 
aber blass und feucht. Sind Gehirn und Meningen sehr blutarm, so 
enthalten auch die anderen Organe, einschliesslich der Lungen, nur 
noch Spuren von Blut. Die selbständigere Stellung von Gehirn und 
Lungen in puncto Blutzuleitung [s. auch Schulz 6 )] ist vielleicht weniger 
abhängig von einer speziellen Vasomotorenversorgung ihrer Gefässe 
als vielmehr von der Starre und Unnachgiebigkeit der sie um- 
schliessenden Wandungen der Schädelkapsel bzw. des Brustkorbes. 
Die Abdominalgefässe sind dagegen einem direkten Drucke von seiten 
der Bauchpresse ausgesetzt und es ist wohl denkbar, dass diesem 

1) Chlumsky, Ebenda, 3. Folge, Bd. X. S. 22. 

2) Ebertz, Ebenda, Neue Folge. 1878. Bd. XXVIII. 

3) Bornträger und Berg, Ebenda, 3. Folge. 1904. Bd. XXVII. 

4) Haberda, ßehördl. Obduktionen (1. c.). S. 404; Richter (I. c.) hat für 
die Farbe der Haut und der sichtbaren Schleimhäute darauf aufmerksam gemacht, 
dass ihre Blässe bei akuter Verblutung nicht besonders auffallend zu sein braucht; 
andererseits kann diese Blässe auch bei nicht Verbluteten infolge der postmortalen 
Blutsenkung eine recht ausgesprochene sein. 

5) Im Gegensatz hierzu findet Westenhoeffer, Vierteljahrsschr. f. gericbtl. 
Med. 1907. Bd. 33, dass kein Organ für die Entscheidung der Frage des Ver¬ 
blutungstodes so sicheren Aufschluss ergebe als die Lungen. 

6) Schulz, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1896. Bd. 12. Suppl. S. 44. 


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Beitrag zur gerichtetrztlichen Bedeutung des Verblutungstodes. 


29 


Drucke ein gewisser Einfluss auf die stärker hervortretende Anämie 
der Leber, der Nieren usw. zukommt. 

Den Blutgehalt des Gehirns bestimmen wir nach der absoluten 
Zahl der auf den Schnittflächen sichtbaren Blutpunkte, denjenigen der 
übrigen Organe sehr subjektiv nach ihrem Farbenton. Es handelt 
sich dabei nicht um die Abschätzung der relativen Gefässfüllung, als 
vielmehr um den Grad der Gewebsimbibition mit dem Blutfarbstoff. 
Das führt leicht zu falschen Schlüssen. Nur wenn wir die Leiche 
gleich nach dem Tode zur Sektion bekommen, was gewöhnlich aus 
äusseren Gründen (polizeiliche Erhebungen, Transport der Leiche) 
nicht möglich ist, erhalten wir von der Gefässfüllung ein richtiges Bild. 

Ein durch den Strang Justifizierter wurde sofort nach dem Ableben obduziert. 
Seine Lungen waren ganz schlaff, das Parenchym auf Schnitt hellrot, trocken; 
aus den Lungengefässen entleerte sich entsprechend der Stauung im Venenkreis¬ 
laufe enorm viel flüssiges Blut. 

Die grossen Bauchorgane sind schlaff, ihre Gewebe trocken. Die 
Milzkapsel ist hie und da gerunzelt und die Leberzeichnung infolge 
der ungenügend gefüllten Zentralvenen verwischt. Am augenfälligsten 
und für die Yerblutungsdiagnose sehr wichtig ist im Gegensatz zu 
ihrem durch die Hypostase bedingten grauroten bis dunkelroten Aus¬ 
sehen die weissgelbliche oder graugelbliche Farbe der Nieren. 

Wir haben den Eindruck gewonnen, dass die Verteilung des 
restlichen Blutes im Organismus eine sehr verschiedene 
ist, weniger abhängig von dem Ort der Verletzung als von 
der Schnelligkeit des ßlutausflusses. Je kürzer die Zeit 
bis zum Eintritt des Todes, desto mehr, je länger dieser 
Termin, um so weniger Blut wird im Körper Zurückbleiben. 

Bei innerer Verblutung schwankt die Menge des ergossenen 
Blutes in unseren Fällen zwischen 1100—1900 ccm, vereinzelt betrug 
die Blutansammlung bis 3000 ccm (s. Kas. No. 34). Damit stimmen 
auch die Erfahrungen von Richter 1 ) überein. Bei ausgedehnten 
Blutungen in die Pleurahöhlen hat Hab erd a 2 ) darauf hingewiesen, 
ob nicht in diesen Fällen für den Eintritt des Todes ausser der 
Blutung noch weitere Momente, Behinderung der Lungenatnning, Ver¬ 
drängung des Herzens in Frage kommen. 

Durch den Vergleich der messbaren Mengen des Vorgefundenen 

1) Richter, Geriohtsärztl. Technik und Diagnostik. S. 69. 

2) Haberda, Behördl. Obduktionen. 1. c. S. 638. 


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30 


Dr. Kurt v\ Sury, 


Blutes und der an der Leiche wahrgenommenen Anämie mit der 
Grösse der Gefässverletzung lässt sich annähernd die Zeitdauer der 
Verblutung berechnen. Wichtig hierfür ist die Art der Verletzung 
(s. unten), der Durchmesser des Gefässes und die Blutgeschwindigkeit. 
Solange der Grenzwert des möglichen Blutverlustes nicht erreicht ist 
und die physiologischen Regulatoren arbeiten, wird der Verletzte noch 
aktionsfähig sein. 

Ein junger Mann schnitt sich in selbstmörderischer Absicht 1 ) am Fenster 
seines Zimmers die Art. und Vena femoral. durch. Trotz der enormen Blutung 
schleppte er sich bis zum Bette und stellte den Nachttopf unter. 

Bei Zerstückelung, bei Einschnitten in hypostatische Hautpartien 
kann postmortal, besonders bei zweckmässiger Lagerung der Leiche, 
eine grosse Menge Blut ausfliessen. Die Körperorgane werden 
aber niemals das für die vitale Verblutung charakteristische 
Aussehen darbieten 2 3 ). Wir haben uns von diesen tatsächlichen 
Verhältnissen öfters am Tierexperiment überzeugt. Rasch erstickte 
Hunde und Kaninchen sind teils dekapitiert an den Hinterbeinen auf¬ 
gehängt, teils zerstückelt worden. Der Blutabgang war ein ver¬ 
schieden grosser; nach den Sektionsergebnissen hätten wir nie vitale 
Verblutung diagnostiziert. Schulz 8 ) gelangt auf Grund einschlägiger 
Untersuchungen zu demselben Resultate. 

Bei Leichen, die der Fäulnis ausgesetzt waren, darf die Ver¬ 
blutungsdiagnose nicht gestellt werden, wenn auch Herz und Gefässe 
ganz blutleer sind 4 5 ). Ebenso schwierig ist die Beurteilung bei Leichen¬ 
teilen, die im Wasser gelegen hatten. Die Frist von zwei Tagen 
genügt nach Lewin 6 ) zur Auslaugung des Blutes. 

In den letzten Jahren ist nach dem Vorgänge von v. Hof mann 6 ) 

1) Conf. auch Schlag, Zeitschr. für Medizinalbeamte. 1902. Suicid durch 
Eröffnung einer Varix cruris. 

2) Ueber vitale Zerstückelung conf. Michel, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. 
Med. 1895. Bd. 10. S. 251. Lit.; Blumenstock, Wiener med. Woohenschr. 
1875. S. 456; Haberda in Schmidtmanns Handb. Bd.l. S.257; Zelle, Viertel- 
jahrsschr. für gerichtl. Med. 1906. Bd. 31. S. 38. 

3) Schulz, ibidem. 1896. Bd. 12. S. 44. 

4) Es ist mit Kockel in Schmidtmanns Handbuch, Bd. 1. S. 668, zu be¬ 
achten, dass die Fäulnis bei Verbluteten eher später einsetzt, weil das Gewebe 
blutarm ist; an das Blut sind aber die Fäulnisbakterien gebunden. 

5) Lewin, Deutsche med. Wochenschr. 1901. S. 45. 

6) v. Hof mann, Wiener med. Presse. 1890. S. 1491. 


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Beitrag zur gerichtsärztlichen Bedeutung des Verblutungstodes. 


31 


auf das gehäufte Auftreten subendokardialer Ekchymosen beim 
Verblutungstode geachtet worden. Sie sind meist punkt- bis 
streifenförmig, seltener konfluieren sie zu grösseren Herden. Vor Ver¬ 
wechslung mit Fäulnisrotimbibition des Endokards schützen seichte 
Einschnitte; die flachen Blutaustritte liegen unter der Herzinnenhaut. 
Mit dem Vorkommen und der Entstehung dieser kapillaren Blutungen 
hat sich erst vor einigen Jahren wieder Marx 1 ) systematisch be¬ 
schäftigt. Seine Beobachtungen erstrecken sich auf 58 Fälle von Ver¬ 
blutung; in 34 Fällen von innerer Verblutung fehlten die Ekchymosen, 
in 24 Fällen von äusserer Verblutung waren sie 12 Mal oder in 
50 pCt. der Fälle und zwar stets im linken Ventrikel vorhanden. In 

den Herzen von 60 verbluteten Tieren fanden sich die Ekchvmosen 

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etwa 40 Mal oder in ca. 60 pCt. der Fälle, vorwiegend im linken, 
selten im rechten, aber immer nur in einem und zwar in dem fest 
kontrahierten Ventrikel. Aus diesen Befunden zieht Marx den Schluss, 
dass die Ekchymosen intravital bezw. agonal unter dem Einflüsse 
der krampfhaften Kontraktionen des leer pumpenden Ventrikels entstehen. 

Um die Richtigkeit dieser Argumentation nachzuprüfen habe ich 
an einer grossen Reihe von Tierherzen auf den Schlachtbänken und 
im Laboratorium Untersuchungen ausgeführt. Auf Grund der¬ 
selben bin ich zu einer von der bisherigen Ansicht ab¬ 
weichenden Meinung über die Entstehungsursache der sub¬ 
endokardialen Ekchymosen beim Verblutungstode gelangt. 

Mein Material erstreckt sich auf 297 verblutete Tiere, 157 Schweine 
und 140 Kälber. Das Herz, meist auch noch andere Körperorgane, 
die Lungen, die Milz und die Leber wurden von 242 Tieren seziert. 
Die direkt dem frischen Kadaver entnommenen Herzen waren jeweils 
ganz schlaff, hier und da oberflächliche Pulsationen der Vorhöfe und 
Ventrikel. Diese noch lebenswarmen, nicht totenstarren 
Herzen zeigten niemals nur eine Spur von Ekchymosen. 

Entsprechend der Totenstarre der Rumpf- und Extremitäten- 
muskulatur tritt auch am Herzen eine Kontraktionsstellung als Leichen¬ 
erscheinung auf [Strassmann 2 )]. Unsere Untersuchungen bestätigen 
nun die Angabe der anderen Autoren, dass die subendokardialen 


1) Marx, Offizieller Bericht der 21. Hauptversammlung des preussischen 
Medizinalbeamtenvereins. 1904. 

2) Stras^mann, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1889. N. F. Bd. 51. 
S. 300. 


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Dr. Kurt v. Sury, 


Ekchymosen ihren Sitz ausschliesslich im kontrahierten 
Ventrikel haben. Die Stärke ihrer Ausbildung ist wesentlich ab¬ 
hängig von dem Grad der Totenstarre. Je fester der betreffende 
Ventrikel kontrahiert ist, desto deutlicher und ausge¬ 
breiteter pflegen die Ekchymosen vorhanden zu sein. 

Stellen wir die gefundenen Grundsätze einander gegen¬ 
über, so erhellt daraus auch die unzweifelhafte Genese 
der Blutung. Am lebenswarmen zuckenden oder schlaffen 
Herzen fehlen die Extravasate völlig, am totenstarren 
Herzen dagegen finden sie sich fast konstant (in 94,3 pCt. 
meiner Fälle). Die Ursache ihres Auftretens liegt in der 
postmortalen Kontraktion des Herzmuskels; sie sind dem¬ 
nach als einfache Leichenerscheinungen aufzufassen und 
nicht wie bis jetzt angenommen wurde intravitalen oder 
agonalen Ursprungs. 

Das vermehrte Vorkommen der subendokardialen Ek¬ 
chymosen bei der Verblutung ist offenbar eine Eigentüm¬ 
lichkeit dieser Todesart und ihre letzte Erklärung liegt in 
den Folgen der Verblutung begründet. Als rein hypostatische 
unter dem Einfluss der Totenstarre zustande gekommene Blutungen 
können wie die Ekchymosen, wenigstens bei der Verblutung, nicht 
auffassen. 1 ) Es scheinen mir weitere mechanische Momente 
ausschlaggebend zu sein. Tritt die Totenstarre mit ihrer länger an¬ 
dauernden Kontraktionsstellung auf, so wird durch den Muskeldruck 
die Spannung in den noch relativ gut bluthaltigen Herzkapillaren 
(s. u. mikroskopische Untersuchung) wesentlich gesteigert. — Ich 
fasse diese andauernde Systolestellung des totenstarren Herzmuskels 
als das Hauptmoment auf. Das Herz stellt bei der Verblutung, wie 
oben ausgeführt, seine Funktion nur allmählich ein. Diese letzten 
abflachenden, nicht krampfhaften Kontraktionen sind nach meinen 
negativen Befunden nicht geeignet, intravitale Läsionen der Kapillaren 
zu setzen. — Gegenteilig herrscht im Ventrikelinnem infolge des 
tödlichen Blutverlustes verminderte Spannung und stark herabgesetzter 
Druck. Unter dem Einflüsse der anhaltenden Pression des 
totenstarren Herzmuskels auf den Kapillarinhalt einerseits 

1) Nach Plesch, 26. Kongr. f. innere Med. Wiesbaden 1909, ist die Blut¬ 
versorgung des Herzmuskels eine acht Mal bessere als die des übrigen Körpers, 
ein Ergebnis, das auch durch unsere mikroskopischen Befunde gestützt wird. 


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Beitrag zur gerichtsärztlichen Bedeutung des Verblutungstodes. 


33 


und der Saugwirkung des unter bedeutend niedrigerer 
Spannung stehenden Ventrikelraumes andererseits reisst 
das feine Kapillarrohr ein und das Blut ergiesst sich frei 
in das subendokardiale Gewebe. 

Tabelle I. 


Zahl der untersuchten Tiere.297 

_ „ „ Tierherzen.242 


1. Ekchymosenbefund positiv: 

1) im kontrahierten linken Ventrikel 157 Mal \ 

2) „ „ rechten „ 7 „ > 184 Fälle 

3) beidseitig in den kontrah. Ventrikeln 20 „ > 


II. Ekchymosenbefund negativ: 

1) Herz schlaff, nicht totenstarr.47 Fälle 

2) „ kontrahiert.11 „ 


Total 242 Fälle. 

Von unseren 242 Tierherzen waren bei der Untersuchung 195 kon¬ 
trahiert und 47 schlaff. Ekchymosen zeigten 184 Fälle = 76pCt. 
aller untersuchten Tierherzen (242) oder 94,36 pCt. der 195 
totenstarren Herzen. 

Der geltenden Anschauung, dass immer nur ein Ven¬ 
trikel Sitz der Ekchymosen sei, stellen wir unsere 20 Fälle 
(I, 3) gegenüber, in welchen die Blutungen in beiden kon¬ 
trahierten Kammern gefunden wurden. Naturgemäss ist der 
linke Ventrikel vorwiegend befallen und zwar 157 Mal, der rechte 
Ventrikel nur 7 Mal. In den schlaffen Vorhöfen sah ich nie Blu¬ 
tungen. Die Prädilektionsstellen für die Ekchymosen waren linker¬ 
seits der ganze untere Umfang der Mitralis, die beiden Papillarmuskeln 
und das Septum, rechterseits der Conus pulmonalis, Septum und die 
vordere Ventrikelwand. 

Das angegebene Verhalten der subendokardialen Ekchymosen 
konnte ich auch an Hunden und Kaninchen, die ich verbluten liess, 
bestätigen. Bei erstickten oder an Luftembolie zu Grunde gegangenen 
Tieren sah ich die Extravasate selten und nicht in dem Umfange 
auftreten wie bei den verbluteten. Die Ekchymosen entstanden nur 
im geschlossenen Herzen. An den noch schlaffen, aufgeschnittenen 
Organen habe ich die Bildung von Blutungen nie direkt verfolgen 
können. Es entspricht dies unserer Auffassung, dass als 

Vierteljahmchrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 1. g 


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auslösendes Moment der Kapillarruptur die postmortale 
Muskelkontraktion zu betrachten ist. 

Von 96 Verbluteten, die im Wiener gerichtlich-medi¬ 
zinischen Institute zur Sektion kamen, zeigten 57 = 62,6 pCt. 
subendokardiale Ekchymosen, stets im linken Ventrikel mit Bevor¬ 
zugung der Septumwand und der Papillarmuskeln. Von diesen 
57 Individuen verbluteten sich 36 nach aussen und 18 nach innen. 
Wir können somit nach unseren Erfahrungen der Ansicht 
von Marx, dass nach inneren Verblutungen keine Ekchy¬ 
mosen Vorkommen, nicht beipflichten. Unsere diesbezüglichen 
Fälle verteilen sich auf geplatzte Extrauteringraviditäten und Aneurys¬ 
men, Stichverletzungen, Rupturen von Milz und Leber etc. 

Für die Verwertung der Ekchymosen zur Diagnose des Ver¬ 
blutungstodes ist es wichtig zu wissen, dass sie in Fällen von sehr 
starker Ausblutung z. B. bei totalem Mangel der Totenflecke auch 
fehlen können. Wir verfügen über eine solche Beobachtung. 

Die mikroskopische Untersuchung der Ekchymosen habe 
ich an Menschen- und Tierherzen ausgeführt. Die in Frage kommenden 
Stellen nebst den angrenzenden Muskelschichten wurden mit Hämalaun 
vorgefärbt, in Celloidin gehärtet und nach der Langhans’schen 
Methode in kontinuierliche Schnittserien zerlegt unter gleichzeitiger 
Nachfärbung mit Eosin. Die roten Blutkörperchen sind in dünner 
Schicht teils in kleinen teils in konfluierenden Herdchen unter dem 
Endokarde ausgebreitet und liegen stellenweise auch zwischen den 
oberflächlichen Muskelfasern. Ihre Konturen sind deutlich, nirgends 
eine Andeutung von Koagulation sichtbar. Die Herzmuskelkapillaren 
sind relativ gut bluthaltig. Die Muskelfasern haben normales Aussehen. 

Die subendokardialen Ekchymosen wurden ausser bei Verblutung 
von Müller 1 ) bei Anilin- und von Schulz 2 ) bei Strophantinintoxi¬ 
kationen beschrieben. Nach unseren Erfahrungen treten sie auch 
bei Vergiftungen mit Kohlenoxyd, Quecksilber, Nitrobenzol, Cyankali, 
speziell mit Arsen und Phosphor auf. In den letzten fünf Jahren 
gelangten 4 Arsen- und 50 Phosphorvergiftungen zur gerichtlichen 
und sanitätspolizeilichen Obduktion; von diesen zeigten 3 bezw. 16 
subendokardiale Ekchymosen. Letztere finden sich auch bei Säug¬ 
lingen mit akuter Enteritis und bei Cholerakranken. Vielleicht 


1) Müller, Deutsche med. Wochenschrift. 1888. Nr. 2. 

2) Schulz, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 3. Folge. Bd. XIII. 


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ist in diesen Fällen ähnlich wie bei den Vergiftungen, namentlich mit 
Phosphor, für das Zustandekommen der Ekchymosen neben dem 
mechanischen Moment und der enormen Wasserverarmung des Orga¬ 
nismus eine toxische Schädigung der lebenden Kapillare von Bedeutung. 
Schliesslich haben wir die Blutungen nach Tod infolge natür¬ 
licher Erkrankungen in zahlreichen Fällen gefunden: 

1) Meningitis, Gehirntumor, Epilepsie; 

2) Tonsillitis acuta, Diphtherie, Bronchitis, Emphysem, Tuber¬ 
kulose, Asphyxia intrauterina: 

3) Vitium cordis, 'Myokarditis, Myodegeneratio, Perikarditis, 
Atherosklerosis; 

4) Peritonitis; 

5) Eklampsie, Delirium alkohol., Sepsis, Narkose- und Shocktod. 


Spezieller Teil. 

Ueber die Häufigkeit des Verblutungstodes im Gefolge 
mechanischer Verletzungen oder natürlicher Erkrankungen gibt die 
Statistik der gerichtlichen und sanitätspolizeilichen Obduktionen am 
Wiener gerichtlich-medizinischen Institute aus den Jahren 
1904—1908 Aufschluss: 


Tabelle II. 


Jahrgang 

Gerichtliche 

Obduktion 

Verblutung 

San.-Polizeil. 

Obduktion 

1 

1 Verblutung 

1904 

196 

13 

914 

9 

1905 

277 

15 

1054 

8 

1906 

354 

12 

975 

3 

1907 

274 

8 

856 

4 

1908 

304 

18 

878 

1 


1405 

66 = 4,7 pCt. 

4677 

25 = 0,53 pCt. 


Ausser diesen 91 Fällen wurden noch vereinzelte Beobachtungen 
<Nabelschnurblutung, Halsschnitttwunden) aus anderen Jahrgängen 
beigezogen. 


3* 


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Dr. Kurt v. Sury, 


1. 

2 . 

3. 

4. 

5. 

6 . 

7. 


8 . 

9. 

10 . 

11 . 


Tabelle HL 


Ursache der Verblutung 


Stichwunden. 

Schnitttwunden 2 + 3 1909 . 

Hiebwunden. 

Schusswunden . 

Stumpfe Gewalt. 

Operationsnachblutungen. 

Verblutung von Schwangeren und Gebärenden 

a) geplatzte Extrauteringravidität . . . 

b) vorzeitige Plazentarlösung . . ... 

c) Placenta praevia. 

d) partielle Plazentarretention .... 

e) Atonia uteri post part. 

f) Geburtsverletzung.. . 


Zahl 

der Fälle 


24 

5 

2 

2 

23 

3 


4 

1 

2 

4 

5 
1 


17 


Verblutung von Neugeborenen durch die Nabel¬ 
schnur 2 + 1 1901, +2 1909 . 

Geplatzte Aneurysmen. 

Geplatzte Varixknoten. 

Ulcus ventriculi, Arrosion der Art. lien. . . . 


5 

10 

4 

1 


Total 96 


Als Quelle der Verblutung fallen in Betracht: Arterien und 
Venen (59), Geschlechtsorgane (20), Leber (10), Lunge (7), Milz (6), 
Herz (4) und Nieren (2). 

1. Verblutung nach mechanischer Verletzung. 

Die häufigste Ursache für eine tödliche Blutung ergeben neben 
den Verletzungen durch stumpfe Gewalt die meist bei Rauf handeln 
gesetzten Stichwunden (Kasuistik Nr. 1—9). 

Durch die mit einer gewissen Kraft ausgeführte Stichbewegung 
dringt das benutzte Instrument, in der Regel ein Messer, durch Kleider 
und Haut in die Tiefe und eröffnet die seinen Weg kreuzenden Blut¬ 
gefässe. Die Blutung erfolgt je nach der Lage des verletzten Gefässes 
nach aussen oder in eine Körperhöhle. Es ist daran festzuhalten, dass 
bei glatter Stichführung in die Tiefe, also abgesehen von der Verletzung 
grosser oberflächlicher Ge fasse am Halse, in der Axilla und in der 
Schenkelbeuge, die Blutung nach aussen infolge Aneinanderlagerung der 
Wundkanalränder nach dem Zurückziehen des Stichwerkzeuges nur eine 
kleine ist, die Verblutung vielmehr nach innen stattfindet. Dieser Befund 
ist charakteristisch bei Stich Verletzungen der Lungengefässe, der Aorta, 
der Vena cava. Je nach der Stichrichtung werden auch verschiedene 
Gefässe mit- oder nacheinander durchtrennt und angestochen. 


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Beitrag zur gericbtsärztlicben Bedeutung des Verblutungstodes. 


37 


Eine grosse Blutung nach aussen sehen wir regelmässig bei 
Schnittwunden namentlich des Halses [Thomas 1 ); s. Kas. 10—13]. 
Werden Ochsen und Kälbern z. B. bei der Schächtung (s. oben) 
in einem Zuge die Halsweichteile durchschnitten, so entströmt den 
Schnittflächen eine gewaltige Menge Blutes. Die Karotiden spritzen 
in weitem Bogen und aus den grossen Venen des Rumpfes und des 
Kopfes fliesst dunkles Blut. Die gefesselten Tiere suchen aus¬ 
zuschlagen, sich auf die Seite zu wälzen. Wir erhielten nicht den 
Eindruck, dass mit dem Schnitt und dem Einsetzen der enormen 
Blutung momentane Bewusstlosigkeit auftritt. Die scheinbar zweck¬ 
mässigen Abwehrbewegungen sistieren erst mit dem nachfolgenden 
Betäubungsschlag auf den Kopf. 2 ) 

Von der Art der Verletzung, ob das Gefäss nur angestochen 
oder ganz durchtrennt ist, hängt die Grösse der Blutung ab. Im 
günstigsten Falle bildet sich am Ort der Läsion eine Thrombose und die 
Blutung steht. Trotz dieses möglichen Selbstschutzes des Organismus 
sind bei jeder Gefässverletzung gewisse direkte Gefahren zu fürchten: 

1. Besitzt das Blut keine genügende Gerinnungsfähigkeit (Hämo¬ 
philie), so bildet sich eventl. an der Verletzungsstelle kein Thrombus 
und das Blut fliesst ungehindert aus: 

lSjäbriger Arbeiter, Stich in den linken Oberschenkel, nach 2 Stunden 
Exitus. Sektion: Grosse Gefässe unverletzt, nur ein kleiner Muskelast ist durch¬ 
trennt. Haut wachsbleich mit spärlichen rötlich-violetten Totenflecken rückwärts. 
Allgemeine Anämie der Organe, nur das Gehirn zeigt zahlreiche Blutpunkte. 

2. Von dem normaliter gebildeten Thrombus löst sich nach¬ 
träglich ein Stück los (Embolie): 

25jähriger Schlosser mit einer Halsstichwunde tot aufgefunden. Sektion: 
Stichwunde der reohten Art. carot. commun. mit Thrombus. Encephalomalacia 
acuta der rechten Hemisphäre nach Embolie der rechten Art. fossae Sylvii. 

1) Thomas, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1902. Bd. 24. S. 1. 

2) Anmerkung bei der Korrektur: loh hatte kürzlich Gelegenheit, der 
Enthauptung des Raubmörders Muff in Luzern beizuwohnen. Nur im Moment des 
Messerdurchschneidens zeigte der Rumpf und die gefesselten Extremitäten ein ein¬ 
maliges krampfhaftes Zusammenziehen. Der Mund machte kurzandauernde Schnapp¬ 
bewegungen, die Atmung stand sofort still. Aus den Karotiden entleerte sich noch 
über eine Viertelstunde post executionem Blut; ebensolange sah ich das freigolegte 
Herz pulsieren, dessen Kontraktionen nurallmählich verflachten, Stillstand in Diastole. 
Organe ziemlich stark anämisch, Herz bei der Sektion schlaff, ohne Ekchymosen. 
Die Ausblutung, namentlich auch der typische Herzstillstand stimmen mit den Resul¬ 
taten unsrer Experimente und Beobachtungen auf den Schlachtbänken überein (s. o.). 


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38 


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3. Bei Verletzung grösserer Venen, meist bei Schnitt- und Stich¬ 
wunden des Halses, wird durch den im Brustraum herrschenden 
negativen Druck Luft angesogen. Stärkere Lufteinschwemmungen 
bedingen Kollaps eventl. den Tod. 

55jähriger Mann sollte nach polizeiärztlicber Untersuchung in das Kranken¬ 
haus transportiert werden. Beim Einsteigen in den Wagen zog er ein Messer 
hervor und durchschnitt sich den Hals. Sektion: Luftembolie des rechten Herzens. 

Hiebwunden führen selten zur Verblutung. Haberda 1 ) be¬ 
richtet von einem Advokaten, der mit einem Hammer ermordet wurde; 
Schädel zertrümmert; Eröffnung des Sinus longitudinalis. Tod nach 
4 1 /* Stunden. Reichliche ßlutmengen am Tatort, Anämie der Leiche. 
Einen Fall von Misshandlung des Ehemanns durch Knüttelschläge mit 
Verblutung aus der zerrissenen Milz und ihren Gefässen beschreibt 
Heidenhain 2 ). In unseren zwei Fällen (s. Kas. No. 14—15) handelte 
es sich um Raubmord. Beide Leichen zeigten ausgesprochene Anämie 
aller Organe. Es ist noch darauf hinzuweisen, dass nach Paltauf 
bei Commotio cerebri durch den anfänglichen Gefässkrampf der 
Ausfluss des Blutes nur langsam vor sich geht, erst bei Lösung des 
Krampfes soll die starke Blutung einsetzen 3 ). 

Die hydrodynamische Wirkung des Nahschusses tritt in 
reinster Form bei Kopfschüssen auf. Die Schädelkapsel wird ab¬ 
gehoben, das Gehirn herausgeworfen und zertrümmert. Ein ent¬ 
sprechender Befund wurde in einem unserer Fälle (s. Kas. No. 17) 
am Herzen erhoben. Offenbar hat die Kugel im Momente der diasto¬ 
lischen Füllung die linke Kammer perforiert und durch die Ueber- 
tragung ihrer Geschwindigkeit auf die im Ventrikel sich befindliche 
Blutmenge die schwere Herzverletzung hervorgerufen. 

Die Verletzungen durch stumpfe Gewalt qualifizieren sich 
als Rissquetschwunden, Zermalmung einzelner Glieder oder Organe, 
Zermalmung des ganzen Körpers. Durch den heutigen Grossbetrieb 
in staatlichen und privaten Unternehmungen wird das Unfallsrisiko 
der Arbeiter wesentlich gesteigert, insbesondere fordert der Eisenbahn- 

1) Haberda, Vierteljahrsschr. f. geriohtl. Med. 1895. Bd.10. Suppl. S. 10. 

2) Heidenhain, ibidem. 1888. S. 87. 

3) Nach unseren Beobachtungen auf den Schlachtbänken hat 
die vorherige Betäubung bei der Schlachtung keinen wesentlichen 
Einfluss auf das Ausbluten des Tieres; das Blut Qiesst von Anfang an 
fast in gleicher Stärke aus wie bei einem nicht geschlagenen Tiere. Conf. auch 
Ostertag, Handbuch der Fleischbeschau. 5. Aufl. 1904. 


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Beitrag zur gerichtsärztlicben Bedeutung des Verblutungstodes. 


39 


verkehr alljährlich eine grosse Zahl von Opfern. Die tödliche Blutung 
erfolgt selten nur durch Berstung einzelner Gefässe, meist resultieren 
umfängliche Gewebszertrümmerungen, wobei die Gefässe mit lädiert 
werden (s. Kas. No. 18—25). 


Tabelle IV'). 


Form der Verletzung 

Fälle 

1. Zermalmung der Extremitäten. 

15 

2. Ruptur der Leber. 

8 

3. „ „ Milz. 

4 

4. „ von Blutgefässen. 

2 

5. „ des Herzens. 

1 

6. ,, der Nieren. 

1 

7. Multiple Risswunden der Haut. 

3 

8. Risswunden des Gekröses. 

2 

9. Risswunde der Vulva. 

1 


Total 37 


Bei Verletzung durch stumpfe Gewalt, bei Hautquetschungen, bei 
Frakturen wird immer freies Fett in den Kreislauf eingeschwemmt 
(Fettembolie, s. Kas. No. 20, 22, 25). Es wirkt deletär durch Ver¬ 
stopfung der Lungenkapillaren und der Gehimschlagaderästchen. Es 
wurde allgemein angenommen, das Fett gelange durch die an der 
Verletzungsstelle eröffneten Venenlumina in den Kreislauf. Nun hat 
kürzlich Wilms 1 2 ) als erster den Nachweis erbracht, dass die Haupt¬ 
masse des Fettes indirekt durch die Lymphwege in die venöse 
Bahn transportiert wird. Bei einem durch Sturz verunglückten 
Arbeiter (Weichteilquetschungen) stellten sich nach anfänglichem Wohl¬ 
befinden die Symptome der Fettembolie ein. Wilms schaltete darauf 
den Ductus thoracicus vor seiner Einmündungsstelle aus; es flössen 
reichlich Fettropfen ab. Rasche Heilung. 

Für das Zusammentreffen von Luft- und Fettembolie, von Blut¬ 
aspiration und Verblutung ist der Name „Komplizierter Verblutungstod“ 
vorgeschlagen worden. Wir halten diese Bezeichnung für unzweck¬ 
mässig. Sobald den angeführten Zwischenursachen ein wesentlicher 

1) Conf. auch die reiche Kauistik von Lesser, Altas der gerichtl. Med. II. 
Text, S. 171. Chiari, Berliner klin. Wochenschr. 1908. Nr. 36. Drenckhahn, 
Friedreichs Bläter für gerichtl. Med. 1899. Mayer, DieWunden der Milz. Leipzig 
1878. Tomkins, Lanoet. 4. Januar 1881. 

2) Wilms, Demonstration in der Medizinischen Gesellschaft von Basel, 
Sitzung vom 21. Oktober 1909. 


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40 


Dr. Kurt v. Sury, 


Anteil für den Eintritt des Todes zukommt, sprechen wir von kon¬ 
kurrierenden Todesursachen. Ihre schädigende Wirkung dem 
Organismus gegenüber ist gleichwertig und der Exitus erfolgt sicher 
vor Ausfluss der zum Verblutungstode allein notwendigen Blutmenge. 


Kasuistik. 

a) Stichverletzungen. 

1. Stich Verletzung der Arteria und Vena femoralis. 28jähriger 
Bahnarbeiter; Stich in den linken Oberschenkel, ging noch ca. 200 Schritte bis 
zu seinem Wohnhause, woselbst er in einer grossen Blutlache liegend tot auf¬ 
gefunden wurde. 

2. Multiple Stich Verletzungen; Raubmord. 48jährige Frau mit 
ihrem Gatten und dem Lehrling von dem Gehilfen ermordet. — Sektion: Stich¬ 
wunde der linken Lunge und der linken Pulmonalarterie, über 1 Liter Blut in der 
linken Pleurahöhle. Vier weitere Stichwunden der Leber und der rechten Lunge. 

3. Stich Verletzung der Arteria carotis oommunis sin. 38jäbriger 
Eisengiessor, Stich in die Brust, Tod nach 5 Stunden. — Sektion: In der linken 
Pleurahöhle 1750 ccm flüssigen und 425 ccm locker geronnenen Blutes. 

4. Stich Verletzung der Aorta ascendens. Mord. 20jährige 
Schneiderin erhielt bei einer Wagenfahrt von ihrer Begleiterin mit einem Küchen¬ 
messer 2 Stiche in die Brust. Sie konnte nooh aus dem Wagen aussteigen, stürzte 
dann zusammen und verschied nach wenigen Minuten. 

5. Stich- und Schnittwunde der Vulva (Provenienz unbekannt). 
40jährige Wirtschafterin wurde bewusstlos, stark alkoholisiert in einer grossen 
Blutlache liegend aufgefunden. 3 / 4 Stunden nachher Exitus. Vom Beschauarzt 
wurde Metrorrhagie als Todesursache angegeben, erst die Sektion deckte den 
richtigen Sachverhalt auf. 

6. Stich Verletzung der Arteria pulmonalis sin. 29jähriger Hilfs¬ 
arbeiter, Stich in den Rücken, lief noch über die Gasse, fiel nieder, versuchte sich 
mehrmals aufzurichten. — Sektion: Im linken Pleuraraum Gas und 1380 ccm 
geronnenen und 76 ccm flüssigen Blutes. 

7. Stich Verletzung dos Aortenbogens. 19 jähriger Vagabund, Stich 
in die Brust, starb während des sofort erfolgten Transportes in dasSpital. — Sektion: 
Im linken Pleuraraum 1000 ccm geronnenen und 180 ccm flüssigen Blutes, im 
rechten Pleuraraum 145 ccm flüssigen Blutes. Zweiter Stich von rückwärts in die 
Leber und in die rechte Niere; in der Bauchhöhle nur 2 Esslöffel flüssigen Blutes. 

8. Stich Verletzung der Aorta abdominalis. 22jähriger Metall¬ 
schleifer, Stich in den Bauch, Exitus nach 12 Stunden. Bei der dem Tode voraus¬ 
gehenden Operation wurden grosse Mengen flüssigen Blutes aus der Bauchhöhle 
entfernt. — Sektion: Die Stichwunde führt durch den Magen in die Aorta hinein. 

9. Stich Verletzung der Art. subclavia dextra. 23jähriger Tischler, 
Stich in den Hals, nach wenigen Minuten Exitus. — Sektion: Im rechten Pleura¬ 
raum 1175 ccm flüssigen und 425 ccm geronnenen Blutes. Trotz der Anämie der 
inneren Organe ausgebreitete rötliche Totenflecke rückwärts. 


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Beitrag zur gerichtsärztlichen Bedeutung des Verblutungstodes. 


41 


b) Schnittwunden. 

10. Halsschnitt, Mord. 8y 2 jähriger Knabe S. Die Mutter wurde am 
Tage vor der Tat menstruiert, sie war sehr aufgeregt und litt an fixen Ideen; weil 
eine Tochter tuberkulös war, glaubte sie, die andern Kinder müssten auch 
lungenkrank werden. Als am Abend der Mann nach Hause kam, fand er die 
Zimmertür geschlossen, auf sein Verlangen öffnete seine Frau. Diese zeigte eine 
oberflächliche Schnittwunde am Halse, der Knabe lag mit durchschnittenem Halse 
auf dem Boden. — Sektion: Haut wachsbleich, nirgends Totenflecke 
sichtbar, Gehirn mit zahlreichen Blutpunkten, linke Lunge blutleer, 
rechte Lunge blutarm, ihr Gewebe fast trocken. Herz links leer, rechts wenig 
locker geronnenes schwarzrotes Blut. Leber und Milz schlaff, blutleer, Nieren fast 
blutleer. Schleimhaut des Magendarmkanals blass. 

11. Lustmord durch Halsschnitt. 8jährigesMädohen. Sektion: Links¬ 
seitige grosse Halsgelasse durchschnitten. Haut sehr blass, ganz geringfügige 
blassviolette Totenflecke rückwärts, besonders an der rechten Seite und an der 
Aussenfläche der rechtsseitigen Extremitäten. 

12. Mord durch Halsschnitt. 17 Monate altes Mädchen neben seinem 
schwer verletzten Vater tot im Bette aufgefunden. Auf dem Boden lag ein blutiges 
Rasiermesser. — Sektion: Durchtrennung aller Halsweichteile bis auf die Wirbel¬ 
säule, Mitverletzung der linksseitigen Art. vertebralis. 

13. Halsschnitt, Suizid. 24jährige Näherin wurde in einer Blutlache auf 
dem Bauche liegend über und über mit Blut beschmiert in einem Hausgange tot 
aufgefunden. Im Munde steckte das zusammengeballte Taschentuch und ein Paar 
weisse seidene Handschuhe. Ein gewöhnliches Besteckmesser lag neben der rechten 
Hand fast unter dem Körper. — Sektion: Halsschnittwunde, 6 cm weit klaffend, 
bis auf die Wirbelsäule dringend. Grosse Blutgefässe rechts und links teils durch¬ 
trennt, teils angeschnitten, Kehlkopf und Speiseröhre durchschnitten. Haut wachs¬ 
bleich mit Andeutung von rötlichvioletten Totenflecken. 

c) Hiebwunden. 

14. Raubmord, multiple Hiebwunden. 51 jährige Frau wurde von dem 
Lehrling ihres Mannes mit einem Tischlerhammer erschlagen und beraubt. — 
Sektion: Ca. 30 Wunden der Kopfhaut, zahlreiche Lochbrüche des Schädels, 
Zerreissung des Sinus longitudinalis. Haut blass, mit nur spärlichen blassrötlichen 
Totenflecken rückwärts. Lungen fast blutleer, trocken. Herz leer. Schleimhaut 
des Magendarmkanals, die Nieren, die Leber blutarm, die Milz blutleer, schlaff. 

15. Raubmord, multiple Hiebwunden. 56 jährige Frau, von ihrer Dienst¬ 
magd mit einem Mörserstössel erschlagen. — Sektion: 55 Hiebwunden am Kopfe, 
rechte Schädelbälfte mehrfach eingeschlagen. Haut weiss, spärliche Totenflecke 
an der Vorderseite (die Leiche lag auf dem Bauche). Lungengewebe trooken, blut¬ 
leer, nur io den grösseren Gefässen wenig flüssiges Blut. Herz rechts leer, links 
wenig flüssiges Blut. Leber und Nieren schlaff, blutarm. Milz blutleer. 

d) Schusswunden. 

16. Schussverletzung des Bauches (Aorta abdom.). 16jähriger 
Büchsenmacher; eine Stunde nach derVerletzung Exitus. — Sektion: DerSchuss* 


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k&nal verläuft durch den linken Leberlappen, den Magen und perforiert die Aorta 
abdominalis. In der Bauchhöhle 775 ccm flüssigen und 300 ccm geronnenen Blutes. 

17. Herzschuss. 22jähriges Dienstmädchen, von ihrem Geliebten mit 
einem Revolver erschossen. — Sektion: Der Schusskanal geht durch das Herz, 
dessen linke Kammer in hohem Grade aufgerissen ist, und durch den linken 
Unterlappen. Im linken Pleuraraum 1100 ccm geronnenen und 1000 ccm flüssigen 
Blutes, im Herzbeutel 100 ccm geronnenen Blutes. Allgemeine Blutleere der 
Körperorgane, Gehirn mässig blutreich, reichlich violette Totenflecke an derVorder- 
seite des Rumpfes und des Gesichts. 

e) Stumpfe Gewalt. 

18. Risswunde der Vulva 1 ). 31jährige Gravida, stürzte von einem Milch¬ 
flaschenkorbe, auf den sie gestiegen war, um einen Türriegel zu öffnen, auf den 
Henkel herunter. Sofort schwere Blutung aus den Genitalien. Im Spital wegen 
Annahme der vorzeitigen Lösung einer Placenta praevia Wendung. Erst während 
dieser Operation wurde der 10 cm lange Vulvariss bemerkt, Tod 5 Stunden nach 
dem Unfall. 

19. Ruptura hepatis. 46jährige Frau, von einem rasch fahrenden Wagen 
3 Uhr nachmittags niedergestossen. Nach 2 Stunden wurde das Abdomen operativ 
eröffnet und aus der Bauchhöhle 1 y a Liter geronnenen Blutes entfernt. Anfäng¬ 
lich Erholung, später Puls klein, Wiedereröffnung des Bauches, keine neue 
Blutung. 7 Uhr vormittags Exitus. — Sektion: In der Bauchhöhle nur 200 ccm 
flüssigen und 90 ccm geronnenen Blutes. 

20. Zermalmung d es rech ten Oberschenkels. 7jähriger Knabe, geriet 
mit dem Bein in eine Dreschmaschine, starb 12 Stunden nach dem Unfall. — 
Sektion: Allgemeine Anämie; Weichteilquetschung, reichlich Fettembolie. 

21. Ruptur der Aorta abdominalis, der Leber und des Zwerchfells. 
Ein Kanalräumer fiel von einem Wagen, wurde überfahren und war sofort tot. 

22. Eisenbahnverletzung. 32jähriger Geschäftsdiener wurde von einem 
Zuge erfasst und überfahren. Tod nach 3 / 4 Stunden. — Sektion: Ausgedehnte 
Hautschürfungen; Risswunden im Gesicht, an den Extremitäten; Abquetschung 
von Fingern der linken Hand. Aufreissung der linken Bauchwand mit Vorlagerung 
von Darmschlingen. Zahlreiche Frakturen. Haut wachsgelb, sehr spärliche blass¬ 
rote Totenflecke. Lungen sehr blutarm, fast trocken, massenhafte Fetteinschwemmung. 
Herz enthält wenig flüssiges Blut. Leber blutarm, blassbraun; Milz schlaff, blut¬ 
arm. Nieren blass, graurötlich. In der Bauchhöhle 150 ccm flüssigen Blutes. 
Gehirn mit ziemlich reichlichen Blutpunkten. 

23. Zertrümmerung von Leber und Milz. 2jähriger Knabe lief in einen 
Wagen hinein, auf dem Transport in das Spital Exitus. — Sektion: Haut wachs- 
bloich, zeigt nirgends Totenflecke. Leber zertrümmert, ihr Gewebe blass, 
blutleer; Milz in drei Stücke gerissen, ihr Gewebe blutleer. 

1) Stieler, Bayer, ärztl. Intelligenzblatt. 1885. Bd. XXXll.: Hoch¬ 
schwangere Frau fiel mit der rechten Schambeingegend auf ein Brett; Verblutung 
aus einer 3 cm langen Wunde der Vulva. Aebnlicher Fall bei v. Hofmann, Atlas 
der gerichtl. Medizin, Fig. 61, und bei Schäffer in. v. Winckels Handbuch. 
Bd. II, 2. S. 1402. 


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24. Leberzertrümmerung. 15j. Knabe wurde auf dem Bocke seines 
Wagens von der Deichsel eines entgegenfabrenden Wagens in den Bauch gestossen. 
Sofort bewusstlos, kurz darauf Exitus. — Sektion: ln der Bauchhöhle 1775 ccm 
flüssigen Blutos. 

25. Eisenbahnverletzung. 30j. Bahnangestellter wurde bei Entgleisung 
des Zuges von der Plattform heruntergeschleudert und wahrscheinlich von dem 
nachfolgenden ebenfalls entgleisten Wagen überfahren und getötet. — Sektion: 
Perthesscbe Druckstauungsblutungen, Fettembolie beider Lungen, Milz in drei 
Stücke zertrümmert, Zermalmung beider Unterschenkel. 

2. Verblutung von Neugeborenen ans der Nabelschnur. 

Die Verblutung von Neugeborenen aus der Nabelschnur hat seitens 
der Gerichtsärzte und der Geburtshelfer stets grosses Interesse bean¬ 
sprucht. In gerichtlichen Fällen handelt es sich um Anklagen gegen 
Hebammen. Bei der Sektion findet sich meist die Ligatur der Nabel¬ 
schlinge gelockert 1 ), die Gefässe sichtlich klaffend, durchgängig für 
Sonden. Für die Diagnose der vitalen Verblutung aus der Nabelschnur 
muss jede andere Blutungsquelle mit Sicherheit ausgeschlossen werden. 

Verblutung des Neugeborenen tritt unter normalen Umständen 
auch aus der ununterbundenen Nabelschnur nicht auf. Die Ursache 
hierfür liegt einerseits in der Entfaltung des Lungenkreislaufes und 
dem damit verbundenen Sinken des Blutdruckes in der Aorta, anderer¬ 
seits in dem anatomischen Verhalten der Nabelgefässe [Haberda 2 ), 
Bucura 3 ), Stravinsky 4 )]. Wird die Nabelschnur bei Sturzgeburt 
ausgerissen, so ist wie bei allen Gefässzerreissungen zu berücksich¬ 
tigen, dass die losgelöste Intima sich aufrollen und die Gerinnung be¬ 
günstigen kann, wodurch eine stärkere Blutung verhindert wird. Das 
Museum des Wiener gerichtsärztlichen Instituts besitzt aus dem Jahre 
1885 ein einschlägiges Präparat. 

1) Haberda, Die fötalen Kreislaafwege des Neugeborenen. Wien 1896. — 
Casper-Liman, Handbuch der gerichtl. Med. 8. Aufl. 2. Teil. S. 1026. — 
Degen, Schmidts Jahrb. Bd. 186. S. 263. — Bornträger und Berg, Viertel- 
jahrsschr. f. gerichtl. Med. 1904. Bd. 27. S. 31. — Beckert, Zeitsohr. für Me¬ 
dizinalbeamte. 1899. S. 569. — Dittrich, Prager med. Wochenschr. 1897. 
Nr. 43 u. 44. — Skrzeczka, In Maschkas Handb. der gerichtl. Med. Bd. I. 
S. 973. — Lissner, cit. nach Seydel, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1887. 
Bd. 46. S. 297. 

2) Haberda, Die fötalen Kreislaufwege etc. 

3) Bucura, Arch. für die gesamte Physiol. 1902. S. 462 und Zentralbl. 
f. Gynäkol. 1903. Nr. 12. 

4) Stravinsky, Sitzungsber. der Wiener Akademie der Wissenschaften. 
1874. Bd. 70. III. Abteil. 


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Dr. Kurt v. Sury, 


Die Mutter wurde im 7. Monat plötzlich von Wehen überrascht und erlitt 
eine Sturzgeburt. Die 37 cm lange Frucht starb an Lebensschwäche. Die Nabel¬ 
schnur war ausgerissen, beide Nabelarterien innerhalb der Bauchhöhle hinter dem 
Nabelringe gelegen, die rechtsseitige etwas fetziger durchrissen als die linke. 
Unter dem Bauchfell der Nabelgegend und entlang beider Nabelarterien bis zur 
Kuppe der Blase ein flacher Austritt frisch geronnenen Blutes 1 ). 

Der Beweis für die gegebene Anschauung basiert einmal auf den 
Erfahrungen bei Erstgebärenden, die ohne Hilfe niederkommen und 
meist die Nabelschnur nicht unterbinden. Ferner haben von Hof- 
raann 2 ) und nach ihm Weiss 8 ) experimentell geprüft, unter welchen 
Verhältnissen eine Blutung aus der Nabelschnur statthaben kann: 

1. Wenn beim Neugeborenen aus irgendwelchen Gründen die Atmung 
nicht richtig in Gang kommt, so entfaltet sich der Lungenkreislauf 
nicht und der Blutdruck im Körperkreislauf bleibt gleich hoch. 

2. Atmet das Neugeborene anfänglich, so sinkt der Blutdruck im 
grossen Kreisläufe. Erfährt aber die Atmung nachträglich eine 
Hemmung, dann wird infolge mangelhafter Sauerstoffzufuhr die Me- 
dulla gereizt, womit eine erneute Blutdrucksteigerung verbunden ist. 

Ais Ursache der primären und sekundären Atmungshera- 
mung wurden Asphyxie mit Aspiration während der Geburt und 
intermeningeale Blutungen 4 ) beobachtet. Fritsch 6 ) erwähnt einen 
Fall von Nabelblutung nach Würgen des Kindes durch die Mutter. 

Von 1901—1909 sind am Wiener Institute fünf Neugeborene 
wegen Verblutung aus der Nabelschnur seziert worden [s. Kas. Nr. 28 
bis 32 6 )j. Die Nabelschnur fand sich dreimal äbgebunden, einmal 
war sie nicht ligiert. In dem fünften Falle erfolgte die Blutung nach 
Abfall der Nabelschnur aus dem Nabeltrichter bei einem offenbar mit 
Hämophilie 7 ) behafteten Kinde. Die mikroskopische Unter- 

1) Ein weiterer Fall von ausgerissener Nabelschnur ohne Verblutung findet 
sich bei Casper-Liman, Handb. 1. c. S. 1026; conf. auch das Gutachten der 
k. wissensohaftl. Deputation. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1861. Bd. 19. 

2) v. Hofmann, Oesterr. Jahrb. f. Pädiatrie. 1887. II. S. 188. 

3) Weiss, Prager Vierteljahrsschr. 1879. Berichtet zudem über 4 Fälle. 

4) Haberda, Die fötalen Kreislaufwege etc. S. 65. — Brouardel, 
L’infanticide. p. 333. 

5) Fritsch, Gerichtsärztliche Geburtshilfe. S. 70. 

6) Fall No. 30 ist schon von Landesmann in den Mitteilungen desVereins 
der Sanitätsbeamten in Niederösterreich. 1905. Nr. 1. S. 16, ausführlich publiziert 
worden. 

7) Hämophilie auch in einem Falle von Verzin, Vierteljahrsschr. f.gerichtl. 
Med. 1855. 


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suchung der LuQgen ergab bei den vier ersterwähnten 
Kindsleichen reichliche Aspiration von Fruchtwasser und 
Mekonium. Durch Verlegung der feinen Bronchien wurde die Ent¬ 
faltung der Lungen und die Entwickelung des kleinen Kreislaufes 
notwendigerweise verhindert. Makroskopisch waren die Lungen nur 
spärlich lufthaltig, fast trocken, blutarm, nur in den grösseren Ge- 
fässen Spuren von Blut. Bei einem sechsten Kinde, das neun Stunden 
gelebt hatte, erklärte sich die kurz vor dem Tode aufgetretene Nabel¬ 
schnurblutung aus einer beginnenden Bronchopneumonie. 

Der Eintritt einer tödlichen Blutung aus der unterbundenen 
Nabelschnur steht in innigem Konnexe mit ihrem anatomischen 
Bau. Die drei Nabelschnurgefässe sind von der Warthonschen Sülze, 
die in dem netzförmig angeordneten Bindegewebe gelegen ist, um¬ 
schlossen. Bei Zutritt der Luft verdunstet das Wasser aus 
diesem gallertigen Gewebe und es verringert sich dadurch 
die Zirkumferenz der Nabelschnur. Die zu weit gewordene 
Schlinge verliert als Abschnürungsmittel jede Bedeutung. Ist die 
Nabelschnur sehr sulzig und dick, so schneidet das Unterbindungs¬ 
bändchen beim festen Zusammenziehen wohl die Sülze ein, aber eine 
direkte Druckwirkung auf die Gefässe kommt nicht zu Stande. In 
einem solchen Falle kann sich das Neugeborene bei Koinzidenz mit 
den anderen ungünstigen Bedingungen (s. o.) trotz immer wieder er¬ 
folgten Zuschnürens aus der Nabelschnur verbluten (s. Kas. No. 30). 

An 100 Nabelschnüren, die ich dem freundlichen Entgegen¬ 
kommen des Baseler Frauenspitals (Prof. v. Herff) verdanke, suchte 
ich die annähernde Zeitdauer bis zur Lockerung der Unterbindungs¬ 
bändchen zu bestimmen. Die Ligatur geschah in der üblichen Weise: 
einfache Schlinge am peripheren Ende. Umlegen der Nabelschnur 
und zweite Schlinge zentralwärts mit Schleife. Die Präparate wurden 
mit Mull bedeckt dem Vertrocknungsprozesse ausgesetzt. In den 
ersten 12—24 Stunden zeigten fast alle Schlingen eine leichte Locke¬ 
rung. Deutlich gelockert, dass die Nabelschnur durchgezogen werden 
konnte, war die erste (periphere) Schlinge in 12—24 Stunden 1 mal, 
nach 24—48 Stunden 19 mal, die zweite (zentrale) Schlinge nach 
12—24 Stunden 41 mal, nach 24—48 Stunden 43 mal. 

Schon aus diesen Versuchen ergibt sich, dass die einfache Ab¬ 
bindung bei gegebener sonstiger Disposition die Verblutung aus der 
Nabelschnur nicht verhindern kann. Diese Tatsache wird noch augen¬ 
fälliger durch die Untersuchungen der Nabelschnurstümpfe neugeborener 


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Dr. Kart v. Sury, 


Kinder an der Klinik Piskacek 1 ). Gleich nach der Unterbindung 
konnten mittelstarke Sonden bequem unter der Ligaturstelle hindurch 
in die Nabelgefässe eingeführt werden. Nur in einem Falle gelang 
der Versuch erst 2 Stunden post partum. Die einfache Unterbindung 
ist demnach für einige Ausnahmefälle ungenügend 2 ). 

Kindsmord durch Halsschnitt 3 ), Halsstich 4 ) und Zerstückelung 5 ) kommen 
nicht häufig vor. Ein hierher gehöriger Fall findet sich in unserer Kasuistik 
Nr. 41 wieder. 

Kasuistik. 

f) Verblutung von Schwangeren und Gebärenden. 

26. Geplatzte Tubargravidität. 23jährige Gravida, M. V., wurde bei 
der Arbeit plötzlich blass und verschied kurz darauf unter den Zeichen eines 
Kollapses. — Sektion: In der Bauchhöhle etwa 1100 ccm flüssigen und 800 ccm 
locker geronnenen Blutes. 

27. Retention eines Plazentarrestes. 33jährige Frau wurde nach der 
Entbindung sterbend ins Spital gebracht; daselbst Entfernung eines faustgrossen 
Plazentarstückes, Exitus 1 Stunde nach Eintritt. 

g) Verblutung aus der Nabelschnur. 6 ) 

28. Ein 6 Stunden altes Mädchen soll sich trotz Unterbindung der Nabel¬ 
schnur aus derselben verblutet haben. — Sektion: Haut sehr blass, fast ohne 
Totenflecken rückwärts. Nabelschnurrest 6 cm lang, zeigt eine etwas vertrocknete, 
scharfrandigc, quere Durchtrennungsfläche. Sie ist ca. 1 cm dick, auf der einen 
Seite oberflächlich vertrocknet, sonst sulzig. Sie zeigt zwei Unterbindungen, die 
eine ist 2,5 cm, die andere 4,5 cm vom Nabel entfernt. Die Unterbindungsbändchen 
sind stark mit Blut durchtränkt und dadurch gesteift; sie liegen ganz locker der 
Nabelschnur an, sodass bequem eine 2 mm dicke Sonde zwischen Band und Nabel¬ 
schnur durchgeführt werden kann. Die Knüpfung des inneren Bandes ist eine 
Schleife, dio des äusseren eine Doppelschleife. Nabelvene ziemlich weit, enthält 


1) Die Untersuchungsresultate sind angeführt bei Landesmann, 1. c. 

2) Marcus, Deutsche med. Wochenschr. 1909. S. 803, empfiehlt eine sehr 
zweckmässige einfache Nabelklemme, die sich der schrumpfenden Nabelschnur zu 
adaptieren vermag. 

3) v. Teubern, Vierteljahrssohr. f. gerichtl. Medizin. 1870. Bd. 12. S. 98; 
Freyer, ibid. 1886. Bd. 44. S. 278. 

4) Maschka, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medizin. N. F. Bd. 15. 

5) Haberda, in Dittrichs Handbuch, Bd. II, Behördliche Obduktionen, 
S. 661; Toulmouche, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1854. S. 305; Ebertz, 
ibid. 1878. Bd. 28; Differentialdiagnose zwischen intravitaler und post¬ 
mortaler Zerstückelung siehe vorn; ausserdem conf. Stumpf in Winckcls Hand¬ 
buch, 1. c. 

6) Ausser der oben angeführten Literatur ist noch zu erwähnen: Schauen¬ 
burg, Virchow-Hirschs Jahresber. 1878. 


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etwas flüssiges Blut. Eine in sie eingeführte Sonde lasst sich leicht über beide 
Unterbindungsstellen hinausführen. Die Arterien sind zusammengezogen, die in 
ihre haarfeinen Lichtungeu eingeführten Sonden passieren leicht die Ligaturstellen. 
Die Körperorgane zeigen ausgesprochene Anämie. 

Ursache der Blutung: Reichliche Fruchtwasseraspiration (mikroskopisch 
nachgewiesen), mangelhafte Ausbildung des Lungenkreislaufes. 

29. Frühgeburt, blutete schon in den ersten Tagen nach der Geburt aus 
dem Nabel, am neunten Tage nach erneuter starker Blutung Exitus. — Sektion: 
Haut wachsbleich, Totenflecke kaum angedeutet. Nabelschnur schon abgefallen, 
Nabel trichterförmig eingezogen; im Grunde des Trichters sieht man den Gefäss- 
stumpf. 

Ursache der Blutung: Vielleicht mangelhafte Gerinnungsfähigkeit des 
Blutes bei dem frühgeborenen Rinde (Hämophilie). 

30. 2 1 / 2 Stunden altes Kind. Die Hebamme zog 1 / 2 Stunde nach der Unter¬ 
bindung das Bändchen fester an. Nach Ablauf einer weiteren Stunde bemerkte 
sie eine ziemlich bedeutende Blutung aus der Nabelschnur, worauf sie die Schleife 
noch fester zusammenzog. Der sofort gerufene Arzt fand das Kind schon tot. — 
Sektion: Haut waohsbleich, sehr spärliche, blassrote Totenflecke rückwärts. 
Nabelschnur cm lang, 1 cm dick, oberflächlich leicht vertrocknet. An ihrem 
Ende ein doppelt umgelegtes fest zusammengeschnürtes, in einer Schleife ge¬ 
knüpftes Unterbindungsbändchen. Eine in die Nabelvene eingeführte Sonde 
passiert leicht die Unterbindungsstelle. 

Ursache der Blutung: Reichliche Aspiration von Schleim und Frucht¬ 
wasser (mikroskopisch nachgewiesen), mangelhafte Entwicklung des Lungen¬ 
kreislaufes. 

31. 2 Tage nach der Geburt bemerkte die Hebamme eine starke Nabelblutung, 
frisch aufgelegte Watte war in einer Viertelstunde durcbtränkt. Trotz Verband und 
Umstechung Exitus. — Sektion: Haut wachsbleich, fast ohne Totenflecke rück¬ 
wärts. Nabelschnurrest 8 cm lang, doppelt unterbunden; das zentrale Bändohen 
sehr fest, das distale gelockert. Trotz der Umstechung passiert eine haarfeine 
Metallsonde ungehindert die Nabelarterien. 

Ursache der Blutung: Massenhafte Aspiration von Fruchtwasser und 
Mekonium (mikroskopisch nachgewiesen), mangelhafte Entwicklung des Lungen¬ 
kreislaufes. 

32. Fraglicher Kindsmord. Mutter Suicidversuch duroh Bauchschnitt 1 ). 
Kind in einem mit Schmutzflüssigkeit gefüllten Kübel tot aufgefunden. Die 
Flüssigkeit reichte bis zur Nase des Kindes. — Sektion: Haut wachsbleich mit 
kaum angedeuteten Totenflecken. Ihr peripheres Ende glatt durchtrennt. Anaemia 
gravis. Lungen nur teilweise mit Luft gefüllt, reichlicho Aspiration von Schmutz¬ 
partikeln (mikroskopisch nacbgewiesen). In Mundhöhle, Kehlkopf, Luftröhre und 
Bronchien flüssiges und locker geronnenes dunkles Blut. Magen gasgebläht, ent¬ 
hält ca. 1 Esslöffel wässrig blutiger Flüssigkeit und ein Blutgerinnsel in der Form 
des Magenausgusses, aber nur etwa in ein Viertel Grösse. Darm luftleer. 

1) v. Sury, K., Korrespondenzbl. f. Schweizerärzte. 1910. Nr. 4, ausführ¬ 
liche Publikation dieses Falles. 


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Ursache der Blutung: Aspiration von Schmutzwasser, mangelhafte Ent¬ 
wicklung des Lungenkreislaufes; Blutung aus der Nabelschnur, Aspiration und 
Verschlucken von Blut. 

33. Teile eines zerstückelten Neugeborenen wurden auf der Strasse 
gefunden: Bauchteil des Rumpfes, der rechte Arm, das linke Bein, der rechte Unter¬ 
schenkel mit dem Fuss. Am Bauohe sitzt ein 38 cm langer Nabelschnurrest 
Nabelschlagadern zusammengezogen, leer; Nabelvene schlaff, weit, leer. Ge¬ 
schlechtsteile abgetrennt. Von der Leber nur ein kleiner, schlaffer Rest vorhanden, 
derselbe ist schmutzig grau und zunderartig weich, an seiner Oberfläche noch 
Fetzen der Leberkapsel. Milz fehlt bis auf einen kleinen Teil. Rechte und linko 
Niere in einen schmutzig roten Brei verwandelt. Magen nicht schwimmfäbig. 
Pankreas schmutzig rot, fast zerfliessend. Lungen, Herz, obere Rumpfhälfte, 
Kopf linker Arm und rechter Oberschenkel fehlen. 

Wegen der vorgeschrittenen Fäulnis konnte die Diagnose auf Verblutung 
bezw. vitale Zerstückelung nicht gestellt werden. 

Zum Schlüsse sei noch kurz auf den Verblutungstod infolge ge¬ 
platzter Aneurysmen und Varizen 1 ), sowie auf die tödlichen 
Operationsnachblutungen hingewiesen. Drei Mal rupturierten 
Varices cruris, im vierten Falle ein Oesophagusvarix bei bestehender 
Cirrhosis hepatis, der stark ausgedehnte Magen war angefüllt mit 
locker geronnenem Blute. Ulzeröse Prozesse können die benach¬ 
barten Blutgefässe arrodieren; in unserem Falle von Ulcus ventriculi 
betrug die Menge des in den Magen ergossenen Blutes l / 2 Liter. Einer 
Patientin des Basler Frauenspitals wurde ein rechtsseitiges Pyovarium 
vaginal eröffnet und drainiert; nach einiger Zeit plötzlich heftige un¬ 
stillbare Blutung aus der angefressenen Art. hypogastrica int. 2 ). 

Kasuistik. 

34. Berstung eines Aneurysmas der Art. lienalis unter den Ge¬ 
burtswehen. Auf dem Transport in die Gebärklinik verschieden. — Sektion: 
In der Bauchhöhle 3000 ccm grösstenteils flüssigen Blutes. 

35. Perforation eines Aneurysmas der Bauchaorta in das Duode¬ 
num 3 ). Ein 50j. Mann wurde tot ins Spital verbracht. — Sektion: Im Magen 
über 1 Liter flüssigen und locker geronnenen Blutes. Im Jejunum vom Duodenum 
an ein 150 cm langer wurstförmiger, im oberen Teil 3 cm dicker, nach unten sich 
etwas verjüngender Ausguss starr geronnenen Blutes; an der Oberfläohe seines 


1) Ebensolche Beobachtungen von Leonpacher, Friedreichs Blätter f. 
gerichtl. Med. 1897. Nr. 6; Lesser, Vierteljahrschr. f. gerichtl. Med. 1888. 
S. 58; Reiohsgerichtsentscheidung, ibidem 1889. Bd. 51. S. 157. 

2) Conf. auch Vogelsanger, Beitr. zur Geburtsh. und Gynäk. 1908. 
Bd. XII. Lit! 

3) Wird von Kolisko ausführlich mitgeteilt in Dittrichs Handbuch. Bd. II. 


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dickeren Anteiles die Abgüsse der Querfalten ausgebildot. Im unteren Jejunum 
flüssiges Blut. 

36. Operationsnachblutung, Nephrotomie. 34 j. Frau, Operation 
morgens 8y 2 Uhr, gegen 11 Uhr 30 Min. blutige Durchtränkung des Verbandes, 
Kollaps, gegen 1 Uhr mittags Exitus. — Sektion: Tödliche Nachblutung aus 
einem durchschnittenen, nicht unterbundenen Gefässe. Kein Kunstfehler, Ein¬ 
stellung des Verfahrens. 

37. Uterusexstirpation wegen Myom. Nachblutung. 54 j. Frau, 
Uterus mit Myom 9 Kilo schwer. 3 Stunden post operat. plötzliche Blässe, Atmung 
oberflächlich, Extremitäten kühl, periphere Teile zyanotisch. Trotz Kochsalz 
iy 2 Stunden später Exitus. — Sektion: In der Bauchhöhle 1250 ccm flüssigen 
und 1070 ccm geronnenen Blutes. 

38. Exzisions versuch eines kavernösen Angioms der linken 
Wange bei einem 11 j. Mädchen. Unstillbare Blutung, 4 Stunden nach Beginn 
der Operation Exitus. Kein Kunstfebler, Einstellung des Verfahrens. 

Aus der vorliegenden Arbeit ergeben sich die folgenden Schluss¬ 
folgerungen: 

I. Das klinische Bild der Verblutung ist abhängig von 

der Schnelligkeit des Blutausflusses. 

1. Bei protrahierter Verblutung ist der Symptomen- 
komplex durch den Lufthunger des Organismus be¬ 
herrscht. Der Tod tritt infolge Sauerstoffmangels 
durch innere Erstickung ein. Die Aktionsfähigkeit 
des Betroffenen dauert nach Eintritt des schädi¬ 
genden Ereignisses an. 

2. Bei foudroyanter Verblutung, z. B. Ruptur der Aorta, 
kann — aber muss nicht — die momentane Er¬ 
niedrigung des Blutdrucks den primären Herztod 
herbeiführen. Die Aktionsfähigkeit wird entsprechend 
schnell aufgehoben. 

II. 1. Die anatomische Diagnose des Verblutungstodes er¬ 
gibt sich aus der ausgesprochenen Blutarmut des 
ganzen Körpers, besonders wichtig sind die in der 
Regel sehr blassen, weissgelblich gefärbten Nieren. 
Gegenteilig zeigen die Lungen, das Gehirn und seine 
Häute wechselnden Blutgehalt. 

2. Die Totenflecke fehlen nur ausnahmsweise, sie sind 
an den druckfreien Körperpartien zu suchen. 

3. Die Verteilung und die Menge des im Körper Testie¬ 
renden Blutes stehen im umgekehrten Verhältnis 
zur Schnelligkeit des Blutausflusses. 

Vierteljahrsßchrift f. ger. Med. u. Öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 1. ^ 


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III. 1. Bei postmortalen Verletzungen oder Zerstückelung 

kann ein der vitalen Verblutung ähnlich charakte¬ 
ristischer Leichenbefund nicht erhoben werden. 

2. Bei Fäulnis der Leichen oder bei Auslaugung von 
Leichenteilen in Wasser darf die Diagnose auf vitale 
Verblutung nicht gestellt werden. 

IV. 1. Die subendokardialen Ekchymosen treten beim Ver¬ 

blutungstode nach unseren Befunden am Menschen¬ 
herzen in über 60 pCt., am kontrahierten Tierherzen 
in 94 pCt. der Fälle auf. 

2. Nach unseren Erfahrungen finden sie sich nie am 
schlaffen, dem frischen Kadaver entnommenen Herzen. 
Sie sind deshalb weder vitalen noch agonalen Ur¬ 
sprungs. Unsere direkten Beobachtungen am Tiere 
haben ergeben, dass die Herzkontraktionen im 
Laufe der Verblutung allmählich abflachen, die 
Ekchymosen können daher nicht durch krampfhafte 
Kontraktionen des leer pumpenden Ventrikels her¬ 
vorgerufen werden. 

3. Die Ekchymosen entstehen durch Kapillarruptur in¬ 
folge der anhaltenden Pression des totenstarren 
Herzmuskels auf den Kapillarinhalt und infolge der 
Saugwirkung des unter erniedrigter Spannung sich 
befindlichen Ventrikelraumes. Die subendokardialen 
Ekchymosen sind demnach im Gegensatz zu der 
bisher geltenden Anschauung als einfache Leichen¬ 
erscheinungen aufzufassen. Für ihre Ausbildung 
ist weder eine gewisse Schnelligkeit noch Voll¬ 
ständigkeit der Verblutung Erfordernis. 

4. Ihr Sitz ist stets der kontrahierte Ventrikel; es 
können gegebenenfalles auch beide Kammern Ekchy¬ 
mosen aufweisen. 

5. Beim Menschen finden wir die Ekchvmosen bei Ver- 

•j 

blutung nach aussen und nach innen. 

6. Subendokardiale Ekchymosen werden auch im 
Herzen von Leuten angetroffen, die an den ver¬ 
schiedensten Kränkheiten oder gewaltsamen Todes¬ 
arten verstorben sind. Die Verwertung der Ekchy- 


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Beitrag zur gerichtsärztlichen Bedeutung des Verblutungstodes. 


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mosen für die Diagnose der Verblutung ist daher 
nur eine sehr bedingte. 

V. Verblutung aus der Nabelschnur ist sehr selten. Wird 
primär oder sekundär die Lungenatmung gehemmt, so 
kann sich das Neugeborene auch aus der unterbundenen 
Nabelschnur verbluten. Wie die diesbezüglichen Unter¬ 
suchungen lehren, bleiben die kindlichen Nabelgefässe 
trotz Unterbindung sondierbar. Zudem ist die Sülze 
nach den ersten 12 Stunden so geschrumpft, dass die 
Unterbindungsschlingen sich etwas gelockert haben. 

Basel, im Dezember 1909. 


Bemerkungen zu der vorstehenden Arbeit des Dr. v. Sury. 

Von 

Gerichtsarzt Dr. Marx. 

Nachdem ich auf Grund der von mir im Jahre 1904 durch¬ 
gesehenen Obduktionsprotokolle zu dem Schluss hatte kommen 
müssen, dass sich die subendokardialen Ekchymosen nur bei der Ver¬ 
blutung nach aussen vorfinden, und dass sie bei innerer Verblutung 
fehlen, habe ich seither selbst in mehreren von mir obduzierten Fällen 
innerer Verblutung diese Ekchymosen angetroffen, so dass ich meine 
damals ausgesprochene Ansicht in dem v. Suryschen Sinne revidiert 
und korrigiert habe. Ich habe aber bei den Fällen, in denen die 
Ekchymosen bei innerer Verblutung vorkamen, immer gefunden, dass 
die Verblutung eine ebenso ergiebige wie schleunige sein muss, um 
die Ekchymosen zum Erscheinen zu bringen. Erstreckte sich die 
innere Verblutung über einen längeren Zeitraum, so habe ich die 
Ekchymosen stets vermisst. Besonders schön ausgeprägt fand ich die 
Blutaustritte unter dem Endokard in einem Falle geplatzter Tubar- 
gravidität, wo in kurzer Frist grosse Mengen Blutes sich in die Bauch¬ 
höhle ergossen hatten. In einer Reihe von Fällen innerer Verblutung 
mit subendokardialen Ekchymosen muss man sich übrigens die Frage 
vorlegen, ob die Ekchymosen nicht als blosse Kontusionsblutungen 
aufzufassen sind. Einen derartigen Fall obduzierte ich noch vor einigen 
Tagen: Ein radfahrender Knabe wird von einem Automobil überfahren; 
Leber- und Milzruptur; Suffusionen an beiden Lungenwurzeln und 
unter dem Perikard; charakteristische Ekchymosen unter dem Endo¬ 
kard des linken Ventrikels. Tod durch Verblutung in die Bauchhöhle. 


4* 


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4. 


Ein Beitrag zur Kasuistik der Herzverletzungen. 

Von 

Dr. Thomas, Kreisassistenzarzt in Marienwerder. 

(Mit 1 Textfigur.) 


Am 22. April d. J. hatte der 20jährige Hausdiener K. gemeinsam mit einem 
Genossen einen leichten, zum Bierausfahren dienenden Rollwagen von 78 cm Höhe, 
dessen Boden an seiner hinteren Querseite ein 32 cm hohes Schutzgitter besass, 
in eine Remise zu schieben. Die Eisenstange, welche das Schutzgitter bildete, 
war 11/ 2 cm dick. K. selbst zog den Wagen an dem Schutzgitter, während er 
selbst dabei rückwärts lief. Sein Genosse hatte die Deichsel erfasst und half 
schieben. 

Der Wagen befand sich zunächst auf einer Gasse, welche auf eine zweite, 
zu jener rechtwinklig verlaufenden mündete. Das Remisentor, das der Wagen 
passieren sollte, lag auf der zweiten Gasse in dem Eckhaus rechts von der Fahrt¬ 
richtung, und zwar gegen das Strassenniveau leicht erhöht. 

Um nun die Ecke und den Aufstieg zum Remisentor leicht passieren zu 
können, gaben beide jungen Leute dem Wagen einen erhöhten Schwung. Der 
Wagen verfehlte aber den Toreingang und stiess gegen die Mauerkante links von 
diesem. K. selbst kam auf dem abschüssigen Pflaster zu Fall und wurdo zwischen 
Wagenboden und Schutzgitter einerseits und Mauerkante andererseits geklemmt. 

Nach Angabe seines Genossen rutschte er beim Straucheln tiefer unter den 
Wagen, während er sich an dem Schutzgitter zu halten suchte. Der Wagenboden 
traf ihn in Höhe der Brust. 

Er wurde sofort bewusstlos und starb etwa 20 Minuten nach dem Unfall. 
Der herbeigerufene Arzt traf ihn noch lebend und nahm eine innere Verblutung an. 

Die Obduktion ergab folgenden, wesentlichen Befund: K. war kräftig 
gebaut, gut genährt. Seine inneren Organe zeigten, abgesehen von den Folgen 
der Verletzung, keinerlei krankhafte Veränderungen. 

Die äusseren Bedeckungen zeigten auch im Bereich des Brustkorbes nirgends 
Abschürfungen odor Druckstellen. Brustbein und Rippen waren unverletzt. 

Nach Eröffnung der Brusthöhle zeigt sich der Herzbeutel stark ausgedehnt, 
dunkelblau durchscheinend. Er enthält 500 ccm teils flüssiges, teils geronnenes 
Blut. Nach Entfernung desselben zeigt sich das rechte Herzohr durch einen spitz¬ 
winkligen Riss, dessen Spitze mit der Spitze des Herzohres zusammenfällt, von 


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Ein Beitrag zur Kasuistik der Herzverletzungen. 


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seiner Unterlage, der rechten Kammer, abgehoben. Der rechte Schenkel des Winkels 
ist 3 cm lang und verläuft entsprechend der Grenze zwischen Vorhof und Kammer 
unmittelbar an der Arteria pulmonalis nach hinten. Der linke Schenkel verläuft 
zunächst gleichfalls der Grenze zwischen Vorhofs- und Kammermuskulatur ent¬ 
sprechend, 1 cm weit dem Sulcus coronarius folgend, nach hinten. Von hier setzt 
sich der Riss stumpfwinklig l 1 /«, cm lang nach oben auf der Grenze zwischen 
Vorhof und Herzrohr weiter fort. 



Ein zweiter 3 mm langer Riss verläuft an der Peripherie des oberen, vorderen 
Umfanges der Fossa ovalis von vorn unten nach hinten oben. An der dem linken 
Vorhof zugekehrten Fläche des Septum atriorum setzt er sich in gleicher Richtung 
2 cm weit nach hinten oben fort, indem er bis zu 2 mm klaffend teils nur das 
Endokard, teils auch mehr weniger die Muskulatur durchsetzt. Völlig durchtrennt 
ist das Septum jedoch nur in dem untersten, 3 mm langen, häutigen, der Fossa 
ovalis angehörigen Teil des Risses. Endlich findet sich noch ein 1 1 / 2 cm langer, 
schräg von unten nach oben verlaufender Endokardriss an der hinteren Wand, 
der Einmündung der Cava inferior. 

Das Epikard zeigt auf der Hinterfläche beider Vorhöfe an der Einmündungs¬ 
stelle der Cava inferior und der rechten Lungenvene je eine etwa bohnengrosse 
Sugillation. Eine dritte Sugillation von Erbsengrösse findet sich unter dem Epikard 


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Dr. Thomas, 


der rechten Kammer unmittelbar unter der Knickungsstelle des linken Riss¬ 
schenkels am Herzohr. 

Weitere Veränderungen zeigt das Herz nioht. Die Muskulatur ist derb, 
braunrot. Das Epikard an der Vorderfläche ist mässig mit Fett bewachsen. 

Die Innenhaut des Herzens und der Gefässe ist überall zart. 

Von dem sonstigen Leichenbefunde sind nur noch ziemlich ausgedehnte 
Ekchymosen des Lungenbrustfells zu erwähnen. 

Die Diagnose lautete demgemäss auf traumatische Herzruptur. 

Der Tod wurde herbeigeführt durch Herztamponade, wofür insbesondere die 
Pleuraekohymosen sprechen. 

Wenn ich bei der reichen Kasuistik, welche bereits über Herz¬ 
wunden und insbesondere auch über traumatische Herzrupturen be¬ 
steht, den eben beschriebenen Fall trotzdem der Veröffentlichung für 
wert halte, so tue ich es, weil einerseits die geschilderte Verletzung 
zu den selteneren zu gehören scheint — ich habe wenigstens in der 
mir zugänglichen Literatur eine gleiche oder ähnliche nicht auffinden 
können —, anderseits bei der Reinheit derselben, insbesondere dem 
Fehlen ausgedehnter Nebenverletzungen, die so oft lediglich eine sehr 
grobe, in ihrer Angriffsweise nicht näher bestimmbare Gewalt an- 
zeigen, ausnahmsweise klare Schlüsse auf den sie herbeiführenden 
Mechanismus möglich sind. Schliesslich bietet der Fall auch Gelegen¬ 
heit zur Erörterung einiger klinisch und gerichtsärztlich interessanter 
Gesichtspunkte, deren Erwähnung um so mehr gerechtfertigt erscheint, 
als die Ansichten darüber noch durchaus nicht völlig geklärt sind. 

Herzwunden und auch die uns hier allein interessierenden, trau¬ 
matischen Rupturen sind, wie schon angedeutet, nichts Ungewöhnliches, 
Bereits Fischer 1 ) stellte 65 zusammen, welche Elten 2 3 * ) auf 87 er¬ 
weiterte. Nach Geil 8 ) finden sich unter dem Obduktionsmaterial 
des Wiener gerichtsärztlichen Instituts, während der Jahre 1878 bis 
1897, 90 Fälle traumatischer Herzruptur. 

Ihre Zahl würde allerdings eine gewisse Einschränkung erfahren, 
wenn man alle lediglich durch frakturierte Rippen hervorgerufenen 
Verletzungen ausscheiden würde. 


1) Fischer, Die Wunden des Herzens. Archiv f. Chirurgie. 1868. S. 614. 

2) Elten, Ueber die Wunden des Herzens. Vierteljahrsschr.f.gerichtl.Med. 
1893. 3. Folge. Bd. V. S. 23. 

3) Geil, Die Ruptur innerer Organe durch stumpfe Gewalteinwirkung 

(Schluss). Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 1900. 3. Folge. Bd. XIX. S. 46. 


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Ein Beitrag zur Kasuistik der Herzverletzungen. 


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Nach einer Zusammenstellung von Fischer und Schuster 1 ), 
die sich auf 121 Fälle erstreckt, war in 16,5 pCt die Ursache der 
Ruptur hierauf zurückzuführen. 

Rose 2 ) teilt aus seiner Praxis 8 Rupturen nach stumpfer Gewalt¬ 
einwirkung mit, welche sämtlich durch die Bruch enden von Rippen 
hervorgerufen waren. 

Unter den traumatischen Rupturen sind im Gegensatz zu den 
nichttraumatischen, d. h. spontan nach krankhaften Vorgängen in den 
Wandungen entstandenen, die Rupturen des rechten Herzens häufiger 
als die des linken, während der Gegensatz zwischen Kammern und 
Vorkammern weniger deutlich hervortritt, wenn auch die Vorkammern 
etwas stärker beteiligt zu sein scheinen als die Kammern. 

Bei den Rupturen des Vorhofes sind wiederum die Herzohren in 
einem erheblichem Prozentsatz der Fälle beteiligt, so bei Fischer 3 ) 
unter 12 des rechten und 7 des linken Vorhofes 10mal bzw. 6 mal, 
während Geil 4 ) unter 26 Rupturen des rechten und 23 des linken 
Vorhofes 8 bzw. 7 Verletzungen der dazugehörigen Herzohren fand. 

Die relative Häufigkeit der Verletzungen des rechten Herzens, 
insbesondere des rechten Vorhofes ist eine selbstverständliche Folge 
seiner exponierten, der vorderen Brustwand benachbarten Lage. 

Wird der Vorhof durch eine sehr heftige Gewalt zwischen Brust¬ 
bein und Wirbelsäule eingepresst, so kann es zu einer direkten Zer¬ 
malmung seiner Wandungen kommen, ein Vorgang, den schon Fischer 
zur Erklärung zahlreicher Herzrupturen heranzieht, der aber sicher 
sehr selten ist. 

In der Regel ist der Mechanismus der, dass der mehr oder 
weniger mit Blut gefüllte Vorhof zur Zeit der Kammersystole zwischen 
Brustwand und Wirbelsäule eingepresst wird. Dadurch kommt es in 
seinem Innern zu einer erheblichen Spannung, welche schliesslich ein 
Platzen der Wandung hervorruft. Der Sitz des Risses ist abhängig 
von der Richtung der Gew’alteinwirkung. Ist diese derart, dass das 
ausweichende Blut dem Herzohr zugetrieben wird, so wird sich der 


1) Zitiert nach Revenstorf, Ueber traumatische Rupturen des Herzens mit 
besonderer Berücksichtigung des Mechanismus ihrer Entstehung. Mittoil. a. d. 
Grenzgebieten d. Med. u. Chirurgie. 1903. Bd. XI. S. 609. 

2) E. Rose, Herztamponade. Leipzig 1884. 

3) 1. c. S. 883-886. 

4) 1. c. S. 47-48. 


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Dr. Thomas, 

Riss in diesem befinden und zwar nach Revenstorf 1 ) stets an oder 
in der Nähe der Spitze. 

Jedenfalls ist. die Abreissung der Muskulatur des Herzohres von 
seiner Anheftungsstelle an der sogenannten Fibrocartilaginea, welche 
Vorhofs- und Kammermuskulatur trennt, auf diese Weise ganz un¬ 
möglich. 

Die Muskulatur des Herzohres und der rechten Kammer stossen 
in einer auf der Grenzebene zwischen Kammer und Vorhof liegenden, 
spitzwinkligen, der Herzhöhle zugekehrten Kante zusammen, welche 
allerdings durch das vordere Segel der Trikuspidalis verdeckt wird. 
Eine Blutwelle, welche dem Herzohr zugetrieben wird, gleitet auf der 
unteren Wand des Herzohres wie auf einer schiefen Ebene zur Spitze 
empor, um erst hier einen Widerstand zu finden. An der Basis fehlt 
ihr jeder Angriffspunkt. 

Die von uns beschriebene Verletzung kann vielmehr nur durch 
indirekte Wirkung einer fern von der Rupturstelle angreifenden Ge¬ 
walt erklärt werden. 

Diese wird in unserem Falle gebildet durch den Boden des 
Wagens, welcher den linken Umfang des Thorax von rechts her 
derart eingedrückt hat, dass die hinter ihm liegende Kammer nach 
links, unten und hinten gepresst wurde. Die Folge war eine starke 
Anspannung der vorderen Wandung des rechten Vorhofes zwischen 
Ventrikel und den in jenen einmündenden grossen Venenstämmen, 
welche ihn hinderten, dem Zuge zu folgen. 

Der vordere, dem Brustkörbe anliegende und dem vorderen, 
rechten Herzrande benachbarte Anteil der Kammerwandung sowie die 
Vorhofswandung in dem oben erwähnten Bezirk bildeten in diesem 
Augenblick eine bei aufrechter Stellung der Person nach rechts unten 
und vorn konvexe Linie, deren Endpunkte die Einmündungsstelle der 
grossen Venen in den Vorhof und die Herzspitze bildeten. Der pro¬ 
minenteste und demgemäss gespannteste Punkt lag zwischen Vorhof 
und Kammer, entsprechend der Basis des Herzohres. 

Für die Richtigkeit dieser Anschauung spricht auch jene kleine 
Sugillation unmittelbar unter dem Knickungswinkel des linken Riss¬ 
schenkels. 

Hier lag also der gegebene Ort für die Kontinuitätstrennung. 

Als unterstützende Momente dienten einmal die Schwäche der 


1) 1. c. S. 613. 


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Ein Beitrag zur Kasuistik der Herzverletzungen. 


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Wandung des Herzohres an dieser Stelle. Von weiterem, erheblichem 
Einfluss auf den Eintritt der Zerreissung war der Füllungszustand des 
Vorhofes. Je stärker dieser gefüllt war, je grösser also bereits die 
Spannung in ihm war, um so eher musste die Ruptur erfolgen. 

Endlich hat wahrscheinlich die Eisenstange, welche das Schutz¬ 
gitter an der hinteren Breitseite des Wagens bildete, die Einmündungs¬ 
stelle der grossen Venenstämme und den obersten Teil des Vorhofes 
zwischen Brustbein und Wirbelsäule noch besonders fixiert, wofür die 
Sugillationen an der Hinterfläche der Vorhöfe sprechen. Es würde 
hierdurch natürlich gleichfalls das Zustandekommen der Ruptur ge¬ 
fördert worden sein. 

Die beiden Risse an der Hinterwand des rechten Vorhofs sowie 
im Septum atriorum sind als Platzrupturen infolge zu hohen Innen¬ 
drucks zu erklären. Das Septum barst in seinem schwächsten häutigen 
Teil nach dem unter niedrigerem Druck stehenden linken Vorhof zu. 
Der Riss zeigt sehr schön das Klaffen der Ränder an der der Gewalt¬ 
einwirkung entgegengesetzten Seite entsprechend den bekannten Wir¬ 
kungen an der Tabula interna und externa bei Schädelfrakturen. 

Den bei den Septumrissen obwaltenden Mechanismus hat bereits 
Gross 1 ) bei Gelegenheit eines von ihm beobachteten Falles von Ruptur 
des Ventrikelseptums nach der rechten Kammer hin erschöpfend be¬ 
handelt. 

Mit der Mechanik der von mir beobachteten Verletzung hat sich 
Revenstorf 2 ) bereits eingehend durch Versuche an der Leiche und 
am Tier beschäftigt, wenn ihm auch eine entsprechende Verletzung 
am lebenden Menschen offenbar nicht bekannt war. 

Er sah bei Verlagerung des Herzens nach links eine Anspannung 
des um den unteren Rand des rechten Herzohres verlaufenden Teiles 
der rechten Vorhofswand. Bei Verlagerung des Herzens nach rechts 
spannte sich die entsprechende Stelle am linken Herzohr. Wurde der 
Zug weiter ausgedehnt, so kam es an den bezeichneten Stellen zur 
Ruptur. 

Am ertränkten und unmittelbar darauf geöffneten Meerschweinchen 
konnte er, während die Lungenwurzel fixiert wurde, an dem noch leb¬ 
haft pulsierenden Herzen durch einfachen Zug nach links eine typische 
Zerreissungsruptur an der Basis des rechten Herzohres erzeugen. 

1) Gross, Die traumatische Ruptur des Septum cordis. Mitteil, aus den 
Grenzgebieten der Med. u. Chirurgie. Bd. 8. 1901. S. 377. 

2) 1. c. S. 616. 


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Dr. Thomas, 


Zu den obigen Ausführungen geben diese Versuche eine wertvolle 
Bestätigung, wenn man auch die Versuchsergebnisse an der Leiche — 
und das Gleiche gilt wohl auch von dem Tierversuch — nicht ohne 
weiteres auf die Verhältnisse des blutgefüllten Herzens beim lebenden 
Menschen anwenden darf. 

Für das Zustandekommen der Verletzung halte ich auch neben 
der Verlagerung des Herzens nach links für mindestens ebenso wichtig 
die Verdrängung nach hinten, welche übrigens unter natürlichen Ver¬ 
hältnissen mit der seitlichen Verschiebung stets Hand in Hand geht, 
da eine den vorderen Umfang des Thorax treffende Gewalt diesen 
nie allein seitlich, sondern stets auch von vorn nach hinten kom¬ 
primiert. 

Ob die Verletzung aueh bei völlig leerem Vorhof möglich ist 
oder ob sie an einen gewissen Füllungszustand desselben gebunden 
ist, lässt sich kaum entscheiden. Dass die Verlagerung des Herzens 
um so ausgedehnter, die Gewaltseinwirkung also um so kräftiger sein 
muss, je leerer der Vorhof ist, habe ich schon hervorgehoben. 

Einer Erörterung bedarf nun noch in unserm Falle die Dauer 
des Ueberlebens nach dem Eintritt der Verletzung. 

Während Richter 1 ) den Standpunkt vertritt, dass der Tod nach 
Herzrupturen mit Blutung in den intakten Herzbeutel „rasch eintritt, 
und von einer Handlungsfähigkeit der Individuen nach Eintritt der 
Verletzung keine Rede ist“, machen die Tierversuche von Placzek 2 3 * ) 
„das längere Ueberleben und die Möglichkeit zur Vornahme von Hand¬ 
lungen nach Eintritt der Ruptur verständlich“. 

In unserm Falle trat nun nach der Verletzung Bewusstlosigkeit 
sofort, Herzstillstand und Tod jedoch erst nach 20 Minuten ein. 

In einem von Pfeiffer 8 ) veröffentlichten Falle, wo sich neben 
weniger wichtigen Verletzungen der rechten Kammer an der Hinter¬ 
seite des rechten Vorhofes eine elliptische Zerreissung von 2 zu 3 cm 
Durchmesser fand, trat gleichfalls sofort Bewusstlosigkeit, der Tod 
aber erst nach 30 Minuten ein. Der Herzbeutel enthielt hier nur 
100 ccm Blut. 


1) Richter, Max, Zur Kenntnis der Herzbeuteltamponade. Vierteljahrs¬ 
schrift f. ger. Med. XXIV. 1902. S. 111. 

2) Placzek, Experimentelle Herzverletzung und Hämatoperikard. Viertel¬ 
jahrsschrift f. ger. Med. XXIII. 1902. S. 252. 

3) Pfeiffer, Hermann, Weitere Beiträge zur Kenntnis der Herzbeutel¬ 

tamponade. Vierteljahrsschrift f. ger. Med. XXXI. 1906. S. 57. Fall II. 


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Ein Beitrag zur Kasuistik der Herzverletzungen. 


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Beide Fälle zeigen also, dass selbst bei ausgedehnten Rupturen 
zwischen Verletzung und Tod eine längere Spanne Zeit vergehen kann. 

Zu der sofortigen Bewusstseinsstörung bot die Herzwunde in 
beiden Fällen keine Veranlassung. Sie ist lediglich auf Shockeinwirkung 
infolge des Traumas zurückzuführen. 

Dass der Eintritt einer Herzruptur tatsächlich mit einer Bewusst¬ 
seinsstörung nicht verbunden zu sein braucht, die Möglichkeit zur 
Vornahme von Handlungen also dennoch fortbesteht, zeigen mehrere 
in der Literatur veröffentlichten Fälle. 

So stürzte nach Lesser 1 ) ein Droschkenkutscher morgens beim 
Waschen seines Wagens plötzlich tot um. Die Obduktion ergab im 
Herzbeutel 600—700 ccm Blut. In der Nähe der Spitze der linken 
Kammer fand sich ein Herzaneurysma, dessen Kuppe ein stecknadel¬ 
kopfgrosses Loch, die Quelle der Blutung, zeigte. 

Von dem Augenblick des Berstens des Aneurysmas bis zur an¬ 
gegebenen Füllung des Herzbeutels muss eine längere Zeit, wohl 
wenigstens 5—10 Minuten, vergangen sein. Während dieser Zeit hat 
der Mann ruhig weitergearbeitet. Erst nach Komplettwerden der 
Herztamponade trat gleichzeitig mit der Bewusstlosigkeit der Tod ein. 

Dass sich bezüglich der Bewusstseinsstörung auch die traumatischen 
Rupturen ganz gleich verhalten können, zeigt eine Reihe der von 
Fischer 2 ) mitgeteilten Fälle, bei denen die Dauer des Ueberlebens 
bis zu 14 Stunden betrug, auf deren genauere Wiedergabe ich aber 
mit Rücksicht auf den Umfang der Arbeit verzichten möchte. 

Während also an der Möglichkeit längeren Weiterlebens nach 
dem Eintritt der Ruptur gar nicht gezweifelt werden kann, muss dieses 
Vorkommnis in unserm Falle zunächst Verwunderung erregen. Man 
muss doch annehmen, dass im Augenblick der Verletzung sich sofort 
durch das riesige Loch so massenhaft Blut in Herzbeutel ergoss, dass 
dieser fast momentan prall gefüllt und dadurch das Herz zum Still¬ 
stand gebracht wurde. 

Noch auffälliger ist der Befund bei Pfeiffer, wo sich im Herz¬ 
beutel nur 100 ccm Blut fanden. 

Dass übrigens Vorhofsrupturen allgemein längere Zeit überlebt 
zu werden pflegen, zeigen auch jene oben erwähnten 5 Fi sch ersehen 


1) Lesser, Die wichtigsten Sektionsergebnisse in 171 Fällen plötzlichen 
Todes. Vierteljahrsschrift f. ger. Med. XLVIII. 1888. S. 52. Fall 131. 

2) 1. c. Nr. 385, 3%, 400, 401, 409. 


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Dr. Thomas, Ein Boitrag zur Kasuistik der Herzverlotzungen. 


Fälle, unter denen sich drei Kupturen des rechten und eine des linken 
Vorhofs finden. 

Pfeiffer nimmt zur Erklärung dieser Erscheinungen an, dass bei 
Vorhofsverletzungen das in den Herzbeutel ausgetriebene Blut stets 
zum Teil wieder zurückgesogen und dadurch der Eintritt der kom¬ 
pletten Herztamponade verzögert wird. 

Ich möchte mich der Pfeifferschen Ansicht gleichfalls anschliessen, 
halte jedoch eine kleine Modifikation für nötig. 

Während der Ventrikeldiastole kann, wie er annimmt, ein An¬ 
saugen des Blutes aus dem Plerzbeutel in die Kammer durch die Vor¬ 
hofswunde hindurch nicht stattfinden, da sich zu dieser Zeit der Vor¬ 
hof selbst im Zustande der Systole befindet und also im Gegenteil 
das in ihm befindliche Blut austreibt, zum Teil durch das Ostium 
vcnosum in die Kammer, zum Teil in den Herzbeutel. 

Wohl aber wird der sich diastolisch ausdehnende Vorhof einen 
Teil des im Herzbeutel befindlichen Blutes wieder ansaugen und so 
die pralle Füllung des Herzbeutels verzögern. 


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p 


5. 

Aus dem gerichtsarztl. Institut der Kgl. Universität in Breslau 
(Direktor: Prof. Dr. A. Lesser). 

Ueber 

tödliche Broinäthyl- und Bromäthylen-Vergiftung. 

Von 

Dr. G. Marmetschke, Assistent. 

Nach der von Herrn Prof. A. Lesser aufgestellten Statistik sind 
in Breslau während der letzten 20 Jahre (1890—1909) 44 Todesfälle 
in der Narkose zur gerichtlichen Obduktion gelangt. 

31 dieser Beobachtungen fallen dem Chloroform zur Last, 10 
sind nach Inhalation von Aether eingetreten, 2 kommen auf Brom¬ 
äthylwirkung, 1 auf die von Pental. Mit einem gewissen Recht 
könnte vielleicht auch noch ein Todesfall infolge Kokainisierung der 
Harnblase behufs deren Untersuchung mit dem Nitz eschen Spiegel 
(20jähriges Mädchen, grosser rechtsseitiger Nierentumor, Herzerweite¬ 
rung, 3 ccm 10 proz. Kokainlösung in leere Blase gebracht, Blase 
nach 4Va Minuten entleert, dreimal ausgespült, Tod nach 5 Stunden) 
hier angereiht werden. 

Bevor ich die von mir mitbeobachtete Bromäthylenvergiftung be¬ 
schreibe, die durch Verwechslung mit Bromäthyl (Aether bromatus) 
bedingt worden ist und die den eigentlichen Anlass zur Abfassung 
dieser Arbeit gegeben hat, will ich zuvor noch über 2 tödlich ver¬ 
laufene Bromäthylnarkosen berichten, um so mehr, weil so vollständige 
und eingehende Beobachtungen nur in geringer Zahl veröffentlicht sind. 

1. Fall L. Schwächlich gebauter, an beiderseitigem Lungenspitzenkatarrh 
leidender 36jähriger Arbeiter, dessen I. Herzton nicht ganz rein und dessen Herz 
nach links verbreitert erschien, zog sich am 4. 5. 04 durch Sturz auf eine Egge 
eine Verletzung des Dammes zu, die das Allgemeinbefinden nicht beeinträchtigte. 
Die Herzfunktion war, wie auch im ganzen Verlaufe der Behandlung, stets gut. 
Am 5. 5. 04 wurde die Wunde genäht während einer durch Verabreichung von 


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62 


Dr. G. Marmetschke, 


45 ccm Bromäthyl herbeigeführten Betäubung, vor deren Einleitung etwa 0,01 Mor¬ 
phium subkutan einverleibt worden war. Die Narkose, die etwa 20 Minuten dauerte, 
verlief ganz glatt; im Anschluss an sie — ob durch sie bedingt, ist fraglich — 
stellte sich leichte Gelbsucht und ein einige Tage lang beobachteter Eiweissgehalt 
des Urins ein. Es handelte sich nur um Spuren von Eiweiss. Am 19. 5. 04 wurde 
eine zweite Operation unter Morphium-Chloroformwirkung (15 ccm Chloroform) 
vorgenommen. Auch diese Narkose verlief ohne jede Störung und üble Folgen. Um 
«ine zurückgebliebene Fistel zu spalten, wurde am 4.7.04 auf besonderes Bitten des 
Patienten wiederum Bromäthyl zur Betäubung benutzt, ln 4 Minuten sollen knapp 
10 ccm dieses Mittels aufgetropft worden sein; Patient reagierte nicht mehr auf 
Anrufen, bewegte sich aber noch, so dass die Beine fixiert werden mussten. Die 
Spaltung der Fistel war innerhalb weniger Augenblicke beendet. Die Blutung war 
unerheblich, so dass ohne weiteres der Verband angelegt werden konnte. Nachdem 
einige Touren der Binde herumgeführt worden waren, hörte plötzlich die Atmung 
auf, der Puls war nicht zu fühlen. Etwa 5 Sekunden vorher war die Maske vom 
Gesicht entfernt worden, 1—iy 2 Minuten zuvor hatte man mit dem Auftropfen des 
Mittels aufgehört. Ueber V-/ 2 Stunden kunstgerecht fortgesetzte Wiederbelebungs¬ 
versuche blieben erfolglos. Die Sektion ergab eine massige Herzerweiterung, vor¬ 
nehmlich links, alte, für die Funktion wohl unerhebliche Veränderungen der 
Aortenklappen, eine massige Verengerung der Anfangsteile der Koronararterien des 
Herzens infolge atheromatöser Prozesse, eine ziemlich erhebliche chronische Ne¬ 
phritis und einige Befunde des Status lymphaticus. Das Verfahren gegen den Arzt 
wurde eingestellt, wie überhaupt gegen keinen der Kollegen, denen einer der ein¬ 
gangs erwähnten Narkosetodesfälle begegnet war, gerichtlich eingeschritten wurde, 
da ein (strafbarer) Kunstfehler niemals zu erweisen war. 

II. Fall B. Bei seiner polizeilichen Vernehmung am 16. 7. 97, sowie bei 
seinem unter Zuziehung des Herrn Prof. Lesser erfolgten gerichtlichen Verhör am 
12. 8. 97 machte der beschuldigte Zahntechniker F. über das in der von ihm aus¬ 
geführten Narkose erfolgte Ableben der Frau B. folgende Angaben, die sich voll¬ 
kommen mit den Aussagen seiner Gehilfen R. und S. deckten. 

Am 16. 7. 97, gegen 9 vormittags, sei die Frau des Schirmfabrikanten B. bei 
ihm erschienen, um sich mehrere Zähne ziehen zu lassen. Die Frau wäre zunächst 
ängstlich erregt gewesen und hätte 6 X 19 Pulsschläge in der Minute gehabt. 
„Ich wartete infolgedessen etwa 10—15 Minuten; in dieser Zeit beruhigte sich die 
Verstorbene, zog sich auf mein Ersuchen das Korsett aus oder öffnete es bloss voll¬ 
ständig, wie sie auch das Kleid im Bereich der Brust geöffnet und die Bänder der 
Unterröcke gelöst hatte. Sie erklärte, dass sie ganz gesund und in den letzten 
Jahren keine ernstere Krankheit durchgomacbt habe, dass sie zwar vor etwa vier 
Monaten von toten Zwillingen entbunden worden sei, seitdem sich aber vollständig 
wieder erholt habe. Bevor ich mit der Betäubung beginnen liess, stellte ich eine 
Pulszahl von 80 —90 in der Minute fest. Die Betäubung wurde in halbsitzender, 
halbliegender Stellung vorgenommen. Ich mass dem Gehilfen R. 2mal je 6 ccm 
Bromäthyl zu. Die erste Portion kann aus einer bereits geöffnet gewesenen Flasche 
entnommen worden sein. Wenn sie aber aus einer solchen stammte, so ist die 
Oeffnung höchstens einige Tage zuvor erfolgt. Die zweite Portion stammte sicher 
aus einer erst nach dem Eintritt der Frau B. in meine Wohnung geöffneten Flasche. 


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Ueber tödliche Bromäthyl- und Bromäthylen-Vergiftung. 


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Der Gehilfe R. hielt mit einem Finger die Oeffnung des Massgefässes bis auf ein 
gewisses Mass zu und goss im Strahl das Betäubungsmittel auf die Aussenfläche 
der asservierten üblichen Maske. Das Aufregungsstadium der Frau B. war ein 
ziemlich heftiges. Ich nahm dem Gehilfen die Maske ab, ohne sie absichtlich vom 
Gesicht zu entfernen; ob sie aber doch nicht einen Augenblick entfernt worden ist, 
lasse ich dahingestellt. Während der Einatmung bewegte sich die über die Brust 
der Frau B. gebreitete Serviette ohne auffällige Unregelmässigkeiten auf und ab. 
Ueber den Puls während der Einatmung kann ich nichts sagen. Etwa s / 4 Minuten 
nach Beginn der Einatmung wurde die Masko entfernt; die Frau B. lag bzw. sass 
ruhig da. Vor der Betäubung hatte ich festgestellt, dass die Mundschleimhaut und 
das Zahnfleisch links unten stark geschwollen waren. Die zwei vorderen Back¬ 
zähne und ein hinterer Backzahn links unten waren tief kariös. Es bestand eine 
Eiterung an den Wurzeln der beiden vorderen Backzähne. Die Zähne sassen sehr 
lose. Auf meinen Vorschlag willigte Frau B. in die Entfernung dieser 3 Zähne ein. 

Als ich nach Beruhigung der B. infolge Einatmung von Bromäthyl den ersten 
Zahn zog, fasste sie mit ihrer linken Hand nach meinor, die Zahnzange haltenden 
rechten Hand, so dass ich, wie ich glaube, anordnete, der Frau B. die Hand fest¬ 
zuhalten. Innerhalb etwa 2 Sekunden extrahierte ich alsdann auch die zwei 
anderen Zähne. Ich glaube, es blutete etwas; ich Hess daher ihren Kopf nach 
vorn überbeugen, damit das Blut die Atmung nicht behindere. Ich rief sie an, 
sie schlug mit Anstrengung die Augen auf, drehte etwas den Kopf, kam wieder 
zu sich, öffnete ein wenig den Mund, beugte sich etwas vor oder wurde vielmehr 
nach vorn übergebeugt. Alsdann legte ich sie wieder zurück, sie öffnete nochmals 
die Augen, holte etwa dreimal seufzend Atem, wurde plötzlich blass, der Kopf 
sank zur Seite. Ich hielt sie für tot. Ich glaubte, es wäre Herzschlag eingetreten. 
Ich nahm sie schleunigst vom Stuhl herunter, stellte sie, wie von französischen 
Autoren empfohlen wird, auf den Kopf und rief sie an; sie machte aber keine Be¬ 
wegung. Ich legte sie nun auf den Fussboden, erhob die Beine und liess dieselben 
hochhalten. Ich selbst machte Beuge- und Streckbewegungen ihrer Arme in der 
Richtung nach vorn. Unmittelbar nach dem Herunterheben der Frau B. vom 
Stuhl habe ich nach ärztlicher Hilfe geschickt. Während ich noch die Arm¬ 
bewegungen machte oder machen liess, erschien Herr Dr. Sch. Er glaubte zu¬ 
nächst, noch Herztöne bei FrauB. zu hören, injizierte Kampfer und leitete künstliche 
Atmung durch Kompression des Brustkorbes ein; die Frau war aber tot. Ein zweiter 
Arzt wendete noch Elektrizität zur Wiederbelebung an, aber ebenfalls vergeblich. 

Ich füge noch hinzu, dass Frau B., welche den Eindruck einer sehr kräftigen 
Person auf mich machte, mir mitgeteilt hatte, dass ihr Zahnleiden schon längere 
Zeit bestände, in den letzten 24 Stunden seien die Schmerzen wieder besonders 
heftig geworden. Wenn sie mir mitgoteilt hätte, dass sie mehrere Nächte oder 
die letzte Nacht schlaflos zugebracht hätte, würde ich sie nicht betäubt haben. 
In solchen Fällen lehne ich die Narkose ab, oder, wie das ein oder mehrere Mal 
vorgekommen ist, ziehe ich unter solchen Verhältnissen einen Arzt zu. Frau B. 
bat mir noch gesagt, dass sie an dem Morgen nur Kaffee zu sich genommen habe. 

Ich habe seit etwa sechs Jahren gegen 550 Betäubungen mit Bromäthyl vor¬ 
genommen und habe in diesen über 900 Zähne gezogen. Die Methode war stets 
dieselbe, wie die in dem B.schen Falle. 


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Dr. G. Marmetschke, 


Einmal habe ich 13 ccm, sonst niemals über 12 ccm Bromäthyl verwendet. 
Ich ziehe häufig die Zähne in halber Betäubung, ebenso wie ich bei Frau B. ver¬ 
fahren bin. Wenn mir die Patienten schwächlich erschienen oder wenn sie Krank¬ 
heiten überstanden halten, lehnte ich die Betäubung ab. Noch niemals habe ich 
einen Unglücksfall durch die Betäubung erlebt; die Leute sind immer nach ganz 
kurzer Zeit wieder zu sich gekommen und haben sioh ganz wohl gefühlt. 

Ich habe Bromäthyl angewandt deshalb, weil es als ungefährlich in der 
Literatur von vielen Seiten geschildert wird und weil es kein Herzgift sei. Die 
vorgekommenen Todesfälle bei Bromäthylbetäubung haben sich, soviel ich weiss, 
nur bei schwächlichen Personen und bei solchen mit schweren Herzkrankheiten 
zugetragen. Ich weiss ferner, dass unter 5300 Fällen von Bromäthylnarkose ein 
einziger tödlich verlaufen ist. 

Ausser mir wenden in Breslau einige Zahntechniker und einige Zahnärzte 
häufig Bromätbyl an. Von Zahntechnikern weiss ich genau, dass sie keinen Arzt 
zuziehen. Ich bemerke noch, dass ich die Narkose bei Eintritt eines sehr heftigen 
Aufregungsstadiums abbreche. Bei Frau B. hatte ich hierzu keine Veranlassung.“ 

Die Zahntechnik hat der Beschuldigte binnen 3—4 Monaten unter Leitung 
des Zahntechnikers K. hier erlernt. Nachdem er durch „Lektüre“ sioh fortgebildet 
hatte, Hess er sich Anfang 1887 als Zahntechniker hier nieder. Irgend ein Examen 
hat er nicht gemacht. 

Aus der Aussage des Gehilfen R. ist noch anzuführen, dass dieser in ziemlich 
dünnem Strahl kontinuierlich 6 oder 8 g Bromäthyl auf den obersten Teil der 
Maske bei der Betäubung der Frau B. goss und dass er sodann, was noch an 
12 ccm Bromäthyl fehlte, in einem gleich dicken Strahl allmählich aufgoss. 
Auch dieser Gehilfe des Beschuldigten hat nie eine Vorlesung über Zahnheilkunde 
oder eine Klinik besucht. Das gleiche gilt von dem Gehilfen S. 

Nach der Aussage des Ehemannes B. ist die Verstorbene stets gesund ge¬ 
wesen, sie hat nie über Herzbeschwerden oder nervöse Zustände geklagt. „Sie 
war vielmehr von früh bis abends in meinem Geschäft mittätig. Sie hat auch 
nicht zu Ohnmächten geneigt.“ Ihr Allgemeinbefinden habe durch die Zahn¬ 
schmerzen der letzten 8—10 Tage nicht gelitten gehabt, sie hätte bis zum Besuche 
bei F. ebenso frisch und gesund ausgesehen, wie in früheren Zeiten. 

Herr Dr. J. hat die Verstorbene in der zweiten Hälfte des April 1897 be¬ 
handelt; sie hatte damals eine Fehlgeburt mit beträchtlichem Blutverlust. Herr 
Dr. J. hörte damals „ein Hauchen am Herzen“, das er auf die Blutarmut zurück¬ 
führte. „Die Diagnose eines Herzfehlers habe ich weder damals, noch später ge¬ 
stellt. Frau B. habe ich später zu sehen noch Gelegenheit gehabt; sie erschien 
mir nicht mehr krank, wenn sie auch etwas blass aussah. Sie war in ihrem Ge¬ 
schäft unermüdlich tätig. Ich wäre nie zu der Vermutung gekommen, dass Frau B. 
einen unausgeglichenen Herzfehler hätte.“ 

Auch auf den Hausarzt ihrer Eltern, Herrn Dr. K., hat die Verstorbene in 
den letzten Jahren immer einen gesunden Eindruck gemacht; bis zum 15.Lebens¬ 
jahre habe sie Erscheinungen eines Herzfehlers sicher nicht dargeboten; später 
habe er sie nicht mehr behandelt. 

Die gerichtliche Obduktion der Leiche der Frau B. wurde am 17. Juli 1897 
von Herrn Prof. Lesser und Herrn Med.-Rat Dr. Stern ausgeführt. Aus dem 
Obduktionsprotokolle ist folgendes für die Beurteilung des Falles von Belang: 


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Ueber tödliche Bromäthyl- und Bromäthylen-Vergiftung. 


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A. Aeussere Besichtigung. 

1. Die 165 cm lange, 23 1 / 2 Jahr alte Martha B. zeigt einen kräftigen 
Knochenbau, gut entwickelte Muskulatur, reichliches Unterhautfettgewebe. 

2. Die Farbe der Haut ist an der Vorderlläche des Körpers im grossen und 
ganzen eine blasse, nur das Gesicht und der Hals sind schwach bläulichrot, der 
aufgetriebene Bauch grünlich verfärbt. An der Rüokenfläche ist die Haut mit 
Ausnahme der Druckstellen bläulichrot, und zwar, wie Einschnitte ergeben, infolge 
Füllung der Hautgefässe mit dunkelrotem flüssigen Blute. 

3. Totenstarre ist an den Beinen noch vorhanden. 

4. Die Leiche verbreitet einen ziemlich starken Fäulnisgeruch. 

B. Innere Besichtigung. 

1. Oeffnung der Brust- und Bauchhöhle. 

7. Das Unterhautfettgewebe ist blass, an den mit blassen Schwangerschafts¬ 
narben versehenen Bauchdecken bis 5 cm dick. Die Muskulatur frischrot, nicht 
getrübt. 

8. Die Brustdrüsen, deren Höfe und deren Warzen stark gebräunt sind, ent¬ 
leeren auf Druck über die drüsenreiche Schnittfläche und aus den Warzen reich¬ 
liche Mengen von Milch. 

9. Das Bauchfell ist zart, blass, glatt und glänzend. 

10. Das Zwerchfell steht rechts zwischen 3. und 4., links zwischen 4. und 

5. Rippe. 

a) Brusthöhle. 

11. Die Lungen überragen die Herzbeutelränder um ein Massiges. Das 
Brustfell ist blass, glatt und glänzend. In jedem Brustfellsack eine mässige 
Menge schwach rötlicher, wässriger, ziemlich klarer Flüssigkeit. 

12. Der Herzbeutel, dessen Aussenlläche, wie die der grossen Gefässe, 
blassrot ist, ist von mittlerer Dicke. In ihm gegen 40 ccm einer klaren, schwach 
rötlichen, wässrigen Flüssigkeit. Das Herz, etwas grösser als die Faust der Leiche, 
ist beiderseits schlaff, rechts mehr als links. Aus beiden Herzhälften entleert sich 
eine reichliche Menge schaumigen, flüssigen, dunkelroten Blutes. Die Vorhof¬ 
kammermündungen sind für zwei Finger durchgängig. Die Klappen der grossen 
Schlagadern schliessen auf Wassereinguss vollständig. Das Fettgewebe auf dem 
Herzen rechts ist etwas reichlicher als gewöhnlich. Unter dem Herzbeutelüberzuge, 
namentlich der Hinterfläche, einige bis Fünfpfennigstückgrosso dünne Blutaustritte. 
Die linke Herzkammer, sowie die rechte, namentlich die letztere, sind in mässigem 
Grade erweitert. Die Innenhaut ist links stellenweise etwas verdickt. Die Balken- 
und die Papillarmuskeln sind rechts wie links gedehnt. Die Dicke der rechten 
Kammerwand schwankt zwischen 2 und 4 mm, die der linken erreicht 1 1 / 2 cm, 
aber auch sie besitzt eine der Weite der Höhlen entsprechende Dicke. Sie ist 
schlaff, etwas trübe, graurötlich. Der freie Rand der zweizipfligen Klappe zeigt 
sich fast durchweg etwas verdickt und retrahiert. Die Oberfläche dieser. Partien 
ist zum Teil warzig, aber sonst glatt. Eine grössere. Anzahl von Sehnenfäden ist 
verdickt und verkürzt, zum Teil miteinander verwachsen. Die Schlagadern des 
Herzens sind bis auf wenige fettig entartete Stellen intakt. 

Vierteljahresehrift f. ger. Med. u. Off. San.-Weaen. 3. Folge. XL. 1. 5 


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Dr. G. Marmetschke, 


13. Die linke Lunge, sowie 

14. die rechte sind an der Oberfläche und auf dem Durchschnitt massig 
blutreich, lufthaltig, Schnittfläche feucht. Unter dem Brustfellüberzuge zahlreiche 
punktförmige Blutaustritte. Die Bronchien enthalten reichliche Mengen schmutzig- 
rötlicher, trüber, dünnflüssiger Masse. Die Schleimhaut ist schmutzigrot gefärbt, 
nicht geschwollen. 

15. Dasselbe Verhalten zeigt die Luftröhre, sowie 

16. der Kehlkopf. 

17. Der Rachen ist leer. Die Schleimhaut ist schmutzigrot, nicht ge¬ 
schwollen. 

18. De Alveolen der beiden Backzähne und des ersten Mahlzahnes links 
unten sind leer, mit Blut gefüllt. Die Schleimhaut, die sie umkleidet hat, ist 
mehrfach eingerissen, blass, nicht wesentlich geschwollen, mit einer sehr dicken 
Epithelschicht versehen. 

b) Bauchhöhle. 

21. Die Milz, nicht unerheblich vergrössert, misst 15, 9, 2y 2 cm, Kapsel 
zart, Oberfläohe glatt, schmutzig dunkelrot, Konsistenz sehr weich. Auf dem 
Durchschnitt ist das Milzgewebe sehr reichlich, schmutzig dunkelrot, fast zer- 
fliessend. Einzelheiten sind nicht mehr zu erkennen. 

24. Die linke Niere, sowie 

25. die rechte sind von mittlererer Grösse, Kapsel leicht und ohne Substanz¬ 
verlust der Rinde abziehbar. Oberfläche glatt, schmutzig rötlich, etwas trübe. 
Konsistenz weich. Auf dem Durchschnitt ist die Rindensubstanz nicht verbreitert, 
etwas trübe, schmutzig rötlich, die Marksubstanz ist etwas stärker gerötet, eben¬ 
falls missfarbig und frei von krankhaften Veränderungen. 

28. Der linke Eierstock enthält einen kirschgrossen gelben Körper. Die 
Gebärmutterschleimhaut — das ganze Organ erscheint etwas vergrössert — ist 
blass, bis s / 4 cm dick im Bereiche des Körpers; im Halse ist die Schleimhaut 
blass, nicht geschwollen. (Die später ausgeführte mikroskopische Untersuchung 
der Corpusmucosa ergab nur den Befund der Endometritis fungosa.) Ein Ei ist 
in der Körperschleimhaut nicht zu entdecken. Die Muskulatur ist etwas dick, 
sehr weich, blassrötlich, die übrigen Abschnitte der Geschlechtsteile ohne Be¬ 
sonderheiten. 

29. Der Magen, nach vorschriftsmässiger Unterbindung herausgenommen, 
enthält gegen 50 ccm einer trüben, sauer riechenden Flüssigkeit. Die Schleimhaut 
ist blass, nicht geschwollen, trübe. 

30. Im Dünndarm eine geringe Menge trüben, gelblichen, dicken Inhaltes, 
die Zotten sind im oberen Abschnitt mässig stark mit Fett gefüllt, die Schleimhaut 
ist blass, nicht geschwollen, ebenso die Einzel- und Haufendrüsen. 

32. Die Leber ist von mittlerer Grösse, Kapsel zart, Oberfläche glatt, braun¬ 
rötlich, Konsistenz eine mittlere. Auf dem Durchschnitt sind die Leberläppchen 
trübe, graurötlich, mittelgross, ziemlich schwer voneinander abgrenzbar. 

33. Die grossen Gefässe des Rumpfes enthalten flüssiges, schaumiges Blut 
in mässig reichlicher Menge. Die ßrustsohlagader ist auffallend eng und dünn¬ 
wandig. 

Die ohemischo Untersuchung (weiland Prof. Dr. B. Fischer) der aus der 


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Ueber tödliche Bromäthyl- and Bromäthylen-Vergiftung. 


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Leiche der Frau B. entnommenen Leichenteile hat ergeben, dass im Inhalt der 
Glaskrausen, welche das Herz, die Lungen, Blut aus dem Herzen bzw. das Gehirn 
enthielten, Sparen von Brom und Alkohol nachzuweisen waren, die dem zur 
Narkose verwandten Bromäthyl entstammen dürften. 

Das miteingesandte Bromäthyl entsprach den Anforderungen des deutschen 
Arzneibuches. 

Die Obduzenten, sowie das Medizinalkollegium waren im wesent¬ 
lichen in der Beurteilung dieses Falles der gleichen Ansicht, die die 
letztgenannte Instanz dahin zusammenfasste: 

„Auch wir sind in Uebereinstimmung ipit dem Gutachten der 
Herren Obduzenten der Ueberzeugung, dass der p. F. im vorliegenden 
Talle bei der Ausführung der Narkose sich einer groben Fahrlässigkeit 
schuldig gemacht hat, indem er nicht imstande war, die mit der 
Narkose verbundenen Gefahren richtig zu erkennen und nicht über 
die Mittel verfügte, diese Gefahren abzuwenden. 

Die Frage, ob der Tod der p. B. mit Sicherheit hätte vermieden 
•werden können, wenn ein in der angegebenen Richtung erfahrener 
und geschulter Arzt von vornherein zu Rate gezogen worden wäre, 
lässt sich allerdings nicht mit Sicherheit bejahen. Todesfälle in der 
Narkose kommen bei allen Betäubungsmitteln trotz sorgfältiger Beob¬ 
achtung aller Regeln der Kunst vor. Es ist deshalb nicht mit 
Sicherheit auszuschliessen, dass selbst bei der Mitwirkung eines 
approbierten Arztes der Gang der Dinge bei der p. B. sich genau 
so abgespielt hätte, wie es tatsächlich der Fall war.“ 

Etwas verschieden beantwortet wurde die Frage, ob eine sach- 
gemässe Untersuchung des Herzens kurz vor der Narkose dessen 
Veränderungen an der Mitralis und dem Myokard mit Sicherheit hätte 
feststellen lassen, und ob der Einleitung der Narkose nach event. 
Ermittlung der Herzaffektion alsdann gewichtige Momente wider¬ 
sprochen hätten. 

Während die Obduzenten und das Medizinalkollegium den Tod 
•der B. auf das Eintreten einer Herzinsuffizienz infolge der Wirkung 
des Narkotikums zurückzuführen geneigt waren, vertritt der Direktor 
des hiesigen zahnärztlichen Instituts, Herr Prof. C. Partsch, auf 
Grund seiner reichen Erfahrungen gerade bezüglich dieser Narkoseart 
in der Dissertation von E. Larisch 1 ) folgende Auffassung: 

„Der starke sensible Reiz infolge der Extraktion hat die viel¬ 
leicht nicht gut narkotisierte Patientin in einen ohnmachtsähnlichen 

1) E. Larisch, 1263 Bromäthylnarkosen. Dissert. Breslau 1899. (S. 11). 

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Dr. G. Marmetschke, 


Zustand versetzt, der infolge der unzweckmässigen Atmungsversuche 
in den Tod übergegangen ist. In dem besprochenen Falle hätte nun 
die Patientin durch geeignete Mittel leicht wieder zum Bewusstsein 
gebracht werden können. Vor allem wäre es notwendig gewiesen, das 
Narkotikum sofort zu entfernen, für reichlich frische Luft zu sorgen 
und die Wiederbelebungsversuche, vor allem die künstliche Atmung, von 
vornherein in der richtigen Weise anzustellen. Herr Prof. Partsch 
ist überzeugt, dass der Umstand, dass bei den Wiederbelebungs¬ 
versuchen in diesem Falle die Zunge nicht bald vorgezogen wurde, 
ausschliesslich an der Erfolglosigkeit derselben schuld ist.“ 

Das Strafverfahren gegen F. endete mit seiner Verurteilung 
wegen fahrlässiger Tötung zu sechs Monaten Gefängnis. 

III. Fall A. (Bromäthylenvergiftung.) Am 11. 8. 09 bekundete der Ehe¬ 
mann der verstorbenen Frau A.: „Bereits am Freitag, den 9. 7. 09, hatte sich 
meine Ehefrau, die eine gesunde, kräftige Frau war, 7 Zahnwurzeln im Oberkiefer 
bei dem Zahntechniker W. ziehen lassen, wobei ich nicht zugegen gewesen war. 
Sie hatte damals so heftige Schmerzen empfunden, dass sie, als sie sich am 
14. 7. 09 wieder Wurzeln und Zähne ziehen lassen wollte, mich bat, mitzugehen, 
da sie gewillt war, das Zähneziehen nur in Narkose vornehmen zu lassen. Ich 
ging daher mit ihr zu dem Zahntechniker W. Sie schien mir nicht sehr aufgeregt. 
Wir waren bei W. gegen 5 Uhr nachmittags. Gegen 6 3 / 4 Uhr kam meine Ehefrau 
an die Reihe. Ich blieb im Wartezimmer, während sie zu dem Zahntechniker W. 
eintrat. Etwa 2 Stunden war meine Frau bei W. im Zimmer; gegen y 4 8 kam W. 
zu mir heraus und fragte mich, ob denn meine Frau auch früher — sie war 
nämlich bei der Entbinduug schon zweimal narkotisiert worden — so widerstands¬ 
fähig gegen die Narkose gewesen sei; sie sei gar nicht zu betäuben. Ich ant¬ 
wortete, sie habe über 100 gezählt. Darauf bemerkte W., sie habe jetzt schon viel 
mehr gezählt und begab sich wieder in das Zimmer. Etwa gegen 8 Uhr kam ein 
anderer Herr, wohl auch ein Techniker und sagte: „Die Narkose macht mir soviel 
Schwierigkeiten, das Zähneziehen würde nicht so lange dauern.“ Während meine 
Frau bei W. im Zimmer war, und ich drausson wartete, habe ich andauernd meine 
Frau husten hören; die anderen husteten nicht. Gegen 8 3 / 4 Uhr wurde ich zu 
meiner Ehefrau gerufen. Ich fand sie auf dem Operationsstuhl, im Schweiss ge¬ 
badet, halb liegend, vor. Sie bat mich, ich solle ihr die Taille öffnen, damit sie 
Luft bekäme, wobei sie noch immer wie im Dusel war. Ich öffnete ihr die Kleider, 
und sie kam etwas zu sich. Ich schloss ihr dann wieder die Taille und wischte 
ihr den Schweiss ab. W. hielt mir die Maske vor das Gesicht und sagte zu mir; 
„Riechen Sie mal. wie stark das Zeug ist!“ (Er selbst roch auch daran.) „Ihro 
Frau ist aber nicht zu betäuben.“ Ich roch daran und fand, dass es der Geruch 
war, den ich bei der Betäubung meiner Frau bei der Entbindung wahrgenommen 
habe (Chloroform). W. bemerkte noch, meine Frau solle anderen Tages mit 
nüchternem Magen wiederkommen, dann werde er die Operation vornehmen. Ich 
ging darauf mit meiner Frau fort. Schon an der Tür des Hauses, in dem W. 
wohnt, musste meine Ehefrau, die ich, weil sie strauchelte, führte, erbrechen, und 


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Ueber tödliche Bromäthyl- und Bromäthylen-Vergiftung. 69 

das Erbrechen wiederholte sich auf dem ganzen Wege zu meiner Wohnung, sowie 
die ganze Nacht hindurch. Auf dem Wege zu unserer Wohnung sagte mir meine 
Frau, es wären verschiedene Betäubungsmittel angewendet worden, sie habe bis 
450 gezählt. 

Meine Frau schlief die ganze Nacht nicht und klagte über Brennen, wobei 
sie auf die Brust zeigte. Ich gab ihr Eisstückchen zu schlucken, ln der Nacht 
traten Durchfälle hinzu. Blut habe ich in dem Stuhl nicht gesehen. Einen be¬ 
sonderen Geruch des Atems habe ich nicht bemerkt. 

Erst frühmorgens (am 15. 7.) schlief sie ein und schlief bis zum Nach¬ 
mittag. Sie stand auf, zog sich notdürftig an und ging zur Nachbarin, Frau 
Clara B. Sie klagte nicht; sie meinte nur, sie sei müde, als ich mein Erstaunen 
ausdrückte, dass sie soviel schliefe. Jetzt sah sie angegriffen aus; für schwerkranlc 
habe ich sie aber nicht gehalten. 

Sie war nur wenige Minuten bei Frau B. Als sie zurückkam, legte sie sich 
wieder ins Bett; sie duselte, und dieser Zustand dauerte bis zum nächsten Früh¬ 
morgen. 

Zu dieser Zeit — es wird gegen 4 Uhr gewesen sein — zeigte meine Frau 
eine grosse Unruhe, die bis zu ihrem Tode andauerte. Sie konnte nicht im Bett 
bleiben und hatte Atemnot, ohne im übrigen zu klagen. 

Gegen 11 Uhr vormittags (26. 7.) erschien, von mir herbeigeholt, Dr. H. und 
verschrieb ein Pulver, das meine Frau in Wasser nehmen sollte; er verordnete 
auch starken Kaffee und Kognac. Meine Frau hat nur ein Pulver genommen, den 
Kaffee und Kognac hat sie gern getrunken; auch Eisstückchen habe ich ihr auf 
Anraten des Arztes gegeben. Ausser Milch, Kaffee und Wasser hat meine Frau 
sonst nichts zu sich genommen. Sie klagte fortdauernd über Durst, Leibschmerzen 
und Brennen in der Brust. Am Donnerstag (15. 7.) hatte sie noch Durchfall ge¬ 
habt, Freitag (16. 7.) nicht mehr; Freitag stellte sich auch noch die Periodo bei 
ihr ein, aie meine Frau erst am 29. 7. erwartet hatte. Gehustet hat sie, seitdem 
sie bei W. gewesen war, nicht. Dr. H. erschien nochmals gegen 2 Uhr nachmittags 
bei uns; eine Stunde darauf starb jedoch meine Frau; das Bewusstsein war bis 
kurz vor dem Tode bei ihr erhalten. 

Dass meine Frau blutigen Schleim ausgehustet hätte, habe ich nicht ge¬ 
sehen, aber es ist möglioh, dass Blut in dem Eimer war, den ich in der ersten 
Nacht hinaustrug, nachdem meine Frau sich wiederholt erbrochen und Durchfall 
gehabt hatte. 

Kurz vor dem Tode sah ich, dass die Hände und Füsse meiner Frau blau 
wurden, deshalb holte ich den Arzt zum zweiten Male. 

Meine Frau hat sich selbst auch nicht für todkrank gehalten, bis etwa eine 
Viertelstunde vor ihrem Ableben, wo sie mich bat, die Kinder nicht zu vergessen 
und an den Vater zu schreiben.“ 

Aus den Aussagen der Nachbarin Frau B. ist nur erwähnenswert, dass sie 
der A. am 15. 7. Jerusalemer Balsam gegen Durchfall verabfolgt hatte und zwar 
in geringen Quantitäten. 

Als Dr. H. am 16. 7. gegen Uhr vormittags zu Frau A. kam, war ihr 
Puls kaum fühlbar und sehr beschleunigt. „Sie lag mit ängstlich verzogenem 
Gesicht im Bett und machte überhaupt den Eindruck einer Person, die einen 


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Dr. G. Marmetschke, 

schweren Horzkollaps hatte. Bronchitis fand ich, trotzdem ich sie darauf unter¬ 
suchte, nicht vor.“ 

Verordnungen: Kaffee, Kognak, Koffein, Kampfer. 

„Gegen y 2 3 Uhr nachmittags war Frau A. schon fast bewusstlos; trotz. 
Kampferinjektionen und künstlicher Atmung trat der Tod nach ungefähr zehn 
Minuten ein. u 

„Ich wurde am 15. 7., nachmittags ca. 6 Uhr,“ sagt Dr. Kr., Arzt, 72 Jahre 
alt, am 17. 7. aus, „zu dem Zahntechniker W. zwecks Vornahme der Narkose ge¬ 
rufen. Die Frau wurde von mir narkotisiert und zwar mit Aether bromatus. Die 
Narkose hatte keine Wirkung, weil die Frau meinen Vorschriften, langsam und laut 
zu zählen, den Mund weit zu öffnen und tief zu atmen, nicht nachkam. Ich hatte 
ursprünglich nur 30 g Aether bromatus verordnet, und musste, da diese 30 g ohne 
Wirkung blieben, dasselbe Quantum zweimal wiederholt werden, so dass jedesmal 
ungefähr 10 Minuten Pause im Narkotisieren eintrat. Von der letzten Flasche sind 
etwa 10 g verbraucht worden, so dass im ganzen etwa 70 g zur Anwendung ge¬ 
langt sind. 

Ich redete ihr zu, als ungefähr 50 g verbraucht waren, sie möge sich die 
Zähne ziehen lassen, da sie doch nur wenig Schmerz empfinden würde. Sie 
willigte aber nicht ein, da sie sagte, sie sei völlig bei Besinnung, fühle ebenso 
wie vorher. 

Ich unterbrach dio Narkose, weil es schon spät war. 

Ich bemerke, dass der Narkosekorb innen mit einer dichten Lage Watte be¬ 
kleidet war, und es ist anzunehmen, dass die Dämpfo des Narkosemittels mehr in 
die Luft des Zimmers, als in die Lungen gingen. Deshalb goss ich schliesslich 
das Mittel inwendig auf die Watte.“ 

Dr. Kr. hat Frau A. früher nicht gekannt. 

Das von Dr. Kr. verschriebene Rezept hat den Wortlaut: 

Breslau, den 14. Juli 1909. 

Rp. 

Aether bromatus 30,0 
S. zu Inhalationen. 

Cito! Für Herrn W. 

gez. Dr. Kr. 

Am 19. Juli er. ging dem städtischen chemischen Untersuchungsamt (Direktor: 
Dr. Lührig) in Breslau das Fläschchen mit dem Rest der Flüssigkeit zu, welche 
zum Narkotisierungsversuch der Frau A. benutzt worden war. Das Etikett wies 
ausser der Firma der qu. Apotheke die Aufschrift auf: 

Herrn W. 

Zu Inhalationen. 

14. 7. 09. 

Aether bromat. 30,0. 

Die Menge der noch in der Flasche befindlichen Flüssigkeit betrug nur 
3,7 ccm. Sie war nicht Aethylbromid, sondern Aethylenbromid. 

H. S., 24 Jahre, Angestellter der qu. Apotheke, gab — am 27. 7. 09 — zu, 
das beschlagnahmte Fläschchen mit Aethylenbromid statt mit Aethylbromid 3 mal 


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Ueber tödliche Bromäthyl- und Bromäthylen-Vergiftung. 


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gefüllt zu haben. „Das Gefäss mit Aethylbromid stand vor längerer Zeit da, wo 
ich das Gefäss mit Aethylenbromid, von dessen Vorhandensein ich nichts wusste, 
weggenommen habe.“ Das Etikett der herausgenommenen Standflasche habe er 
sich nicht genauer angesehen. 

Am 17. Juli diesesJahres verrichteten Herr Prof. Lesser und ich dieObduktion 
der Leiche der Frau A. Dieselbe ergab folgenden wesentlichen Befund: 

A. Aeussere Besichtigung. 

1. Die 158cm lange Leiche der Theresia A., geboren am 15. 1. 1872, gestorben 
am 16. 7. 1909, zeigt einen kräftigen Knochenbau, gut entwickelte Muskulatur und 
massig reichliches Unterhautfettgewebe. 

2. Die Farbe der Haut ist an der Vorderfläche des Körpers im grossen und 
ganzen eine blasse, an der Rückenfläche mit Ausnahme der Druckstellen eine blass¬ 
bläulich-rote, welche, wie Einschnitte ergeben, bedingt ist durch Füllung der 
Hautgefässe mit Blut. 

3. Totenstarre ist in den Beinmuskeln noch vorhanden. 

4. Die Leiche verbreitet keinen Fäulnisgeruch. 

B. Innere Besichtigung. 

I. Oeffnung der Brust- und Bauchhöhle. 

8. Das Unterhautgewebe ist blass, die Muskulatur blassrot, mässig derb, 
nicht getrübt. Die Brustdrüsen entleeren auf die Schnittflächen eine massige Menge 
leicht gelblich-grünlichen, dickflüssigen Materials. Das Brustdrüsengewebe erscheint 
etwas vermehrt. 

10. Das Bauchfell ist blass, zart, glatt und glänzend. Der vorderen Bauch¬ 
wand liegen an: ein mässig grosser Teil der stellenweise gelblichen, meist bräun¬ 
lich-rötlichen Leber, des blassen Magens, das blasse, fettreiche Netz, blasse Dünn- 
und Dickdarmteile. Im Bauchfellsack gegen 100 ccm schmutzig-rötlicher, wässriger, 
klarer Flüssigkeit. 

11. Das Zwerchfell steht rechts hinter der 4., links zwischen 4. und 5. Rippe. 

a) Brusthöhle. 

12. Die Lungen überragen die Herzbeutelränder um ein Mässiges. Das Brust¬ 
fell ist zart, glatt und glänzend; in jedem Brostfellsack eine geringe Menge klarer, 
schwachrötlioher, wässriger Flüssigkeit. 

Das Herz, etwas grösser als die Faust der Leiche, ist beiderseits ausser¬ 
ordentlich schlaff. Die Vorhofkammermündungen sind bequem für zwei Finger 
durchgängig; die Klappen der Schlagadern schliessen auf Wassereinguss. Die 
Innenhaut ist zart, blass. Die Höhlen beider Kammern sind etwas erweitert, die 
Muskulatur nicht entsprechend verdickt; sie misst links bis 12, rechts bis 5 mm, 
die Kammuskeln erscheinen gedehnt und abgeplattet. Die Muskulatur ist recht 
blass, trübe, schlaff, die Geiasse des Herzens sind intakt. 

Das Blut ist im Herzen und in den grossen Gefässen meist flüssig, zum 
kleineren Teil locker geronnen. 

14. Die linke Lunge, sowie 

15. die rechte sind von mittlerer Grösse, an der Oberfläche und auf dem 


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Dr. G. Marmetschke, 


Durchschnitt überall lufthaltig, ziemlich blutreich und massig stark ödematös. 
Herderkrankungen sind nirgends vorhanden. 

In den Bronchien eine reichliche Menge eitrigen Schleims; die Schleimhaut 
geschwollen und dunkelrot gefärbt, zum Teil infolge von Füllung der Blutgefässe, 
im wesentlichen aber infolge von Blutaustritten. Solche finden sich auch an 
einzelnen Stellen des lockeren Gewebes in der Umgebung der Bronchien. 

16. Die Bronchialdrüsen sind geschwollen, dunkelschwarzrötlich bis schwärz¬ 
lich gefärbt und weich. 

17. Dasselbe Verhalten wie die Schleimhaut der Bronchien zeigt die Schleim¬ 
haut der Luftröhre, sowie 

18. die des Kehlkopfes. Auch in dem lockeren Gewebe des hinteren Mittel¬ 
fellraumes, namentlich zwischen Rumpfschlagader und Speiseröhre, sowie in der 
übrigen Nachbarschaft der ersteren finden sich zahlreiche, zum Teil nicht unerheb¬ 
liche Blutungen. Solche sind auch in den Scheiden der grossen Halsschlagadern 
zahlreich vorhanden. 

19. Auch im Rachen eine reichliche Menge zähen, dicken, eitrig-schleimigen 
Materials. Die Schleimhaut ist stark geschwollen, bläulichrot gefärbt; eine 
Schwellung, die namentlich in der Umgebung des Kehlkopfeinganges und am 
Zäpfchen hervortritt. Hier besteht auch Oedem in den tieferen Schichten. 

20. Die Zunge ist blass, nicht wesentlich geschwollen, mit einem mässig 
dicken Epithelbelag versehen. 

Die Schleimhaut der Wangen und des Zahnfleisches und die Schleimhaut des 
harten Gaumens sind blass, nicht geschwollen. Es sind die beiden Schneidezähne 
unten links vorhanden, sowie der mittlere Schneidezahn rechts unten; von dem 
äusseren Schnoidezahn rechts unten existiert nur noch der mittlere Teil, der zudem 
kariös ist. Von den übrigen Zähnen des Unterkiefers fohlen einige wenige voll¬ 
ständig; von den andern sind die kariösen Wurzeln noch vorhanden. An der 
Stelle der fehlenden Zähne ist das Zahnfleisch vernarbt. Im Oberkiefer finden sich 
vereinzelte Zahnwurzeln und anstelle der Eckzähne resp. deren WurzelnVertiefungen, 
in welchen weissliches, bröckliges Material vorhanden ist. Die Umgebung ist blass 
und ganz frei von Blutaustritten und frischen Zusammenhangstrennungen, etwas 
geschwollen. Zeichen einer frischen Wurzel- und Zahnextraktion werden nicht ge¬ 
funden. 

22. Die Speiseröhre ist leer, die Schleimhaut bläulich-rötlich, nicht verändert. 

b) Bauchhöhle. 

23. Die Milz misst 14, 10, 3 cm; Kapsel zart, Oberfläche glatt, blass-bläu¬ 
lich, Konsistenz des Organes eine geringe, auf dem Durchschnitt ist das Milz¬ 
gewebe schmutzig-dunkelrot, etwas vermehrt, Balken und Knötchen nicht zu sehen. 

26. Die linke Niere, sowie 

27. die rechte sind vielleicht etwas vergrössert, Kapsel leicht und ohne 
Substanzverlust abzulösen, Oberfläche glatt, trübe, rötlichgrau. Konsistenz der Organe 
verringert. Auf dem Durchschnitt die Rindensubstanz etwas verbreitert, trübe, 
schwach rötlioh; die Marksubstanz schmutzigrot, ohne erkennbare Abweichungen. 

28. Die Nierenbecken und -kelche sind leer, die Schleimhaut blass, nicht 
geschwollen. 

29. Die Harnblase ist leer, die Schleimhaut blass, intakt. 


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Uebcr tödliche Bromäthyl- und Bromäthylen-Vergiftung. 


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30. Der Scheideneingang, die Scheide, sowie die Adnexe sind frei von frischen 
Veränderungen. Die Gebärmutterschleimhaut ist stark geschwollen und von zahl¬ 
reichen Blutungen durchsetzt; etwas (chronisch) verdickt ist auch die Muskulatur 
der Gebärmutter. 

31. Der Magen, nach doppelter Unterbindung herausgenommen, enthält neben 
Gasen 150 ccm einer trüben, grauweisslichen, sauer riechenden Flüssigkeit. Die 
Schleimhaut ist durchweg gleichmässig getrübt, nicht wesentlich geschwollen, blass. 
Nahe der Mitto der kleinen Krümmung zwei alte strahlige Geschwürsnarben von 
ungefähr Markstüokgrösse. 

32. Gallengänge durchgängig. 

33. Im Dünndarm einige 100 ccm eines trüben, dicken, weiss-gelblichen 
Materials; die Schleimhaut blass, nicht geschwollen. 

34. Im Dickdarm etwas dünnflüssiger Kot; die Schleimhaut blass, nicht ge¬ 
schwollen. 

35. Die Gekrösdrüsen, sowie 

36. die Bauchspeicheldrüse sind blass bis blassrot, intakt. 

37. Die Leber ist von mittlerer Grösse, Kapsel zart, Oberfläche glatt, trübe; 
Konsistenz des Organs vermindert. Auf dem Durchschnitt Leberläppchen mittel- 
gross, etwas schwerer als sonst voneinander abgrenzbar,trübe, bräunlich bis rötlich. 

Gallenblase intakt. 

38. Die Hauptschlagader des Bauches, ebenso wie seine Hauptvenen, frei von 
krankhaften Veränderungen; jene ist, wie in dem Brustteil, recht eng; in ihrer 
Umgebung fehlt aber jede Blutung. 

51. Die mikroskopische Untersuchung ergibt ziemlich starke Trübung der 
Herzmuskulatur, zum Teil bedingt durch Verfettung, wie Zusatz von Essigsäure 
lehrt; ferner eine zum Teil sehr starke Trübung der gewundenen Harnkanälchen, 
die keine wesentliche Aufhellung durch Essigsäure erfährt. Die Leberzellen sind 
ebenfalls recht trübe infolge ihres Gehalts an feinsten Fetttröpfchen. 

Das Gehirn und seine Häute boten ausser massiger Blutarmut nichts Bemer¬ 
kenswertes. 

Eino chemische Untersuchung der Leichenteile hat nicht stattgefunden, da 
nach der Erklärung des städtischen Untersuchungsamtes Aethylenbromid in 
faulenden Organen sich schnell zersetzt und dann die Isolierung des Giftes in seiner 
ursprünglichen Zusammensetzung, mithin auch seine Unterscheidung von Aethyl- 
bromid nicht mehr möglich ist. 

Aus dem Angeführten geht hervor, dass Frau A. im Anschluss 
an die Einatmung von Aethylenbromid erkrankt ist: eine Krankheit, 
die in Hinfälligkeit, Uebelkeit, Erbrechen, Durchfall, Schmerzen unter 
dem Brustbein, Husten, Atemnot, Herzschwäche und Gebärmutter¬ 
blutung bestand und in etwa 44 Stunden tödlich endete. 

Die Obduktion hat neben parenchymatöser Degeneration des 
Myokards, der Nieren und der Leber eitrigen Katarrh der Luftwege 
ergeben, deren Schleimhaut von zum Teil nicht unerheblichen Blutungen 
durchsetzt war, deren bindegewebige Scheide sich an zahlreichen Stellen 


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Dr. G. Marmetschke, 


von partiell bedeutenden Hämorrhagien infiltriert erwies. Blutungen 
hatten auch eine Schwellung der Lungenlymphdrüsen bewirkt. Jene 
fanden sich auch ferner in dem Gewebe des Mediastinum posticum, 
sowie in der Adventitia der Karotiden in einer Mächtigkeit vor, wie 
sie am ehesten noch bei Phosphorvergiftung vorzukommen pflegt. 
Analog dieser wies auch das Endometrium hämorrhagische Verände¬ 
rungen auf, die zu pseudomenstruellen Abgängen Veranlassung ge¬ 
geben hatten. 

Auch der Rachen zeigte einen frischen Katarrh von einiger Stärke, 
während die Magen- und Darmbefunde die klinischen Erscheinungen 
zu erklären nicht imstande sind. 

Ueber die versehentliche Anwendung von Aethylenbromid anstatt 
Aethylbromids sind in der Literatur nur spärliche Beobachtungen 
verzeichnet. L. Szuman 1 ) benutzte ein eben frisch aus der Apotheke 
gebrachtes Bromäthyl zur Narkose bei einer Frau behufs Extraktion 
zweier mit Zahnfleisch überwachsener, schmerzhafter Zahnwurzeln. 
Eine schmerzstillende Wirkung trat trotz längeren Aufgiessens des 
Bromäthyls gar nicht ein, wohl aber ein zwei Tage andauerndes Er¬ 
brechen mit sehr heftigem Kopfschmerz, Schwäche usw. Schon beim 
Aufgiessen des Präparates auf die Maske fiel es auf, dass das Me¬ 
dikament gar nicht verwitterte, und die Maske sich trotz längeren 
Aufgiessens gar nicht mit den charakteristischen Schneekristallen 
bedeckte. Das Präparat wurde durch eine hiesige Apotheke von 
einer Berliner Firma bezogen.“ Genauere Angaben, insbesondere über 
die Menge des verwandten Mittels und über die Dauer der Ein¬ 
wirkung, fehlen. 

Ebenfalls in Genesung ging der Hirsch sehe 2 3 * ) Fall aus, der ein 
Dienstmädchen betraf, bei dem 100 g Bromäthylen auf eine gewöhn¬ 
liche, dicht den Atmungsöffnungen aufliegende Maske allmählich und 
zwar in 10 Absätzen aufgegossen worden waren. Die kranken Zähne 
wurden bei vollkommener Schmerzempfindlichkeit gezogen; einige 
Stunden darauf trat abundantes Erbrechen, Totenblässe, starker Kopf¬ 
schmerz, Ohrensausen auf. Das Erbrechen hörte erst am folgenden 
Tage auf. 

Tödlich endeten die von Kollmar 8 ) und von Schmiede- 

1) L. Szuman (Thorn), Therap. Monatshefte. 1888. S. 155. 

2) Hirsch, Therapeut. Monatshefte. 1888. S. 556. 

3) Kollmar, Tod durch Aethylenbromid. Deutsche Monatsschrift f. Zahn¬ 

heilkunde. 1889. S. 392. 


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Ueber tödliche Bromäthyl- und Bromäthylen-Vergiftung. 75 

berg 1 ) beobachteten Fälle. In ersterem sollte einem 31 [Jahre alten, 
sonst gesunden Arbeiter eine Nagelexstirpation gemacht werden. Der 
Arzt, der die Operation unter Aether bromatus machen wollte, dessen 
Anwendung er kurz vorher bei Kollmar zu seiner grössten Zu¬ 
friedenheit gesehen hatte, verwechselte leider Bromäthylen mit Brom¬ 
äthyl. „Vierzig Gramm Bromäthylen wurden auf die Maske gegossen, 
der Patient wurde sofort sehr unruhig, bekam eine sofortige Ent¬ 
zündung der Konjunktiva, Reizung im Kehlkopf, starke Schmerzen 
unter dem Brustbein, wurde nicht betäubt; nachher wurde Choroform 
gegeben, und die Operation gut vollzogen. Im Laufe des Tages trat 
heftiges Erbrechen ein, das bis zum nächsten Tage anhält, alle Mittel 
dagegen sind fruchtlos, Patient stirbt in der folgenden Nacht unter 
den Erscheinungen der Herzschwäche bei vollständigem Bewusstsein.“ 
Die Sektion ergab, dass die Schleimhaut der Luftröhre, sowie deren 
Verzweigungen bis in die feinsten Bronchien hellrot gefärbt und mit 
rötlichem Schleim bedeckt waren. Die Lungen waren sehr blutreich 
und wenig lufthaftig, das Myokard schlaff, blass; an manchen Stellen 
der gelblich gefärbten Magenschleimhaut fanden sich hellrote Wulstungen 
von Punkt- bis Linsengrösse. Die Leber zeigte „beginnende Ver¬ 
fettung“. Brom war im Mageninhalt nicht nachweisbar. 

In dem von Schmiedeberg 2 3 ) begutachteten Falle handelte es 
sich um eine Frau, der seitens eines Zahntechnikers unter Beihilfe 
eines Arztes ein Zahn in Bromäthylnarkose gezogen werden sollte. 
Der Apotheker hatte, wie in unserem Falle, Aethylenbromid verabfolgt. 
Nach seiner Anwendung (die Menge ist nicht angegeben) trat eine 
Betäubung nicht ein, sie wurde erst durch Chloroform und Kokain 
erzielt. Ungefähr IY 2 Stunden nach der Extraktion wurde die Frau 
unwohl, bekam starkes Erbrechen, musste sich zu Bett legen und 
starb unter Kollapserscheinungen am nächsten Morgen. Auch Du- 
mont 8 ) tut kurz (ohne Angabe von Einzelheiten) eines Falles Er¬ 
wähnung, wo die Verwechselung von Aethylenbromid mit Aethylbromid 
„bei einem Zahnarzte stattgefunden hatte, und wo der narkotisierende 
Arzt seinen Irrtum erst nach dem Tode der Patienten erkannte.“ 

Ob die Veröffentlichungen von Reich 4 ) und Flatten 5 ) hierher 

1) Arcbir f. experim. Pathologie und Pharmakologie. 1902. S. 1. 

2) 1. c. 

3) Dumont, Handb. d. allgem. u. lokalen Anästhesie. 1903. S. 112. 

4) Reioh, Wiener med. Wochenschr. 1893. Nr. 23—28. 

5) Flatten, Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1897. S. 240. 


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gehören, ist zweifelhaft, da der Nachweis der Bromäthylenanwendung 
in ihnen nicht erbracht ist. Die klinischen Erscheinungen wichen 
aber nicht wesentlich von den eben wiedergegebenen Beobachtungen 
ab. „Die Obduktion ergab das Bild einer akuten gelben Leberatrophie“ 
in dem Re ich sehen Falle 1 ), während Flatten 2 ) ausser der gleichen 
akuten parenchymatösen Erkrankung der Leber noch fettige Degene¬ 
ration des Herzmuskels und mehr oder minder ausgedehnte Blutungen 
in der Schleimhaut des Magens und des Dünndarms fand. 

Nach Rabuteau 3 ) wiesen Meerschweinchen, die alsbald nach Ein¬ 
atmung von Bromäthylendämpfen gestorben waren, keinen bemerkens¬ 
werten Sektionsbefund auf. 

Sch erbat sch eff 4 ), der zu seinen Versuchen Kaninchen und 
Hunde benutzte, sah einige Male „Reizung der Luftwege, Hyperämie 
der Lungen und partiellle Hepatisationen dieser.“ Die Krankheits¬ 
erscheinungen der Hunde zeigten weitgehende Analogien zu den beim 
Menschen beobachteten. 

Ich selbst habe an Kaninchen und Hunden experimentiert. Ich 
kann die letzterwähnten Beobachtungen Scherbatscheffs bestätigen. 
Bei allen Tieren, die nicht ganz akut unter der Einwirkung von 
Bromäthylendämpfen zu Grunde gegangen waren, fanden sich fettige 
bezw. körnige Degeneration des Myokards und der Nieren, sowie 
Blutungen in der Wand der Bronchien und in dem peribronchialen 
Gewebe. Manchmal xvaren diese nur mikroskopisch nachweisbar; in 
einigen Fällen, bei denen das Gift zum Teil subkutan oder intravenös 
eingespritzt w r orden w r ar, hatten die Hämorrhagien grössere Ausdehnung 
erreicht und waren verbunden mit gleichen Veränderungen des peri¬ 
bronchialen und peritrachealen Gewebes. Mehrfach sah ich auch bis 
etwa linsengrosse Blutungen in dem Lungenparenchym. Katarrhalisches 
Sekret fand sich in den Bronchien ständig vor. 

Einmal bin ich einer subepikardialen Blutung begegnet, die fast 
die ganze Hälfte des rechten Vorhofs einnahm (Hund, 7000 g schwer, 
subkutane Injektion von iy 2 ccm Bromäthylen, Tod nach 16 Stunden). 

Es konnte somit keinem Zweifel unterliegen, dass die Frau A. 
durch die Einatmung von ßromäthylen allein zu Grunde gegangen 


1) Siehe Anm. 4, S. 75. 

2) Siehe Anm. 5, S. 75. 

3) Rabuteau, Gaz. m£d. de Paris. 1877. 

4) Scherbatscheff, Arch. f. experim. Path. u. Pharmakologie. 1902. S. 1. 


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Ueber tödliche Bromäthyl- und Bromäthylen-Vergiftung. 


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war. Die dahin gehende Frage der Staatsanwaltschaft war also zu 
bejahen und ebenso die, ob die Schuld allein dem expedierenden 
Apotheker zuzumessen sei. Denn wenn man nicht Aethylbromid 
unmittelbar neben Aethylenbroraid riecht, ist ein Unterschied der Sub¬ 
stanzen durch einen Arzt im allgemeinen nicht festzustellen. Von 
einzelnen Autoren wird noch darauf hingewiesen, dass beim Verreiben 
des Aethylenbromids auf der Handfläche ein fettiger Rückstand zu¬ 
rückbleibt, während Aethylbromid hierbei unter Hervorrufen eines 
Kältegefühles völlig verdunstet wird. Dr. Kr. hatte aber seine Ver¬ 
ordnung auf dem Rezept durchaus sachgemäss getroffen, er hatte — 
bei der Exaktheit, mit welcher Rezepte in unseren Apotheken erledigt 
zu werden pflegen — keine Veranlassung, daran zu zweifeln, dass das 
ihm übermittelte Präparat Aethylbromid sei, und eine genauere Prüfung 
anzustellen. War seine Annahme zutreffend, so ist auch die Ver¬ 
wendung des verbrauchten Quantums als ein Kunstfehler nicht zu 
bezeichnen; denn es ist, wie Dr. Kr. als ihm bekannt angab, richtig, 
dass auch schon grössere Mengen als ca. 70 g ohne Schaden bei 
Erwachsenen in Anwendung gekommen sind. 

Der Apothekergehilfe, dem übrigens sein Chef das allerbeste 
Zeugnis ausstellte, w r urde zu einem Monat Gefängnis verurteilt. 

Ich halte dafür, dass es — im Hinblick auf die mehrfachen 
folgenschweren Verwechselungen des Aethylenbromids mit dem Aethyl¬ 
bromid und im Hinblick auf die pharmakodynamische Wertlosigkeit 
des Aethylenbromids — angezeigt ist, dieses aus den Apotheken zu 
entfernen oder wenigstens unter einer Bezeichnung zu führen, die eine 
Verwechselung mit dem Narkotikum ausschliesst. 

Herrn Professor Lesser danke ich zum Schluss für die Ueber- 
lassung des xMaterials und die freundliche Unterstützung bei Abfassung 
dieser Arbeit. 


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6 . 


Sympathiekuren . 1 

Von 

Gerichtsassessor Dr. jur. Albert Hellwig, Berlin-Friedenau. 


III. 

Id unserer modernen Volksmedizin, die ja bekanntlich kürzlich 
von zwei österreichischen Gelehrten eine ausgezeichnete zusammen¬ 
fassende Darstellung erfahren hat 2 ), finden sich noch die Spuren der 
verschiedensten Auffassungen über Entstehung von Krankheiten und 
demgemäss auch die verschiedensten Methoden, die Krankheiten zu 
heilen. 

Hauptsächlich auf dreierlei Weise sucht man sich das Krank¬ 
werden zu erklären. Eine ganz primitive Auffassung ist es, wenn 
man meint, der Kranke sei von einem bösen Geiste besessen, welcher 
die Krankheit verursache. Namentlich bezüglich der Geisteskranken, 
der sogenannten Besessenen, hat sich diese uralte Anschauungsweise 
auch heute noch bei den Kulturvölkern erhalten. Die Lehre von den 
Krankheitsdämonen ist vermutlich die älteste Theorie über Aetiologie 
der Krankheit. Später kam man auf den Gedanken, dass die Krank¬ 
heit wie auch sonstiges Unglück auf die schädlichen Zauberkünste 
böser Menschen zurückgehe. Die Periode des Zauberglaubens, in der 
sich die meisten Naturvölker befinden, ist auch von den unteren 
Schichten der europäischen Kulturvölker bei weitem noch nicht über¬ 
wunden, wie schon die zahlreichen modernen Hexenprozesse 3 ) jedem 


1) Vgl. auch diese Vierteljahrsschrift. 1909. Bd. 37. 2. Heft. S. 279 ff. 

2) v. Hovorkaund Kronfeld, Vergleichende Medizin. 2 Bände. Stuttgart 
1908 und 1909. 

3) Vgl. meine Abhandlungen „Ein moderner Hexenprozess“ (Archiv für 
Kriminalantbropologie und Kriminalistik“. Bd. 19), „Der böse Blick als Mord- 


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Sympathiekuren. 


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Kundigen zur Genüge erweisen. Deshalb glaubt auch der Bauer, 
wenn er oder sein Vieh krank wird, gar oft weit eher an alles andere 
als an natürliche Krankheitsursachen, und verschmäht es deshalb, 
den Arzt oder Tierarzt, die seine Theorie über Entstehung der Krank¬ 
heit nicht anerkennen, aufzusuchen, sondern geht weit lieber zu irgend 
einem bekannten „Hexenmeister“, um von ihm einen Gegenzauber 
vornehmen zu lassen, in der Hoffnung, dann von seiner Krankhei 
geheilt zu werden. Die meisten Sympathiekuren gehen auf diescnt 
Zauberglauben zurück. Eine dritte wichtige Theorie, deren Spuren 
man in der Volksmedizin unserer Tage noch nach weisen kann, ist die 
dem Mittelalter naheliegende Erklärung der Krankheiten als eine Strafe, 
die Gott für die Sünden der Menschheit verhängt hat. Diese Theorie, 
die im Buche Hiob ihre dogmatische Stütze findet und selbst von 
modernen Theologen noch hier und da verteidigt wird, hat viel Unheil 
im Gefolge gehabt, da sie die Herzen der Mitmenschen gegen die 
armen Kranken, insbesondere gegen die Geisteskranken, verhärtete, 
weil diese ja nur die Folgen ihrer Sünde zu tragen hatten. Auch war 
es eine natürliche Konsequenz dieser Anschauungsweise, dass man es 
vielfach gar für direkt sündhaft hielt, den armen Kranken zu helfen, 
da man fürchtete, auf diese Weise Gottes weisen Ratschluss zu durch¬ 
kreuzen 1 ). Dies sind die drei hauptsächlichsten Theorien der Volks¬ 
medizin über Entstehung von Krankheiten. Daneben finden sich freilich 
hier und da auch rationelle Anschauungen über Krankheitsursachen 
und demgemäss auch Verwendung rationeller Mittel zu ihrer Heilung. 
So mag insbesondere darauf hingewiesen werden, dass die Volks¬ 
medizin die therapeutische Bedeutung der Bäder und der Massage 
schon seit langem erkannt hat, und dass Knochenbrüche, Verrenkungen 
und ähnliches gar oft eine durchaus sachgemässe Behandlung gefunden 
haben. Doch diese Ansätze zu einer rationellen Behandlungsweise inter¬ 
essieren uns hier nicht, wo wir über Sympathiekuren handeln. 

Nach jenen drei Theorien geordnet wollen wir im folgenden kurz 


motiv“ (ebendort. Bd. 28), „Ein Fall von Körperverletzung infolge Hexenglaubens“ 
(Monatsscbr. f. Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform. Bd. 3) und mein Buch 
über „Verbrechen und Aberglaube“ (Leipzig 1908. S. 6—22). Den modernen 
Hexenglauben und seine kriminelle Bedeutung behandle ich demnächst mono¬ 
graphisch in dem „Gerichtssaal“. 

1) Vgl. Hugo Magnus, „Medizin und Religion in ihren gegenseitigen Be¬ 
ziehungen.“ Breslau 1902. S. 33f., und „Sechs Jahrtausende im Dienst des Aesku- 
lap“. Breslau 1905. S. 92 ff. 


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80 


Dr. Albert Hellwig, 


die hauptsächlichsten Mittel besprechen, welche das Volk noch heutigen 
Tages anwendet, um die Krankheit zu bekämpfen. In einem Schluss¬ 
abschnitt sollen sodann einige zusammenfassende Bemerkungen über 
die strafrechtliche Seite dieser Prozeduren gegeben werden. 

Der Glaube an Krankheitsdämonen als die Erreger von Krankheit 
ist, wie bemerkt, weit verbreitet. Schon die alten Babylonier kannten 
eine ganze Reihe von derartigen Krankheitsdämonen, und auch bei 
uns glaubt man vielfach noch, dass Krankheiten wie Gicht, Fallsucht 
und Wechsellieber in der Luft umherschweben und unvermutet den 
Menschen anpacken 1 ). Auch moderne katholische Geistliche und 
selbst manche orthodoxe protestantische Theologen halten an dem 
Glauben fest, dass Krankheiten durch dämonischen Einfluss entstehen 
können 2 ). Vielfach richten sie dadurch grosses Unheil an, w r ie mir 
namentlich durch das aktenmässige Studium des Hexenmordes zu 
Forchheim (1896) bekannt geworden ist 3 ). Dass auch die modernen 
Okkultisten ein Besessensein für möglich halten, sei nur nebenbei er¬ 
wähnt 4 ). 

Um die vom Krankheitsdämon oder nach christlicher Auffassung 
vom Teufel besessenen Kranken zu heilen, nimmt man vielfach allerlei 
Beschwörungen, vielfach durch Priester vor. Die bekannte Teufels¬ 
austreibung Wemding (1892), die ja damals viel Staub aufwirbelte 
und neuerdings durch die Affäre Wahrmund wieder aktuell geworden 
ist, ist ja wohl noch in aller Erinnerung 6 ). Viele ähnliche Fälle sind 
bekannt. 

Das Volk begnügt sich aber meistens nicht mit einfachen Be¬ 
schwörungen, sondern sucht die Kranken durch oft schwere Miss¬ 
handlungen, mitunter mit tödlichem Erfolg, von dem Krankheitsdämon 
zu befreien. Eine Reihe derartiger Fälle aus den verschiedensten 
Ländern habe ich schon früher geschildert. Viele weitere Parallelen 
liessen .sich beibringen, doch müssen wir an diesem Orte darauf ver¬ 
zichten 6 ). 

1) Vgl. mein Buch. S. 28 f. 

2) Ebendort. S. 30 ff. 

3) Vgl. insbesondere meine Arbeit „Der Hexenmord zu Forchheim“ („Der 
Pitaval der Gegenwart“). Bd. V. S. 170/195. 

4) Vgl. mein Buch. S. 32. 

5) Ebendort. S. 32 f.; vgl. L. Wahrmund, „Ultramontan“. München 
1908. S. 20 ff. 

6) Ebendort. S. 34ff. und meine im „Kosmos“ 1907, S. 228ff., veröffent¬ 
lichte Skizze „Zur Psychologie und Therapie der Besessenheit“. 


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Sympatbiekuren. 


81 


Auf den Glauben an Krankheitsdämonen geht es wohl auch 
zurück, wenn man Reliquien und ähnliche Gegenstände religiösen 
Charakters als besonders wirksame Heilmittel betrachtet. Man glaubt 
hierbei wohl, dass die heiligen Gegenstände den unreinen Geist am 
leichtesten zum Ausfahren aus dem Kranken veranlassen könnten. 
So wurde beispielsweise im Jahre 1905 berichtet, dass das Kamillianer- 
kloster in dem holländischen Grenzstädtchen Vaals einen schwung¬ 
haften Handel mit dem Staube aus den Steinen des Zimmers betreibe, 
welches der heilige Kamillus von Lellis, der Schutzpatron der Kranken 
und Hospitäler, bei Lebzeiten bewohnte. Nach der Gebrauchs¬ 
anweisung sollen die Kranken den Staub entweder in etwas Wasser 
aufgelöst einnehmen oder auf die offene Wunde streuen 1 ). 

Bei einer Reihe anderer Heilmittel, insbesondere dem Aus¬ 
räuchern, Backen, Kochen und der Verwendung von Exkrementen, ist 
es zweifelhaft, ob sie auf den Gedanken zurückgehen, die Krankheit 
sei von Dämonen verursacht oder aber sie beruhe auf Zauberei. 

In Steiermark lagert man vielfach die Kranken in die als Küche 
dienende Rauchstube und meint, dass das Herdfeuer den Krankheits¬ 
stoff verzehre 2 ). Menschen, die beschrieen sind oder sonst eine Krank¬ 
heit haben, werden mit Feuer aus neunerlei Holz beräuchert, wie uns 
schon die bekannte „Chemnitzer Rockenphilosophie“ lehrt 3 ). In Bos¬ 
nien und der Herzegowina zieht man in Familien, in denen bereits 
mehrere Kinder gestorben sind, das neugeborene dreimal durch das 
Rauchloch und legt es dann für einen Augenblick in den Kessel, 
welcher über dem offenen Herde an einer Kette hängt 4 )- Das Aus¬ 
räuchern von Kranken ist auch heute noch eine vielfach angewandte 
Methode, wie mir aus mehreren Prozessen, namentlich aus Bayern, 
bekannt ist. Der Glaube, dass man durch Ausräuchern mit den 
Knochen eines Juden den Typhus vertreiben könne, hat vor nicht 
allzu langer Zeit in Galizien zu einer Leichenschändung geführt 5 ). 


1) „Kieler Zeitung“ vom 8. November 1905. 

2) Fossel, Volksmedizin und medizinischer Aberglaube in Steiermark. 
2. Aull. S. 138. Graz 1888. 

3) U. Jahn, Die deutschen Opfergebräuche'bei Ackerbau und Viehzucht. 
S. 29. Breslau 1884. 

4) Leopold Glück, Skizzen aus der Volksmedizin und dem medizinischen 
Aberglauben in Bosnien und der Herzegowina in den „Wissenschaftlichen Mit¬ 
teilungen aus Bosnien und der Herzegowina“. Bd. 2. S. 412. Wien 1894. 

5) Am Urquell. 1890. S. 179 f. 

VierteljahrsBchrift f. ger. Med. u. Oft. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 1. g 


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Begreiflicherweise kann das Ausräuchern auch leicht schweren Schaden 
zur Folge haben, insbesondere da inan meistens stark schwälende 
Pflanzen benutzt, die gleichzeitig einen intensiven Geruch verbreiten 1 ). 
Hierher gehört der Fall aus Ungarn, über den ich schon berichtet habe. 

Mit dem Ausräuchern ist das Backen von Kranken, über das 
ich schon mehrfach eingehend berichtet habe 2 ), nahe verwandt. Das 
Backen besteht darin, dass der Kranke, mitunter in Brotteig ein¬ 
gehüllt, in den Backofen geschoben wird und hier einige Zeit ver¬ 
weilen muss. Schwere Verbrennungen, die mitunter den Tod zur 
Folge hatten, sind schon das Resultat dieses gefährlichen Heil¬ 
verfahrens gewesen. Besonders in Russland scheint das Backen 
von Kranken sehr beliebt zu sein, wofür ich einige weitere Belege 
anführen kann 3 ). Dass das Backen von Kranken aber auch in 
Deutschland noch vorkommt, habe ich schon nachgewiesen. Neuer¬ 
dings habe ich noch weitere literarische Belege aus dem Ende des 
achtzehnten Jahrhunderts gefunden. 

Mit dem Ausräuchern und Backen ist das Kochen von Kranken 
nahe verwandt. In Verbindung mit dem Ausräuchern lernten wir 
schon oben einen Fall kennen. Da das Kochen verhältnismässig 
selten vorkommt, mag dieser kurze Hinweis genügen. 

Auch bei der Verwendung von Exkrementen als Heilmitteln mag 
bald der Glaube wirksam sein, dass man die Krankheitsdämonen 
durch unangenehme Gerüche vertreiben kann, bald auch der andere 
gleichfalls weit verbreitete Gedanke vorherrschen, dass man zur Ver¬ 
treibung der angezauberten Krankheiten auch besonderer ungewöhn¬ 
licher Heilmittel bedürfe, wie wir dies weiter unten bei Behandlung 
der Edelsteinmedizin, bei der Erörterung der Diebstähle bei Heil¬ 
mitteln sowie bei der Besprechung der Verwendung von Menschenblut 
und Totenfetischen in der Volksmedizin noch näher kennen lernen 
werden. Schon Dioskurides weiss uns vielerlei von der Verwendung 
des Menschen- und Tierkotes zu erzählen 4 ). Das ganze Mittelalter 


1) Vgl. Max Bartels, Die Medizin der Naturvölker. S. 191. Leipzig 1893. 

2) Vgl. meine Abhandlungen: Der kriminelle Aberglaube in seiner Bedeutung 
für die gerichtliche Medizin. Aerztl. Sachverständigenzeitung. 1906. Nr. 16 ff. §7, 
sowie: Das Backen von Kranken, Archiv f. Kriminalanthropologie u. Kriminalistik. 
Bd. 28. S. 361 ff. und mein Buch S. 55ff. 

3) Vgl. das Hygienische Volksblatt. Bd. 4. S. 267ff. und Bernhard Stern, 
Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Russland. Berlin 1908. Bd. 2. S. 483 ff. 

4) Hovorka und Kronfeld, a. a. 0. Bd. 21. S. 246ff. 


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hindurch bildeten die Exkremente ein beliebtes Heilmittel, und schon 
beim Lesen der zahlreichen Rezepte, wie sie uns beispielweise Paullini 
in seiner berüchtigten „Dreckapotheke“ gibt, kann einem unwohl 
werden. Bedauerlicherweise hat sich auch dieses ekelhafte Heilmittel 
bis in unsere Tage erhalten. Nicht nur bei den Südslaven gelten 
Kot und Urin als probate Heilmittel 1 ), sondern auch in Deutschland 
und anderwärts 2 ). In Schwaben hält man bei geringen Wunden Um¬ 
schläge mit menschlichen Exkrementen für vorteilhaft 3 ), ebenso ver¬ 
fährt man in Ostpreussen mit veralteten Fusswunden 4 ), in Schlesien 
gilt besonders Kuhdung als vorzügliches Heilmittel 5 ) und in Posen 
muss man Geschwüre mit Exkrementen beschmieren, „dann ver¬ 
schwinden sie, denn sie ekeln sich davor“. In Steiermark dient 
Urin zur Reinigung von Wunden, und eine Krankenpflegerin wurde 
von einem Zuckerkranken gefragt, ob sie es gleichfalls für gut halte, 
wenn er, wie schon seit längerer Zeit, seinen Urin trinke. In Ostorf, 
im Dänischen Wohld, hilft das Trinken von Urin gegen Fieber. Noch 
zahlreiche ähnliche Mittel liessen sich anführen, doch kann man schon 
aus dem Beigebrachten ersehen, dass der Gedanke, welcher Paullinis 
Dreckapotheke zugrundelag, auch heute leider noch im Volke lebendig 
ist und mancherlei Schaden anrichtet. Man denke nur an die Kom¬ 
plikationen, welche durch die Behandlung offener Wunden mit Kot 
entstehen können! Bei einer derartigen septischen Wundbehandlung 
ist es geradezu ein Wunder zu nennen, wenn die Wunde dadurch 
nicht brandig wird und auch keine Blutvergiftung erfolgt. Hiermit 
verglichen ist das Auflegen von Spinngeweben auf offene Wunden, 
oder von Geldstücken, rohem Fleisch und ähnlichem, wodurch freilich 
auch schon oft genug Unheil entstanden ist 6 ), geradezu harmlos zu 
nennen! 

Ein weit verbreitetes und allgemein bekanntes Heilmittel ist das 


1) „Antropophyteia“, herausgegeben von Dr. Friedrich S. Krauss. Leipzig 
1907. Bd. 4. S. 335. 

2) Vgl. John G. Bonrke, „Compilation of notes and memoranda bearing 
upon tbe nse of hnman ordure and .haman urine in rites of a reiigious er semi- 
religious character among various nations.“ Washington 1888. 

3) G. Lammert, Volksmedizin und medizinischer Aberglanbe in Bayern and 
üen angrenzenden Bezirken. Würzburg 1869. S. 204. 

4) Am Urquell. Bd. 1. S. 136. 

5) Mitteilungen der schlesischen Gesellschaft für Volkskunde. H. 14. S. 91. 

6) Hierüber werde ioh nächstens im Archiv für Kriminalauthropologie und 
Kriminalistik berichten. 

6 * 


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Besprechen oder Besegnen. Wie schon früher ausgeführt, ist das 
Besprechen eines der unschädlichten Mittel der Volksmedizin, das 
sogar vielfach infolge der Heilkraft der Suggestion unbestreit¬ 
bare grosse Erfolge aufzuweisen hat 1 ). Das Besprechen von Krank¬ 
heiten ist uralt und lässt sich beispielsweise auch für Indien nach- 
weisen, und in Deutschland gehören Blutsegen zu den ältesten Denk¬ 
mälern der Literatur. Aus zahlreichen Prozessakten ist mir bekannt, 
wie überaus häufig derartige Segen in Deutschland noch gebraucht 
werden. Wie beispielsweise ein im Jahre 1902 vor dem Kreisgericht 
zu Stehr in Oberösterreich verhandelter Betrugsprozess gegen die 
Bäuerin Antonia Ortner zeigte, ist auch dort der Gebrauch von 
Krankheitsbeschwörungen noch gang und gäbe 2 ). Manchmal begnügt 
man sich nicht mit dem einfachen Sprechen von Zauberformeln, 
sondern verschluckt sie. So beispielsweise in Marokko, wo Schrift¬ 
kundige die Malaria behandeln, indem sie Koransprüche auf Oliven¬ 
blätter schreiben, diese dann auf ein Kohlenbecken werfen und die 
Kranken dann sieben Tage lang den Rauch je eines derartigen Blattes 
auffangen 8 ). 

Eigenartig ist der vermutlich auf biblische Analogien zurück¬ 
gehende Glaube, man könne durch Anhauchen dem Kranken gewisser- 
massen neue Lebenskraft einflössen, den Krankheitsstoff unschädlich 
machen, den Kranken heilen. Dieser Glaube ist das Widerspiel des 
uns aus dem Hexenglauben sowie aus der Sage vom Giftmädchen 
vertrauten Volksglaubens, gewisse Personen könnten schon durch 
ihren giftigen Atem einen anderen krank machen. Aehnlich wie man 
durch Verwünschungen und Zauberformeln jemand krank machen, 
andererseits aber auch durch Beschwörungen und Segen die Krankheit 
wieder heben kann, so kann man auch durch den Hauch nicht nur 
schaden, sondern auch heilen. Dies glaubt man beispielsweise 
in Bayern 4 ), in Baden 6 ), bei den Russen in der Bukowina, in 

1) H. Zahler, Die Krankheit im Volksglauben des Simmentals. Bern 1896. 
S. 228ff. Vgl. jetzt auch besonders meinen Aufsatz: „Zur Psychologie der Volks¬ 
medizin“ in „Moderne Medizin.“ Zeitschr. für Wissenschaft u. Soziologie. Berlin 
1910, besonders S. 85ff. 

2) Hygienisches Volksblatt. Bd. 3. S. 174. 

3) Quedenfeld, Krankheiten, Volksmedizin und abergläubische Kuren in 
Marokko. Das Ausland. 1891. Bd. 64. S. 96. 

4) Lammert, a. a. 0. S. 125. 

5) Elard Hugo Meyer, Badisches Volksleben im neunzehnten Jahrhundert. 
Strassburg 1900. S. 562, 566. 


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China 1 ) und bei vielen Naturvölkern 2 ). Vor Einigen Jahren hatte sich 
ein Wunderdoktor zu verantworten, welcher einem an heftigen Anfällen 
von Atemnot leidenden einen Lappen auf eine Brustseite gelegt und 
dabei mit Emphase gesprochen hatte: „Ich blase Dir den lebendigen 
Odem ein“! Jedes Anhauchen mit lebendigem Odem kostete nur einen 
Taler. Seltsamerweise ist noch vor wenigen Jahrzehnten von einem 
Arzte die Anschauung vertreten worden, dass der Atem, die Aus¬ 
dünstung gewisser Personen bald heilsam, bald nachteilig wirken 
könne 3 ). Weniger wunderbar ist es, dass ein bekannter Spiritisten¬ 
führer den Zauberern der Indianer am Amazonenstrom die Fähigkeit 
zuschreibt, durch ihren Atem — „also durch einen magnetischen 
Akt“, wie er erklärend hinzusetzt — Wunden zu heilen und ihre 
Feinde fernwirkend mit Krankheit zu schlagen. Auch von einem 
modernen Magnetopathen wird berichtet, welcher diese Theorie in die 
Wirklichkeit umsetzte, und zum Schluss der Behandlung seine Kranken 
durch eine Glasröhre anzublasen pflegte 4 ). 

Vielfach beseitigt man die Krankheit, indem man sie vergräbt. 
So reiht beispielsweise in Oldenburg der Kranke so viel Gerstenkörner 
auf einen Faden, so oft er das Fieber gehabt hat und vergräbt ihn 
dann vor Sonnenaufgang an einem Wege. Sobald dann die Körner 
aufgegangen sind, ist auch das Fieber verschwunden. In Westpreussen 
vertreibt man den sogenannten Weichselzopf, indem man ein Büschel 
von den Haaren des Kranken zusammen mit einem Stück Geld in 
einem Topf in die Erde vergräbt, und in Böhmen hilft es gegen 
Hühneraugen, wenn man sie dreimal mit einem Haferstengel bestreicht, 
dann mit einem Faden, in den man Knoten gemacht hat und diesen 
sodann in eine Zwiebel steckt und mit ihr vergräbt 6 ). Besonders 
häufig wendet man das Vergraben zur Beseitigung von Warzen an. 
Ausserdem spielt hier noch der Gedanke an die Zaubernatur von 
Knoten mit hinein. So muss man beispielsweise in Tirol in einen 
Faden so viel Knoten machen, als man Warzen hat und den Faden 

1) Freiherr v.d. Goltz, Zauberei und Hexenkünste, Spiritismus und Schama¬ 
nismus in China. Mitteilungen d. deutschen Gesellsch. f. Natur- u. Völkerkunde 
Ostasiens in Tokio. 1893. H. 51. S. 11. 

2) Bartels, a. a. 0. S. 127. 

3) Dr. Georg Friedrich Most, Die sympathetischen Mittel und Kur- 
methoden. Rostock 1842. S. 81. 

4) Hygienisches Volksblatt. Bd. 3. S. 15. 

5) Vgl. Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart. Dritte 
Bearbeitung von Elard Hugo Meyer. Berlin 1900. § 491 ff. 


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dann unter eine Daehrinfle vergraben. In Pommern schlingt man um 
die Warze mit einem Faden einen Knoten, als wolle man sie abbinden 
und vergräbt diesen dann gleichfalls unter die Dachtraufe oder auch 
unter die Stallschwelle oder an einen beliebigen anderen recht feuchten 
• Ort, der aber weder von der Sonne noch von dem Mond beschienen 
werden darf. Dies Vergraben von Krankheiten ist ein Gegenstück 
zu der universalen Prozedur des envoütements, welches darin besteht, 
dass man Gegenstände, die mit einem Feinde, den man töten will, in 
irgend einer Beziehung stehen, so beispielsweise'Abfälle seiner Haare, 
Nägelschnitzel, Stücke seines Eigentums, sein Bild usw. vernichtet 
und meint, dass dann auch der Feind sterben müsse. 

Auf einem ähnlichen Gedanken wie das Vergraben von Krank¬ 
heiten beruht das Uebertragen von Krankheiten auf leblose Gegen¬ 
stände, auf Pflanzen, Tiere und Menschen. 

In Oberbayern zog man früher brüchige Kinder durch Erdlöcher 
oder ein Holzspalt. Ob man hierdurch, wie ein gelehrter Kenner der 
Volksmedizin meint, eine auf urzeitlichen Anschauungen beruhende 
Wiedergeburt des Kindes vornehmen wollte *) oder ob man nicht viel¬ 
leicht glaubte, die Krankheit abzustreifen und auf die Erde oder den 
Baum zu übertragen, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist dies 
Durchziehen ein viel gebräuchliches Mittel. In Bosnien und der Her¬ 
zegowina zwängen sich Kranke durch Höhlen in Mauern und in Steinen 
hindurch oder unter Wurzeln von Nussbäumen und durch gespaltene 
Stämme von wilden Rosen 1 2 ). Dieses, wie aus einer Stelle der De- 
kretalen des Burchard von Worms hervorgeht, schon vor einem Jahr¬ 
tausend in Deutschland gebräuchliche Heilmittel wird auch heute noch 
vielfach angewandt, so beispielsweise in Hessen 3 ), in Steiermark 4 5 ) und 
bei den Zigeunern 6 ). Auf demselben Gedanken beruht das bei zahl¬ 
reichen Völkern nachgewiesene Verfahren, Krankheiten zu heilen, in- 


1) M. Höfler, Volksmedizin und Aberglaube in Oberbayerns Gegenwart und 
Vergangenheit. München 1888. S. 206. 

2) Lilek, Volksglaube und volkstümlicher Kultus in Bosnien und der Her¬ 
zegowina. In den wissenscbaftl. Mitteilungen aus Bosnien und der Herzegowina. 
Wien 1896. Bd. 4. S. 485. 

3) Wilhelm Kolbe, Hessische Volkssitten und Gebräuche im Lichte der 
heidnischen Vorzeit. Marburg 1886. S. 62 ff. 

4) Fossel, a. a. 0. S. 76 ff. 

5) v. Wislocki, Volksglaube und religiöser Brauch der Zigeuner. Münster 

i. W. 1891. S. 118. 


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dem man Kleidungsstücke des Kranken usw. auf Bäume hängt und 
dadurch auf diese „Lappenbäume“ die Krankheit überträgt 1 ). 

Auch das Einpflöcken von Krankheiten in Bäume beruht auf dem 
gleichen Gedanken 2 ). Das Einpflöcken besteht darin, dass man Aus¬ 
scheidungen des kranken Körpers oder sonstige mit dem Patienten in 
enger Beziehung stehende Gegenstände in einen Baum setzt, den man 
zu diesem Zwecke angebohrt hat und dann die Oeffnung wieder ver- 
schliesst. Man glaubt, auf diese Weise besonders Zahnschmerzen und 
Brüche heilen zu können, aber auch Gelbsucht, Abzehrung, Kopf¬ 
schmerzen und andere Krankheiten. Fast immer sieht man es für 
ein günstiges Zeichen an, wenn der Baum den Krankheitsstoff ab¬ 
sorbiert und kräftig weiterwächst. Wie ich an zwei Prozessen nach- 
gewiesen habe, beschäftigt dieser uralte Brauch mitunter auch heute 
noch unsere Gerichte. Bei der Strafabmessung wird man als straf¬ 
mildernd in weitgehendem Masse berücksichtigen müssen, dass sich 
der Kranke, einem alten Volksbrauch folgend, von einer Krankheit 
befreien will und nicht etwa beabsichtigt, den Baum zum Absterben 
zu bringen. 

Aber nicht nur auf Pflanzen und leblose Dinge werden Krank¬ 
heiten übertragen, sondern auch auf Menschen und Tiere. In Böhmen 
beispielsweise geht der Fieberkranke vor Sonnenaufgang in den Wald, 
nimmt aus einem Schnepfenneste ein Junges, behält es drei Tage bei 
sich und lässt dann die Schnepfe wieder fliegen. Sie nimmt dann 
das Fieber mit sich fort. Auf Hunde überträgt man in Oldenburg 
die Krankheit, indem man einen starken Bissen Butterbrot kaut und 
sodann dem Hunde zu fressen gibt. Warzen bestreicht man in Baden, 
Thüringen, Mecklenburg und anderwärts mit einer Waldschnecke und 
steckt die dann auf einen Weissdorn oder einen Stock; sobald die 
Schnecke stirbt, verschwinden auch die Warzen, da sie auf die Schnecke 
übertragen sind. In Thüringen bestreicht man einen Kranken mit 
einem Ei oder mit einer ganzen Zitronenschale und legt dies dann auf 
einen Weg; wer es aufnimmt, erhält auch die Krankheit. Deshalb 
verbietet auch der Volksglaube allgemein, gefundene Dinge leichtfertig 
aufzunehmen. In Brandenburg und Oldenburg vertreibt man Ge¬ 
schwüre dadurch, dass man das daraufgelegte Pflaster auf einen Kreuz- 

1) E. S. Hartland, The legend of Persent. London 1895. Bd. 2. S. 186 fT. 

2) Vgl. meinen Aufsatz über: Das Einpflöcken von Krankheiten. Im 
„Globus“ 1906 und mein Buch S. 58 ff. Einen weiteren praktischen Fall schildere 
ich in einem der nächsten Hefte des Archivs für Kriminalanthropologie. 


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weg legt; man meint dann, dass derjenige, der darübergeht, die Ge¬ 
schwüre bekommen werde 1 ). Diese Mittel können freilich kein allzu 
grosses Unheil anrichten. 

Höchst gefährlich ist dagegen der Brauch des Uebertragens von 
Krankheiten auf Menschen und Tiere, insofern als er zu Unzucht mit 
Tieren, mit kleinen Kindern und zur Notzucht führt. Die christlichen 
Balkanvölker in der Türkei meinen, man könne einen Tripper los 
werden, wenn man ein zartes Mädchen gebrauche 2 ). Gleiches glaubt 
man in Bayern 3 ), Steiermark 4 ), in Ungarn 5 ) und anderwärts 6 ). Zahl¬ 
reiche Materialien über diesen schrecklichen Aberglauben habe ich in 
den letzten Jahren gesammelt und werde sie demnächst im Zusammen¬ 
hänge veröffentlichen; deshalb mag es mit den mitgeteilten Belegen 
sein Bewenden haben. Ich möchte nur noch bemerken, dass dieser 
Aberglaube schon verschiedentlich gerichtlich konstatiert worden ist 7 ) 
und dass ich vermute, dass er häufiger das eigentliche Motiv von 
Sittlichkeitsverbrechen an Kindern ist, als man im allgemeinen an¬ 
nimmt 8 ). Statt des Koitus mit einer Jungfrau oder der Unzucht mit 
Kindern kommt auch Sodomie mit Hennen, Stuten, Gänsen und anderen 

1) Wuttke, a. a. 0. § 482 ff. 

2) Bernhard Stern, Medizin, Aberglaube und Geschlechtsleben in der 
Türkei. Berlin 1903. Bd. 2. S. 232. 

3) G. Lammert, Volksmedizin und medizinischer Aberglaube in Bayern 
und den angrenzenden Bezirken. Würzburg 1869. S. 259. 

4) Viktor Fossel, Volksmedizin und medizinischer Aberglaube in Steier¬ 
mark. Graz 1888. 2. Aull. S. 124. 

5) Ferdinand Bronts, Volksmedizin in Südungarn. Ethnologische Mit¬ 
teilungen aus Ungarn. Budapest 1904. Bd. 6. S. 53; Mor. Kacser, Volks¬ 
medizin und Aberglaube beim slovakischen Volke in Oberungarn. Wiener med. 
Wochenschr. 1907. Nr. 32 ff. Separatabdruck S. 9. 

6) Hermann Friedberg, Die Lehre von den venerischen Krankheiten in 
dem Altertum und Mittelalter. Berlin 1865. S. 76; F. Chr. B. Av6-Lallemant, 
Der Magnetismus mit seinen mystischen Verirrungen. Leipzig 1881. S. 36. 

7) Vgl. Lammert 1. c. Fossel 1. c., Wuttko a. a. 0. §484. Kryptadia. 
Bd. 6. S. 236, zit. von Iwan Bloch; Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia 
sexualis. Dresden 1903. S. 248; Hirt, Die versuchte Heilung der Gonorrhea 
maligna durch den Beischlaf mit einem unreifen Mädchen. Friedreichs Blätter für 
gerichtliche Anthropologie. 1854. Bd. 5. Heft 4. S. 3—8. 

8) Vgl. meine zitierte Abhandlung in der ärztl. Sachverständigenzeitung. 
§ 10, meino Umfrage über Volksglaube und Sexualdelikte. Anthrophyteia, Jahr¬ 
bücher fürfolkloristische Erhebungen und Forschungen zur Entwicklungsgeschichte 
der geschlechtlichen Moral. Leipzig 1906. Bd. 3. S. 261 sowie meine Skizze über 
Sittlichkeitsverbrechen aus Aberglauben. Archiv für Kriminalanthropologie und 


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Tieren 1 ) vor. Mitunter kommt auch Päderastie vor 2 ). Auch hierüber 
werde ich in der eben erwähnten Abhandlung zahlreiche Materialien 
beibringen. Wichtig ist, dass im allgemeinen der Glaube vorzu¬ 
herrschen scheint, dass, analog wie beim Einpflöcken die Krankheit 
zwar auf die Bäume übertragen wird, diese aber die Krankheit über¬ 
winden und weiter gedeihen sollen, so auch die venerischen Krank¬ 
heiten zwar auf die Jungfrauen, Kinder oder Tiere übertragen werden 
sollen, aber derartig, dass sie den Krankheitsstoff, ohne selbst ernstlich 
krank zu werden, aufsaugen und absorbieren. Dies ist wichtig für 
die Frage, welche Bedeutung dieser Aberglaube für die Strafzu¬ 
messung haben soll. 

Eine grosse Rolle hat in der Volksmedizin wie auch früher in 
der gelehrten Medizin die Verwendung von Tier- und Menschenblut 
als Heilmittel gespielt. Wir wollen uns hier nicht mit der Frage be¬ 
schäftigen, wie sich die Verwendung des Blutes als Heilmittel erklärt, 
ob sie ein Rest des alten Opferkultus ist oder nicht 3 ), für unsere 
Zwecke genügt es zu konstatieren, dass man das Blut von jeher für 
einen besonderen Saft gehalten und das ßluttrinken als eine besonders 
wirksame Heilprozedur erachtet hat. So wendet man beispielsweise 
in Steiermark gegen Schlagfluss ein Bad in Ochsenblut an 4 ). In 
Bayern gelten noch heutigen Tages Ochsenblutbäder als treffliches 
Mittel gegen Kraftlosigkeit und lähraungsartige Schwäche der Glied¬ 
massen und in Amerika wird in den städtischen Schlachthäusern das 
frische Blut von Kranken getrunken 5 ). In Littauen gibt man ver¬ 
rufenen Kindern drei Blutstropfen ein, welche man aus dem linken 
Ohr eines schwarzen Schafes oder Lammes genommen hat, und in 
Schwaben glaubt man, dass Wieselblut gegen den Kropf helfe 6 ). Ganz 

Kriminalistik. Leipzig 1908. Bd. 30. S. 373, nnd meinen in einem der nächsten 
Hefte der „Modernen Medizin“ erscheinenden ausführlichen Aufsatz über „Sittlich¬ 
keitsverbrechen ans abergläubischen Motiven“. 

1) Lammert, a. a. 0. S. 259; Bloch, a. a. 0. S. 278; Bernhard 
Stern, a. a. 0. Bd. 2. S. 220 ff. 

2) Bernhard Stern, a. a. 0. Bd. 2. S. 217; Friedrich S. Kraus, 
Südslavische Volksüberlieferungen, die sich auf den Geschlechtsvorkehr beziehen. 
Anthropophyteia. Leipzig 1905. Bd. 2. S. 393 ff. 

3) Vgl. darübor insbesondere Magnus, Die Organ- und Bluttherapie. Breslau 
1906, und Höfler, Die volksmedizinische Organotherapie und ihr Verhältnis zum 
Kultopfer. Stuttgart, Berlin, Leipzig 1908. 

4) Fossel, a. a. 0. S. 90. 

5) Höfler, a. a. 0. S. 9. 

6) Hovorka und Kronfeld, a. a. 0. S. 80. 


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besonders wirksam ist natürlich Menschenblut. So sollen die Holländer 
früher auf Island rothaarige Kinder gekauft haben, um aus ihrem 
Blute kostbare Medizinen zu fertigen 1 ), und in Portugal wurde noch 
im Jahre 1901 eine Frau verhaftet, welche kleine Kinder in ihr Haus 
lockte, ihnen die Hand aufritzte und das herausquellende Blut in 
einem Gefäss auffing und sammelte, weil man diesem Blut dort eine 
besondere Heil- und Zauberkraft zuschreibt 2 ). Für besonders wirksam 
besonders gegen Fallsucht hält man das Blut von Hingerichteten. 
Schon Plinius berichtet diesen Brauch 3 ), und solange die Hinrich¬ 
tungen bei uns öffentlich waren, drängten sich Fallsüchtige hinzu und 
erbaten und erhielten oft die Erlaubnis, das hervorsprudelnde Blut 
der Delinquenten zu trinken 4 ). Dass durch diesen Aberglauben zahl¬ 
reiche Verbrechen veranlasst worden sind, unterliegt keinem Zweifel, 
und schon in der bisherigen Literatur sind hierher gehörige Fälle dar¬ 
gestellt worden. So schlugen beispielsweise im Januar 1874 ein 
Landschullehrer im Kreise Strassburg und seine Frau auf den Rat 
einer Somnambule ihre eigene Tante mit der Feuerzange, bis Blut 
floss, und benetzten dann ihr krankes Kind, welches sie von der Miss¬ 
handelten behext glaubten 5 ). Im Jahre 1904 wurde von dem Land¬ 
gericht zu Thorn eine Frau zu 30 M. Geldstrafe verurteilt, weil sie 
eine Frau, auf deren Hexenkünste sie die Epilepsie ihres Sohnes 
zurückführte, blutig geschlagen und mit dem Blute den Kranken be¬ 
strichen hatte 6 ). Ein im Jahre 1861 hingerichteter Mörder Bellenot 
aus dem Bernerischen Jura gestand, den Mord nur deshalb vollbracht 
zu haben, um das Blut der Ermordeten zu trinken und sich dadurch 
von der Epilepsie zu befreien 7 ). In Ostasien kommt es noch öfters 
vor, dass aus Blut und aus Menschenfleisch wirksame Medizinen ge- 


1) Feilberg, Totenfetische im Glauben nordgermanischer Völker. Am Ur¬ 
quell. 1892. Bd.3. S. 7. 

2) Arved Strafen, Blutmord, Blutzauber, Aberglaube. S. 85. Anm. 
Siegen i. W. 1901. 

3) Hovorka und Kronfeld, a. a. 0. S. 78f. 

4) Vgl. mein zitiertes Buch. S. 67 f. 

5) Vgl. mein zitiertes Buch. S. 69. 

6) Vgl. meine Skizze: Ein Fall von Körperverletzung infolge des Hexen¬ 
glaubens. Monatsschr. f. Kriminalpsycbologie und Strafrechtsreform. 1906. Bd. 3. 
S. 219—223. Ein ähnlicher Fall ereignete sich im Sommer 1907 in Lötzen; vgl. 
über ihn meine Skizze: Hexenglaube und Blutkuren. Archiv f. Kriminalanthropo¬ 
logie und Kriminalistik. Bd. 30. S. 376 f. 

7) Strack, a. a. 0. S. 61. 


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braucht werden, besonders gegen die Lepra. Im Jahre 1905 wurde 
aus Japan ein derartiger Fall berichtet, in welchem dieser Aberglaube 
zu einem Morde Anlass gab 1 ). Auch Leichenschändungen kommen 
infolge dieses Aberglaubens vor, so wurden in Kjelce im Jahre 1886 
zwei Bauern zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie zwei Gräber 
von Juden geöffnet, die Leichen herausgenomraen und in Stücke zer¬ 
schnitten hatten, um sie zu Medizinen zu verarbeiten 2 3 ). Mit diesem 
Blutaberglauben und dem damit zusammenhängenden an die Talisman¬ 
natur menschlicher Körperteile muss der Gerichtsarzt stets rechnen. 
Wenngleich man den Glauben an einen Ritualmord der Juden wissen¬ 
schaftlich nicht rechtfertigen kann, darf man andererseits — wie dies 
einige übereifrige Bekämpfer des Ritualmordglaubens tun 8 ) — nicht 
ausser acht lassen, dass ein Mord aus Blutaberglauben auch heutigen 
Tages noch sehr wohl Vorkommen kann, auch bei abergläubischen 
Juden 4 ). Dass der Blutaberglaube sogar zum Wilddiebstahl führen 
kann, zeigt ein interessanter Prozess, der sich vor einigen Jahren vor 
dem Schöffengericht in Oelde abspielte. Ein Metzger hatte einen 
kranken Sohn, bei dem alle angewandten Mittel versagten. Da riet 
ein Freund dem unglücklichen Vater, eine trächtige Häsin zu schiessen, 
die Jungen herauszunehmen und sie so wie sie seien mit Haut und 
Haar, mit Speck und Dreck und Fett seinem Sohn zu essen zu geben. 
Der abergläubische Vater ging infolgedessen auf die Hasenjagd, wurde 
aber abgefasst und unter Berücksichtigung des abergläubischen Motives 
zu einer Geldstrafe von 15 M. verurteilt 5 * * ). 

1) Vgl. mein Buch. S. 65 f. 

2) Vgl. Strack, a. a. 0. S. 63. 

3) Vgl. insbesondere Nuss bäum, Der psychopathische Aberglaube. Zeit¬ 
schrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. 1906; sowie meine ebendort 1909 
erschienene Abhandlung über Blutmord und Aberglaube: Tatsachen und Hypo¬ 
thesen, und jetzt auch Nussbaum, Ueber Morde aus Aberglauben, ebendort 1910. 
In einer Reihe von ausführlichen Spezialabhandlungen werde ich nunmehr in 
Kürze die in der Kontroverse zwischen Nuss bäum und mir angeschnittenen 
Fragen behandeln und ausserdem wahrscheinlich in der Zeitschrift für die gesamte 
Strafrechtswissenschaft eine allgemeine Entgegnung veröffentlichen. 

4) Vgl. Hans Gross, Psychopathischer Aberglaube. Archiv f. Kriminal¬ 
anthropologie und Kriminalistik. Bd. 9. S. 253 und Bd. 12. S. 334, sowie meine 
Abhandlung über: Unsinnige Blutmordgerüchte. Ebendort. Bd. 31. S. 88—93. 

5) Vgl. mein Buch. S. 64. Wie sich aus der volkskundlichen Literatur nach- 

weisen lässt, ist ein derartiger Aberglauhe tatsächlich bekannt. Ich hoffe, den in 

seiner Art wohl einzigartigen Fall demnächst in dem „Pitaval der Gegenwart“ 

aktenmässig darzustellen. 


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Dr. Albert Hellwig, 


Derselbe Gedanke, der auch bei der Verwendung von Blut jeden¬ 
falls mitwirksam sein dürfte, dass nämlich Heilmittel, die besonders 
schwierig zu erlangen sind, auch besonders wirksam sind, wird wohl 
auch dazu geführt haben, dass man Edelsteine schon im Mittelalter 
zur Heilung von Krankheiten verwendet hat und auch heute noch an 
ihre Heilkraft glaubt 1 ). In Bayern trug man früher in Silber ge¬ 
fasste Adler- und Blutsteine als Heilmittel 2 ). Im Mittelalter galt der 
Smaragd als gut gegen die fallende Sucht, der Jaspis stillte Nasen¬ 
bluten und blutende Wunden, der Achat machte den Biss von 
Skorpionen und giftigen Schlangen unschädlich usw. 3 ) Der Papst 
Clemens VII. bekam im Jahre 1534, als er totkrank darniederlag, ein 
Diaraantpulver verordnet, welches nicht weniger als 3000 Dukaten 
kostete, aber dennoch nichts half, und König Ludwig XIV. bekam im 
Jahre 1655 auf Rat seines Arztes Vallottäfelchen, in denen Gold und 
Perlen enthalten waren 4 ). Diese Beispiele werden genügen, um die 
Edelsteinmedizin kurz zu skizzieren. Zwei Verbrechen, welche auf 
medizinischen Aberglauben zurückgehen, nämlich Bettelei und Dieb¬ 
stahl zu Heilzwecken, sind gleichfalls durch den Gedanken beeinflusst, 
dass schwer zu erlangende oder auf absonderliche Weise erlangte Heil¬ 
mittel auch besonders wirksam sein müssen. 

In der Pfalz gebraucht man beispielsweise folgendes Mittel gegen 
die Gicht: Man trägt „Gichtringe“, welche ein Schmied aus 17 „um 
Gotteswillen“ gesammelten Kupferkreuzern gefertigt hat, und in 
Franken metallene Ringe, die für erbetteltes Geld, für welches man 
sich nicht bedankt hat, angeschafft sein müssen 5 ). In der Steiermark 
gibt man schwerredenden Kindern erbetteltes Brot zu essen 6 ) und 
nach der Chemnitzer Rockenphilosophie hilft ein aus erbettelten 

1) Vgl. H. Fühner, Beiträge zur Geschichte der Edelsteinmedizin. Berichte 
der Deutschen pharmakologischen Gesellschaft. 1901. Bd. 10. S. 435—441; 

R. G. Curtin, The medical superstitions of precious stones, including notes on 
the therapeutic of other stones. Bull, of the American Academy med. Bd.7. Phila¬ 
delphia 1907; Otto Stoll, Das Geschlechtsleben in der Völkerpsychologie. 

S. 407 ff. Hiorzu habe ich viele ergänzende Materialien gesammelt, die ich in Bälde 
in einer volkskundlichen Zeitschrift veröffentlichen werde. 

2) Lammert, a. a. 0. S. 31. Anm. 2. 

3) Carl Meyer, Der Aberglaube des Mittelalters und der nächstfolgenden 
Jahrhunderte. S. 56 f. Basel 1884. 

4) Hovorka und Kronfeld, a. a. 0. S. 107. 

5) Lammert, a. a. 0. S. 267. 

6) Fosselt, a. a. 0. S. 67. 


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Sympathieknren. 


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Pfennigen gemachter silberner Ring wider alle Krankheiten 1 ) Im 
Kanton Zürich wendet man gegen Zahnschmerzen folgendes Mittel an: 
Man geht in ein fremdes Haus und verlangt ein Stückchen Brot, das 
man ohne ein Wort des Dankes und ohne Abschiedsgruss nehmen 
muss; man geht dann zu einem Haufen Waldameisen, kaut das Brot 
und lässt es in den Ameisenhaufen fallen; dann verlieren sich die 
Zahnschmerzen 2 ). 

Womöglich noch wirksamer sind die Heilmittel, wenn man sie 
gestohlen hat. In drei Abhandlungen habe ich schon eine grosse 
Anzahl hierhergehöriger Anschauungen zusammengetragen 3 ) und auch 
schon einen forensischen Fall, in welchem dieser Aberglaube praktisch 
geworden ist 4 ). Seitdem habe ich schon wieder zahlreiche neue 
Materialien gesammelt; ein Beweis dafür, dass dieser Aberglaube weit 
verbreitet sein muss. In Nordamerika heilt man Warzen, indem man 
sie mit gestohlenem Speck, den man nachher verbirgt, einreibt 5 ). In 
Braunschweig hilft es gegen das sogenannte „Ueberbein“, wenn man 
vom Nachbarn einen Lederriemen stiehlt und diesen drei Nächte lang 
um die betreffende Hand oder den Fuss bindet 6 ). In Serbien gibt 
man einem Kind, das nur schwer sprechen' lernt, Brot oder sonst 
etwas, das man aus dem Bettelsack einer schnorrenden Zigeunerin 
entwendet hat 7 ). In Oldenburg hilft gestohlener Speck nicht nur gegen 
Warzen, sondern auch gegen Fieber 8 ). In Schlesien stiehlt man von 
dem Hackklötze des Fleischers oder auch von des Tischnachbarn 
Teller ein Stückchen Fleisch, bekreuzt damit dreimal die Warze und 
vergräbt dann das Fleisch unter einer Traufe 9 ). 

1) Jakob Grimm, Deutsche Mythologie. Anhang. Nr. 352. S. 81. 
Göttingen 1835. 

2) Zahler, a. a. 0. S. 222. Anm. 6. 

3) Vgl. meine Abhandlungen „Diebstahl aus Aberglauben“. Archiv für 
Kriminalanthropologie und Kriminalistik. Bd. 19 und 26; sowie „Diebstahl aus 
abergläubischen Motiven“. Gerichtssaal. Bd. 1—74. 

4) Vgl. „Der Gerichtssaal“. Bd. 74. S. 239. 

5) Klöpper, Clemens, Folkloro in England und Amerika. Dresden und 
Leipzig. 1899. S. 49. 

6) Andree, Richard, BraunschweigerVolkskunde. 2. Aufl. Braunschweig. 
1901. S. 421. 

7) Gjorgjevic, Tihomir R., DieZigeuner in Serbien. Teil I, Mitteilungen 
zur Zigeunerkunde. Budapest. 1903. S. 51. 

8) Strakerjan, a. a. 0. Bd. 2. S. 83. 

9) Drechsler, Sitte, Brauch und Volkglaube in Schlesien. Bd. 2. Leipzig. 
1906. S. 286. 


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Dr. Albert Hellwig, Sympathiekuren. 


Um den Stoff nicht allzusehr auszudehnen, will ich weitere Einzel¬ 
heiten über Sympathiekuren nicht anführen. Wer sich für die Details 
interessiert, wird das Nähere in den angezogenen Werken von Wuttke 
und jetzt besonders in dem Standard work von Hovorka und Kron- 
feld finden. Freilich legen beide Werke naturgemäss weniger auf den 
kriminalistischen Standpunkt Gewicht als auf den volksmedizinischen. 
Für forensische Zwecke dürfte aber in der Regel die kurze Skizzierung, 
die ich oben gegeben, genügen. Aufs eingehendste, unter Anführung 
der gesamten von mir im Laufe der Jahre gesammelten Materialien 
werde ich auch dies Problem in meinem schon in Angriff genommenen 
zusammenfassenden Werke über den kriminellen Aberglauben behandeln; 
freilich wird die Fertigstellung des Buches noch lange Zeit auf sich 
warten lassen. Vielleicht werde ich später noch, auch an dieser Stelle, 
auf das Problem zurückkommen, insbesondere an einer Reihe akten- 
mässiger Fälle zeigen, dass und in welcher Weise die dargestellten 
volksmedizinischen Anschauungen und Bräuche auch heutigen Tages 
noch vor Gericht zur Sprache kommen. Freuen sollte es mich vor allem 
auch, wenn ich den einen oder andern Arzt, besonders einen Gerichts¬ 
arzt, durch meine kleine Skizze angeregt hätte, sich intensiver gerade 
vom gerichtsärztlichen Standpunkte aus mit den behandelten Problemen 
zu befassen. 


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7. 


Beitrag zur Lehre vom Erhängungstode. 

Von 

Dipl.-Ing. C. Krag, Frankfurt a. M. 

In einem kurzen Artikel, der obige Bezeichnung trägt und im 
2. Heft des XXXVIII. Bandes dieser Vierteljahrsschrift erschienen 
ist, stellt sich Dr. Angelo de Dominicis die Frage: „Welche Kraft 
wirkt auf das .Strangwerkzeug während des Erhängens und in welcher 
Beziehung steht diese Kraft zum Gewicht des einfach hängenden 
Körpers?“ Er sucht die Aufgabe auf dem Wege des Versuches zu 
lösen und kommt zu dem Ergebnis, dass die Beanspruchung des 
Stranges während des Erhängens etwas mehr als doppelt so gross 
ist, als der Wirkung der toten Last entspricht. 

Die nachstehende Untersuchung zeigt, dass die angeführten Ver¬ 
suche die Frage nach der Beanspruchung des Stranges nicht ein¬ 
wandfrei zu lösen vermögen und dass weit höhere Beanspruchungen, 
als wie Dr. Angelo de Dominicis sie gefunden hat, auftreten 
können; sie gibt ferner Aufschluss, wovon die Grösse der auftretenden 
Zusatzkräfte abhängig ist. 

Die vorliegende Frage lässt sich nicht nur auf dem Wege des 
Versuchs, sondern auch durch Rechnung verfolgen. Von vornherein 
möge aber bemerkt werden, dass die Rechnungsgrundlagen in diesem 
schwierigen Gebiete keine so sicheren sind, dass man eine Lösung 
als eine exakte beanspruchen könnte. Die Rechnung kann der Be¬ 
stätigung oder Richtigstellung durch den Versuch nicht entbehren, 
für welchen sie hinwiederum die Richtlinien gibt, indem sie zeigt, 
welche Umstände bei Vornahme desselben einflussnehmend auftreten 
können. 

Probleme der vorliegenden Art gehören in das Gebiet dynamisch 
beanspruchter elastischer Systeme. Im mathematischen Formelkleide 
lautet die Aufgabe: 


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Dipl.-Ing. C. Krug, 

G + n . Q = tf . f. 


Hierin bezeichnet 

G das Eigengewicht des Strangwerkzeuges, 

Q die angehängte Last, 

<T die auf die Flächeneinheit des Strangquerschnittes wirkende innere Kraft, 
die „Zugspannung“, 

f die Querschnittsfläche, 

n diejenige Zahl, mit welcher man das Gewicht der toten Last multiplizieren 
muss, um die Grösse der das Strangwerkzeug beanspruchenden Kraft zu erhalten. 
Diese Zahl gibt also die gesuchte Beziehung zwischen dieser Kraft und dem Ge¬ 
wichte des einfach hängenden, des toten Körpers an. Man kann diese Zahl den 
„dynamischen Faktor“ nennen. 


In Worten lautet obige Formel: 

Das Eigengewicht des Strangwerkzeuges vermehrt um die Kraft, 
welche von der dynamisch wirkenden Last ausgeübt wird, muss von 
der Summe der inneren Spannkräfte im Strange gehalten werden. 

Gesucht ist die Grösse des dynamischen Faktors n. Die Rech¬ 
nung, welche hier nicht ausgeführt zu werden braucht, ergibt für 
denselben den Ausdruck: 


n = 1 -j- 


\ 7 + ti± 


(i +£)*.«.Q.l 


Hierin bedeutet 

a den sogenannten Dehnungskoeffizienten des Strangmaterials, 
h die Höhe, um welche der Körperschwerpunkt durch die Muskelenergie 
während der Todeszuckungen gehoben wurde und um welche er wieder herabfällt. 
1 die Stranglänge. 


Da im allgemeinen das Eigengewicht G des Strangwerkzeuges 
gegen das Gewicht der angehängten Last vernachlässigt werden kann, 
so vereinfacht sich obiger Ausdruck zu: 

n = 1 + V I + * f - h 
~ f ~ a.Q.l 

Diese Beziehung gibt wertvollen Aufschluss über das Gesetz, 
nach welchem eine Anzahl von Faktoren auf die Grösse des dynami¬ 
schen Faktors und damit auf die Grösse der Strangbeanspruchung 
Einfluss nimmt. Sie zeigt, dass letztere abhängig ist von den Dimen¬ 
sionen des Stranges, von der Beschaffenheit des Strangmaterials, von 
dem Gewichte der toten Last und von der verfügbaren Muskelenergie 
der lebenden Last, welcher Energiebetrag gemessen ist durch die 
Grösse h. Nach einiger Umformung kann die eben gegebene Be¬ 
ziehung übergeführt werden in: 


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Beitrag zur Lehre vom Erhängungstode. 


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»=!+/!+ -V 

Hierin bezeichnet A die gesamte Dehnung des Strangwerkzeuges, hervor¬ 
gerufen durch die tote Last Q und gemessen vom oberen Befestigungspunkte, 
welcher in der Rechnung als starr angenommen wurde, bis zum Angriffspunkte 
der Last. 

Diese Gleichung sagt: Der dynamische Faktor ist abhängig 

von dem Verhältnis d. h. von dem Verhältnis zwischen 

X 

der Fallhöhe h des Körperschwerpunktes und der unter der 
Wirkung der toten Last sich ergebenden Strangdehnung 
derart, dass er zunimmt mit abnehmender Strangdehnung 
und wachsenden Zuckungen. Mit anderen Worten: Unter den 
dynamischen Wirkungen der zuckenden Last treten im 
Strangwerkzeuge Zusatzkräfte auf, welche um so bedeu¬ 
tender sind, je steifer und unnachgiebiger dieses ist und 
je grösser diese Zuckungen sind. 

Um eine Zahl zu nennen, schätze ich einmal das Verhältnis von 

~ = 100. Damit ergibt sich n zu rund 15, d. h. die durch die 

zuckende Last hervorgerufenen Beanspruchungen betragen rund das 
15 fache des Gewichtes der toten Last! 

Wird A verhältnismässig gross gegenüber h, d. h. hängt ein 
schwächliches Individuum an einem sehr nachgiebigen Strange, so 
kann das 2. Glied unter der Wurzel vernachlässigt werden und man 
erhält für n den Wert 2. Diese Sachlage scheint bei den Versuchen 
von Dr. Angelo de Dominicis vorhanden gewesen zu sein und 
zwar wahrscheinlich infolge der Zwischenschaltung des Dynamometers, 
also eines nachgiebigen Zwischengliedes. 

Durch den Versuch ist nun die Richtigkeit der obigen Ent¬ 
wicklungen zu erweisen. Hierbei ist vor allem zu beachten, dass 
zwischen dem starren Raumpunkte und dem Angriffspunkte der Last 
ausser dem eigentlichen Strangwerkzeug kein weiteres elastisches 
Zwischenglied vorhanden sein darf. Ein einwandfreier Versuch lässt 
sich erreichen, wenn die Strangdehnung beim Erhängen unmittelbar 
gemessen wird und danach der Strang solchen Zugkräften ausgesetzt 
wird, dass dieselbe Strangdehnung sich wieder einstellt. Die so be¬ 
stimmten Zugkräfte geben ein Mass für die Grösse der beim Erhängen 
tatsächlich auftretenden Kräfte. 

Viertelj&hrggehrift f. ger. Med. u. Off. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 1. r 


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Dipl.-Ing. C. Krug, Beitrag zur Lehre vom Erhängungstode. 


Ich fasse das Ergebnis meiner Untersuchungen dahin zusammen: 

1. Die von Dr. Angelo de Dominicis mitgeteilten Versuche 
sind nicht zureichend zur Lösung der von ihm gestellten Aufgabe. 

2. Unter den dynamischen Wirkungen der zuckenden Last treten 
im Strangwerkzeuge Zusatzkräfte auf, welche um so grösser sind, je 
grösser die verfügbare Muskelenergie des Individuums und je unnach¬ 
giebiger das Strangwerkzeug ist. 

3. Der „dynamische Faktor“ kann den von Dr. Angelo de Do¬ 
minicis festgestellten Wert 2 um ein Vielfaches übersteigen. 

4. Es werden Versuche in Vorschlag gebracht, welche mit Be¬ 
rücksichtigung der vorgetragenen Gesichtspunkte sich auf verschieden¬ 
artige Individuen und auf die Verwendung von Strangwerkzeugen 
verschiedenen Nachgiebigkeitsgrades erstrecken zum Zwecke der Fest¬ 
stellung des dynamischen Faktors n. 


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8 . 

Besprechungen, Referate, Notizen. 

Leers, Dr. Otto, Die forensische Blutuntersuchung. Ein Leitfaden für 
Studierende, beamtete und sachverständige Aerzte und für Kriminalisten. Mit 
30 Figuren im Text und 3 Tafeln. Berlin 1910, Verlag von J. Springer. 

Der gewaltige Fortschritt, den in dem letztvergangenen Dezennium die Lehre 
von der forensischen Blutuntersuchung durch die biologischen Reaktionen und 
durch denAusbau verlässlicher Methoden des quantitativen Blutnachweises erfahren 
hat, machte schon längst das Erscheinen eines das ganze oben bezeichnete Thema 
behandelnden Werkes zur unumgänglichen Notwendigkeit. Diesem Bedürfnis 
-entsprachen nur teilweise die 1907 und 1908 von H. Marx und Leers veröffent¬ 
lichten Anleitungen. Nun liegt vor uns ein das ganze einschlägige Gebiet der 
forensischen Blutuntersuchung erschöpfendes Werk, welches in jeder Richtung als 
-mustergültig bezeichnet und den weitesten Kreisen aller, die mit der gerichtlichen 
Medizin sich befassen, zum eingehenden Studium und täglichen Gebrauch 
wärmstens empfohlen werden muss. Das hervorragende Handbuch, welches Verf. 
bescheiden einen Leitfaden nennt, umfasst in übersichtlichster und für den Gebrauch 
praktischster Weise alles, was uns bis heute die langjährige Erfahrung und die 
wissenschaftliche Forschung über diesen Stoff gebracht hat. Das ganze Thema 
wird nicht nur theoretisch an der Haud von Arbeiten einzelner Forscher besprochen, 
sondern es liegt der Darstellungsweise auf Schritt und Tritt ungewöhnlich reiche 
Selbsterfahrung des Verfassers zugrunde, die eben dem Werke unvergänglichen 
Wert verleiht. Es bildet somit dies Werk eine sehr willkommene Bereicherung 
unseres Kompendienschatzes und ein redliches Verdienst sowohl des Verfassers, 
wie auch des Instituts, dessen Material und wissenschaftlicher Forschungsrichtung 
-es entsprungen ist. Es muss zum weiteren Verdienst des Verfassers gerechnet 
werden, dass er das Werk seinem Lehrer gewidmet hat, da Leers dadurch 
bezeugen wollte, wessen Leitung und Anregung er die Entstehung seiner ausge¬ 
zeichneten Arbeit verdankt. Es ist unmöglich, den reichen Inhalt des Werkes hier 
.anzugeben, es genügt vielleicht, die Einteilung des Gesamtstoffes anzuführen. 
Derselbe zerfällt in einen allgemeinen und speziellen Teil. Im ersten Teil wird 
-das Aufsuchen, Entnehmen, Asservieren der gefundenen Blutspuren, ihre Erkennung, 
Form, Wiedergabe mittels Zeichnung, Photographie und Durohpausen, die Alters¬ 
bestimmung, Identität zweier Spuren, die den Nachweis störenden Einflüsse usw. 
besprochen. 

Der spezielle Teil behandelt in einzelnen Kapiteln den Nachweis des Blut¬ 
farbstoffes mittels Vorproben, Kristall- (Hämoglobin-, Hämin-, Hämochromogen- 
kristaUe) und Spektral proben, den Naohweis der Blutzellen, weiter den Nachweis 
-der Blutart mittels Barruels Methode, mittels Hämoglobinkristalle, Grössen- 
-messung der roten Blutkörperchen, der neutrophilen Granula der Leukozyten, der 

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Besprechungen, Referate, Notizen. 


Resistenz des Blutfarbstoffes gegen Alkalien, des katalytischen Fermentes, der 
Agglutinationsproben, der biologischen Serum- und Erythropräzipitinreaktion; der 
Hämolyse und des Anaphylaxieversuches, endlich den quantitativen Blutnachweis 
mittels der von Strassmann, Ziemcke, Brazeit, A. Schulz, Marx ange¬ 
gebenen Methoden. Den hier aufgezählten Kapiteln sind noch drei für die Praxis 
wichtige Anhänge und zuletzt ein erschöpfendes Literaturverzeichnis beigefügt. Einer 
dieser Anhänge schildert die Untersuchung der Fleischarten mittels der Präzipitin¬ 
reaktion, der zweite die von Wassermann, Neisser, Bruck angegebene Sero¬ 
diagnose der Lues und ihre forensische Bedeutung, der dritte, der Reihe nach der 
erste, die Blutuntersuchung am Seziertisch in Fällen von Vergiftung mit Säuren, 
Alkalien, Blausäure, chlorsaurem Kali und Kohlenoxyd. Bei Besprechung letzterer 
Vergiftungsart wird unter anderen die von Wach holz mitSieradzki angegebene, 
von Beetzmann empfohlene Tanninprobe erwähnt und ihr im Gegensatz zu 
Richter, Reuter und v. Sury die gebührende Stellung zuerkannt. Die auf 
Tafel 2 dem Werke beigegebene farbige Abbildung der CO-Probe nach Wachholz, 
8 Monate nach ihrer Anstellung, zeigt den krassen Farben unterschied zwischen 
CO-haltigem und CO-freiem Blut, welchen unerklärlicherweise v. Sury noch vor 
kurzem nicht anerkennen wolte. ln demselben Anhänge wird auch die Bedeutung 
der postmortalen Diffusion des Kohlenoxyds erwähnt, auf die zuerst Wach holz 
und Lemberger (Vierteljahrsschr. f. ger. Med. 1902, Bd. 23, S. 228) aus Anlass 
eines Falles auf Grund experimenteller Untersuchungen hingewiesen haben. 

Aus dieser kurzen Wiedergabe der blossen Einteilung des Gesamtstoffes ist 
es genügend ersichtlich, wie inhaltsreich das besprochene Werk ist und was für 
eine grosse Bedeutung es für den Gerichtsarzt, Kriminalisten usw. besitzt. Diese 
kurze Besprechung kann nicht geschlossen werden, ohne die ungewöhnlich klare, 
leicht fassliche Darstellungsweise besonders der Prinzipien der modernen biolo¬ 
gischen Blutreaktionen mit Nachdruck hervorgehoben zu haben. 

Die vorzügliche äussere Ausstattung des Buches reiht sich würdig dessen 
gediegenem Wert an. Wir sind fest überzeugt, das Werk Leers’ bald vergriffen 
und in Neuauflage erscheinen zu sehen. Wach holz (Krakau). 

Brosch: Die Selbstmörder, mit besonderer Berücksichtigung der militärischen 
Selbstmörder und ihrerObduktionsbefunde. Leipzig u.Wien 1909, Deuticke. 192Ss. 

Die ausserordentlich inhaltreiohe Arbeit des Verfassers, der k.k. Regimentsarzt 
und Privatdozent in Wien ist, fusst auf den, von nicht weniger als 327, Obduktionen 
dem Militärstand angehöriger Selbstmörder, einer Zahl, die eben nur in der öster¬ 
reichisch-ungarischen Armee mit ihrer extrem hohen Selbstmordziffer erreicht 
werden kann. Dem Material entsprechend gehört die weitaus grösste Zahl der 
Fälle dem jugendlichen Alter zwischen 20 und 30 Jahren an, doch ist auch das 
höhere Alter (Offiziere, Aerzte, Militärbeamte) immerhin zahlreich vertreten. Der 
grosse Fortschritt, den das Buch darstellt, besteht vor allem darin, dass nicht wie 
sonst, zur Beurteilung des geistigen Zustandes, in dem die Selbstmörder zur Zeit 
der Tat sich befanden, ausschliesslich der Befund am Gehirn oder am Zentral¬ 
nervensystem berücksichtigt worden ist, sondern der Verfasser alle irgendwie fest¬ 
zustellenden Abweichungen an den Organen, auch wenn sie zunächst ganz gleich- 
gütiger Art zu sein schienen, registriert und für die Beurteilung mit verwertet hat. 

Ergeben hat sich bei solcher Problemstellung zunächst, dass selbst bei schein- 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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bar ganz gesunden jungen Soldaten unverhältnismässig oft erworbene oder ange- 
geborene Abweichungen an den einzelnen Organsytftemen sich gefunden haben, die, 
besonders durch ihro Multiplizität oder ihre Kombination, zweifellos als ätiologisch 
bedeutungsvoll angesehen werden müssen. Derartige Abweichungen waren in einem 
hohen Prozentsatz der Fälle Agenesien, Hypoplasien, Hemmungsmissbildungen, also 
Zeichen einer angeborenen Minderwertigkeit der Organe, die ebenso wie Reste 
von alten Erkrankungen die Leistungsfähigkeit eines Menschen beeinträchtigen, 
ein Gefühl der Insuffizienz erzeugen und daher besonders in einem Beruf, der die 
höchsten Anforderungen an die körperlichen Kräfte stellt, wie es der militärische 
Beruf ist, zu einer psychisohen Depression und damit zum Suizid führen können. 

Ebenso hoch als diese vor allem im Zirkulations- und Respirationssystem 
liegenden Störungen sind aber nach Ansicht des Verfassers Störungen im Gebiet 
dos Digestionstraktus und des Urogenitalsystems zu bewerten, da sie in hohem 
Masse geeignet sind, die Freude am Dasein zu trüben. Solche lustraubenden 
Erkrankungen wirken besonders im jugendlichen Alter, wo das Verlangen nach 
Lust am intensivsten ist, auch am stärksten ein und sind als Ursachen des Selbst¬ 
mordes am höchsten zu bewerten. Geeignet zu Rückschlüssen auf den Geistes¬ 
zustand sind ferner die objektiven Symptome einer retardierten Pubertät (Thymus, 
Milz, Knochenmark), eines verfrühten Seniums oder beim Weibe die physiologischen 
Zustände der Menstruation, Gravidität, Laktation und des Klimakteriums. 

Für den Bewusstseinszustand zur Zeit der Tat erscheinen schliesslich wertvoll 
die gewählte Todesart, wenn sie bei Misslingen verstümmelnd wirken kann oder 
mit dem Beruf und der sozialen Stellung des Selbstmörders nicht harmoniert, ferner 
die voll gefüllte Harnblase, Alkoholgeruch des Mageninhalts und eventl. der Status 
digestionis. 

Hinausgehend über das engere anatomische Gebiet verbreitet sich Verfasser 
dann über eine Fülle von militärischen, sozialen und kirchlichen Fragen, auf die 
einzugehen hier nicht der Platz ist. In jedem Falle aber bringt das vorliegende 
Buch viele neue Gesichtspunkte in die Beurteilung der Selbstmörder insofern, 
als es dem Verfasser gelungen ist, Befunde für die Begutachtung zu fruktifizieren, 
die bisher teils wenig, teils garnicht berücksichtigt worden sind, und die bei ge¬ 
eigneter Zusammenstellung und Bewertung in hohem Masse geeignet sind, als ein¬ 
zelne Bausteine einen Indizienbeweis zu ermöglichen, der in dem Für undWider 
der Annahme einer Unzurechnungsfähigkeit zur Zeit der Tat ausschlaggebend sein 
kann. Für den Gerichtsarzt im besonderen dürfte die Kenntnis des Buches als 
höchst wertvoll, ja als fast unentbehrlich angesehen werden können. Stier. 

Cimbal: Taschenbuch zur Untersuchung nervöser und psychischer 
Krankheiten und krankheitsverdächtiger Zustände. Eine Anleitung 
für Mediziner und Juristen, insbesondere für beamtete Aerzte. Berlin 1909, 
Springer. 169 Seiten. 

Wie alle Taschenbücher soll auch das vorliegende nioht ein Ersatz sein für 
das Studium der eigentlichen Lehrbücher, sondern es will dem Praktiker knapp 
zusammengefasst das bringen, was er im täglichen Beruf braucht. Da bei der 
Vielseitigkeit der Anforderungen an den modernen beamteten Arzt naturgemäss 
nicht alle wirkliche Spezialisten auf dem Gebiete der Psychiatrie sein können, so 
wird das Büchlein gewiss besonders wegen seiner Handlichkeit viele Freunde finden. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


Das Buch enthält ausser einer allgemeinen Einleitung zunächst viele kurze 
Schemata für die Anamnese, die körperliche, neurologische und psychiatrische 
Untersuchung, dazu sehr eingehende Anleitungen zur Prüfung des geistigen Besitz¬ 
standes sowie eine kurze Beschreibung der modernen psychophysischen Methoden. 
Alles ist dabei von vornherein zugeschnitten auf die praktische Verwertung des 
Untersuchungsergebnisses für die Abfassung von gerichtlichen Gutachten, ja auch 
für jede besondere Art solcher Gutachten mit ihren besonderen Erfordernissen. Den 
Schluss bilden kurze Dispositionen und Formeln für Gutachten sowie eine knappe 
Wiedergabe der wichtigsten Gesetzesparagraphen. Das kleine Buch, das sich ebenso 
fernhält von Oberflächlichkeit wie von störender Breite, dürfte daher nicht nur den 
jüngeren beamteten Aerzten hochwillkommen sein, sondern auch dem erfahrenen 
durch die eingehende Berücksichtigung gerade der neueren Forschungsergebnisse 
vieles Gute bringen. Stier. 

Dr. A. Kühner, Arzt und Gerichtsarzt a. D., Eisenach, Straf- und zivil- 
rechtliche Verantwortung des Arztes. Autoreferat über eine als Heft 560 
von Volk man ns Sammlung klinischer Vorträge demnächst erscheinende gleich¬ 
namige Originalarboit. 

In straf- und zivilrechtlicher Beziehung ist die Stellung des 
Arztes von heute eine ganz andere, als in früheren Zeiten. Noch im Jahre 1860 
konnte Hyrtl die Ovariotomie bezeichnen als das Jus impune occidendi chirur- 
gorum und heute?! Unsere Zeit ist raschlebig, an Neuerungen reich, aber die 
Stellung des Arztes zum Straf- und Zivilrecht hat sich in neuerer Zeit mehr und 
mehr verschlechtert, und zwar infolge der immer grösseren Leistungen und Fort¬ 
schritte, der Vielseitigkeit der Heilkunst, sowie durch die steigende Anteilnahme 
des Publikums an den Lehren der Medizin, durch die fortschreitenden Bestrebungen 
der Verallgemeinerung ihrer Kenntnisse und Erfahrungen. Der Beruf des Arztes 
ist gegenwärtig mit einem Rüstzeug ausgestattet, das die Kunst der Vorfahren weit 
in Schatten stellt, ein ganz anderes Können, eine ganz andere Beherrschung um¬ 
fangreicher, schwieriger Materien, eine ganz andere Geschicklichkeit in der Hand¬ 
habung feiner und diffiziler Instrumente verlangt, als die medizinische Wissen¬ 
schaft früherer Zeiten. Die zivilrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes wird 
weiterhin wesentlich erhöht durch den Umstand, dass das Publikum in immer 
steigendem Masse von den gesetzlichen Haftbestimmungen Gebrauch macht. Das 
Leben ist allenthalben aus dem Stadium des Patriarchalischen längst heraus; es 
erscheint nicht mehr unerhört, sondern fast selbstverständlich, dass der Angestellte 
seinen Brotherrn, wenn er glaubt, sich dadurch eine Rente sichern zu können, 
verklagt; ebenso hat sich auch das Verhältnis des Patienten zum Arzt sehr ge¬ 
ändert. Dabei spielt dann die Verhetzung seitens böswilliger Ratgeber eine grosse 
Rolle. Vor allem ist es die an keine allzu schweren Bedingungen geknüpfte Mög¬ 
lichkeit, im Armenrecht, also ohne jedes Risiko, klagen zu können, die den Anlass 
zur Anstrengung zahlreicher Haftpflichtprozesse gibt. Innerhalb der Breite der 
gegenwärtigen gesetzlichen Bestimmungen, sowie bei der Ermangelung bestimmter 
leitender Grundsätze für das Verhalten des Arztes, schützt selbst das reichste 
Wissen, die grösste Geschicklichkeit nicht vor versteckten Angriffen oder offen¬ 
kundigen Anschuldigungen wegen vorgeblicher oder tatsächlicher beruflicher Ver¬ 
fehlungen des Arztes. Unter diesen Umständen scheint der Beachtung wert eine 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


103 


demnächst erscheinende Broschüre, welche alle Entlastungsmomente, die bei 
solchen Anfeindungen, Anschuldigungen vorzubringen, geltend macht. Die Ver¬ 
antwortung des Arztes im allgemeinen und besonderen, der Begriff der Fahrlässig¬ 
keit, Körperverletzung, Kunstfehler, Approbation, Spezialist, Vorhersehbarkeit, 
Unkunst und Unfleiss, Gewohnheitsrecht und Zeitunterschiede, konkurrierende 
Momente, plötzliche Todesfälle und Idiosynkrasieen, eigenartige Körperbeschaffen- 
heit, begleitende Umstände und Zustände des Organismus, Meinungsverschieden¬ 
heiten, Ausnahmestellung des Arztes, Zufall, Unfall, Unglücksfal, Irrtümer der 
Aerzte, das Verhalten des Kranken, alle diese wichtigen Fragen finden eine sach- 
gemässe Besprechung. Gegen ein Kompromiss, einen Revers, werden schwere Be¬ 
denken erhoben. Dagegen wird eine Präventivmassregel hervorgehoben, 
welche zwar nicht Schutz vor Anklagen, aber die beste Gewähr bei Verurteilungen 
wegen Fahrlässigkeit zu geben verspricht. Diese Gewähr bietet die von Versiche¬ 
rungsgesellschaften, unter anderen vom Allgemeinen Deutschen Versiche¬ 
rungsverein in Stuttgart den Aerzten für ihre Haftpflicht im Falle der Schädigung 
der Gesundheit eines Dritten empfohlene Versicherung. 

Tovo, C., Sopra due centinaia di autopsie medico-legali. S.-A. aus 
Archivio di Psichiatria ecc. XXIX. 1908. 99 Ss. mit zwei Tafeln. 

Die Arbeit berichtet über 200 interessante Sektionen, die während der Jahre 
1904 bis 1908 im gerichtlich-medizinischen Institut zu Turin ausgeführt worden 
sind. Sie gibt Zeugnis von dem reichen Material und seiner wissenschaftlichen 
Verwertung und zeigt auf 18 photographischen Abbildungen die hauptsächlichsten 
Befunde. P. Fraenckel (Berlin). 

Ascarelli, A., Gli eritroc iti punteggiati sul sangue asfittico. Atti della 
societä di medicina legale (Roma). Anno II. fase. II. 1909. 

Im Blute erhängter und ertränkter Tiere finden sich regelmässig die bekannt¬ 
lich bei den verschiedensten pathologischen Zuständen vorkommenden basophil 
gekörnten Erythrozyten, die Verf. ebenso wie jetzt die Mehrzahl aller Autoren für 
Degenerationsformen hält. P. Fraenckel (Berlin). 

Modica, O., Sangue ed organi emopoietici nell’ asfissia. Archivio de 
farmacologia sperimentale eoc. Vol. VIII. Fase. III. 1900. 

Ebenso wie andere Untersucher fand Modica eine Leukozytose im Blute er¬ 
stickter Tiere (Kaninchen). Diese wird bei rascher Luftabsperrung durch Ver¬ 
mehrung der einkernigen weissen Zellen erzeugt, bei langsamer, über Stunden 
hingezogener Asphyxie dagegen durch eine Polynukleose. Da Injektion des Blutes 
langsam asphyktisch gemachter Tiere bei anderen Tieren dasselbe Blutbild her¬ 
vorruft, ist anzunehmen, dass die Leukozytose auf der Bildung bestimmter StofT- 
wechselprodukte bei der Erstickung beruht, die zunächst auf die eine, später auf 
die andere Zellart positiv chemotaktisch wirken. Neben diesen nicht näher charak¬ 
terisierten Stoffen wirkt möglicherweise die Kohlensäureanhäufung im gleichen 
Sinne. Handelt es sich danach also vorwiegend um einen Transport anderwärts 
befindlicher Zellen ins Blut, so scheint doch nach einigen histologischen Unter¬ 
suchungen bei längerer Erstickungsdauer auch ein gewisser formativer Reiz auf 
die Blutbildner, besonders das Knochenmark, zu walten. 

P. Fraenckel (Berlin). 


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II. Oeffentliches Sanitätswesen. 


1 . 

Aus dem hygienischen Institut der Universität Jena. 

Sind die aus Lot hergestellten Puppenservice 
gesundheitsschädlich ? 

Von 

Prof. Dr. med. A. Gärtner. 

In den letzten Jahren werden vielfach Puppenservice aus Lot 
d. h. kleine Service für Puppen aus einer Zinnbleilegierung mit 30 
bis 40 pCt. Blei als gesundheitsschädlich seitens der Nahrungsmittel¬ 
chemiker sistiert. Bei den Gerichtsverhandlungen ist allerdings höchst 
selten eine Verurteilung erfolgt, zum Teil aus äusseren Gründen nicht, 
zum Teil weil die Sachverständigen oder die Richter sich für eine 
Gesundheitsschädlichkeit dieser kleinen Gefässe nicht entscheiden 
konnten. 

Die durch die Sistierungen und das behördliche Eingreifen ge¬ 
schaffene Unsicherheit genügte indessen, die nicht unerhebliche Spiel¬ 
warenindustrie dieser Art recht empfindlich zu schädigen, ja sie zum 
Teil sogar lahm zu legen. Daher erscheint es gerechtfertigt, erneut 
zu untersuchen, ob die mit den Puppenservicen spielenden Kinder ge¬ 
schädigt werden können oder nicht. 

Im ersteren Falle wäre energisch gegen die als gefährlich er¬ 
kannten Spielgeschirre vorzugehen, im letzteren würden die Belästi¬ 
gungen der Industrie als unnötig und schädigend zu unterbleiben haben. 

Einspruch wird gegen die Puppenservice erhoben, weil sie wegen 
ihres hohen Bleigehalts (§ 12,2 des Nahrungsmittelgesetzes) bei ihrem 
bestimmungsgemässen oder voraussichtlichen Gebrauch die menschliche 
Gesundheit zu schädigen geeignet seien. 

Dass die Puppenspielservice keine Ess-, Trink- und Kochgeschirre 
im Sinne des § 13,1 des Reichsgesetzes vom 25. Juni 1887, betr. 
den Verkehr mit blei- und zinkhaltigen Gegenständen sind, steht hier 


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Sind die aus Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 105 


nicht zur Diskussion; zudem habe ich mich hierüber in einer Arbeit 
vom Jahre 1899 in der Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und 
öffentliches Sanitätswesen III. Folge Bd. 18 Heft 2 sehr ausgiebig ge- 
äussert. Ferner sagt Prof. Fränkel-Halle in derselben Zeitschrift, 
HI. Folge, Bd. 19, Heft 2: „Jeder Unbefangene wird sich seinen Aus¬ 
führungen im vollsten Umfange anschliessen und in dem Versuch, die 
Gerlachschen Fabrikate (Puppenspielservice) als Ess-, Trink- und Koch¬ 
geschirre rubrizieren zu wollen, nur eine neue Bestätigung des Dichter¬ 
worts erblicken können: Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage.“ 
Prof. Stockmeyer - Nürnberg spricht in seinem in Würzburg ge¬ 
haltenen Vortrage der 18. Jahresversammlung der freien Vereinigung 
bayerischer Vertreter der angewandten Chemie am 26./27. Mai 1899 
sich folgendermassen aus: „Ich glaube demnach nicht, dass jemand, 
welcher in steter Fühlung mit dem Denken und Empßnden der breiten 
Massen des Volkes bleibt, in die Versuchung kommen wird, die 
Puppengeschirre als Ess-, Trink- und Kochgeschirre im Sinne des 
Reichsgesetzes vom 25. Juni 1887 aufzufassen.“ 

Bevor auf die Möglichkeit der Gesundheitsschädigung selbst ein¬ 
gegangen wird, bedürfen einige andere Punkte einer Besprechung. 

I. Die Beschaffenheit der Spielservice. 

Die Spielsachen sind Puppenterrinen, Tellerchen, Schüsselchen, 
kleine Kannen und Krüge, Tassen, Messer, Gabeln und Löffel. Die 
Grösse ist immer unbeträchtlich. Eine Tasse hat vielfach noch nicht 
den Inhalt eines Nähhutes. Die Tellerchen haben einen Durchmesser 
von meistens nicht über 6 cm. Die grössten Teile sind die Suppen¬ 
terrinen; sie mögen in ihren grösseren Formen ca. 50 ccm fassen. 

Die Ausmessungen der Gefässe sind also sehr gering, und wo 
grössere Gefässe, Suppenschüsseln, in Betracht kommen, da ist zu 
bemerken, dass die berührte Oberfläche — denn diese ist das mass¬ 
gebende — zunimmt ungefähr im Quadrat des Radius des Gefässes, der 
Inhalt aber entsprechend dem Kubus des Radius; d. h. ist der Radius 
des einen Gefässes 1 cm, der des zweiten 2 cm, so kommen auf 1 ccm 
Inhalt bei dem ersten Gefäss 3 qcm Wandfläche, bei dem zweiten 
nur 1,5; je grösser also der Inhalt wird, um so weniger Blei kommt 
mit ihm in Berührung. 

Die Gefässe sind hergestellt aus Schnellot, d. h. wahrscheinlichst 
einer chemischen Verbindung, nicht nur Mischung von rund 36 pCt. 
Blei mit 64 pCt. Zinn oder, allgemeiner ausgedrückt, von 30—40 pCt. 


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106 


Prof. A. Gärtner, 

Blei und 70—60 pCt. Zinn. Es liegt eine so grosse Zahl von Ana¬ 
lysen vor, dass es überflüssig ist, die Richtigkeit der vorstehenden 
Zahl zu beweisen; sie wird von keiner Seite bestritten. 

Der Gehalt an Blei der Puppenservice ist bedingt einerseits durch 
den Kostenpunkt. Blei ist ungefähr um das Achtfache billiger als Zinn, 
und die Industrie ist verpflichtet, auf dem Weltmarkt billige Preise 
zu stellen; sonst unterliegt sie. Der Export Thüringens und Bayerns 
an solchen Spielwaren ist ein ganz erheblicher. Verbietet nun die 
Behörde den Vertrieb in der Heimat, so unterbindet sie damit zu¬ 
gleich den Versand nach dem Ausland. Denn die Konkurrenz der 
ebenfalls solche Sachen fabrizierenden Länder, in erster Linie Frank¬ 
reich, würde sofort auf die Disharmonie aufmerksam machen. 

Auf den Preis wirkt ferner ein die Leichtigkeit der Bearbeitung. 
Die Spielservice werden in der Weise hergestellt, dass das leicht 
flüssige, also nicht hoch erhitzte Material in Hohlformen (ohne Kern) 
gegossen wird; sofort erstarrt das Material in einer dünnen Schicht 
an der kühlen Wand der Form. Dann wird der übrige, noch flüssige 
Inhalt in den Tiegel zurückgegossen, die Form auseinandergeklappt 
und die entstandene Randzone, d. h. das entstandene Spielgeschirr, 
herausgenommen; die Giessnaht wird entfernt und das Gefässchen ist 
fertig. Bei einer anderen Legierung ist die Leichtflüssigkeit nicht in 
auskömmlicher Weise vorhanden, auch bei dem lOproz. Reichszinn 
nicht; es wird daher der Guss weniger gut und er gelingt weniger 
sicher; ausserdem muss das Gefäss an seiner Innenseite meistens ab¬ 
gedreht werden, was bei Schneilot höchstens bei den grössten Ge¬ 
fässchen dieser Art notwendig werden kann. 

Die 36proz. Zinnbleilegierung hat einen eigenen „natürlichen“ 
Glanz, welcher den bleiarmen Kompositionen fehlt, ihnen jedoch durch 
Abdrehen und Polieren gegeben werden kann, eine Manipulation, die 
notwendig ist, um die zinnreichere Ware gegenüber der weniger zinn¬ 
haltigen konkurrenzfähig zu machen, und die wieder Geld kostet. 

Infolgedessen ist die Auffassung eines städtischen Untersuchungs¬ 
amtes unrichtig, das annimmt, eine Erhöhung des Verkaufsgeldes, das 
bei Herstellung aus Schnellot 50 Pfg. betragen habe, auf 70 Pfg. bei 
Reichszinn sei ungerechtfertigt, weil der Unterschied im Metall wert nur 
7,1 Pfg. betrage; es berücksichtigt nicht den vermehrten Arbeitslohn, 
nicht die verunglückten Gefässe. Aber selbst bei einer Steigerung um 
20 pCt., wie jenes will, was aber viel zu wenig ist, ist ein solches 
Geschirr auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig, und viele Hunderte 


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Sind die aus Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 107 


von Arbeitern von den mehreren Tausenden, die in dieser Industrie 
beschäftigt sind, fänden in der Heimat keine Beschäftigung. Ein 
solcher Notstand müsste ertragen werden, wenn durch die Spielsachen 
gesundheitliche Schädigungen entstünden; ist das jedoch nicht der 
Fall, so soll man sich hüten, der heimischen Spezialindustrie Schaden 
zuzufügen und die Arbeiter brotlos zu machen! 

II. Der vorauszusehende nnd bestimmnngsgemässe Gebrauch der 
Service und ihre Betriebsdauer. 

Die Geschirre sind Ess- und Trinkgeschirre für Puppen. Der 
bestimmungsgemässe Gebrauch ist deshalb nicht, dass Kinder aus 
ihnen etwas geniessen; aber da die Kinder sich mit ihren Puppen 
identifizieren, so ist der voraussichtliche Gebrauch der Gefässchen, 
dass auch die Kinder aus ihnen flüssige und feste Nahrungsmittel 
aufnehmen, notabene, wenn solche darin enthalten sind, was durchaus 
nicht immer der Fall ist. Die Kinder spielen „Kochen und Gesell¬ 
schaftgeben“ mit allen möglichen Gegenständen, trocknen und feuchten; 
die ersteren sind entschieden seitens der Eltern mehr beliebt, weil 
die Schmutzerei geringer ist, und werden daher auch mehr verwendet. 
Die trockenen Spielwaren, Kuchen und dergl. sind belanglos, da sie 
weder Blei in sich aufnehmen, noch es wegen ihrer weichen Be¬ 
schaffenheit aus den Gefässchen abscheuern. Von den flüssigen 
kommen in Betracht: Wasser, Zuckerwasser, Kaffee, Tee, Schokolade, 
Limonade oder verdünnte Fruchtsäfte; von halbsüssen Sachen: Ein¬ 
gemachte Johannis-, Preissei- und Stachelbeeren usw. Es kann sich 
ereignen, dass Eltern ihren Kindern Wein mit Wasser, vielleicht auch 
einmal Bier zum Spielen geben; dass sie ihnen aber verdünnten Essig 
geben, kommt nicht vor; solche Eltern gibt es kaum. Daher sind 
denn auch die vielen — auf einer gewissen Bequemlichkeit be¬ 
ruhenden — Untersuchungen, bei welchen mit Essig gearbeitet worden 
ist, für den vorliegenden Fall wenig wertvoll. 

Nennenswert saure Sachen werden zum Spielen gleichfalls nicht 
verwendet, aus dem Grunde, weil Kinder sie verweigern würden. 
Andrerseits ist gerade Säure für die Lösung von Blei erforderlich. 

Die Dauer des jeweiligen Spielens mit dem Geschirr ist dem 
Charakter des Kindes entsprechend eine recht knappe; haben Kinder 
sich eine Stunde mit den Sächelchen beschäftigt, dann wird ihnen das 
Spiel langweilig und sie wenden sich anderen Dingen oder Tätig¬ 
keiten zu. 


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Prof. A. Gärtner, 


Noch kürzere Zeit lassen die Kinder die Nahrungsmittel in den 
Spielgefässen. Normale Kinder werden entsprechend den noch ganz 
ungezügelten Trieben der Jugend zuerst die in den Geschirren vor¬ 
handenen Leckerbissen, sei es was es sei, verzehren und höchstens 
Krümelchen von Kuchen und dgl. übrig lassen, um damit weiter zu 
spielen. Die Flüssigkeiten werden sie austrinken und im eigentlichen 
Spiel die Bewegung des Eingiessens und Austrinkens machen. Das 
genügt ihnen vollständig. 

Die Zeit, welche die Genussmittel in den kleinen Geräten ver¬ 
bleiben, ist also fast stets eine sehr geringe. 

Die Lebensdauer der Kinderspielsachen pflegt gleichfalls eine recht 
kurze zu sein. Das Kind kennt keine Schonung, keine angespannte 
Aufmerksamkeit; der Sinn für Ordnung ist noch nicht entwickelt. So 
kommt es denn, dass die Spielsachen rach verloren gehen, was bei 
ihrer Kleinheit doppelt leicht ist. Das Kind lechzt nach neuen Ein¬ 
drücken und verlässt die alten; infolgedessen wird zunächst mit den 
Servicen täglich und eine längere Zeit, vielleicht eine Stunde, gespielt. 
Diese akute Periode ist jedoch, wenn zu Weihnacht die Bescheerung 
erfolgte, schon um Neujahr überstanden. Schon um diese Zeit wird 
das Spielzeug nicht mehr täglich herangeholt und nur kürzere Zeit 
benutzt; schon um diese Zeit gibt auch die Mutter nicht mehr Kuchen 
und dgl. zum Spielen heraus; ihr wird das Geben lästig. Dann folgt 
das chronische Stadium, in welchem die einzelnen Spielzeiten immer 
weiter auseinanderrücken, und nach ein paar Wochen rechnet das 
Spielservice zuan dauernden Bestand; es wird höchstens einmal bei 
Gelegenheit hervorgeholt, weil es den Reiz der Neuheit für das Kind 
verloren hat. 

Die Einwirkungsdauer der Spielservice auf die Kinder ist also 
eine recht geringfügige, sowohl was die Zeit der Benutzung im Spiel 
selbst als auch die Zeit, während welcher häuliger damit gespielt 
wird, angeht. 

III. Die Menge des zur Vergiftung erforderlichen Bleies und die 
Länge der Zeit, während welcher kleine Mengen wirken müssen, 
um Schädigungen zu erzengen. 

Die Menge des eine akute Vergiftung herbeiführenden Bleies ist 
eine sehr grosse; es sind von Bleiessig gegen 20—50, Bleizucker 
über 50, Bleiweiss gegen 40 g erforderlich, um den Tod herbeizuführen. 


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Sind die aus Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 109 

Akute Vergiftungen durch Pappenspielservice liegen also ausserhalb 
jeder Möglichkeit. 

Die für eine chronische Vergiftung notwendige Menge Blei anzu¬ 
geben, stösst naturgemäss auf die grössten Schwierigkeiten, da sie von 
den verschiedensten Bedingungen abhängig ist. Man kann nur Daten 
bringen und aus ihnen annähernde Folgerungen ableiten. 

Zunächst seien einige Zahlen genannt über die Mengen Blei in 
Wässern, die zu Vergiftungen Anlass gegeben haben. Die meisten 
Angaben sind der bekannten Arbeit von G. Wolffhügel über die 
Dessauer Wasserintoxikation entnommen (Arbeiten d. Kais. Gesundh.- 
Amts, Bd. 2). 

H. Gn£neau de Mussy teilt mit, dass bei den zu Schloss Claremont vor¬ 
gekommenen Vergiftungen das Wasser nach der Analyse von A. \V. Hofmann nur 
2—15 mg im Liier enthielt. 

Fr. Grace Calvert hat gefunden, dass das Leitungswasser in Manchester 
der Gesundheit nachteilig war, wenn es 1,43 bis 4,28 mg Blei im Liter enthielt. 

Nach Angus Smith-Manchester kann Wasser für viele Personen schädlich 
sein mit etwa 0,36 mg im Liter, während andere durch etwa 1,43 mg im Liter 
nicht berührt werden. 

J. Smith erklärt Wasser für unschädlich, das etwa 0,71 mg im Liter 
enthält. 

Th. Stevens berichtet, dass der Bleigehalt des Wassers bei einer zu 
Huddersfield im Jahre 1883 beobachteten Vergiftung zu 1,143 bis 11,98 mg im 
Liter und in einem zweiten zu Keighley vorgekommenen Fall ca. 8,7 mg im Liter 
gefunden worden war. 

ln dem Huddersfielder Bleivergiftungsfalle enthielt das Wasser zufolge einer 
Mitteilung von C. Aird nach zwölfstündigem Stehen in der bleiernen Hausleitung 
1,997 mg Blei im Liter. 

Bei einer von Dr. Lernmer zu Sprockhövel (in Westfalen) beobachteten Blei¬ 
vergiftung ist der Bleigehalt des Wassers im Laboratorium des Kaiserlichen Ge¬ 
sundheitsamtes zu 0,5 bis 1,6 mg im Liter bestimmt worden. 

Sinclair White und Allen fanden bei den im Jahre 1885 zu Sheffield auf¬ 
getretenen Vergiftungen im Wasser etwa 0,998 bis 9,983 mg im Liter. Nach 
Whites Meinung zeige allgemein die Erfahrung, dass eine Bleimenge von mehr 
als 1,58 oder 1,43 mg im Liter gefährlich und dass ein Wasser, das mehr Blei ent¬ 
halte, als Getränk zu verwerfen sei. 

S. Steiner (J. von Fodor) ist anf Grund der Angabe von Graham, Smith 
und Calvert der Meinung, dass „die mit Berücksichtigung der individuellen Ver¬ 
schiedenheiten noch als unschädlich zulässige maximale Bleimenge“ auf 0,7 mg 
Blei im Liter Wasser anzunehmen sei. 

Nach englischen Berichten erwähnt C. Aird, dass bei den zu Sheffield im 
Jahre 1885 mehrfach aufgetretenen Bleivergiftungen das Wasser 11,41 mg und im 
gekochten Zustande noch 7,131 mg enthalten habe. 


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Prof. A. Gärtner, 


Nach einer Angabe von Proskauer (Zeitschr. für Hygiene Bd. 14) erkrankten 
in Calau zwei Personen nachdem sie 8 Wochen lang ein Wasser getrunken hatten, 
welches am Morgen 4,48 mg Blei enthielt. 

Der Durchschnittsgehalt an Blei in Dessau betrug 4,1 mg im Liter; es er¬ 
krankten gegen 200 von 28000 Einwohnern. 

ln Budapest ist von Steiner 1,2 mg Blei in 1 Liter Wasser nach 24 Stunden 
dauerndem Stehen in den Kohren gefunden worden, ohne dass meines Wissens 
Erkrankungen vorgekommen sind. 

Footner-Prag erzählt, dass ein Wasser, welches einer 680 m langen Blei¬ 
leitung entnommen war, mit 17,5 mg Blei im Liter die Erkrankung von 17 bei im 
ganzen 27 Personen bewirkte. 

In Emden ist nach Librich durchschnittlich 12,9 mg Blei im Liter enthalten 
gewesen. 

Nach dem Vorstehenden wird die Grenze festgelegt mit weniger 
als 1,43 mg (White), 0,71 mg (J. Smith) und 0,36 mg (Angus 
Smith). 

Letztere Zahl gilt in Deutschland mehrfach als ungefähre Grenze 
der Gefahr; sie führt z. B. auch Rubner in seinem Lehrbuch der 
Hygiene an. Sie liegt indessen zweifellos zu niedrig, aber sie hat 
das Gute, dass die Unschädlichkeit eines Wassers mit solchem Blei¬ 
gehalt sicher erwiesen ist; denn es findet sich nach Klut (Ges.- 
Ingenieur, 1907, S. 519) in dem Wasser einer grossen Stadt — ge¬ 
meint ist jedenfalls Berlin — durchschnittlich 0,3 mg Blei im Liter, 
wenn das Wasser in den Hausleitungen gestanden hat. Ferner sind 
in dem Wasser von Dessau, welches zur Zeit der Epidemie im Durch¬ 
schnitt 4,14 mg Blei pro Liter enthielt, auch nach der Korrektur 
noch rund 0,3 mg enthalten. 

Ist auch in stark bewohnten Häusern das am Tage aus den 
Zapfhähnen fliessende Wasser bleifrei, so ist doch das in der Frühe 
entnommene oft bleihaltig. Es gibt Tausende von Personen in diesen 
Städten, die morgens nüchtern regelmässig Wasser trinken, und es 
gibt Hunderttausende, die regelmässig noch in den Bleirohren ge¬ 
standenes Wasser als Kaffee und dergl. gemessen; auch dieses Ge¬ 
tränk ist dann bleihaltig. Bei den zum Teil recht langen Bleileitungen, 
bei den Sonderbarkeiten der Menschen gibt es sicherlich Hunderte, 
die täglich 1 Liter und mehr solch bleihaltigen Wassers in sich auf¬ 
nehmen. Wären 0,35 mg im Liter schädlich, dann müssten in den 
grossen Städten stets viele Fälle nichtgewerblicher Bleiintoxikation 
Vorkommen. Das ist jedoch nicht der Fall. An ein Uebersehen der 
Fälle ist garnicht zu denken, oder glaubt man, dass z. B. in Dessau 


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Sind die aus Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 111 

und Offenbach usw. Publikum und Aerzten nach den gemachten Er¬ 
fahrungen an Bleivergiftungen vorübergegangen wären? Das wäre 
ein törichter Glaube. 

Meiner Meinung nach kann man unbedenklich die Grenze des 
noch zu gestattenden Bleigehaltes in Leitungswässern höher legen, 
etwa auf 1 mg im Liter nach zwölfstündigem Stehen in den Leitungs¬ 
röhren, also etwa in der Mitte zwischen den von White und Smith 
angegebenen Zahlen; aber diese Frage steht jetzt nicht zur Diskussion. 

Zu bedenken ist, dass bei dem Kochen des Wassers ein Teil des 
in ihm enthaltenen Bleies in die Speisen und Getränke übergeht. 

Chronische Vergiftungen durch Mehl und Brot sind ebenfalls be¬ 
kannt geworden. 

Bei einer Serie von Vergiftungen in Chartres wurden 10 mg Blei in 1 Pfund 
Mehl gefunden. Bei den Vergiftungen in Giessen waren bis zu 550 mg Blei im 
Kilo Mehl, zwischen 130 und 650 mg Blei in 1 Kilo Brot. In Negenborn wurden 
durchschnittlich 138 mg Blei in 1 Kilo Mehl fcstgestellt, oder, da man für einen 
erwachsenen Arbeiter 750 g Brot als Tagesration rechnet und da aus 100 Teilen 
Mehl rund 150 Teile Brot entstehen, so wurden täglich 69 mg (!) Blei aufgenommen. 

Die meisten Erkrankungen in Negenborn Helen zwischen den 21. und 28. Tag 
nach Beginn der Bleibroternährung; somit hatten die erwachsenen Leute etwa 
1,449 g bis 1,930g Blei aufgenomroen, ehe die ersten Symptome sich zeigten! 

Einen Fall, welcher zeigt, wieviel Blei aufgenommen sein kann, 
bis Vergiftungserscheinungen auftreten, gibt P. Schmidt an: Ein 
Mann hatte die Unsitte, täglich 2 1 /, Liter Wasser zu trinken; er zog 
um in ein Haus, in dessen Wasser später pro Liter 2,9 mg Blei ge¬ 
funden wurden; 2 volle Jahre dauerte es, ehe die ersten Symptome 
der Bleivergiftung sich zeigten, und weitere 27 2 Jahre, ehe das aus¬ 
gesprochene Bild der Krankheit hervortrat; in diesen Zeiten waren 
5,3 g bzw. 12,6 g Blei verzehrt worden. 

Nicht unwichtig sind, da man bei den Menschen nur auf zufällige 
Beobachtungen angewiesen ist, die Experimente, die an Tieren 
angestellt wurden. 

Es ist eine bekannte Tatsache, dass Tiere der Bleivergiftung zugängig sind; 
so bat man früher in der Umgebung von Bleihütten Kühe, Pferde, Hunde, Katzen 
und Hühner nicht halten können; sie gingen an Bleivergiftung ein. 

ln Negenborn hatte man Kühe und Schweine mit dem bleihaltigen Brotmehl 
gefüttert und sie erkrankten. 

Es mögen die mir aus der neueren Literatur bekannt gewordenen Versuche 
hier folgen: 

Lehmann (Arohiv f. Hyg. Bd. 16. S. 339ff.) fütterte Hühner täglich mit 
100—500 mg (!) Bleichromat; sie gingen nach etwa 4 Wochen ein. 


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Prof. A. Gärtner, 


Ein Kaninchen erhielt 6G Tage lang täglich 100 mg Bleichromat, weitere 
59 Tage lang 400 mg und starb dann erst; bei der Obduktion wurde Tuberkulose 
der Lungen und des Herzbeutels gefunden. 

Eine junge Ziege von 5,8 Kilo bekam 91 Tage lang hindurch täglich 600mg(!) 
Bleichromat; sie gedieh prächtig und wog nach dieser Zeit 7,0 Kilo; möglicher¬ 
weise sind die Ziegen immun. 

Ein 5,6 Kilo schwerer Hund nahm in 35 Tagen 38,3 g (!) Bleichromat auf 
und starb am 35. Tag. 

Ein Hund von 8,8 Kilo erhielt in 34 Tagen 5,2 g. Das ist täglich 150 mg, 
ohne Krankheitserscheinungen zu zeigen! 

In 100 Teilen Bleichromat sind 64 Teile Blei enthalten; die vorstehenden 
Zahlen sind also auf rund zwei Drittel zu reduzieren, wenn man die Mengen reinen 
Bleies wissen will. 

Die Versuche von Blum (Wienermed. Wochenschr. 1903. Nr. 13) sind in der 
folgenden Tabelle zusammengestellt: 


1 Kaninchen 
von Kilo 

Bekam täglich 
an Blei¬ 
präparaten 

i 

1 Starb nach 
Tagen 

Hatte 
im ganzen 
aufgenommen 

Präparat 

1,9 

155 mg 

42 

6,5 g 

Bleizucker 

2.3 

| 250 mg 

36 

9,0 g 

! do. 

2,4 

! 1277 mg 

18 

23 g 

Bleichlorid 

1,9 

! ? 

i 

1 

53 

21,5 g 

Bleioxyd 


Von mehreren Kaninchen, die bis über 50 g Schwefelblei erhalten hatten, 
starb eins am 113. Tage nach Aufnahme von 31 g. Die anderen blieben gesund, 
obschon sie bereits über 50 g Bleiglanz gefressen hatten. 

Für die vorliegende Frage wichtiger sind die Versuche von P. Schmidt 
(Archiv f. Hyg. Bd. 63): 

Von 4 Kaninchen erhielten zwei täglich 0,25 mg Blei auf das Kilo unter die 
Haut gespritzt, zwei dieselbe Menge mit dem Futter 3y 2 Monate hindurch einge¬ 
führt ohne jede Veränderung des Blutbildes (welche das erste Zeichen der Blei¬ 
wirkung darstellt) und mit einer wenn auch nur geringen Gewichtszunahme. Ein 
weiteres Tier bekam täglich 2,5 mg Blei pro Kilo 3 Monate hindurch, ein sechstes 
5 mg pro Kilo 2 x / 2 Monate hindurch ohne jede Wirkung! Einem siebenten Kanin- 
ohen wurden täglich ebenfalls 5 mg Blei pro Kilo verfüttert. Das Tier zeigte nach 
14 Tagen basophilgekörnte Blutkörperchen — es wird später von ihnen die Rede 
sein —; das Tier nahm während der ersten 4 Wochen etwas ab; aber trotz des 
pathologischen Blutbefundes ging das Gewicht wieder in die Höhe und nach zehn 
Wochen war der sonstige Befund ein ganz normaler! 

Bei Einspritzung von täglich 2,5 mg Blei pro Kilo unter die Haut zeigte das 
eine der Tiere nach 10, das andere nach 21 Tagen die ersten basophilen Körnchen; 
aber sonst blieben sie ganz gesund. P. Schmidt schreibt: „wenn es erlaubt wäre, 
die bei Kaninchen 7 gewonnenen Resultate einfach gewichtsproportional auf den 
Menschen zu übertragen, so würden bei einer 60 Kilo schweren Person täglich 


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Sind die aus Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 113 

300 mg Blei, im ganzen 4,5 g nötig sein, um eine ebensolche Blutveränderung zu 
erzeugen. Man hat zurzeit leider noch nicht den geringsten Anhalt dafür, welche 
Menge nötig ist, um den Menschen chronisch bleikrank zu machen.“ Dann gibt 
Schmidt den vorerwähnten Bericht über jenen Schlemmer, der täglich 2 1 /,, Liter 
Wasser trank, und der nach Aufnahme von 5,3 g Blei die ersten Symptome zeigte. 
— Die beiden Zahlen 4,5 und 5,3 g liegen nicht zu weit auseinander! 

Anlässlich eines Prozesses wegen Verkaufs von Schreihähnen und 
ähnlichen Instrumenten habe ich die folgenden Versuche gemacht: 
Von einem Pfeifchen, einem Pfeifchen in Pistolenform und einem in 
Trompetenform wurde das Mundstück abgeschnitten und gewogen; 
dann wurde die Annahme gemacht, dass das leichteste Mundstück, das 
der Trompete, vollständig, die erheblich schwereren beiden anderen zu 
einem Drittel innerhalb 3—4 Wochen abgebissen und hinuntcrgeschluckt 
würden. Es erhielten nun 25 Tage hindurch 


Tier 

Blei 

täglich 1 Summa 
mg | mg 

Gewicht bei 
Versuchs- 

Anfang Ende 

Zunahme 

an 

Gewicht 

1 junges Meer¬ 
schweinchen 

10,8 

271 

539 

753 

214 

1 Huhn 

10,8 

271 

1750 

1785 

39 

1 Kaninchen 

12,3 

307 

1936 

2150 

214 

1 Huhn 

12,3 

307 

1000 

1195 

195 

1 Kaninchen 

15,6 

300 

1184 

2050 

156 

1 Meerschweinch. 

15,6 

390 

510 

590 

80 


Das Blei wird 
gegeben als 


Feinst mit Sand ver¬ 
riebenes Hartblei 
in Substanz 

| Bleiweiss 
l Bleioxvd 

I 


Bei keinem der Tiere machte sich irgendwelche Gesundheits¬ 
störung bemerkbar; im Gegenteil, sie gediehen gut, wie die Gewichts¬ 
zunahme beweist; auch später hat sich keinerlei Nachwirkung gezeigt. 

In einem anderen Versuche habe ich drei junge, noch nicht halb 
ausgewachsene Hühner von 670, 506 und 404 g Gewicht täglich mit 
Blei, und zwar als essigsaures Blei, gefüttert, die ersten 5 Wochen 
hindurch mit je I mg, dann 3 Wochen mit 2 mg, dann 1 Woche mit je 
3 mg, zuletzt 3 Wochen mit 5 mg. Jedes der Tiere erhielt also 
im ganzen 213 mg innerhalb eines Vierteljahres. Alle Tiere befanden 
sich während dieser Zeit völlig wohl; ihr Gewicht hatte sich in den 
3 Monaten auf 1952, 1525 und 1180 g vermehrt, also rund ver¬ 
dreifacht! 

Ein anderes ausgewachsenes Huhn erhielt von mir 8 Wochen 
hindurch täglich 10 mg Blei, als essigsaures Blei, im ganzen somit 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 1. g 


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114 Prof. A. Gärtner, 

0,56 g. Das Tier liess nicht die Spur eines Krankheitssymptomcs 
erkennen. 

Auf einen Punkt mag noch hingewiesen sein: alle Bleipräparate 
und alles metallische Blei sind giftig, jedoch bestehen kleinere graduelle 
Unterschiede nach der Art der Präparate. Das Blei schwindet, ein¬ 
mal aufgenommen,• schwer aus dem Körper, und doch ist die in den 
Organen Gestorbener aufgefundene Menge stets eine relativ geringe. 
Naunyn (Toxikologie S. 258) schreibt: „Denn es scheinen unter allen 
Umständen, selbst bei sehr reichlicher Einnahme von Bleipräparatcn 
in den Körper nur sehr geringe Mengen derselben aufgenommen zu 
■werden.“ 

Gegen diese Auffassung habe ich in der Literatur einen Wider¬ 
spruch nicht gefunden. 

Von Belang ist die Zeit, die vom Beginn der Bleiaufnahrae bis 
zum Krankheitseintritt verstreicht. Aus den gewerblichen Bleiver¬ 
giftungen sei die nachfolgende Anlehnung in diesen schwer übersicht¬ 
lichen Fragen gestattet. Nach den statistischen Angaben von Kalten¬ 
bach pflegen bei den Malern und Anstreichern, sofern sie überhaupt 
erkranken, durchschnittlich 5—6 Jahre, bei den Druckern und Setzern 
10 Jahre zu verstreichen, bis die ersten Symptome von Bleivergiftung 
sich bemerkbar machen. 

Bei der Vergiftung durch Wasser in Claremont w T ar die Ein¬ 
richtung, welche die Bleiaufnahme bewirkte, bereits vor 11 Monaten 
getroffen, so lange war also das Wasser getrunken, als die Er¬ 
krankungen auftraten. 

Das Kibitzhager Wasser, das in Dessau die Bleivergiftungen be¬ 
wirkte, w r ar schon 7 Monate eingeleitet, als die ersten Vergiftungen 
bekannt wurden. Der ßezirksarzt Ritter (Vierteljahrsschrift für öffent¬ 
liche Gesundheitspflege Bd. 19 S. 441) erzählt, dass ein Herr seit 
Monaten täglich 2 Liter Wasser getrunken habe, ehe bei ihm die Ver¬ 
giftung in Gestalt von Bleikoliken sich bemerkbar machte. Jener 
von P. Schmidt erwähnte Herr hatte 2 Jahre lang täglich 7,25 mg 
Blei mit dem Wasser getrunken, bevor er die zur Vergiftung not¬ 
wendige Menge in sich aufgehäuft hatte. 

In Negenborn wurden täglich 69 mg Blei von den erwachsenen 
Männern gegessen; es dauerte dennoch 20—30 Tage, ehe die Krank¬ 
heitszeichen sichtbar wurden. 

Bei allen diesen Angaben sind nur die ersten Fälle be¬ 
rücksichtigt, also die kürzesten Zeiten; eine grosse, sogar die 


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« 

Original fro-m 

UMIVERSITY OF IOWA 



Sind die aus Lot hergestellten Pappenservice gesundheitsschädlich? 115 

grössere Zahl der Erkrankungen ist später, sogar erheblich später 
aufgetreten. 

Es erscheint mir überflüssig, nochmals auf die Zeiten hinzu¬ 
weisen, welche in den auf den vorstehenden Seiten angeführten Ticr- 
experimenten verstrichen sind, ehe die Tiere erkrankten. Selbst bei 
exorbitanten Dosen, wie sie beim Menschen nie Vorkommen sollten, 
vergingen Wochen, ehe der Tod eintrat. 

Das folgende Beispiel beweist, dass hohe Gaben auch beim 
Menschen Vorkommen können. Prof. Besser in Breslau (Vierteljahrs¬ 
schrift für gerichtliche Medizin Bd. 16 S. 95) erzählt: 

Eine Försterfamilie hatte seit dem 14. Mai 1896 eine 57 Schritt lange Wasser¬ 
leitung aus Blei benutzt, in welcher noch abgeraspelte Bleistückchen in ziemlicher 
Anzahl lagen. Am 10. Juni, also nach 27 Tagen, erkrankte die 17jährige Tochter, 
4 Tage später die Mutter, nach weiteren 14 Tagen der 45jährige Sohn und zu¬ 
letzt nach noch 6 Tagen der 11jährige Sohn. Die Tochter starb am 28. Juni 
1896; der Direktor des Nahrungsmittelamts in Breslau B. Fischer fand in dem 
Wasser 950, geschrieben neunhundertfunfzig Milligramm Blei im Liter (in 735 g 
Leber, Milz und Nieren der Toten 27,7 mg). Der Name des Untersuchers enthält 
die Bürgschaft für die Richtigkeit der Zahl. Möglich ist, dass zurZeit der Unter¬ 
suchung mehr Blei vom Wasser aufgenommen war als in der Zeit vor der Er¬ 
krankung; aber selbst wenn nur */ 4 des Bleies vorhanden war, so ist doch die 
Menge ungeheuer, fast y 4 g, und trotzdem war die Aufnahme 27 Tage hindurch 
erfolgt, ehe die Krankheitssymptome sich zeigten! 

Die vorhin angeführten Versuche von P. Schmidt und von mir 
lehren, dass selbst kleinere Tiere 2 x / 2 Monate hindurch bis zu 5 mg, 
und 25 Tage hindurch pro Kilo 10,8—30 mg Bleipräparate erhalten 
können, ohne zu erkranken. 

Aus alle dem Vorstehenden darf man den Schluss ziehen, dass 
zweifellos das Blei ein recht bösartiges Mineral ist, welches, 
selbst in kleinen Dosen lange Zeit genossen, gesundheitliche Schädi¬ 
gungen bewirken kann. Die krankmachenden Dosen sind in¬ 
dessen durchaus nicht so klein, als man vielfach anzu¬ 
nehmen scheint; sie müssen doch anscheinend schon bis 
an eine Tagesdosis von 4—7 mg (Dessauer Fall und 
P. Schmidts Fall) herangehen, wenn sie in mehrmonatigen 
bis zweijährigen täglichen Aufnahmen Zeichen der Blei¬ 
vergiftung hervorrufen sollen. 

Bei täglichem Gebrauch von 60—70 mg (Negenborn) und darüber 
sind doch noch 3—4 Wochen erforderlich, bis die Krankheitserschei¬ 
nungen sich bemerkbar machen. 

8 * 


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Original frnm 

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116 


Prof. A. Gärtner, 


In der Industrie der Maler, Drucker und Schriftsetzer dauert es 
sogar 5—10 Jahre durchschnittlich, ehe die Symptome der Intoxikation 
auftreten. 

Dosen für den Tag, die unter 0,35 mg liegen, sind 
sicherlich dauernd ungefährlich. 

Die Tierexperimente, denen man um deswillen eine grössere 
Bedeutung zusprechen muss, weil sie sich auf die verschiedensten 
Tiere erstrecken — Ziegen, Kaninchen, Meerschweinchen, Hunde, 
Katzen, Hühner und, wie wir später sehen werden, auch Mäuse —, 
geben eindeutig an, dass mindestens 5—10 mg durch min¬ 
destens 3 Wochen vertragen werden ohne jede Schädigung. 

Ist es auch, wie P. Schmidt sehr richtig hervorhebt, nicht 
möglich, bestimmt zu sagen, wieviel Blei zur Vergiftung beim Menschen 
notwendig ist, so folgt doch aus den Zahlen, die wir gebracht haben, 
dass die Vergiftungsgrenze über 0,35 mg, wahrscheinlich aber — Tier¬ 
experimente, Dessauer Vergiftung, der Schmidt sehe Fall usw. — 
erheblich höher liegt, und zw r ar, wie ich aus den Tierexperimenten 
folgern möchte, um mehr als das Zehnfache höher liegt, wenn 
eine solche Aufnahme die Dauer von 3—4 Wochen nicht wesentlich 
überschreitet. 


IV. Das Erkennen der Krankheit. 

Für den zuletzt ausgesprochenen Satz sprechen ferner Unter¬ 
suchungen, die von Grawitz eingeleitet und ausser an anderen Stellen 
im Hygienischen Institut in Leipzig in grösserem Masse ausgeführt 
worden sind. Die Versuche verfolgten den Zweck, die Diagnose¬ 
stellung zu erleichtern. 

Es ist zuzugeben, dass es oft nicht leicht ist, die Anfangszeichen 
einer Bleierkrankung zu erkennen; die verschiedensten Symptome hat 
man teils mit Recht, teils mit Unrecht zur Diagnose mit heran¬ 
gezogen, aber nicht viel Sicheres erreicht; immer noch bis vor kurzem 
w r aren der Bleisaum, die Bleikolik, die eigenartige Blässe und leichte 
Bewegungsstörungen die ersten entscheidenden Anzeichen. Da entdeckte 
Grawitz, dass bei Bleikranken in einer grösseren Anzahl roter Blut¬ 
körperchen sich grössere und kleinere Körner vorfinden, v r elche sich 
mit den basischen Farbstoffen leicht färben lassen (basophile Körne- 
lung). Die Arbeiten von P. Schmidt und A. Trautmann (Archiv 
für Hygiene, Bd. 63, und Münchener medizinische Wochenschrift, 1909) 
lehren, dass bei sonst schon vorhandenen Symptomen der Bleikrank- 


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Sind die aus Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 117 

heit solche basophile rote Blutkörperchen stets in grösserer Zahl im 
Blut vorhanden sind, während sie bei Leuten, die nicht mit Blei in 
irgendeiner Form zu tun haben, bis auf rund 2 pCt. der Untersuchten 
fehlen. Die Autoren wollen mit Recht die basophile Körnelung der 
roten Blutkörperchen — P. Schmidt, wenn sich 100, Trautmann, zur 
grösseren Sicherheit, wenn sich 300 gekörnte auf 1 Million roter Blut¬ 
körperchen finden -- zur Diagnose verwenden. Es ist sehr erfreulich, 
dass sich so eine Handhabe bietet, die Infektion mit Blei zu entdecken 
und andererseits Krankheiten anderer Art, die bei Leuten auftreten, 
welche mit Blei in Berührung kommen, als nicht durch Blei bewirkt 
hinzustellen. 

Ob die Körnelung schon als Krankheitssyraptom aufzufassen ist 
oder nur als Warner, mag dahingestellt bleiben. 

Bei seinen Untersuchungen fand Schmidt, dass unter 546 Ar¬ 
beitern aus Blei betrieben 72,9 pCt. keine Körnelung hatten; Traut- 
mann stellte fest, dass unter 233 ihm von Aerzten zugewiesenen 
Bleiarbeitem 43,8 pCt. ohne Körnelung waren, ein Zeichen, dass doch 
nicht so viele Personen im Bleigewerbe krank sind, wie von mancher 
Seite behauptet bzw. angenommen wird. 

Durch die neue Methode ist man in den Stand gesetzt, auch 
Kinder, auf deren Aussage selbstverständlich wenig zu geben ist, auf 
Bleieinwirkung zu untersuchen und so der Richtigkeit des Einwandes 
nachzuforschen, ob Bleiintoxikationen bei Kindern so ungemein selten 
seien, weil die Krankheit bei ihnen unter anderen, nicht genügend 
bekannten Symptomen verlaufe. 

V. Die Bleierkrankungen bei Kindern. 

In den Gerichtsverhandlungen wird von Sachverständigen zuweilen 
behauptet, die Puppenspielservice seien deshalb besonders gefährlich, 
weil die zarten, für Blei so sehr empfänglichen Kinder das Gift in 
sich aufnehmen. Ein solcher Ausspruch ist sehr geeignet, auf den 
Richter einen Einfluss auszuüben. 

Um zu wissen, wie es mit dieser Behauptung steht, muss zu¬ 
nächst erörtert werden, ob eine verschiedene Disposition für* Blei 
überhaupt vorhanden ist. Es scheint, als ob sie bei Tieren bis zu 
einem gewissen Grade vorkomme; so sollen nach Fuchs möglicherweise 
die Ziegen immun sein. Der früher angegebene Versuch Lehmanns 
scheint diese Annahme zu stützen. Auch sind vielleicht Kaninchen 
weniger empfindlich. Weiterhin macht P. Schmidt darauf aufmerksam, 


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I 


118 Prof. A. Gärtner, 

dass Individuen derselben Tierart, Kaninchen, auf gleiche Dosen ver¬ 
schieden reagieren; so zeigte bei 5 rag das eine Kaninchen basophile 
Körnchen, das andere nicht, so starb das eine Kaninchen, welches 
50 rag Blei unter die Haut gespritzt bekam, 17 Tage nachher, das 
andere blieb völlig gesund. 

Bei den Menschen ist auffallend, dass von einer der gleichen 
Gefahr ausgesetzten Zahl stets nur ein Teil erkrankt. Sicherlich 
sind die äusseren Bedingungen nicht ganz gleich; indessen dürfte 
doch auch eine verschiedene Empfänglichkeit mit in Betracht kommen; 
jedenfalls besteht kein sichtlicher Grund, sie zurückzuweisen, und 
B. Lehmann, einer unserer grössten Giftkenner, nimmt sie an: „Wir 
werden vielmehr wohl eine verschiedene Empfänglichkeit der Menschen 
gegen kleine ßleidosen annehmen müssen.“ Von anderen Autoren, 
die auf dem gleichen Standpunkt stehen, seien Naunyn und Wolff- 
hügel genannt. 

Kionka (Grundriss der Toxikologie. S. 443) äussert sich folgender- 
massen: „Besonders mag hervorgehoben werden, dass die Empfind¬ 
lichkeit der einzelnen Individuen dem Blei gegenüber eine verschie- 
enc ist.“ 

Was die Erkrankung der Kinder angeht, so meint Naunyn, dass 
bei den Kindern eine höhere Empfänglichkeit zu bestehen scheine 
(Ziemssen, Handbuch d. spez. Pathol. u. Ther., Bd. 15, S. 260). 
Der Auffassung Naunyns stehen aber die anderer Autoren gegenüber. 

Kionka schreibt: „Es scheint, als ob bei Kindern im allgemeinen 
die Disposition zum Saturnismus eine recht geringe wäre (vgl. „Das 
Analoge bei der chronischen Arsenikvergiftung“). 

An der angegebenen Stelle findet sich: „Aus den bei solchen 
Gelegenheiten gewonnenen Statistiken schien hervorzugehen, dass 
Kinder gegen wiederholte Zufuhr kleiner Arsenikmengen viel weniger 
empfindlich sind. Während die Erwachsenen z. T. schwer erkrankten, 
blieben die unter den gleichen Bedingungen lebenden Kinder gesund. 
Auch im Wachsen begriffene Tiere sollen verhältnismässig viel mehr 
Arsenik vertragen als erwachsene.“ 

Kunkel, Handbuch der Toxikologie, führt aus: „Der Angabe 
Naunyns, dass Kinder leicht befallen werden, stellt Wolffhügel 
die Beispiele von Clairemont und Dessau gegenüber, wo Kinder fast 
ganz verschont blieben.“ 

Hier können nur Zahlen beweisen. Daher sei betreffs Clairemont 
gesagt, dass von 38 Personen 11 Männer und 2 Frauen, von den in 


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Sind die aus Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 119 


der Zahl 38 enthaltenen 6 Kindern zwischen 3—7 Jahren nicht eines 
erkrankte. 

Wolffhügel gibt für Dessau die folgenden Zahlen. Es sind 
bleikrank geworden: 


In einem Alter 

Personen 

%o der gleich- 
alterigen Einwohner 

Unter 1 Jahr . 

, , 

. . 0 

o- 

von 1 — 5 Jahren . 

. . 2 

0,79 

n 5-10 

77 

. . 1 

0,34 

„ 10—15 

n 

. . 2 

0,71 

„ 15—20 

n 

. . 4 

1,40 

„ 20—25 

77 

. . 4 

2,93 

a 

K, 

O* 

1 

CO 

o 

77 

. . 11 

4,32 

„ 30—35 

77 

. . 14 

6,57 

„ 35—40 

77 

. . 13 

7,83 

„ 40—45 

7? 

. . 12 

9,05 

„ 45—50 

77 

. . 7 

5,92 

„ 50—55 

77 

. . 8 

7*84 

„ 55—60 

77 

. . 3 

3,31 

über 60 Jahre 

. 

. . 6 

2,74 


Man könnte sagen, dass allerdings bei diesen 92 Personen ganz 
auffällig wenig Kinder befallen seien, da aber gegen 200 Leute er¬ 
krankt wären, seien darunter vielleicht viele Kinder; der Physikus 
Richter schreibt jedoch (Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheits¬ 
pflege Bd. 19) mit gesperrter Schrift: „Merkwürdigerweise wurde kein 
Kind krank“. 

Ich darf aus der neueren Literatur noch die Statistik anführen 
von ßleierkrankungen durch Wasser, welche Helwes im Kreise Diep¬ 
holz beobachtete (Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin Bd. 31): 

Erkrankte Personen 

Unter 1 Jahr.1 

von 1 —10 Jahren.2 

n 10-30 „ 4 

„ 30—60 „ .20 

über 60 Jahre.0' 

Das 9 Monate alte Kind hatte kein Wasser getrunken, sondern 
die Milch der Mutter. Die Frau hatte als Krankheitszeichen einen 
leichten Bleisaum und Stuhlbeschwerden, war aber sonst ebenso wie 


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120 


Prof. A. Gärtner, 

der Mann und zwei Kinder gesund; der Autor führt die Mutter auch 
nicht in seiner Liste auf. Da das Kind zudem an Lungenentzündung, 
Schwäche und Abmagerung gelitten hatte, so darf es wohl nicht als 
durch Blei erkrankt bezeichnet werden, trotz des verlangsamten Pulses 
und der Stuhlverstopfung, abwechselnd mit Durchfall. 

Von den bei der Epidemie von Negenborn als erkrankt auf¬ 
geführten Personen standen im Alter von 


unter 1 

Jahr . . 

. 0 

30—35 

Jahren 

. . 8 

1— 5 

Jahren . 

. 0 

35—40 

77 

. . 5 

5—10 

V 

. 3 

40—45 

77 

. . 7 

10—15 

77 

. 8 

45—50 

77 

. . 8 

15—20 

77 

. 10 

50—55 

77 

. . 5 

20—25 

n 

. 5 

55—60 

77 

. . 1 

25—30 

77 

. 12 

über 60 Jahre 

. . 3 


Hier tritt wiederum das Verschontbleiben des jugendlichen Orga¬ 
nismus in der schärfsten Weise zu Tage. 

Man soll aus den Zahlen nicht zu viel folgern, aber das darf, 
das muss gefolgert werden, dass eine Prädisposition des jugend¬ 
lichen Alters bis gegen das 10. Jahr bestimmt nicht besteht, 
dass vielmehr ein recht beträchtliches Verschontbleiben 
dieser Altersgruppe sich deutlich hervorhebt. Worauf das 
beruht, ist nicht klar; dass die Krankheit unter anderen Formen ver¬ 
liefe, wie bei Erwachsenen, ist gar nicht anzunehmen; das würde man 
längst herausgefunden haben. 

Die Schädigungen, entsprechend § 12 des Nahrungsmittelgesetzes, 
sollen dadurch entstehen, dass während des längeren und wieder¬ 
holten Spielens der Kinder mit den Puppenservicen Blei durch die 
Haut der Hände oder durch den Mund entweder als in den Nahrungs¬ 
mitteln gelöstes oder mit den Zähnen abgebissenes metallisches Blei 
in den Magendarrakanal gelange und von dort aus resorbiert werde. 
Dass das Blei als Staub, durch Einatmung also, in den Körper ein¬ 
dringt, ist nirgends behauptet, ist auch völlig ausgeschlossen und 
braucht deshalb nicht berücksichtigt zu werden. Erwähnt sei jedoch, 
dass im Gewerbebetriebe gerade diesem Modus der Bleiaufnahme die 
allergrösste, die ausschlaggebende Bedeutung zukommt, wobei es nichts 
verschlägt, dass auch hier die Aufnahme des Bleies in den Körper 
durch Verschlucken des Staubes mit dem Speichel und Nasen-Rachen- 
höhleninhalt wesentlich mit bedingt ist. 


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Sind die aus Lot hergestellten Pnppenservice gesundheitsschädlich? 121 


VI. Die Aufnahme von Blei ans den Pnppenspielservicen durch die 
Haut in den Körper des spielenden Kindes. 

In einigen Gerichtsverhandlungen haben Sachverständige die 
Meinung ausgesprochen, dass das Blei durch die Haut einzudringen 
vermöge, besonders wenn die Kinder an den Händen schwitzen. 

Der Auffassung, als ob dieser Weg von Belang sei, stehen die 
Ansichten der Autoren entgegen. 

Heinz sagt in seinem Lehrbuch der Arzneimittellehre, Jena 1901: 
„Die Bleiverbindungen werden vom Magendarmkanal wie von anderen 
Schleimhäuten, von Wund- und Geschwürsflächen, in kleinsten 
Mengen auch von der Haut resorbiert.“ 

Bei Lewin, Lehrbuch der Toxikologie 1885, heisst es: „Lösliche 
oder bereits gelöste Bleisalze unterliegen auch der Resorption von der 
Haut aus in ziemlich beträchtlichem Masse; aber es gehören hierzu 
entsprechend der untergeordneten Stellung, welche die Haut 
unter allen Resorptionsorganen einnimmt, konzentrierte, lange 
Zeit angewandte Bleilösungen oder Bleisalben, die mit Borstenpinseln 
eingerieben werden, um den Effekt hervorzurufen, der in viel kürzerer 
Zeit durch subkutane Injektion oder durch Beibringung von Blei in 
Dampfform von der Lunge aus erreicht werden kann.“ 

Eigentlich muss man sich wundern, dass jemand darauf kommt, 
bei dem Spielen mit den Puppenservicen dringe das Blei durch die 
Haut oder kleine Verletzungen seien die Eintrittspforten für das Gift. 
Wieviel Blei kommt denn durch die Haut? Ich habe darüber zwei 
Angaben zu machen, die einen Schluss gestatten. 

Schmidt schreibt, dass er in dem Waschwasser der Hände von 
Schriftsetzern, die 5 Stunden gearbeitet hatten, 4 mg Blei, de Vooys 
in dem Waschwasser von Setzerhänden zwischen 6 und 14 mg Blei 
gefunden habe. Die Setzer sind von mir ausgewählt, weil ihre Tätig¬ 
keit ohne grosse Kraftanstrengung vor sich geht und die Berührung 
ihrer Hände mit den Lettern denen der Kinderhände mit dem Spiel¬ 
zeug noch am meisten gleicht. Man kann nun ungefähr folgende 
Rechnung aufmachen: Wenn 2 Kinderhände sich zu 2 Setzerhänden 
verhalten wie 1 zu 3, die Setzer 5 Stunden, die Kinder 1 Stunde 
das Material in der Hand haben, dann kann an den Kinderhänden 
nur etwa y 15 des Bleies kleben als an den Setzerhänden, d. h. 4 / lß bis 
u /is mg, also höchstens 1 mg! Und das soll durch die schweissige 
Haut dringen und die Kinder umbringen. Difficile est satyram non 
scribere! 


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122 


Prof. A. Gärtner, 

Ein findiger Sachverständiger hat sich erlaubt, vor den Richtern 
mit einem solchen Gefässchen Striche zu ziehen, als ob die Richter 
nicht wüssten, was ein ßleistiftstrich ist, um zu zeigen, dass das Blei 
beim Reiben etwas abgibt. Ich habe das mit einem vorher genau 
ausgewogenen Schreihahn nachgemacht; es wurden Linien gezogen 
von zusammen 31 m Länge und einer Durchschnittsbreite von l 1 /, mm. 
Die dadurch beschriebene Fläche deckt 465 qcm und die ganze Ab¬ 
nutzung betrug 5 mg! Man sieht, so ein Strich fällt in die Augen, 
aber nicht in das Geweht, er zeigt zugleich, wie unendlich dünn, wie 
w r enig also so eine Bleischicht ist. Dass der Schreihahn 80 pCt., 
das Service 40 pCt. Blei enthält, ignoriere ich hierbei. 

Hartnäckige Gegner sagen, wenn auch die Aufnahme durch die 
Haut nicht schade, so brächte doch das Kind die bleihaltigen Hände 
an den Mund, wodurch Blei in den Magen-Darmkanal gelange. Das 
kann geschehen. Indessen stellt der in den Mund übergeführte Teil 
nur einen kleinen Bruchteil der an den Händen befindlichen ganzen 
Menge dar, welche, w r ie erwähnt, für eine Hand höchstens 1 / 2 mg 
betragen kann; wird davon der vierte Teil in den Mund gebracht, so 
w'äre das 1 / s mg! Mit solchen Grössen Vergiftungen konstruieren zu 
wollen, gehört in das Gebiet der Unmöglichkeiten. 

Wenn Setzer und Drucker an Bleivergiftung erkranken, so ge¬ 
schieht das vornehmlich dadurch, dass sie den in den Setzersälen sich 
stark entwickelnden oder in den Setzkästen in grossen Mengen ent¬ 
haltenen Staub einatmen. Man hat (Berlin, Landgericht I) die Blei¬ 
vergiftung der Setzer in Vergleich gebracht mit der durch Bleispiel¬ 
sachen der Kinder. Die Setzer sind tagein tagaus, jahrein jahraus, 
von früh bis spät mit ihren bleihaltigen Lettern beschäftigt (Lettern¬ 
metall enthält 75pCt. Blei), atmen den ganzen Tag den Staub ein, 
essen teilweise mit ungereinigten Händen; es ist also bei ihnen die 
Infektionsgefahr unendlich viel grösser als bei den Kindern. 
Sollten die Herren Sachverständigen den Richtern nicht gesagt haben, 
dass nach der Statistik (Kaltenbach, Hyg. Rundsch. 1909) trotz der 
viel grösseren Gefahr durchschnittlich 10 Jahre vergehen, ehe sich 
die Symptome der Vergiftung bei den Setzern zeigen, sofern sie über¬ 
haupt auftreten, so sei das hiermit nachgeholt. 

Wieviel Blei erforderlich ist, um von den Händen aus Vergiftung 
zu erzeugen, lehrt der Fall des Dr. med. Daguet (Ann. d’hyg. 
publ. et de med. leg. 1888, p. 249). Eine Frau klebte täglich 5000 
Stück Bapierstreifchen, welche an der einen Seite mit einer roten 


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Sind die aus Lol hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 123 


Farbe bedeckt waren, die in ungefähr 15 qcm Fläche 12 mg Mennige 
enthielt, auf Dosen in der Weise, dass sie jedesmal, bevor sie ein 
Streifchen abhob, den Zeigefinger an die Zunge brachte. Nach 
8 Monaten meldete sie sich beim Arzt. Unter der Annahme, dass sie 
schon 2 Monate früher bleikrank war, und der Monat 25 Arbeits¬ 
tage hat, brachte die Frau 750 000 mal! den mit Minium besudelten 
Finger an die Zunge. Ist das bei den Spielservicen auch der Fall? 

VII. Die Aufnahme des an die Speisen in den Gefässen 

abgegebenen Bleies. 

Der Angelpunkt der ganzen Frage liegt eigentlich hier. Man 
weiss, dass Ess-, Trink- und Kochgeschirre Blei an die Speisen und 
Getränke abgeben, und dass dadurch Bleivergiftungen entstehen können 
und entstanden sind; ex analogia folgert man, dass das bei den Puppen¬ 
spielservicen gleichfalls geschehen könne. 

Schon in meiner in dieser Yierteljahrsschrift Bd. XVIII ver¬ 
öffentlichten Arbeit, die ich übrigens Wort für Wort aufrecht er¬ 
halte und die in den 10 Jahren seit ihrer Veröffentlichung nicht 
angegriffen worden ist, findet sich S. 17, dass es dem Bearbeiter 
des Gesetzentwurfs, Regierungrat Dr. med. Wolffhügel, nicht ge¬ 
lungen ist, überhaupt mehr als 6 Fälle von Vergiftung durch Ess-, 
Trink- und Kochgeschirre aus der ganzen Literatur zusammenzubringen. 
Prof. Frankel fügt noch zwei Fälle hinzu, wo Leute nach dem Ge¬ 
nuss von Cider aus Zinnkrügen erkrankt seien (Dr. Ren du und Dr. 
Laudet). Einen dritten Fall darf ich erwähnen (Dr. Variot), wo 
ein Kind nach langem Gebrauch eines Zinnbechers mit 75 pCt. Blei¬ 
gehalt erkrankt war. (Ann. d’hyg. et de med. leg. 1902, p. 77), und 
noch einen vierten Teil nach Dr. Condamy-Rochelle, wo jemand 
erkrankte nach jahrelanger Benutzung von Zinntellern mit 39,85 pCt. 
Blei (Ann. d’ hyg. et de med. leg. 1901, p. 279). Das sind also 
im Ganzen 10 Fälle von Bleierkrankungen durch Zinnblei-Ess-, Trink- 
und Kochgeschirre, die überhaupt bekannt geworden sind. 

Dahingegen ist in der ganzen Literatur kein Fall ver¬ 
zeichnet, dass durch 33 pCt. Blei enthaltende Puppenspiel¬ 
service— und ebensowenig durch Schreihähne oder Triller¬ 
pfeifen — irgend ein Kind erkrankt sei. 

Im Jahre 1905, als diese Tatsache auch schon bekannt war, er¬ 
schien in Band 22 der Arbeiten aus dem Kaiserl. Gesundheitsamt 
eine Arbeit von Dr. Sackur, deren Satz 3 der Zusammenfassung 


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124 


Prof. A. Gärtner, 

lautet: „Die Angreifbarkeit der Bleizinnlegierungen wächst in ver¬ 
dünnten Säuren stetig mit dem Gehalt der Legierungen an Blei.“ 

Der Autor hatte mit einer Ziehklinge abgezogene Zinnbleiplatten 
verschiedenen Bleigehalts in Essigsäurelösungen verschiedener Konzen¬ 
tration hineingehängt und fand ausser dem vorher erwähnten Resultat, 
dass Platten von 30—40 pCt. Bleigehalt und 267,9 qcm Fläche in 
47 2 Stunden an 1 Liter der nachfolgenden Essigsäurekonzentrationen 
an mg Blei abgeben: 

in 0,05 n Essigsäure = 10 fach . . 

verdünntem gewöhnlichen Essig in ’ ^ ssigsäure j n q 25 n _ 2 fach 
(unter verschiedenen Be- ac v ® r ünntem verdünntem Essig 

dingungen): fciSS,g: 

29,1 I 

30,8* i = rund 30mg 23.0* 6,85* 

29,6* \ 

in 0,045 n = 4,05 g Milchsäure in 0,009 n = 0,81 g Milchsäure 
in 1 Liter in 1 Liter 

6,7 65*. 

Die mit * bezeichneten Zahlen sind auf 35 pCt. annähernd gemittelt; die 
letzte Zahl verdient anscheinend wonig Vertrauen, da die sie zusammensetzenden 
Einzelbestimmungcn bis fast 100 pCt., zwischen 51 und 94,8 mg, schwanken. 

Die Arbeit Sackurs ist entstanden auf ein Gesuch der 
Bayerischen Gewerbevereine um Aenderung der auf den Gehalt der 
Zinnbleilegierungen bezüglichen Bestimmungen des Bleizinkgesetzes 
vom 25. Juni 1887; sie hat 4 Jahre in Anspruch genommen. Das 
Kaiserl. Gesundheitsamt hat dann einen Bericht an den Staatssekretär 
des Inneren gemacht und, gestützt hauptsächlich auf den vorhin er¬ 
wähnten Satz 3, erklärt, dass eine Aenderung des Gesetzes nicht 
empfohlen werden könne, sondern der Gehalt von 10 pCt. Blei als 
oberste zulässige Grenze festzuhalten sei. „Auch die Puppengeschirre 
dürften hiervon keine Ausnahme machen.“ (Deutsche Nahrungsmittel¬ 
rundschau 1905, Nr. 7.) 

Daraufhin wendeten sich verschiedene Ministerien Deutschlands 
an ihre Verwaltungsorgane, sie möchten darauf dringen, dass betreffs 
der Zinnbleigebrauchsgegenstände und Puppengeschirre dem Gesetz 
vom 25. Juni 1887 entsprochen werde. — In der preussischen 
Ministerialverfügung an die Regierungspräsidenten heisst es: „Im Hin¬ 
blick auf die durch einwandfreie Ermittelungen erwiesene Tatsache, 
dass die Angreifbarkeit der Zinnbleilegierungen mit dem Bleigehalt 



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Sind die aus Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 125 

der Legierung wächst, ersuchen wir usw.“ Hier sind schon die Worte 
„in verdünnten Säuren“ fortgelassen, trotzdem die Anwesenheit 
von Säuren das Ausschlaggebende ist neben Anwesenheit von Sauer¬ 
stoff; es hat also eine nicht gerechtfertigte Verallgemeinerung statt¬ 
gefunden. In dem Bericht des Städtischen Untersuchungsamtes von 
Leipzig 1905 (Uebersicht über die Jahresberichte der öffentlichen An¬ 
stalten zur technischen Untersuchung von Nahrungs- und Genuss¬ 
mitteln“ aus dem Jahr 1905) heisst es bereits: „Seitdem auf Grund 
umfassender Untersuchungen des Reichsgesundheitsamts die Gesund¬ 
heitsschädlichkeit von Bleizinnlegierungen mit über 10 pCt. Bleigchalt 
als erwiesen anzusehen ist, usw.“ 

Diese Steigerungen sind sehr kräftig, aber nicht uninteressant; 
man sicht daraus, wie wenig Verständnis dem Schreiben des Gesund¬ 
heitsamts entgegengebracht worden ist. 

In dem Bericht des Amtes an den Herrn Staatssekretär ist noch 
ein Abschnitt enthalten, der nicht unberührt passieren darf. Es 
steht da: 

„die Mengen Blei und Zinn, die sich auflösen, hängen in erster Linie von 
der Natur der einwirkenden Lösung ab. Ist sie schwachsauer, so wird viel Blei 
und wenig Zinn gelöst; enthält sie konzentrierte Säure, so findet sich viel Zinn 
und wenig Blei in der Lösung. In diesem Falle wird nämlich das zuerst aufgelöste 
Blei durch das Zinn wiederausgefällt und setzt sich als schwarzer, lose haftender 
Ueberzug an derObcrlläche der Legierung ab. Da dieser sich bei der mechanischen 
Bearbeitung, z.B. beim Scheuern und Putzen ablöst, so liegt die Gefahr vor, dass 
das wieder ausgefällte Blei trotzdem in die Nahrungmittel oder das Spülwasser 
übergeht.“ 

Gegen die ersten Sätze ist nichts einzuwenden; sie basieren auf 
den an sich tadellosen Untersuchungen Saekur’s. Ob aber der durch 
Ausfallen von Blei entstandene Ueberzug, über dessen Menge sich 
bedauerlicherweise in der Sackurschen Arbeit kein Wort findet, in 
seiner Totalität so sehr lose haftet, kann bezweifelt werden. Dahin¬ 
gegen ist mir der zuletzt erwähnte Satz unverständlich geblieben: 
das durch Scheuern und Putzen abgelöste Blei kann, meines Erachtens, 
gar nicht in die Nahrungsmittel übergehen! Die Gefässe werden 
doch geputzt und gescheuert, damit das nicht geschehe; und dass 
das Blei beim Putzen und Scheuern in das Spülwasser gelange, ist 
gerade die Absicht; denn mit dem Spülwasser wird das Blei durch 
Fortschütten definitiv beseitigt. 

Die Empfehlung, das Gesuch der bayrischen Gewerbevereine 
abzulehnen, stützt sich auf rein theoretische Betrachtungen und 


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126 


Prof. A. Gärtner, 


hat als Grundlage, dass die übrigen organischen Säuren so wirken 
wie die Essigsäure und Milchsäure (dass sie das tun, ist jedoch 
nicht erwiesen), sowie dass der Angriff stets auf blanke Legierungen 
statthabe. Letzteres ist, ausser vielleicht bei der ersten Benutzung 
des Gefässes, niemals der Fall. Der Verfasser der Arbeit musste für 
seine rein wissenschaftlichen Bestrebungen mit dem blanken Metall 
arbeiten; nur so konnte er seine Gesetze finden, die in der Tat ein¬ 
wandsfrei erscheinen. Aber den bayrischen Gewerbevereinen sind 
diese Gesetze ganz gleichgültig; sie wollen wissen, ob in der 
Praxis so viel Blei in Lösung geht, dass gesundheitliche 
Schädigungen entstehen, und ob aus diesem Grunde die 
zum Teil recht strengen Bestimmungen — ich denke da z. B. 
an Teile von Bierglasdeckeln — gemildert werden können oder 
nicht. Zur Entscheidung dieser Frage jedoch sind die wissenschaft¬ 
lich hochbedeutsamen Arbeiten Sackurs leider wertlos. Saekur 
hat mit seinen Arbeiten da aufgehört, wo er hätte anfangen müssen! 
Was er geschrieben hat, ist nichts anderes wie eine vorzügliche theo¬ 
retische „Einleitung“ in die eigentliche Arbeit. 

Mir kommt hierbei der Ausspruch eines anderen Mitgliedes des 
Kaiserl. Gesundheitsamts, des Verfassers der „technischen Erläute¬ 
rungen für das Bleizinngesetz“, Wolffhügel, in den Sinn: „Man darf 
bei Beurteilung von Beobachtungsergebnissen nicht übersehen, dass sie 
nur für diejenigen Verhältnisse Geltung beanspruchen 
können, welche in den ihnen zugrundeliegenden Versuchen 
obgewaltet haben.“ Diesem wichtigen Grundsatz seines Vorgängers 
ist der Autor hier nicht gefolgt; in der Ausführung seiner wissen¬ 
schaftlichen Arbeit scheint ihm der Boden der Praxis unter den Füssen 
fortgerutscht zu sein. 

Aber beschäftigen wir uns trotz alledem mit den Zahlen Sackurs 
und sehen wir, was sie für die Puppenservice bedeuten, mit welchen 
wir hier allein zu rechnen haben. 

Im ganzen hat Saekur erhebliche Mengen Blei als in Lösung 
gehend gefunden und es ist nicht zu übersehen, dass die dünnsten 
Lösungen die grösste Wirkungen ausübten. Rechnen wir mit letzteren 
und nehmen wir 30 mg als Mittel an (conf. die kleine vorstehende 
Tabelle), so stellt sich der Vergleich mit den Puppenservicen ungefähr 
folgendermassen: Eine Servicetasse möge 10 ccm fassen (so grosse 
Tassen sind jedoch selten). Dann besitzt sie, als zylindrisches Gefäss 
gedacht, rund eine Höhe von 3 cm, einen Durchmesser von 2 cm, 


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J 

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Sind die aus Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 127 

eine innere Wandfläche von ca. 18 qcm; ein Teilerchen von 6 cm 
Durchmesser hat eine Oberfläche von 27,9 qcm, oder die in Betracht 
kommenden Flächen betragen rund 1 / 1S und VlO der von Sackur 
verwendeten. Da die Bleiabgabe unter sonst gleichen Ver¬ 
hältnissen der Fläche proportional ist, so würden die Ge- 
schirrchen unter den sonstigen Bedingungen 2 bzw. 3 mg 
Blei abgeben! 

Aber selbst diese paar Milligramme kommen nur zum 
kleinsten Teil zur Geltung! 

a) Sackur benutzte glänzende mit der Ziehklinge gereinigte 
Flächen; die Gefässe jedoch sind mit einer Oxydschicht bedeckt und 
diese verhindert den Angriff der Säure in hohem Masse; die Oxydation 
hat schon stattgefunden, ist schon erledigt. 

b) Sackur hielt die stark lufthaltige Flüssigkeit, die seine blanken 
Platten umspülte, in steter Bewegung, um immer neue Sauerstoffraoleküle 
heranzubringen, oder durch die Strömungen in der Flüssigkeit kamen 
stets neue Teilchen an die Platten. Davon ist selbstverständlich bei 
den Spielsachen keine Rede. Zudem ist fraglich, ob wirklich freier 
Sauerstoff in genügender Menge vorhanden ist, wenn abgekochte Milch, 
Tee, Kaffee, Schokolade, Apfelmus und dergl. in die Gefässchen ge¬ 
schüttet wird; denn durch das Kochen ist der Sauerstoff entfernt worden. 

c) Zuletzt aber nicht an letzter Stelle sei erwähnt, dass die Ver¬ 
suche Sackurs auch den Einfluss der Einwirkungsdauer ergeben haben. 
In 1 Stunde wird erheblich weniger Blei gelöst als in 4 1 / 2 Stunden; 
zudem dürfte, wie früher bereits ausgeführt, im Durchschnitt I Stunde 
Verw’eilens der Speisen und Getränke schon viel zu viel sein. 

Zählen wir die Wirkung der Faktoren: die bereits vorhandene 
Schutzschicht, die fehlende Bewegung, der an sich schon geringe 
Sauerstoff, die auf weniger als ein Viertel verkürzte Zeit zusammen, 
so stellt sich ein so gewaltiger Divisor heraus, dass von den vorhin 
notwendig sich aus der verkleinerten Oxydationsfläche ergebenden 
2 bzw. 3 mg nicht mehr wie 2 bzw. 3 Zehntelmilligramme übrig 
bleiben dürften. 

Wendet man somit die Zahlen Sackurs auf die Puppen¬ 
service als massgebend an, so ergibt sich eine so geringe 
Menge Blei, dass man schlechterdings nicht verstehen 
kann, wie der dem Bericht an den Staatssekretär des 
Innern auf die Puppenservice bezügliche Satz noch zu guter 
Letzt hat angefügt werden können. 


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128 


Prof. A. Gärtner, 


Dass die obigen Kalkulationen genügend genau stimmen, folgt 
aus der nachstehenden Zusammenstellung derjenigen Resultate, die 
erzielt worden sind durch den „natürlichen“ Verhältnissen besser 
angepasste Untersuchungen von Nahrungsmitteln, welche in Puppen¬ 
spielservicen gestanden haben. Alles ist zusammengetragen, was ich 
an den verschiedenen Orten zerstreut habe finden können, um so dem 
Richter als der entscheidenden Stelle gesammelt vorgeführt zu werden. 
Es sind nicht hypothetische, sondern effektive Befunde; denn nicht 
interessiert an der Stelle des Rechtsspruchs, ob die Angreifbarkeit 
der Bleizinnlegierungen stetig mit dem Bleigehalt der Legierung in 
verdünnten Säuren wächst, sondern ob durch die üblichen Genuss¬ 
und Nahrungsmittel aus den Puppenspielservicen so viel Blei gelöst 
wird, als zu einer Schädigung der Gesundheit notwendig ist. Die 
Daten sind in den Tabellen S. 129/130 verzeichnet. 

Hinzuzufügen ist, dass Kaemmerer-Nürnberg mit stark blei¬ 
haltigen Gabeln und Löffeln aus Kinderspielservicen bei Verwendung 
von Preisselbeeren und Apfelmus nur negative Resultate erhielt, dass 
Bein-Berlin durch Wasser, Kaffee und Tee nur Spuren von Blei in 
den Spielgeschirren nachweisen konnte. 

Aehnlich erging es dem Mitglied des Gesundheitsamts Regierungs¬ 
rat Dr. Wolffhügel; er konnte bei Benutzung von bereits gebrauchten 
Bechern mit Wein, Bier, Branntwein, Kochsalzlösung, Oel, Milch, Tee 
und Kaffeeaufguss nicht mehr als Spuren von Blei auffinden, trotz¬ 
dem die Angriffsflächen 187 und 90 qcm betrugen. Auf die sonstigen 
Versuche Wolffhügels und Versuche von Weber usw. gehe ich nicht 
ein, da sie in meiner 1899 veröffentlichten Schrift ausgiebig behandelt 
worden sind. 

Ueberblickt man die Reihe von Zahlen, so ergibt sich 
mit aller Deutlichkeit, dass die gelösten Bleimengen mini¬ 
male sind. In sehr vielen Fällen ist eine quantitative Be¬ 
stimmung nicht möglich gewesen, und wo sie sich bewerk¬ 
stelligen liess, da hat die Einwirkung 24 Stunden bis 
4 Tage gedauert; die wirkliche Einwirkung dauert aber 
höchstens eine Stunde! 

Sogar die Essigversuche, die überflüssigerweise angestellt sind, 
denn Essig bekommen die Kinder nicht, eher Zuckerwasser, wenn 
kein Kaffee usw. zur Hand ist, ergeben geringste Bleimengen: 
1,4 mg, weniger als 1 mg, 1,5 mg, 3 mg, 1,4 mg und 1,36 mg. Sehr 
demonstrativ sind die Versuche mit Milch; es ist angegeben: Spur, 


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Sind die aus Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 129 




orj fl 

bß o 

C . . 'fl 


Menge des 


Art des Gefässes 

Eingefülltes 

Material 

o u 
^ 22 fl 
fc- fl +* 

Tempe¬ 

ratur 

gelösten Bleies 

Bemerkungen 



fl fl 

s 


in mg 



SoItsien-Erfurt. Anklagesachc K. in Gotha und G. in Naumburg. 


1. Spielgefäss. . . . 

^Apfelmus. 

24 

Zimmer- 

0,5 

2. Spielgefäss .... 

Apfelsinenmus 

24 

temperat. 

Kaum 


mit Zucker. 



nachweisbar. 

3. Neues Schiisselchen 

36g Apfelmus,kalt 

24 

V 

0,75 

4. Gebrauchtes 





Schüsselchen . . . 

36 g Apfelmus, 

24 

V 

2,7 


heiss. 




o. Neues Schüsselchen 

28g Apfelmus,kalt 

24 

V 

1,57 

6. Gebrauchtes 





Schüsselchen . . . 

25 ccm warme 

24 

* 

Spur. 


Milch. 




7. Neues Löffelchen 

Milch. 

24 

V 

Weniger als 1 mg. 

S. Dasselbe, gebraucht 

Heisse Milch und 

24 

n 

Nicht 


Zucker. 



nachweisbar. 

9. Tasse. 

6,9 g Apfelmusbrei 

24 

V 

0,27 

10. Schüsselchen . . . 

25 ccm Essig. 

24 

V 

3,0 j 

11. Löffelchen .... 

25 ccm Essig. 

V» 

1 

100 0 

1,5 


Bor mann- Gotha. 


Spielservice (35pCt. Blei) 

Saure Milch. 

72 

o 

O 

Nicht nachweisbar 

Spielservice (35pCt.Blei) 

100 ccm warmer 

3 

— 

Weniger als 1 mg 


Essig. 





J eserich-Bcrlin. 



17 g 4proz. Essig¬ 

24 

— 

1,4 


säure. 





30 g Milch. 

24 

— 

2,1 


37 g Apfelmus. 

24 

— 

1,4 


Das Löffelchen ist in 
dem Essig gekocht. 


3 Stück neues Spiel¬ 
service 3 Stunden in 
warmen Essig gelegt. 


Stock me yer-Nürnberg. 


Löffelchen von 10-12 qcm 
Oberfläche wurden in 
den betr. Materialien 
herumgerührt. 



pCt. Blei 

la) 39,78 . 

100 g Milch. 

2 

lb) 7,13. 

do. 

2 

2a) 40,75 . 

do. 

8 

2b) 1 9,24. 

do. 

8 

3a) l 40,98 . 

100 g gestossener 

2 

3b) 9.46. 

Apfel. 

do. 

24 

4 a) 40,98 . 

do. 

24 

4b) 9,46. 

do. 

24 


Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 

V 

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50 0 

50 0 

97 0 

Keine Metall¬ 
aufnahme, 
do. 

Quantitativ nicht 

Durch Schwefel¬ 

97 9 

ermittelbar. 

do. 

wasserstoff gelb 
braune Färbung, 
do. 

19 0 

do. 

do. 

19 0 

do. 

do. 

19 0 

do. 

do. 

19 0 

do. 

do. 

3. Folge. XL. 

9 



Original fro-m 

UNIVERSUM OF IOWA 







130 


Prof. A. Gärtner, 




1 co fl 

fl , T3 


Menge des 

Art des Gefässes 

Eingefülltcs 

Material 

Einwirku 
dauei 
in Stun 

Tempe¬ 

ratur 

gelösten Bleies 
in mg 


Bemerk tu gen 



pCt. Blei 







5a) 

40,83 


. 

lOOgPreisselbecr. 

2 

19 0 

Quantitativ nipht 

Durch Schwefel- 








ermittelbar. 

Wasserstoff gelb¬ 
braune Färbung. 

5b) 

9,62 


... 

do. 

2 

19 0 

do. 

do. 

6 a) 

40,83 


• • • 

do. 

24 

19 0 

do. 

do. 

6 b) 

9,62 

. 

. 

do. 

24 

19 0 

do. 

do. 

7 a) 

7b) 

39,79 

9,89 . 

• 

. 

100g 2proz. Essig¬ 
säure. 

do. 

2 

2 

17 0 \ 
17 0 } 

Spuren von Zinn 
und Blei. 


Sa) 

40,00 . 

. 

. 

do. 

74 

100 o 

1,6 !) 

X U Std. z. Anwärmer., 

8b) 

9,57 . 

• 

. . . 

do. 

l U 

100 0 

0,9 i) 

l U Std. zum Kocher.. 






Frankel. 



1. 

Grosse, 

neue Ge- 







schirre, 

welche die 







gangbare 

n 

Formen 







um das 

2- 

-4 fache 







an Fassungsraum 







übertreflen. 

• • • 

63,5280 g Pflau¬ 

24 

60—70 0 

1,7 






menmus. 





2. 


do. 


64,7530 g „ 

24 

O 

O 

Ol 

1,0 


3. 


do. 


22,9735 g Apfel¬ 

24 

60—70 o 

1,36 






mus. 





4. 


do. 


24,918 g „ 

24 

60-70 0 

0,34 


5. 


do. 


29,908 g Apfcl- 

24 

60—70 0 

1,36 






sinenmus.j 





6. 


do. 


28,169 g „ | 

24 

KD 

O 

o 

0,958 


7. 


do. 


53,6175 g 4proz. . 

24 

60-70 0 

1,7 






Essigsäure 





8. 


do. 


53,5685 g ~ n 

24 

o 

o 

1,36 


9. 


do. 


25,521gsaur.Milch 

24 

60—70 0 

Spuren. 


10. 


do. 


24,8975 g saure M. 

24 

20 0 

Spuren. 


11. 


do. 


15,867 g Tokayer. 

24 

O 

O 

1 

O 

0,68 


12. 


do. 


14,6205g Tokayer 

24 

20 0 

0,68 



Mezger und Fuchs. 


Tasse 39,5 pCt. Blei 

Puppenkochgeschirr, 

50 g Apfelmus 
(Säuregrad-0,32 
pCt. Apfelsäure). 

96 


1,6 

32,2 pCt. Blei . . 

. Puppenteller 39 pCt. 

50 g Apfelmus 
gleich. Säuregrad. 

96 


1,5 

Blei. 

. Dasselbe Geschirr 

50 g Milch*). 

96 


0,6 

wie bei 32 pCt. Blei 

50 g Milch*). 

96 

l 


0,4 

i lii i 

1) Ein Unterschied zwischen Reichszinn (lOpCt. Blei) und Schnellot macht sich nicht 


Blei.50 g Milch*). 96 0,6 *) Der Säuregrad b*- 

4. Dasselbe Geschirr | trug am Schluss de: 

wie bei 32 pCt. Blei 50 g Milch*). I 96 0,4 Einwirkungszeit 

- | 15,7° nach Soxhlei 

1) Ein Unterschied zwischen Reichszinn (lOpCt. Blei) und Schnellot macht sich nicht bemerkbar bisauf des 
etzten Versuch, wo in solchen Gefässen Essig gekocht wurde, was ausser im Experiment niemals vorkomni*. 


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Sind die aus Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 131 


weniger als 1 mg, 2 mg, 1 mg; keine Metallaafnahme; saure Milch: 
nicht nachweisbar, Spuren, 0,63 und 0,4 mg, letztere beiden bei 
15,7 Säuregraden nach Soxhlet. Die Milch hat sich also als absolut 
unschädlich erwiesen, während Sackur gegen 60 mg durch 0,009 n 
Milchsäure erzielte. Ja, die Theorie und die Praxis sind verschieden! 

An den hier aufgezählten Resultaten lässt sich nicht rütteln. Die 
Namen der Untersucher sind gute, und es ist sicherlich von ihnen 
nicht vergessen worden, dass das meiste Blei am Gefässchen klebt, 
und dass sie nicht bloss den eingeführten Stoff herausgenoramen, son¬ 
dern auch die Gefässe gut ausgespült, das Spülwasser mit untersucht, 
also auch den „lose anhaftenden Ueberzug“ erhalten haben. 

Sehr zu bedauern ist, dass die im Kaiserlichen Gesundheitsamt 
angefertigte Arbeit nicht veröffentlicht ist, von welcher Sackur 
(S. 232—233) sagt: 

„Dass Dr. Schmidt sie ausgeführt hat, der offene und bedeckte Bleizinn¬ 
becher der Einwirkung hydroxilierter Säuren, nämlich Weinsäure, Apfelsäure, 
Milchsäure und Zitronensäure aussetzte. Seine Versuche bestätigen im wesent¬ 
lichen die Versuche und Ergebnisse Webers, es wurde nämlich unter allen Um¬ 
ständen Blei gelöst, jedoch nur in sehr geringen Mengen von einigen Zehntel 
Milligrammen, dagegen beträchtlich mehr Zinn. Die Angreifbarkeit schien bis 
zu Legierungen von 40° von der Zusammensetzung unabhängig zu sein.“ 

Schmidt hat also gleiche Resultate erzielt wie Wolffhügel, 
der absichtlich (S. 141) auf praktische Zwecke hinarbeitete und des¬ 
halb 2 proz. Essigsäure nahm, weil diese bei sauren Gurken und dergl. 
vorhanden ist; er bekam bestimmbare Mengen von Blei erst, 
als der Bleigehalt des Bechers bei 90 pCt.! angelangt war. 

Man darf bei der Abwertung der Bleimengen nicht vergessen, 
dass das Blei ein Arzneimittel ist und bei Blutung und Neigung zu 
Blutungen, Diarrhöen usw. innerlich oft viele Tage hintereinander ge¬ 
geben wird. Den Erwachsenen dürfen die Aerzte ohne weiteres 
300 mg täglich geben; Säuglingen dürfen sie 3—4 mal täglich 3,5 mg, 
grösseren Kindern 10 mg mehrmals verabreichen! Was machen da die 
Bruchteile von Milligrammen, die aus den Spielservicen möglicher¬ 
weise das eine oder andere Mal aufgenommen werden! Meistens 
spielen doch die Kinder „trocken“. Wenn vereinzelte Male Speisen 
über Nacht in den Sächelchen stehen bleiben und am folgenden Tage 
genossen werden, so macht das absolut nichts aus; sind doch die 
Zahlen der letzten Tabelle grösstenteils auf 24 Stunden bezogen und 
trotzdem ist das in die Speisen übergegangene Blei so wenig. 

9* 


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132 


Prof. A. Gärtner, 


Sollten wirklich ein paar Milligramm Blei in den Speisen ent¬ 
halten sein, so schaden sie dem Kind absolut nichts, denn zur chro¬ 
nischen Vergiftung ist dauernde Aufnahme notwendig, ohne eine 
solche kommt eine Vergiftung bestimmt nicht zustande. 

Es möge gestattet sein, einige Autoren zu zitieren, um zu zeigen, 
dass man allgemein dieser Auffassung ist. 

Naunyn, 1. c. S. 258: Vor allem kommt nicht sowohl die Massenhaftigkcit 
der jeweiligen Bleieinfuhr als die konsequente Fortsetzung in Betracht. 

Kober, Lehrbuch der Intoxikation: Das Blei gehört zu den leicht resorbier¬ 
baren Metallen und bedingt deshalb selbst bei Zufuhr milligrammatischer Dosen 
in Form von Nahrungsmitteln schliesslich Vergiftung, falls die Einfuhr 
nur lange genug dauert. 

Tappeiner, Lehrbuch der Arzneimittellehre, Leipzig 1899, S. 73: Resorptiv 
zeigen sich die Wirkungen erst bei lang fortgesetzter Aufnahme, halten 
dafür aber um so länger an, indem das Blei nur langsam resorbiert und noch 
langsamer ausgeschieden wird. 

F i 1 e h n e, Chronische Bleivergiftung (Lehrbuch der Arzneimittellehre, Tübingen 
und Leipzig 1901): Nach lang dauernder Zufuhr, mindestens 3 Monate, 
von selbst höchst geringfügigen Einzelmengen Blei, gleichviel ob metallischen 
Bleies oder irgend einer Bleiverbindung, z.B. Bleiweiss usw., entsteht bei Menschen 
eine Intoxikation usw. 

Kunkel, Lehrbuch der Toxikologie: Zum Zustandekommen des Saturnismus 
ist die lange fortgesetzte Aufnahme kleiner Bleimengen notwendig. 

Wolffhügel, Technische Erläuterungen des Entwurfs eines Gesetzes, betr. 
den Verkehr mit blei- und zinkhaltigen Gegenständen, Arbeiten aus dem Kaiser¬ 
lichen Gesundheitsamt, S. 176: Erst nach einer fortgesetzten Einführung minimaler 
Mengen von Blei ins Blut oder, wenn man will, nach einer allmählich erfolgenden 
Anhäufung gewisser Bleimengen im Körper, welche Wochen bis Jahre in 
Anspruch nehmen kann, treten Erscheinungen von Vergiftung auf. 

Wie aus den Zitaten folgt, ist eine konsequente, längere Zeit 
dauernde Aufnahme des Bleies nötig, um den Saturnismus zu er¬ 
zeugen, und diese fehlt, wie in Abs. II. gesagt worden ist, weil die 
Kinder weder im einzelnen Fall lange, noch viele Tage hintereinander 
mit den Sachen spielen. Man wolle auch berücksichtigen, dass bei 
kleineren Mengen die Zeiten der Aufnahme viel längere sein müssen, 
dass aber schon bei massiven Dosen, z. B. 69 mg pro die, eine 
mindestens dreiwöchige Aufnahme zur Hervorbringung des Krankheits¬ 
bildes erforderlich war! 

Ich weise also die chronische Bleivergiftung durch die 
Aufnahme des von den Speisen und Getränken aufgenomme¬ 
nen Bleies vollständig zurück, weil sowohl die Menge des 


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Sind die aus Lot hcigestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 133 


in der einzelnen Gabe eventuell aufgenommenen Bleies viel 
zu klein, als auch die Zeit, während welcher solche Auf¬ 
nahmen statthaben, viel zu kurz ist. 

Experimentell sind Prof. Frankel und Verfasser der Frage näher¬ 
getreten. Fränkel arbeitete mit Mäusen; er fütterte sie 5 Wochen 
hindurch je einen Tag mit Milch und Apfelmus, welches 24 bis 
48 Stunden in Puppenservicen gestanden hatte, dann bekamen sie 
3 Tage Brot und Hafer; darauf wurden sie wieder mit dem Mus und 
der Milch gefüttert u. s. f. Die Tiere gediehen gut. Das Einschieben 
des harten Futters war notwendig, weil die Tiere bei konstantem 
Füttern mit Apfelmus und Milch starben, selbst wenn kein Blei 
darin enthalten war. 

Anschliessend an die Tatsache, dass in der Umgegend von Blei¬ 
hütten Hühner ungemein schwer gehalten werden können, abmagern 
und eingehen, habe ich 14 gerade aus dem Ei gekrochenen Kücken 
ein Futter vorsetzen lassen aus Ei, Kleie und Milch, welches in 
dünner Schicht in flachen Gemüseschüsseln aus Zinnblei-Spielservicen 
vom Mittag bis zum Morgen des folgenden Tages gestanden hatte. 
Nachdem dieses Futter bis zum Mittag gefressen war, erhielten die 
Tierchen bis zum Abend das gleiche Futter, aber in bleifreiem Por¬ 
zellannapf aogerührt. Als sie etwas grösser, etwa 8 Tage alt waren, 
erhielten sie Trockenfutter; als Getränk bekamen sie nur Milch und 
Wasser zu gleichen Teilen, die wieder vom Mittag bis zum Morgen 
des folgenden Tages in 3 Schüsseln eines Puppenservices gestanden 
hatten; erst wenn gegen Mittag die Gefässe geleert waren, erhielten 
sie Wasser in einer Glasschale. Die intermittierende Fütterung aus 
den Zinnbleigefässen wurde angew'endet, um die Benutzung der Spiel¬ 
sachen nachzuahmen. 

Zehn Wochen hindurch, Tag für Tag, sind die Tierchen so ge¬ 
füttert worden; sie gediehen vortrefflich und nicht ein einziges ist 
gestorben! 

So intensiv wie hier von den jüngsten Tierchen die Gefässe be¬ 
nutzt wurden, werden sie von Kindern nicht benutzt und eintägige 
bis Wochen alte Hühnchen dürften empfindlicher sein als 6—10jährige 
Kinder! 

Ferner habe ich 4 ganz junge Kätzchen morgens mit Milch ge¬ 
füttert, die über Nacht, und zwar mindestens 12 Stunden, in Schüssel- 
chen aus Zinnbleispielservicen gestanden hatte; mittags und abends 
erhielten die Tiere ihr Futter aus anderen Gefässen. Zwei der ganz 


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Prof. A. Gärtner, 


jungen Tiere gingen in wenigen Tagen an profusen Diarrhöen zu¬ 
grunde. Die ganzen Tiere, mit Ausnahme der Haut und der dickeren 
Knochen, wurden auf Blei untersucht, aber es wurde nichts gefunden. 
Die zwei anderen Tiere befanden sich, trotzdem sie 4 Wochen jeden 
Tag die in den bleihaltigen Spielservicen gestandene Milch tranken 
und die Gefässchen sauber leer leckten, ganz wohl; sie zeigten niemals 
die Spur einer Erkrankung! 

Ich lege Wert darauf zu konstatieren, dass die Tierchen das ev. 
ausgefallene Blei durch das energische Ablecken der Tellerchen in 
sich aufnahmen. 

Wo die Rechnung, oder vorsichtiger ausgedrückt, die Abschätzung, 
wo die Erfahrung und wo die unter den für die Vergiftung günstigsten 
Verhältnissen ausgeführten Tierexperimente ein so eindeutiges Resultat 
geben, da sollte man nicht mit theoretischen Befürchtungen kommen, 
sondern die Scheuklappen der Doktrin ablegen und offenen Blicks 
der Wahrheit gemäss unumwunden bekennen: eine Vergiftungsmöglich¬ 
keit liegt nach menschlichem Voraussehen nicht vor. 

Dass das wirklich so ist, lehrt der schon erwähnte Fall Variot: 
ein Kind hatte von früh an aus einem Becher seine flüssige Nahrung 
zu sich genommen, der 75 pCt. Blei enthalten hatte. Als es 472 Jahre 
alt war, traten Lähmungs- und sonstige Erscheinungen der Bleiver¬ 
giftung auf und „chose irreguliere“, sagt Variot, „dieser Becher ist 
ausserdem von einem 7jährigen Mädchen benutzt worden, welches 
ausser einem Bleisaum kein Zeichen von Saturnismus aufwies.“ — 
Wenn es rund mindestens 3 bzw. 572 Jahre gedauert hat, ehe Vergiftungs¬ 
erscheinungen, und, wie im letzteren Falle, nur angedeutet auftraten, 
bei tagtäglichem Gebrauch eines Bechers von 75 pCt. Blei, aus welchem 
auch sicherlich häufig über Nacht gestandene Milch und dergl. ge¬ 
nossen wurde, dann ist es doch unmöglich, dass ein Puppenspiel¬ 
service mit nur 37 pCt. Blei, was nur einige Wochen und täglich 
einmal höchstens gebraucht wird, aus welchem nur minimale Nahrungs¬ 
mengen aufgenommen werden können, giftig wirke! 

VIII. Die Aufnahme von metallischem Blei in Form kleiner 

Stückchen. 

In einer Verhandlung kommt zum Ausdruck, dass Stückchen 
Blei abgerissen werden könnten, wenn die Kinder mit ihren bleiernen 
Essgeräten in den kleinen Töpfchen herumrührten. Wenn man Blei 


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Sind die aas Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 135 


auf Blei reibt, so entstehen keine Splitterchen; es wird nichts ab¬ 
gerissen; dazu ist das Metall viel zu weich; es schmiert, aber reisst 
nicht ab; um so weniger als das Essgerät und die Teller genau gleich 
weich sind. Wäre der eine Teil härter als der andere, so würde ein 
Abreissen kleiner Teile eher statthaben können. Zudem sind die 
Messerchen, Gäbelchen, Löffelchen so zierlich, dass sie in allerkürzester 
Zeit bei derartigen Kratzversuchen abbrechen, wenn sie nicht schon 
vorher verlegt oder verloren sind. 

Andere meinen, die Kinder könnten mit ihren scharfen Zähnen 
etwas von den Spielgeschirren abbeissen und herunterschlucken, wo¬ 
rauf es im Magen zu einer wenigstens teilweisen Lösung komme. 

Diesem Modus wird von seiten der Sachverständigen vor Gericht 
sogar eine recht grosse Bedeutung zugeschrieben. Wolffhügel sagt 
* hierzu (1. c. S. 177): „denn im Magen können mit Ausnahme des 
Schwefelbleies auch im Wasser unlösliche Verbindungen, selbst geringe 
Mengen metallischen Bleies gelöst werden.“ 

Beythien hat die Lösung nachgewiesen (Zeitschr. f. Unters, v. 
Nahrungs- u. Genussmitteln. 1900. Bd. III. S. 226). Er brachte aus 
Schweinemagen gewonnenen Magensaft mit 0,2 proz. Salzsäure, in 
anderen Fällen unter Zusatz der in der Tabelle verzeichneten Säuren 
zusammen mit 100 mg mögliohst feingeschabter Bleilegierung und 
hielt sie bei Körperwärme bei der Versuchsreihe I unter zeitweiligem, 
bei der II. unter stetigem Umrühren. 




i. 

11. 

Sr. 


Dauer der 
Einwirkung 
in Stunden 

In Lösung 
gegangenes 
Blei in mg 

Dauer der 
Einwirkung 
in Stunden 

In Lösung 
gegangenes 

1 Blei in mg 

i. 

500 ccm Magensaft mit 0,2 proz. Salzsäure 

12 

5,0 

4 

2,5 

2. 

500 ccm desgl. 

12 

4,5 

4 

2,6 

3. 

500 ccm Mageninhalt mit 0,2 proz. Salz¬ 
säure, 0,2 proz. Essigsäure .... 

12 

5,6 

4 

2,75 

4. 

Desgl. 

12 

6,0 

4 

3,00 

5. 

500 ccm Magensaft mit 0.2 proz. Salzsäure, 
0,2 proz. Milchsäure. 

12 

7,5 

4 

3,00 

6. 

Desgl. 

12 

9 

4 

3,00 

7. 

500 ccm Magensaft mit 0,2 proz. Salzsäure, 
0,2 proz. Essigsäure. 

12 

■ 

12,4 

4 

4,00 


Zu bemerken ist vorläufig nur, dass trotz Sackur unter diesen 
der Wirklichkeit mehr angenäherten Versuchen der Zusatz von 0,2 proz. 
Milchsäure eine vermehrte Bleilösung nur im geringsten Grade be- 


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Prof. A. Gärtner, 

wirkte, und dass eine Essigsäure von 0,7 pCt. stärker löste als eine 
von 0,2 pCt. 

Nach der Uebersicht über die Jahresberichte der öffentlichen 
Anstalten zu technischen Untersuchungen von Nahrungs- und Genuss- 
mitteln für 1905 hat Juckenack-Berlin 200 mg (!) Hartbleispäne 
(80 pCt. Blei) in 10 ccm künstlichen Magensaft (wie Beythien) und 
natürlichen Magensaft vom Bunde, der 27 2 mal saurer ist als mensch¬ 
licher, 2, 4, 6 und 8 Stunden unter zeitweiligem Umrühren in Blut¬ 
wärme digeriert. Nach diesen Zeiten hatten sich gelöst: im Hunde¬ 
magensaft 2—4,8—5,8—7,6, im künstlichen menschlichen Magensaft 
2 —3,0—3,8—4,6 mg Blei. 

Während nun Beythien einfach seine Resultate hinstellt und 
dem Arzt bzw. Physiologen die Beurteilung anheimgibt, findet sich in 
dem Bericht aus Berlin (S..228): „Hierbei ergibt sich, dass auch 
Hartblei vom Magensaft angegriffen wird, und dass somit begründete 
Bedenken gegen diese Legierungen bestehen.“ 

Gegen den ersten Teil des Satzes kann man nichts einwenden, 
der zweite aber ist geradezu verfehlt. Rechnen wir wieder: wenn 
von 200 mg Bleispänen sich 4,6 — ich nehme die ungünstigste Zahl — 
lösen, so gehen von 2 mg in Lösung = 0,046 mg, also 6 /ioo m »- 
Die Zahl 2 mg entnehme ich den auf der nächsten Seite folgenden Ex¬ 
perimenten Beythiens; sie ist auch zu hoch, aber das macht nichts. 

Die vorstehenden Untersuchungen dieses Autors und die von 
Juckenack decken sich in ihren Resultaten ausreichend; sie zeigen, 
dass es nicht viel ausmacht, ob wenig (10 ccm) oder viel (500 ccm) 
Magensaft zur Verwendung kommt, und dass die Menge des vom 
Magensaft gelösten Bleies doch auffallend gering ist, nur 2,5 pCt. 
und rund 3 pCt. des eingebrachten Materials. 

Um über die Wirkung des Speichels ins Klare zu kommen, sind 
ebenfalls eine ganze Anzahl von Versuchen gemacht worden. So hat 
Kaemmerer-Nürnberg Zinnbleilegierungen in gesammeltem Speichel 
2 Stunden lang aufgehoben, ohne dass eine Spur Blei nachweisbar war. 
In ähnlicher Weise ging Stockmeyer in Nürnberg vor; er hielt die 
in 25 ccm Speichel eingelegten Bleizinnlegierungen von 10 pCt., 
40 pCt. und 80 pCt. Blei bei 37 0 unter Luftzutritt und bewegte sie 
während dieser Zeit wiederholt; das Resultat war völlig negativ! 

Auch Professor E. Fi sch er-Berlin führt als Referent in dem 
Gutachten der wissenschaftlichen Deputation über bleihaltige Pfeifen 
vom 28. Juli 1897 an, dass die Schabspäne der 80 pCt. Blei ent- 


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Sind die aus Lot hergestellten Puppenservico gesundheitsschädlich? 137 

haltenden Instrumentchen trotz 8 Tage dauernden Stehens mit nor¬ 
malem Speichel kein Blei abgegeben hatten. 

Mezger und Fuchs (Zeitschr. f. angewandte Chemie. S. 18, 56 
u. 57) Hessen auf ein Teilerchen, das sie kurz vorher gekaut hatten, 
35 g frischen Speichels 4 Tage lang einwirken, wobei der letztere 
28 mg Blei aufnahm. — Vier Tage ist eine ungebührlich lange Zeit. 

Aus den Versuchen ergibt sich ganz eindeutig, dass frischer 
Speichel Blei nicht angreift. 

Ueber die Menge der abgebissenen Teilchen, die verschluckt 
werden können, geben gleichfalls Versuchsreihen Auskunft. 

Stockmeyer kaute eine 49 g schwere, 27,6 qcm Oberfläche 
haltende Platte aus 98 pCt. Blei 40 Minuten hindurch; der Speichel 
wurde entleert, der Mund ausgespült, Blei war nicht nachweisbar, 
trotzdem die Platte stark die Eindrücke der Zähne zeigte. 

Beythien und seine Mitarbeiter kauten je 2 Stunden an 70 bis 
80 pCt. Blei enthaltenden Trillerpfeifen, entleerten den Speichel von 
Zeit zu Zeit in Bechergläser, nahmen die Pfeifen zeitweise aus dem 
Mund, Hessen sie einige Zeit offen Hegen, um dem Sauerstoff den 
Luftszutritt zu gewähren und kauten weiter. Der filtrierte Speichel 
ergab in keinem Falle Blei in nachweisbarer Menge. 

Ebensowenig war das der Fall, als die Herren zugleich Triller¬ 
pfeifen mit sauren Aepfeln und sauren Pflaumen kauten; auch nicht 
als von Zeit zu Zeit ein Schluck eines sehr sauren Elsässer Rotweines 
im Munde behalten wurde. Beythien sagt: 

„Da es sich um eine grössere Anzahl von Versuchen handelte, an denen sich 
sämtliche Chemiker des Amtes beteiligten, so erscheint die allgemeine Schluss¬ 
folgerung gerechtfertigt, dass die bleihaltigen Gebrauchsgegenstände bei zwei¬ 
stündigem und ununterbrochenem Aufenhalt im Munde selbst bei Anwesenheit 
saurer Speisen und Getränke kein Blei in löslicher Form abgegeben haben.“ 

„Ganz anders liegt es nun mit der mechanischen Lostrennung feinster Blei¬ 
partikel durch die Kauwirkung der Zähne. Eine solche wurde in allen Fällen 
beobachtet. Die Menge des naoh dem Filtrieren der gesamten Mundflüssigkeit auf 
dem Filter zurückbleibenden Bleies betrug stets 1—2 mg; dazu würde noch das 
an den Zähnen haftende Metall, dessen Menge sich jeder Schätzung entzieht, hinzu- 
zureebnen sein.“ 

Einen gleichen Versuch machten Mezger und Fuchs. Ein 
Tellerchen mit 83,9 pCt. Blei wurde eine halbe Stunde gekaut, der 
gesammelte nicht filtrierte Speichel enthielt 0,9 mg. 

Alle Zahlen sind um deswillen erheblich zu hoch, weil auch das 
ungezogenste Kind nicht 2 Stunden an einem Teller herumbeisst oder 


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138 Prof. A. Gärtner, 

so lange auf ihm herumkaut; aber sie geben doch einen Anhalt, eine 
Grenzzahl. 

Auf einem anderen Wege hat der Verfasser dieser Schrift die 
Menge Blei festzustellen gesucht, welche durch das In-den-Mund- 
nehmen von den Bleigegenständen abgegeben wird. Aus einem 
Kinderpfeifchen und einem Pfeifchen in Gestalt einer Kindertrompete 
— letztere war dünn verzinnt, wie mir angegeben wurde — habe ich 
mir Zigarrenspitzenmundstücke machen lassen und während eines Monates 
aus der ersteren 50 Zigarren in 38y 4 Stunde und aus der letzteren 
35 Zigarren in 26 ] / 4 Stunde, eine Zigarre also in 45 Minuten ge¬ 
raucht. Der Gewichtsverlust betrug 22 und 21 mg. Da die Mund¬ 
stücke aus 87 pCt. Blei bestanden, habe ich pro Rauchstunde 0,58 mg, 
pro Tag 1,25 mg durch die Zähne und zum Teil wohl auch durch 
die Finger entfernt. Letzteres folgt daraus, dass die Trompetenspitze 
ihren Glanz verloren hatte und ihr Gewichtsverlust genau so viel 
betrug als der der Pfeifenspitze, trotzdem sie 12 Stunden weniger in 
Betrieb war. Die Versuchsperson befand sich während der ganzen 
Zeit und später vollständig wohl. 

Die hier gefundene Zahl deckt sich gut mit den von Beythien 
und Mezger-Fuchs gefundenen. 

Man -kann also behaupten, dass die von Kindern abgebissene 
und aufgenommene Bleimenge pro Stunde Kauens vielleicht 1 mg 
betragen kann. Davon werden nach der vorher gemachten Darlegung 
etwa 2 / 100 — 3 /ioo durch den Magensaft in 4—8 Stunden gelöst; 

aber selbst wenn die ganze Menge gelöst würde, so schädigte das 
nicht, denn die aufgenommene Menge liegt noch weit unter der ärzt¬ 
lichen Maximaldosis, und die Kinder kauen nicht jeden Tag eine 
Stunde. 

Dass ein Kind bei Gelegenheit mehr abbeissen kann als 1 mg, 
steht ausser Frage, aber das tut es doch nicht gewerbsmässig; eine 
chronische Vergiftung kommt dadurch bestimmt nicht zu¬ 
stande. 

Betreffs der Ticrexperimente ist bereits Seite 113 nachgewiesen, 
dass zerriebenes Blei zu 10,8 mg je von einem jungen Meerschweinchen 
und einem Huhn von 539 und 1750 g Gewicht 25 Tage hindurch ohne 
Schaden aufgenommen wurden. 

Aus dem Vorstehenden darf man den Schluss ziehen, dass der 
Speichel, selbst gemischt mit säuerlichen Nahrungsmitteln, 
Blei nicht löst, dass das metallische Blei, welches beim 


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Sind die aus Lot bergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 139 


Spielen abgebissen oder abgerieben in den Magen kommt, 
höchstens in einer Stundei—2 mg betragen kann, dass hier¬ 
von wahrscheinlich bloss 2 /ioo— 3 /ioo mg gelöst werden und 
dass das Abbeissen nicht regelmässig lange Zeit hindurch 
geschieht, somit eine Vergiftung auf diesem Wege ausge¬ 
schlossen ist. 

Rechnet man alles zusammen: die Aufnahme von der Haut 
aus, die Aufnahme mit den zum Spielen benutzten Genuss¬ 
mitteln, die Aufnahme des wieder ausgefallenen, an den 
Gefässchen klebenden und des metallischen Bleies, so 
kommt so wenig dabei heraus, dass eine Vergiftung selbst 
dann ausgeschlossen ist, wenn das tägliche Spiel mit den 
Gerätchen ein durch Monate reichendes sein sollte. Das ist 
jedoch durchaus nicht der Fall: schon in den ersten zwei 
Wochen wird nicht mehr täglich d amit gespielt und dann in viel 
längeren Zeiträumen, sodass von einer kontinuierlichen 
Aufnahme, die bei so minimalsten Mengen unbedingt not¬ 
wendig wäre, garnicht die Rede sein kann. 

In den Motiven des Gesetzes vom 25. Juni 1887 heisst es, dass 
„durch den Uebergang aus den Speise- und Trinkgeräten in die 
Nahrung eine Störung der Gesundheit nur dann verursacht werden 
kann, wenn dem menschlichen Organismus das Blei fort¬ 
gesetzt in einer nicht allzugeringen Menge zugeführt wird. 

Dieser Fall liegt hier nicht vor. 

Es ist kein schöner Vergleich, aber ich muss doch sagen: Die 
ganze Vergiftungsfrage durch dieSpielsachen hat etwas froschlaichartiges. 
Sieht man so einen Laich, so erscheint er gross und inhaltreich und 
fasst man zu, so bleibt nichts in der Hand. 


IX. Die Erfahrungen, welche über Vergiftungen mit Puppen- 

spielzengen vorliegen. 

Im Laufe der Besprechung ist schon angegeben worden, dass 
1886 Wolffhügel, der die „technischen Erläuterungen“ des Blei¬ 
zinkgesetzes gegeben hat, nur 6 Fälle von Vergiftungen durch Ess-, 
Trink- und Kochgeschirre überhaupt aus der Literatur zusammen¬ 
bringen konnte; seien wir ehrlich, doch recht wenig, um ein Gesetz 
darauf zu bauen! Seit 1887 sind 4 weitere Fälle bekannt geworden, 
alle aus Frankreich; das ist nicht viel, jedenfalls lange nicht genug, 


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Prof. A. Gärtner, 

um die Anwendung des zur Zeit in Deutschland bestehenden Gesetzes 
zu verschärfen, wie das jetzt versucht wird. 

Gewiss ist zuzugeben, dass das Blei ein sehr böses, ein unheim¬ 
liches Gift ist; aber so bösartig, wie es in den Köpfen einiger 
Nahrungsmittelchemiker und medizinischer Sachverständiger sich dar¬ 
stellt, ist es denn doch nicht. K. B. Lehmann hat im Jahr 1900 
fünfzig irdene Geschirre der Würzburger Laden- und Marktwaren auf 
ihren Bleigehalt untersucht. Bei dem vorschriftsmässigen Kochen mit 
1 Liter 4 proz. Essig hatten nach der ersten halben Stunde ab¬ 
gegeben: Blei garnichts bis höchstens 1,0 mg 14 Stück, von 1,2 bis 
3,4 mg 7 Stück, von 5,1—10 mg 12 Stück und von 55,7—155 mg 
6 Stück. 

Aehnliche Verhältnisse finden sich, wenn auch nicht überall, so 
doch an manchen Orten; so wurden in Hamburg unter 99 Töpfen 52 
gefunden, die Blei abgaben; in München mussten in 8 Jahren von 
2009 eingelieferten Tongeschirren 1307 = 65 pCt. beanstandet werden. 
Es sind also zweifellos in einigen Gegenden Deutschlands viele solcher 
Geschirre in Gebrauch; nichtsdestoweniger ist über Bleivergiftung 
durch diese Geschirre, die doch vielfach Tag für Tag benutzt werden, 
nichts bekannt geworden! 

Wenn auch die ersten Kochungen die grösste Menge Blei ent¬ 
halten, so bleibt die Bleiabgabe in vermindertem Masse für lange Zeit 
(Lehmann) bestehen. 

W T as nun die Puppenspielservice angeht, sq ist, soweit 
man die deutsche, englische, französische Literatur durch¬ 
sucht, vor dem Erlass des deutschen Bleizinkgesetzes und 
nachher kein einziger Fall einer Vergiftung bekannt ge¬ 
worden! 

Exempla docent; aber hier fehlt jedes Exempel. 

In der Urteilsbegründung des Landgerichts II Berlin vom 20. Juni 
1906 steht, die Ausführungen der Sachverständigen Prof. Liebreich, 
Prof. Stavenhagen, Gerichtschemikers Jeserich seien nicht stich¬ 
haltig; es sei keineswegs erwiesen, dass kein Kind durch die Be¬ 
nutzung der Schreihähne, auch noch kein Arbeiter in den diese her¬ 
stellenden Fabriken an Bleivergiftung erkrankt sei und lasse sich auch 
nicht erweisen. — Man kann nur sagen: hier ist mehr verlangt, als 
überhaupt geleistet werden kann. Der Sachverständige vermag sich 
nur auf bekannt gewordene Daten zu stützen; er kann doch nicht 
jeden Menschen auf Bleivergiftung untersuchen; fehlen Angaben, so ist 


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Sind die aus Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 141 

besonders bei unserem so wohl geordneten Krankenwesen die An¬ 
nahme berechtigt, dass Erkrankungen nicht vorhanden waren. 

Ausserdem erscheint es dem Laien verstände schwer verständlich, 
dass dem Angeklagten der Beweis zugeschoben wird; wenn die An¬ 
klage behauptet, dass die Sachen schädlich sind, dann hat sie den 
Beweis zu erbringen und sie hat Fälle zu nennen, wo solche Ver¬ 
giftungen passiert sind; sonst fällt ihre Behauptung, dass die Sachen 
schädlich seien, in das, was sie ist, in Nichts zusammen; vom 
Angeklagten den Gegenbeweis zu verlangen, erscheint mir wider¬ 
sinnig. 

Das Sonderbarste aber ist, dass sich auch das Reichsgericht, 
V. Strafsenat, am 15. Februar 1907 auf denselben Standpunkt stellt. 
„Mit Recht hatte die Vorinstanz es für belanglos erklärt, ob Blei¬ 
vergiftung infolge des Gebrauchs solcher Schreihähne bereits nach¬ 
gewiesen sind; es genügt die Feststellung, dass bei einem derartigen 
Gebrauch, wie ihn die Kinder erfahrungsgemäss und daher voraus¬ 
sehbar von solchem Spielzeug machen, Bleivergiftungen eintreten 
können.“ Erfreulich ist, dass der V. Strafsenat des Reichsgerichts 
der Erfahrung Bedeutung beilegt; denn er folgert, dass, da er¬ 
fahrungsgemäss die Kinder von solchem Spielzeug Gebrauch machen, 
Bleivergiftungen eintreten können. Mir möge daher ebenfalls gestattet 
sein, auf die Erfahrung zurückzugreifen. 

Da erfahrungsgemäss und zwar durch viele Generationen, 
durch mindestens zwei Jahrhunderte hindurch von Millionen und aber 
Millionen Kindern mit Puppenservicen gespielt worden ist, die aus 
Schneilot hergestellt sind (30—40pCt. Blei), und da erfahiungsgemäss 
und nachweislich kein Fall einer Vergiftung mit diesen Servicen in 
der ganzen Literatur Englands, Frankreichs und Deutschlands hat 
gefunden werden können, so liegt eine Gefahr, dass eiue Bleivergiftung 
durch die Spielsachen entstehen könne, tatsächlich nicht vor. 

Wenn das Reichsgericht den Heiligenschein, der es in den Augen 
vieler umschwebt, behalten will, dann darf es rein theoretischen Vor¬ 
aussetzungen zuliebe, — die, wie ich gezeigt zu haben glaube, unhaltbar 
sind, die sich jedenfalls rechnerisch in keiner Weise stützen lassen, — 
an einer Jahrhunderte langen Erfahrung, die sich auf ungezählte 
Millionen von Einzeldaten stützt, nicht missachtend vorübergehen. 

Das Publikum wird es nicht fassen, dass etwas so gefährlich 
sein soll, um den Strafrichter herbeizurufen, was in Millionen Fällen 
sich als ungefährlich und noch niemals sich als gefährlich erwiesen 


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Prof. A. Gärtner, 


hat; das geht in den common sense, wie der Engländer sagt, in das 
allgemeine Empfinden — ich möchte den gerade Juristen gegenüber 
so viel gebrauchten und viel gemissbrauchten Ausdruck „gesunder 
Menschenverstand“ gern vermeiden — nicht hinein. 

Ob in der vorbesprochenen Gerichtsentscheidung von Schreihähnen 
oder von Puppenservicen gesprochen wird, verschlägt nichts, wenn 
sich meine Ausführungen auch nur auf letztere beziehen. Hier handelt 
es sich nur um das Prinzip, denn denselben Weg, den das Reichs¬ 
gericht mit dem Schreihahn gegangen ist, kann es auch mit dem 
Puppenservice nehmen, oder es würde von anderen Gerichten ex analogia 
von den Schreihähnen auf die Service geschlossen werden. 

Dass jedoch nicht alle Gerichte so denken, wie der V. Strafsenat 
des höchsten Gerichtshofes, beweist der Ausspruch des Gerichts in 
Gotha: „Gesundheitsschädigungen aber, die nur in der Theorie als 
möglich vorausgesetzt werden, in der Praxis aber nie erkennbar ge¬ 
worden sind, auch wahrscheinlich nie erkannt werden können, müssen 
für den Strafrichter unbeachtlich bleiben. Ueberdies ist nach den 
Motiven des der Anlage zugrunde gelegten Gesetzes der Gesetzgeber 
selbst von der Ansicht ausgegangen, dass nicht jede minimale Auf¬ 
nahme von Blei beim Gebrauch bleihaltiger Spielsachen schädlich ist, 
sondern nur die fortgesetzte Aufnahme in nicht zu geringen Mengen.“ 

Wenn von Seiten Halles, Würzburgs, Nürnbergs, Jenas sich der 
Widerspruch gegen eine unserer Meinung nach ungehörige Forderung 
auf Grund des Bleizinkgesetzes regt, so erklärt sich das daraus, 
dass in den genannten Bezirken die schädlichen Folgen des gericht¬ 
lichen Eingreifens sich bemerkbar machen und dadurch ein intensiveres 
Eingehen in die Materie bedingt wurde. 

Kunkel sagt in seiner Toxikologie: „Auffallend ist mir die Tat¬ 
sache, dass man von Bleivergiftungen bei Kindern so wenig (Ver¬ 
fasser: nichts) hört, nachdem doch andererseits durch Spielen mit 
Bleisoldaten, Zinnfiguren usw. Kinder sich der Intoxikationsgelegenheit 
(abspringende Bleifarben) so häufig aussetzen. Vielleicht äussern sich 
die Bleivergiftungen bei Kindern in anderen Erscheinungen (Abführ¬ 
wirkung? rasche Ausscheidung?).“ (Oliver-Newcastle ist der Meinung, 
dass die Kinder das Blei rasch wieder ausscheiden; meine Meinung 
ist, dass sie zuwenig in sich aufnehmen. Verfasser.) 

„Hier zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass natürlich auch das 
Blei, um als Gift zu wirken, in bestimmten absoluten Mengen vor¬ 
handen sein muss.“ 


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Sind die aas Lot hergestellten Puppenservice gesundheitsschädlich? 143 


Im Jahre 1901 hielt Prof. Lehmann-Würzburg in der Ver¬ 
sammlung zu Rostock des deutschen Vereins für öffentliche Gesundheits¬ 
pflege, der weit über 1000 Mitglieder zählt und eine führende Stelle 
in Deutschland einnimmt, über die hygienisch wichtigen Metalle im 
Haushalt und in den Nahrungsgewerben einen Vortrag. In die 
Schlussätze nahm er den Passus auf: „Auffallender-, aber erfreulicher¬ 
weise fehlt jede Erfahrung über eine gesundheitsschädliche Wirkung 
von bleihaltigem Kinderspielzeug (Soldaten, Geschirre).“ 

In dem Vortrage selbst heisst es: „Es ist nicht ganz sicher zu 
erklären, warum sich weder auf Bleisoldaten noch auf Puppengeschirre 
eine Bleivergiftung hat beziehen lassen, wie noch kürzlich Gaertner 
und Fraenkel nachgewiesen haben. — Tatsache ist es. Als Er¬ 
klärung muss vorläufig genügen, dass die Bleisoldaten vielfach durch 
Bemalung geschützt sind, und dass die geringen Speisemengen, welche 
in den Kindergeschirren bereitet werden, keine nennenswerte Blei¬ 
menge zu lösen vermögen. Jedenfalls liegt kein Grund vor, die 
Spielwarenindustrie bei der Herstellung dieser allbeliebten 
Gegenstände zu stören.“ 

Damit wären wir zum letzten Punkt gekommen. 

Die Industrie muss zweifellos ihre Schranken gesetzt bekommen; 
sie äussert im Konkurrenzkampf ein wildes Begehren, sich zu ihrem 
Vorteil und ohne Rücksicht auf alle Anderen über Beschränkungen 
hinwegzusetzen. Das darf nicht sein, und streng ist darauf zu halten, 
dass sie die Wege gehe, die ihr durch Gesetz und Bestimmungen 
vorgeschrieben sind! Aber unnötig darf man die Industrie nicht be¬ 
lästigen. Wollte man aber dem Zinngiessereigewerbe auf¬ 
geben, die Sächelchen aus Reichszinn oder reinem Zinn 
herzustellen, so würde man eine fleissige und nutzbringende 
Industrie Bayerns und Thüringens empfindlich schädigen 
und zwar pro nihilo! 

Die Beunruhigung, unter welcher der Zinngiessereibetrieb jetzt 
schon 10 Jahre leidet, und die ihn sehr schädigt, muss aufhören; es 
ist auf ihn unbedingt der programmatische Ausspruch anzuwenden, 
der in den Worten des Referenten Kalle bei der Besprechung des 
Blei- und Zinngesetzes in zweiter Beratung liegt: 

„Man war der Ansicht, dass es nicht angängig sei, weit¬ 
gehende Beschränkungen des Gewerbes gesetzlich zu 
fixieren, ohne dass genügende Erfahrungen vorlägen, 
dass man nicht auf lediglich hypothetische Möglichkeiten 


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144 Prof. A. Gärtner, Sind d.a.Lot hergest.Puppenservice gesundheitsschädl.? 

einer Schädlichkeit hin derartige Bestimmungen zu er¬ 
lassen berechtigt sei.“ 

Tritt eine erwiesene gesundheitliche Schädigung ein, so bietet der 
§ 12 Abs. 1 Nr. 2 des Nahrungsmittelgesetzes eine genügende Hand¬ 
habe, den Schuldigen zu strafen, und dann gesetzgeberisch vorzugehen. 
Aber es erscheint nicht angängig, vorher, mittels § 12, nur gestützt 
auf theoretische Bedenken, die der Analyse nicht standhalten, und 
die erfahrungsgemäss nie in die Wirklichkeit übersetzt worden sind, 
zu strafen, sowie an den bestehenden Verhältnissen etwas ändern zu 
wollen und eine Legierung zu verlangen, die durch das Gesetz nicht 
geboten ist. 

Prof. Kunkel, dessen Handbuch der Toxikologie unerreicht da¬ 
steht und dessen Autorität niemand anzweifeln kann, sagt S. 207 
wörtlich: „Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass natürlich das Blei, 
um als Gift zu wirken, in bestimmter absoluter Menge vorhanden 
sein muss, und dass man Handel und Gewerbetätigkeit nicht gleich 
strangulieren soll, wenn einmal irgend eine Spur Blei gefunden wird: 
Hie Wohltat des Gesetzes soll nicht zur Plage werden!“ 


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2 . 


Der augenblickliche Stand der Abwasserfrage in 
Sulflt-Zellstoffabriken. 1 ) 

Von 

Dr. A. Pritzkow, 

Wissenschaftlichem Mitglied© der Königlichen Prüfungsnnstalt für Wasserversorgung 

und Ahwässerbeseitigung. 

Einleitung. 

Eines der schwierigsten Probleme auf dem Gebiete der gewerb¬ 
lichen Abwasserfrage stellt ohne Zweifel die befriedigende Reinigung 
und Beseitigung der Abwässer der Sulfit-Zellstoffabriken dar. In 
Wort und Schrift ist diese Frage schon häufig Gegenstand eingehender 
Erörterung gewesen, und zahlreich sind die Angaben, welche sich in 
der Literatur darüber finden. 

Seit einigen Jahren hat auch die Königliche Versuchs- und Prüfungs¬ 
anstalt für Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung als eine gemein¬ 
sam mit Ihrem Verein, meine Herren, zu bearbeitende Aufgabe diese 
wichtige Frage in ihr Arbeitsgebiet aufgenommen, und dank der 
freundlichen Unterstützung des Vereins Deutscher ZeJlstoffabrikanten 
und dem bereitwilligen Entgegenkommen seiner Mitglieder ist die Ver¬ 
suchsanstalt in die Lage versetzt worden, eine grössere Anzahl von 
Zellstoffabriken zu besichtigen und die in Betracht kommenden Ver¬ 
hältnisse an ihnen näher zu studieren. Auch die gutachtliche Tätig¬ 
keit der Anstalt hat sie wiederholt mit diesem wichtigen Problem in 
Berührung gebracht und ihr dessen Studium nach verschiedenen Rich¬ 
tungen hin ermöglicht. 

Infolgedessen wird es für Sie, meine Herren, gewiss nicht ohne 
Interesse sein, in einem zusammenfassenden Referat über den augen- 

1) Vortrag, gehalten auf der Jahresversammlung des Vereins für Wasser¬ 
versorgung und Abwässerbeseitigung zu Berlin am 11. April 1910. 

VierteljafcrsBchrift f. ger. Med. o. öff. San.-Wesen, 3. Folge. XL. 1. 

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blicklichen Stand dieser Frage und insbesondere über die Erfahrungen, 
die die Versuchsanstalt gelegentlich ihrer verschiedenen Besichti¬ 
gungen und Untersuchungen hat sammeln können, unterrichtet zu 
werden. 

Als im Jahre 1874 A. Mitscherlich 1 ) sein Verfahren der Zellstoff¬ 
gewinnung aus Holz 2 ) durch Behandlung mit einer Lösung vonKalzium- 
bisulfit zunächst in England und ein Jahr später auch in den grösseren 
deutschen Bundesstaaten zum Patent anraelden liess, ahnte er wohl 
kaum, welch einen gewaltigen Aufschwung diese Industrie in verhältnis¬ 
mässig kurzer Zeit nehmen sollte. Das aber w r usste er bereits, dass die 
hei seinem Verfahren entstehenden Abwässer, unter ihnen besonders die 
Sulfitablaugen, bei ihrer Einleitung in öffentliche Gewässer diesen ver¬ 
derblich w r erden könnten, wenn nicht für eine ausreichende Verdünnung 
der Abwässer in den Vorflutern Sorge getragen würde. 

Da Mitscherlich sein Verfahren nicht auf Grund kleinerer 
Laboratoriumsversuche, sondern erst nach Erprobung im Grossbetriebe 
in einer eigens zu diesem Zweck in Münden (Provinz Hannover) er¬ 
richteten Fabrik der breiten Oeffentlichkeit übergab, so ist wohl selten 
ein patentiertes A ; erfahren so bis in alle Einzelheiten hinein durch¬ 
gearbeitet der Industrie zur Verfügung gestellt worden, wie dasjenige 
der Sulfitzellstoffgewnnnung. In einer Geheimschrift, die der Erfinder 
natürlich nur den Lizenznehmern zugängig machte, waren ausser seinen 
im Grossbetriebe gemachten Erfahrungen auch detaillierte Angaben 
über den zweckmässigsten Aufbau und die Anlage von Zellstoffabriken 
im allgemeinen gemacht. Wegen dieses letzteren Punktes betonte er 
in dieser Schrift besonders die Wichtigkeit des Vorhandenseins aus¬ 
reichender Wassermengen nicht nur für den grossen Bedarf im Fabrik¬ 
betriebe selbst, sondern besonders auch wegen der Ableitung und Un¬ 
schädlichmachung der im Betriebe anfallenden Abwässer. Für die 
Fortführung der Ablaugen erachtete er eine 3000 fache Verdünnung 
im Vorfluter erforderlich. Mitscherlich stand also schon damals 


1) Muspratts theoretische, praktische und analytische Chemie usw., heraus¬ 
gegeben von H. Bunte. Bd. 6. S. 1718 ff. 

2) Die Aehnliches bezweckenden Patente des Amerikaners Benjamin Tilgh- 
man kamen nie zur eigentlichen Ausführung, und das fast gleichzeitig mit Mit¬ 
scherlich von Eckmann in Schweden betriebene Verfahren war, da der Erfinder 
sein Verfahren geheim hielt, von wenig Nutzen für die Industrie. Vgl. Muspratt 
a. a. 0. und Hofmann, Handbuch der Papierfabrikation. 2. Aufl. S. 1420. 


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Der augenblickliche Stand der Abwasserfrage in Sulfit-Zellstoffabriken. 147 

auf dem später auch von anderer Seite 1 ) eingenommenen durchaus 
richtigen Standpunkte, dass, wo immer es ausführbar ist, jede Fabrik 
an den richtigen Ort gelegt werde. Wenn später gerade auch auf 
dem Gebiete der Zellstoffindustrie vielfach von diesem Grundsätze ab¬ 
gewichen wurde, so mögen ja häufig wichtige andere Gründe für die 
Wahl eines im obigen Sinne ungeeigneten Platzes massgebend ge¬ 
wesen sein; den Schaden hatten dann jedoch vielfach die Flussläufe 
zu tragen und die Industrie selbst, die nun manchmal nur mit grossen 
Opfern den Forderungen gerecht werden konnte, die ihr die Aufsichts¬ 
behörden im allgemeinen öffentlichen Interesse auferlegen mussten. 


Herstellung des Zellstoffs. 

Ehe ich auf die Abwasserfrage selbst näher eingehe, wird es 
nötig sein, Ihnen in kurzen Zügen den Prozess der Gewinnung des 
Zellstoffs 2 ) vorzuführen, ohne natürlich auf alle Einzelheiten der hierbei 
gebräuchlichen Verfahren einzugehen. 

Man verwendet bei uns in Deutschland als Rohmaterial fast aus¬ 
schliesslich Fichten- und Tannenholz und nur in seltenen Fällen die 
Kiefer, von der aber nur der Splint und nicht das harzreiche Kern¬ 
holz benutzt werden kann. Das Holz liefert teils das Inland, teils 
wird der Bedarf durch das Ausland gedeckt. Das entrindete Holz 
wird zerkleinert, wobei es zugleich aufgefasert wird, sorgfältig von 
Aesten befreit, und gelangt dann in grosse stehende oder liegende, 
innen ausgebleite und ausgemauerte eiserne Druckkessel, die so¬ 
genannten Kocher. In diesen wird das Holz mit einer wässerigen 
Lösung von Kalziumbisulfit bei höherer Temperatur und bei höherem 
Druck viele Stunden hindurch erhitzt, bis durch Lösung der die Zell- 
stoffasern inkrustierenden Ligninsubstanzen die Fasern isoliert sind. 

Neben dem Mitscherlichschen Verfahren der Zellstoffgewinnung 
hat sich in die Praxis noch das von Ritter-Kellner eingeführt. 
Das Prinzip der Holzaufschliessung ist bei beiden Verfahren das 
gleiche; sie unterscheiden sich im wesentlichen nur durch die ver¬ 
schieden geübte Art des Kochprozesses. Nach Mitscherlich wird 
durch indirekten Dampf bei 110—125° C und bei 3—4 Atmosphären 

1) Weigelt, Vorschriften für die Entnahme und Untersuchung von Ab¬ 
wässern und Fischwässern usw. Verlag des Deutschen Fischerei-Vereins. Berlin 
1900. S. 173. 

2) Vgl. auch Muspratt a. a. 0. und Ost, Lehrbuch der chemischen Tech¬ 
nologie. 1903. S. 449. 


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148 


Dr. A. Pritzkow, 

Druck gekocht, nachdem das Holz gewöhnlich vorher noch mit Wasser¬ 
dampf zur Auflockerung und zur Verdrängung der Luft aus den 
Poren behandelt worden ist. Die Umlaufszeit eines Kochers von einer 
bis zur anderen Beschickung mit Holz gerechnet beträgt durchschnitt¬ 
lich 50—70 Stunden, die eigentliche Kochdauer beläuft sich auf 
30—48 Stunden. Nach Ritter-Kellner wird mit direktem Dampf¬ 
zutritt meistens bei Temperaturen von 125—140 °C und 4—6 Atmo¬ 
sphären Druck während 15—20 Stunden gekocht. Die Umlaufszeit 
eines Kochers beläuft sich dann auf 20—30 Stunden. Bei dem 
Mitscherlichschen Verfahren wird eine grössere Ausbeute und festerer 
Zellstoff erzielt, während nach Ritter-Kellner bei kürzerer Arbeits¬ 
zeit etwas geringere Mengen Zellstoff von weicherer Beschaffenheit 
gewonnen werden. 

Die Herstellung der für diesen Aufschliessprozess notwendigen 
Kalziumbisulfitlösung, der Sulfitlauge, geschieht gewöhnlich in den 
Fabriken durch Absorption von aus Schwefel oder Schwefelkiesen ent¬ 
wickelter schwefliger Säure, in hohen, manchmal bis zu 30 m und 
darüber aufragenden, mit geeignetem Kalksteinmaterial gefüllten Holz¬ 
türmen, die so recht eigentlich das Wahrzeichen einer nach diesem 
Prinzip arbeitenden Zellstoffabrik bilden und dem kundigen Auge 
schon aus weiter Entfernung das Vorhandensein eines derartigen Fabrik¬ 
betriebes anzeigen. Die bei Verbrennung des Schwefels oder durch 
Rösten des Schwefelkieses entstehenden schwefligsauren Gase treten 
von unten in diese Türme ein, während von oben Wasser zur 
Aufnahme der schwefligen Säure und des gelösten Kalkes herab¬ 
rieselt. 

Nach beendigtem Kochprozess wird abgeblasen, die entweichende 
schweflige Säure behufs möglichst weiterer Ausnützung im Betriebe 
wieder in die Absorptionstürme geleitet, die Kocherlaugen abgelassen 
und die aufgeschlossene Zellstoffmasse gewöhnlich gleich in den Kochern 
ein- bis zweimal mit Wasser ausgewaschen. Sie wird dann aus- 
gestossen, nach Zerquetschen und Zerfasern in geeigneten Apparaten 
noch mehrmals mit Wasser gewaschen, durch Ast- und Sandfänge 
geschickt zur Zurückhaltung der Aeste, Schmutz- und Sandteilchen, 
Kalkstücke usw. und dann den nach Art der Papiermaschinen ein¬ 
gerichteten Entwässerungsmaschinen, den Zeugpressen, zugeführt, auf 
denen sie versandfähige Form erhält. Vor der weiteren Verarbeitung 
zu Papier wird die erhaltene Zellstoffmasse gewöhnlich nach noch¬ 
maliger Zerkleinerung in Holländern mit Chlorkalk gebleicht. 


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Der augenblickliche Stand der Abwasserfrage in Sulfit-Zellstoffabriken. 149 


Entwickelung der Zellstoffindustrie. 

Nach dem geschilderten Sulfit-Verfahren arbeiten zurzeit in 
Deutschland 55 Zellulosefabriken mit einer jährlichen Produktion von 
543 013 Tonnen lufttrockener Zellulose nach den Betriebsergebnissen 
des Jahres 1908 aufgestellt 1 ). Wenn ich Ihnen mitteile, dass zu Beginn 
der Sulfitzellstoffabrikation vor etwa 30 Jahren das Gesamterzeugnis 
aller produzierenden Länder nur etwa 3000 Tonnen im Jahr betrug, 
so können Sie leicht ermessen, wie gewaltig sich die Produktion in 
dieser verhältnismässig kurzen Spanne Zeit gehoben hat. Selbst noch 
in den letzten Jahren zeigt sich fortgesetzt eine stetige Zunahme. 
Nach einer Statistik des Vereins Deutscher Zellstoffabrikanten betrug 
die Produktion von Zellulose in Deutschland: 

1902 . . 292 635 Tonnen 1905 . . 386 664 Tonnen 

1903. .304 574 „ 1906. .404 020 ,, 

1904 . . 350 402 ,, 1908 . . 543 013 „ 

Da zur Herstellung einer Tonne Zellulose durchschnittlich 4—5 
Festmeter Holz erforderlich siud, so wurden also im Jahre 1908 über 
2,5 Millionen Festmeter Holz in den deutschen Zellstoffabriken ver¬ 
arbeitet, deren Verbrauch zu einem grossen Teile auch der einheimischen 
Forstwirtschaft zu gute kam. 

Wenn einererseits diese grossartige Entwickelung der deutschen 
Zellstoffindustrie im nationalen Interesse nur mit Freude zu begrüssen 
ist, so hat doch andererseits diese Produktionssteigerung ihre recht 
bedenklichen Schattenseiten, denn mit der Vergrösserung und Vermehrung 
der Betriebe ging auch Hand in Hand eine erhebliche Zunahme der 
Abwässer dieses Industriezweiges und eine fortschreitende Belastung 
unserer Flüsse mit ihren Abfallprodukten. Denn trotz lebhafter Be¬ 
mühungen hat leider die Behandlung der Abwasserfrage nicht gleichen 
Schritt gehalten mit dem Aufschwung der Industrie selbst. Teils ist 
dies wohl bedingt durch die Schwierigkeit des zu lösenden Problems 
an sich, teils ging man bei der Anlegung neuer Fabriken oder der 
Ausdehnung älterer Betriebe nicht mit derjenigen Vorsicht zu Werke, 
die, wie eingangs erwähnt, Mitscherlich bei den nach seinem Ver¬ 
fahren arbeitenden Fabriken beobachtet wissen wollte. 


1) Alexander Kumpfmillor, Ueber Sulfit-Zellstoff-Ablauge. Dissertation. 
Hänchen 1909. 


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150 


Dr. A. Pritzkow, 

Abwässer der Sulfitzellstoffabriken. 

In den nach dem Sulfit-Verfahren arbeitenden Zellstoffabriken ent¬ 
stehen nun folgende Arten von Abwässern. 

1. Koch- und Waschlaugen aus den Kochern, 

2. Sieb- und Presswässer aus den Zellulosenentwässerungs¬ 
maschinen und 

3. Kondenswässer der verschiedenen Maschinen und andere Be¬ 
triebswässer. 

Von diesen verschiedenartigen Abwässern können die zuletzt auf¬ 
geführten Kondens- und andere Betriebswässer bei der weiteren Be¬ 
trachtung ausscheiden; sie stellen im wesentlichen reine Betriebs¬ 
wässer dar, die, soweit sie nicht wieder im Betriebe Verwendung finden, 
ohne Schaden anzurichten, in die öffentlichen Gewässer abgelassen 
werden können. 

Die gefährlichsten Abwässer der Zellstoffabriken sind ohne Zweifel 
die Kocherablaugen und die ersten Waschlaugen, die noch grössere 
Mengen von Sulfitablaugenbestandteilen mit sich führen. Ihre Gefähr¬ 
lichkeit ist begründet einmal durch die grossen täglich anfallenden 
Mengen und besonders aber durch ihren hohen Gehalt an gelösten 
organischen Stoffen. Man kann im allgemeinen Durchschnitt annehmen, 
dass zur Herstellung von 100 kg Zellulose 1000 Liter Sulfitlauge er¬ 
forderlich sind 1 ), die nach beendigtem Kochprozess, angereichert mit 
den aus der Holzmasse herausgelösten Bestandteilen, den Betrieb als 
Abwasser verlassen. Bei einer Jahresproduktion für 1908 von rund 
543 000 Tonnen Zellstoff in Deutschland nach der oben angegebenen 
Statistik oder von rund 15 000 Tonnen Zellstoff pro Tag bedeutet dies eine 
tägliche Ablaugenmenge von rund 15 000 cbm und da nach zahlreich 
ausgeführten Untersuchungen 1 Liter Lauge etwa 90—120 g Trocken¬ 
rückstand mit etwa 75—90 g organischen Stoffen enthält, so werden 
durchschnittlich rund 1600 Tonnen fester Stoffe, von denen etwa 1200 
Tonnen oder 1 200 000 kg organischer Natur sind, mit den Ablaugen 
täglich den Flüssen zugeführt. Schon diese wenigen Zahlen lassen 
erkennen, welche Belastung unseren Flüssen allein durch die Ablaugen 
der so rasch emporgeblühten Zellstoffindustrie im Verlaufe weniger 
Jahrzehnte erwachsen ist. 

Im einzelnen zeigen natürlich die Laugen untereinander je nach 
Art des Betriebes, besonders der Führung des Kochprozesses manch- 

1) Vgl. Kumpfmiller, a. a. 0. 


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Der augenblickliche Stand der Abwasserfrage in Sulßt-Zellstoffabriken. 151 

mal erhebliche Unterschiede. Es würde an dieser Stelle zu weit 
führen und den Rahmen dieses Vortrages überschreiten, wenn ich auf 
alle diese Einzelheiten und besonders auch auf die trotz zahlreicher 
Untersuchungen vielfach noch strittigen Fragen über die chemische Zu¬ 
sammensetzung der Laugen näher eingehen wollte. Hier sei nur so 
viel darüber gesagt, dass die Laugen eine hellbräunliche bis dunkel¬ 
braune Flüssigkeit je nach dem gewählten Aufschliessverfahren von 
holzartig-aromatischem Geruch und daneben mehr oder minder starkem 
Geruch nach schwefliger Säure darstellen. Ihre Reaktion ist stark 
sauer. Die schweflige Säure befindet sich in ihnen teils in einem 
labilen Zustande, als sogenannte freie Säure, teils in gebundener Form 
und zwar zum weitaus grössten Teile auf Grund der neueren Forschungen 
hierüber gebunden an die in der Ablage enthaltenen Aldehyde und 
Zuckerarten 1 )- Die grösste Menge der schwefligen Säure, die in der 
ursprünglichen zum Aufschlüssen des Holzes benutzten Suifitlauge 
enthalten war, ist nach beendigtem Kochprozess als solche nicht mehr 
in der Abfallauge vorhanden. Sie ist mit anderen organischen Sub¬ 
stanzen der Laugen in Verbindung getreten und hat ihren Schwefel¬ 
gehalt zur Bildung des in den Ablaugen in grosser Menge vorhandenen 
sogenannten ligninsulfonsauren Kalziums abgegeben, dessen Konstitution 
aber bis heute noch nicht völlig aufgeklärt ist. 

Den an Menge weitaus grössten Teil der Abwässer einer Zell¬ 
stoffabrik bilden die Waschwässer von den Sieb- und Entwässerungs¬ 
maschinen, die nach den heutigen Arbeitsverhältnissen etwa die 30- 
bis 50 fache, im Mittel also etwa 40 fache Menge des Kocherlaugen¬ 
quantums betragen. 

Da auf den Entwässerungsmaschinen noch die letzten Reste der 
Kocherlaugen aus der fertigen Zellstoffmasse ausgelaugt werden, so 
stellen diese Abwässer im wesentlichen eine äusserst stark verdünnte 
Kocherlauge dar, in welcher sich aber trotz dieser starken Verdünnung 
durch den typischen Geruch und durch chemische Untersuchung noch 
deutlich die charakteristischen Merkmale der Kocherlaugen nachweisen 
lassen. Durch mitgeführte Faserstoffe sind diese Abwässer gewöhnlich 
stark getrübt, ihre Reaktion ist im allgemeinen neutral. Freie 
schweflige Säure ist in ihnen meistens nicht mehr nachweisbar, ge¬ 
bundene schweflige Säure findet sich darin noch in geringen Mengen. 

1) Kerp und Wühler, Zur Kenntnis der gebundenen schwefligen Säuren, 
V. Abhandlung, Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt. XXXII. Band. 
1909. 1. Heft. 


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Dr. A. Pritzkow, 


Reinigungsverfahren der Abwässer. 

Die geschilderten Abwasserarten unterliegen nun vor ihrer Ab¬ 
leitung in die Vorflut in den weitaus meisten Zellstoffabriken einer 
mehr oder minder umfassenden Reinigung, die sich im allgemeinen auf 
die Zurückhaltung der Fasern, Neutralisierung und Abkühlung der 
Laugen und teilweise Wiedergewinnung der schwefligen Säure erstreckt. 

Für die Zurückhaltung der Fasern sind Klärbrunnen, Sedimentier- 
bassins mit Nachbehandlung auf Schlacke- oder Sandfiltern, rotierende 
Stoffänger, Füllner-Filter bzw. andere Siebkonstruktionen und Schuricht- 
Anlagen in Gebrauch. Durch diese Apparate werden in einzelnen 
Fällen noch so grosse Mengen von Faserstoffen abgefangen, dass sie, 
im Gemenge mit anderen Zelluloseabfällen zu Pappe verarbeitet, die 
Kosten der Wiedergewiunungsarbeitcn, der Reinigung und Instand¬ 
haltung der Apparatur, durch Verkauf dieser Pappe vollauf decken 1 ). 

Die Behandlung der Kocherablauge geschieht gewöhnlich in der 
Weise, dass die schweflige Säure soweit wie möglich schon beim Ab¬ 
blasen der Kocher, teils auch in besonderen Pintsäuerungsapparaten 
wieder für den Betrieb nutzbar gemacht wird, und dass dann die 
Laugen entweder für sich allein, oder schon gemischt mit den anderen 
Abwässern durch Zusatz von Kalkmilch, durch Herabrieseln über Kalk¬ 
steinkaskaden oder langsames Hindurchfliessenlassen durch mit Kalk¬ 
steinstücken angefüllte sogenannte Entsäuerungskanäle neutralisiert 
werden. Es folgt dann in den meisten Fällen noch eine Nachbehand¬ 
lung in Klärbecken oder Teichen und manchmal vor der Ableitung 
in die Vorflut nochmaliges Ueberrieseln von Kalksteinschüttungen, 
ln einigen wenigen Fabriken werden die Kocherlaugen durch Ein¬ 
dampfen und Verbrennen unschädlich gemacht. 

Durch die beschriebenen zurzeit in den Zellstoffabriken üblichen 
Reinigungsverfahren können die in den Abwässern enthaltenen Faser¬ 
stoffe bei einigermassen aufmerksamer Bedienung der heute dafür zur 
Verfügung stehenden Apparate in praktisch ausreichendem Masse 
zurückgehalten und die ursprünglich sauren und heissen Ablaugen in 
genügendem Grade neutralisiert und abgekühlt werden. Von mancher 
Seite wird eine vollständige Neutralisation der Ablaugen mit dem 
Hinweis auf die säurebindende Kraft des Flusswassers nicht für er- 


1) Vgl. Kolkwitz und Pritzkow, Gutachtliche Aeusserung der Königl. 
Prüfungsanstalt, betr. Zellulosefabrik Czulow. Mitt. aus d. Kgl. Prüfungsanst. f. 
Wasserversorgung etc. Heft 10. Berlin 1908. 


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Der augenblickliche Stand der Abwasserfrage in Sulfit-Zellstoffabriken. 153 

forderlich gehalten und eine solche Forderung der Aufsichtsbehörden 
als eine unnötige Belastung der Betriebe und unter Umständen sogar 
als eine Gefahr für die Flüsse bezeichnet, wenn durch übermässigen 
Kalkzusatz stark alkalisch gemachte Abwässer diesen zugeführt werden 1 ). 

Dass die meisten Oberflächengewässer ein bestimmtes Säure¬ 
bindungsvermögen besitzen, welches sie befähigt, eine gewisse Menge 
freier Säure unschädlich zu machen, ist erwiesen. 2 ) Eine vollständige 
Neutralisation der Abwässer vor ihrer Ableitung erscheint deshalb 
nicht in allen Fällen erforderlich. Wieviel Säuregehalt im gegebenen 
Falle praktisch wird zugelassen werden können, richtet sich jedoch 
ganz nach der Wasserführung und dem Säurebindungsvermögen des 
jeweils in Betracht kommenden Vorfluters und kann deshalb nur durch 
genaue Untersuchungen für jeden einzelnen Fall ermittelt werden. 
Keinesfalls darf aber das Wasser des Vorfluters unterhalb der Ein¬ 
leitungsstelle der Zellstoff-Fabrikabwässer eine saure Reaktion an¬ 
nehmen. 

Die Wirkung freien Aetzkalkes auf den Vorfluter ist nach allen 
bisher gemachten Beobachtungen allerdings eine ungleich schädlichere 
als die freier Säure, aber derartige Abwässer werden wohl nur selten 
einmal aus Betrieben entlassen, in denen eine Neutralisation saurer 
Abwässer mit Kalk vorgenommen wird, da in allen solchen Fällen 
erfahrungsgemäss eher zu wenig als zu viel des Guten getan wird. 

Im grossen und ganzen unbeeinflusst bleiben bei den erwähnten 
Reinigungsverfahren, wenn man von dem nur in einigen wenigen 
Fabriken geübten Eindampfverfahren absieht, die in den Ablaugen 
enthaltenen Mengen organischer Stoffe und nach allem, was bisher 
über die Einwirkung der Zellstoffabwässer und insbesondere ihrer 
hochkonzentrierten Sulfitablaugen auf die Vorfluter festgestellt worden 
ist, beruht gerade ihre schädigende Wirkung der Hauptsache nach 
auf ihrem äusserst hohen Gehalt an organischen Bestandteilen, bzw r . 
den darin enthaltenen spezifischen Pflanzennährstoffen. 

Einfluss der Abwässer auf die Vorflut. 

Die Zuführung dieser Stoffe zu dem Flusswasser bewirkt in den 
weitaus meisten Fällen eine reichliche Entwicklung von Pilzwuche- 

1) Vogel, Abwässer der Zellstoffindustrie. Zeitschr. f. angew. Chemie. 
XXII. Jahrg. 1909. Heft 2. 

2) Weigelt, Beiträge zur Lehre von den Abwässern: 111. Ueber die Bonität 
der natürlichen Gewässer etc. 


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154 


Dr. A. Pri tzko w, 


rangen (Sphaerotilus natans und roseus, Leptomitus lacteus, Fusarium 
usw.), die bei kleineren Wasserläufen so stark auftreten können, dass 
das ganze Bachbett wie mit einem dichten Polster ausgekleidet wird. 
Aber selbst auch noch bei stärkerer Verdünnung, ja sogar bei unseren 
grossen Strömen, Rhein, Main, Elbe usw. macht sich zu gewissen 
Zeiten die Einwirkung der Ablaugen von Zellstoffabriken durch reich¬ 
liches Pilztreiben bemerkbar. Erfahrungsgemäss kommt während der 
warmen Jahreszeit diese Pilzbildung weniger zum Ausdruck, als 
während des Winters. Durch Absterben dieser Pilze, Anhäufungen 
der Massen an geeigneten Stellen, in stillen Buchten oder vor Wehren 
in ruhiger strömendem Wasser können dann sekundär Zersetzungs¬ 
und Fäulnisprozesse hervorgerafen und Schädigungen aller Art bewirkt 
werden. Den Vorzug haben allerdings die Zellstoffabwässer, dass sie 
im Gegensatz zu manchen anderen, ähnliche Missstände im Vorfluter 
hervorrafenden Abwässern keine pathogenen Keime den Flüssen zu¬ 
führen, nach dieser Richtung hin also zu irgendwelchen Bedenken 
keine Veranlassung geben können. 

Unter besonders ungünstigen Umständen, d. h. wenn die ver¬ 
dünnten Ablaugen mit anderem leicht zersetzungsfähigem Material, 
wie z. B. menschlichen und tierischen Abfallstoffen bei höherer Wasser¬ 
temperatur längere Zeit in Berührung bleiben, beginnen die Abwässer, 
die sonst nur schwer und langsam sich zu zersetzen pflegen, einem 
schnellen mit starker Schwefelwasserstoffentwicklung einhergehenden 
Zersetzungsprozess zu verfallen. Es tritt dann sehr starke Sauerstoff¬ 
zehrung in dem Flusswasser ein und alles tierische und pflanzliche 
Leben kann vernichtet werden. Eine derartige verderbliche Ein¬ 
wirkung der Ablaugen wird aber, wie gesagt, nur unter ganz be¬ 
sonderen Verhältnissen beobachtet. 

Die in den Ablaugen nach ihrer Neutralisation noch enthaltene 
gebundene schweflige Säure unterliegt nach den bisherigen Erfahrungen 
im Flusswasser einer verhältnismässig raschen Oxydation, so dass sie 
bei einigermassen günstiger Verdünnung schon wenig unterhalb der 
Einleitungsstelle der Abwässer nicht mehr nachgewiesen werden kann. 


Vorschläge zur Verhütung der Pilzentwicklung. 

Um die bei der Einführung der Laugen in dem Flusse auf¬ 
tretende unter Umständen lästig werdende Pilzentwicklung hintanzu¬ 
halten, hat man vorgeschlagen, die Laugen nicht kontinuierlich, wie 


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Der augenblickliche Stand der Abwasserfrage in Sulfit-Zellstoffabriken. 155 

zurzeit in den meisten Betrieben, sondern stossweise abzulassen 1 ). 
Dieser Vorschlag ist nicht neu und soll bei anderen ebenfalls an 
organischen Stoffen reichen Abwässern schon mit Erfolg durchgeführt 
sein 2 3 ). Mit den Zellstoffabwässern ist meines Wissens ein derartiger 
Versuch noch nicht gemacht worden und die Meinungen der Sach¬ 
verständigen über die Wirksamkeit des stosstveisen Ablassens gehen 
noch sehr auseinander. Jedenfalls liegen bisher ausreichende prak¬ 
tische Erfahrungen auf diesem Gebiete noch nicht vor. Vor allen 
Dingen müssen aber in dieser Frage die örtlichen Verhältnisse ein¬ 
gehende Berücksichtigung finden. Wasserarme Vorfluter, die doch 
ohne Zweifel unter der Pilzentwicklung am meisten zu leiden haben, 
könnten z. ß. bei einem derartigen Verfahren gelegentlich in solchem 
Masse mit Abfallaugen überschwemmt werden, dass alles tierische 
Leben darin vernichtet und das Wasser für alle sonstigen Gebrauchs¬ 
zwecke untauglich gemacht würde. Aber auch in wasserreichen Vor¬ 
flutern, bei denen unter allen Umständen eine starke Verdünnung der 
Laugen gewährleistet ist, kann die versuchsweise Ausführung dieses 
Verfahrens nur dann empfohlen werden, wenn die gesamten örtlichen 
Verhältnisse hierfür günstig liegen, also z. B. nicht kurz unterhalb 
der Zellstofffabrik befindliche, auf das Flusswasscr angewiesene Be¬ 
triebe hierdurch geschädigt werden. Immerhin verdient der Vorschlag 
Beachtung und die Durchführung eines derartigen Versuches bei einer 
hierfür günstig gelegenen Fabrik wäre schon aus dem Grunde einmal 
zu empfehlen, um die Frage zu entscheiden, ob nicht bei einem 
solchen stossweisen Ablassen der Laugen die Zone der Pilzentwick¬ 
lung weiter flussabwärts verschoben wird, besonders wenn vielleicht 
auf der weiteren Flussstrecke durch langsamere Strömung usw. wieder 
günstigere Verhältnisse für die Pilzentwicklung geschaffen sind 8 ). 

In manchen Fällen soll auch dann schon eine Verringerung der 
durch zu reichliches Pilzwachstum hervorgerufenen Misstände erreicht 
worden sein, wenn von vornherein für eine intensivere Vermischung 
des Abwassers mit dem Flusswasser Sorge getragen wurde; wenn 
also nicht, wie es in der Tat jetzt noch vielfach geschieht, die Ein- 

1) Hofer, München vgl. Vogel, a. a. 0. und ferner in The worlds paper 
trade review 52. No. 3. 16. Juli 1909. S. 36, Referat in Papierzeitung. 1910. 
No. 9. S. 300. 

2) H. Schreib, Zur Frage der Flussverunreinigung. Zeitsohr. f. angew. 
Chemie. 1906. Heft 29 und ebenda 1890. S. 675. 

3) Bemerkungen von Dorenfeldt zu dem Vortrage von Vogel, a. a. 0. 


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leitung der Abwässer nur an einem Ufer erfolgt, sondern wenn man 
das Abwasser direkt in die Strommitte einmünden lässt 1 ). Unter den 
jetzigen für eine rasche Vermischung ungünstigen Verhältnissen zieht 
sich nach den gemachten Beobachtungen der Abwasserstreifen an dem 
einen Ufer oft viele Kilometer entlang, wodurch naturgeraäss, nament¬ 
lich wenn hier noch durch eingebaute Buhnen und andere Strom¬ 
hindernisse stille Buchten gebildet sind, eine Entwickelung grösserer 
Pilzzotten begünstigt wird. Erfolgt dagegen die Einleitung des Ab¬ 
wassers in der Stromraitte, so werden sich die gegenüber dem Fluss¬ 
wasser spezifisch schwereren Laugen unter Umständen auch eine gewisse 
Strecke weit auf dem Flussgrunde fortbewegen, dann aber sich nach 
allen Seiten hin viel intensiver mit dem Flusswasser vermischen 
können und in dieser Verdünnung vielleicht nicht mehr zu einer nennens¬ 
werten Pilzbildung Veranlassung geben. 

Vielleicht kann dann unter diesen besonders günstigen Umständen 
der Gedanke seine Verwirklichung finden, dass die im Uebermasse 
schädlichen Laugen im Zustande ausreichender Verdünnung infolge 
ihres Nährstoffgehaltes auch eine nützliche Wirksamkeit im Vorfluter 
entfalten können, insofern sie dessen Wasser zu einer vermehrten 
Produktion von Pflanzen, niederen Tieren und Fischen befähigen. Ob 
eine solche Ausnutzung der Nährstoffe der durch Abkühlung, Ab¬ 
stumpfung der Säure und Entfaserung vorgereinigten und mit einem 
Teil der Waschwässer verdünnten Laugen in künstlich geschaffenen 
Teichanlagen erzielt werden kann, wodurch also der jetzt dem Fluss¬ 
laufe zugemutete Reinigungsprozess bis zu einem gewissen Grade sich 
in diesen Teichen zu vollziehen hätte, bedarf noch näherer Unter¬ 
suchung 2 ). Praktisch erprobt ist dieses Verfahren bisher noch nicht, 
und seine Durchführbarkeit dürfte in vielen Fällen an Platzmangel 
scheitern, da bekanntlich die Laugen als solche sich sogar bei lang¬ 
dauernder Aufbewahrung kaum zersetzen und selbst für das erste 
Stadium der Reinigung, für die Einleitung der Pilzentwickelung eine 
verhältnismässig starke Verdünnung erforderlich ist. 


1) Vgl. Conrad, Gutachten erstattet für die Aktien-Gesellscbaft für Ma¬ 
schinenpapier-Fabrikation in Aschaffenburg vom 1. Juli 1903. 

2) Hofer, Berichte an das Kgl. Strassen- und Flussbauamt Aschaffenburg 
über die Verunreinigung des Mains vom 25. Mai und 18. Juni 1901 und Klason, 
Der Papierfabrikant 1909, Fest- und Auslandsheft und Heft 25, 27, 28, 32. 


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Der augenblickliche Stand der Abwasserfrage in Sulfit-Zellstoffabriken. 157 


Behandlung der Ablangen durch natürliche und künstliche 
biologische Verfahren. 

Diese an und für sich schwere und nur langsam vor sich gehende 
Zersetzung der Laugen macht auch ihre Behandlung auf Rieselfeldern 1 ) 
oder durch das künstliche biologische Verfahren schwierig. Sie für 
sich allein nur nach der üblichen Vorbehandlung einem dieser Ver¬ 
fahren zu unterwerfen, ist von vornherein ein aussichtsloses Beginnen. 
Ob eine befriedigende Reinigung in künstlichen biologischen Körpern 
nur nach starker Verdünnung der Laugen zu erreichen ist, erscheint 
nach den bisher damit ausgeführten Untersuchungen, abgesehen von 
dem Umfange der zu diesem Zwecke zu errichtenden Anlagen, zweifel¬ 
haft. Eine Berieselung mit verdünnten Laugen erfordert ebenfalls 
grosse Landflächen, einmal in Anbetracht der täglich zu verrieselnden 
Flüssigkeitsmenge an sich und ferner, weil nach Verdunstung und 
Versickerung des Verdünnungswassers wegen der schweren Zersetz¬ 
lichkeit und klebrigen Beschaffenheit zurückbleibender Laugenbestand¬ 
teile die Gefahr einer allmählichen Verschlickung des Bodens besteht, 
die nur durch häufigen Wechsel und intensive Bearbeitung der zu be¬ 
rieselnden Flächen behoben werden kann. Die wenigen bisher nach 
dieser Richtung hin angestellten Versuche haben wohl eine praktisch 
befriedigende Reinigung der verdünnten Ablaugen erkennen lassen, 
berechtigen jedoch noch nicht zu dem Schlüsse, dass die Wirksamkeit 
der Rieselfeldflächen eine dauernde bleiben wird. Als unangenehme 
Begleiterscheinung muss die Schwarzfärbung der gerieselten Abwässer 
bezeichnet werden. 

Mit Aussicht auf durchgreifenden Erfolg lässt sich nach den 
bisher an dem Verhalten der Laugen gemachten Beobachtungen das 
Rieselverfahren für diese jedoch dann empfehlen, wenn vor der Auf¬ 
bringung auf Land ein intensiver Zersetzungs- bzw. Fäulnisprozess, 
wie ihn die Vermischung mit anderen leicht fäulnisfähigen Stoffen 
z. B. mit städtischen Abwässern hervorruft, in ihnen eingeleitet ist. 
Eine grosse Zellstoffabrik im Osten des Reiches steht im Begriff 
einen derartigen Versuch im grossen Masstabe durchzuführen, indem 
sie nach erfolgter Genehmigung der massgebenden Kreise ihre sämt¬ 
lichen Kocherlaugen und die ersten Waschlaugen nach vorheriger Ab- 


1) Vgl. auoh Gottstein, Holzzellstoff in der Anwendung für die Papier- 
und Textil-Industrie etc. Papierzeitung. 1904. No. 86 und flg. 


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kühlung und Neutralisation der Kanalisation der kurz unterhalb ihres 
Betriebes gelegenen grösseren Stadt zuführen will, deren Abwässer 
auf ausgedehnten sandigen Rieselflächen behandelt werden. Unter 
den an Ort und Stelle herrschenden Verhältnissen wird zweifellos 
diese Massnahme ein günstiges Ergebnis liefern und Stadt und Fabrik 
von mancher Unannehmlichkeit befreien, im übrigen aber auch in 
wissenschaftlicher und praktischer Beziehung manche Aufklärung über 
die Reinigungsmöglichkeit der Ablaugen von Zellstoffabriken liefern, 
sodass dem Ausfall dieses Versuches nur mit grossem Interesse ent¬ 
gegengesehen werden kann. 

Auch der Behandlung in künstlichen biologischen Körpern sind 
nach den bisherigen Versuchen die Zellstoflablaugen zugänglich, w r enn 
sie nach Neutralisation und entsprechender Verdünnung vorher einem 
durchgreifenden Zersetzungsprozess durch Vermischung mit leicht 
fäulnisfähigen Bestandteilen unterworfen werden. Zur Uebertragung 
dieser vorläufig nur in kleinerem Masstabe ausgeführten Untersuchungen 
in die Praxis bedarf es jedoch noch weiterer eingehender Versuche, 
besonders hinsichtlich der technischen Durchführbarkeit und der Kosten¬ 
frage eines solchen Verfahrens. 

Beseitigung der Ablatigen durch Versickern und Eindampfen. 

Wenn man die Schwierigkeiten überblickt, mit denen eine erfolg¬ 
reiche Reinigung der Sulfitablaugen von ihren organischen Stoffen bzvv. 
eine Verhütung der durch sie in dem Vorfluter hervorgerufenen Miss¬ 
stände verbunden ist, so war der Gedanke naheliegend, dass man 
zur Behebung dieser Schwierigkeiten bei besonders ungünstigen Vor- 
flutverhältnissen zu durchgreifenderen Mitteln seine Zuflucht nehmen 
müsse, die eine vollständige Fernhaltung der Laugen vom Flusse 
bezweckten. 

Die hierfür vorgeschlagene und praktisch auch schon durchge¬ 
führte Methode der Versickerung erscheint jedoch nur da ausführbar, 
wo die gesamten geologischen, die Grundwasser- und die sonstigen 
örtlichen Verhältnisse hierfür günstig liegen. Im anderen Falle könnten 
sonst bei einem derartigen Vorgehen unliebsame Ueberraschungen ent¬ 
stehen, wie die Vorgänge an anderen Orten mit der Versickerung von 
ebenfalls gewerblichen Abfallprodukten gezeigt haben 1 ). 


1) Vgl. Ohlmüller, Arbeiten aus dem Kais. Gesundheitsamte. Band XVIII. 
1901 Heft 2. 


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Der augenblickliche Stand der Abwasserfrage in Sulfit-Zellstoffabriken. 159 

Das Verfahren der Eindampfung der Laugen und ihre Ver¬ 
brennung ist, wie oben schon erwähnt, in einigen wenigen Betrieben 
eingeführt, verursacht aber unverhältnismässig hohe Kosten, so z. B. 
in einer oberschlesischen Fabrik für die Eindampfung von täglich 
nur etwa 190 cbm Laugen jährlich 60 000—65 000 M. Einem kürz¬ 
lich vorgeschlagenen Verfahren 1 ) zur Eindampfung der Laugen und 
Verwertung als Brennmaterial, das nach den Angaben des Erfinders 
nach dem Prinzip der Honigmannschen feuerlosen Kessel unter 
Verwendung einer Chlorkalziumlösung das Eindampfen der Laugen 
kostenlos und sogar mit Gewinn bewirken soll, stehen die Zellstoff¬ 
fabrikanten vorläufig noch skeptisch gegenüber. Bei der Eigenart 
des Verfahrens bedarf es allerdings erst einmal einer praktischen 
Durchprüfung im Grossbetriebe, um Anhaltspunkte über seine wirk¬ 
liche Leistungsfähigkeit zu gewinnen. 

Verwertung der in den Ablangen enthaltenen Stoffe. 

Rationell werden sich die auf die vollständige Fernhaltung der 
Laugen vom Vorfluter gerichteten Verfahren erst dann gestalten 
lassen, wenn die Bestrebungen, die in diesen Laugen enthaltenen 
wertvollen Stoffe in nutzbringender Weise zu gewinnen, von Erfolg 
begleitet sein werden. 

Schon von den ersten Anfängen der Zellstoffindustric an war die 
Aufmerksamkeit der Fabrikanten und der sich rein wissenschaftlich 
mit diesen Fragen Beschäftigenden darauf gerichtet, die in den Laugen 
enthaltenen Stoffe teils direkt, soweit wie möglich noch für den 
Betrieb nutzbar zu machen, teils sie in andere industriell verwertbare 
Stoffe umzuwandeln. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese Bestrebungen, aus 
einem vielfach als lästigen Ballast empfundenen, an und für sich 
jedoch wertvollen Abfallprodukt für die Fabrikbetriebe selbst und für 
die Allgemeinheit nutzbringende Werte zu schaffen, vom national¬ 
ökonomischen Standpunkte aus nur zu begrüssen sind und mehr 
Beachtung und Förderung beanspruchen dürfen, als die lediglich die 
Reinigung der Abwässer ins Auge fassenden Verfahren. 

Die für die Verwertung der in den Ablaugen enthaltenen ver¬ 
schiedenartigen Stoffe bisher gemachten Vorschläge sind so zahl¬ 
reich, dass ich mich hier auf die Angabe der hauptsächlichsten be- 

1) Ingenieur Kays er-Nürnberg, Papierzeitung. 1910. Nr. 21. S. 768. 


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Dr. A. Pritzkow, 


schränken muss, um so mehr, als manche von ihnen praktisch nie 
zur Verwirklichung gekommen sind und andere wiederum nach nur 
kurzer Lebensdauer wegen technischer Schwierigkeiten, oder weil das 
gewonnene Produkt ein nur beschränktes Absatzgebiet bcsass, wieder 
von der Bildfläche verschwunden sind. 


a) Wiedergewinnung des Schwefels. 

Die Versuche, die Laugen im Fabrik betriebe selbst wieder zu 
verwerten, laufen im wesentlichen auf eine Wiedergewinnung des in 
ihnen enthaltenen Schwefels hinaus. Da dieser jedoch durch den 
beim Kochen des Holzes mit der Lösung von Kalziumbisulfit vor sich 
gehenden Prozess zum grössten Teile in eine schwer zersetzbare 
organische Verbindung übergeführt ist — nur etwa ein Fünftel bis 
ein Drittel des Gesamtschwefels der Lauge sind in leichter ab- 
scheidbarer Form in dieser enthalten') —, so haben die Versuche zu 
praktisch brauchbaren Resultaten noch nicht geführt. Im wesent¬ 
lichen sind die Fabriken heute bemüht, nach beendigtem Kochprozess 
die leicht abtreibbare schweflige Säure wieder zu gewinnen, wodurch 
schon eine wesentliche Ersparnis des Gcsamtschwefelverbrauches einer 
Fabrik — bis zu 37 pCt. — erreicht werden kann 1 2 ). 

b) Ausnutzung der Verbrennungswärme der organischen 

Substanzen. 

Eine Ausnutzung der in den Laugen enthaltenen organischen 
Substanzen für den Fabrikbetrieb durch Eindampfen und Verbrennen 
ist ebenfalls versucht und erscheint bei ihrem verhältnismässig hohen 
Energiewert — 1 kg der durch Eindunsten erhaltenen Trockensubstanz 
ergab, durch Bestimmung in der kalorimetrischen Bombe ermittelt, 
4250 Kalorien 3 ) — wünschenswert. Die dahin zielenden Bestrebungen 
können jedoch erst dann Aussicht auf Erfolg versprechen, wenn die 
Verbrennung sich rentabel gestalten lässt, was bis heute noch nicht 
der Fall ist. 


1) Kerp und Wöhler, a. a. 0. 

2) Harpf, Die Verwertung der Sulfitstoffablauge. Zeitschr. f. angewandte 
Chemie. 1898. H. 40. S. 925 und Kumpfmiller, a. a. 0. 

3) Stutzer, Untersuchungen über die Ablauge aus Sulfitzellulosefabriken. 
Zeitschr. f. angewandte Chemie. XXII. Jahrg. 1900. H. 41. 


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Der augenblickliche Stand der Abwasserfrage in Sulfit-Zellstoffabriken. 161 


c) Herstellung von Briketts. 

Man hat deshalb eine anderweitige Verwertung der eingedickten 
Laugen versucht und sie unter anderem unter dem Namen Zellpech 
zur Herstellung von Briketts aus Kohlenklein, Koksasche, und vor 
allem aus Gichtstaub (Erzbriketts) verwandt 1 ). Die Laugen bieten hierfür 
verschiedene Vorteile, wie besondere Festigkeit der mit ihrer Be¬ 
nutzung hergestellten Briketts, langsame Verkohlung und gute Durch¬ 
lässigkeit für die Verbrennungsluft; die Briketts sind aber auch 
hygroskopisch und können beim Heizen unangenehmen Geruch ver¬ 
breiten 2 ). Vor allen Dingen aber fragt es sich noch, ob bei den 
hohen Verdampfungskosten der Laugen ihre Verwendung sich nicht 
viel teurer stellt, als andere bisher zur Brikettierung benutzte Stoffe, 
wie z. B. Steinkohlenteerpech. 


d) Herstellung von Futtermitteln. 

Unter diesen Umständen erscheinen die Versuche von Bedeutung, 
den hohen Energiewert der Laugen für den Tierkörper auszunützen, 
aus den organischen Laugenbestandteilen also ein allgemein anwend¬ 
bares Futtermittel herzustellen 3 ). Selbstverständlich müssen zu diesem 
Zwecke verschiedene in den Laugen vorhandene für den Tierkörper 
schädlich wirkende Stoffe, unter ihnen vornehmlich die Verbindungen 
der schwefligen Säure entfernt bzw. unschädlich gemacht werden. 
Neuerdings ist hierfür Formaldehyd in Vorschlag gebracht und unter 
Verwendung ven Melasse zur Unschädlichmachung eines etwaigen 
Ueberschusses von Forraaldehyd und als Geschmaekskorrigens aus 
den Laugen ein Mischfutter hergestellt worden 4 )- Obgleich schon 
Fütterungsversuche an Tieren mit günstigem Erfolge angestellt sind, 
bedarf es jedoch noch weiterer eingehender Prüfung, und die Her¬ 
stellung des Futters muss erst einmal im Grossbetriebe durchgeführt 
werden, um ein endgültiges Urteil über seine Verwendbarkeit und 
seine praktische Herstellung abgeben zu können. 


1) Kumpfmi 11er, a. a. 0. 

2) Gottstein, a. a. 0. 

3) A. Frank, Wochenbl. f. Papierfabrikat. 1904. Nr. 45 und Papierzeitg. 
1904. Nr. 67 u. 91 und Zeitscbr. f. angewandte Chemie. 1906. Nr. 42; ferner 
F. Lehmann, D. R. P. Nr. 128661 Klasse 53g. 

4) Stutzer, a. a. 0. 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San .-Wesen. 3. Folge. XL. 1. 


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L)r. A. Pr itzkow, 


e) Herstellung von Klebstoffen. 

Die klebrige Beschaffenheit der Laugen hat dann weiter Ver¬ 
anlassung gegeben, sie nach entsprechender Behandlung und unter 
Zusatz verschiedener Stoffe, wie Leim, Hornabfälle, Harz, Albumin, 
Kasein, Blut usw. direkt als Klebstoff zu benutzen 1 ). Als Papier¬ 
leim, für welchen Zweck diese Produkte besonders empfohlen wurden, 
sind sie jedoch für viele Papiersorten wegen ihrer dunklen Färbung 
ungeeignet 2 ). 

f) Verwendung zur Staubbindung. 

Mit anscheinend besserem Erfolge hat man von der klebrigen 
Beschaffenheit der Laugen für die Zwecke der Staubbindung auf 
Strassen Gebrauch gemacht, wofür ja in letzter Zeit auch manche 
andere gewerbliche Abfälle infolge ihrer besonderen Eigenschaften 
Verwendung gefunden haben 3 ). Ein Versuch, die Laugen direkt oder 
bis zu einem gewissen Grade eingedickt schon beim Strassenbau, wie 
manche teerartige Produkte, zum Tränken der Materialien zu be¬ 
nutzen, ist meines Wissens noch nicht gemacht, erscheint aber in 
Anbetracht der hierfür günstigen Eigenart der Laugen einer prak¬ 
tischen Erprobung wert. 

g) Verwendung als Düngemittel. 

Auch als Verbesserungsmittel für das unter dem Namen Thomas¬ 
mehl im Handel befindliche phosphorsäurehaltige Düngemittel ist die 
Ablauge vorgeschlagen worden 4 ). Sie sollte, nach Eindampfen bis 
auf 25° Be diesem Düngemittel zugefügt, eine bedeutende Zunahme der 
Zitratlöslichkeit der Phosphorsäure, eine Bindung des Aetzkalk- 
gehaltes und eine Verbesserung der physikalischen Beschaffenheit des 
Düngemittels bewirken, alles Faktoren, die allerdings eine vorteil¬ 
haftere und allgemeinere Verwendung dieses Düngemittels begünstigen 
würden. Untersuchungen von anderer Seite haben jedoch zu gegen- 


1) A.J. Saxl und L. Oberländer, D.R.P. Nr.63042 und Zeitschr. f. an¬ 
gewandte Chemie. 1892. S. 380. 

2) Gottstein, a. a. 0. 

3) Weldert, Ueber Staubbindung auf Strassen durch gewerbliche Abwässer. 
Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 3. Folge. Bd. XXXV111. H. 1 und Newton 
J. Ker-Ottawa (Kanada), Surveyor. 3. 12. 1909. S. 642. 

4) Knösel, Abwässer der Zellstoffabriken. Zeitschr. f. angewandte Chemie. 
1907. Nr. 11. 


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Der augenblickliche Stand der Abwasserfrage in Sulfit-Zellstoffabriken. 163 

teiligen Ergebnissen geführt, indem hierbei eine Zunahme der Zitronen¬ 
säurelöslichkeit durch Behandeln von Thomasmehl mit Sulfitlauge 
nicht beobachtet und nur eine unbedeutende Veränderung der 
organischen Bestandteile der Ablaugen festgestellt wurde 1 ). Eingang 
in die Land- oder Forstwirtschaft hat das erwähnte Düngemittel 
nicht gefunden. 

h) Verwendung zu Gerbzwecken. 

Eine weitere Verwertung der Ablaugen ist mit mehr oder weniger 
Erfolg durch ihre Verwendung für die Zwecke der Gerberei versucht 
worden, und zwar würde hierfür, da sich Gerbsäure selbst nur in 
unbedeutender Menge vorfindet, lediglich ihre organische Substanz in 
Frage kommen. Die Versuche sind nach der Richtung hin angestellt 
worden, dass man die Laugen sowohl für sich allein, selbstverständ¬ 
lich nach entsprechender Vorbehandlung, als auch in Verbindung mit 
den üblichen Gerbmaterialien in Anwendung brachte; auch benutzte 
man die heissen Kocherlaugen als Extraktionsflüssigkeit für pflanzliche 
Gerbmaterialien, um die so kostenlos zur Verfügung stehenden Wärme¬ 
mengen auszunützen und den konzentrierten Gerbstoffmaterialien gegen¬ 
über ihrem Gerbstoffgehalt einen bestimmten, für die Durchführung 
des praktischen Gerbprozesses erforderlichen Gehalt an Nichtgerb¬ 
stoffen zuzuführen 2 ). Die Gerbversuche mit den unter Benutzung von 
Sulfitablaugen hergestellten Gerbextrakten sind, wie schon gesagt, nicht 
immer von Erfolg begleitet gewesen, und es ist noch eine offene 
Frage, ob die Laugen einmal ein grosses praktisches Interesse für die 
Lederindustrie gewinnen-werden, und ob sich dadurch ihnen dauernd 
ein grösseres Absatzgebiet erschliesst 3 ). 

i) Gewinnung von Alkohol. 

Die in den Laugen enthaltenen verschiedenen Zuckerarten haben 
von Anfang an zu Versuchen angeregt, aus diesen Stoffen durch Ver¬ 
gären mit Hefe Alkohol zu gewinnen. Während diese Versuche wegen 

1) Felix ß. Ahrens, Zur Verwertung der Sulfitzellstoffablaugen. Chem. 
Zeitschrift. 4, 40 bis 41, 15./1. 

2) Vgl. hierzu H. R. Proster und S. Hirst, Journ. Soc. Chem. Ind. 28. 
Ref. in Chem. Zentralbl. 1901. I.; A. Kumpfmiller a. a. 0. und Chem.-Ztg. 
Repertorium. S. 648. Chem.-Ztg. Repertorium. 1909. S. 627; J. S. Robeson, 
Journ. Soc. Chem. Ind. 28. Ref. in Papier-Ztg. 1910. No. 9; W. H. Philippi, 
Bürgel-Offenbach a. M., Chem.-Ztg. 1909. No. 3. Repertorium. 447. 

3) Private Mitteilung der Firma Hoesch & Co. in Pirna a. E. 

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Dr. A. Pritzkow, 


ihrer geringen Ausbeute und technischen Undurchführbarkeit bisher 
aber im wesentlichen auf das Laboratorium beschränkt blieben, hat 
sich in letzter Zeit, gestützt auf neue Patente 1 ), in Schweden eine 
Industrie entwickelt, die in grossem Masstabe die Ablaugen auf Alkohol 
verarbeitet. Im wesentlichen läuft diese Fabrikation darauf hinaus 2 ), 
dass die heisse Kocherlauge unter gleichzeitigem Einblasen von Luft 
durch kohlensauren Kalk neutralisiert, dann von dem entstandenen 
Niederschlag von schwefligsaurem Kalk getrennt und nach einer 
weiteren Abkühlung bis auf 30° C. in Gärbottiche übergeführt wird. 
In diesen wird sie mit dem aus den Abfällen von Bierhefe gewonnenen 
Gärungsextrakt versetzt und der Gärung mehrere Tage überlassen. 
Allerdings ist es noch ein Nachteil der Fabrikation, dass hierfür 
grosse Quantitäten von Gärungsextrakt gebraucht werden sollen. Der 
gebildete Alkohol wird dann in der üblichen Weise destilliert und für 
Gebrauchszwecke denaturiert. Man rechnet mit einer Ausbeute von 
etwa 60 Litern lOOproz. Alkohol aus 1 cbm Ablauge. Die bei diesem 
Prozess entstehenden Abwässer von bräunlicher Farbe hofft man noch 
anderweitig verwerten zu können. 

Der sogenannte Sulfitsprit hat dieselben Eigenschaften wie der 
Kartoffelspiritus und könnte nach entsprechender Rektifikation auch 
zur Herstellung von Trinkbranntwein benutzt werden. In der Sulfit- 
zeflstoffabrik Skutskär bei Stockholm wurden nach dem genannten 
Verfahren im Jahre 1909 schon 54 000 Liter Alkohol hergestellt. Bei 
Vollbetrieb könnte diese Fabrik allein jährlich 1 200 000 Liter und 
sämtliche schwedischen Zellstoffabriken 21—31 Millionen Liter lOOproz. 
Alkohol im AVerte von etwa 5 Millionen Kronen herstellen 3 ). 

Nach mir freundlichst gemachten privaten Mitteilungen, denen ich 
auch teilweise die obigen Angaben über die Alkoholgewinnung in 
Schweden entnommen habe, könnte z. B. allein die Zellstoffabrik von 
Hoesch & Co. in Pirna a. d. E. aus ihren Ablaugen nach dem in 
Skutskär geübten Verfahren rund 2,5 Millionen Liter 100 proz. Alko¬ 
hol im Werte von etwa 1 200 000 M jährlich erzeugen. Für die ge¬ 
samte Produktion Deutschlands würde sich hiernach ein Wert von 


1) J. H. Wallin, Norw. Patent 18687 vom 31. Juli 1908; vgl. auch Chem.- 
Ztg. 1909. No.45. Repertorium. S. 251 und Papier-Ztg. 35.Jahrg. 1910. No. 19 
und Ekström, Verfahren in Oesterreich patentiert: vgl. auch Papier-Ztg. 35.Jahrg. 
1910. No. 16. 

2) Privatmitteilung der Firma Hoesch & Co. in Pirna a. E. 

3) Papier-Ztg. a. a. 0. No. 18. 


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Der augenblickliche Stand der Abwasserfrage in Sulfit-Zellstoffabriken. 165 

rund 15 Millionen Mark, der aus den Ablaugen herausgeholt werden 
könnte, berechnen. Leider stehen der Entwickelung einer derartigen 
Industrie bei uns in Deutschland, besonders nach der neuen Brannt¬ 
weinsteuer-Gesetzgebung durch die hohen auf Spiritus ruhenden Ab¬ 
gaben, die für neuentstehende Fabriken noch verschärft sind, derartige 
Schwierigkeiten im Wege, dass an eine lohnende Gewinnung des Al¬ 
kohols aus den Ablaugen nicht gedacht werden kann. Würde es 
möglich sein, bei entsprechender Herabsetzung der jetzigen auf diesem 
Produkt lastenden hohen Steuern den denaturierten Spiritus zu 32 Pf. 
pro Liter zu verkaufen, so könnte in Konkurrenz mit Petroleum, 
Benzin usw. sich ihm hier ein weites Absatzgebiet für Zwecke der Be- 
euchtung und des Antriebes von Motoren aller Art erschliessen; 
es könnten Millionen von Werten, die jetzt dem Auslande zu gute 
kommen, erspart und die Ablaugen der Zellstoffabriken in gewinn¬ 
bringender Weise verwertet werden. Ob allerdings die Abwasserfrage 
damit einer endgültigen Lösung entgegengeführt würde, bedarf noch 
näherer Prüfung. 

k) Gewinnung von Farbstoffen. 

Der chemischen Forschung bietet sich durch die eingehende Unter¬ 
suchung der Laugen noch ein weites Feld. Besonders die in ihm ent¬ 
haltene Ligninsubstanz stellt hierfür ein geeignetes Ausgangsprodukt 
dar, da sie sich als ein sehr reaktionsfähiger Körper erwiesen hat. 
Erst vor kurzem sind durch eine Reihe von Laboratoriumsversuchen 
interessante Einblicke in dieses Gebiet erschlossen worden. Unter 
anderem ist es hierbei auch gelungen, eine Reihe von Farbstoffen zu 
erzeugen, die Wolle direkt färben und alle Anforderungen erfüllen, 
die an allgemein anwendbare Farbstoffe gestellt werden müssen 1 ). 

So interessant aber auch die Untersuchungen und ihre Ergebnisse 
sind, so zeigen sie doch, dass es vieler Zeit und Arbeit bedarf, um 
greifbare Resultate zu erlangen. Andererseits ist aber auch auf diesem 
Wege die Möglichkeit zur Entdeckung wertvoller Substanzen gegeben. 

Schluss. 

Aus meinen Ausführungen werden Sie, meine Herren, wie ich 
glaube, den Eindruck gewonnen haben, dass Wissenschaft und Praxis 
der Abwasserfrage in den Sulfitzellstoffabriken gegenüber nicht müssig 

1) Earle B. Phelps, Contributions from the Sanitary Research Laboratory 
and Sevage Experiment Station, Massachusetts 1909. 


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16fi Dr. A. Pritzkow, Der Staad d. Abwasserfrage in Sulfit-Zellstoffabrikea. 

sind. Viele Hände sind am Werke und fleissig ist schon auf diesem 
Gebiete gearbeitet und geforscht worden, aber trotz aller Bemühungen 
hat das schwierige Problem bis jetzt noch nicht eine nach allen 
Richtungen hin befriedigende Lösung gefunden. Wenn man das bis 
jetzt Geleistete überblickt, so sieht man im allgemeinen die Be¬ 
strebungen mehr auf eine Verwertung und Nutzbarmachung der Ab¬ 
fallaugen als auf ihre Reinigung hin gerichtet. Im Grunde genommen, 
lässt sich ja eine strenge Trennung zwischen beiden Bestrebungen 
nicht durchführen, denn letzten Endes verfolgen doch beide das gleiche 
Ziel, Fernhaltung der Laugen von unseren Flüssen. Möge es, mit 
diesem Wunsche lassen Sie mich schliessen, meine Herren, in nicht 
zu ferner Zeit der eifrigen Forschung der Wissenschaft in Verbindung 
mit den Männern der Praxis gelingen, auf dem bereits vielfach mit 
Erfolg beschrittenen Wege der Gewinnung und Ausnutzung der in den 
Abfallaugen enthaltenen wertvollen Stoffe, die Abwasserfrage der Sulfit¬ 
zellstoffabriken zu einem gedeihlichen Ende zu führen, in erster Linie 
im Interesse der Reinerhaltung unserer öffentlichen Gewässer, sodann zur 
Erhaltung des Nationalvermögens der Zellstoff erzeugenden Länder, 
nicht zuletzt aber auch zum eigenen Vorteile der für unsere heutige 
Kultur so wichtigen Zellstoffindustrie. 


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3. 


4 


Die Gesundheitskommissionen im Regierungsbezirk 
Allenstein, ihre Tätigkeit in den Jahren 1906—08 
und ihre Bedeutung im allgemeinen. 

Nach amtlichen Quellen 

bearbeitet von 

Regierungs- und Medizinalrat Dr. Solbrig-Allenstein >) und Kreisarzt Dr. Zelle-Lötzen. 


I. 

In der Zeitschrift „Gesundheit“, Jahrg. 1909, Nr. 4—6, bespricht Zivil¬ 
ingenieur Koschmieder-Charlottenburg die Tätigkeit der preussischen Gesund¬ 
heitskommissionen in den Jahren 1906—08 nach deren Berichten, soweit sie in 
jener Zeitschrift veröffentlicht sind. Im übrigen ist dies Thema bisher unseres 
Wissens in der Fachliteratur merkwürdigerweise unbesprochen geblieben, obwohl 
es nahe liegt, nachdem eine Reibe von Jahren seit Einrichtung der neuen Gesund¬ 
heitskommissionen vergangen ist, zu erörtern, was diese Kommissionen in den 
einzelnen Kreisen, Bezirken, Provinzen oder in der ganzen Monarchie geleistet 
haben, zu prüfen, ob die Einriohtung sich bewährt hat und ob Vorschläge zur 
Verbesserung zu machen sind. Selbst die Jahresgesundheitsberichte: „Das Ge¬ 
sundheitswesen des preussischen Staates“ enthalten über die Gesundheitskom¬ 
missionen nur spärliohe Nachrichten, was darin offenbar seinen Grund hat, dass 
in dem Muster für den Jahresbericht der Kreisärzte ein besonderer Abschnitt für 
die Gesundheitskommissionen fehlt und demzufolge die kreisärztlichen Jahres¬ 
berichte wohl im allgemeinen nicht viel hierüber enthalten werden. Dasjenige, was 
in den einzelnen Jahrgängen des „Gesundheitswesens des preussischen Staates“ 
hierüber gesagt ist, bezieht sich ausschliesslich auf eine Art Wohnungsaufsioht, 
die unter Mitwirkung der Kreisärzte und der Gesundheitskommissionen hier und 
da zustande gekommen ist. Immerhin ist es erfreulich zu lesen, dass diese Tätig¬ 
keit von Jahr zu Jahr im Zunehmen begriffen ist und vielfach Erfreuliches ge¬ 
leistet hat. Während in den ersten Jahrgängen (seit 1901, dem Jahre der Er¬ 
richtung der Gesundbeitskommissionen) nur nebenbei beim Kapitel „Wohnungs¬ 
aufsicht“ der Gesundheitskommissionen gedacht wird, wird vom Jahre 1904 ab 
ein wenn auch kurzer Abschnitt der Tätigkeit dieser Kommissionen gewidmet. So 
wird wenigstens aus einzelnen, namentlich grösseren Städten berichtet, dass 
Wohnungen, Werkstätten u. dgl. durch die Gesundheitskommissionen besichtigt, 
Mängel aufgedeckt und Vorschläge zur Verbesserung gemacht wurden. Hier und 

- - f 

1) jetzt: Arnsberg. 


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UMIVERSITY OF IOWA 



Dr. Solbrig und Dr. Zelle, 


168 

da wird auch mitgeteilt, dass das Interesse der Mitglieder der Gesundheitskom¬ 
missionen nur gering sei und die letzteren ihrer Aufgabe nicht gerecht werden. 
Ueber die sonstige Arbeit der Kommissionen erfahren wir aus diesen Sammel¬ 
berichten nichts. 

Im nachstehenden soll über die Gesundheitskommissionen des Regierungs¬ 
bezirks Allenstein und ihr Arbeitsgebiet gehandelt werden. Bekanntlich sah das 
„Regulativ vom 8. August 1835, betreffend die Bekämpfung ansteckender Krank¬ 
heiten“ solche Kommissionen, damals „Sanitätskommissionen“ genannt, vor. 
Diese traten bestimmungsgemäss allerdings erst in Tätigkeit, wenn Epidemien 
herrschten, der Regierungspräsident hatte aber das Recht, sie zu dauernden Ein¬ 
richtungen zu machen, ja er durfte sogar ihre Bildung in jeder Gemeinde an¬ 
ordnen, während nach dem „Gesetz betreffend die Bildung von Gesundheitskom¬ 
missionen vom 16.September 1899“ nur inGemeinden mit mehr als 5000Einwohnern 
eine solche gebildet werden muss. In kleinen Gemeinden kann eine Kommission 
gebildet werden und zwar in Städten auf Anordnung des Regierungspräsidenten, 
in Landgemeinden auf Anordnung des Landrats im Einverständnis mit dem Kreis¬ 
ausschuss. 

Die früheren Befugnisse des Regierungspräsidenten waren also viel weitgehender. 

ln vielen Gemeinden gingen nun mit dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 
16. September 1899 die Sanitätskommissionen ein, in anderen wurden sie bei¬ 
behalten, so im Bezirk Minden und Koblenz, wo in allen Stadt- und fast allen 
Landgemeinden Sanitätskommissionen bestanden. 

Nach dem Ministerialblatt f. Medizinal- u. med. Unterrichtsangelegenheiten 
Nr. 6 von 1902 bestehen im Regierungsbezirk Minden Gesundheitskommissionen in 
7 Städten über 5000 Einwohner, in 23 Städten mit weniger als 5000 Einwohnern, 
in 4 Landgemoindon mit mehr als 5000 Einwohnern und in 414 von 458 Land¬ 
gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern, d. h. in 90 pCt. Im Bezirk Koblenz 
bestehen ausser in den 9 Städten und einer Landgemeinde mit mehr als 5000 Ein¬ 
wohnern und den 15 Städten unter 5000 Einwohner 879 Gesundheitskommissionen 
in kleinen Landgemeinden, d. h. (da deren 1021 vorhanden sind) in 86 pCt. 

In allen andern Regierungsbezirken aber finden wir bedeutend weniger Kom¬ 
missionen, denn in den 37214 Landgemeinden Preussens unter 5000 Einwohner 
ausser Minden und Koblenz fanden sich 1902 nur 595 Kommissionen, d.h. 1,6 pCt. 

Auch im diesseitigen Regierungsbezirk ist von der Befugnis, Gesundheits¬ 
kommissionen zu bilden, nur ebenso beschränkt Gebrauch gemacht worden, wie 
in den meisten anderen Bezirken. 

Der Bezirk Allenstein hat 9 Kreise, davon zählt der Kreis Allenstein 
2 ständige Gesundheitskommissionen in seinen beiden Städten Allenstein 
(27422 Einw.) und Wartenburg (4425 Einw.); 

Kreis Johannisburg 3 in den 3 Städten Johannisburg (3817 Einw.), 
Arys (1933 Einw.) und Bialla (1981 Einw.); 

Kreis Lötzen hat 3 Kommissionen in den Städten Lötzen (6511 Einw.), 
Rhein (1913 Einw.) und in dem Marktflecken Widminnen (1655 Einw.); 

Kreis Lyck in der StadtLyck(12359Einw.) und der Landgemeinde Prostken 
(2342 Einw.); 

Kreis Neidenburg 3 in den Städten Neidenburg (4736 Einw.), Soldau 
(4186 Einw.) und in dem Dorf Illowo (222 Einw.); 


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Die Gesundheitskommissionen im Reg.-Bez. Allenstein etc. 169 

Kreis Orteisburg 4 in den Städten Orteisburg (5076 Einw.) und Passen¬ 
heim (2084 Einw.), den Dörfern Willenberg (2382 Einw.) und Friedrichshof 
(2051 Einw.); 

Kreis Osterode hat 4 Kommissionen in den 4 Städten des Kreises: Osterode 
(13957 Einw.), Liebemühl (2441 Einw.), Gilgenburg (1594 Einw.), Hohenstein 
(2778 Einw.); 

Kreis Rössel in den sämtlichen 4 Städten: Rössel (4363 Einw.), Seeburg 
(2956 Einw.), Bischofsburg (5246 Einw.), Bischofstein (3165 Einw.); 

Kreis Sensburg in den beiden Städten Sensburg (5837 Einw.) und Niko- 
laiken (2287 Einw.). 

Da der Regierungsbezirk 7 Städte über 5000 uud 16 Städte unter 5000 zählt, 
ist somit in allen 23 Stadtgemeinden eine Gesundheitskommission vertreten, dazu 
noch in den Landgemeinden Widminnen, Prostken, Illowo und Friedrichshof. 

Was die Zusammensetzung der Kommissionen betrifft, so hat in den meisten 
Orten der Bürgermeister den Vorsitz übernommen. Nur in Lötzen und Soldau ist 
ein Arzt Vorsitzender, in Prostken und Friedrichshof der Grenzkommissar bzw. 
der Amtsvorsteher. Bausachverständige sind, wenn irgend zu haben, in den Kom¬ 
missionen vertreten, desgleichen ein oder mehrere praktische Aerzte. 

Unterkommissionen sind nur in der Stadt Allenstein zum Zweck der Orts¬ 
besichtigung gebildet worden. 

IT. Tätigkeit der Gesundheitskommissionen. 

Diese sollen von Jahr zu Jahr besprochen werden, da es interessant zu beob¬ 
achten ist, wie Behörden und Kreisärzte sich immer mehr mit der Einrichtung der 
Gesundheitskommissionen befreunden und ihr ein immer grösseres Interesse dar¬ 
bringen. Der besseren Uebersichtlichkeit halber ist das, was hierüber zu sagen 
ist, in Tabellenform zusammengestellt. 

a) 1906. 


Kreis 

Ort 

wohner- 

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Themata der Besprechungen 

Besichtigungen 

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1 lenstein 

A. 

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27 422 

4 

1. Entwurf einer Polizeiverordnung üb. 

1. Ortsbesichtigung. 

2 







die Einrichtung der Bäckereien, 
Ortsbesichtigung, Verschiedenes. 









2. 3. Delikatess- u Kolonialgeschäfte. 

2. 3. Delikatess- und 








Milchhandlungen u. Molkereien. 

Kolonialgeschäfte, 
Milchhandlung, u. 
Molkereien. 








4. Abänderung der Gebührenordnung 

4. — 








für Desinfektoren, dgl. für Benutzung 
des Krankenwagens, Besprechung 
über Fürsorgestellen für Tuber¬ 









kulöse, Ausbildung von Desinfek¬ 
toren, Schularztfrage und Ver¬ 
schiedenes. 





W. 

— 

4 425 

— 

Es wurde keine Sitzung abgehalten. 

— 

— 



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UMIVERSITY OF IOWA 











170 


Dr. Solbrig und Dr. Zelle, 



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Die Gesundheitskommissionen im Reg.-Bez. Allenstein etc. 


171 



Neiden- N. — 4 736 2 1. Typhusgefahr, Wasserleitung, Kana- 1. Ortsbesichtigung. 2 

bürg lisation. 

2. Kreisärztlicher Vortrag über Ver- 2. Wurstmachereien. 
halten bei ansteckenden Krank¬ 
heiten, Besichtigung der Wurst- 
raachereien, Vortrag des Bürger¬ 
meisters über Wasserleitung und 
Kanalisation. 

S. — 4186 1 l. Hinweis des Kreisarztes, dass viertel- 1. Wurstmachereien. 1 

jährlich Sitzungen der Gesundbeits- 
komraission stattfinden müssten, 

Vortrag des Bürgermeisters über 
Kanalisation, Besichtigung d. Wurst- 
raachereien. 

Orteis- 0. — 5 076 1 1. Wohnungsfrage für die niedere Be- 1. — 1 

bürg völkerung. 

P. — 2 084 3 1. Typhusgefahr, Besichtigung der 1. Brunnen. 1 

Brunnen. 

2. Ortsbesichtigung mit Besprechung 2. Ortsbesichtigung, 
hygienischer Missstände. 

3. Typhusgefahr u. Abwehrmassregeln. 3. — 

— F. 2 051 3 1. Besichtigung der Strassen u. Rinn- 1. Strassen u. Rinn- — 

steine. steine. 

2. Besichtigungd.Brunnen,Schliessung 2. Brunnen, 
einiger alter und Errichtung neuer 
beantragt. 

3. Besichtigung des Rossang-Flusses. 3. Rossang-Fluss. 

— W. 2 382 1 1. Allgemeine Besprechungen. 1. — — 

•sterode 0. — 13 957 1 1. Besichtigung des Desinfektionsappa- 1. Desinfektions- 1 

rats und der Leichen- und Kranken- apparat, Leichen¬ 
transportwagen, Antrag auf regel- u. Krankentrans- 

mässige Wohnungsbesichtigung, An- portwagen, 

trag auf Errichtung eines Kranken¬ 
hauses. 

L. — 2 441 — — — — 

G. — 1594 — — — — 

H. — 2 778 — — — — 

Rössel R. — 4 863 2 1. Beschwerden wegen gefährdeter Ab- 1. — 2 

ortanlagen, Kellerwohnungen, Kana¬ 
lisierung des Schiessgartengrabens. 

2. Abortanlagen und Dunggruben. 2. — 

S. — 2 956 — — — — i) 

1) In S. war trotz wiederholter Aufforderung seitens des Kreisarztes eine Kommission nicht gebildet. 



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UNIVERSITV OF IOWA 









172 


Dr. Solbrig und Dr. Zelle, 



Ort 

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Tagesordnung 


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Kreis 

Stadt 

Dorf 

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Themata der Besprechungen 


Besichtigungen 

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Rössel 

Bg- 

— 

5 246 

2 

1. 

Beratung über ein Gesuch eines 
Kürschnermeisters um fernere Ge- 

i. 

— 

1 








stattung der Reinigung von Feilen 
im Dimmer-Flusse, Gesuch einiger 
Bürger wegen Anlage von Rinn¬ 
steinen, Anlage einer Dunggrube. 










2. 

Beschwerde eines Lehrers gegen das 
Trocknen frisch gegerbter Felle 

2. 

Aborte, Rinn¬ 
steine. 









neben seinem Wohnhaus, Uebel- 
stände in Gullys und Rinnsteinen, 
Antrag zur Besichtigung von Flei¬ 
schereien und Bäckereien, Besicht!- 











gung einiger schlechter Aborte. 






Bn. 


3 165 

2 

1. 

Prüfung von Dispensanträgen wegen 
Anlegung von vorschriftsmässigen 
Aborten und Dunggruben, Kanali¬ 
sationsfrage. 

i. 


1 







2. 

Kanalisation, Untersuchungsbefund 
des Wassers der Wasserleitung, Be¬ 
sichtigung der Wasserleitung. 

2. 

1 

! 

i 

Wasserleitung. 



Sensburg 

S. 

— 

5 837 

2 

1. 

Besichtigung der Fleischläden und 

l. 

Fleischläden, 

•> 







Wurstmachereien. 


Wurstmachereien. 








2. 

Ortsbesichtigung von Ausbauten. 

2. 

Ortsbesichtigung. 




N. 

— 

2 287 

3 

1. 

Cholera und Bekämpfung derselben. 

1. 

— 

2 







2. 

Besichtigung des Kirchhofs und der 

2. 

Kirchhof und 









Leichenhalle. 


Leichenhalle. 





1 



3. 

Besichtigung gewerblicher Betriebe. 

3. 

Gewerbliche Be¬ 
triebe. 




Somit wurden 1906 von 25 Gesundheitskonimissionen statt der 100 vor¬ 
geschriebenen Sitzungen nur 51 abgehalten, dabei 32 Besichtigungen. 

Die Kreisärzte regten 22 Sitzungen an und nahmen an 26 teil. Die vor¬ 
geschriebenen 4 Sitzungen hielten nur 5 Kommissionen ab, 3 begnügten sich mit 
3, 9 mit 2, 4 mit je 1 und 4 traten gar nicht in Tätigkeit. 

Die Folge dieser nicht gerade befriedigenden Ergebnisse war eine Verfügung 
des Herrn Regierungspräsidenten, welche für die Stadt S. sofort gemäss § 7 der 
„Geschäftsanweisung für die Gesundheitskommissionen“ vom 13. März 1901 die 
Bildung einer Kommission anordnete, ferner wurden die Landräte und Kreisärzte 
ersucht, den Gesundheitskommissionen ihr erhöhtes Interesse zu widmen. 


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4 


Die Gesundheitskommissionen im Reg.-Bez. Allenstein etc. 173 


b) 1907. 


Kreis 

Ort 

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Themata der Besprechungen 


Besichtigungen 

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lienstein 

A. 


27 422 

4 

1. 

Antrag einer Verlagsbuchhandlung 
auf Veröffentlichung der Beschlüsse 
der Gesundheitskommission in der 

i. 

— 

2 








Zeitschrift „Gesundheit“. Anstellung 
von Schulärzten. 


’ 








2. 

Ortsbesichtigungen. 

2. 

Ortsbesichtigung. 








3. 

Einführung eines Mitgliedes. 

3. 

— 








4. 

Wahl einer Unterkommission für 
Ortsbesichtigungen. 

4. 





W. 

— 

4 425 

1 

1. 

Kanalisation, Badeanstalt und 

Leichenhallenwesen. 

1. 

— 

— 


jhannis- 

burg 

J . 


3817 

2 

1. 

Besprechung der Wasserleitung und 
Kanalisation. 

1. 

— 

2 






2. 

Umbau des Schlachthauses, Uebel- 
stand auf einzelnen Höfen, Beseiti¬ 
gung der Abwässer. 

2. 

Höfe. 






A. 

— 

1 933 

i 

1. 

Reinlichkeit der Höfe. 

1. 

Höfe. 

1 



B. 


1 981 

4 

1. 

Revision von Gasthöfen. 

1. 

Gasthöfe. 

1 







2. 

Revision von Gehöften. 

2. 

Gehöfte. 



l« 





3. 

Desgl. 

3. 

Desgl. 



* 





4. 

Anschaffung eines Desinfektions¬ 
apparats. 

4. 

Aborte. 



Lotzen 

L. 

— 

6511 

4 

1. 

Besichtigung schlechter Wohnungen. 

1. 

Wohnungen. 

1 







2. 

3. Besichtigung von Höfen und 

2. 

3. Höfe, Fleischer¬ 









Fleischerläden. 


läden. 








4. 

Besichtigung der Fleischereien auf 
dem Wochenmarkt. 

4. 

Fleischereien. 




R. 

j_ 

1 913 

5 

1. 

Besichtigung der Fleischereien. 

1. 

Fleischereien. 

2 







2. 

3. „ und der Hofe. 

2. 

3. Desgl. u. Höfe. 








4. 

„ der Gewässer um R. i 

4. 

Gewässer. 








5. 

„ der Haltekinder. 

5. 

Haltekinder. 



ii 

— 

IW. 

1 655 

4 

1. 

Besichtigung der Fleischereien. 

1. 

Fleischereien. 

2 







0 

„ der Höfe. 

2. 

Höfe. 








3* 

* der Barbierläden. 

3. 

Barbierläden. 



jf 





4. 

„ der Kaufläden und 

4. 

Kaufläden, Mine¬ 









der Mineralwasserfabrik. 


ralwasserfabrik. 



l7 Lyck 

L. 

— 

12 359 

3 

1. 

Lungenfürsorgestelle. 

1. 

— 

3 







2. 

Besichtigung von Kläranlagen, Dung¬ 

2. 

Kläranlagen, 









stätten und Höfen. 


Dungstätten, Höfe 








3. 

Beaufsichtigung des Milchhandels. 

3. 

— 




— 

p. 

2 342 

1 

1. 

Besichtigung des alten Dorfes. 

1. 

Ortsbesichtigung. 

1 



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UNIVERSUM OF IOWA 











174 


• 


Dr. Solbrig und Dr. Zelle, 



Kreis 

Ort 

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Einwohner¬ 

zahl 

Zahl d. abgehal¬ 
tenen Sitzungen 

Tagesordnun 

Themata der Besprechungen 

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Besichtigungen 

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Neiden- 

burg 

N. 


4 736 

4 

1. Besichtigung der Restaurants mit 
weiblicher Bedienung, einer Wurst¬ 
macherei und einer Jauchegrube. 

2. Desgl. von Bäckereien und Wurst- 
machereien. 

3. Desgl. der Barbierstuben und ver¬ 
schiedener Brunnen. 

4. Vorschläge für die Wahl eines Mit¬ 
gliedes. Besprechung der Typhus¬ 
gefahr. Rundgang durch die Stadt 
wegen Strassenreinigung. 

1. Restaurants, eine 
Wurstmacherei 
und eine Jauche¬ 
grube. 

2. Bäckereien, 
Wurstmachereien. 

3. Barbierstuben, 
Brunnen. 

4. Strassen und Höfe. 

4 

• 

S. 


4 186 

5 

1. Kanalisation, Besichtigung einiger 
Grundstücke. 

2. Besichtigung der Fleischereien, 
Bäckereien und Barbiere. 

3. Desgl. der Wurstmachereien, einiger 

Barbiere. Bczirkseinteilung der 

Stadt. 

4. Desgl. der Bäckereien. 

5. Desgl. der Brauereien und des Spül¬ 
wassers zum Ausspülen der Gläser 
in den Restaurationen. 

1. Ortsbesichtigung. 

2. Fleischereien, 
Bäckereien, 
Barbiere. 

3. Wurstmachereien, 
Barbiere. 

4. Bäckereien. 

5. Brunnen und Re¬ 
staurationen. 

2 

Ortels- 

burg 

0. 


5 076 

4 

1. Strassenreinigung, Besichtigung der 
Kellerwohnungen. 

2. Besichtigung der Kellerwohnungen. 

3. Desgl. 

4. Wohnungsbesichtigungen. 

1. Kellerwohnungen. 

2. Desgl. 

3. Desgl. 

4. Wohnungen. 

2 


P. 


2 084 

8 

1. Massnahmen gegen Typhus. 

2. Desgl. und Ortsbesichtigung. 

3. Desgl. 

4. Desgl., Ortsbesichtigung und An¬ 
stellung eines zweitenPolizeibeamten 
zur Durchführung gesundheitlicher 
Massnahmen. 

5. Gutachten über Erlass einer Po- 
lizeiverordaung gegen Verbreitung 
von Typhus, Desinfektion. 

6. — 8. Ortsbesichtigungen. 

1. — 

2. Ortsbesichtigung. 

3. Desgl. 

4. Desgl. 

5. — 

6 . —8 . Ortsbesichtig. 

4 < 



F. 

2 051 

4 

1. 2. Besichtigung von Wohnungen. 

3. Desgl. von Brunnen. 

4, Desgl. von gewerblichen Anlagen. 

1. 2. Wohnungen. 

3. Brunnen. 

4. — 

2 

1) Die häufige Zahl erklärt sich durch eine hier herrschende Typhusepidemie, um deren wirtaj 
Bekämpfung die Gesundheitskommission, namentlich auch durch die Mitwirkung der beiden ansäs>-| 
Aerzte sich mit Erfolg bemühte. 

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UNIVERSUM OF IOWA 





Die Gesundheitskommissionon im Reg.-Bez. Allenstein etc. 


175 



Ort 

l 

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Tagesordnung 


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3 

Kreis 

Stadt 

Dorf 

Einwoh 

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1 

Themata der Besprechungen 


Besichtigungen 

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— 

W. 

2 382 

3 

1. 

Aborte und Dunggruben, Verbesse¬ 
rungen in den Schulen (Fenster, 
Oefen). 

i. 

Schule. 

— 







2. 

Aborte, Schulhygiene, Brunnen, 
Desinfektionsapparat. 

2. 

— 








3. 

Desinfektionen, Ortsarme. 

3. 

— 



)*terode 

0. 

. 

13 957 

3 

1. 

Desinfektionen, Krankenhausbau. 

1. 

— 

— 







2. 

Einteilung der Stadt in Bezirke, 
Besichtigung des Wasserwerks, 

2. 

Wasserwerk. 









Benutzung des Seewassers. 










3. 

Platz für den Viehraarkt. 

3. 

— 




L. 

— 

2 441 

5 

Protokolle fehlen. 

! 

! 

— 

— 



G. 

— 

1 594 

2 

i. 

2. Sanitäre Beschaflenheit der 
Grundstücke. 

1. 

2. — 

— 



H. 

— 

2 778 

— 

Es fanden keine besonderen Sitzungen 

3 Ortsbesichtigungen. 

— 








statt; bei 3 Ortsbesichtigungen 
wurden sanitäre Missstände erörtert. 





Rüssel 

R. 

— 

4 363 

1 

i. 

Besprechung sanitärer Missstände 
in Bäckereien, Fleischereien, Ka¬ 
nalisation. 

1. 

— 

i 



S. 

' 

2 956 

2 

i. 

Vortrag eines Arztes über hygienische 
Missstände der Stadt, Anregung zur 
Bildung eines Wohnungsbauvereins. 

1. 

" 

i 







2 . 

Volksbadeanstalt, Bezirkseinteilung, 

> 9. 

Fleischereien, 









Besichtigung von Fleischereien, 
Bäckereien. 


Bäckereien. 




Bg- 

— 

5 246 

1 

1. 

Besichtigung des Schulhauscs, 
Wasserleitung, Kanalisation. 

1. 

Schulhaus. 

i 



Bn. 

— 

3 165 

1 

1. 

Massnahmen gegen Typhus, Besieh- 

1. 

Fleischereien, 

i 








tigung von Fleischereien, Bäckereien. 


Bäckereien. 



“nsburg 

S. 

— 

5 837 

4 

1. 

Besichtigung der Bäckereien. 

1- 

Bäckereien. 

4 







2 . 

„ der Friseurläden. 

2. 

Friseurläden. 








3. 

Begräbniswesen, Besichtigung der 
Friedhöfe. 

1 3. 

i 

Friedhöfe. 








4. 

Besichtigung der Kläranlage. 

4. 

Kläranlage. 




N. 

— 

2 287 

4 

1. 

Besichtigung der Bäckereien. 

1. 

Bäckereien. 

1 







2. 

,, der Fleischereien. 

2 . 

Fleischereien. 








3. 

„ der Friseurstuben. 

3. 

Friseurstuben. 








4. 

r der Strassen. 

4. 

Strassen. 




Demnach wurden 1907 von 26 (1906 von 25) Gesundheitskommissionen statt 
104Sitzungen80 (1906 — 51)abgehalten, davon 60 (1906 — 32) Besichtigungen. Die 
Kreisärzte regten 36 (1906 — 22) Sitzungen an und nahmen an 38 (1906 — 26) teil. 


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Original from 

UNIVERSUM OF IOWA 













II 

176 l)r. Solbrig und Dr. Zelle, 

Es ist also ein bedeutender Fortschritt in der Zahl der Sitzungen gegen 
1906 festzustellen. 

Die Zahl der Sitzungen betrug bei l Kommission acht, bei 3 fünf, bei 9 vier, 
bei 3 drei, bei 3 zwei, bei 6 je eine und bei einer 0. 

Der Vorsitzende einer Gesundheitskommission, welcher dem Kreisarzt mit¬ 
geteilt hatte, er habe „keine Zeit“ Sitzungen anzuberaumen und abzuhalten, wurde 
vom Herrn Regierungspräsidenten auf die pflichtmässige Beachtung der ein¬ 
schlägigen Bestimmungen mit Erfolg aufmerksam gemacht. 


c) 1908. 

Vorweg sei bemerkt, dass infolge der Cholera in Petersburg durch eine Ver¬ 
fügung des Herrn Regierungspräsidenten vom 15. September 1908 — IM 1810 — 
eine schleunige Zusammenberufung aller Gesundheitskommissionen verfügt warde, 
welche folgende Fragen zu prüfen hatten: 

1. Welche Räume stehen zur Unterbringung etwaiger Cholerakranker und 
Verdächtiger zur Verfügung? 

2. Ist das nötige Pflegepersonal vorhanden? 

3. Sind amtlich geprüfte Desinfektoren mit vollständiger Ausrüstung und 
brauchbare Desinfektionsapparate in genügender Zahl vorhanden? 

Auch sollte die Gesundheitskommission sich durch Besichtigungen von dem 
sanitären Zustand der Häuser, Höfe, Strassen, Brunnen und Aborte überzeugen, 
endlich wurde den Kreisärzten aufgegeben, in Erwägung zu ziehen, ob neue Kom¬ 
missionen zu bilden seien. 


Kreis 

Ort 

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Einwohner¬ 

zahl 

Zahl d. abgehal¬ 
tenen Sitzungen J 

Tagesordnun 

Themata der Besprechungen 

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Besichtigungen 

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5-5* 

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l 

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Allcnstein 

A. 


27 422 

4 

1.—3. Keine besondere Tagesordnung. 

1.—3. — 

l 







4. Massnahmen gegen Choleragefahr. 

4. Gehöfte. 




W. 

— 

4 425 

1 

1. Choleragefahr. 

1. Gehöfte. 

1 



— 

T. 

1038 

? 

Bekämpfung einer Typhusepidemie. 

— 

— 


Johannis- 

J. 

— 

3 817 

2 

1. Kanalisationsprojekt, Besichtigung 

1. Kirchhofshalle. 

l 


bürg 





der Kirchhofshalie, Besichtigung der ; 









Unterkunft für unbemittelte Durch¬ 









reisende. 









2. Abwehrmassnahmen gegen Cholera- ; 

2. Ortsbesichtigung. 








gefahr. Wasserversorgung. 





1) Im September wurde eine besondere Gesundheitskommission errichtet, weil hier 14 Erkranku 
fälle an Typhus vorkamen. Nach Erlöschen der Epidemie löste sich die Kommission wieder aui. 
Gemeindevorsteher und ein Lehrer leiteten zur vollen Zufriedenheit der Medizinalbehörden diese 
mission, sie übte eine Kontrolle über Neuerkrankungen aus und kümmerte sich in anerkennenswe 
Weise um die Verhältnisse der Kranken. 


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Original frn-m 

UNiVERSlIY OF IOWA 










Die Gesundheitskommissionen im Reg.-Bez. Allenstein etc. 


177 


Kreis 


Ort 


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Tagesordnung 


Themata der Besprechungen 


Besichtigungen 


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Lotzen 


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A. 


B. 


R. 


L. 


N. 


W. 


P. 


1 933 


1 981 


6511 


1 913 


1655 


12 359 


2 342 


4 736 


1. Fäkalienfrage, Molkereigenossen' 
Schaft, Besichtigung einiger Höfe. 

2. Wasserversorgung, Fäkalienabfuhr, 
Massnahmen gegen Cholera. 

1. Besichtigung der Herbergen, Schläch¬ 
tereien und Bäckereien. 

2. Wasserversorgung, Fäkalienabfuhr, 
Massnahmen gegen Cholera. 

1. Besichtigung der Fleischereien und 
der Höfe. 

2. Desgl. der Haltekinder. 

3. Massnahmen gegen Cholera. 

1. Besichtigung der Haltekinder und 
Fleischereien. 

2. Besichtigung der Höfe, Massnahmen 
gegen Cholera. 

3. Besichtigung der Schlafstellen der 
Lehrlinge. 

1. Besichtigung der Fleischereien, 

Bäckereien, Haltekinder. 

2. Besichtigung der Schlafstellen, 

! Barbierläden. 

3. Massnahmen gegen Choleragefahr, 
Begehung der Höfe. 

4. Besichtigung der Höfe u. Werkstätten. 


1. Besichtigung einiger Höfe. 

2. Milchkontrolle. 

3. Fürsorge für Tuberkulöse. 

4. Massnahmen gegen Cholera, 
sichtigung der Seestrasse. 


Be- 


1. Besichtigung des neuen Dorfes. 

2. Besichtigung der Bäckereien, Flei¬ 
schereien, Herbergen. 

3. Besichtigung von Brunnen. 

4. Massnahmen gegen Cholera, Besich¬ 
tigung von Gehöften. 

1. Besichtigung von Bäckereien, Braue¬ 
reien, Friseurläden, Einteilung der 
Stadt in Bezirke. 


■ ■■ 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 1. 


1. Höfe. 

2. Höfe. 


1. Herbergen, 
Schlächtereien, 
Bäckereien. 

2. Höfe. 


1 . Fleischereien, 
Höfe. 

2. Haltekinder. 

3. Gehöfte. 

1. Haltekinder, Flei¬ 
schereien. 

2. Höfe. 

3. Schlafstellen der 
Lehrlinge. 

1 . Fleischereien, 
Bäckereien, Halte¬ 
kinder. 

2. Schlafstellen, 
Barbierläden. 

3. Höfe. 

4. Höfe und Werk¬ 
stätten. 

1. Höfe. 

2 . — 

3. — 

4. Strassen, Gehöfte. 

1 . Ortsbesichtigung. 

2. Bäckereien, Flei¬ 
schereien, Her¬ 
bergen. 

3. Brunnen. 

4. Gehöfte. 


1. Bäckereien, 

Brauereien, Fri¬ 
seurläden. 

12 


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Original frn-m 

UNIVERSUY OF IOWA 










178 


Dr. Solbrig und Dr. Zelle, 



Ort 

i 

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Tagesordnung 


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Kreis 



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Stadt 

Dorf 

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Themata der Besprechungen 


Besichtigungen 

* <2* 

SÄ“ - 

0 

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0 

IS 






2. 

Besichtigung einzelner Strassen, 

2. 

Strassen, Dung- 









Dunggruben, Gräben und der städti- 


gruben, Graben, 









sehen Bedürfnisanstalt. 


städtische Bedürf¬ 
nisanstalt. 








3. 

Besichtigung der Kesselbrunnen 

3. 

Kesselbrunnen, 









und des Neideflusses. 


Neidefluss. 








4. 

Massnahmen gegen Cholera, Besich¬ 
tigung von Höfen. 

4. 

Höfe. 




S. 

_ 

4186 

4 

1 . 

Besichtigung von Friseurläden. 

1 . 

Friseurläden. 

s 







2. 

Besichtigung von Brunnen, Aborten, 

2. 

Brunnen, Aborte, 









Bäckereien. 


Bäckereien. 








3. 

Besichtigung der Barbierläden, Flei- 

3. 

Barbierläden,Flei- 









schereien und einiger Hotels. 


schereien, Hotels. 








4. 

Massnahmen gegen Cholera, Be¬ 
sichtigung von Grundstücken. 

4. 

Grundstücke. 




— 

J. 

222 

1 

1. 

Massnahmen gegen Cholera, Be¬ 
sichtigung der Dunghaufen. 

1. 

Dunghaufen. 

1 

') 

Orteis- 

0. 

_ 

5 076 

4 

1. 

Besichtigung von Kleinwohnungen. 

1 . 

Kleinwohnungen. 

3 


bürg 





2. 

Revision von Wohnhäusern. 

2. 

Wohnhäuser. 







3. 

Besichtigung der neuen Strasse. 

3. 

Strasse. 








4. 

Massnahmen gegen Cholera, Besieh- 

4. 

Rinnsteine, 









tigung der Rinnsteine, Aborte etc. 


Aborte. 




P. 

_ 

2 084 

4 

1. 

Bericht über Gesundheitszustände. 

1. 

— 

1 







2 . 

Desgl. 

2 . 

— 








3. 

Besichtigung der Fäkalien. 

3. 

Fäkalien. 








4. 

Massnahmen gegen Cholera, Be¬ 
sichtigung der Aborte etc. 

4. 

Aborte. 




— 

F. 

2 051 

2 

1 ; 

Revision der Schlafstellen, der Ge¬ 
sellen und Lehrlinge. 

1. 

Schlafstellen. 

i 







2 . 

Massnahmen gegen Cholera mit 
Besichtigungen. 

2 . 

Gehöfte. 




— 

W. 

2 382 

4 

1. 

Typbusbesprechung. 

1. 

— 

1 







2 . 

Ueber Dampfdesinfektion. 

I 2 - 

— 








3. 

Massnahmen gegen Cholera mit 
Besichtigung. 

!»• 

Gehöfte. 



Osterode 

0. 

— 

13 957 

5 

1. 

Anstellung von Schulärzten, an¬ 
steckende Krankheiten. 

i. 

— 

3 







2 . 

Desinfizierung der Leichen träger. 

2 . 

— 








3. 

Beobachtungsräume für Kranke. 

3. 

— 





t 



4. 

Massnahmen gegen Cholera mit Be¬ 
sichtigung schlechter Wohnungen. 

4. 

Wohnungen. 





1 

i 



5. 

Besichtigung von schlechten Woh¬ 
nungen. 

5. 

i 

Wohnungen. 




1) Ira Oktober 1908 -wegen der Choleragefahr eingerichtet. 


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Original fro-m 

UMIVERSITY OF IOWA 







Die Gesundheitskommissionen im Reg.-Bez. Allenstein etc. 


179 


Kreis 


Ort 


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Tagesordnung 


Themata der Besprechungen 


Besichtigungen 


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G. 


H. 


Rössel 


R. 


S. 


Bg. 


Bo 


2 441 


1 594 


2 778 


4 363 


2 956 


5 246 


3 165 


Sensburg 


S. 


N. 


5 83 


2 287 


1.—3. Anträge und Mitteilungen. 

4. Massnahmen gegen Cholera, Be¬ 
sichtigung der Fleischereien, Bäcke¬ 
reien und der Cholerabaracke. 

1. 2. Abortgruben mit Besichtigungen. 
Massnahmen gegen Cholera, Be¬ 
sichtigungen. 

1. Wasserverhältnisse mit Besichti¬ 
gungen. 

2. Abortverhältnisse m.Besichtigungen. 

3. Massnahmen gegen Cholera mit Be¬ 
sichtigungen. 

1. Fürsorgestelle für Tuberkulöse. Be¬ 
sichtigung von Fleischereien, Bäcke¬ 
reien, Aborten. 

2. Massnahmen gegen Cholera, Be¬ 
sichtigung v. Aborten, Grundstücken. 

1. Kanalisation, Besichtigung v. Höfen. 

2. Fürsorgestelle für Tuberkulöse. 

3. Massnahmen gegen Cholera mit Be¬ 
sichtigungen. 

1. Badeanstalt, Fürsorgestelle f. Tuber¬ 
kulöse, Besichtigung des Schlacht¬ 
hauses. 

2. Massnahmen gegen Cholera mit 
Besichtigungen. 

1. Desinfektionswesen, Fürsorgestelle 
für Tuberkulöse, über Verwendung 
von Salizylsäure zur Konservierung 
von Genussmitteln. Besichtigung 
des Schlachthauses. 

2. Bezirkseinteilung der Stadt, Be¬ 
sichtigung von Bäckereien, Flei¬ 
schereien, Bierapparaten. 

3. Massnahmen gegen Cholera. 

1. Besichtigung der Bäckereien. 

2. „ „ Gewässer d. Stadt. 

3. „ „ Molkereien und 

Brunnen. 

4. Massnahmen gegen Cholera, Besich¬ 
tigung einer Strasse auf Sauberkeit. 

1. Besichtigung einiger Strassen. 

2. Desgl. der Molkerei u. des Kirchhofs. 

3. Besichtigung einiger Strassen, Mass¬ 
nahmen gegen Cholera. 

4. Besichtigung einiger Strassen. 


1 — 3 . — 

4. Fleischereien, 
Bäckereien, 
Cholerabaracke. 

1. 2. Abortgruben. 
3. Gehöfte. 

1. Brunnen. 

2. Aborte. 

3. Gehöfte. 


1. Fleischereien, 
Bäckereien, 
Aborte. 

2. Aborte, Grund¬ 
stücke. 

1. Höfe. 

2. Höfe. 

3. Gehöfte. 

1. Schlachthaus. 


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2. Gehöfte. 


1. Schlachthaus. 


2. Bäckereien, 
Fleischereien, 
Bierapparate. 

3. Gehöfte. 

1 . Bäckereien. 

2. Gewässer. 

3. Molkereien, 
Brunnen. 

4. Strassen, Gehöfte 

1. Strassen. 

2. Molkerei,Kirchhof. 

3. Strassen. 

4. Desgl., Gehöfte. 

12 * 


Original frn-m 

UNIVERS1IY OF IOWA 







180 


Dr. Solbrig und Dr. Zelle, 


Demnach hielten 1908 die 26 ständigen Gesundheitskommissionen (ausser 
den provisorischen in T. und der erst Oktober 1908 errichteten in J.) statt der vor¬ 
geschriebenen 104 Sitzungen deren 84 (1907 — 80) ab, davon 68 Besichtigungen 
(1907 - 60). 

Die Kreisärzte regten 39 (1907 — 36) Sitzungen an und nahmen an 59 teil 
(1907 — 38). 1 Kommission hielt 5 Sitzungen ab, 12 Kommissionen hielten 4, 

6 hielten 3, 6 hielten 2 und 1 Kommission hielt 1 Sitzung ab. 

Fassen wir nunmehr die Anzahl der Sitzungen etc. 1906—1908 zusammen, 
so ergibt sich 

1906 

25 Gesundheitskommissionen mit 51 Sitzungen (davon 32 Besichtigungen), 

22 Sitzungen regten die Kreisärzte an, an 26 nahmen sie teil. 

1907 

26 Gesundheitskommissionen mit 80 Sitzungen (davon 60 Besichtigungen), 

39 Sitzungen regten die Kreisärzte an und nahmen an 38 teil. 

1908 

26 ständige Gesundheitskommissionen mit 84 Sitzungen (68 Besichtigungen), 

36 Sitzungen regten die Kreisärzte an, an 59 nahmen sie teil. 

Es ist somit zahlenmässig ein beständiger Fortschritt in der Tätigkeit der 
Kommissionen und der Beteiligung der Kreisärzte an ihnen festzustellen. 

Leider sind die genauen Mitteilungen über die Tätigkeit der Kommissionen 
in den Jahren vor 1906 nicht durchweg zu ermitteln. 

Im ganzen Regierungsbezirk fanden statt: 

1901 23 Sitzungen mit 19 Besichtigungen, 

1902 40 „ „ 33 „ 

1903 36 ,. „ 30 „ 

1904 48 „ „ 38 

1905 48 „ „ 38 „ 

Sa. 1901-1905, 

also in 5 Jahren 195 Sitzungen mit 158 Besichtigungen, 
pro Jahr 45 „ „31 „ 

während 1906—1908, 

d. h. in 3 Jahren 215 „ 160 „ 

pro Jahr 71 „ „ 53 „ 

stattfanden. 

Lassen wir nun die Jahre 1901—1905, für welche, wie gesagt, genaue 
Sitzungsberichte nicht mehr durchweg zu erlangen waren, fort, so wurden 1906 
bis 1908 in den 215 Sitzungen (bzw. 160 Besichtigungen) folgende Gegenstände 
besprochen bzw. besichtigt 1 ): 

Aborte.24 mal, Baupolizeiverordnungen . 2 mal, 

Animierkneipenwesen . . 2 „ Brauereien.2 „ 

Bäckereien.24 „ | Brunnen.12 „ 

1 ) Die Anzahl der besichtigten einzelnen Gegenstände, wie Brunnen, 
Bäckereien, Fleischereien etc., ist natürlich nicht in den folgenden Zahlen ent¬ 
halten. 


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bv Google 


Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 




Die Gesundbeitskommissionen im Reg.-Bez. Allenstein etc. 181 


Barbierläden. 

13mal, 

Kellerwohnungen 

5 mal, 

Ansteckende Krankheiten im 



Kleinwohnungen 

2 

77 

allgemeinen .... 

6 

77 

Kolonialgeschäfte 

3 

77 

Badeanstalten .... 

3 

77 

Krankenträgerwesen . 

3 

77 

Bedürfnisanstalten (öffentl.) 

2 

n 

Leichenhallen .... 

2 

77 

Bierapparate. 

1 

n 

Leichenträger .... 

3 

77 

Cholera. 

30 

77 

Milchhandlungen, Molkereien 

6 

77 

Desinfektion. 

11 

77 

Luft (Verunreinigung) . 

1 

77 

Fäkalienabfuhr .... 

5 

n 

Mineralwasserfabriken . 

1 

77 

Flussverunreinigungen . 

1 

ri 

Nahrungsmittelkonservierung 

1 

77 

Fleischereien .... 

26 

77 

Ortsarme. 

1 

77 

Fürsorgestellen f. Tuberkulöse 

10 

77 

Ruhr. 

1 

77 

Gastwirtschaften 

4 

77 

Schulen und Schularztfrage 

7 

77 

Gewässer (öffentliche) . 

6 

n 

Schlafstollen für Gesinde . 

5 

77 

Gehöfte, Dungstellen etc. . 

74 

r> 

Schlammfänge .... 

2 

77 

Gläserspülung in Gastböfen 

1 

n \ 

Strassen u.Strassenreinigung 

12 

77 

Gewerbliche Anlagen allerArt 

5 

7) 

Schlachthaus .... 

4 

77 

Haltekinder. 

7 

n 

Seewasser als Trinkwasser . 

1 

77 

Hotels. 

2 

7) 

Typhus . 

10 

77 

Herbergen. 

3 

v ! 

Viehmarkt (Platzfrage) . 

1 

77 

Kirchhöfe. 

4 

V , 

Wasserleitung .... 

11 

77 

Kläranlagen. 

3 

1 

71 

Wohnungsbauverein 

1 

77 

Kanalisation. 

15 

77 | 

Wohnungshygiene und Woh¬ 



Krankenhausbau .... 

2 

n 1 

nungen im allgemeinen . 

23 

77 

Die vorstehende Uebersicht 

gibt natürlich nur die hauptsächlichsten Be- 


ratungsgegenstände an, zeigt aber zur Genüge, dass so ziemlich das ganze grosse 
Gebiet der Hygiene ohne wesentliche Ausnahmen Gegenstand eifriger und wieder¬ 
holter Verhandlung der Kommission gewesen ist. 

Vermissen könnte man in Anbetracht des gerade für den Osten der Monarchie 
und ganz besonders für die masurischen Kreise wichtigen Gegenstandes, dass die 
Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs bisher nicht zum Gegenstand der Erörterung 
gemacht wurde. 

Die fortschreitende Erkenntnis von dem Wesen der Krankheiten, ihrem Zu¬ 
sammenhang mit Luft, Boden und Erde, sowie die Fortschritte der Technik werden 
sicher in Zukunft neue Gebiete der Tätigkeit der Kommissionen eröffnen. 

Wenn man nun fragt: Was haben die Kommissionen erreicht mit ihrem nicht 
unerheblichen Aufwand an Zeit und Arbeitskraft, so ist es freilich schwer, ja un¬ 
möglich, hierauf eine auf Zahlen basierende Antwort zu geben. 

Wenn aber die Sterbeziffer auf je 1000 Lebende im Aliensteiner Regierungs¬ 
bezirk 1905: 20,2, 1906: 19,3, 1907:18,5 betrug und wenn nur die Zahl der 
Typhuserkrankungen, diese untrügliche Signatur des hygienischen Zustandes eines 
Ortes und eines Bezirkes 

von 578 im Jahre 1902 

auf 330 „ „ 1903 

282 „ „ 1904 

333 „ „ 1905 


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Original from 

UNIVERSUM OF IOWA 











182 


Dr. Solbrig und Dr. Zelle, 


180 im Jahre 1906 
214 „ „ 1907 

und 219 „ „ 1908 

zurückgegangen ist, wenn ferner alle Berichte der Kreisärzte darüber einig sind, 
dass eine langsam aber sicher fortschreitende Sanierung der gesundheitlichen Ver¬ 
hältnisse ihrer Kreise im Gange ist, so dürfen wir darin doch wohl auoh einen 
Erfolg der unermüdlichen Kleinarbeit nnserer Gesundheitskommissionen begrüssen. 

Hier und dort ist das Desinfektionswesen verbessert worden, Schulärzte sind 
angestellt, die Wohnungsverhältnisse armer Leute gebessert. Beim Auftreten an¬ 
steckender Krankheiten ist Klarheit und Belehrung über ihr Wesen und ihre Ver¬ 
hütung in weite Kreise der Bevölkerung getragen. Ueberbaupt darf die hygienisch 
erzieherische Tätigkeit, welche die Kommissionen gegenüber der zum Teil, nament¬ 
lich in „Masuren u , noch sehr rückständigen indifferenten, ja stupiden Bevölkerung 
ausgeübt haben, nicht verkannt werden. 

Jede von der Gesundheitskommission ausgeführte Besichtigung stellt einen 
praktisch hygienischen Kurs im kleinen vor, welcher nicht nur den Besichtigten, 
sondern auch den Laienmitgliedern der Kommissionen wertvolle Fingerzeige für 
Sanitätswesen gibt. 

Bedenkt man schliesslich, wie unzählig viel Höfe gereinigt, wieviel Brunnen 
geschlossen und angelegt, wieviel Misstände in Nahrungsmittel Verkaufsstellen durch 
die Kommissionen aufgedeckt und abgestellt sind, so wird niemand sein, der sie 
missen möchte. 

Das eine steht allerdings fest, nicht die Vorsitzenden geben den Kommissionen 
Leben und Bewegungsenergie, sondern die Grösse der fruchtbringenden Tätigkeit 
derselben hängt wenigstens in den mittleren und kleinen Ortschaften ganz von 
dem Interesse des Kreisarztes ab, das derselbe jenen zuwendet. Hat der Kreisarzt 
die Ueberzeugung, dass die Kommissionen nützlich wirken und setzt er seine ganze 
Kraft ein um ein geregeltes und zielbewusstes Arbeiten in den Kommissionen zu¬ 
stande zu bringen, so blühen diese und der Erfolg bleibt nicht aus; ist das Gegen¬ 
teil der Fall, zeigt der Kreisarzt kein Interesse oder nur das durch die Erfüllung 
der äusseren Pflicht bedingte, so verfallen die Kommissionen in langen Sommer- 
undWinterschlaf, sie nützen nichts, ihre Zusammenkünfte werden schlechtbesucht, 
die Langeweile ist Herrin, welche die Mohnkörner auf die Häupter der Sitzenden 
streut, jeder bleibt den Sitzungen fern, wenn er kann, und der Arbeitseffekt ist 
gleich Null. 

Auch im Bezirke Allenstein sind solche Erfahrungen nicht ausgeblieben, 
und es mussten auch verschiedene Kommissionen sehr energisch an ihre Ver¬ 
pflichtung, Sitzungen abzuhalten, erinnert werden. Allmählich ist dann auch das 
Interesse an den Aufgaben der Kommissionen gewachsen und die ursprünglichen 
Klagen mancher Kreisärzto über Nichtzusammentreten der Kommissionen, zu 
späte Benachrichtigung, mangelhaften Eifer sind mehr und mehr verstummt. 

Damit aber der belebende Eindruck des Kreisarztes stärker wie bisher in den 
Kommissionen sich durchsetzt, ist eine Vorschrift erwünscht, dass er zu den Kom¬ 
missionen ausserhalb seines Wohnortes nicht wie jetzt, nur bei wichtigen Fragen, 
in der Kegel mindestens einmal jährlich hinfahrt, sondern mindestens zweimal. 
Den Sitzungen am Wohnort hat er wie bisher regelmässig beizuwohnen. 


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Die Gesundheitskommissionen im Reg.-Bez. Allenstein etc. 183 

Die Zusammensetzung der Kommissionen betreffend, ist es dringend 
wünschenswert, dass überall der Bürgermeister Vorsitzender ist. Wo dies nicht 
der Fall war, haben sich grosse Schwierigkeiten gezeigt, insofern der Mangel an 
Fühlung der Kommission mit der Stadt Vertretung empfindlich sich äusserte. Die 
Protokolle wurden z. B. von den Kommissionen nicht rechtzeitig fertiggestellt, 
ihre Abschriften nicht regelmässig dem Kreisarzt eingereicht usw. 

Betreffs der Zahl und Auswahl der Mitglieder der Kommissionen ist es ge- 
raten, die Zahl nicht zu klein zu bemessen und lieber einige Personen, sofern man 
von ihnen einiges Interesse voraussetzen kann, mehr zu wählen. Es gelingt auch 
oft bei einfachen Handwerkern und dgl., sie für die Fragen der allgemeinen Ge¬ 
sundheitspflege zu interessieren und sie zu brauchbaren Mitgliedern der Gesund¬ 
heitskommission zu machen. In den Städten soll man nie versäumen, einen oder 
einige Aerzte, einen Tierarzt, Apotheker, Bausachverständigen zu wählen. Auoh 
würde es vielfach nützlich sein, einen Lehrer zu gewinnen, vor allen bei den Kom¬ 
missionen der Landgemeinden, wo es überhaupt nicht ganz leicht ist, eine ent¬ 
sprechende Zahl von Mitgliedern zusammen zu bekommen. 

Ferner genügt bei den einzelnen Sitzungen keineswegs nur eine theoretische 
Beratung, eine Besichtigung ist jedesmal anzuschliessen. Diese erhöht das Interesse 
und macht die Einwohnerschaft immer wieder auf das Vorhandensein der Kom¬ 
mission, die kein Dornröschendasein führen darf, aufmerksam. Es empfiehlt sich, 
dass sich der Kreisarzt mit dem Vorsitzenden der Kommission ins Einvernehmen 
setzt, um ein Programm für die Tagesordnungen der Sitzungen und Besichtigungen, 
etwa am Beginn jeden Jahres für das kommende Jahr, aufzustellen. Dadurch 
wird eine gewisse, die Arbeitsfreudigkeit erhöhende Abwechslung in das Arbeits¬ 
programm gebracht, auch Sorge getragen, dass alle in Frage kommenden Gebiete 
an die Reihe kommen. Dies sohliesst natürlich nicht aus, dass akut auftretende 
Fragen jederzeit eingeschoben werden. 

Es ist selbstverständlich, dass über jede Sitzung ein genaues Protokoll ver¬ 
fasst wird und die Protokolle ordnungsmässig aufgehoben werden. Jedenfalls 
sollte der Kreisarzt darauf halten, dass ihm jedosmal eine Abschrift des Protokolls 
(gern. § 12 Abs. 3 der Geschäftsanweisung vom 13. März 1901) zugestellt wird. 

Dass die Kommissionen eventuell auch öfter als 4 mal zusammentreten müssen 
und dürfen, geht aus § 14 ihrer Geschäftsanweisung hervor. Solch öfteres Tagen 
hat sich z. B. bei Epidemien sehr nützlich erwiesen, wofür aus unserem Bezirk 
ein Beispiel aus der kleinen Stadt P. im Kreise Orteisburg vorliegt. Hier war 
wiederholt der Typhus epidemisch verbreitet. Die Gesundheitskommission, nament¬ 
lich durch die beiden Aerzte unterstützt und beraten, beteiligte sich mit grossem 
Eifer und Verständnis, wie sich der eine der Berichterstatter persönlich mehrfach 
überzeugen konnte, an der Bekämpfung der Seuche, indem regelmässig Nach¬ 
forschungen über etwaige Neuerkrankungen angestellt wurden und die Ueber- 
wachung der sämtlichen Vorkehrungsmassregeln in die Hand genommen wurde. 
Grade dieses Mitwirken der Gesundheitskommission trug dazu bei, dass alle Neu¬ 
erkrankungen schnell zur Anzeige und Kenntnis der Behörden kamen, wodurch es 
gelang, verhältnismässig schnell der Seuche Herr zu werden. Auch ist diese 
Tätigkeit der Gesundheitskommission geeignet, in dem Publikum eine gewisse Be¬ 
ruhigung statt der leicht entstehenden nervösen Unruhe eintreten zu lassen. 


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184 


Dr. Solbrig und Dr. Zelle, 


Auch sollten Gelegenheiten, wie sie sich zuweilen durch Entsendung von 
Kommissionen der Königlichen Regierung zwecks Besprechung von grösseren Pro¬ 
jekten, wie Wasserversorgungsanlagen, Kanalisation und dgl. oder zwecks Be¬ 
sichtigung der Gewässer u. a. m. bieten, benutzt werden, um mit den Gesundbeils¬ 
kommissionen Fühlung zu nehmen. In dieser Weise ist im hiesigen Bezirk von jeher 
verfahren. Es wurde bei solchen Gelegenheiten der Eindruck gewonnen, dass die Mit¬ 
glieder der Gesundheitskommission vielfach ein lebhaftes Interesse für die in Frage 
stehenden Gegenstände bekundeten und dadurch manche Dinge mehr gefördert wurden 
zum Besten der allgemeinen Gesundheitspflege als durch langen Schriftwechsel. 

Wünschenswert ist, dass, wie es im Bezirk geschehen ist, in allen Stadt¬ 
gemeinden, seien sie so klein wie sie wollen, und in allen grösseren Landgemeinden 
Kommissionen errichtet werden. 

Ausserdem kann die vorübergehende Errichtung von Gesundheitskommissionen 
in allen, auch kleinen Orten, welche von gefährlichen Epidemien betroffen werden, 
nur dringend empfohlen werden. Im Bezirk sind solche Kommissionen gegen 
Scharlach und Typhus mit bestem Erfolge gebildet worden. 

Mit welchem Interesse und Nutzen eine solche Kommission auf dem Lande 
gelegentlich einer grösseren Typhusepidemie, die an der Grehze der Kreise Allen¬ 
stein und Rössel im Jahre 1908 herrschte, arbeitete, davon konnte sich der Medi¬ 
zinalreferent an der Königlichen Regierung an Ort und Stelle überzeugen. Sofort 
nach Bekanntwerden der Typhuserkrankungen im Dorfe T. — es handelte sich 
bereits um eine grössere Ausbreitung, als die Krankheit bekannt wurde — richtete 
der Kreisarzt eine Gesundheitskommission ein, welche unter dem Vorsitz des sehr 
einsichtigen Gemeindevorstehers und der tatkräftigen Unterstützung eines Lehrers 
und einiger Gemeindeglieder sofort regelmässige Besuche durch die — weit zer¬ 
streute — Gemeinde vomahm, nach Neuerkrankten ausspähte und überhaupt in 
jeder Beziehung dem beamteten Arzt zur Hand ging. Die sich trefflich bewährende 
Einrichtung wurde alsbald auf Veranlassung des Herrn Regierungspräsidenten auf 
die benachbarte, ebenfalls vom Typhus ergriffene ländliche Ortschaft F. im Kreise 
Rössel übertragen und leistete auch hier gute Dienste. Diese Beispiele vom Lande 
zeigen deutlich, dass auch auf den Dörfern Personen sich finden lassen, die für 
die Tätigkeit als Mitglieder einer Gesundheitskommission zu brauchen sind; es 
kommt nur immer darauf an, dass der Kreisarzt die näheren Instruktionen gibt und 
überhaupt die Leute zu interessieren versteht. 

Wird in diesem Sinne überall in den Gesundheitskommissionen Preussens 
gearbeitet, so werdon dieselben allmählich vollwertige Glieder in der Herstellung 
gesunder hygienischer Verhältnisse in unserem Vaterlande darstellen und auch 
wertvolle Mitkämpfer gegen die Tod und Krankheit mit sich führenden Seuchen. 

Damit es möglich ist, einen Ueberblick in den Bezirksinstanzen und in der 
Zentralinstanz darüber zu gewinnen, was in den einzelnen Gesundheitskommissionen 
in jedem Jahr geleistet ist, halten wir es für wünschenswert, dass in dem Jahres¬ 
bericht für die Kreisärzte ein Kapitel: Tätigkeit der Gesundheitskommissionen, mit 
aufgenommen wird 1 ). In der Bezirksinstanz wird man auf Grund dieses Materials 

1) Ist inzwischen geschehen. Im Anhang zu Abschnitt XII soll über „Die 
Zahl der Kommissionen in Orten über und unter 5000 Einwohnern, Umfang und 
Erfolg ihrer Tätigkeit“ berichtet werden. 


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Die Gesundheitskommissionen im Reg.-Bez. Allenstein etc. 185 

zusammenfassende Berichte erstatten können, auch in der Lage sein, hier und da 
auf eine regere Tätigkeit der Kommissionen hinwirken zu können. 

Das hiernach in der Zentralinstanz gesammelte Material für das Gesundheits- 
wesen des preussischen Staates würde ein Bild geben von dem tatsächlich Ge¬ 
leisteten und zugleich durch die Lektüre fördernd und anregend auf diejenigen 
Gesundheitskommissionen wirken, bei denen es bisher noch an Interesse für die 
Arbeit fehlt. 

Es darf hervorgehoben werden, dass in ähnlicher Weise im Regierungsbezirk 
Allenstein bereits vorgegangen wird. Die Kreisärzte erstatten bei ihrem Jahres¬ 
bericht über die Gesundheitskommissionen nach folgendem Schema kurzen Bericht: 


Ortschaft 

Zahl der 
abgehaltenen 
Sitzungen 

Teilnahme 
des Kreis¬ 
arztes 
wie oft? 

Tätigkeit der ' 

Beratungs- 

gegenstand 

Kommissionen 

Be¬ 

sichtigungen 

Bemerkungen 








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4. 


Sammelreferate. 


Stand der Ruhrforschung 
in ätiologischer und prophylaktischer Hinsicht. 

Sammelreferat über die letzten 2—3 Jahre. 

Von 

Stabsarzt Dr. Merrem, Königsberg i. Pr. 

Die Arbeiten auf dem Gebiete der Ruhrforschung in den letzten Jahren sind 
schwer aus dem Zusammenhänge der Gesamtliteratur, die seit der Entdeckung der 
Ruhrerreger erschienen ist, zu lösen. Soll nicht weiter zurückgegriffen werden, als 
dem Zweck dieser Aufgabe entspricht, so muss hinsichtlich der vor 1907 erschienenen 
Literatur auf die in den Lehrbüchern enthaltenen Zusammenstellungen (1) ver¬ 
wiesen werden, und die folgende kurze Uebersicht hält sich daher nur im Rahmen 
einer Ergänzung. 

Werfen wir zunächst einen Rückblick auf die über die bazilläre Ruhr etwa 
in den letzten 3 Jahren erschienene Literatur, so finden wir in der ausführlichen 
Arbeit von Kruse, Rittershaus, Kemp und Metz (2) insofern einen gewissen 
Ausgangspunkt, als hier auf Grund zahlreicher Versuche und Beobachtungen eine 
Klassifikation der Ruhrerreger gegeben wird, von welcher abzuweichen auch jetzt 
noch kein wesentlicher Grund vorliegen dürfte. Im Stadium der Klärung eines 
wissenschaftlichen Streitobjekts pflegt in der Regel ein Streit um Worte nicht in 
letzter Linie eine Rolle zu spielen, und so ist es auch in der Ruhrfrage. Für den 
weniger Eingeweihten kann das Verständnis dadurch erschwert werden. Mögen 
nun sprachliche oder auch sachliche Gründe gegen die von Kruse gegebene Ein¬ 
teilung geltend gemacht werden, praktisch empfiehlt sich jedenfalls, bis auf weiteres 
die Kruse sehe Nomenklatur beizubehalten, wonach echte Dysenterie, hervorgerufen 
durch den Bazillus Shiga-Kruse, zu trennen ist von Pseudodysenterie, die durch 
eine Reihe sich ähnlich verhaltender morphologisch und phylogenetisch zusammen¬ 
gehöriger Bazillenarten verursacht wird, sich aber sowohl klinisch als auch durch 
gewisse Eigenheiten der Bakterien von der echten bazillären Dysenterie scharf 
unterscheiden lässt. Als Paradysenterie wäre dagegen nur eine bestimmte Form 
der Ruhrerkrankung zu bezeichnen, die durch einen, in seinem Verhalten von dem 
echten Dysenteriebazillus wie auch von den Bazillen der Pseudodysenteriegruppe 
wesentlich verschiedenen Bazillus, den von Deycke und Reschad als Erreger der 
Dysenterie-Epidemie in Konstantinopel 1904 beschriebenen, hervorgerufen wird. 


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Sammelreferate. 


187 


Noch neuerdings wird freilich von Lentz (1) darauf hingewiesen, dass die 
von Weichselbaum an eine echte Dysenterie vom pathologisch-anatomischen 
Standpunkte aus gestellten Anforderungen sich auch in Krankheitsbildem erfüllt 
zeigen, die durch Bakterien der Pseudodysenteriegruppe bezw. durch Paradysenterie 
verursacht werden. Obwohl nun der hieran anknüpfende Vorschlag, nur von Dys¬ 
enterie Typus Shiga-Kruse, Typus Strong, Typus Flexner usw. zu sprechen, 
einfach und praktisch erscheint, so verführt diese Klassifikation doch leicht zu der 
Vorstellung, als handle es sich um Varietäten ein und derselben Bakterienart, 
während doch zwischen der „echten* Dysenterie Kruses und den übrigen Formen 
der Ruhrerreger nicht nur bakteriologisch-kulturelle und serodiagnostische, sondern 
auch wesentliche klinische Unterschiede bestehen. Wie sehr dieser entschiedene 
Gegensatz hervorzuheben ist, lässt bereits die von amerikanischen Autoren gewählte 
Unterscheidung in acid strains und non acid strains erkennen, und Lentz (1. c.) 
selbst spricht von „giftigen* und „giftarmen* Dysenteriebazillen. 

Die ätiologische Bedeutung der Dysenteriebazillen als der alleinigen Erreger 
der nicht durch Amöben hervorgerufenen Ruhr wird neuerdings mehrfach an- 
gezweifelt. 

Nakao Abe (3) fand in 42 ruhrartig verlaufenen Fällen eine dem Bacterium 
coli äusserst nahestehende Bakterienart und meint daher, dass „Dysenterie* nur 
als symptomatischer, nicht als ätiologischer Begriff zu fassen sei. Auch Akahoshi 
fand nur 12 mal von 21 Fällen Dysenteriebazillen und zwar 4 Typen, und Kuhn 
nnd W T oithe(5) fanden bei einem Kranken 3 Bakterienarten (den Flexnerschen 
Bazillus, Bacterium coli und einen grampositiven Kokkus), die sämtlich von Ruhr¬ 
serum agglutiniert wurden. Zur ähnlicher Ansicht, wie Nakao Abe gelangten 
auch Böse (6), Lösener (7), Booth (8) und Bowmann (9). Galli Valerio (10) 
findet hierin eine Unterstützung der von ihm verteidigten Ansicht, die er neuer¬ 
dings folgendermassen formuliert: Es existiere eine Gruppe von Bakterien, zwischen 
B. coli und B. typhi stehend, die imstande sei, beim Menschen die Symptome der 
bakteriellen Dysenterie hervorzurufen. Er dürfte indessen zu weit gehen mit der 
Behauptung: il est absoiument impossible de diffdrencier cliniquement: dysenterie, 
pseudodysenterie et paradysenterie. 

Morphologisch zeigen nach Kruse, Rittershaus, Kemp und Metz (I. c.) 
die Dysenterie- und Pseudodysenterie-Bazillen keine Unterschiede. Die Bakterien 
erscheinen im hängenden Tropfen als 1,0 bis 1,5 ß breite 1,5 bis 2,5 ß lange 
Einzelstäbchen, die in Agar- und Kartoffelkulturen durchweg kleiner sind, in alten, 
bei niederer Temperatur gewachsenen Kulturen auch lange Bazillenketten und 
Scheinfäden bilden und auch im bakteriziden Serum, soweit sie überleben, zu viel¬ 
fach verschlungenen zierlichen Ketten auswachsen. Auch Involutionsformen und An¬ 
deutungen von Verzweigungen kommen vor. In spärlich gewachsenen Kartoffel¬ 
kulturen zeigen sich Polkörner, bei nicht zu kräftiger Färbung auch häufig helle 
Lücken im Bakterienleibe. Die Bazillen sind sämtlich gram-negativ, unbeweglich 
und ohne Geissein. Eine — von anderen Forschern (11) beobachtete — „ganz 
besonders lebhafte* Molekularbeweguug können die Verfasser nicht zugeben. 

Niich Hata (12) traten auf Chorkalziumagar Degenerationserscheinungen auf, 
je stärker der Chlorkalziumgehalt des Nährbodens war, desto ausgesprochener. 
7 von ihm untersuchte Stämme wuchsen zu grossen, schönen Spindelformen um, 
ohne ihre Färbbarkeit einzubüssen. Bei Salzgehalt von 5 pCt. war die Degeneration 


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188 


Sammelreferate. 


so weit fortgeschritten, dass der einzelne Bazillus in Trümmer zerfiel. Auf Koch¬ 
salzagar trat Fadenbildung mit Verzweigung, keine auffallende Spindelform auf. 

Almquist (13) sah bei Kulturen, die einige Tage oder Wochen bei 10° C. 
gehalten waren, Bildung längerer Fäden, an denen sich Kugeln bildeten, die er 
als Fruktifikationsvorgang auffasst, wonach die Kugeln als Konidien anzusehen 
wären. 

Als kulturelle Eigenschaften der Ruhrerreger führen Kruse, Rittershaus, 
Kemp und Metz folgende an: das Verhalten auf den gewöhnlichen Nährböden 
ähnelt dem der Typhusbazillen inbezug auf Wachstum und Ueppigkeit. Die echten 
Dysenterie-Bazillen bilden kleine zarte Kolonien, die Pseudodysenterie-Bazillen ge¬ 
deihen üppiger. Erstere färben den Nährboden leicht bräunlich, letztere nicht. 
Die Kartoffclkulturen beider geben bei saurer Reaktion des Nährbodens ein typhus¬ 
ähnliches Bild, bei weniger saurer oder alkalischer Reaktion zeigt sich, dem Impf- 
strich entsprechend, ein ziemlich schmaler, gelblicher Rasen, von einem heller ge¬ 
färbten Streifen umgeben. Der Geruch nach Sperma ist bei den Dysenteriekulturen 
deutlicher. Dysenterie- wie Pseudodysenteriebazillen vergären Traubenzucker, ohne 
dabei nachweisbare Mengen (ins im Gärröhrchen oder in Agar- Schüttei- und Stich¬ 
kultur zu bilden. Bei geringerem Traubenzuckergehalt zeigten sich Unterschiede 
im Verhalten einzelner Stämme bezüglich der Reaktion. An „ungezählten Dysen¬ 
terie- und vielen Dutzend Pseudodysenteriestämmen 4 * haben die Verfasser die 
Lentzsehe Unterscheidung der Mannit-Vergärung geprüft und durchweg bestätigte 
sich, dass sämtliche Pseudodysenteriestämme, nicht aber die echten Dyscntcrie- 
bazillen Mannit unter Säurebildung vergären. Die Prüfung in Milch- und Milch¬ 
zucker-Nährböden ergab erst nach einer Bcobachtungsdauer von 1 bis 2 Wochen 
Unterschiede, indem die echten Dysenterie- und die meisten Pseudodysenterie¬ 
kulturen neutral oder in der Nähe des Neutralpunktes blieben und das Aussehn 
der Milch nicht veränderten. Nur die Stämme der „Rasse E“ zeigten nach langer 
Zeit starke Säuerung bis zur Gerinnung und reduzierten Lackmus sehr stark, bis 
zur Farblosigkeit. Durch fortgesetzte Züchtung in Milch die Säurebildung zu steigern, 
gelang nicht; ob sich die „Milchzuckervarietät“ unter Umständen entwickeln kann, 
lassen die Verfasser dahin gestellt, da sie in zwei Fällen Grund zu dieser An¬ 
nahme hatten. Die von Hiss zur Unterscheidung angegebene Maltoscprobe er¬ 
wies sich als unbeständig, ebenso die Rohrzuckergärung. Dextrin und andere 
Zuckerarten blieben unverändert, wenn auch das Wachstum üppig war. Der 
positive Ausfall der Indolprobe spricht gegen echte Dysenterie, ohne dass die 
Pscudodyscntcriebazillen durchweg sich entgegengesetzt verhalten. Reduktions¬ 
vermögen besassen alle Kulturen. 

Die Identität des Wachstums sämtlicher Ruhrerreger auf gewöhnlichen Nähr¬ 
böden wird von Shiga (14) bestätigt, indem er betont, dass nur bei Züchtung 
in Mannit und verschiedenen Kohlehydraten Abweichungen Vorkommen. 

Shiga unterscheidet 5 Typen der Dysenteriebazillen, je nach ihrem Ver¬ 
halten auf den einzelnen Zuckernährböden. Sein Typus I entspricht der echten 
Dysenterie Kruses. Typus II vergärt ausserdem nur noch Mannit. Ob der 
Bazillus Y hierunter gehört, ist nach dem Ergebnis einer früheren Arbeit von Hiss 
und letzthin auch nach den Untersuchungen von Lentz(15) und von Baermann 
und Schüffncr (16) fraglich, da diese Autoren bei solchen Stämmen Rotviolett¬ 
färbung des Laekmus-Sacharosc-Agars sahen. Shigas Typus III vergärt ausser 


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Sammelreferate. 


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Dextrose und Mannit noch Sacharose, Typus IV ausserdem noch Maltose und 
Dextrin, Typus V desgleichen, verhält sich aber dem Mannit gegenüber schwankend, 

Lentz (1), der das Verhalten zu den verschiedenen Kohlehydraten als sehr 
geeignetes Differenzierungsmittel bezeichnet und empfiehlt, macht darauf aufmerk¬ 
sam, dass bei Verwendung flüssiger Differentialnährböden die Menge des Kohle¬ 
hydrats zweckentsprechend gewählt, die Beobachtungszeit richtig bemessen werden 
muss. Unter anderm beweise dies das von Shiga beobachtete Schwanken des 
Typus V gegenüber Mannit. Lentz unterscheidet nur 4 Typen, deren erster dem 
Typus I Shigas, der zweite (Y) dem Typus II, der vierte (Strong) dem Typus III,. 
der dritte (Flexner) jedoch keinem der Typen Shigas entsprechen dürfte; denn 
unter letzteren findet sich nicht ein solcher, der Maltose vergärt, ohne zugleich 
auch Saccharose zu vergären. Wenn Lentz also sagt, Shiga habe seinen fünften 
Typ vom Flexner-Typ abgetrennt, so dürfte dies aus dem erwähnten Grunde 
nicht zutreffen. 

Die Avidität des zu untersuchenden Bakteriums gegenüber den beiden 
Komponenten des Nährbodens kann nach Lentz sich ändern und dadurch eine 
Störung im Ablaufe der Reaktionen in Kohlehydrat-Lackmus-Nährböden verursachen. 
So sah Lentz einen Flexner-Stamm die Fähigkeit, Maltose zu vergären, ver¬ 
lieren. 

Obwohl Kruse, Ritttershaus, Kemp und Metz die Beständigkeit der 
Art- und Rassenmerkmale betonen, so hat Kruse (17) doch selbst eine „sprung¬ 
weise Abänderung“ (Mutation) bei einem Stamm Strong beobachtet, der erst 
Disaccharide unverändert licss, sie später aber angriff. Lentz verteidigt zwar die 
differentialdiagnostische Zuverlässigkeit der Kohlehydrat-Lackmus-Nährböden, indem 
er die erwähnten Abweichungen auf Alterserscheinung lange Zeit fortgezüchteter 
Stämme zurückführt, zitiert aber gleichzeitig die Arbeit von Müller (8), der echte 
Mutation an einem Flexner-Bazillus beobachtet zu haben glaubt. 

Im Gegensatz zu allen anderen Autoren hat Amako (11) bei einem Stamm 
Typus I Shiga = echte Dysenterie Kruse schwache Indolbildung bemerkt. Er 
wies ferner in einer Familienepidemie verschiedene Typen der Dysenteriebazillen 
nach und glaubt sich darnach zu der Annahme berechtigt, dass die verschiedenen 
Typen untereinander in inniger Beziehung stehen, wobei er dahingestellt lässt, ob 
Varietätenbildung oder Mutation vorliegt. Auch Shiga (14) sah Mutation in 
seinem Typus V, der erst Mannit-, später Eiweissspaltung hervorrief. Die Halt¬ 
losigkeit der Einteilung in Acid- und Nonacidformen sei dadurch erwiesen, dass 
ein Stamm in Mannit-Lackmus-Peptonwasser erst saure, nachher alkalische Reaktion 
gab. Aus dem Vorkommen noch weiterer Varietätenbildung leitet er den Schluss 
ab, dass Kruses Unterscheidung in echte und Pseudodysenterio nicht aufrecht 
erhalten werden könne. Seine eigenen 5 Typen hält er dennoch für ziemlich 
konstant. Eingehender Nachprüfung bedürfen wohl die Versuche Mühl man ns (19), 
der dem Dysenteriebazillus Beweglichkeit angewöhnt zu haben behauptet, so dass 
er sich dem Typhusbazillus näherte. 

Kruse, Rittershaus, Kemp und Metz (1. c.) legten ihrer Einteilung der 
Ruhrbazillentypen serodiagnostische Unterschiede zugrunde. Zwar ergeben sich 
hierbei Schwierigkeiten durch das Auftreten der Nebenagglutinine, doch lassen sie 
sich nach Ansicht der Verf. durch den Gas tellanischen Versuch, die Absättigungs¬ 
probe, vermeiden. Ein zu einer bestimmten Rasse gehöriger Stamm soll nicht nur 


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Sammelreferate. 


in dem zugehörigen Immunserum der Höhe seiner Agglutinationskraft entsprechend 
agglutiniert werden, sondern auch seine Haupt- und Nebcnagglutininen völlig ab¬ 
sättigen können, der Mangel dieser Eigenschaft aber den Stamm aus der be¬ 
treffenden Rasse ausschliessen. Das Absättigungsvermögen, welches seinem Grade 
nach verschieden sein kann, soll wechselseitig geprüft werden. Aus dieser Art der 
Differenzierung ergab sich die von dem Verf. gegebene Einteilung in echte Dysenterie 
und Pseudodysenterie A, B, C, D, E, F, G usw. 

Lentz (1. c.), der für sich und Martini die Priorität dieser Differenzierung 
in Anspruch nimmt, hält die Resultate des Castelianischen Versuches für zu 
unsicher, die Unterschiede, die in der Erschöpfung eines Serums an bestimmten 
Agglutininen hervortreten, für nicht genügend zur Ableitung differenzialdiagnostischer 
Schlüsse. 

Händel (20) wünscht vor allem auch die Komplementablenkungsmethode 
und die bakteriotrope Immunserumwirkung als Differenzierungsmittel in den Vorder¬ 
grund gestellt. Von Amako und Kojima (21) wird hervorgehoben, dass bei 
diesen Verfahren starke Gruppenreaktion hervortrete, und empfohlen, zur Ge¬ 
winnung der Immunsera nur eine Bazilleninjektion vorzunehmen, mehrfache Ein¬ 
spritzungen aber zu vermeiden, weil nach letzteren die Gruppenreaktion stärker werde. 

Löscner (1. c.), der der Kruseschen Einteilung zu folgen bemüht ist, stiess 
bei dem Versuch der Einreihung des von ihm bei der in Ostpreussen heimischen 
Ruhr gefundenen Erregers in die Krus eschen Pseudodysenteriestämme auf die 
Schwierigkeit, dass der Castellanische Versuch mit den ihm zur Verfügung 
stehenden Kulturen (Shiga-Kruse, A, Flexner-Manila [B], D [Y?]) und den 
entsprechenden Seris resultatlos blieb. Aehnliches erlebte Lentz (l.c.) und auch 
Konrich (22), der allerdings nur mit Kruse-Shiga und Flexner-Bazillen prüfte. 

Ob aber deswegen, wie Lentz meint, die Kruse sehe Einteilung zu einer Un¬ 
menge von Untergruppen führen muss, wird einstweilen dahingestellt bleiben 
müssen. 

Ueber die Empfindlichkeit von Tieren gegen die subkutane, intraperitoneale 
und intravenöse Injektion lebender oder abgetöteter Ruhrbazillen bestehen keine 
Zweifel. Nach Injektion grosser Dosen lebender Bazillen gehen die Tiere unter 
Lähmungserscheinungen und Durchfällen zugrunde, und aus dem Dünndarminhalt 
dem Blut und den inneren Organen lassen sich Ruhrbazillen züchten. Anatomisch 
findet sich neben Hyperämie der Lungen und Nieren Schwellung der Darmschleim- 
haut, auch der Pey ersehen Plaques. Bei kleinerer Infektionsdosis gelingt indessen 
der Nachweis der Bazillen im Darminhalt nicht (Lentz 1. c.). 

Lentz spricht sich auch für die Annahme aus, dass Tiere mit Ausnahme 
von Affen gegen die natürliche Infektion mit Ruhrbazillen refraktär sind, weil in 
den Fällen, wo eine Infektion per os gelungen zu sein schien (Shiga [23]), die 
typischen pathologisch-anatomischen Darmveränderungen gefehlt hätten. Lentz 
sowohl wie Schottelius (24) fanden auch im Dünndarm und Magen von Ka¬ 
ninchen Nekrosen. Da aber in diesen Geschwüren Ruhrbazillen nicht nachgewiesen 
wurden, möchte Lentz diese Geschwürsbildungcn als Toxinwirkung ansehen. 

Auch nach Dörr (25) haben die Gifte der Ruhrbazillen vom Darmkanal aus 
{ob per os oder nach Laparotomie direkt beigebracht) keine Wirkung. Bei der 
durch Injektion hervorgerufenen Kaninchendysenterie käme eine Darmerkrankung 
nur in einem Teil der Fälle vor. Sie bestände in einer hämorrhagisch nekroti- 


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Sammelreferate. 


191 


gierenden Enteritis, die fast ausnahmslos im Blinddarm lokalisiert sei. Auch die 
bereits früher von Dopter beschriebenen Veränderungen des Zentralnervensystems 
(Poliomyelitis anterior acuta und Polioencephalitis) stellen nach Dörr dieselben 
Veränderungen dar, wie sie bei der menschlichen Dysenterie zuweilen beobachtet 
werden. Das Ausbleiben der Darmerkrankung in so vielen Fällen erkläre sich aus 
der Höhe der Dosis. Die Läsion lebenswichtiger Nervenzentren trete bei zu hohen 
Dosen zu früh ein, als dass die Darmerkrankung noch zur Entwicklung gelangen 
könnte. 

Ein wissenschaftlich immer noch umstrittenes, weil wohl noch nicht hin¬ 
reichend aufgeklärtes Gebiet ist die Toxinlehre der bazillären Dysenterie. 

Nach Dörr(l. c.) ist die Shiga-Kruse-Dysenterie des Menschen eine echte 
Toxämie, die Flexner -Dysenterie dagegen, entsprechend ihrem klinisch leichteren 
Verlauf und dem Mangel löslicher Gifte bei den Flexn er-Bazillen, eine mehr 
lokale Infektion der Dickdarmschleimhaut. Während Dörr nun den toxämischen 
Charakter der echten Dysenterie weiterhin darauf stützt, dass sich bei Sektionen 
an dieser Form der Ruhr Verstorbener Bakterien „nur auf, respektive in der Dick - 
darmschleimhaut, selten in den mesenterialen Lymphknoten (postmortale Ein¬ 
wanderung?), nie aber im Blute und den inneren Organen“ fänden, „die Bakterien 
auch an Zahl am primären Ansiedlungsorte nur gering“ wären, sieht Pfeiffer (26) 
gerade in dem Umstande des Eindringens in die Darraschleimhaut und bis in die 
Mesenterialdrüsen den Beweis, dass die Ruhrbazillen eine „echte Infektion“ her¬ 
vorriefen. Die Mitwirkung eines gelösten Toxins erscheine danach nicht notwendig, 
weil die Ruhrbazillen im Gewebe mit den bakteriziden Wirkungen des Organismus 
zusammenlaufen, ihre endotoxischen Stoffe also hier wirken könnten. Pfeiffer hält 
danach die Anschauung, dass den gelösten Toxinen die wesentlichste Bedeutung 
für die Krankheitserregung zukäme, für mindestens einseitig. 

Auch di Donna (27) hält die Annahme eines Sekretionstoxins für nicht ge¬ 
nügend begründet, und auch Klein (28) behauptet, dass — zum Unterschiede von 
Typhus und Cholera — der aus den ausgelaugten Bakterienleibern gewonnene 
Giftstoff ein Endotoxin sei und dieses die Eigenschaft besitze, wie ein echtes Toxin 
(Diphtherie, Tetanus) zu wirken bzw. bei der Erzeugung antitoxischen Serums eine 
wichtige Rolle zu spielen. 

Die übrigen Autoren, die neuerdings zu dieser Frage Stellung nahmen, ver¬ 
treten, ebenso wie Dörr, den Standpunkt, dass bei den Ruhrbazillen zwei ver¬ 
schiedene Gifte in Frage kommen, ein lösliches sezernierbares, welches von dem 
antitoxischen Serum neutralisiert wird, und ein nicht in gleichem Masse neutra¬ 
lisierbares Endotoxin (29,30). Letzteres wird von Kolle als „die Summe der ver¬ 
schiedensten, den Bakterienleib zusammensetzenden giftigen Protoplasmasubstanzen“ 
bezeichnet. Aber da auch das Toxin in den Bakterienzellen gebildet und von 
ihnen abgesondert wird, enthielten diese auch in ihrem Innern eine gewisse Menge 
löslichen Toxins. 

Nach Kolle, Heller und deMestral (31) gliedert sich die Wirkung der 
Ruhrbazillen in 

1. die der Endotoxine, erhalten aus giftigen, abgetöteten (gewaschenen oder 
auch nicht gewaschenen) Bakterienleibern; 

2. die des bei diesem Verfahren gewonnenen „Waschwassers“; 

3. die der mittels destillierten Wassers zu gewinnenden Extrakte. 


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Sammelreferate, 


Als ausschlaggebend für die Wirkung bezeichnet auch Heller (32) die Gift¬ 
stoffe allein, weil es auf experimentellem Wege nicht gelingt, vom Darm aus eine 
Infektion zu erzeugen, weil ferner nach Injektion der Bazillen, ohne dass eine all¬ 
gemeine Vermehrung der letzteren eintritt, tödliche Vergiftungserscheinungen auf- 
treten. Dass aber andererseits die Giftstoffe auch wiederum von den Bakterien 
nicht zu trennen seien, ergebe sich daraus, dass auch abgetötete Bazillen, ob sie 
nun unverändert oder zweimal gewaschen seien, echte Dysenterievergiftung zu 
erzeugen imstande sind. 

Nach Kraus (33) werden auch die endozellulären Gifte durch Serum, das 
aus Bouillonkulturfiltraten gewonnen, neutralisiert. Uebrigens schreiben auch 
Kolle, Heller und de Mestral dem Endotoxin die Eigenschaft zu, zwar nicht nach 
dem Gesetz der Multipla, aber doch durch sehr hohe Dosen antitoxischen Serums 
neutralisierbar zu sein. Darin besteht nach ihnen gerade ein Unterschied des 
Ruhrendotoxins von anderen Endotoxinen (Typhus, Cholera), dass man mit ihm 
antitoxische Sera gewinnen könne, die auch das lösliche Antitoxin zu neutralisieren 
vermögen. Im Zusammenhänge hiermit sei die Feststellung von Kraus und 
Dörr (34) erwähnt, dass Anaphylaxie bei mit Bazillen vorbehandelten Meer¬ 
schweinchen nur nach Injektion von Ruhrbazillen und von Dysenterieextrakten 
auftrat, die Tiere indessen die Injektion von Ruhrtoxin überstanden. 

Kruse (17) hält wohl mit Recht die Unterscheidung zwischen sekretorischen, 
hitzeempfindlichen Toxinen und Endotoxinen für eine künstliche, zumal er beob¬ 
achten konnte, dass das Endotoxin ohne entsprechendes Absterben der Bazillen in 
der Bauchhöhle der gegen dieses Gift gerade besonders empfindlichen Meerschwein¬ 
chen in grossen Mengen frei wird. 

Für die Darstellung des Toxins, die nach Lentz (1) bisher mit Sicherheit 
nur bei dem Shiga-Kruse-Bazillus gelang, sind die richtige Auswahl der Dysenterie¬ 
stämme, die Bedingungen der Giftproduktion (Beschaffenheit der Nährböden und 
Dauer der Bebrütung) und endlich die Wahl des Versuchstieres von Bedeutung. 

Auf ersteren Punkt hatten früher schon Kraus und Dörr hingewiesen, und 
Dörr (1. c.) hebt auch neuerdings wieder hervor, wie verschiedene Giftlösungen 
sich aus verschiedenen Stämmen, besonders aber solchen aus verschiedenen 
Epidemien gewinnen lassen. 

Nach Kolle, Heller und de Mestral (31) erreicht die Giftbildung ihren 
Höhepunkt mit dem 15. bis 20. Tage der Bebrütung, und sie ist besonders intensiv, 
wenn das Wachstum in Form einer Kahmhaut stattfindet. Alkalische Reaktion ist 
der Giftbildung am günstigsten. Das Alkaleszenzoptimum erhält man nach Dörr(l.c.) 
durch Zufügen von 0,3 proz. kristallisierter Soda zur lackmusneutralen Bouillon. 

Die Auswahl des zur Prüfung behufs W^ertbestimmung des Immunserums 
geeignetsten Versuchstiers führte zu einer Kontroverse zwischen Kolle, Heller 
und de Mestral (35) einerseits und Kraus und Dörr (36) andererseits. Erstere 
halten für das geeignetste Versuchstier die weisse Maus, die nach letzteren jedoch 
100 —200 mal weniger empfindlich als das Kaninchen sein soll. Inkonstanz des 
Verhaltens bei der Giftbestimmung findet sich nach letzteren bei den weissen 
Mäusen, nach ersteren gerade bei den Kaninchen. 

Wie früher schon Shiga, so tritt auch Dopt er (37) ebenfalls für die Ver¬ 
wendung der weissen Maus ein, auch Amako (11) empfiehlt für den Tierversuch 
mit Immunserum Mäuse, weil diese leicht in grosser Zahl zu haben und bei gleichem 


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Sammelreferate. 


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Körpergewicht auch gleiche Empfindlichkeit zeigten, während Schottelius (1. c.) 
andererseits das Kaninchen bevorzugt. Nach Pfeiffer (1. c.) beruhen die gegen¬ 
teiligen Versuehsergebnisse möglicherweise auf Rasseeigentümlichkeiten der benutzten 
Rnhrstämme. 

Kruse (38) wies neuerdings noch besonders darauf hin, dass sich gerade das 
„Meerschweinchengift“ viel besser als das „Kaninchengift“ dazu eigne, zur Er¬ 
klärung des so wenig charakteristischen Yergiftungsbildes der menschlichen Ruhr 
beizutragen, zumal es auch von den Pseudodysenteriebazillen gebildet wird, gegen 
welche im allgemeinen Tiere weniger empfindlich sind, obwohl Hilgermann (39) 
allerdings schon mit Vioo Oese einer Y-Kultur eine weisse Maus in 24 Stunden 
töten konnte. 

Di Donna (1. c.) zieht aus seinen Untersuchungen u. a. den Schluss, dass 
die Passage der Shiga-K ruse- und auch der Fl ex n er-Bazillen durch Meer¬ 
schweinchen eher eine Verminderung als eine Steigerung der Virulenz verursache. 

Neben den bisherigen Arten der Toxingewinnung, der keimfreien Filtration 
von Bouillonkulturen und der keimfreien Filtration einer Kochsalzaufschwemnmug 
von Agarkulturen hat di Donna (1- c.) zu Immunisierungszwecken eine Methode 
angegeben, nach der das Toxin mit Natronlauge extrahiert, das Filtrat mit Essig¬ 
säure versetzt und der gewonnene Niederschlag durch Trocknen in Pulverform 
dargcstcllt wird. Dieser von ihm als Nukleoproteid bezeiehnete Körper soll immu¬ 
nisierende Eigenschaften für die Kaninchen besitzen und im Gegensatz zu der 
„nukleären Substanz“ (Filterrückstand) keine Gcwcbsnekrosen verursachen. 

Das Dysenterietoxin ist gegen hohe Temperaturen, gegen tryptisehe Ver¬ 
dauung sehr resistent. Durch Mineralsäuren wird eine ungiftige, durch danach 
folgende Bindung der Säure durch eine Base wieder zurückzuverwandelnde Modi¬ 
fikation hervorgerufen [Dörr (25)]. 

Zur Immunisierung wendet Kruse (17) noch jetzt seine von ihm schon früher 
angegebene Methode mittels abgetöteter Bazillen an. Lentz (1) betont die bei 
dieser Methode verhältnismässig grossen Tierverluste. Um den Uebelstand, dass 
kleine Tiere bei zu grossen Dosen leicht zugrunde gehen, zu vermeiden, empfahl 
Doptcr (40) Injektion von Bakterien, die nach der von Besredka angegebenen 
Methode der Sensibilisierung (durch hoehagglutinierendcs Ruhrscrum) vorbehandelt 
sind. Das durch die Methode gewonnene Vaccin soll weniger toxisch sein als die 
Bakterien allein, nachdem bis dahin Anaphylaxie bestanden. Er ebenso wie 
Chvostek (41) haben bezüglich des Grades und der Schnelligkeit der Immunisierung 
nach ihren Angaben beachtenswerte Erfolge erzielt. 

Di Donna (1. c.) suchte durch Vorbehandlung mit seinem „Nukleoproteid“ 
sich vor Tierverlust zu sichern, Ruffer und Willmore (42) suchten gleiches 
durch Vorbehandlung der Bazillen mit Pepsin und Salzsäure zu erreichen. 

Shiga (43), der ein universales Dysenterieserum durch Injektion von Pferden 
mit den verschiedenen Bazillentypen hcrstclltc, empfiehlt Mäuse als Versuchstiere. 
Bemerkenswert sind seine Immunisierungsversuche an Kaninchen per os, die zum 
Teil als gelungen betrachtet werden können (23). Auch Hida und Toyoda (44) 
versuchten die Immunisierung per os durch Bazillen, die in Pepsin- und Trypsin¬ 
lösungen verdaut, dann filtriert (Chamberland-Filter) und in Kapseln verabreicht 
wurden. Nach 8 bis 14 Tagen zeigte das Serum deutliche agglutinierende und 
Vierteljalirsschrift f. ger. Med. u. Öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 1. 


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Sammelreferate. 


bakteriolytische Wirkung. Die Immunisierung per os gelang indessen nicht, wenn 
die Bakterien bei 60° C. abgetötet waren. 

Die Bedeutung der exakten Differenzierung der Bazillen für die Serumgewinnung 
geht aus Shigas Arbeit über die polyvalenten Sera hervor (43). 

Dörr (45) liess in letzter Zeit bei der Immunisierung von Pferden am Tage 
vor der Toxineinspritzung 50 bis 100 ccm antitoxischen Serums subkutan injizieren. 
Der Nutzen dieser Massregel soll darin liegen, dass die Dosis des Toxins von vorn¬ 
herein höher bemessen werden kann. Dass das Immunserum nicht therapeutisch, 
sondern nur prophylaktisch praktische Verwendung finden kann, weil es das Toxin 
im erkrankten Körper nicht vollständig zu neutralisieren imstande ist, hebt 
Yoshida (4Ö) hervor. 

Wenden wir uns nun zu den neueren Veröffentlichungen über die Epidemio¬ 
logie, Uebertragung und Prophylaxe der bazillären Ruhr. 

Shiga (47) behauptet nach den Erfahrungen, die er bei den Epidemien in 
Japan gemacht hat, dass nach jeder Epidemie allgemeine Immunität gegen die 
Seuche eine Zeitlang existiere. Der Zeitraum soll etwa 10 bis 20 Jahre umfassen. 
Nur durch die modernen präventiven Massregeln könnten diesen periodischen 
Epidemien Schranken gesetzt werden. 

Bei der Uebertragung der Ruhr spielt in erster Linie die Berührung mit 
Kranken oder mit Bazillenträgern bzw. Gegenständen, die mit solchen in Berührung 
kamen, nach Galli-Valerio (10) eine Rolle. Familienepidemien sind etwas ganz 
Geläufiges (Shiga, Galli-Valerio). 

Wo, wie namentlich in Irrenanstalten, die Prophylaxe auf Schwierigkeiten 
stösst, wird stetiges Wiederauftreten der Krankheit beobachtet. Nach Hacnisch (48) 
sind es hier namentlich auch die äusseren Verhältnisse der Anstalt und ihres 
Krankenmaterials, welche die Ansteckung von Person zu Person immer von neuem 
vermitteln, während die Ruhr der Irren sonst nichts Spezifisches an sich habe, da 
sowohl Shiga-Kruse- wie Pseudodysenteriebazillen als Erreger in Frage kämen. 

Die Bedeutung der Bazillenträger bzw. Dauerausscheider für die Verbreitung 
der Ruhr ist eine wichtige Frage. Wie lange diese die Infektionskeime beherbergen 
können, beobachtete u. a. Küster (49) an einem Laboratoriumsdiener, der den 
Hererofeldzug mitgemacht hatte und wegen noch zeitweise auftretender, verdächtiger 
Stuhlentleerungen beobachtet wurde. Therapeutisch war kein Dauererfolg zu er¬ 
zielen. Mehrere Jahre hindurch waren bei ihm bereits die Bazillen vorhanden. 
Sie fanden sich allerdings erst bei der 5. Untersuchung. Diese längere Zeit 
dauernde Neigung zu Durchfällen, über die auch frühere Beobachter schon be¬ 
richten konnten, beschrieb neuerdings auch Bofinger (50) bei den in Siidwest- 
afrika erkrankten Soldaten. 

Nach Kruse (51) sind 4 Verlaufsarten der Ruhr zu unterscheiden: 1. Die akute, 
2. die chronische, 3. die rezidivierende, 4. die weder akut noch chronisch, noch 
rezidivierend verlaufende Form, bei der nur Schleimbcimengungcn des nicht oder 
wenigstens nicht immer normalen Stuhles das Vorhandensein der Erkrankung 
bestätigen. Die Bazillen, sowohl der Dysenterie, wie der Pseudodysenterie, sind am 
zahlreichsten und fast in Reinkultur in den ersten Krankheitstagen im Stuhl enthalten. 
Dass sie später an Zahl abnehmen oder wenigstens durch fremde Bakterien sehr 
in den Hintergrund gedrängt werden, erklärt Kruse daraus, dass „mit der Ab¬ 
nahme der Krankheitserscheinungen die gewöhnlichen Kotbakterien, oder mit einer 


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Sammelreferate. 


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Verschlechterung des Allgemeinzustandes und mit der Zunahme der Darmgangrän 
sekundäre Infektionserreger und Fäulniskeime die Oberhand gewinnen*. Danach 
sind die frischen Fälle für die Umgebung am gefährlichsten. Die chronische Ruhr 
hält Kruse mehr für eine Nachkrankheit oder sekundäre Infektion, weil er die 
Bazillen bei ihr meist vermisst hat. Dagegen gelingt nach ihm bei Ruhrrückfällen 
der Bazillennachweis verhältnismässig leicht, weshalb diese Fälle vielleicht noch 
gefährlicher seien, wie die ersten Erkrankungen, da die Erkrankten infolge Ge¬ 
wöhnung an ihren Zustand letzteren nicht mehr so ernst nehmen. In der anfalls¬ 
freien Zeit sei die Menge der Bazillen vorläufig als so gering anzunehmen, dass 
die gelegentliche Ausscheidung der Ruhrerreger hier von geringerer Bedeutung 
erscheine. Deswegen sei auch die Bezeichnung Dauerausscheider bei der Ruhr 
insofern anders zu deuten, als z. B. bei Typhus und Paratyphus, wo reichliche 
Bazillenausscheidungen erfolgen. Die eigentliche Gefahr trete erst mit dem Rück¬ 
fall ein. 

Kruses eigene recht umfangreiche Beobachtungen führen ihn ferner zu dem 
Ergebnis, «dass weder Dysenterie- noch Pseudodysenteriebazillen in den Ent¬ 
leerungen gesunder oder an anderen Krankheiten leidender Personen Vorkommen. u 
Jedoch nach anderen einwandfreien Befunden sei als erwiesen anzunehmen, dass es 
bei der Ruhr Bazillenträger in engerem Sinne (also gesunde, Ruhrkeime aus¬ 
scheidende Personen) gäbe. Praktische Bedeutung käme freilich diesen Bazillen¬ 
trägern für die Weiterverbreitung der Krankheit insofern nicht zu, als bei ihnen 
ebenfalls die Zahl der Bazillen und die Menge des bazillenhaltigen Stuhles viel 
zu gering sei. Handele es sich aber um Darmstörungen mit Kolik, Tenesnuis und 
schleimigen oder schleimig-blutigen Beimengungen im Stuhl, so pflege es sich auch 
in der Regel um Ruhr zu handeln, weshalb derartige Erkrankungen auch stets als 
ruhrverdächtig zu bezeichnen seien. So gehörten die Enteritis follicularis der 
Kinder, die Dickdarmkatarrhe der Geisteskranken und manche sporadische Dysen¬ 
terie in die Rubrik der Pseudodysentcriefälle. 

Als praktisch einziger Ausscheidungsort käme der Darm in Frage, da in 
sonstigen örtlichen Krankheitsherden anderer Organe die Bazillen wenigstens bisher 
nicht mit Sicherheit sich nachweisen Hessen. 

Kruse fasst danach seine Ansicht über die Ansteckungsgefahr dahin zu¬ 
sammen, dass sie erst dann wirklich entstehe, wenn es sich um erste Anfälle oder 
Rückfälle handelt, und dass sie von seiten der Rekonvaleszenten, Dauerausscheider 
und Bazillenträger nur gering sei. 

Nicht im Widerspruch hiermit dürfte die Ansicht von Negri und Pane (52) 
stehen, nach denen «unter günstigen Bedingungen“ jeder Dauerausscheider ein 
neues Ansteckungszentrum bilden kann; nur teilweise im Einklänge mit Kruses 
Ansicht stehen die Befunde von Heuser (53), der an einer Irrenanstalt zwar bei 
Ruhrrekonvaleszenten negativen Ausfall der Stuhlproben und Serumagglutinations- 
versuche feststellen konnte, bei den übrigen Insassen der Anstalt jedoch in einer 
Anzahl von Fällen Ruhrbazillen in gesund aussehenden Stühlen fand. 

Lentz (1) betont, dass in den Fällen, wo bei Kinderdysenterie die Ituhr- 
bazillen nachgewiesen wurden, auch die für Dysenterie typischen Symptome nicht 
fehlten, und er glaubt daher an einen diagnostischen Irrtum der meist englischen 
Autoren, die den Dysenteriebazillus als den Erreger der Sommerdiarrhöe bei 

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Samraelreferate. 


Kindern betrachten. Anderen Untersuchern ist es denn auch nicht gelungen, bei 
der einfachen Sommerdiarrhöe Dysenteriebazillen zu finden (letzthin Manicatide 53). 

Nach Shiga (47) hält sich der Dysenteriebazillus im Winter im menschlichen 
Körper, in der günstigen Zeit, im Friihsommcr gelangt er nach aussen, um dann 
grosse Epidemien zu veranlassen. Shiga hat ferner beobachtet, dass die 
Dysentericbazillen schneller in leichten als in schweren Fällen verschwinden. 

Maille (55) hebt hervor, dass bei einer Dysenteriepidemie in Sherbourg die 
Fliegen eine Rolle bei der Uebertragung gespielt hätten. Auch Dans au er (56) 
erörtert die ursächliche Beziehung zwischen der Häufigkeit der Ruhrfälle und dem 
Auftreten der Fliegenschwärme in Südwest-Afrika. Auche(57) lieferte dann auch 
einen diesbezüglichen experimentellen Beweis, indem er Ruhrstühle und Reinkulturen, 
sowie sterile Nährbodenplatten mit Fliegen unter eine Glocke brachte und fialli 
Valerio konnte aus einigen, von den Entleerungen eines dysentcriekranken Kindes 
weggefangenen Fliegen Ruhrbazillen züchten. 

Für eine systematische Fliegenbekämpfung empfiehlt Dansauer (1. c.) mit 
Arsen vergiftete Zuckerlösungen und alkoholhaltige Flüssigkeiten, die in flachen 
Tellern aufzustellen sind. 

Obwohl nach einer früheren Arbeit Kruses die Uebertragung durch das 
Trinkwasser wohl nicht ganz auszusehlicsscn, immerhin aber ein seltenes Vor¬ 
kommnis darstellen soll, schreibt Galli Valerio (1. c.) neuerdings dem Wasser 
in dieser Hinsicht eine sehr bedeutende Rolle zu. Er beruft sich zum Teil auch 
auf Shigas Mitteilungen, der allerdings berichtet, dass durch Flussläufe explosions¬ 
artige Epidemien veranlasst würden. 

Unter den Nahrungsmitteln verdienen nach Galli Valerio besondere Auf¬ 
merksamkeit die Milch und die Gemüse. Letztere würden durch den zu ihrer 
Kultur verwandten Dung infiziert. Die Wichtigkeit der Ueberwachung des Nahrungs¬ 
mittelverkehrs (Obst, Weissbier, nicht pasteurisierte Milch) hebt auch Nickel (58) 
hervor. Obst und sonstige, leicht zu Darmstörungen führende Nahrungsmittel 
dürften indessen, worauf Kruse schon früher hingewiesen hat, durch den Genuss 
eher prädisponierend als infizierend wirken. 

Auch die Bodenerde und der Staub können nach Galli Valerio zur In¬ 
fektionsquelle werden, besonders bei Kindern, zumal die Resistenz der Ruhrbazillen, 
über welche der Verfasser (1. c.) eine tabellarische Zusammenstellung gibt, nicht 
unbedeutend ist. So beträgt sic nach Karlinskji. den der Verfasser zitiert, in den 
Fäkalien je nach der Temperatur zwischen 14 und 30 Tagen. 

Als prädisponierende Momente für das Zustandekommen der Erkrankung sollen 
nach Trommsdorf (59) Hunger und Alkoholgenuss in Frage kommen, 'wegen da¬ 
durch bedingter Herabsetzung der Widerstandskraft. 

Nach alledem hat die Prophylaxe der bazillären Ruhr vor allen auf die Aus¬ 
scheidungen der Erkrankten das Hauptaugenmerk zu richten. Heuser (1. c.) 
empfiehlt in Ruhrzeiten die Untersuchung jeder Diarrhöe, Dansauer (1. c.) weist 
besonders darauf hin, dass die Desinfektion der Latrinen und der Entleerungen der 
Kranken mit Chlorkalk erfolgen müsse, weil dieser die Fliegen abhalte. Auch die 
Wichtigkeit der Händedesinfektion des die Latrinen überwachenden Personals wird 
von Nickel (1. c.) betont. 

Die sanitätspolizeilichen Vorschriften (Anzeigepflicht, Absonderung, Desinfektion) 
sind nach Kruse (51) unter allen Umständen bei ersten Erkrankungen oder bei 


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Sammelreferate. 


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Rückfällen anzuwenden, während die Absonderung von Rekonvaleszenten und 
Bazillenträgern zwar, wenn anwendbar, anheimzustellen ist, jedenfalls aber nur des¬ 
wegen Erfolg versprechen dürfte, weil «die genannten Personen die Keime, die 
ihnen äusserlich von ihrer ersten Krankheit her oder durch Berührung mit ihrer 
kranken Umgebung anhaften, nicht übertragen, als weil sie die paar Keime, die 
sie jetzt noch in ihren Entleerungen bergen, nicht verschleppen können.“ 

Kruse spricht sich dagegen aus, eine bestimmte Absonderungsfrist festzu¬ 
stellen. Auch letztere von dem Ergebnis bakteriologischer Untersuchung abhängig 
zu machen, sei eine sehr unsichere und daher wenig empfehlenswerte Massregel, da 
nur unter besonders günstigen Umständen und bei häufiger Wiederholung sichere 
Resultate gewonnen werden könnten. Dagegen empfiehlt er, den etwaigen (Jehalt 
der Stühle an schleimigen Beimengungen zum Masstabe der sanitätspolizeilichen 
Vorschriften zu nehmen. Absonderung der Dauerausscheider und öfters rezidi¬ 
vierenden Fälle können nur ausnahmsweise in Frage kommen, Mitteilung ihres Zu¬ 
standes, Ermahnung zur Vorsicht bei der Behandlung ihrer Stuhlentleerungen, Hin¬ 
weis auf die Gefahr des Rückfalls seien hier allein durchführbare Massregeln. 
Kruse schliesst indessen seine Ausführungen mit der bemerkenswerten Mahnung 
an die Aerzte und Gesundheitsbeamten, ihre Aufmerksamkeit auf die ansteckende 
Natur der sogen, sporadischen Ruhr, der Anstaltsruhr und der Enteritis 
follicularis der Kinder zu lenken. 

Bezüglich der Frage, was im Sinne des Gesetzes unter übertragbarer Ruhr 
zu verstehen ist, herrscht darin absolute Einigkeit, dass alle Formen der Ruhr, so¬ 
wohl Dysenterie, wie Pseudodysenterie bzw. auch Paradysenterie die gleichen 
hygienischen Yorbeugungsmassregeln erfordern. Denn auch bei den gewöhnlich 
leichter verlaufenden Formen der Pseudodysenterie ist nach den Erfahrungen von 
Kruse, Rittershaus, Kemp und Metz (1. c.) die Ansteckungsgefahr keine ge¬ 
ringe, und «die früher weit verbreitete Auffassung, es handle sich um nicht in¬ 
fektiöse Erkrankungen, die von Erkältung, Nahrungsmitteln und dergl. herrühren, 
ist auch bei den sporadischen Fällen gewöhnlich nicht berechtigt“. 

Die präventive Anwendung von Injektionen des Dysenterieheilserums wird 
von Vaillard und Dopter (GO) direkt empfohlen. 

Lucksch (61) beobachtete eine Steigerung der bakteriolytischen Fähigkeit 
des Blutserums nur bei Anwendung von Impfstoff, der nach der Methode Pfeif f er- 
Ko Ile aus Fl exn er-Bazillen hergestellt worden, nach zweimaliger Impfung ohne 
schädliche Nebenwirkung. Erhöhung des Serumtiters für Kruse-Bazillen konnte 
er bei aktiver Immunisierung nach der Methode Neisser-Shiga nicht erreichen, 
andere Methoden (Meycr-Brieger, Pfeiffer-Kolle) Hessen sich aber hier nicht 
anwenden wegen zu starker lokaler Reaktion. Es entstanden Erytheme nach Erd¬ 
beergenuss, die unter normalen Verhältnissen ausblieben, Schwellung der Bronchial¬ 
schleimhaut und Rötung der Injektionsstelle. Seine Erfahrungen zwingen Lucksch 
zu der resignierten Erklärung, dass er nach diesen Misserfolgen nicht mehr darauf 
rechnen könne, Versuchspersonen zu bekommen. Er bringt in Anregung, Versuche 
aktiver Immunisierung mittelst Bailscher Aggressine anzustellen. 

Wir kämen zur Frage der Paradysenterie, Deycke und Reschad hatten 
eine Bazillenart in Konstantinopel beschrieben, die sich von den bis dahin be¬ 
kannten, sowohl echten, wie Pseudodysenteriebazillen dadurch unterschied, dass 
sie auf Traubenzuckeragar Gas bildete. Kruse bezeichnet« diesen Bazillentyp als 


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Sammelreferate. 


Paradysenterie und Kemp ((>2) veröffentlichte die Ergebnisse einer Nachprüfung 
der erwähnten Befunde gelegentlich einer Epidemie zu Bonn: Gram-negative Keime, 
die dem Paradysenteriebacillus zu entsprechen schienen, auf Lackmusmilchzucker¬ 
agar blaue Kolonien bildeten, Milch nach 3 bis 4 Tagen noch nicht veränderten, 
Gelatine nicht verflüssigten und in Bouillon eine gleichmässige Trübung hervor¬ 
riefen. Diese Keime agglutinierten auch in Serum Gesunder. Jedenfalls war in 
keinem der Fälle eine beweiskräftige Agglutination zu beobachten. Auch die 
Fütterungsversuche an Katzen gelangen nicht wie bei Devcke und Reschad. 

Somit sind nach Kemp die Bazillen wahrscheinlich auf dem Boden einer 
Pseudodysenterie zur Entwicklung gelangt, und Kruse (17) betrachtet die Rolle 
der Paradysenterie als sehr „problematisch“, weil alle Uebergänge zur Coligruppe 
vorhanden seien, weil die Paradysenteriebazillen sich in vielen Stühlen fänden, 
neben Pseudodysenteriebazillen vorkämen und sich sämtlich bezüglich der Agglu¬ 
tination verschieden verhielten. 

Die Ruhrerzeugung durch Einbringen in den Magen bliebe das einzige für 
Deycke und Reschads Ansicht sprechende Moment: Kruse w r eist aber darauf 
hin, dass nicht jede klinische bzw. anatomische „Ruhr“ eine Infektionskrankheit 
sei, weil hämorrhagische und diphtheritische Darmkatarrhe lediglich Zeichen einer 
Vergiftung seien, wie sie z. B. auch durch Metallgifte (Quecksilber) hervorgerufen 
werden und führt Versuche von Jensen an, der bei Kälbern durch Eingeben von 
Kreolin, Pyoktanin oder Jodtrichlorid oder gekochte Milch „Ruhr“ erzeugen konnte. 

Zur Aetiologie der ostasiatischen Amöbenruhr hat neuerdings Böse (6) einen 
wertvollen, mit sehr guten Abbildungen anatomischer und histologischer Präparate 
ausgestatteten Beitrag geliefert. Er führt aus, dass die Amoeba histolytica durch 
eigene Kraft die intakte Darmmukosa durchdringe, um dann später in der Sub¬ 
mukosa in ausgedehnterem Masse ihre eigentliche zerstörende Tätigkeit zu ent¬ 
falten. (Experimente an Katzen.) Böse fand die Amöben nicht in den völlig 
intakten Drüsen und hält cs daher für nicht unmöglich, dass bei der natürlichen In¬ 
fektion des Menschen mit Amöbenruhr gewisse Bakterien oder andere (chemische) 
Schädlichkeiten primär die Mukosa lädieren und so erst den Amöben den Weg 
bahnen. Wie von anderen, so wurde auch von ihm in 2 Fällen Mischinfektion 
durch Bazillen und Amöben festgestellt. Die zum Teil mit Blutkörperchen voll¬ 
gepfropften Amöben Hessen sich in Stühlen leicht erkennen, wenn sie beweglich 
waren: in ruhendem Zustande sei ihre Identifizierung (Unterscheidung von weissen 
Blutkörperchen!) durch Beachtung ihrer scharfen Konturen, ihres stark licht- 
brechenden Ektoplasmasaumes möglich. Die Ansicht anderer Autoren, die in einem 
Absondcrimgsprodukt der Ruhramöbe das gewebszerstörende Element sehen wollen, 
hält Böse für nicht genügend begründet, weil oft dichtgedrängte Amöbenhaufen 
in völlig unversehrtem Gewebe eingebettet seien, diese Absonderung also nicht 
dauernd stattzufinden scheine. 

lieber klinische Unterschiede zwischen Bazillen- und Amöbenruhr berichtet 
Trembur (G3). Erstere beginne im allgemeinen akut, mit Fieber, bald auftreten- 
den, blutig-schleimigen Entleerungen und sei therapeutisch zu beeinflussen, letztere 
dagegen zeige chronischen, fieberlosen Beginn und nur langsame Zunahme des 
Schleim- und Blutgehalts in den Entleerungen bei schneller Abnahme der Körper¬ 
kräfte, und die Behandlung bringe keinen direkten Erfolg. 

Vielleicht liegt es an dieser Eigentümlichkeit des klinischen Verlaufs, dass 


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Sammelreferate. 


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Viereck (64), der unter Beibringung ebenfalls guter pathologisch-anatomischer 
Abbildungen Amöbenbefunde in 37 im Seemannskrankenhause zu Hamburg beob¬ 
achteten Fällen beschrieb, zu dem Ergebnis gelangt, dass Europäer mehr Amöben¬ 
ais Bazillenruhr einschleppten. 

Dansauer (56) berichtet über Amöbenbefunde in Südwestafrika und Hart¬ 
mann (65) über eine neue Dysenterieamöbe (Amoeba tetragena, als identisch mit 
Vierecks Entamoeba africana anzusehen), als deren Charakteristikum er Bildung 
von Zysten mit stets 4 Kernen gesehen hat und die klinisch wenige’* Komplika¬ 
tionen hervorriefe. 

Ueber die Ursachen der Leberabszessc bei der Amöbendysenterie wurden 
abweichende Ansichten geäussert. 

Anderson (66) beobachtete bei Amöbendysenterie eine auffallend geringe 
Prozentzahl von Fällen mit Leberabszessen, so dass er zu dem Schluss kommt, die 
Amöbe sei wahrscheinlich nicht deren Ursache. Mc. Dill (67) hat wiederum in 
den Wandungen von Leberabszessen bei Amöbendysenterie niemals Amöben ver¬ 
misst. Mac Lean (68) fand sie gleichfalls in den Leberabszessen, ebenso 
Werner (69), und Hör and (70) gelang aus dem Leberabszesseiter Uebertragung 
der Krankheit auf Katzen. 

In klinischer Hinsicht erwähnt Huber (71) als auffallendes Symptom Eosino¬ 
philie im Blute der Patienten, und Vincent(72) berichtet über lange Latenz der 
Erkrankung. 

Die schlechte Prognose der Amöbendysenterie wird von Caussadc und 
Foltrain (73) betont. 

J äger (74) Hess neuerdings nochmals darauf hinweisen, dass die von ihm in Ost- 
preussen beobachteten Epidemien durch Amöben verursacht waren, was seit der 
Entdeckung der Dysenteriebazillen angezweife.lt wird. Er beruft sich auf die An¬ 
erkennung seiner Präparate durch Koch und Schaudinn. Mit Rücksicht auf die 
Veröffentlichung von Lösen er betont er, dass die „Dinge in Ostpreußen nicht 
anders liegen, als w r ie sie überall sonst sich seither herausgestellt haben: die 
bazilläre Ruhr und die Amöbenenteritis kommen nebeneinander vor* 4 . 

Jürgens (75) möchte indessen die Amöbenenteritis überhaupt nur für eine 
Komplikation halten, die sowohl anderweitigen Darmerkrankungen, als auch speziell 
der eigentlichen Ruhr, die wahrscheinlich immer Bazillenruhr sei. sich hinzugesellen 
könne, eine Ansicht, der sich neuerdings auch Mühlmann (19) angeschlossen hat. 
w T eil das Blut aller Dysenteriekranken, auch wenn deren Stuhl Amöben enthält, 
durch Dysenterieserum agglutiniert würde. 

Neuere Arbeiten, die sich speziell mit der Prophylaxe der Amöbendysenterie 
beschäftigen, liegen nicht vor. Nach Hanes (76) käme dem Trinkwmsser die 
Schuld an der Verbreitung der Amöbendysenterie zu. 

Dass in erster Linie die Berührung mit dem Auslande und die Einschleppung 
der Erkrankung die Ursachen der Verbreitung auch in europäischen Ländern sind, 
wurde schon früher, u. a. auch von Kruse hervorgehoben. 

Wir müssen fraglos die Amöbendysenterie im Sinne des Gesetzes vom 28. 8. 
1905 als unter den Begriff der „übertragbaren Ruhr“ fallend bezeichnen. Somit 
würde die Prophylaxe der Amöbendysenterie in gesundheitspolizeilicher Hinsicht 
entsprechend den Vorschriften des erwähnten Gesetzes zu handhaben sein. 


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Sammelreferate. 


Litteratur. 

1) Lentz, Artikel Dysenterie im Handbuch der pathogenen Mikroorganismen. 
Ilerausg. von Kollo und Wasser man n. 2. Ergänzungsband. S. 442. — 2) Kruse, 
Kittershaus, Kemp und Metz, Dysenterie und Pseudodysenterie. Zeitschr. f. 
Hyg. und Infektionskrankh. Bd. 57. lieft 3. — 3) Xakao Abe, Leber die Aetiologie 
der Dysenterie. Archiv f. Hyg. Bd. 65. Heft 2. 1908. — 4) Akahoshi, Bakterio¬ 
logische Untersuchungen bei den Dysenteriekranken, die im Osaka-Reserve-Lazarcit 
aufgenommen wurden. Saikingakuzasshi. 1907. No. 126. Zentralbl. f. Bakt. 1908. 
Bd. 41. Ref. 8. 281. — 5) Kuhn und Weit he, Ueber ungewöhnliche Bakterien¬ 
befunde bei Ruhrkranken. Bericht über die 3. Tagung der freien Vereinigung für 
Mikrobiologie in Wien 2. bis 4. Juni 1909. Münchener rned. Wochcnschr. 1909. 
No. 40. S. 2603, und Med. Klinik. 1909. No. 45. 8.1709. — 6) Böse, Beob¬ 

achtungen und Erfahrungen über Ruhr in Ostasien. Zeitschr. f. Hyg. und Infek¬ 
tionskrankh. 1908. Bd. 61. 8. 1. — 7) Lösen er. Zur Aetiologie der in Ostpreussen 
heimischen Ruhr. Zentralbl. f. Bakt. Abt. I. Orig. Bd. 48. Heft 3 und Ref. Bd. 42. 
Beiheft. — 8) Booth, Journal of trupical med. 1909. p. 141. Zit. nach Galli 
Ya 1 erio [s. 10)]. — 9) Borman. A scries of cases of tropica! infantile dystntery 
with a hitherto undescribed Bacillus as the causative factor. Prcl. rep. Philipp. 
Journ. of St. B. med. sc. 1908. Yol. 3. Nr. 1. p. 31—38. — 10) Galli Ya¬ 
le rio, I/etiologie et la prophylaxic de la dysenterie bacteriennc. Zentralbl. f. 
Bakt. Abt. I. Ref. 1910. Bd. 45. Heft 11. — 11) Arriako, Dysenterie-Epidemie 
und Bazillentypen. Epidemiologisch-bakteriologische Beobachtungen Uber die Dys¬ 
enterie der Stadt Kobe. Zeitschr. f. Hyg. und Infektionskrankh. 1908. Bd. 60. 
8.94. — 12) II ata, Ueber die durch bestimmte organische Salze verursachten 
Degenerationsforinen bestimmter Bakterienarten. Zentralbl. f. Bakt. I. Abt. Orig. 
Bd. 46. Heft 4. — 13) Alm<|iiist. Studien über das Verhalten einiger pathogener 
Mikroorganismen bei niedriger Temperatur. Zentralbl. f. Bakt. Abt. I. Orig. Bd. 48. 
Heft 2. — 14) Shiga, Typen der Dyscnteriebazillen. ihr epidemiologisches Ver¬ 
halten und serotherapeulische Studien. Zeitschr. f. Hyg. und Infektionskrankh. 
1908. Bd. 60. S. 75. — 15) Lcntz, Ueber die im Sommer 1905 in St. Johann- 
Saarbrücken beobachtete Ruhrepidemie. Klin. Jahrb. 1907. Bd. 17. Heft 3. — 
16) Baermann und Sehiiffncr. Ueber Pscudodvsenterie. Münchener med. 
Wochcnschr. 1907. No. 8. — 17) Kruse, Neue Untersuchungen über die Ruhr. 
Deutsche med. Wochcnschr. 1907. No. 8 und 9.— 18) Müller. Ueber mutations¬ 
artige Vorgänge bei Typhus. Paratyphus und verwandten Bakterien. Zentralbl. 
f. Bakt. Abt. I. Ref. Bd. 42. Beiheft. S. 57. — 19) Miihlmann, Untersuchungen 
über Dysenterie und verwandte Fragen. Mutationsversuche. Archiv f. Hyg. 1909. 
Bd. 69. Heft 4.— 20) Händel, Zur Differenzierung der Ruhrbakterien mittels der 
Agglutination, der Komplemcntablenkung und der bakteriotropen Immunserum- 
wirkung. Arbeiten aus dem Kaiserl. Gesundheitsamt. 1908. Bd. 28. Heft 2. — 
21) Amako und Kojirna, Weitere Studien über verschiedene Typen von Dysenterie¬ 
bazillen und ihre Differenzierung durch die Komplementbindungsmethode. Zeitschr. 
f. Immunitätsforsch. Orig. 1909. Bd. 3. S. 467. — 22) Konrich, lieber eine 
isoliert gebliebene Epidemie bazillärer Ruhr in Mitteldeutschland und einen dabei 
gefundenen, zwischen den Typen Shiga-Kruse und Flexner stehenden Bazillus. 
Zeitschr. f. Hyg. und Infektionskrankh. 1908. Bd. 60. Heft 2. — 23) Shiga, 


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Samraelreferate. 


201 


lieber die aktive Immunisierung per os. Saikin -gaku-Zasshi. 1908. No. 138. 
Zentralbl. f. Bakt. Abt. 1. Ref. Heft 11—13. — 24) Schottclius, lieber das 
Toxin und das Antitoxin der Dysenteriebazillen. Med. Klin. 1908. No. 32. — 
25) Dörr, Das Dysenterietoxin. Kraus und Levaditi, Handbuch der Technik 
und Methodik der Immunitätsforschung. Bd. 1. 8. 145—160. — 26) Pfeiffer, 
lieber die Beziehungen der sogenannten Endotoxine zu den Toxinen. Zentralbl. 
f. Bakt. Abt. I. Ref. Bd. 42. Beiheft. S. 1. — 27) di Donna, Untersuchungen 
über die bazilläre Dysenterie. Zentralbl. f. Bakt. 1908. Abt. I. Orig. Bd. 46. 
Heft 8. — 28) Klein, Ueber die löslichen Giftstoffe der Ruhrbazillen. Zentralbl. 
f. Bakt. Abt. I. Orig. Bd. 44. Heft 2. — 29) Kolle, lieber die Beziehungen der 
sogenannten Endotoxine zu den Toxinen. Zentralbl. f. Bakt. Abt. I. Ref. Bd. 42. 
Beiheft. 8.27. — 30) Neufcld, Ebenda. Diskussionsbemerkung. S. 43. — 
31) Kolle, Heller und de Mestral, Untersuchungen über Dysenterietoxine, 
das Dysenteriescrum und seine Wertbestimmung. Arbeiten aus dem Institut zur 
Erforschung der Infektionskrankheiten in Beim und den wissenschaftlichen Labo¬ 
ratorien des Schweizer Serum- und Impfinstituts. Heft 1. Jena 1908. Gustav 
Fischer. — 32) Heller, Ist bei der Dysenterievergiftung wesentlich ein echtes 
Toxin oder ein Endotoxin beteiligt? Zentralbl. f. Bakt. Abt. I. Ref. Bd. 42. Bei¬ 
heft. 8.30. — 33) Kraus, Ueber die Beziehungen der sogenannten Endotoxine zu 
den Toxinen. Ebenda. 8. 13. — 34) Kraus und Dörr, Ueber Anaphylaxie. 
Zentralbl. f. Bakt. Abt. I. Ref. Bd. 42. Beiheft. 8.36.— 35) Kolle, Heller und 
de Mestral, Die Wertbestimmung des Dysenterieserums. Deutsche med. Wochen- 
schr. 1908. No. 19. — 36) Kraus und Dörr, Die Wertbemessung des Dysenterie¬ 
serums. Ebenda. No. 27. — 37) Dopter, Yaecination antidysenterique experi¬ 
mentale. Compt. rend. soc. biol. 1907. T. 64. 26. N. — 38) Kruse, Diskussions¬ 
bemerkung auf der 2. Tagung der Freien Vereinigung für Mikrobiologie in Berlin 
1908. Zentralbl. f. Bakt. Abt, I. 1909. Ref. Bd. 42. Beilieft. S. 44. — 39) Hilger- 
mann, Zur Kasuistik der Pseudodysenterie. Münchener med. Wochenschr. 1907. 
No. 46. — 40) Dopter, Yaecination antidysenterique experimentale. Compt. rend. 

1907. T. 63. No. 30. Zentralbl. f. Bakt. Abt. I. Ref. Bd. 41. S. 743. — 

41) Chvostek, Zur Frage der Immunisierung per os. Wiener klin. Wochenschr. 

1908. No. 14. — 42) Ruff er and Willmore, The production of immunitv against 
the dysentery toxin. Brit med. Journ. 1908. Vol. II. p. 1176. — 43) Shiga, 
Ueber die Typen der Dysenteriebazillen und das universale Dysenterieserum. 
Saikin-gaku-Zasshi. 1906. No. 128. Zentralbl. f. Bakt. 1908. Abt. I. Ref. Bd.41. 
S. 742. — 44) Hida und Toyoda, Aktive Immunisierung per os. Ebenda. 1907. 
No. 138. Zentralbl. f. Bakt. 1909. Abt. I. Ref. Bd. 42. Heft 11—13. — 45) Dörr, 
Das Dysenterie-Antitoxin. Kraus und Levaditi, Handbuch. Bd. 2. 8.169. — 

46) Yoshida, Ueber die Herstellung von Dysenteriescrum. Tokio. Zgakkwai-Zasshi. 

Bd. 20. Heft 24. Zentralbl. f. Bakt. 1908. Abt. I. Ref. Bd. 41. S. 742. — 

47) Shiga, Epidemiologische Betrachtungen über die Dysenterie in Japan. Zeitschr. 
f. Hyg. und Infektionskrankh. 1908. Bd. 60. Heft 1. — 48) Haenisch, Ueber 
Ruhr in Irrenanstalten. Zeitschr. f. Hyg. und Infektionskrankheiten. 1908. Bd. 60. 
Heft 2. — 49) Küster, Ein Dysenteriebazillenträger. Münchener med. Wochenschr. 
1908. No. 35. — 50) Bofinger, Ueber die in Lüderitzbucht beobachteten Ruhr¬ 
erkrankungen und ihre bakteriologische Untersuchung. Archiv für Schiffs- und 
Tropenhyg. Bd. 10. Heft 14. — 51) Kruse, Die Verbreitung der Ruhr durch so- 


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202 


Sammelreferate. 


genannte «.Dauerausscheider* und „Bazillenträger*. Klin. Jahrb. 1908. Bd. 19. 
S. 529. — 52) Negri und Bane, Eine Dysenterie-Epidemie in der Provinz Pa,via. 
Zentralbl. f. Bakt. Bd. 41. lieft 1. — 53) Heuser, Atypische Bazillenruhr in einer 
Irren-Heil- und Pflegeanstalt. Deutsche med. Wochenschr. 1909. S. 1694. — 
54) Manicatide, Sur la prcsence des baeiües dysenteriques dans la colite in¬ 
fantile. Compt. rend. soc. biol. 1908. T. 65. p. 525. — 55) Maille, Une epidemie 
de dysenterie ä Cherbourg. Archiv de med. nav. 1908. T.89. No.2. — 56) Dansauer, 
Erfahrungen und Beobachtungen über Ruhr in Südwestafrika. Archiv für Schiffs- 
und Tropenhygiene. 1907. Bd. 11. Heft 2. S. 45 ff.— 57) Auche, Transport des 
bacilles dysenteriques par les mouches. Compt. rend. 1906. T. LXI. No. 33. — 
58) Nickel, Ruhrepidemie des I. Armeekorps 1906. Deutsche militärärztl. Zeitschr. 
1907. Heft 8 und 9. — 59) Trommsdorf, Experimentelle Studien über die 
Ursachen der durch verschiedene Schädlichkeiten bedingten Herabsetzung der natür¬ 
lichen Widerstandsfähigkeit gegen Infektionen. Ein Beitrag zur Immunitätslehre. 
Münchener med. Wochenschr. 1907. S. 3S3. — 60) Vaillard und Dopter. La 
serotherapie dans le traitement de la dysenterie bacillaire. Annales de Elnstitut 
Pasteur. 1907. Annee 21. No. 4. — 61) Lucksch, Ueber aktive Immunisierung 
des Menschen gegen bazilläre Dysenterie. Zentralbl. f. Bakt. Abt. I. Orig. Bd. 45. 
Heft 4. — 62) Kemp. Ueber Paradysenterie. Zeitschr. f. Hyg. und Infektionskrankh. 
Bd. 57. Heft 3. — 63) Trembur, Beobachtungen über Ruhr in Tsingtau in den 
Jahren 1906—1908. Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene. 1908. Bd. 12. Heft 12. 
— 64) Viereck, Studien über die in den Tropen erworbene Dysenterie. Beiheft 1 
zum Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene. 1907. Bd. 11. — 65) Hart mann, 
Ueber eine neue Dysenterie-Amöbe. Tagung der Deutschen tropenmed. Ges. zu 
Hamburg 15. und 16. April 1908. Rcf. in der Münch, med. Wochenschr. 1908. 
S. 1307. — 66) Anderson, Ueber Dysenterie und Darmamöben ohne Leberabszess. 
Rcf. ebenda. S. 1957. — 67) Mc. Dill, Dysenterie abscess of the liver in the 
Philippine Islands. Journ. of the Americ. med. Ass. Vol. XLIX. 1907. No. 6. 
Ref. im Zentralbl. f. Bakt. Abt. I. lief. Bd. 42. S. 134. — 68) Mac Lean, Ueber 
Leberabszcss. Med. Klin. 1909. No. 27. S. 996. — 69) Werner, Studien über 
pathogene Amöben. 11. Beiheft zum Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene. 1908. 
Bd. 12. — 70) Horand, Rcctite dysenterique chez un chat. Absccs de la fosse 
ischiorectale. Lyon. med. T. 13. 1909. No. 40. p. 558. Zentralbl. f. Bakt. Abt. I. 
Ref. 1910. Bd. 46. Heft 11.— 71) Huber, Untersuchungen über Amöbendysenterie. 
Zeitschr. f. klin. Med. 1909. Bd. 67. S. 262. — 72) Vincent, Note sur la latence 
prolongeo de l'amibe dysenterique dans Uintestin humain. Les porteurs d'amibes. 
Bull, de la Soc. de Pathol. exot. T. II. 1909. No. 2. — 73) Caussade et Fol- 
train, Un cas de dysenterie amibienne avec absces du foie d’origine parisienne. 
Bull. soc. Med. d. Ilnp. ä Paris. 1907. p. 167. Zentralbl. f. Bakt. Abt. I. Ref. 
1901h Bd. 42. S. 134. — 74) Jäger, Schreiben an C. Frankel, Halle. Zentralbl. 
f. Bakt. Abt. I. Ref. 1909. Bd. 42. Beiheft. S. 104. — 75) Jürgens, Die Amöben- 
Enteritis und ihre Beziehungen zur Dysenterie. Zeitschr. f. exper. Pathol. u. Ther. 
1907. Bd. 4. S. 769. — 76) Hanes, Arnolde dysentery. Journ. of the Americ. 
med. Ass. Vol. LIL No. 25. Zentralbl. f. Bakt. Abt. I. Rcf. 1910. Bd. 46. Heft 11. 


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5. 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


Bericht des Medizinalrates über die medizinische Statistik des 
Hamburgisohen Staates für das Jahr 1907. Hamburg 1908, Verlag von 
Leop. Voss. 

Die für die Mitte des Jahres 1907 berechnete Bevölkerung betrug für das 
Hamburgische Staatsgebiet 920 114 Personen. Hiervon entfallen auf die Stadt 
Hamburg 844579, auf das übrige Gebiet 75535 Einwohner. Es wurden aus dem 
gesamten Staatsgebiet 23726 Geburten mit 24038 Kindern, davon 3158 uneheliche 
und 806 totgeborene, gemeldet, mithin auf 1000 Einwohner 26,1 bzw. 3,4 und 
0,8 Kinder. Gegenüber den GeburtsziiTern der vorangegangenen 10 Jahre mit 
33,1 — 26,7 Kindern ergibt sich für das Berichtsjahr ein Minus von annähernd 7 
auf 1000, also eine fortschreitende Abnahme der Geburten. 

Unter den Neugeborenen fanden sich 86 mit Missbildungen des Schädels 
und des Gesichtes, 3 mit solchen der Geschlechtsorgane und 33 mit krüppelhaften 
Gliedmassen behaftet. 

Die Mortalitätsziffer betrug bei 13496 Todesfällen 14,7 auf 1000 Einwohner 
gegenüber 15,3—17,5 der vorangegangenen 10 Jahre. Diese günstigen Sterblich- 
keitsverhältnisse sind auf die ausserordentlich geringe Säuglingssterblichkeit im 
Berichtsjahre zurüokzufübren. Während im Vorjahre die Sterblichkeit auf 1000 
Lebendo dieser Altersklasse 191,1 betrug, ist sie im Berichtsjahre auf 161,0 zurüok- 
gegangen. Von den übrigen Altersklassen hatten die geringste Ziffer mit 4,2 die 
15—30 Jahre alten, die höchste mit 119,8 die 70 Jahre und darüber alten, be¬ 
rechnet auf 1000 Lebende derselben Altersklasse. 

Während in den Vorjahren fast ausnahmslos für die Monate Juli und August 
die höchsten Sterblichkeitsziffern zu verzeichnen waren, wiesen im Berichtsjahre 
beide Monate, namentlich der August, die niedrigsten Ziffern mit 0,92—0,97 auf 
1000 Einwohner auf. Diese aussergewöhnliche Erscheinung dürfte wohl auf die 
in den genannten Monaten herrschende kühle Witterung und das hierdurch be¬ 
dingte Ausbleiben der gewohnten grossen Sterblichkeit der Säuglinge an Magen¬ 
darmkatarrh zurückzuführen zu sein. Die höchste Sterblichkeitsziffer batte der 
März mit 1,40. 

Es starben von den Säuglingen an Magendarmkatarrh bzw. Brechdurchfall 516, 
an Atrophie 473, an Lebensschwäche 858, an akuten Infektionskrankheiten 145, 
an Krankheiten der Atmungsorgane 520. 

Wöchnerinnen und Schwangere sind im ganzen 119 gestorben, davon gingen 
zugrunde an Puerperalfieber 66 Fälle, an Blutungen 10, Krämpfen 14, Erschöpfung 


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204 Besprechungen, Referate, Notizen. 

und Lungenembolie je 5, Gebärmutterriss 3, die übrigen an interkurrenten 
Krankheiten. 

Die Storbefälle an Lungenschwindsucht belaufen sich auf 1354, davon ent¬ 
fallen die meisten (722) auf die Altersklasse von 30—60 Jahren, also 14,7 bzw. 
22,3 auf 10000 Lebende. Im Verhältnis zur Gesamtsterblichkeit beträgt die Sterb¬ 
lichkeit an Schwindsucht 10,3 pCt. Besonders betroffen sind die schwer arbeitenden 
Berufsklassen und die Stände, deren Einkommen 900M nicht übersteigt, wie Frauen 
und Witwen 334 Fälle, Arbeiter 138 Fälle, Seeleute, Fischer 42 Fälle. Von den 
an Schwindsucht Verstorbenen starben etwa die Hälfte (51,8 pCt.) in Anstalten. 

Die Zahl der Desinfektionen nach Schwindsuchtstodesfällen betrug fast ein 
Drittel sämtlicher Wohnungsdesinfektionen. 

Die Sterblichkeit an Krebs belief sich auf 970 Fälle = 10,5 auf 10000 
Einwohner. Bei weitem am häufigsten waren die Verdauungsorgane befallen, 
nämlich die Speiseröhre mit 77, Magen mit 315, Darm und Bauchfell mit 146, 
Leber und Gallenblase mit 66 und Bauchspeicheldrüse mit 12 Fällen. Das zweit¬ 
grösste Kontingent stellten die weiblichen Geschlechtsorgane, welche in 190 Fällen 
ergriffen waren. Von den 970 Verstorbenen stand etwa die Hälfte (496) in einem 
Alter von 30—60 Jahren. 

Freiwillig aus dem Leben schieden 326, also 3,5 auf 10000 Lebende, davon 
127 durch Erhängen, 90 durch Erschiessen, 53 durch Ertränken und 33 durch 
Vergiftung. Bei letzterer Selbstmordart war 8mal Lysol, je 4mal Kleesalz und 
Veronal, 3mal Kohlenoxyd, je 2mal Zyankali und Oxalsäure, je einmal arsenige 
Säure, Chloralhydrat, Kreolin, Ferrozyankali, Karbol, Opium, Schweinfurter Grün 
und Sublimat angewandt worden. 

Durch fremde Hand und durch Unglücksfall kamen insgesamt 511 Menschen 
= 5,5 auf 10000 Lebende um. 

Von übertragbaren Krankheiten wurden 8 [l 1 )] Erkrankungen an Pocken 
gemeldet, welche sämtlich vom Ausland, davon 6 aus Russland, eingeschleppt 
waren, an Scharlach 1355 (50), Diphtherie 1546 (108), Keuchhusten 809 (117), 
Genickstarre 92 (68), Influenza 507 (116), Milzbrand 12 (3), Lepra 7, Trachom 186, 
Typhus 231 (25). Das grösste Kontingent an Typhuskranken stellten die Seeleute 
und Fischer mit 89 Fällen. Von den 231 gemeldeten Typhusfällen waren 104 von 
auswärts eingeschleppt, 53 kamen von See krank an, aus der Umgegend wurden 6 
den Krankenhäusern zugewiesen, auf Wanderschaft, Reisen hatten sich 27 infiziert, 
unter den Auswanderern befanden sich 3 und schliesslich 15 Binnenschiffer, welche 
von Oesterreich und Orten der Oberelbe kamen. 175 Typhuskranke (75 pCt. aller 
Fälle) wurden in Hamburger Krankenhäusern behandelt, davon starben 21. Die 
höchste Frequenz fiel in die Monate Juli bis November mit durchschnittlich 22 (4) 
Kranken. Die Altersklasse von 15—30 Jahren mit 169 (13) Kranken war die am 
meisten betroffene. 

Mit Rattenpest an Bord liefen 10 Dampfer in den Hafen von Hamburg bzw. 
in die Elbmündung ein. Einer von diesen, der „Wharfedale“, brachte auch einen 
Fall von Menschenpest mit. Die Behandlung dieser Schiffe war dieselbe wie in 
den früheren Jahren, doch wurde dieBesatzung des Wharfedale im Quarantänelazarett 

1) Die eingeklammerten Zahlen bedeuten die Sterbefälle an den betreffenden 
Krankheiten. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


205 


zu Groden zur Beobachtung untergebracht und das Schiff selbst mit der üblichen 
Kohlenoxydmischung in allen seinen Teilen ausgeräuchert. Bei der Untersuchung des 
Erkrankten (eines Laskaren) fand sich eine kleine schmerzhafte Drüse in der linken 
Leistengegend und eine solche in der linken Achselhöhle bei einer Temperatur 
von 39°. Nachdem nach einigen Tagen die Drüsenschwellung zugenommen hatte, 
wurden aus der Leistendrüse einige Tropfen Flüssigkeit aspiriert und auf Platten 
gegeben. Es entwickelten sich einige Kolonien, welche Pestkolonien glichen. Ein 
Agglutinationsversuoh 1 : 400 fiel positiv aus. Zur Sicherung der Diagnose wurde 
Blut aus einer Armvene entnommen. Das Serum agglutinierte Pestbakterien in 
der ungewöhnlichen Verdünnung von 1 : 12600, während derselbe Stamm von 
Pestbazillen in Normalserum 1 : 10 nicht agglutiniert wurde. Einige mit dem 
bezeichneten Material angestellte Tierversuche bestätigten die Pestdiagnose. 

Die beiden letzten Hauptabschnitte enthalten nur ziffernmässigo Angaben 
über die Krankenbewegung, Betten, Personal in den Krankenhäusern, Irronanstalten 
und Entbindungsanstalten, sowie über das Medizinalpersonal, welche kaum von 
allgemeinem Interesse sein dürften, infolgedessen wird von ihrer Wiedergabe Ab¬ 
stand genommen. 

Als Anhang ist eine Dienstanweisung für die Schulärzte und eine kurze Kritik 
über die Einführung der schulärztlichen Untersuchungen in den Volksschulen bei¬ 
gefügt, welche sich dahin ausspricht, dass dieselbe einen entschiedenen Fortschritt 
in der Gesundheitspflege des kindlichen Alters bedeutet insofern, als durch die 
den Eltern gegebenen schulärztlichen Ratschläge die erkrankten Kinder in vielen 
Fällen der für sie speziell notwendigen ärztlichen bzw. spezialärztlichen Behandlung 
zugeführt wurden. Kypke-Burchardi-Bitburg. 

Das Stoiermärkische Sanitätswesen im Jahre 1906. Mit Rückblick auf 
die letzten 10 Jahre. Verfasstim Statthalterei-Sanitäts-Departement. Graz 1909. 

Der ausführliche und sehr schöne Bericht lässt deutlich den Einfluss der 
Gesundheitspflege auf die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle erkennen. Die 
Gesamtsterblichkeit zeigt eine ständige Abnahme, ebenso die Säuglingssterblich¬ 
keit, besonders im Vergleich mit früheren Jahrzehnten, und die Sterblichkeit an 
Tuberkulose. Die an Diphtherie ist geringer, was sicher nicht allein auf sorgfältigerer 
Anzeige der Erkrankungsfalle beruht; die Heilserumbehandlung zeigt grosse Er¬ 
folge. Typhus ist besonders eingehend behandelt. Die Blattern sind seit der 
„Förderung Impfung“ so stark zurückgegangen, dass ihnen praktische Bedeutung 
kaum noch zukommt; jedoch lässt das Nachlassen der Zahl der Impfungen für 
spätere Jahre Schlimmes befürchten. Den Schluss bildet die Statistik der Heil¬ 
anstalten, Humanitätsanstalten und die Sanitätspfloge. Kisskalt-Berlin. 

Verwaltungsbericht des Magistrats zu Berlin für das Etatsjahr 1908. 
Nr. 43. Bericht der Deputation für die Kanalisationswerke und Güter Berlins. 

Zusammensetzung und Geschäftseinteilung der Deputation sind nicht anders 
geworden, nur die Bezeichnung derselben ist, wie in dor Ueberschrift angegeben, 
geändert. 

Die Kanalisationswerke sind um die Pumpstation des Radialsystems XI ver¬ 
mehrt worden. Dieselbe unterscheidet sich von den alten Stationen durch die 
Kanalwasseraufbereitungsanlage, in welcher die ungelösten Bestandteile des Ab- 


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206 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


wassers herausgefischt und zerkleinert werden, so dass sie mit den Pumpen weg* 
geschafft werden können. Dadurch soll die teure Abfuhr vermieden werden. 

Die geförderte Abwässermenge betrug 101343160 cbm gegen 103335447 cbm 
im Jahre vorher, d. s. pro Kopf und Tag 130 1 gegen 132 1. Die Kosten betrugen 
pro Kopf 72,3 Pfg. gegen 64,5 Pfg. und für 1 cbm gefördertes Abwasser 1,52 Pfg. 
gegen 1,33 Pfg. 

Da der Wasserverbrauch aus den städtischen Wasserwerken durchschnittlich 
pro Kopf und Tag 85,25 1 betrug, so wurden 44,75 1 unreines Wasser mehr hinaus¬ 
gedrückt als reines in die Stadt gelangte. Dieser Ueberschuss setzt sich aus 
Regenwasser, Brunnenwasser, Küchen- und Klosettabgängen zusammen. 

Die aus den Abwässern abgefangenen festen Rückstände (Sand, Kaffeegrund 
usw.) betrugen insgesamt 6251 cbm, das sind bei einer Bevölkerungsziffer von 
2137 034 Personen pro Kopf 2,93 1. Das Verhältnis der festen Rückstände zur ge¬ 
samten Abwässermenge berechnet sich auf 1 : 16212. 

Die Güter haben sich um 302,5572 ha vermehrt und betrugen am 31. 3. 09 
16266,1834 ha. 

Zur Bekämpfung der Schlickplage sind auf einzelnen Rieselfeldern grössere 
Schieberbassins angelegt, in denen der Schlamm sich ansammeln kann. 

Zur Verbesserung der von den Feldern abfliessenden Drainwässer wurden 
umfangreiche Teich- und Doppelberieselungsanlagen, die sich für diesen Zweck 
besonders bewährt haben, hergestellt. 

Die Verteilung der Abwässer auf den Feldern war bei der Trockenheit des 
Berichtsjahres im allgemeinen nicht sehr schwer, die Reinigung, wie die Analysen 
des städtischen Untersuchungsamtes ergaben, genügend. Die Bewirtschaftung 
dagegen hatte sehr mit der Ungunst der Verhältnisse zu kämpfen. Die vorzüglich 
stehende Ernte wurde durch mehrere Hagelschläge schwer geschädigt. Die folgende 
Dürre machte den Schaden noch grösser, und der im Oktober einsetzende strenge 
Frost zerstörte die letzte Hoffnung auf eine günstige Ernte. Die Hackfrüchte er¬ 
froren zum grössten Teil und die Wiesen konnten nicht so oft geschnitten werden 
wie sonst. Auch die Korbweiden konnten nur zu reduzierten Preisen abgesetzt 
werden. Die Obsternte wurde ebenfalls stark beeinträchtigt. 

Ein Versuch, Arbeitslose auf den Gütern zu beschäftigen, ist nicht sehr er¬ 
mutigend ausgefallen, weil die Leistungen dieser Leute erheblich hinter denen 
landwirtschaftlicher Arbeiter zurückblieben. 

Die anfangs 1908 in Berlin herrschende Scharlachepidemie machte sich auch 
auf den Rieselgütern bemerkbar, jedoch verliefen alle Fälle gutartig. Die Erkran¬ 
kung von 10 Personen an ruhrartigen Erscheinungen veranlasste die Verwaltung, 
die in Betracht kommenden Brunnen, Wohnungen, Nahrungsmittel usw. genau 
untersuchen zu lassen. Ein infektiöser Ursprung der Erkrankung konnte nicht 
nachgewiesen werden, so dass letztere wohl auf unzweckmässiges Verhalten der 
Leute bei dem plötzlichen Witterungswechsel zurückgeführt werden muss. 

Die Trink- und Gebrauchswasserbrunnen sind einer umfassenden Unter¬ 
suchung durch das städtische Untersuchungsamt unterzogen worden, ebenso die 
Drain- und Grabenwässer, die sich durchweg als genügend, z. T. als gut gereinigt 
erwiesen. 

Der Gebrauch der Notauslässe konnte mehr und mehr eingesohränkt werden, 
wodurch die Reinhaltung der Spree sehr gefördert wurde. Thiesing. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


207 


Festschrift zur Eröffnung des Kaiserin Auguste-Viktoriahauses zur 
Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen Reiche. 
Herausgegeben von v. Behr-Pinnow, Czerny, Dietrich, Heubner, 
Hoffmann, Keller, Langstein und Rubner. Verlag von G. Stilke, Berlin. 

Die Festschrift schildert zunächst das Zustandekommen der Stiftung, später 
die bauliche Ausgestaltung des Hauses, die Aufgaben, Organisation und den Betrieb 
der Anstalt, die ja von allem abweicht, was bisher im In- und Auslande existiert. 
Weitere Kapitel behandeln in geistvoller Darstellung das Wichtigste aus dem 
Gebiete: die Geschichte der Säuglingssterblichkeit; Wachstum und Ernährung; 
Säugling und Pflegerin; die künstliche Ernährung; W'esen und Ursachen der 
Säuglingssterblichkeit. Die ersten Autoritäten auf diesem Gebiete haben daran 
mitgoarbeitet. Mögen derartige Festschriften, die wirklich einen bleibenden Wert 
haben, bei solchen Gelegenheiten noch viel erscheinen! Kisskalt-Berlin. 

Die Säuglingssterblichkeit in den deutschen Grosstädten inBeziehung 
zu der Häufigkeit der Geburten seit dem Jahre 1871. Unter Mitwirkung der 
städtischen statistischen Aemter bearbeitet von Dr. med. E. Roesle, Berlin 
1909, Deutscher Verlag für Volksw’ohlfahrt. 

Die Tafel IV zeigt in übersichtlicher Weise die Zahl der in den letzten Jahr¬ 
zehnten Lebendgeborenen und im 1. Lebensjahre gestorbenen Säuglinge von 47 
deutschen Städten. Eine weitere sehr lehrreiche Tafel gibt eine Uebersicht über 
die sozialhygienischen Einrichtungen zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit 
in den deutschen Grosstädten nach dem Stande im Jahre 1908. Verfasser unter¬ 
scheidet folgende Einrichtungen: 1. zur Behandlung von kranken Säuglingen: 
Kliniken, Säuglingsheime, 2. zur Ernährung solcher Säuglinge, welche nicht natür¬ 
lich ernährt werden können: Milchküchen, Speiseanstalten für stillende Mütter, 
3. zur Belehrung über die Pflege und Ernährung der Säuglinge: Beratungs- und 
Fürsorgestellen, 4. zurFörderung des Selbststillens: Stillprämien, Sommerprämien, 
5. zur Fürsorge für uneheliche Säuglinge: Ziehkinderkontrolle, Berufsvormund- 
schaft, Generalvormundscbaft. Bürger-Berlin. 

Die Mütter- und Säuglingsfürsorge. — Kurzgefasstes Handbuch von Dr. 
Gustav Tugendreich. Mit Beiträgen von J. F. Landsberg, Vor¬ 
mundschaftsrichter in Lennep, und Dr. W. Weinberg in Stuttgart. I. Hälfte, 
11. Hälfte, 1. Teil. Stuttgart 1909. F. Enke, 3,20 resp. 3,60 M. 

Ueber die Bedeutung der Säuglingsfürsorge braucht man heutigen Tages 
kein Wort mehr zu verlieren. Speziell die Medizinalbeamten sind oft in dieser An¬ 
gelegenheit um Rat gefragt worden, man wird auch sonst das Bedürfnis empfun¬ 
den haben, sich über die hierher gehörigen Fragen eingehender zu informieren. 
Diesem Bedürfnis kommt das vorliegende Werk in ausgezeichneter Weise entgegen. 
„Säuglingsfürsorge ohne Mutterfürsorge ist Stückwerk“ lautet sein erster Satz, und 
daher ist letzterer ein grösserer Platz als sonst eingeräumt. Zur Behandlung der 
Rechtsstellung von Mutter und Kind hat Verfasser einen juristischen Fachmann ge¬ 
wonnen, für ein weiteres Kapitel einen Statistiker, die es beide verstanden haben, 
den sonst trockenen Stoff in leicht verständlicher und klarerWeise wiederzugeben. 
Dasselbe gilt von den vom Verfasser selbst behandelten Abschnitten, die durch 
seine grossen persönlichen Erfahrungen noch besonders wertvoll sind. Seinem 


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208 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


Untertitol entsprechend hat man von dem Werke keine erschöpfende Darstellung 
des Stoffes zu erwarten; dagegen sind die Literaturverzeichnisse von einer Reich¬ 
haltigkeit, wie man sie sonst nur in umfangreichen Werken findet. Dem Buche 
darf eiu grosser Erfolg wohl mit Sicherheit vorausgesagt werden. 

Kisskalt-Berlin. 

Gesundheitslehre für Frauen. In 8 Vorträgen vonDr.Rob. Sticher, Privat¬ 
dozent und Frauenarzt in Breslau. 

In überaus klarerund wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungführt 
Verf. einem Laienpublikum in einem Cyklus von 8 Vorträgen die einzelnen Phasen 
der Entwickelung des weiblichen Organismus und seiner Pflege vor Augen. Er 
beginnt mit dem Kindesalter und der fortschreitenden Entwickelung des Körpers, 
macht dann die Mutterschaft zum Gegenstand längerer eingehender Betrachtung, 
um mit der Erklärung der Erscheinungen der Fruchtbarkeit, der Unfruchtbarkeit, 
der Nervosität und des Alters zu schliessen. Es liegt im Thema einbegriffen, dass 
nur diejenigen Lehren der Medizin erörtert werden, welche sich speziell auf den 
weiblichen Organismus beziehen. Infolgedessen kann auch eine erschöpfende Be¬ 
lehrung über allgemeine Fragen etwa der Ernährungs- und Bekleidungshygiene 
nicht erwartet werden. Diese werden nur in soweit berührt, als Besonderheiten in 
Bau und Aufgabe gerade des weiblichen Organismus Erweiterungen oder Ein¬ 
schränkungen der allgemeinen Lehren mit sich bringen. 

Dr. Ky pke-Bure har di-Bitburg. 

• 

Dr. Alfred Grotjahn, Berlin: Krankenhauswesen und Heilstätten¬ 
bewegung im Lichte der sozialen Hygiene. Leipzig 1908, Verlag von 
F. Vogel, 405 Ss. Preis 10 M. 

Das Buch gibt uns unter Weglassung aller Einzelheiten ein ausgezeichnetes 
Bild von dem gesamten Krankenhaus- und Anstaltswesen Deutschlands. Verfasser 
zeigt zunächst, dass die Kranken-, Unfall-und Invaliditätsversicherung, das Reichs¬ 
gesetz über den Unterstützungswohnsitz, die Entwickelung der Medizin zu zahl¬ 
reichen Spezialitäten und die steigende Bevorzugung physikalischer Heilmethoden 
in erster Linie die Blüte der Hospitäler und Asyle bedingt haben. Möglichst weit¬ 
gehende Hospitalisierung der akut Kranken, insbesondere der Infektiösen, Asy- 
lierung der chronisch Kranken, wodurch zweifellos der Nationalwohlstand gehoben 
wird, lässt sich nur erreichen, wenn unnötiger Luxus im Bau der Anstalten ver¬ 
mieden wird, und wenn alle Internierten: Rekonvaleszenten, Lungen-, Nerven-, 
Geistes- und Geschlechtskranken, Idioten, Epileptiker, Blinde, Taubstumme und 
Krüppel zu ihrem Unterhalt beitragen, soweit es ohne Schaden für ihreGesundheit 
möglich ist. Verfasser verlangt: Leitung aller Krankenanstalten durch einen Arzt, 
Vermehrung der Oberarztstellen, besseres Pflegepersonal, kleinere Säle. Im 2. Teil 
bespricht er Zweck, Einrichtung und Kosten der einzelnen Kategorien von An¬ 
stalten. Er fordert mit Recht Reservierung der allgemeinen Krankenhäuser für 
Bettlägerige und intensiver Behandlung Bedürftige, möglichst schnelle Unterbringung 
der Rekonvaleszenten in Genesungsheimen, Vermehrung der Lungenheimstätten, 
der Volksheilstätten für Nervenkranke und der Beschäftigungshäuser für Unfall¬ 
verletzte, ferner Unterbringung der Geschlechtskranken in Spezial-Abteilungen 
oder Anstalten, Vermehrung der Säuglings- und Mutterheime, Entfernung der auf 
Kommunal- und Staatskosten untergebrachten Irren aus den Privatanstalten, 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


209 


dauernde Unterbringung krimineller Geisteskranken und Psychopathen in eigenen 
Anstalten, Schul- und Anstaltszwang für blinde und taubstumme Kinder. 

Bürg er-Berlin. 

Taschenbuch der Krankenpflege. Herausgegeben von Geh. Medizinalrat 
Dr. L. Pfeiffer. 5. Auflage. Weimar 1908. Herrn. Böhlau Nachf. 

Das 427 Seiten umfassende Taschenbuch der Krankenpflege für Kranken¬ 
pflegeschulen, für Aerzte und für die Familie zählt unter seinen 39 Bearbeitern 
Namen von hervorragendem wissenschaftlichen Klang, wie Nothnagel-Wien, 
Fürbringer-Berlin, v. Jaksch-Prag, Gärtner-Jena, aber auoh eine grosse 
Reihe von Männern und Frauen der praktischen Erfahrung. Die Darstellung des 
reichen Stoffes ist sehr eingehend, dabei aber übersichtlich gegliedert und grössten¬ 
teils in dem für derartige Unterrichtsbücher üblichen etwas abgerissenen Stil ge¬ 
prägt. Einzelne Kapitel erheben sich über den Lernstoff durch ihren gedanklichen 
Inhalt oder ihren Appell an die Seele der Berufsangehörigen, z. B. das Kapitel: 
Grenzen der Hilfeleistung für die Pflegerinnen, die Ueberausbildung, die Kur¬ 
pfuscherei von Partsch-Breslau. Erwähnenswert ist ferner der von dem Heraus¬ 
geber bearbeitete, ausserordentlich wertvolle Abschnitt: Gesetzliche und sonstige 
Bestimmungon in der Armen-, Almosen- und Dienstbotenfürsorge, in den Arbeiter¬ 
versicherungen, dem Kassenwesen, der Anzeigepflicht hei Verbrechen, die Gesetze 
für ansteckende Krankheiten, über Schutzmassregeln und Arbeitseinschränkungen 
für Kinder, Schwangere usw. in Gewerbebetrieben, über Nahrungsmittelverkehr u. s. f. 
Alles in allem dient das Buch seiner Bestimmung in vorzüglicher Weise. 

Christian-Berlin. 

Schriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt. Heft 4. Die Ernäh¬ 
rungsverhältnisse der Volksschulkinder. Vorbericht und Verhandlungen 
der 3. Konferenz. Berlin 1909. Carl Heymanns Verlag. Preis 3,60 M. 

Die äusserst eingehenden Vorbereitungen und die glückliche Auswahl der 
Redner sichern den Konferenzen der Zentralstelle für Volkswohlfahrt das grösste 
wissenschaftliche Interesse. Besonders gilt dies dann, wenn ein Thema gewählt 
ist, das für die Volksgesundheit von so grosser Bedeutung ist, wie das vorliegende. 
Der Vorbericht, von Kaup verfasst, behandelt den Stand der Schulkinder- 
speisnngen und die Ernährungsverhältnisse der Volksschuljugend im allgemeinen 
nach Fragebogen, die an die einzelnen Städte verschickt worden sind. Es ist ein 
erschütterndes Material, das sich dabei darbietet; wir erfahren unter anderem, dass 
in den Städten mit über 10000 Einwohnern 22000 Schüler im Winter und 36000 
Schüler im Sommer überhaupt kein Frühstück, 179000 Schüler mittags nur einen 
kärglichen kalten Imbiss erhalten. Die Ursachen werden weiter besprochen, ebenso 
die bisher getroffenen Massnahmen zur Abhilfe. — Diese höchst interessanten 
Mitteilungen, die die grössere Hälfte der Schrift einnehmen, werden gefolgt durch 
den Vortrag Rubners. Er behandelt vor allem die physiologische Seite der 
Frage, setzt das Ernährungsminimum für das betreffende Kindesalter fest und 
bringt Ausführungen über die Möglichkeit der Abhilfe. — In der Diskussion 
wurden die Durchführung der Speisung und ihre Schwierigkeiten, ihr Anschluss 
an die Schule gewürdigt, besonders die weitblickenden Schlussfolgerungen Kaups. 

Kisskalt-Berlin. 

Vierteljahreichrift f. ger. Med. n. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 1. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


Im Verlage von J. F. Lehmann in München erscheinen: „Jahreskurse 
für ärztliche Fortbildung in 12 Monatsheften. Systematisch angeordnete, 
illustrierte Lehrvorträge über den jährlichen Wissenszuwachs der gesamten Heil¬ 
kunde 11 . Das Gesamtgebiet der Medizin ist in 12 Teilgebiete eingeteilt. Jedes 
Heft gibt einen Jahresrückblick auf die Fortschritte in einem dieser Teilgebiete, und 
zwar wird in demselben Monat jedes Jahres immer dasselbe Gebiet behandelt. 
Redakteur ist Dr. D. Sarason in Berlin. Das vorliegende 1. Heft (Januar 1910) 
enthält eine Abhandlung über Allgemeine Biologie und Pathologie von Prof. 
Dr. 0. Lu barsch in Düsseldorf. Preis des Jahrganges 16 M. 

Im Verlage von Carl Heymann in Berlin erscheint: „Volksbildungs¬ 
archiv“, Beiträge zur wissenschaftlichen Vertiefung der Volksbil¬ 
dungsbestrebungen. Im Aufträge der Zentralstelle für Volkswohlfahrt 
herausgegeben von Dr. Robert von Erdberg, stellvertretendem Geschäftsführer. 
Das 1. Heft (Oktober 1909) liegt vor. In ihrem ersten Teile sollen die Hefte 
wissenschaftliche Abhandlungen enthalten, in denen das Volksbildungsproblem 
nach allen Seiten hin prinzipiellen Erörterungen unterzogen wird. Der zweite Teil 
soll in umfassender Weise das Material aus der Praxis Zusammentragen und wird 
zu diesem Zweck enthalten: 1. eine Schilderung aller wichtigen in Deutschland — 
später auch im Auslande — bestehenden und der Volksbildung dienenden Vereine 
nach ihrer Organisation, ihren Aufgaben, ihrer Tätigkeit und ihren Erfolgen; 
2. Auszüge aus den jährlich erscheinenden Berichten dieser Organisationen; 3. eine 
Chronik aller bemerkenswerten Ereignisse auf dem Gebiete der Volksbildungs¬ 
bestrebungen; 4. Berichte über alle Kongresse und Vereinsversammlungen; 5. Be¬ 
sprechung von Schriften; 6. eine Bibliographie; 7. in einem Anhänge gesetzliche 
und behördliche Bestimmungen. — Vier Hefte des Archivs, die innerhalb fünf¬ 
viertel Jahren erscheinen werden, sollen je einen Band von mindestens 32 Druck¬ 
bogen bilden. Preis des Bandes 12 M. 


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III. Amtliche Mitteilungen. 


Erlass des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Mcdizinal- 
angelegenheitcn an die Regierungspräsidenten vom 16. März 1910, 
betr. Ratschläge an Aerzte für die Bekämpfung der akuten epidemischen 

Kinderlähmung. (M. 10 455 1.) 

Unter Ueberscndung eines Exemplars der im Kaiserlichen Gesundheitsamte 
ausgearbeiteten „Ratschläge 141 ) werden die Regierungspräsidenten ersucht, soweit 
erforderlich, in geeigneter Weise für die Bekanntgabe der Ratschläge zu sorgen. 

Ratschläge an Aerzte für die Bekämpfung der akuten epidemischen 
Kinderlähmung (Poliomyelitis acuta infantum). 

Bearbeitet im Kaiserlichen Gesundheitsamte. 

Während die zerebrale und spinale Kinderlähmung in Deutschland früher an¬ 
scheinend nur in vereinzelten Fällen beobachtet wurde, ist sie in neuerer Zeit an 
verschiedenen Orten in epidemischer Form aufgetreten. Die dabei gemachten 
Wahrnehmungen bestätigen die Vermutung, dass es sich um eine übertragbare 
Krankheit handelt. Dafür sprechen, abgesehen von der scuchenhaftcn Ausbreitung, 
die Häufung der Fälle in einer und derselben Familie oder Behausung und der 
Umstand, dass bereits mit Erfolg Uebcrtragungsversuchc auf Tiere (Kaninchen und 
Affen) ausgeführt worden sind. Auch sind nicht selten Verschleppungen der 
Krankheit von Person zu Person durch den menschlichen Verkehr beobachtet 
worden. 

Da die Krankheit meist beklagenswerte Folgeerscheinungen in Gestalt von 
andauernden Lähmungen hinterlässt, oder zuweilen selbst mit dem Tode endet, so 
erscheint es geboten, Massnahmen zu ergreifen, um einer gefahrdrohenden Ausbrei¬ 
tung Einhalt zu tun. Allerdings ist der Krankheitserreger noch unbekannt, und es 
fehlen auch sichere Anhaltspunkte darüber, auf welchem Wege er in den mensch" 
liehen Körper cindringt. Jedoch ist zu hoffen, dass unter tätiger Mitwirkung der 
praktischen Aerzte die Kenntnis von dem Wesen der Krankheit und ihrer Vcrbrci- 
tungswcisc sich erweitern wird, und daraus weitere Anregungen für eine möglichst 
wirksame Gestaltung der Bekämpfungsmassnahmen sich ergeben werden. 


1) Die Ratschläge sind bei der Verlagsbuchhandlung von Julius Springer, 
Berlin N. 24, Monbijouplatz 3, erschienen und werden zum Preise von 15 Pf. für 
das Exemplar portofrei abgegeben. Bei Abnahme von 50 Exemplaren tritt eine 
Ermässigung auf 12 Pf., bei Abnahme von 100 Exemplaren eine solche auf 
10 Pf. ein. 

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Amtliche Mitteilungen. 


Da sich dem Arzte bisher verhältnismässig selten die Gelegenheit zur Beob¬ 
achtung der Krankheit geboten hat, ja viele Aerzte überhaupt nicht in der Lage 
waren, die Krankheit aus eigener Anschauung kennen zu lernen, sei im nach¬ 
stehenden kurz zusammengefasst, was sich nach dem gegenwärtigen Stande der 
wissenschaftlichen Forschungen und praktischen Erfahrungen über das Wesen der 
Krankheit und ihre Bekämpfung sagen lässt. 

Die Poliomyelitis befällt hauptsächlich Kinder im zweiten bis vierten Lebens¬ 
jahre, kommt aber mitunter auch im Säuglingsalter und bei Erwachsenen vor; sie 
beginnt meist nach Art einer akuten Infektionskrankheit mit plötzlichem Steigen 
der Körpertemperatur, selbst bis zur Höhe von 40 und 41° (Akutes Stadium), 
Gleichzeitig treten in der Mehrzahl der Fälle Erscheinungen im Bereiche des Magens 
und Darmes auf, die sich in starken Durchfällen, selten in Stuhlverstopfung äussern. 
Manchmal wird auch Erbrechen beobachtet. Bisweilen beginnt die Krankheit unter 
den Erscheinungen einer fieberhaften Halsentzündung. Die Magendarmerscheinungen 
sowie die Halsentzündung sind zuweilen zu gleicher Zeit bei mehreren Personen 
desselben Haushalts zu beobachten. Die erkrankten Kinder zeigen meist wenig 
Esslust, sind ungewöhnlich reizbar und schreien bei der leisesten Berührung. Die 
Wirbelsäule, der Nacken und die Beine sind bei Druck stark schmerzempfindlich. 
In einzelnen Fällen treten Zuckungen im Gesicht oder sogar allgemeine Krämpfe 
auf. Im Anschluss an die mit auffallend starker Schweissabsondcrung einher¬ 
gebenden Allgemeinerscheinungen werden nach wenigen Tagen die für die Polio¬ 
myelitis besonders charakteristischen Lähmungserscheinungen wahrnehmbar (Sta¬ 
dium der Lähmungen). Zu Anfang zeigt sich meist eine Lähmung der Hals¬ 
muskeln, so dass der Kopf haltlos nach der Seite oder nach hinten fällt. Manchmal 
entstehen auch Lähmungen der Rücken- oder Bauchmuskeln und verhindern den 
Kranken, sich aufzurichten und aufrecht zu sitzen. Mitunter sind alle Gliedmassen 
bewegungslos: zuweilen erstreckt sich die Lähmung allein auf die unteren Glied¬ 
massen oder nur auf einen Arm oder ein Bein. Das Bewusstsein bleibt meist, 
selbst in der Zeit der schweren Lähmungserscheinungen, ungetrübt; nur mitunter 
treten Benommenheit verschiedenen Grades sowie Reizerscheinungen und Lähmungen 
irn Gebiete der llirnnervcn (Schielen, Augenzittern, Eacialislähmungen, Schling- und 
Sprechbeschwerden) auf und lassen eine Beteiligung des Gehirns erkennen. 

Fast niemals bleiben die Lähmungen in derjenigen Ausdehnung, die sic beim 
Beginne ersehen lassen, bestehen: vielmehr schränken sie sich nach und nach auf 
bestimmte Muskelgruppen ein, die dann dauernd gelähmt bleiben (Stadium der 
Rückbildung). Am häufigsten bleibt eine Lähmung zurück in einem der beiden 
Beine (besonders im Peroneusgebict), seltener im Arm oder in einzelnen Arm¬ 
muskeln. Zuweilen bleiben beide Beine gelähmt, oder zugleich ein Arm und ein 
Bein, sei es auf derselben Seite, sei es kreuzweise (Stationäres Stadium). Die 
gelähmten Muskeln verfallen allmählich einer schlaffen Atrophie und bieten dann 
ausgesprochene Entartungsreaktion. Die Sehnenreflexe sind aufgehoben, während 
die Hautreflexe erhalten bleiben. Die Hautsensibilität erweist sich als ungestört. 
Tm Laufe der Jahre zeigen die gelähmten Gliedmassen vermindertes Wachstum, 
ihre Knochen bleiben dann wesentlich kürzer als diejenigen auf der anderen 
Körperseite. Häufig sind auch erhebliche Formveränderungen an den Gelenken 
erkennbar. 

Bei manchen Erkrankungsformen treten im Gegensätze zu den geschilderten 


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Amtliche Mitteilungen. 


213 


die fieberhaften Allgemeinerscheinungen in den Vordergrund, während die Läh¬ 
mungen ganz ausbleiben oder rasch zurückgehen. Die Todesfälle im akuten 
Stadium sind meist bedingt durch Atmungslähmung. 

Die Sterblichkeit belief sich bei der im Jahre 1909 im rheinisch-westfälischen 
Industriegebiet beobachteten Epidemie auf etwa 15 vom Hundert der Er¬ 
krankten. 

Bei der Leichenöffnung sieht man regelmässig eine geringe Entzündung 
der weichen Hirnhaut (Leptomeningitis) und mikroskopisch kleine Entzündungsherde 
im Rückenmark (Myelitis disseminata), wobei die Herde in ihrer Anordnung und 
Verbreitung an gewisse Gefässgebiete gebunden sind. Auch in anderen Teilen des 
zentralen Nervensystems (in dem Kleinhirn, der Brücke, dem Grosshirn) trifft man 
gewöhnlich Entzündungsherde, an. Bei den infolge Atmungslähmung tödlich ver¬ 
laufenen Fällen findet man Veränderungen des verlängerten Marks im Atmungs¬ 
zentrum. Im übrigen sind im Dünn- und Dickdarm nicht selten ausgedehnte 
katarrhalische Veränderungen vorhanden; auch findet man mitunter eine Schwellung 
der Peverschen Haufen, der Gekrösdrüsen und der Milz. Ist der Tod erst in dem 
stationären Stadium der Krankheit, Monate oder Jahre nach dem akuten erfolgt, 
so sind deutliche Veränderungen einer oder beider Hälften des Rückenmarks mit 
hochgradiger Schrumpfung der Vorderhörncr und Schwund der motorischen 
Ganglienzellen wahrzunehmen. 

Anzeigeerstattung. In denjenigen Gebieten, wo die Poliomyelitis in ge¬ 
fahrdrohender Weise auftritt, ist neuerdings für diese Krankheit die Anzeigepflicht 
angeordnet worden. Sobald der behandelnde Arzt einen solchen Erkrankungsfall• 
klinisch festgestellt hat, ist er daher verpflichtet, an die zuständige Behörde eine 
Anzeige zu erstatten. Aber auch dort, wo eine solche Anzeigepflicht nicht besteht, 
wird der behandelnde Arzt gut daran tun, unverzüglich der Behörde eine Mitteilung 
zu machen, damit die zur Verhütung der Weiterverbreitung der Krankheit ge¬ 
eigneten amtlichen Massnahmen getroffen werden können. 

Unbeschadet der lediglich dem Ermessen des behandelnden Arztes zu über¬ 
lassenden Massregeln für die Behandlung des Kranken sowie der von den zustän¬ 
digen Behörden zu treffenden polizeilichen Anordnungen kommen für die Verhütung 
der Weiterverbreitung der Krankheit die nachstehenden Massnahmen in Betracht: 

Absonderung des Kranken. Die Kranken sind für die Dauer des akuten 
Stadiums einer Absonderung, soweit sie durchführbar ist, zu unterwerfen. Wenn 
auch der Erreger der Krankheit noch nicht bekannt ist, so ist es doch im Hinblick 
auf die festgestellte Möglichkeit einer Uebertragung und die schweren Folgen der 
Krankheit ein Gebot der Vorsicht, frische Fälle abzusondern. Wo eine wirksame 
Absonderung in der Behausung des Kranken nicht möglich ist, empfiehlt es sich, 
die Ueberführung in ein geeignetes Krankenhaus im Einverständnis mit den An¬ 
gehörigen zu veranlassen. 

Verkehrsbeschränkung für schulpflichtige Personen. Zur Ver¬ 
hütung der Weiterverbreitung empfiehlt es sich auch, jugendliche Personen aus 
Behausungen, in denen eine solche Erkrankung vorgekommen ist, ebenfalls für die 
Dauer des akuten Stadiums von dem Schul- und Unterrichtsbesuche fernzuhalten. 

Desinfektion. Da mit der Möglichkeit gerechnet werden muss, dass der 
Erreger der Krankheit in den Ausscheidungen der Verdauungswege enthalten ist, 
so ist es dringend notwendig, dass wenigstens während des akuten Stadiums eine 


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Amtliche Mitteilungen. 


Desinfektion stattfindet. Diese hat sich auf die Darmentleerungen, das Erbrochene, 
den Nasen- und Rachenschleim, ferner auf den Harn sowie auf solche Gegenstände 
zu erstrecken, die mit diesen Ausscheidungen in Berührung gekommen sind, ins¬ 
besondere auf die Leib- und Bettwäsche. Auch die von den Kranken zuletzt ge¬ 
tragenen Kleidungsstücke sind zu desinfizieren. Die Ausführung der Desinfektion 
erfolgt zweckmässig nach denjenigen Verfahren, welche durch die landesrechtlichen 
Desinfektionsanweisungen allgemein für Infektionskrankheiten vorgeschrieben sind. 


Erlass des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal¬ 
angelegenheiten an die Regierungspräsidenten vom 21. April 1910, 
betr. Die Bekämpfung der Mückenplage. (M. 614II.) 

Folgender vom Direktor des Instituts für Infektionskrankheiten erstattete 
Bericht wird zur geeignet erscheinenden weiteren Veranlassung übersandt: 

Die Bekämpfung der Stechmücken ist von dem Abteilungsleiter am Institut, 
Professor Dr. Schilling, sowohl experimentell im Laboratorium, als auch in der 
Praxis in Angriff genommen worden. 

Für die Vernichtung der Mückenbrut im Wasser, z. B. der zahlreichen Tümpel 
und kleinen Seen in der Umgebung von Berlin kommen das Begicssen mit Pe¬ 
troleum, sowie kostspielige Drainierungsarbeiten nicht in Frage. Dagegen hat 
eine andere Massregel mehr Aussicht auf Erfolg, das ist die Vermehrung der natür¬ 
lichen Feinde der Mückenbrut. Deshalb hat Professor Schilling Versuche gemacht, 
.welche von den in solchen Tümpeln vorkommenden Tieren sich von Mückcnlarven 
nähren. Es hat sich herausgestellt, dass Schwimmkäfer (Dytiscus-, Nepa- und 
Notonccta-Artcn) und Stichlinge (Gastrosteus) die besten Larvenvertilger sind. 
Aber auch die kleinen Wassersalamander (Triton taeniatus) und die Larven der 
Libellen fressen viele Larven. Es ist also zu empfehlen, diese Mückenfeinde zu 
schonen und sic in Tümpel, wo sie nicht Vorkommen, einzusetzen. 

Gerade während des Winters sollte diese Massregel am energischsten be¬ 
trieben werden; denn der Winter, der in der norddeutschen Tiefebene nur vor¬ 
übergehend die Wasserflächen mit Eis bedeckt, tötet die darin enthaltenen Mücken¬ 
larven nicht ab: im März 1910 sind bei Finkenkrug bei Spandau massenhaft 
Larven von Culex zu finden gewesen. 

Die bei weitem für unsere Verhältnisse wirksamste Art, die Mücken zu be¬ 
kämpfen, besteht darin, die überwinternden Moskitos zu vernichten. Mit Winters¬ 
anfang flüchten die Mücken in Keller, Gewächshäuser, Schuppen, Ställe, Remisen 
u. ä. und sitzen dort in einer Art Winterschlaf an Wänden und Decken. Diese 
Mücken (meist Weibchen) können durch den Rauch von gutem reinem Insektenpulver 
bei richtiger Anwendung nicht nur betäubt, sondern auch abgetötet werden. 

Nach diesen Gesichtspunkten hat auf Anregung des Professors Schilling 
der Kommunalverein Westend seit bereits 4 Jahren eine Bekämpfung der Miicken- 
plagc organisiert. Im Verlauf des Winters werden alle Keller usw. mit Insekten¬ 
pulver ausgeräuchert. Im Sommer werden in die Springbrunnen Stichlinge einge¬ 
setzt; alle überflüssigen Wasserbehälter werden beseitigt oder zugedeckt. Es ist 
in der Villenkolonie bereits eine deutliche Abnahme der Mückenplage zu konstatieren 
gewesen. 

Druck von L. Schumacher in Berlin N. 24. 


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I. Gerichtliche Medizin. 


9. 

Aus der Prosektur des Katharinenhospitals in Stuttgart 
(Prosektor: Med.-Rat Dr. Walz). 

Ueber den Entstehungsmechanismus der Leber¬ 
rupturen durch stumpfe Gewalten. 

Von 

Med.-Rat Dr. Walz und Stabsarzt Dr. Holle. 


Von allen inneren Organen ist die Leber am häufigsten der Sitz 
von Rupturen. Bei dem grossen Material des gerichtlich-medizinischen 
Institutes in Wien fand Gei 11 *) in 494 in den Jahren 1878—1897 
beobachteten Fällen von Ruptur innerer Organe durch stumpfe Ge¬ 
walt Ruptur der Leber in 59,9 pCt., der Lungen in 42,3 pCt., der 
Milz in 33 pCt., der Nieren in 21,5 pCt., des Herzens in 18,2 pCt., 
des Darms in 11,1 pCt., des Magens in 7,1 pCt., der Harnblase in 
4,4 pCt., des Pankreas in 4,4 pCt. Geill erklärt die Häufigkeit der 
Leborrupturen durch ihre Lagerung unter Knochenteilen, die leicht 
brechen oder aber dem Trauma nachgeben, während sie andererseits 
den Bewegungen der Leber nicht nachgeben. 

Ueber den Entstehungsmechanismus herrscht nur in wenigen Fällen 
Einmütigkeit der Ansichten. Es ist dies auch natürlich, weil in der 
Regel, namentlich bei Stürzen aus der Höhe u. a., eine genaue Anamnese 
über die Lage des Körpers zum einwirkenden Trauma fehlt und selten 
der Befund an der Leber so eindeutig ist, dass er ohne weiteres auf 
ein bestimmtes Trauma zurückzu führen ist. Zu diesen ganz eindeu¬ 
tigen Befunden gehören nur die Quetschrupturen und die in der Regel 
sternförmigen Platzrupturen, welche unmittelbar am Orte des Traumas, 
oft durch frakturierte Rippenenden oder durch den Rippenbogen oder 
durch plötzliche umschriebene Gewalten, wie Hufschläge, entstehen. 


1) Geill, Vierteljahrsschrift f. ger. Med. 3 F. XVIII. S. 205. 

Vierte^ahrseohrift f. ger. Med. n. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 2. jg 


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216 


Dr. Walz und Dr. Holle, 


Ueber die Entstehung von Längs- und Querrupturen besteht schon 
keine Klarheit mehr, insbesondere über die Entstehung ersterer sind 
einige Theorien aufgestellt worden, ohne dass sie für alle Fälle eine 
befriedigende Erklärung geben würden. 

Von jeher ist den Autoren, welche sich mit den Leberrupturen 
beschäftigt haben, die auffallende Häufigkeit der sagittalen Leber¬ 
risse aufgefallen. Weil 1 ) schreibt: „Von allen Organrupturen sind 
die der Leber am häufigsten. Meist sind es Längsrisse der Konvexität. 
Viel seltener sind Querrisse und dann kommen gewöhnlich mehrere 
kleinere parallel verlaufende vor (Liman, Handbuch II. S. 160).“ 
Casper 2 ) schreibt von den Leberrupturen: „Sie kommen fast in 
allen Fällen nur als Längsrisse, und zwar auf der konvexen Fläche, 
viel seltener auf der unteren, vor, entweder so, dass die Ruptur sich 
im rechten oder linken Lappen befindet, und gewöhnlich den Lappen 
seiner ganzen Länge nach durchtrennt, oder sie erscheinen, wenngleich 
seltener, in beiden Lappen als kleine Längsrisse. Querrisse der Leber 
dagegen sind sehr selten, und dann pflegt nicht ein einziger, bedeu¬ 
tenderer, sondern mehrere einzelne, kleine, parallel neben einander 
liegende Rupturen vorhanden zu sein“. Ogston 3 ) gibt nach Devergie 
als häufigsten Sitz, was sicher ganz falsch ist, die Gegend des linken 
Lappens an; öfters sollen dann nach ihm mehrere Risse in der Rich¬ 
tung von vorn nach hinten oder leicht schräg Vorkommen. Nach 
Strassmann 4 ) zeigen die Leberrisse häufiger einen sagittalen als 
frontalen Verlauf und bevorzugen die konvexe Oberfläche vor der 
konkaven. Nach Geill gehören neben den sagittalen Rupturen in der 
linken Leberfurche auch sagittale Rupturen der mittleren Leberteile, 
welche nicht auf die Stelle des Ligamentum Suspensorium und teres 
beschränkt sind, zu den auffälligen, besonderen Befunden. Er fand 
unter 296 Fällen seines Materials (232 Erwachsene, 64 Kinder), bei 
denen jedoch die Beschreibung nicht immer genau war, 79 mal = 
26,7 pCt. Rupturen mit deutlich sagittalem Verlauf verzeichnet und 
zwar in 21 pCt. der Fälle von Sturz aus der Höhe, 31,7 pCt. von 
Ueberfahren und 29,7 pCt. von Zusammendrücken. Von diesen 
sagittalen Rupturen hatten 45 ihren Sitz an der Grenze zwischen den 

1) Weil in Maschkas Handbuch d. ger. Med. I. 1881. S. 282. 

2) Casper, Handb. d. ger. Med. 11. 18G4. S. 342. 

3) Lectures on medical jurisprudence. London 1878. p. 444, zitiert nach 
Grill, 1. c. p. 230. 

4) Strassmann, Lehrb. d. ger. Med. 1895. S. 396. 


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lieber d. Entstehungsmecbanismus d. Leberrupturen durch stumpfe Gewalten. 217 


Lappen, 20 in der Gallenblasenfurche und 14 an anderen Stellen der 
Mittelpartie der Leber. 

Nach unseren eigenen Erfahrungen über 19 Fälle von Leber¬ 
rupturen, welche wir teils in der Prosektur des Katharinenhospitals 
beobachteten, teils von den Sanitätsämtern des Armeekorps zur Ver¬ 
fügung gestellt erhielten, ist gleichfalls die sagittale Leberruptur auf¬ 
fallend häufig. Sie fand sich 10 mal in diesen Fällen, also bei ca. 
-50 pCt. und zwar einmal unmittelbar am Ligamentum Suspensorium, 
im übrigen stets im rechten Leberlappen. Von diesen 9 Fällen im 
rechten Leberlappen waren drei Sagittalrupturen der Konvexität, eine 
Sagittalruptur der Konvexität mit Querruptur der Unterfläche, zwei 
Sagittalrupturen der Unterfläche allein, zwei Sagittalrupturen von der 
Oberfläche zur Unterfläche übergreifend, eine vollständige Spaltung der 
Leber mitten durch den rechten Leberlappen, eine vollständige 
Spaltung nahe dem Ligamentum Suspensorium. Von diesen sagittalen 
Rupturen waren zwei durch Ueberfahren, drei durch Zusammendrücken, 
drei durch Stösse gegen den Bauch (Hufschlag, Deichselstoss), eine 
durch Herabstürzen entstanden. 

Die übrigen 9 Fälle betrafen 1 Querruptur und 1 sternförmige 
Ruptur, beide an der Konvexität durch Hufschläge entstanden, 
1 Fall mit Querruptur der Oberfläche und Schrägruptur der Unter¬ 
fläche durch Quetschung zwischen Eisenbahnpuffern, 1 Fall mit 
Schrägrupturen an Ober- und Unterfläche nach Auffahren auf einen 
Rain beim Schlittenfahren, 1 Querruptur der Konvexität durch 
Schleudern gegen einen Obstbaum, 1 Querruptur der Oberfläche 
nach Sturz von einem Wall, 1 unregelmässige Ruptur nach Sturz 
vom Pferd, 1 desgleichen nach Sturz von grosser Höhe, 1 Zer¬ 
trümmerung durch Schuss mit Platzpatrone. 

Man hat die Häufigkeit und die Entstehung der sagittalen 
Rupturen auf verschiedene Weise zu erklären versucht. Katayama 1 ) 
hat in der Voraussetzung, dass alle Gewebe und Organe mit Aus¬ 
nahme der Knochen eine bestimmte Spaltbarkeit besitzen, auch das 
Verhalten der Leber gegenüber Stichen mit einem konischen Werk¬ 
zeuge untersucht. Danach ist die Richtung der Schlitzreihen unmittel¬ 
bar am Ligamentum coronarium eine diesem parallel gerichtete, im 
übrigen aber auf der Konvexität des rechten Leberlappens eine quere 
oder schräge. Er glaubt, auch auf Grund von Versuchen an herab- 


1) Katayama, Vierteljahrsschr. f. ger. Med. N. F. XLVI. 1887. S. 1. 

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218 


Dr. Walz und Dr. Holle, 




geworfenen Lebern, dass die Spaltbarkeit der nicht pathologischen 
Leber auf die Entstehung und ihre Richtung einen gewissen Einfluss 
habe. Gei 11 konnte jedoch an seinem Material bei seinen Versuchen 
keine spezifische Rissrichtung der Leber in Uebereinstimmung mit der 
von Katayaraa gefundenen Spaltbarkeit nachweisen. Auch der Eine 
von uns, Holle, welcher Versuche an herabgeworfenen Lebern an¬ 
stellte, kam zu gleichen Resultaten wie Geill. Letzterer glaubt, dass 
diese Spaltbarkeit wohl hauptsächlich für die oberflächlichen Schichten 
der Leber gilt und dass wahrscheinlich das Verhältnis nicht ganz 
dasselbe bleibt, wenn infolge eines stärkeren Traumas die Spaltbarkeit 
der tieferen Schichten mitwirkt. Der Haupteinwand gegen Katayam a 
dürfte jedoch in dem Hinweise darauf bestehen, dass eben sehr häufig 
sagittale Rupturen in der Mitte des rechten Leberlappens Vorkommen, 
wo die erwähnte Spaltrichtung eine entgegengesetzte ist. Letztere 
kann somit nicht für alle Fälle die ihr von Katayäma vindizierte 
Bedeutung besitzen. Ihre Bedeutung dürfte sich im wesentlichen auf 
Stich- und allenfalls Schussverletzungen beschränken. Jedoch können 
hier im Einzelfalle, wenn die Richtung des Stiches oder des Schusses 
nicht senkrecht auf die Leberoberfläche trifft, besondere Verhältnisse 
geschaffen werden. So haben wir folgenden Fall von Schussverletzung 
beobachtet: 

D., 29jäbr. Babnarbeiter. Suicidium durch Revolversohuss in den Bauoh. 
Auf dem Processus xipboideus die zehnpfennigstückgrosse schwärzlich verfärbte 
Schussöffnung. Der schwärzlich verfärbte Schusskanal durchbohrt den Processsus 
xipboideus und bildet eine tangentiale, dicht neben dem Ligamentum Suspensorium 
von dessen Mitte ab im linken Leberlappen bis nach hinten über die hintere Hälfte 
der Konvexität verlaufende sagittale Rinne, die sich immer mehr vertieft; am 
hinteren Leberrand dringt der Schusskanal in die Tiefe und kommt am unteren 
Rand als 4 cm lange Platzwunde zum Vorschein. Gleichzeitig Verletzung des 
Oesophagus, Zwerchfells und der linken Niere. 

In diesem Falle ist natürlich die Richtung der „Ruptur“ rein zu¬ 
fällig eine sagittale, der Spaltbarkeit der Leber entsprechende. 

Weiterhin hat man den Aufhängebändern der Leber einen Teil 
der Rupturen zuschreiben wollen, indem das Ligamentum Suspensorium 
die Konvexitätsrupturen an der Grenze zwischen den Leberlappen, 
das Ligamentum teres die Rupturen in der linken Leberfurche er¬ 
zeugen sollte. Strassmann 1 ) sagt: „Ein Teil der Rupturen (bei 
Sturz aus der Höhe) mag wohl auch keine einfache Quetschung dar- 

1) 1. c. S. 397. 


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Ueber d. Entstehungsmechanismus d. Leberrupturen durch stumpfe Gewalten. 219 

stellen, sondern so zustande kommen, dass die Leber nach dem Auf¬ 
schlagen des Körpers sich noch weiter nach abwärts bewegt und 
nun an ihren Aufhängebändern einreisst.“ Strassmanns Schüler 
Fischer 1 ) geht noch näher auf diese Art der Leberruptur bei Sturz 
aus grosser Höhe ein. Nach ihm ist je nach der Konsistenz der 
Leber und je nach der strafferen oder nachgiebigeren Fixation durch 
das Ligamentum coronarium und Suspensorium die Folge eine ver¬ 
schiedene: Ist das Ligamentum Suspensorium, welches äusserst selten 
reisst, kurz und fest, so werden grosse, sagittal verlaufende Risse in 
seiner nächsten Nähe erfolgen; wird dagegen die Leber stärker an 
ihrem hinteren Rande durch das Ligamentum coronarium gehalten, so 
sollen Querrisse entstehen, die sich in jeder Weise mit Längsrissen 
verbinden können. Fischer gelang es, bei Kaninchen, die er an 
einem 20 m langen Seil herabfallen liess, wobei das Tier in der Luft 
hängen blieb, ohne den Boden zu erreichen, längliche Leberrisse zu 
erzeugen. Tovo 2 ) hat ebenfalls diese Erklärungsweise angenommen. 
Gei 11 dagegen stellt zwar nicht in Abrede, dass dieses Moment eine 
gewisse Rolle spielt, folgert jedoch aus seinen Versuchen an heraus- 
genomraenen Lebern, wobei die sagittalen Rupturen überwogen, dass 
letztere eben deshalb, weil sie auch experimentell an der aus dem 
Körper entfernten Leber erzeugt werden können, nicht nur der be¬ 
sonderen Aufhängung und Lagerung der Leber zugeschrieben werden 
können. Im übrigen beschränkt sich Geill auf diese negative Fest¬ 
stellung und gibt keine weitere Erklärung für das Zustandekommen 
der sagittalen Rupturen. 

Ausser den von Geill erhobenen Bedenken sprechen aber noch 
weitere, unserer Ansicht nach wichtigere Gründe gegen einen Ent¬ 
stehungsmodus im Sinne Strassmanns und Fischers. Weniger 
Wert legen wir zunächst darauf, dass auch bei Sturz aus der Höhe 
auf den Kopf oder die Seiten ebenfalls sagittale Rupturen der Leber 
entstehen können, als auf die Tatsache, dass beim Auffallen mit dem 
Becken nach unten das Ligamentum Suspensorium überhaupt nicht im 
Sinne Strassmanns angespannt wird. Schon in den älteren Auf¬ 
lagen des Hyrtlschen Lehrbuches 3 ) finden sich die Sätze: „Das Liga- 

1) W. Fischer, Ueber den Tod darch Sturz aus der Höhe. Dissertation. 
Berlin 1904. 

2) C. Tovo, Ueber den Tod durch Sturz aus der Höhe. Vierteljahrsschrift 
für ger. Med. Bd. XXXV. S. 280. 

3) Hyrtl, Lehrbuch der Anatomie. 13. Aull. S. 635. 


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Dr. Walz und Dr. Holle, 




mentura teres . . . kommt vom Nabel zum vorderen Abschnitt der 
linken Längenfurche herauf und liegt im unteren freien Rande des mit 
grossem Unrecht so genannten Aufhängebandes eingeschlossen. Ich 
sage „mit Unrecht“, da das Ligamentum Suspensorium wegen des ge¬ 
nauen Anschliessens der Leber an die untere Zwerchfellfläche, gar 
nie in eine senkrechte Spannung, wie sie einem Aufhängebande zu¬ 
kommt, versetzt werden kann.“ 

Näher sind die hier in Betracht kommenden Verhältnisse nament¬ 
lich von Hasse 1 ) dargelegt worden, welcher mit der üblichen Vor¬ 
stellung gebrochen hat, dass die Leber ein starres, steifes Organ sei, 
und dargelegt hat, dass sich speziell bei der Atmung die Leberober¬ 
fläche stets der Form des Zwerchfells anpassen muss, da sonst ja ein 
luftleerer Raum zwischen Zwerchfell und Leberoberfläche entstehen 
müsste. 

Die Wirkung des Ligamentum Suspensorium kann somit nur die 
sein, grössere seitliche Verschiebungen zu verhindern, während die 
Leber selbst im wesentlichen, ähnlich dem Kopfe des Femur im Hüft¬ 
gelenk, wo das Ligamentum teres ebenfalls nicht als Aufhängeband 
dient, durch den Luftdruck in der Zwerchfellhöhlung festgehalten wird. 
So lange das Zwerchfell nicht eingerissen ist, oder solange nicht 
zwischen Zwerchfell und Leber Luft oder Flüssigkeit oder der Darm 
sich einschiebt, bleibt die Leber dem Zwerchfell dicht angedrängt. 
Von einer Anspannung des Ligamentes könnte beim Herabfallen dem¬ 
nach nur bei gleichzeitig seitlicher Verschiebung oder bei Verschiebung 
nach vorn an dem Teile des Ligamentes die Rede sein, welcher nicht 
mehr am Zwerchfell, sondern an der vorderen Bauchwand ansetzt, in 
welch letzterem Falle nur der unterste Teil des Leberrandes an der 
Grenze beider Lappen in Mitleidenschaft gezogen würde. Nur mit 
dieser Einschränkung kann dem Ligamentum Suspensorium eine, im 
ganzen wohl geringe Bedeutung für das Zustandekommen von Rup¬ 
turen der Leber zugesprochen werden. 

Damit wird auch die Annahme Fischers hinfällig, dass bei 
Sturz aus der Höhe dann Querrupturen entstehen, wenn die Leber 
bei der Abwärtsbewegung stärker durch das Ligamentum coronarium 
gehalten werde, als durch das Ligamentum Suspensorium. Das Liga- 

1) C. Hasse, Ueber die Bewegungen des Zwerchfells und über den Ein¬ 
fluss derselben auf die Unterleibsorgane. Arch. f. Anat. und Physiol. 1886. Anat. 
Abt. S. 185. — Derselbe, Die Formen des menschlichen Körpers und die Form- 
veränderungen bei der Atmung. Jena 1888. 


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Ueber d. Entstehungsmechanismus d. Leberrupturen durch stumpfe Gewalten. 221 

mentum coronariura kann wohl einreissen, aber einen Einfluss auf die 
Entstehung von Querrupturen kann es nicht haben, weil die Leber 
sich gar nicht unabhängig vom Zwerchfell nach abwärts bewegen kann. 

Auch die Annahme, dass das Ligamentum teres für die Rupturen 
in der linken Leberfurche verantwortlich zu machen ist, wird hin¬ 
fällig, wenn man sich die anatomischen Verhältnisse klar macht. Das 
Ligamentum teres kann nur seinem Verlauf nach, der vom Nabel 
nach oben zur Leber geht, angespannt werden, wenn die Leber sich 
nach oben vom Nabel entfernt, was etwa denkbar wäre, wenn bei 
Sturz aus der Höhe mit dem Kopf voraus die Leber mit dem Zwerch¬ 
fell sich beim Aufschlagen des Körpers weiter dem Kopfe zu bewegt. 
Doch wird selbst dann eine Anspannung kaum eintreten, weil in der 
Regel der Körper nach vorn zusammenklappen wird und dadurch der 
Nabel, d. h. der Ansatz des Ligamentes ebenfalls nach oben, dem 
Processus xiphoideus zu, verschoben wird. Bei Sturz mit den Beinen 
nach unten und Näherung der Leber dem Becken zu beim Auffallen 
muss im Gegenteil das Ligamentum teres zunächst entspannt werden. 
Erst wenn nach Zerreissung des Zwerchfells die Leber noch unter 
den Nabel hinuntersinken würde, Hesse sich hierbei eine Anspannung 
des Ligamentes denken. Durch einen Druck gegen die Lebergegend 
ist eine Anspannung des Ligaments nur dann als Folge denkbar, 
wenn die Ansatzstelle am Nabel einen festen Punkt bilden würde. 
In der Regel wird aber durch stumpfe Gewalten gleichzeitig auch 
die Nabelgegend eingedrückt und eine Anspannung des Ligamentes 
verhindert werden. Immerhin ist denkbar, dass in seltenen Fällen 
durch einen sehr plötzlichen Schlag oder Stoss auf die Lebergegend 
das Ligamentum teres dadurch angespannt wird, dass bei feststehender 
Nabelgegend der Leberansatz des Ligamentes stark der Wirbelsäule 
zu oder nach oben kopfwärts genähert wird und dabei ein teilweises 
Durchschneiden des Ligamentes durch die linke Leberfurche von der 
Unterfläche der Leber aus stattfindet. Stets wird aber im Einzelfalle, 
wie namentlich der weiter unten mitzuteilende Fall von Hess zeigt, 
zu überlegen sein, ob nicht auch eine andere Erklärungsweise möglich 
und wahrscheinlicher ist. Keinenfalls kann es sich um häufige und 
besonders typische Fälle handeln. 

Im ganzen werden wir somit zu dem Schlüsse kommen, dass 
die bisherigen Erklärungsversuche der Entstehung der sagittalen 
Rupturen nicht befriedigend sind. Es wird unsere Aufgabe sein, nach 
weiteren Erklärungsmöglichkeiten für diese, zweifellos in vielen Fällen 


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Dr. Walz und Dr. Holle, 


eine typischo Form darstellenden sagittalen Rupturen zu suchen, da 
zu erwarten ist, dass damit auch ein Licht auf die weniger typischen, 
quer oder schräg verlaufenden, Rupturen gewonnen wird. 

Wenn wir zunächst von der theoretischen Möglichkeit ausgehen, 
dass eine stumpfe, an der Konvexität der Leber ansetzende Gewalt 
dann die Leber in zwei Hälften sagittal trennen kann, wenn die 
Unterfläche der Leber auf einer dem Sagittalschnitt entsprechenden 
Kante aufliegt, diese Kante also das eigentlich schneidende Instrument 
darstellt, und wenn wir uns fragen, ob nicht im Körper ähnliche Ver¬ 
hältnisse vorliegen könnten, so muss uns sofort klar werden, dass 
die Wirbelsäule eine solche Kante darstellt, welche bei einem Druck 
durch stumpfe Gewalt von vorn dann die Leber in zwei Teile durch 
eine sagittal verlaufende Ruptur zu trennen geeignet ist, wenn die 
Wirbelsäule selbst fixiert oder sogar, wie dies z. B. zwischen zwei 
Eisenbahnpuffern möglich ist, noch gegengedrückt ist. Dies Moment 
ist merkwürdigerweise bis jetzt nicht genügend berücksichtigt worden. 
Ich finde nur bei Ko ekel 1 ) eine Andeutung einer solchen Annahme, 
wenn er sagt: „Bisweilen kommt es, bei starker Quetschung des 
Brustbeins gegen die Wirbelsäule, zu förmlicher Abtrennung des linken 
Leberlappens vom rechten.“ Mir erscheint es keinem Zweifel zu 
unterliegen, dass diese Trennung in zwei Hälften durch Kompression 
von vorn gegen die Wirbelsäule eine ganz typische Form der sagittalen 
Leberruptur darstellt. Es ist einleuchtend, dass diese Ruptur, wenn 
der Druck nicht direkt von vorn nach hinten erfolgt, nicht auf die 
Grenze zwischen beiden Lappen beschränkt zu sein braucht, sowie 
dass die Trennung auch eine unvollständige sein kann. Ich glaube, 
dass manche Rupturen, wie auch blosse Quetschungen der Unterfläche 
der Leber auf Kompression gegen die Wirbelsäule zurückzuführen sind. 

Hierher rechne ich z. B. einen von Hess 2 ) erwähnten Fall: 

Bei einem 24jährigen Mann fand sich nach Stoss durch eine Wagendeichsel 
auf den Bauch völlige Trennung beider Leberlappen. Das Ligamentum teres liegt 
in der von unten nach oben ziehenden Wunde im oberen Wundwinkel und man 
hatte den Eindruck, als sei das Lebergewebe von dem Bande durchschnitten. 

Es erscheint unmöglich, dass das Ligamentum teres die ganze 
Leber von unten her durchschnitten hätte, da ein Durchschneiden ja 


1) Kockel in Schmidtmanns Handb. d. gerichtl. Med. 1905. Bd. I. S. 612. 

2) Hess, Zur Lehre von den traumatischen Leberrupturen. Virchows Arch. 
Bd. 121. 


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Ueber d. Entstehungsmechanismus d. Leberrupturen durch stumpfe Gewalten. 223 

nur im vorderen Teile der Leber denkbar wäre. Durch Kompression 
gegen die Wirbelsäule ist dagegen der Fall in einfacher Weise erklärt. 

Hierher gehört auch ein Fall Gei 11s 1 ): 

27jähriger Uann, mit einem schwer beladenen Wagen überfahren. Ruptura 
hepatis. Leber entsprechend der Gallenblasenfurche von vorn nach hinten voll* 
ständig und unregelmässig durchtrennt, die umgebenden Leberpartien stark zer¬ 
trümmert. 

Ferner ein Fall von Lex er 2 ): 

Ein Matrose war dadurch verunglückt, dass er bei dem Zusammenstoss des 
Schleppdampfers, auf dem er sich befand, mit einem anderen Dampfer von dem 
Drahtseile, an welchem die geschleppten Kähne befestigt waren, und das sich 
wegen des plötzlichen Stillstandes des Schleppers über dessen Bordrande hinweg¬ 
spannte, mit grosser Gewalt gegen den Radkasten gepresst wurde. Vollkommene 
Trennung der Leber in ihre beiden Lappen, deren einziger Zusammenhang noch 
durch zwei grössere Lebergefässe gebildet wurde. 

Dann ein Fall Mayers 3 ). 

Stoss vom Kopfe eines Pferdes gegen den Unterleib. Die Leber an ihrer 
konvexen Seite vom hinteren zum vorderen Rande der Länge nach geborsten und 
nur noch nach unten ein wenig zusammenhängend. 

Von unseren eigenen Fällen gehören folgende hierher: 

K. (Katharinenhospital Stuttgart), ca. 30jähr. Fuhrmann wurde zwischen 
einen Wagen und einen Eckpfosten geklemmt. Die Leber ist an ihrer oberen Kuppe 
nahe dem Ligamentum coronarium rupturiert. An der unteren Fläche ist der rechte 
Leberlappen in Ausdehnung von 15 om in sagittaler Richtung zerquetscht, dass 
der eingeführte Finger von der unteren in die obere Ruptur durchdringt. Fraktur 
der I.—VI., X. und XI. rechten Rippe. 

R. (Garnisonlazarett Danzig): Sturz vom Pferd. Das Pferd stürzte dann auf 
den auf den Rücken liegenden Mann, sodass der Rücken des Pferdes auf den Leib 
dos R. zu liegen kam. Ein Sagittalriss durchsetzt den ganzen rechten Leberlappen 
bis zur Umschlagstelle des Peritoneums. 

Es geht aus den mitgeteilten Fällen hervor, dass verschieden¬ 
artige stumpfe Gewalten, die von vorn nach hinten auf die Leber¬ 
gegend wirken, eine sagittal verlaufende, vollkommene oder unvoll¬ 
kommene Spaltung hervorrufen können: dabei zeigt sich, dass 
Werkzeuge, welche, wie das Wagenrad im ersten und das Schiffsseil 
im zweiterwähnten Fälle, obwohl an sich eher geeignet, mehr um¬ 
schriebenen Druck, ähnlich einer Kante, in quer verlaufender Richtung 

1) l.c. S. 236. 

2) Lexer, Berliner klin. Wocbenschr. 1901. S. 1232. 

3) Mayer, Die Wunden der Leber und Gallenblase. München 1872. 


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224 


Dr. Walz und Dr. Holle, 


4 


auszuüben, doch als ausgesprochen stumpfe Gewalt wirken. Es hängt 
diese Wirkung offenbar zunächst mit der Dicke der Bauchdecken zu¬ 
sammen. Je dicker diese sind, um so stumpfer wird die Wirkung 
eines an sich wenig stumpfen Werkzeuges, das bei dünnen Bauch¬ 
decken möglicherweise eine ganz entgegengesetzte Wirkung haben 
würde. Ferner wird die Wirkung davon abhängen, ob das Werkzeug, 
vgl. z. B. das Seil im Falle Lexers auf die unbedeckte Leberober¬ 
fläche oder den knöchernen Thorax wirkt, in welch letzterem Falle 
eine umschriebene Druckwirkung ebenfalls flächenhaft wird. 

Damit sind jedoch die Möglichkeiten für die Entstehung sagittaler 
Rupturen keineswegs erschöpft. Die Tatsache, dass in Geills Ver¬ 
suchen, was sich auch in den Versuchen Holles bestätigt hat, durch 
Herabwerfen von Lebern Sagittalrupturen hervorrufen lassen, und zwar 
an Ober- und Unterfläche, legt den Gedanken eines Vergleiches mit 
anderen herabfallenden Gegenständen nahe. Es ist in der Regel zu 
erwarten, dass der Bruch bei solchen Gegenständen an der schwächsten 
Stelle, z. B. bei einem angesägten Balken an der Sägestelle eintritt, 
gleichgiltig mit welchem Punkte der Balken auftrifft, wenngleich da¬ 
neben noch eine Splitterung an dem Punkte des Auftreffens gleich¬ 
zeitig eintreten kann: direkte und indirekte Ruptur, bzw. Fraktur. 
Nun hat aber die Leber physiologischer Weise zwei solcher schwacher 
Stellen in Gestalt ihrer Furchen an der Unterfläche, die individuell 
verschieden tief einschneiden. Da diese Furchen sagittal verlaufen, 
ist es nicht auffallend, wenn die Leber auch an sich geneigt ist, beim 
Aufprallen in sagittaler Richtung einzureissen. 

Diese physiologisch schwachen Stellen haben aber noch eine 
zweite wichtige Bedeutung, auf welche Walz schon wiederholt auf¬ 
merksam gemacht hat 1 )- Neben der meist grösseren Länge der 
Hebelarme in querer Richtung ist es in erster Linie diese tiefe 
sagittale Furchung der Leber an der Unterfläche, deren 
Verlaufe entsprechend die Leber als in ihrer physiologisch 
schwächsten Stelle sich leichter biegen lässt, als in jeder 
anderen Richtung. Wenn wir an der herausgenommenen Leber 
künstlich eine Ruptur in ähnlicher Weise hervorzurufen suchen, wie 
man etwa einen Stab über dem Knie, oder eine Semmel über den 

1) Walz, Ueber die normale respiratorische Leberbiegung usw. Münch, 
med. Wochenschr. 1900. No. 30. 

Derselbe, Ueber die Beeinflussung der Leber durch das Zwerchfell usw. 
Ebenda 1902. No. 19. 


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Ueber d. Entstehungsmechanismus d.Leberrapturen durch stumpfe Gewalten. 225 

Fingern als Hypomochlion zerbricht, so reicht zwar unsere Kralt in 
der Regel nicht zu einer eigentlichen Ruptur, allein wir überzeugen 
uns sofort, wie ausserordentlich leicht selbst derbe Lebern sich 
um eine sagittale Achse biegen lassen, während eine Biegung in 
querer Richtung nur bei ganz schlaffen Lebern und unvollkommen 
möglich ist. Wird grössere Gewalt angewandt, wird z. B., wie Holle 
versucht hat, die Leber von 8—10 m Höhe derart herabgeworfen, 
dass sie mit der rechten Kante auffällt, so lassen sich hierdurch ohne 
weiteres sagittale Konvexitätsrupturen erzeugen, da bei der Form der 
herausgenommenen Leber, ihrer oben konvexen, unten mehr konkaven 
Fläche bei diesem Vorgang ebenfalls eine Biegung gegen die Unter¬ 
seite um eine sagittale Achse in der Richtung der Furchen stattfindet. 

Die auf diese Weise entstandenen Rupturen lassen sich ohne 
weiteres mit den indirekten Knochenfrakturen vergleichen und können 
geradezu als. Frakturen bezeichnet werden. Man kann ohne weiteres 
annehmen, dass bei diesen Biegungen innerhalb der Leber genau die 
gleichen Veränderungen vor sich gehen, wie bei der Biegung eines 
Stabes oder Balkens. Es findet nämlich nach physikalischen Gesetzen 
an der Stelle des vorhandenen oder ideellen Hypomochlions, d. h. an 
der Leberunterseite in obigen Fällen eine Kompression oder 
Druckwirkung an der entgegengesetzten Seite dagegen (Leber¬ 
oberfläche in obigen Fällen) eine Dilatations- oder Zugwirkung 
und im Innern durch gegenseitige Verschiebung der Schichten eine 
Schub- oder Scheerwirkung statt. Es ist theoretisch zu erwarten, 
dass exzessive Wirkungen dieser Art dreierlei Veränderungen an der 
Leber bei der Biegung um eine sagittale Achse mit den Seitenrändern 
nach unten hervorzurufen imstande sind, nämlich eine Fraktur durch 
Zug an der Konvexität, eine Fraktur durch Kompression, wie 
bei Knocheninfraktionen, an der Unterfläche, und unter Umständen 
eine zentrale Gewebszerreissung im Innern durch Schubwirkung. 
Bei der Biegung mit den Rändern nach oben, der Konvexität zu, 
findet das Umgekehrte statt d. h. die Zugfraktur müsste an der 
Unterfläche, die Kompressionsfraktur an der Oberfläche stattfinden. 

Es fragt sich nun, ob innerhalb des Körpers ähnliche Verhältnisse 
vorliegen können. Von vornherein ist anzunehraen, dass die prall 
mit Blut gefüllte Leber leichter rupturiert, da sie eher einem festen 
Körper ähnlich ist, als die blutarme schlaffe Leichenleber. Wenn wir 
uns denken, dass die Leber von rechts und links z. B. zwischen zwei 
Eisenbahnpuffern> oder beim Ueberfahren in seitlicher Körperlage 


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226 


Dr. Walz und Dr. Holle, 

u. a. stark komprimiert wird, so haben wir die typische Form der 
Biegung der Leber um eine vom hintern zum vordem, bzw. nach der 
Stellung im Leben oberen zum unteren Leberrand verlaufende Achse, 
während, wenn die Kompression von vorn nach hinten wirkt, eher 
eine Biegung um eine quere Achse stattfindet mit Neigung zu querer 
Fraktur der Leber. 

Labei ist nun denkbar, dass auch im Innern der Leber gleich¬ 
zeitig eine Verschiebung im Sinne der genannten „Schub- oder Scheer- 
wirkung“ stattfindet. Man darf annehmen, dass unter Umständen 
schon eine geringo derartige Schubwirkung ein Zerreissen eines Blut¬ 
gefässes zur Folge hat, wobei durch die Blutung die Zerreissung ver- 
grössert wird, oder aber, dass überhaupt die Schubwirkung von vorn¬ 
herein stärker zur Wirkung tritt und eine Gewebsruptur erzeugt, ohne 
dass die Spannung der Oberfläche so gross wird, dass letztere ein- 
reisst, wenngleich beides zusammen häufiger eintreten wird. Die Folgen 
sind die früher als Leberapoplexie bezeichneten zentralen Rupturen 
der Leber. Dies erklärt, dass in den Fällen Geills nur bei zwei 
Erwachsenen die zentrale Ruptur isoliert, in den sechs anderen Fällen 
mit einer Ruptur anderer Art gleichzeitig kombiniert war. 

Auf eine solche Verschiebung im Innern der Leber sind auch die 
von Geill beobachteten beim Herabfallenlassen herausgenommener 
Lebern entstandenen zentralen Rupturen zu beziehen, denn nicht bloss 
durch Biegung ist eine innere Verschiebung denkbar, sondern auch 
Fixierung eines Teils der Leber, während sich der andere Teil der Leber 
weiterbewegt. So ist namentlich denkbar, dass z. B. ein Wagenrad, dass 
die Lebergegend eines auf dem Rücken Liegenden von rechts her 
trifft, die Leber nach links hin zu verschieben bestrebt ist. Dabei 
kann jedoch der hintere Leberabschnitt wegen des Vorspringens der 
Wirbelsäule nicht nachfolgen, er wird also in der Ausbuchtung, welche 
durch die Wirbelsäule und hinteren Rippenabschnitte gebildet wird, 
zurückgehalten, während der nach vorn diese Ausbuchtung über¬ 
ragende Teil der Leber über die Wirbelsäule hin nach links verschoben 
werden kann. Auch hierdurch sind die Bedingungen für das Entstehen 
einer zentralen Ruptur gegeben. 

Die dritte Veränderung bei der Biegung, die Kompression an 
dem Orte des Hypomochlions, äussert sich durch Kompressionsfraktur. 
Da bei Kompression der Lebergegend durch Ueberfahren, durch Eisen¬ 
bahnpuffer usw. das Hypomochlion an der Basis liegt, sind Gewebs- 
rupturen oder eigentlich „Kompressionsfrakturen“ an der Basis zu 


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Ueber d. Entstehangsmechanismus d.Leberropturen durch stumpfe Gewalten. 227 

erwarten. In der Tat sehen wir in nicht seltenen Fällen teils isolierte 
Rupturen an der ßasis, teils kombiniert mit Konvexitätsfrakturen, 
entstehen. Doch ist auch hier noch eine weitere Möglichkeit für die 
Entstehung dieser Basisfrakturen ins Auge zu fassen, nämlich der 
Contrecoup, der unter Umständen, wie die Erfahrung am Gehirn 
zeigt, stärkere Veränderungen an der Basis des Organs verursacht 
als an der dem Trauma nächstliegenden Oberfläche des Organs. Je 
weniger die Därme und der Magen gefüllt sind, um so eher wird ein 
Contrecoup gegen die Wirbelsäule und die Rippen möglich sein. Ein 
Teil der Basisrupturen, in erster Linie diejenigen, welche durch 
plötzlich wirkende Gewalt entstehen, lässt sich auf diese Weise er¬ 
klären. 

Als Beispiel für Biegung durch seitliche Kompression erwähne 
ich folgenden Fall aus dem Katharinenhospital: 

32jähriger Fuhrmann S. kam zwischen 2 Wagen und wurde seitlich ein¬ 
geklemmt. Ein grosser tiefer Riss durohzieht die Konvexität des rechten Leber¬ 
lappens ron vorn nach hinten. Ausserdem zwei sagittale kleine, dem ersten 
parallele Kapselrisse. 

Die Biegung bei Kompression von vorn nach hinten wird 
durch nachstehenden unserer Fälle illustriert: 

Ein Ankuppler kam bei der Arbeit zwischen zwei Puffer. Es fand sich ein 
6 cm langer Querriss am rechten Leberlappen, ebenso einer schräg von aussen 
nach innen zur Mitte des unteren Randes des rechten Leberlappens verlaufend. 
Gleichzeitig Qnerbruch des Brustbeins in der Höhe des 2. und 3. Ripponansatzes 
und Fraktur der 5. und 6. linken Rippe. 

Die mehrfachen Frakturen der Konvexität können auf ver¬ 
schiedene Weise erklärt werden. An sich ist diese, wie überhaupt 
bei jedem gebogenen Gegenstände, als möglich denkbar. Speziell 
aber der Vergleich mit einem gebogenen Stabe oder Knochen zeigt, 
dass letztere häufig nicht an der dem Hypomochlion direkt gegen¬ 
überliegenden Teile brechen, sondern dass ein Keil ausgesprengt 
wird, dem, wenn die Fraktur vollkommen ist, zwei Rissstellen ent¬ 
sprechen. Bei sagittalen Rupturen der Leber kommt dann noch 
in Betracht, dass die Leber zwei physiologisch schwache Stellen in 
ihren Furchen besitzt, deren jede einer Fraktur entsprechen kann. 

Es fragt sich nun, ob nicht auch eine Biegung der Leber 
mit dem Hypomochlion an der Konvexität intra vitam mög¬ 
lich ist. Wir glauben folgenden Fall in dieser Weise auffassen zu 
müssen: 


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228 


Dr. Walz und Dr. Holle, 

Ein Ulan (Garnisonlazarett Ludwigsburg) erhielt einen Hufschlag gegen die 
rechte untere Brustgegend. An der Oberseite des rechten Leberlappens fand sich 
ein (nicht näher beschriebener) 10 cm langer Riss, an der Unterseite eine 2 cm 
lange sagittale Ruptur dicht neben der Gallenblase. 

Man könnte letzteren Riss als Contrecoupwirkung auffassen, 
doch erscheint uns, weil der Sitz des Risses dem am weitesten von 
der knöchernen hinteren Thoraxwand entfernten Leberteil entspricht, 
die Auffassung wahrscheinlicher, dass es sich um eine forcierte 
Biegung der Leber nach unten handelt, wobei an der Unterseite eine 
indirekte Zerreissung, an der Stelle des Hypomochlions entsprechend 
dem Schlag des Hufes gleichzeitig eine direkte Ruptur an der Kon¬ 
vexität entstand. 

Eine weitere Möglichkeit für die Entstehung einer Biegung der 
Leber nach unten, mit dem Hypomochlion an der Konvexität, ist 
beim Herabstürzen gegeben, welches seiner komplizierten Verhält¬ 
nisse halber ohnedies eine gesonderte Besprechung verlangt. 

Wenn ein menschlicher Körper herabstürzt, so werden die Folgen 
für die Leber zunächst von der Höhe des Falles abhängen, da hier¬ 
durch die Stärke der Gewalt bedingt ist, sodann von der Stellung 
des Körpers beim Auffallen. Beim Fall mit dem Becken nach unten 
hat die Leber das Bestreben, mit dem Zwerchfell sich nach dem 
Aufschlagen noch mehr dem Becken zu, beim Fall mit dem Kopf 
.nach unten umgekehrt in die Brusthöhle hinein sich weiter zu be¬ 
wegen. Beim Fall auf die Seite, den Rücken oder den Bauch 
kommt, vergleichbar dem Fallenlassen der herausgenommenen Leber 
eine Biegung um die entsprechende Achse in Frage. Es sind aber 
noch weitere Begleitumstände, welche die Verhältnisse komplizieren: 
durch das Zusammenklappen des Körpers wird die Leber infolge 
Verkleinerung der Bauchhöhle in den Thorax hineingetrieben, während 
andererseits, wenn beim Aufschlagen der Thorax komprimiert wird, 
die Lunge bis zum Platzen mitkomprimiert und dadurch die Leber 
mit Gewalt in den Bauch hineingedrückt wird, nämlich wenn die 
Luft nicht durch die Stimmritze entweichen kann. Im wesentlichen 
w’erden die Folgen des Sturzes von dieser Möglichkeit des Entweichens 
der Luft durch die Stimmritze abhängen. Wird die Lunge mit 
enormer Gewalt bei geschlossener Stimmritze wie eine Blase bis zur 
Möglichkeit des Platzens gespannt, was um so wirkungsvoller sein 
wird, je grösser die Lunge ist und je mehr sie mit Luft gefüllt, 
d. h. im Inspirationszustand ist, so wird das Zwerchfell mit Vehemenz, 


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Ueber d. Entstehungsmechanismus <L Leberrupturen durch stumpfe Gewalten. 229 


oft bis zum Zerreissen, nach unten gedrängt. Die Leberoberfläche 
muss aber diese Bewegung genau mitmachen, solange Lunge mit 
Zwerchfell nicht zerrissen ist. Die Konvexität der Leber muss sich 
also vermindern, d. h. es muss eine Biegung um ein an der 
Konvexität gelegenes Hypomochlion stattfinden, und zwar wird 
sich die Leber um diejenige Achse biegen, in der die Biegung am 
leichtesten möglich ist, d. h. in der Richtung der von Walz auf- 
gestellten „physiologisch schwächsten Stelle“ entsprechend den Furchen 
der Unterfläche, also in sagittaler Richtung. Wir haben demnach als 
Folge ein Reissen an der Unterfläche der Leber, eine Kom¬ 
pression an der Oberfläche zu erwarten. Unterstützt kann dies 
werden durch das Bestreben der Leber beim Fall mit dem Becken 
nach unten noch weiter nach abwärts sich zu bewegen. 

Das Umgekehrte ist der Fall, wenn die Luft durch die Stimm¬ 
ritze entweicht und insbesondere durch das Zusammenklappen des 
Körpers die Leber mit Wucht in die Brusthöhle hineingetrieben wird, 
wobei die Kompression des Thorax noch weiterhin im Sinne einer 
Biegung der Leber wirkt. In diesem Falle ist Risswirkung an der 
Konvexität, Kompression an der Unterfläche der Leber zu erwarten, 
und zwar ebenfalls durch Biegung um eine sagittale Achse, der 
physiologisch schwächsten Stelle der Leber entsprechend. Also die 
gleiche Ursache und zwei vollständig entgegengesetzte Wirkungen. 
Eingefügt möge hier werden, dass eine ähnliche Wirkung wie im 
vorliegenden Falle, Hineinpressen der Leber in den Thoraxraum mit 
biegender Wirkung, von Walz 1 ) auch bei den Schultzeschen 
Schwingungen und insbesondere bei der Wendung des Kindes als 
möglich angenommen wird. 

Aus den bisherigen Ausführungen geht hervor, dass bei Ent¬ 
stehung von Leberrupturen und speziell bei den sagittalen Rupturen 
verschiedene Gewalten die gleiche Wirkung und andererseits ein und 
derselbe Vorgang, wie das Herabstürzen aus der Höhe, ganz ent¬ 
gegengesetzte Wirkungen erzielen können. Die Sachlage kann aber 
im einzelnen Falle durch individuelle physiologische oder pathologische 
Eigentümlichkeiten noch in ausserordentlichem Grade kompliziert 
werden. So zeigt die Erfahrung, dass z. B., wie oben erwähnt, ein 
Hufschlag nicht bloss je nach seiner Stärke, je nachdem er auf die 


1) Walz, K., Ueber Leberrupturen und deren Entstebungsmechanismus 
beim Neugeborenen. Württemberg. Med. Korr.-Bl. 1906. . 


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230 


Dr. Walz and Dr. Holle, 

nur von der weichen Bauchwand oder von den Rippen bedeckte Leber 
wirkt, je nachdem er in senkrechter oder schiefer Richtung trifft, ganz 
verschiedene Wirkung hat, sondern schon die individuell verschiedene 
Dicke der Bauchwand ist von grösstem Einfluss. Die umschriebene 
Gewalt des Hufschlags kann durch sehr dicke Bauchdecken in ihrer 
Einwirkung auf die Leber derart verbreitert werden, dass sie einer 
stumpfen Gewalt gleichkommt und dass statt einer direkten Fraktur 
eine indirekte entsteht. Insbesondere wird aber die individuelle 
Grösse und Beschaffenheit, sowie die Lage der Leber selbst, von 
grösstem Einflüsse sein. Von der Grösse der Leber hängt nicht bloss 
ab, wie gross der von den Rippen nicht bedeckte, direkten Quetschungen 
leichter zugängliche Anteil ist, sondern sie beeinflusst auch die Bieg¬ 
barkeit der Leber. 

Es gelten hier die gleichen physikalischen Gesetze wie für andere 
Körper. Die Physik lehrt uns, dass die zum Abbrechen eines Körpers 
nötige Kraft im geraden Verhältnis zur Breite desselben und zum 
Quadrat seiner Höhe steht, sich dagegen umgekehrt verhält wie seine 
Länge. Wenn wir anführen, dass die Biegbarkeit der Leber ferner 
abhängen muss von der Form der Leber, insbesondere von der Tiefe 
der Furchen ihrer Unterfläche, von ihrer Blutfülle, von ihrer Härte, 
welche durch pathologische Zustände, Verfettung, Cirrhose usw. be¬ 
einflusst wird, wenn wir bedenken, dass kindliche Lebern sich ganz 
anders verhalten als Lebern Erwachsener, dass der Zustand und Füllung, 
sowie gleichzeitige Verletzungen der Nachbarorganc, neben Magen und 
Darm insbesondere die Lunge mit Zwerchfell, die Lage und Form der 
Leber weitgehend beeinflussen, und dass alle möglichen Umstände 
sich kombinieren können, so ergiebt sich ohne weiteres eine derartige 
Fülle von Möglichkeiten, dass es zurzeit ganz unmöglich erscheint, in 
forensischen Fällen aus der Art der Leberverletzung einen sicheren 
Rückschluss auf den Hergang und die Ursache der Verletzung zu 
ziehen. 

Tovo 1 ) sagt bezüglich der Bedeutung der Leberverletzungen für 
die Diagnose des Sturzes aus der Höhe: „Die Leber ist das bei 
allen stumpfen Gewalten am häufigsten beschädigte Eingeweide. . . . 
Ihre Verletzungen sind mannigfacher Art, zum Teil annähernd gleich¬ 
artig bei den verschiedensten traumatischen Einwirkungen, zum Teil 
jedoch mehr eigenartig und nicht ohne differentialdiagnostischen Wert. 


1) 1. c. S. 288. 


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Ueber d. Entstehungsmechanismus d.Leberrupturen durch stumpfe Gewalten. 231 

Zerreissungen des äusseren Randes des rechten Leberlappens finden 
sich z. B. in den Fällen von Lcberverletzung durch Sturz nur in 
0,8 pCt., bei Ueberfahren dagegen in 9 pCt., bei Zusammendrücken in 
7 pCt., bei Schlägen in 20 pCt. Umfangreiche Leberzerreissungen 
zeigten 2 pCt. der durch Sturz erzeugten Leberverletzungen, dagegen 
13pCt. der durch Ueberfahren bewirkten Verletzungen; für Explosion 
und Hiebwunden waren die Zahlen 11 und 10 pCt. Sternbrüche sehen 
wir nur bei Stössen auf beschränkte Abschnitte der Oberfläche; zen¬ 
trale Risse sind sehr selten und nur in 5 pCt. der Verletzungen durch 
Sturz, in 2 pCt. derer durch Ueberfahren, bei anderen Traumengar nicht 
beobachtet worden.“ Wir verkennen zwar den Wert dieser statistischen 
Erhebungen nicht, allein wir erachten ihn nur für einen bedingten. Für 
die forensische Diagnose des Sturzes aus der Höhe, für die eventuelle 
Unterscheidung von Mord oder Selbstmord, können sie nur mit grösster 
Vorsicht und nur im Zusammenhang mit allen anderen etwa vor¬ 
handenen Verletzungen verwendet werden, unter denen stets die 
Knochenverletzungen am meisten geeignet sein werden, den Fall auf¬ 
zuklären. 

Zunächst müssen noch weitere Untersuchungen mit Berücksichti¬ 
gung der von uns gegebenen, zumeist, wie uns wohl bewusst ist, 
mehr oder weniger theoretischen Erwägungen über die Entstehung der 
Leberrupturen angestellt werden. Dabei kommt es nicht auf grosse 
Statistiken an, auch Versuche an Leichen oder Leichenorganen oder 
an Tieren, deren Verhältnisse sich mit den menschlichen gar nicht 
vergleichen lassen, sind nicht ausschlaggebend, sondern die Haupt¬ 
sache ist zunächst, einzelne Fälle durch möglichst genaue Anamnese 
aufzuklären, in der die Stärke der einwirkenden Gewalt, insbesondere 
die Richtung ihrer Einwirkung, beim Herabfallen die Stellung des 
Körpers usw. erhoben wird. Wenn es gelingt, eine Anzahl von Fällen 
genau nach allen Richtungen anamnestisch aufklären und mit dem 
genauen Sektionsbefund vergleichen zu können, so wird dabei ein 
wertvolleres Resultat zu erwarten sein, als bei der grössten Statistik 
über anamnestisch grösstenteils ungenau bekannte Fälle. 

Zusammenfassung. 

Die wesentlichen Ergebnisse unserer Arbeit lassen sich folgender- 
massen zusammenfassen: Die bisherigen Erklärungsversuche der Ent¬ 
stehung der Leberrupturen insbesondere der sagittalen Leberrupturen 
sind nicht befriedigend. Die Spaltbarkeit der Leber (Kitayama) 

Vierteljahrsflchrift f. ger. Med. n. (Jff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 2. jß 


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232 


Dr. Walz und Dr. Holle, 


kommt im wesentlichen nur bei Stich- und allenfalls Schussver¬ 
letzungen in Betracht, da die typischen sagittalen Rupturen der 
Konvexität nicht mit der Spaltbarkeit Zusammentreffen, ebensowenig 
wie die experimentell hervorgerufenen Rupturen, und da die sagittalen, 
der Spaltbarkeit entsprechenden, Rupturen in der Nähe des Ligamentum 
Suspensorium sich auf andere Weise erklären lassen. 

Ebensowenig kommt den Aufhängebändern der Leber die ihr für 
gewisse Fälle, Sturz aus der Höhe, von Strassmann und Fischer 
zugeschriebene Bedeutung zu, weil das Ligamentum Suspensorium, 
welches seinen Namen überhaupt nicht verdient, beim Herabstürzen 
sich gar nicht vom Zwerchfell entfernen kann. Denn die Leber ist, 
wie der Schenkelkopf in der Pfanne, durch den Luftdruck an das 
Zwerchfell fixiert, und wenn die Leber der Schwere nach abwärts 
sinkt, muss das Zwerchfell auch mit nach unten gehen, wofern es 
nicht mit der Lurtge zusammen zerrissen ist. Es kann also das 
Ligamentum Suspensorium im wesentlichen nur durch seitliche Ver¬ 
schiebung der Leber gegen das Zwerchfell angespannt werden. 

Nach unserer Auffassung kann ein Teil der sagittalen Rupturen, 
insbesondere der totalen Durchtrennungen in zwei Hälften und der 
Rupturen der Unterfläche, durch stumpfen Druck von vorn gegen die 
vorspringende Wirbelsäule erklärt werden, wobei letztere das schneidende 
Werkzeug darstellt. Sodann kommt in Betracht, dass die Leber 
durch zwei mehr oder weniger tiefe sagittale Furchen an der Unter¬ 
fläche eingeschnitten ist. Diese Furchen stellen physiologisch schwache 
Stellen dar, deren Bedeutung einmal darin liegt, dass die Leber an 
sich schon beim Herabfallen, etwa wie ein angesägter Balken, an 
dieser schwachen Stelle leicht bricht und ferner darin, dass die Leber 
entsprechend diesen physiologisch schwachen Stellen sich leichter um 
eine sagittale Achse biegen lässt als um eine quere. 

Bei dieser Biegung finden entsprechend physikalischen Gesetzen, 
wie bei dem über dem Knie gebogenen Stabe, dreierlei Wirkungen statt, 
nämlich Kompression an Stelle des — vorhandenen oder ideellen — 
Hypomochlions, Dilatations- oder Zugwirkung an der entgegengesetzten 
Seite und Schub- oder Seheerwirkung im Innern durch gegenseitige 
Verschiebung der Schichten. Auf die Leber angewandt resultiert bei 
forcierter Biegung mit den Rändern nach abwärts unter Vermehrung 
der Konvexität die Möglichkeit einer Ruptur oder man kann geradezu 
sagen Fraktur durch Zug an der Konvexität, einer Kompressions¬ 
fraktur an der Unterfläche und einer zentralen Ruptur durch Schub- 


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Ueber d. Entstehungsmeohanismus d. Leberrupturen durch stumpfe Gewalten. 233 


Wirkung. Typisch ist dies der Fall bei seitlicher Kompression, z. B. 
zwischen zwei Eisenbahnpuffern um eine sagittale Achse, während bei 
Kompression von vorn nach hinten, wobei die Leber viel weniger 
biegbar ist, Biegung um eine quere Achse erfolgt und quere oder 
schräge Fraktur zu erwarten ist. Bei der seltenen zentralen Ruptur 
infolge Schubwirkung genügt vermutlich eine einfache Gefässzerreissung, 
um die Ruptur sekundär zu vergrössern. Beim Leichenversuch 
kann eine zentrale Ruptur auch dann entstehen, wenn die Basis 
der herabgeworfenen Leber am Boden haftet, der obere Teil sich seit¬ 
lich fortbewegt. Intra vitara ist eine solche Verschiebung ebenfalls 
möglich, z. B. wenn ein von rechts kommendes Wagenrad den 
vorderen Teil der Leber nach links über die Wirbelsäule hin ver¬ 
schiebt, während der hintere Teil durch die hintere Thoraxausbuchtung 
fixiert ist. 

Am Orte des Hypomochlions fiudet eine Kompressionsfraktur 
statt, die sich mit der Konvexitätsfraktur kombinieren kann, doch ist 
auch die Möglichkeit der Basisfraktur durch Contrecoup zu berück¬ 
sichtigen. 

Durch Kompression von vorn nach hinten kann, wenn nicht 
Spaltwirkung durch die Wirbelsäule entsteht, Biegung um quere Achse 
erfolgen mit Quer- oder Schrägfrakturen. Mehrfache Frakturen der 
Konvexität lassen sich durch Aussprengung eines Keils — wie beim 
gebrochenen Stab oder Knochen — erklären, oder bei sagittalen Frakturen 
durch das Vorhandensein zweier physiologisch schwacher Stellen in 
Gestalt der beiden Furchen der Leberunterfläche. Als möglich lässt 
sich auch eine Biegung der Leber mit dem Hypomochlion an der 
Konvexität denken, wobei die Verhältnisse gerade umgekehrt werden. 
Besonders ist dies beim Herabfallen denkbar. Beim Herabfallen ist 
je nach der Stellung des Körpers beim Aufschlagen die Wirkung auf 
die Leber ganz verschieden: Geht der Kopf voran, hat die Leber die 
Neigung, sich in den Thorax hineinzubewegen, wobei die Krümmung 
ihrer Oberfläche vermehrt wird, umgekehrt, wenn das Becken voran¬ 
geht, wobei das Zwerchfell und mit ihm die Leberoberflächc sich ab¬ 
flacht. Bei seitlichem Aufschlagen wird Biegungswirkung, abgesehen 
von direkten Quetschungen, zu erwarten sein. Kompliziert werden 
diese Umstände noch durch das Zusammenklappen des Körpers, wo¬ 
bei die Leber in den Thorax hineingetrieben wird, während anderer¬ 
seits bei gleichzeitiger Kompression des Thorax, wenn die Luft nicht 
durch die Stimmritze entweichen kann, die Lunge zum Platzen ge- 

16 * 


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234 Dr. Walz u. Dr. Holle, (Jeber d. Entstehungsmeohanismus d. Leberrupturen. 

spannt wird und das Zwerchfell nach unten gedrängt wird, um so 
mehr, je mehr die Lunge Luft enthält, in Inspiration ist. Durch 
dieses Hineindrängen des Zwerchfells in die Bauchhöhle flacht sich 
dieses ab, die Leberkonvexität muss sich ebenfalls abflachen, d. h. es 
muss eine Biegung erfolgen mit dem Hypomochlion an der Konvexität 
und zwar in der Regel wohl um eine sagittale Achse, weil eben die 
Leber hier leichter biegbar ist. Umgekehrt aber findet eine Biegung 
mit dem Hypomochlion an der Basis statt, wenn die Luft durch die 
Stimmritze entweichen kann, die Leber in den Thorax hineingepresst 
und ihre Krümmung vermehrt wird. 

Aus diesen physikalischen Ueberlegungen geht hervor, dass ver¬ 
schiedene Gewalten gleiche Wirkung — z. B. Leberbasisfraktur durch 
Kompression gegen die Wirbelsäule, durch Contrecoup, durch Kom¬ 
pression infolge Biegung nach unten, durch Risswirkung infolge 
Biegung nach oben — und gleiche Vorgänge, wie das Herabfallen, 
ganz verschiedene Rupturen zu erzeugen geeignet sind. Noch kom¬ 
plizierter aber wird die Sachlage dadurch, dass individuelle physiologische 
und pathologische Verhältnisse, wie Dicke der Bauch wand, Lage, 
Grösse, Form und Beschaffenheit der Leber, Verhalten der Nachbar¬ 
organe, Richtung, Stärke und Art der einwirkenden Gewalt, den 
grössten Einfluss auf die Art der Leberverletzung haben müssen, und 
dass alle möglichen Umstände sich kombinieren können. 

Rückschlüsse aus der Art des Traumas auf die Art der Gewalt 
dürfen daher in forensischer Hinsicht nur mit der allergrössten Vor¬ 
sicht und nie aus der Leberverletzung allein gezogen werden, sondern 
die Begleitumstände und Verletzungen anderer Organe, besonders der 
Knochen müssen den Ausschlag geben. Wichtiger als grosse Statistiken 
sind zur Aufklärung des Mechanismus der Leberrupturen anamnestisch 
und durch Autopsie, unter Berücksichtigung der von uns geschilderten 
physikalischen Verhältnisse, genau erhobene Fälle. 


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10 . 

Aus der experiment. Abteilung des Instituts für Hygiene und 
exp. Therapie zu Marburg (Vorstand: Prof. Dr. Römer). 

Die 

Verwertung der spezifischen Ueberempfindlichkeits- 
Reaktion zur biologischen Eiweissdifferenzierung, mit 
besonderer Berücksichtigung forensischer Zwecke. 

Von 

Berthold Bachrach, Medizinalpraktikant. 

I. Theoretischer Teil. 

Die Entdeckung v. Behrings, dass im Blutserum toxinbehandelter 
Versuchstiere spezifische Antitoxine aultrcten, hat nicht allein zu 
segensreichen praktisch-therapeutischen Konsequenzen geführt, sondern 
bedeutet gleichzeitig die Entdeckung einer grundlegenden neuen bio¬ 
logischen Tatsache, auf der heute die moderne Iramunitätswissenschaft 
zum grossen Teil basiert. Das Neue an v. Behrings Endeckung war, 
dass der lebende Organismus auf Einverleibung ihm fremdartiger Stoffe 
mit der Bildung von Gegenstoffen, sogenannten Antikörpern, zu rea¬ 
gieren vermag, die durch nichts anderes charakterisiert sind, als durch 
ihre spezifischen Beziehungen zu dem Stoffe, der sie erzeugte (Antigene). 

Die Folgezeit hat gelehrt, dass die Antitoxinbildung nach Ein¬ 
verleibung bakterieller und anderer Toxine nur ein Spezialfall eines 
allgemeinen biologischen Gesetzes ist, das wir heute etwa folgender- 
massen formulieren können: Der lebende Organismus antwortet auf 
die Einverleibung artfremder Eiweisskörper und eiweissähnlicher Stoffe, 
mögen sie nun primär toxisch sein oder nicht, mit der Bildung spezi¬ 
fischer Gegenstoffe (Antikörper). Diese Antikörper erscheinen im 
Blutserum des behandelten Individuums und sind nach allem, was wir 
bisher wissen, an das genuine Serumeiweiss geknüpft. 

Von solchen Antikörpern haben wir neben den Antitoxinen die so¬ 
genannten Agglutinine kennen gelernt, welche nach Einverleibung von 
Bakterien und anderen artfremden Zellarten entstehen und die Eigen¬ 
schaft besitzen, diese, wenn sie in Flüsr einesigkeit gleichmässig ver- 


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236 


Berthold Bachrach, 


teilt sind, zusammenzuklumpen, zu agglutinieren. In anderen Fällen 
gewinnt das Blutserum spezifisch behandelter Tiere die Eigenschaft, 
die Bakterien, die zur Behandlung gedient haben, aufzulösen. Wir 
sprechen in diesem Falle von Lysinen, wobei zu berücksichtigen ist, 
dass der eigentliche Antikörper nicht für sich allein die Auflösung 
der Bakterien bewirken kann, sondern dazu der Mitwirkung eines 
normalen Bestandteiles des Serums (des sogenannten Komplementes) 
bedarf. Diese lytische Wirkung antikörperhaltiger Sera kann übrigens 
auch durch Behandlung mit anderen arttremden zelligen Elementen, 
z. B. roten Blutkörperchen, Spermatozoen usw. erzielt werden. Wir 
sprechen in diesem Falle von Hämolysinen, oder ganz allgemein von 
Zytolysinen. In neuester Zeit hat man eigentümliche Antikörper 
studiert, die die merkwürdige Eigenschaft haben, die Zellen (rote Blut¬ 
körperchen, Bakterien usw.) so zu beeinflussen, dass sie der Phago¬ 
zytose zugänglich werden. Wir nennen solche Stoffe Tropine und 
sprechen von ßakteriotropinen, Hämotropinen, ja nach der Art der 
Zelle, die durch den spezifischen Antikörper zur Phagozytose prä¬ 
pariert wird. 

Für die gerichtliche Medizin sind Antikörper von Bedeutung ge¬ 
worden, die wir als Präzipitine bezeichnen. Das Serum eines 
Kaninchens, das mit Pferdeserum behandelt ist, gewinnt die Eigen¬ 
schaft im Pferdeserum, und zwar nur in diesem (eventuell noch im 
verwandten Eselserum), eine spezifische Fällung, Präzipitation, zu be¬ 
wirken. Auf diese Weise gelingt es, spezifische Präzipitine für das 
Eiweiss von Pferd—Esel, von Schaf—Rind—Ziege, von Mensch—Affe und 
gegen andere Arten zu gewinnen. Die Bedeutung, die diese spezifischen 
Präzipitine für die forensische Blutdifferenzierung bekommen haben, 
ist bekannt. 

Die alten Methoden zum Nachweis des Blutes für forensische 
Zwecke beschränkten sich im wesentlichen auf die Frage, ob im ver¬ 
dächtigen Falle es sich um Blut handelt oder nicht. Dieser Nachweis 
und die für diesen Zweck ausgearbeiteten Methoden sind bekanntlich 
auch fernerhin unentbehrlich; denn die so empfindliche Präzipitin¬ 
reaktion verrät uns im gegebenen Falle lediglich, ob Eiweiss, stammend 
aus dem oder jenem Organismus, vorhanden ist, vermag aber nicht 
den Nachweis zu führen, dass es sich um Bluteiweiss handelt. Ist 
aber durch die bekannten chemischen Methoden der Nachweis von 
Blut geführt, so besass man früher doch recht unzureichende Mittel, 
um die Artzugohörigkeit des betreffenden Blutes zu erkennen. Hier 


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Verwert, d. spezif. Ueberempfindlichkeits-Reakt. z.biolog. EiweissdifTerenzierg. 237 

setzt die Bedeutung der biologischen Eiweissdifferenzierung ein, wie 
sie mit Hilfe der von Kraus entdeckten Präzipitine vor allem durch 
Uhlenhuth und seine Mitarbeiter zu einer Methode ausgearbeitet 
worden ist, die schon in vielen praktischen Fällen ihre Brauchbarkeit 
in foro erwiesen hat. Ich versage es mir, des genaueren auf die 
Bedeutung dieser Präzipitinreaktion für forensische Zwecke einzugehen 
und verweise auf die umfassende Darstellung des ganzen Problems 
in der neuerdings herausgegebenen Monographie „Anleitung zur Aus¬ 
führung des biologischen Eiweissdifferenzierungsverfahrens“ von Uhlen¬ 
huth und Weidanz. 

Die Antikörperforschung hat uns noch mit einer weiteren Methode 
der biologischen Eiweissdifferenzierung beschenkt. Die spezifische 
Präzipitation ist nämlich nicht die einzige Form, in der wir die 
zwischen Eiweiss und Antieiweiss sich abspielende Reaktion sichtbar 
machen können. Im Anschluss an einen alten und fast vergessenen 
Versuch von Bordet und Gengou hat Moreschi gezeigt, dass bei 
der Vereinigung von Eiweiss und Antieiweiss und zwar selbst dann, 
wenn eine sichtbare Präzipitation ausbleibt, die stattgqhabte Vereinigung 
von Antigen und Antikörper noch sichtbar gemacht werden kann, 
wenn man zum Reaktionsgemisch ein sogenanntes hämolytisches System 
hinzufügt. Unter hämolytischem System verstehen wir bekanntlich 
die Mischung von roten Blutkörperchen -j- spezifisch gegen diese Blut¬ 
körperchen gerichtetem Antikörper (sogenannter hämolytischer Ambo¬ 
zeptor) -j- Komplement. Fügen wir ein solches hämolytisches System 
dem Reaktionsgemisch Eiweiss-Antieiweiss hinzu, so wird das Komple¬ 
ment in die Verbindung Eiweiss-Antieiweiss hineingezogen und die sonst 
beim Zusammenmischen der 3 Komponenten des hämolytischen Systems 
unfehlbar eintretende Hämolyse bleibt aus. Dieses Phänomen der 
Komplementablenkung, oder, wie man auch sagt, der Komplc- 
mentbindung, vermag also in höchst sinnfälliger Weise uns die Tat¬ 
sache einer Eiweiss-Anticiweissreaktion zu demonstrieren, auch in 
Fällen, wo die Präzipitinreaktion versagt. Auch diese Komplement¬ 
bindungsreaktion ist streng spezifisch; sie tritt nur ein, wenn in dem 
Reaktionsgemisch wirklich Eiweiss-Antieiweiss vorhanden ist (fehlende 
Hämolyse) und bleibt aus, wenn Eiweiss-Antieiweiss, d. h. ein kom- 
plementablenkendes Antigen - Antikörpergemisch fehlt (Hämolyse). 
Sinn und Wesen dieser Komplementbindungsreaktion für die biologische 
Eiweissdifferenzierung erhellt vielleicht am besten aus der nach¬ 
folgenden schematischen Zusammenstellung. 


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238 


Berthold Bachrach, 


I. 


Menschenserum + Menschen-Antiscrum 

+ 

Komplement 


+ 

Ambozeptor 

+ 

Blut 


Keine Hämolyse (da das Kom¬ 
plement iu der Reaktion Men¬ 
schenserum - Menschenantiserum 
mitgebunden wird). 


II. 

Menschenserura + normales \ 


Hämolyse (das Komplement steht für das Blut 
zur Verfügung, da sich zwischen Menschen¬ 
serum und normalem Kaninchenserum keine 
Reaktion abspielt). 


III. 


Hämolyse (das Komplement steht für das Blut 
zur Verfügung, da sich zwischen Pferdeserum 
und Menschen-Antiserum keine Reaktion ab¬ 
spielt). 


Diese Kompleraentbindungs-Reaktion haben Neisscr und Sachs 
für forensische Zwecke ausgearbeitet und als Kontrolle und Ergänzung 
der Präzipitinmethode empfohlen. Schon aus der Schilderung des 
Wesens dieser Komplementsbindungsraethode erhellt, dass sie an 
Empfindlichkeit der Präzipitinreaktion überlegen ist, dass sie aber 
andererseits viel umständlicher ist. Diese Umständlichkeit und gerade 
die gelegentlich übergrosse Empfindlichkeit schränkt die praktische 
Bedeutung dieser Komplementbindungsmethode, wie aus Uhlenhuths 
ergänzenden Nachprüfungen hervorgeht, etwas ein. Immerhin wird sie 
in der Hand des mit der Methode genau vertrauten Sachverständigen 


Kauinchenserum 

+ 


Komplement 

+ 

Ambozeptor 

+ 

Blut 


Pferdeserum + Menschen- ' 
Antiserum 

+ 


Komplement 

+ 

Ambozeptor 

+ 

Blut 


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Verwert, d. spezif. Ueberempfmdlichkeits-Reakt. z.biolog. Eiweissdiflerenzierg. 239 

als wünschenswerte Ergänzung für die Präzipitin-Reaktion u. a. auch 
deshalb willkommen sein, weil der Ausfall der Reaktion, zumal für 
das Auge des Laien, sehr viel sinnfälliger ist, als die Präzipitin- 
Reaktion. 

Das Wesen sowohl der Präzipitin-Reaktion als der Komplement- 
bindungs-Reaktion als Mittel des Eiweissnachweises ist mit dem 
Worte „biologisch“ am besten gekennzeichnet; denn nur mit Hilfe des 
Tierkörpers gelingt es uns, das wichtigste Reagens für beide Reak¬ 
tionen, nämlich das spezifische Antieiweiss, zu beschaffen. Die 
neueste und modernste Methode der biologischen Eiweiss¬ 
differenzierung wendet sich nun direkt und ausschliesslich 
an den Tierkörper unter Verzicht auf jeden Reagensglas¬ 
versuch. Die Serumforschung hat nämlich den merkwürdigen Nach¬ 
weis geliefert, dass bestimmte Tierarten, zu denen übrigens auch der 
Mensch gehört, nach Einverleibung artfremder Eiweisstoffe, speziell 
von Serumeiweiss, eine eigenartige Umstimmung ihrer Reaktionsfähig¬ 
keit gegen das gleiche Eiweiss, und zwar nur gegen dieses (eventuell 
noch gegen ein phylogenetisch verwandtes Eiweiss) erfahren. Das 
mit artfremdem Eiweiss behandelte Tier wird gegen eine 
spätere Injektion des gleichen Eiweisses, gegen eine Rein- 
jektion, - in charakteristischer Weise überempfindlich. Als 
Versuchstier par excellence für diese Studien über spezifische Ueber- 
cmpfindlichkeit hat sich das Meerschwein erwiesen; denn nach Ein¬ 
verleibung artfremden Eiweisses wird das Meerschwein mit grosser 
Gesetzmässigkeit überempfindlich gegen eine Rcinjektion, und durch 
geeignete Handhabung dieser Reinjektion kann man einen sehr charak¬ 
teristischen Shock erzeugen. Diese künstlich erzeugbare Eiweissüber- 
crapfindlichkeit des Meerschweinchens ist spezifisch, insofern sie, ge¬ 
eignete Bedingungen vorausgesetzt, nur gilt gegenüber dem Eiweiss, 
das zur Vorbehandlung gedient hat, oder höchstens noch gegenüber 
dem Eiweiss, das von einer phylogenetisch verwandten Tierart stammt. 
Weiterhin hat sich gezeigt, dass es mit relativ geringen Dosen von 
Eiweiss gelingt, Meerschweine überempfindlich zu machen, zu sensibi¬ 
lisieren, so dass alle diese Tatsachen den Gedanken nahe legen, diese 
Ueberempfindlichkeits-Reaktion zur biologischen Eiweissdifferenzierung 
eventuell auch für forensische Zwecke zu verwerten. 

Zur Theorie dieser eigenartigen Ueberempfindlichkeits-Reaktion, 
für die sich neuerdings der von Rieh et vorgeschlagene Namo „Ana¬ 
phylaxie“ sehr einzubürgern beginnt, nur wenige Worte. Auch hier 


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240 


Berthold Bachrach, 


handelt es sich um eine Antigen-Antikörper-Reaktion, um eine Eiweiss- 
Antieiweiss-Reaktion; denn es gelingt mit dem Serum eiweissbehan- 
delter Meerschweine oder Kaninchen die Ueberempfindlichkeit auf ein 
normales, noch nicht behandeltes Meerschweinchen passiv zu über¬ 
tragen. Die Ueberempfindlichkeit ist also geknüpft an die Entstehung 
bzw. das Vorhandensein eines spezifischen Antikörpers, den wir sinn¬ 
gemäss Sensibilisin nennen, ohne aber damit zum Ausdruck bringen 
zu wollen, dass es sich um einen ganz neuartigen Stoff handele, der 
von den Präzipitinen oder komplementbindenden Stoffen verschieden 
sei. Wir betrachten im Gegenteil mit Friedberger und Dörr dieses 
Sensibilisin als identisch sowohl mit dem Präzipitin als mit den kom¬ 
plementbindenden Antikörpern und sehen in der Ueberempfindlichkeits- 
Reaktion nichts anderes als eine Eiweiss-Antieiweiss-Reaktion in vivo. 

Auf die Möglichkeit einer forensischen Verwertung dieser Ueber- 
empfindlichkeits-Reaktion hat zuerst Pfeiffer (Graz) die Aufmerk¬ 
samkeit gelenkt. Er zeigte, dass bei der Reinjektion mit Pferdeeiweiss 
vorbehandelter Meerschweinchen ein charakteristischer Temperatursturz 
eintritt, der ausbleibt bei der Reinjektion anderer Eiweisskörper. 
Deshalb hält Pfeiffer diesen Temperatursturz für ein durchaus cha¬ 
rakteristisches Symptom des LJebcrempfindlichkeitsshocks und betont, 
dass in diesem Symptom eine wirklich objektive und genau messbare 
Erscheinung der Ueberempfindlichkeits-Reaktion gegeben sei. Im Ver¬ 
ein mit Mita hat Pfeiffer neuerdings ganz bestimmte Formeln auf¬ 
stellen können, die zur Berechnung der Stärke des Ueberempfindlich- 
keitsshocks geeignet sind. Ich nehme gleich hier vorweg, dass die 
erste Mitteilung Pfeiffers über den Temperatursturz bei der Ueber¬ 
empfindlichkeits-Reaktion mir erst nach Abschluss meiner Arbeit, 
deren Veröffentlichung sich aus äusseren Gründen verzögerte, zu Ge¬ 
sicht gekommen ist. Infolgedessen ist in den nachher mitzuteilenden 
Experimenten keine Rücksicht auf dieses Symptom genommen worden. 
Ich kann aber an dieser Stelle erwähnen, dass in anderen Ueber- 
empfindlichkeitsstudien, die in der experimentellen Abteilung des 
hygienischen Instituts zu Marburg ausgeführt wurden, der von Pfeiffer 
nachgewiesene Temperatursturz sich als ein wertvolles und zuver¬ 
lässiges Mittel zur Kontrolle des Ueberempfindlichkeitsshocks erwiesen 
hat. Nach Pfeiffer haben Uhlenhuth, Thorasen und Sleeswijk 
auf die Möglichkeit einer Verwertung des Ueberempfindlichkeitsshocks 
hingewiesen und speziell brachte zunächst Thomsen eine ganze Reihe 
experimenteller Belege für die Brauchbarkeit der anaphylaktischen 


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Verwert, d. spezif. Ueberempfindlichkeits-Reakt. z. biolog.Eiweissdifferenzierg. 241 

Reaktion im genannten Sinne; er hielt sich aber lediglich an die all¬ 
gemeinen Gesamtsymptomc der Ueberempfindlichkeits-Reaktion. In 
einer ausführlichen Arbeit haben sodann Uhlenhuth und Händel 
über die forensische Verwertbarkeit der Ueberempfindlichkeits-Reaktion 
berichtet. Sie wiesen nach, dass die Ueberempfindlichkeits-Reaktion 
in quantitativer Hinsicht entschieden der Präzipitin-Reaktion überlegen 
ist. Sie konnten mit gekochtem Fleisch und gekochten Würsten, aus 
denen es nicht mehr möglich war, Extrakte zu gewinnen, die die Prä¬ 
zipitin-Reaktion mit wirksamem Antiserum gaben, gleichwohl Meer¬ 
schweine noch prompt sensibilisieren. Desgleichen gelang es, Meer¬ 
schweine mit mehr als tausenjährigem Mumienmaterial zu sensibilisieren. 
Auch hier war die Präzipitin-Reaktion negativ. Die ausserordentliche 
quantitative Leistungsfähigkeit der Ueberempfindlichkeits-Reaktion er¬ 
hellte auch aus der Tatsache, dass die sicherlich minimalen Mengen 
Eiwciss, die sich im normalen Urin finden, Meerschweine prompt 
gegen das Blutciweiss des Harn liefernden Tieres sensibilisieren. Auch 
mit roher, Oclen und Fetten gelang es, gegen das entsprechende 
Eiweiss zu sensibilisieren. Uhlenhuth und Händel beweisen damit 
also die Verwertbarkeit der Ueberempfindlichkeits-Reaktion in Fällen, 
wo die Präzipitin-Reaktion angesichts der Besonderheit des Materials 
nicht in Frage kommen kann oder aus quantitativen Gründen versagt. 
Hinsichtlich der Differenzierung des Eiweisses verwandter Tierarten, 
z. B. von Mensch—Affe, Pferd—Esel, Schaf—Ziege, leistete die 
Ueberempfindlichkeits-Reaktion im wesentlichen dasselbe, wie die Prä¬ 
zipitin-Reaktion. Merkwürdigerweise konnte das Eiweiss der Maus 
und der Ratte nicht differenziert werden, was mit der Präzipitin-Re¬ 
aktion ganz gut gelingt (Trommsdorff). 

Von Bedeutung ist endlich noch die Angabe Thomsens, dass 
mit reinen, serumfreien Blutkörperchen behandelte Meerschweine nur 
gegen Blutkörperchen bzw. Hämoglobin überempfindlich werden und 
umgekehrt mit hämoglobinfreiem Blutserum behandelte Tiere aus¬ 
schliesslich gegen das betreffende Serum. Wenn sich diese Angaben 
bestätigen, so wäre damit zum erstenmale eine Methode für den 
spezifischen Blutnachweis geschaffen, während ja die biologischen 
Methoden, wie oben erwähnt, bisher nur als Eiweissdifferenzicrungs- 
methoden zu betrachten sind. Nach den Angaben von Pfeiffer 
und Mita scheint es aber, dass die Vorbehandlung mit Hämoglobin 
nicht so spezifisch ist, wie Thomsen vermutet, weil mit Hämoglobin 
vorbehandelte Tiere nicht nur gegen Hämoglobin, sondern auch gegen 


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242 


Berthold Bachrach, 


das entsprechende Serum überempfindlich waren. Uebrigens heben 
Pfeiffer und Mita, entsprechend den Angaben Uhlenhuths und 
Handels die quantitative Ueberlegenheit der Ueberempfindlichkeits- 
reaktion, verglichen mit der Präzipitinreaktion, hervor, indem sie mit 
durch Sonnenlicht, durch Fäulnis und durch Hitze versetzten Blut¬ 
spuren prompt sensibilisieren konnten, dagegen keine Präzipitinreaktion 
mehr erzielten. 

Bei meinen eigenen Untersuchungen über die Bedeutung und 
eventuelle praktische Verwertbarkeit der Eiweissübererapfindlichkeits- 
reaktion hatte ich mir als Ziel gesetzt, eine Methodik zu finden, die 
zunächst hinreichend sichere Ergebnisse gibt in dem Sinne, dass die 
benutzten Tiere tunlichst alle überempfindlich wurden, 
weiterhin die Reinjektionstcchnik der sensibilisierten Tiere so zu 
wählen, dass der Symptomenkomplex ein so eindeutiger ist, 
dass über seine Bewertung kein Zweifel besteht. Ferner 
musste ich gerade in Berücksichtigung forensischer Zwecke mich 
orientieren, ob die Reaktion genügend spezifisch war, endlich 
suchte ich genaue Daten über die quantitative Leistungsfähig¬ 
keit der Reaktion mir zu verschaffen. Die weiteren Fragestellungen 
ergeben sich bei der Schilderung meiner einzelnen Versuchsreihen, 
zu der ich nunmehr übergehen will. 

II. Experimenteller Teil. 

Als Versuchstier benutzte ich ausschliesslich das Meerschwein. 
Nach den in der Literatur vorhandenen Angaben und auf Grund der 
im Institut gewonnenen Erfahrungen ist das Meerschwein bezüglich 
der Sicherheit des Eintrittes der Sensibilisierung und hinsichtlich der 
Deutlichkeit des Symptomenkomplexes bei der Reinjektion allen anderen 
Tieren so überlegen, dass für forensischo Zwecke jedenfalls wir wohl 
kaum mit einem anderen Versuchstier rechnen dürfen. Dazu kommt, 
dass Meerschweine von den üblichen Laboratoriumstieren am leichtesten 
zu halten sind, somit ihrer Verwertbarkeit für forensische Zwecke in 
dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten im Wege stehen. 

Die Meerschweine, die zu meinen Versuchen dienten, stammten 
im wesentlichen aus der eigenen Zucht des Institutes. Ich benutzte 
nur ausgewachsene Tiere von mindestens 300 g Gewicht. Diese 
Vorsichtsm assregel ist deshalb besonders anzuraten, weil, wie 
Rosenau und Anderson, Gay und Southard, Lewis u. a. ge- 


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Verwert, d. spezif. Ueberempfindlichkeits-Reakt. z. biolog. Eiweissdifferenzierg. 243 

zeigt haben, eine spezifische Ueberenopfindlichkeit durch intrauterine 
Uebertragung und Säugung auf die Jungen übergehen kann. Da es 
sich hier um passive Uebertragung der Serumüberempfindlichkeit 
handelt, verschwindet dieselbe aber bald wieder und so können wir 
darauf rechnen, dass ausgewachsene Tiere als nicht mehr über¬ 
empfindlich anzusehen sind, selbst wenn sie von spezifisch behandelten 
Müttern abstammen. Nur eine weitere Vorsichtsmassregel wäre zu 
beachten. Wenn gravide Tiere mit artfremdem Eiweiss behandelt 
werden, ist es nicht auszuschliessen, dass das eingespritzte Eiweiss 
durch die Plazenta hindurch auf die Jungen übergeht und sie aktiv 
sensibilisiert. Eine aktiv erzeugte Ueberempfmdlichkeit des Meer¬ 
schweins hält aber nach allem, was wir bisher wissen, ausserordent¬ 
lich lange, vielleicht für die ganze Lebensdauer des Meerschweinchens 
vor. In solchen Fällen ist also Vorsicht geboten, ich möchte gleich 
eingangs in Uebereinstimmung mit Uhlenhuth und Händel darauf 
hinweisen, dass bei der Auswahl der Meerschweine für die Eiweiss¬ 
differenzierungsversuche, zumal für forensische Zwecke, grosse Vor¬ 
sicht geboten ist und dass man speziell im letzteren Falle nur Tiere 
aus eigener oder ganz einwandfreier, selbst kontrollierter Zucht be¬ 
nutzen sollte. Bei den zahllosen Arbeiten, die zurzeit das Ueber- 
empfindlichkeitsphänomen betreffen, wäre es zumal bei dem in 
Deutschland gelegentlich sich recht fühlbar machenden Meerschwein¬ 
mangel durchaus nicht unmöglich, dass man beim Ankauf frischer 
Meerschweine aus unbekannter Zucht Tiere in die Hände bekommen 
könnte, die bereits mit irgend einem Eiweiss sensibilisiert sind. 

Die erste Injektion der Meerschweine, d. h. die sensibilisierende 
Injektion, habe ich ausschliesslich subkutan ausgeführt. Ich be¬ 
schränkte mich auf diesen Injektionsmodus, weil meines Wissens 
andere Einführungsmethoden kaum wirksamer sind und es mir vor 
allem darauf ankam, eine wirklich praktische Methode zur Anwendung 
zu bringen. 

Die Reinjektion wurde in der Hauptsache intravenös vor¬ 
genommen, nur ein kleiner Bruchteil der Tiere wurde direkt ins Herz 
injiziert. Für forensische Zwecke möchte ich ausschliesslich der 
intravenösen Reinjektion das Wort reden. Denn selbst bei grösster 
Uebung kann es Vorkommen, dass beim Versuch der Herzinjektion 
die Flüssigkeit nicht direkt ins Blut kommt. Das ist ausgeschlossen 
bei Freilegung der Jugularis und direkter Injektion in das prall ge¬ 
füllte Lumen des Gefässes. Ich ging so vor, dass ich nach einem 


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244 


Berthold Bacbraob, 


3—37 2 cm langen, in den seitlichen Halspartien ausgeführten Längs¬ 
schnitt mir die Yena jugularis stumpf herauspräparierte und in mög¬ 
lichster Länge (3 cm) freilegte. Um das periphere und zentrale Ende 
der Yene wurde sodann ein doppelter Faden gelegt (aber nicht zu¬ 
geschnürt) und gleichzeitig mit einer kleinen Klemme das zentrale 
Ende der Vene abgeklemmt. Hierauf wird mit dem peripheren Faden 
die Vene abgeschnürt, dann die feine Kanüle einer 1 cm fassenden 
Lu ersehen Spritze in das prall gefüllte Lumen der Vene eingestochen 
und ein Stück weit zentralwärts eingeführt. Nach Abnehmen der 
Zentralklemme wird langsam und gleichmässig der Inhalt der Spritze 
injiziert, dann sofort die Zentralligatur angelegt und nun das Meer¬ 
schwein tunlichst rasch von dem Operationsbrett, an dem es an¬ 
geschnallt war, losgeschnallt und während der nächsten Stunde unter 
sorgfältiger Registrierung der Symptome beobachtet. 

Der Symptomenkomplex bei überempfindlich gewordenen Meer¬ 
schweinen, der sich im Anschluss an die Reinjektion entwickelt, kann 
je nach der Stärke der Empfindlichkeit der Tiere, ausserordentlich 
wechselnd sein. Bei ganz intensiver Ueberempfindlichkeit beginnt 
bereits wenige Sekunden nach der Reinjektion eine eigentümliche 
Unruhe des Tieres, an die sich häufig blitzartig schwere Krämpfe, die 
im Handumdrehen zum Tode führen, anschliessen. Manchmal ver¬ 
zögert sich der Eintritt des Todes, indem sich die Symptome mehr 
allmählich entwickeln. Dabei werden folgende Erscheinungen be¬ 
obachtet: Die Meerschweine kratzen sich auffallend häufig mit den 
Hinterbeinen hinter den Ohren, entschieden häufiger als es normale 
Tiere tun; ferner zeigen sie krampfartige Kaubewegungen des Unter¬ 
kiefers, die wiederum häufiger und entschieden auch etwas anders¬ 
artiger sind, wie das Kauen der normalen Meerschweine. Ich möchte 
aber bemerken, dass auf diese beiden Symptome allein meines Er¬ 
achtens die Diagnose Ueberempfindlichkeitsshock nicht gestellt werden 
kann, weil sie dazu zu unsicher sind. Charakteristischer sind schon 
die Brech- und Würgbewegungen, die sich bei den Tieren unter einem 
eigentümlichen krächzenden Geräusch verraten. Sind diese drei ge¬ 
nannten Symptome bei einem Tier allein beobachtet worden, so habe 
ich sie im folgenden als leichte Symptome gekennzeichnet. Bei 
anderen Tieren zeigen sich ausser den eben genannten Erscheinungen 
starke Dyspnoe, ferner Lähmungen, insbesondere der hinteren 
Extremitäten, sodass beim Marschieren das Tier die hinteren Extremitäten 
hinter sich herschleift, die Tiere fallen gelegentlich zur Seite um und 


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Verwert, d. spezif.Ueberempfindlichkeits-Reakt. z. biolog. EiweissdiiTerenzierg. 245 


wenn sie sich nachher erholen, sitzen sie zusammengekauert und 
zitternd mit gesträubtem Fell manchmal bis zu 2 Stunden und noch 
länger da. Ich habe diese Symptome im folgenden als schwere 
Symptome gekennzeichnet. Als schwerste Symptome endlich 
habe ich die Fälle bezeichnet, in denen es neben den eben genannten 
Erscheinungen zu schweren Krämpfen kam, sodass das Tier geradezu 
agonal erschien, schliesslich sich aber doch wieder erholte. Der 
schwerste Erfolg der Reaktion ist natürlich der in einer x / 2 bis 10 
Minuten eintretende Tod des Tieres. (Wie bereits schon erwähnt, 
habe ich in meinen Versuchen auf den von Pfeiffer beschriebenen 
Temperatursturz nicht geachtet.) 

Ich gehe nunmehr zur Schilderung der einzelnen Versuche über. 

Versuchsreihe I. 

Quantitative Leistungsfähigkeit des Ueberempfindlichkeits- 
versuches und geeignetster Zeitpunkt für die Reinjektion. 

Im Versuch I wollte ich mich zunächst über die quantitative 
Leistungsfähigkeit des Ueberempfindlichkeitsversuches und ferner 
über den geeignetsten Zeitpunkt für die Reinjektion orientieren. 
Die Sensibilisierung der in der nachfolgenden Tabelle verzeichneten 
Meerschweine wurde am 20. 7. 09 vorgenommen. Das Zeitintervall 
zwischen Erstinjektion und Reinjektion ist in der Tabelle verzeichnet. 
Ich benutzte zur Erstinjektion ausschliesslich Menschenserum in 
fallenden Dosen von 0,01 bis 0,00000001 ccm. Die Reinjektion 
wurde intravenös ausgeführt mit 0,4 bis 0,5 ccm inaktivierten 
(V 2 Stunde auf 56° erhitzten) Menschenserums. Das Menschenserum 
wurde mir von der hiesigen Frauenklinik freundlichst zur Verfügung 
gestellt. 

Umstehende Versuche lehren, dass das Zeitintervall von 29 
Tagen, also ungefähr 4 Wochen, wohl günstiger ist, als das Zeit¬ 
intervall von 42 Tagen. Ich lasse es dahingestellt, ob nicht event. 
noch ein früherer Zeitpunkt für die Reinjektion angezcigt ist. Auf 
Grund der Angaben in der Literatur aber ist für forensische Zwecke 
der Zeitraum von 4 Wochen deshalb vielleicht noch am empfehlens¬ 
wertesten, weil es sich gelegentlich um recht geringe Eiweissmengen 
handeln kann, die z. B. mit Blutfleckenextrakten zur Injektion kommen, 
und insbesondere nach Dörrs Angaben wird die Ueberempfindliehkeit 
mit der Länge des Zwischenraums zwischen Erstinjektion und Re¬ 
injektion deutlicher. Was mein Versuch aber lehrt, ist, dass ein 


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246 


Berthold Bachrach, 
Tabelle 1. 




Zeitintervall 

Dosis der 


Meer¬ 

schwein 

Nr. 

Dosis der Erst¬ 
injektion 

zwischen Erst¬ 
injektion und 

intravenösen 

Reinjektion 

Resultat 

ccm 

Reinjektion 

ccm 


8087 

0,01 

29 Tage 

0,5 

t nach 5 Minuten 

8101 

0,01 

29 „ 

0.5 

Schwere Symptome 

8123 

0,001 

29 „ 

0,5 

do. 

8102 

0,001 

29 „ 

0,5 

Leichte Symptome 

8110 

0,0001 

29 „ 

0,5 

f nach 2 Minuten 

8125 

0,0001 

29 „ 

0,5 

Schwere Symptome 

80G3 

0,00001 

29 „ 

0,5 

Leichte Symptome 

8088 

0,00001 

29 „ 

0,5 

Schwere Symptome 

8091 

0,000001 

29 „ 

0,5 

do. 

8096 

0,000001 

29 „ 

0,5 

Leichte Symptome 

8095 

0.0000001 

29 „ 

0,5 

do. ? 

8084 

0,0000001 

29 „ 

0,5 

Bleibt munter 

8058 

0,00000001 

29 „ 

0,5 

do. 

8136 

8035 

, | Kontrollen 


0,5 

Keine Symptome 
do. 


Tabelle 2. 


Meer¬ 

schwein 

Nr. 


Zeitintervall 

Dosis der 


Dosis der Erst¬ 
injektion 

zwischen Erst¬ 
injektion und 

intravenösen 

Reinjektion 

Resultat 

ccm 

Reinjektion 

ccm 


8122 

0,01 

42 Tage 

0,4 

Schwere Symptome 

8037 

0,001 

42 „ 

0,4 

t nach 6 Minuten 

8109 

0,0001 

42 „ 

0,4 

Schwere Symptome 

8107 

0,00001 

42 „ 

0,4 

Keine Symptome 

8111 

0,000001 

42 „ 

0,4 

do. 

8117 

0,0000001 

42 „ 

0,4 

do. 

8083 

0,00000001 

42 * 

0,4 

do. 

8092 

0,00000001 

62 „ 

0,4 

do. 

8223 
8250 • 

1 Kontrollen 


0,4 

0,4 

do. 

do. 


Hinausgehen über 4 Wochen nicht erforderlich, vielleicht nicht einmal 
empfehlenswert erscheint. 

Was die quantitative Leistungsfähigkeit der Ueberernpfind- 
lichkeitsreaktion speziell beim Menschenserum betrifft, so habe ich 
bis zur Dosis von 0,00001 prompte (Jeberempöndlichkeitsreaktion 
nach 4 Wochen festgestellt. Bei 0,000001 ist die Ueberempfindlich- 
keit auch noch leidlich gut ausgesprochen, während bei 0,0000001 
der Erfolg schon recht unsicher wird. 0,00000001 vermochte in 
meinen Versuchen nicht mehr zu sensibilisieren. Man würde also, 


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Verwert, d. spezif. Ueberempfmdlichkeits-Reakt. z. biolog. EiweissdifTerenzierg. 247 

vorausgesetzt, dass man genügend Tiere zur Verfügung hat, unter 
den bezeichneten Versuchsbedingungen mit 0,000001 in der Mehrzahl 
der Fälle noch prompt sensibilisieren können. 

Der nachfolgende Versuch wurde angestellt um zu prüfen, ob 
Extrakte aus 2 Jahre alten Blutflecken ebenfalls sensibilisieren und 
gleichzeitig wurde versucht quantitativ zu bestimmen, bis zu welcher 
Verdünnung die sensibilisierende Wirkung des Blutfleckenextraktes 
geht. Durch Extraktion mit physiologischer Kochsalzlösung stellte 
ich mir einen Blutfleckenextrakt genau in der gleichen Weise her, wie 
dies Uhlenhuth für die Herstellung von Bluttteckenextfakten für die 
Präzipitinreaktion vorschreibt. Der gewonnene Extrakt wurde mit 
Kochsalz soweit verdünnt, dass er bei der Kochprobe noch eine eben 
erkennbare Trübung zeigte, also einer Serumverdünnung von etwa 
1 : 1000 entsprach. Von diesem Extrakt wurden den in der nach¬ 
folgenden Tabelle 3 aufgeführten Meerschweinen fallende Dosen von 
0,8 bis 0,00008 injiziert. Die Reinjektion mit 0,4 ccm inaktivierten 
Menschenserums erfolgte 28 Tage später. 


Tabelle 3. 


Meer- 





schwein 

Erstinjektion 


Zweitinjektion 

Resultat 

Nr. 

• 




8207 

0,8 ccm Extrakt 

0,4 

ccm Menschenserum 

t nach 4 Minuten 

• 8213 

0,08 

0,4 

55 n 

Sehr schwere Sympt. 

8178 

0,008 „ 

0,4 

55 51 

Leichte Symptome 

8143 

0,008 „ 

0,4 

51 55 

do. ? 

8064 

0,0008 „ 

0,4 

51 51 

do. 

8173 

0,0008 „ 

0,4 

51 51 

Keine Symptome 

8121 

0,00008 „ 

0,4 

55 51 

do. 

8060 

0,00008 „ „ 

0,4 

55 55 

do. 

8211 

8174 

J Kontrolltiere 

0,4 

0,4 

55 55 

55 55 

do. 

do. 


Im vorstehenden Versuch fängt also die sensibilisierende Wirkung 
an undeutlich zu werden bei 0,008 ccm des Extraktes. Von 0,0008 
wird ein Tier nicht mehr sensibilisiert und 0,00008 sind völlig 
wirkungslos. Es entspricht also bei Benutzung einer genügend grossen 
Zahl von Tieren die sicher sensibilisierende Dosis noch ungefähr 
0,008 ccm des Extraktes. 0,008 ccm Extrakt entsprechen 0,000008 ccm 
Serum. Wir finden also eine leidlich gute Uebereinstimmung im 
Ergebnis der quantitativen Auswertung des Serums einerseits und des 
Blutfleckenextraktes andererseits. 

Yierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 2. 17 


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248 


Berthold Bacbrach, 


Versuchsreihe II. 

Beeinflussung der Sensibilisierung durch Diphtheriegift. 

Die Studien über die Serumüberempfindlichkeit des Meerschwein¬ 
chens haben ihren Ausgangspunkt genommen von dem sogenannten 
Sraithschen Phänomen. Smith fand Meerschweine, die mit Mischungen 
von Diphtheriegift und antitoxischem Pferdeserum vorbehandelt waren, 
exzessiv überempfindlich gegen nachfolgende Pferdeseruminjektion. 
Es handelt sich bei diesem Smithschen Phänomen um nichts anderes, 
als um die charakteristische und spezifischo Pferdeseruraüberempfind- 
lichkeit des entsprechend vorbehandelten Tieres. Wie aber aus den 
Untersuchungen zahlreicher Autoren, insbesondere Ottos hervorgeht, 
hat gerade das Diphtheriegift die merkwürdige Eigenschaft, die Ueber- 
empfindlichkeit gegen gleichzeitig verabreichtes Pferdeserum zu steigern. 
Braun macht hierfür die Tatsache verantwortlich, dass das Diphtherie¬ 
gift im allgemeinen die Neigung hat, die spezifische Antikörperbilduug 
zu begünstigen. 

Es lag daher nahe, zu prüfen, ob die gleichzeitige Verabreichung 
von Diphtheriegift in der Lage ist, die quantitative Leistungsfähigkeit 
des Ueberempfindlichkeitsversuches noch zu steigern. In dem Sinne 
sind die in Tabelle 4 und 5 mitgeteilten Versuche ausgeführt. Sämtliche 
Meerschweine der Serie wurden am 29. 7. 09 Sensibilisiert und zwar 
mit einer Mischung fallender Dosen Menschenserum -j-0,002 ccm eines 
Diphtheriegiftes. Ich wählte ein Diphtheriegift, von dem ich vorher 
festgestellt hatte, dass es in der angewandten Dosis nicht zu 
Lähmungen führt. Solche Diphtherielähmungen würden erfahrungs- 
gemäss sonst nach 3—4 Wochen einsetzen und daher die Anstellung 
des Ueberempfindlichkeitsversuches empfindlich stören können. Die 
Reinjektion erfolgte wiederum mit 0,4 ccm inaktivierten Menschen¬ 
serums und zwar nach verschiedenen Zeitintervallen. 

Nebenstehende Versuche ergeben in der Tat, dass die gleichzeitige 
Injektion von Diphtheriegilt* die Ueberempfindlichkeit steigert: einmal 
in qualitativer Hinsicht; denn die in Tabelle 4 und 5 beschriebenen 
Reaktionen waren entschieden schwerere und intensivere, auch häufiger 
zum Tode führend, als die im übrigen ganz entsprechend angestellten 
Versuche der Tabelle 1 und 2. Weiter scheint auch das Diphtherie¬ 
gift in quantitativer Hinsicht die Leistungsfähigkeit des Ueberempfind¬ 
lichkeitsversuches gesteigert zu haben, denn ich habe selbst nach der 
Dosis von 0,00000001 Menschenserum noch typischen Ueberempfind- 


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Verwert, d. spezif.Ueberempfindlichkeits-Reakt. z. biolog. Eiweissdifferenzierg. 249 


Tabelle 4. 


Meer¬ 

schwein 

Nr. 


« Zeitintervall 

Dosis der 


Dosis der Erst¬ 
injektion 

zwischen Erst¬ 
injektion und 

intravenösen 

Reinjektion 

Resultat 

ccm 

Reinjektion 

ccm 


8079 

0,001 

29 Tage 

0,4 

t nach 4 Minuten 

8067 

0,0001 

29 „ 

0,4 

Keine Symptome 

8142 

0,00001 

29 „ 

0,4 

Schwere Symptome 

8057 

0,000001 

29 „ 

0,4 

do. 

8116 

0,0000001 

29 . 

0,4 

f nach 20 Minuten 

8071 

0.00000001 

29 * 

0,4 

f nach 4 Minuten 

8259 

0,00000001 

29 „ 

0,4 

Keine Symptome 

8260 

0,00000001 

29 „ | 

0,4 

do. 



Tabelle 

5. 




Zeitintervall 

Dosis der 


Meer¬ 

schwein 

Nr. 

Dosis der Erst- 
injektion 

1 zwischen Erst¬ 
injektion und 

intravenösen 

Reinjektion 

Resultat 

ccm 

Reinjektion 

ccm 


8005 

0,001 

42 Tage 

0,4 

f nach 5 Minuten 

8141 

0,0001 

42 „ 

0,4 

t nach 6 Minuten 

8104 

0,00001 

42 „ 

0,4 

+ nach 4 Minuten 

8114 

0,000001 

42 „ 

0,4 

Keine Symptome. 

•8089 

0,0000001 

42 „ 

0,4 

t nach 4V2 Minuten 

8073 

0,00000001 

42 „ | 

0,4 

+ nach 9 Minuten 


lichkeitstod bekommen, eine Dosis, die, wie Tabelle 1 und 2 lehren, ohne 
Diphtheriegift kein Mal zu sensibilisieren vermochte. 

Im Sinne einer quantitativen Steigerung der Leistungs¬ 
fähigkeit des Ueberempfindlichkeitsversuches ist also die 
gleichzeitige Injektion von Diphtheriegift in der von mir 
angegebenen Weise entschieden wirksam. 


Versuchsreihe in. 

Spezifität der Ueberempfindlichkeitsreaktion. 

Die nachfolgende Versuchsreihe soll nun der Frage der Spezi¬ 
fität der Reaktion gelten. Für forensische Zwecke ist dies ja 
zweifellos die wichtigste Frage. Ich musste also prüfen, ob ich durch 
Vorbehandlung mit entsprechendem Eiweiss nur Ueberempfindlichkeit 
gegen das gleiche Eiweiss erzielte und ob heterologe Eiweisslösungen 
bei der Reinjektion atoxisch waren. Ich verwandte zu der nachfol¬ 
genden Versuchsreihe zur sensibilisierenden Erstinjektion stets die 


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17* 

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250 


Berthold Bachrach, 

gleiche Dosis, nämlich 0,01 ccm frisches Menschenserum mit 8,51 pCt. 
Eiweissgehalt. Die sensibilisierende Erstinjektion fand am 24. 7. 1909 
statt, die Reinjektion erfolgte genau 30 Tage später. Sämtliche zur 
Reinjektion benutzten Sera waren inaktiviert. 


Tabelle 6. 


Meer- 


Dosis und Eiweissart 


schwein 

Dosis der Erstinjektion 

der intravenösen 

Resultat 

Nr. 

Reinjektion 


8020 

0,01 ccm Menschenserum 

0,4 ccm Menschenserum 

f nach 3 Minuten 

8244 

0,01 „ 

0,4 „ 

Sehr schw. Symptome 

8072 

0,01 „ 

0,4 * 

do. 

8250 

8225 

| Kontrollticre 

0,4 „ 

0,4 * „ 

Keine Symptome 
do. 

7943 

0,01 ccm Menschenserum 

0,4 ccm ASenserum 

do. 


(Macacus rhesus) 


S08G 

0,01 „ 

0,4 ccm Affenserum 

Leichte Symptome? 

8222 

7988 

J Kontrolltiere 

0,4 „ 

0,4 * 

Keine Symptome 
do. 

8106 

0,01 ccm Menschenserum 

0,4 ccm Pferdeserum 

do. 

8105 

0,01 „ 

0,4 „ 

do. 

8241 

0,01 „ 

0,4 „ 

do. 

8223 

8220 

| Kontrolltiere 

0,4 „ 

0,4 „ 

do. 

do. 

8034 

0,01 ccm Menschenserum 

0,4 ccm Rinderserum 

do. 

8127 

0,01 „ „ 

0,4 „ 

do. 

8221 

8008 

J Kontrolltiere 

0,4 „ 

0,4 „ „ 

do. 

do. 

8082 

0,01 ccm Menschenserum 

0,4 ccm Schweineserum 

do. 

8147 

0,01 „ 

0,4 „ 

do. 

8224 

8226 

J Kontrolltiere 

0,4 „ 

0,4 „ 

do. 

do. 

8053 

0,01 ccm Menschenserum 

0,4 ccm Hühnerscrum 

do. 

S054 

0,01 „ 

0.4 „ 

do. 

S219 

8059 

J Kontrolltiere 

0,4 „ 

0,4 „ „ 

do. 

do. 


Die vorstehende Versuchsreihe beweist, dass die Vorbehandlung 
mit Menschenserum in der Tat eine nahezu absolut-spezifische Ueber- 
erapGndlichkeit zur Folge hat. Wir finden lediglich ein leichtes 
Uebergreifen der Reaktion in dem einen Versuch mit der Nachspritzung 
von Affenserum. Auch bei anderen biologischen Reaktionen macht 
sich diese Verwandtschaft in störender Weise geltend und wir müssen 
die Schwäche der Reaktion gegenüber dem Affenserum bei den mit 
Menschenserum sensibilisierten Meerschweinen in unseren Versuchen 
sogar als recht auffällig bezeichnen. Vielleicht ist es darauf zu be¬ 
ziehen, dass es sich um das Serum niederer Affen handelte. Im 
übrigen lässt nach dem Ausfall der in Tabelle 6 verzeich- 


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Verwert, d. spezif.Ueberempfindlichkeits-Reakt. z.biolog.Eiweissdifferenzierg. 251 

neten Versuche die Spezifität der Ueberempfindlichkeits- 
Reaktion nichts zu wünschen übrig. 

Wir wiesen oben (vgl. Versuchsreihe II) darauf hin, dass das 
Diphtheriegift die quantitative Leistungsfähigkeit des Ueberempfind- 
licbkeitversuches in sehr beachtenswerter Weise steigert. Es bliebe, 
wenn wir von dieser die Sensibilisierung unterstützenden Wirkung des 
Diphtheriegiftes praktischen Gebrauch machen wollten, noch der Nach¬ 
weis übrig, dass durch diese Erhöhung der Ueberempfindlichkeit die 
Spezifität der Reaktion keinen Schaden leidet. Ich versuchte diese 
Frage durch die in der nachfolgenden Tabelle 7 verzeichnete Ver¬ 
suchsreihe zu beantworten. 

Die Meerschweine in der nachfolgenden Versuchsreihe wurden 
sämtlich am 24. 7. 1909 sensibilisiert und zwar mit 0,01 ccm 
Menschenserum + 0,002 ccm des schon früher benutzten Diphtherie¬ 
giftes (2 ccm Gesamtflüssigkeit). Die Reinjektion der Meerschweine 
erfolgte nach 30 Tagen. Die zur Reinjektion benutzten Sera sind die 
gleichen, die für die Versuche in Tabelle 6 benutzt wurden. Die in 
dieser Tabelle aufgeführten Kontrollversuche kontrollieren daher auch 
gleichzeitig die Versuche der Tabelle 7. 


Tabelle 7. 


Meerschw. 

Nr. 

• 

Erstinjektion 

Reinjektion 

Resultat 

7948 

0,01 ccm Menschenserum 
0,002 ccm D. G. 

0,4 ccm Menschenserum 

t nach 20 Minuten 

8237 

do. 

0,4 „ 

f nach 4 Minuten 

8028 

do. 

0,4 „ 

t nach 2 Minuten 

7944 

do. 

0,4 ccm Affenserurn 

Leichte Symptome 

7947 

do. 

0,4 * 

do. 

8238 

do. 

0,4 ccm Pferdeserum 

Keine Symptome 

8239 

do. 

0,4 „ 

do. 

8240 

do. 

0,4 •„ 

do. 

8078 

do. 

0,4 „ 

Leichte Symptome? 

8061 

do. 1 

0,4 „ 

f nach 11 Minuten 

8056 

do. 

0,4 ccm Rinderserum 

Keine Symptome 

8081 

do. 

0,4 „ 

t nach 11 Minuten 

8062 

do. 

0,4 ccm Schwein escrum 

Keine Symptome 

8055 

do. 

0,4 „ 

do. 

. 8025 

do. 

0,4 ccm Hühnerserum 

do. 

8026 

do. j 

0,4 „ 

do. 


Wir finden somit in vorstehenden Versuchen die Spezifität der 
Reaktion durchbrochen und zwar nicht nur bei der Reinjektion von 
Affenserum, was nicht wunderbar wäre, sondern auch bei der 
Reinjektion mit Rinderserum in einem Falle und bei derjenigen mit 


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252 


Berthold Bachrach, 

Pferdeserum in 2 Fällen. Dieses Untersuchungsergebnis liess 
mich ernstlich an die Möglichkeit denken, dass die Er¬ 
höhung der Ueberempfindlichkeit durch gleichzeitige Diph¬ 
theriegiftinjektion der Spezifität der Reaktion zum Schaden 
gereichen kann. Die vorstehenden Versuche waren unter allen 
Kautclcn vorgenommen; die benutzten Meerschweine stammten aus 
einwandfreier Zucht. Immerhin war das Versuchsergebnis recht auf¬ 
fallend, so dass ich mich entschloss, in einer ad hoc angestellten 
Versuchsreihe jenes Versuchsergebnis noch einmal nachzuprüfen. 

Die Meerschweine der nachfolgenden Tabelle wurden am 
6. 1. 1910 mit 1 ccm ziemlich konzentrierter Blutfleckenextrakte, 
gemischt mit 0,002 ccm des schon mehrfach erwähnten Diphtherie¬ 
giftes, sensibilisiert und zwar sowohl mit Menschenblutflccken-, Pferde- 
blutfleckcn- als Rinderblutflccken-Extrakten. Zur Reinjektion, 29 Tage 
später, wurde ausschliesslich Menschenserum verwandt. Das Ergebnis 
war gleich bei der Prüfung der ersten 3 Tiere so eindeutig, dass 
ich, um nicht noch mehr Tiere zu verlieren, auf die Prüfung weiterer 
verzichtete. 


Tabelle 8. 


Meer- 




schwein 

Erstinjektion 

Reinjektion 

Resultat 

Nr. 




8403 

i 

Menschenblutflecken- 

0,4 ccm Menschenserum 

+ nach 3 Minuten 


Extrakt + D. G. 


8400 

Pferdeblutflecken- 

0,4 * 

+ nach 4 Minuten 


Extrakt -f- D. G. 


8396 

Rinderblutflecken- 

0,4 „ 

f nach 5 Minuten 


Extrakt + D. G. 



8393 

8472 

| Kontrolliere 

o o 

w 

3 3 

3 3 

Keine Symptome 
do. 


Entsprechend dem Ausfall der in Tabelle 8 verzeichneten Ver¬ 
suche müssen wir demnach annehmen, dass durch gleichzeitige 
Diphtheriegiftinjektion unter den von mir genannten Ver¬ 
suchsbedingungen die Spezifität der Ueberempfindli'chkeits- 
reaktion stark leidet. Dass in der Tat lediglich die Diphtherie¬ 
giftinjektion den Durchbruch der Spezifität veranlasst, beweisen 
gleichzeitig die in Tabelle 9 mitgeteilten Versuche. Es handelt sich 
hier um Sensibilisierung der Meerschweine mit Extrakten der gleichen 
Blutflecken, die zu den Versuchen io Tabelle 8 verwandt worden 


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Verwert, d. spezif. Ueberempfindlichkeits-Reakt. z.biolog.Eiweissdifferenzierg. 253 


waren. Die Reinjektion fand auch hier 29 Tage nach der Sensi¬ 
bilisierung statt. 

Tabelle 9. 


Meer¬ 

schwein 

Nr. 

Erstinjektion 


Reinjektion 

Resultat 

8497 

1 ccm Menschenblut- 
fleckeo-Extrakt 

0,4 ccm Menschenserum 

f nach 4 Minuten 

8498 

1 ccm Menschenblut¬ 
flecken-Extrakt 

0,4 

r> 

r> 

t nach 5 Minuten 

8499 

1 ccm Rinderblutflecken- 
Extrakt 

0,4 

n 

T 

Keine Symptome 

8500 

1 ccm Rinderblutflecken- 
Extrakt 

0,4 

V 

7> 

do. 

8501 

1 ccm Pferdeblutflecken- 
Extrakt 

0,4 


r> 

do. 

8502 

1 ccm Pferdeblutflecken- 
Extrakt 

0,4 

5? 

y> 

do. 

8503 

1 ccm Pferdeblutflecken- 
Extrakt 

0,4 

r> 

V 

do. 

8504 

1 ccm Schafblutflecken- 
Extrakt 

0,4 

V 

T 

do. 

8505 

1 ccm Schafblutflecken- 
Extrakt 

0,4 

1 

V 

y> 

do. 


Wir müssen also auf Grund der vorstehenden Versuche, so er¬ 
wünscht auch gelegentlich eine Steigerung der quantitativen Leistungs¬ 
fähigkeit des Ueberernpfindiichkeitsversuches wäre, auf die gleichzeitige 
Anwendung von Diphtheriegift bei der Sensibilisierung verzichten. 
Gleichzeitig lehren die in Tabelle 9 verzeichneten Versuche, dass 
auch die Extrakte von 2 Jahre alten Blutflecken, wie ja solche für 
die forensische Praxis in Frage kommen, prompt sensibilisieren und 
dass die hierdurch erzeugte Ueberempfmdlichkeit spezifisch ist. 


Versuchsreihe IV. 

Differenzierung des Eiweisses verwandter Tierarten. 

In den nachfolgenden Experimenten versuchte ich, ob es nicht 
möglich wäre, auf quantitativem Wege die Eiweissarten phylogenetisch 
verwandter Arten voneinander zu differenzieren. Mit Rücksicht auf 
die forensische Blutdifferenzierung versuchte ich speziell die Unter¬ 
scheidung von Menschenserum und Affen- (Macacus rhesus) Serum. 

In den Versuchen der Tabelle 10 sensibilisierte ich sämtliche 
Meerschweine mit 0,001 ccm Menschenserum und reinjizierte nach 
30 Tagen einen Teil der Tiere mit fallenden Dosen Menschenserum, 
den anderen mit fallenden Dosen Affenserum. 


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254 


Berthold Baohrach, 


Tabelle 10. 


Meer¬ 

schwein 

Erstinjektion 

Reinjektion 

Resultat 

Nr. 




819G 

0,001 ccm Menschenserum 

I 

0,4 ccm Menscbenserum 

f nach 3 Minuten 

8149 

0,001 „ 

0,2 „ 

Leichte Symptome 

8197 

0,001 „ 

0,2 „ 

Keine Symptome 

8198 

0,001 „ 

0,1 „ 

Schwere Symptome 

8199 

0,001 „ 

0,05 * „ 

Leichte Symptome 

8200 

0,001 „ 

0,4 „ Affenserura 

Schwere Symptome 

8195 

0,001 „ 

0,2 * 

Keine Symptome 

8201 

0,001 „ 

0,2 * 

do. 

8202 

0,001 „ 

0,1 * 

Sehr schwere Sympt. 

8203 

0,001 „ 

0,05 „ „ 

do. 

8128 

8131 

| Kontrolliere 

0,4 „ Menschenserum 
0,4 „ Affenserum 

Keine Symptome 
do. 


In den Versuchen der Tabelle 11 behandelte ich umgekehrt die 
Meerschweine mit 0,001 ccm Affenserum vor und reinjizierte nach 
30 Tagen einen Teil der Tiere mit fallenden Dosen Affenserum, den 
anderen Teil mit fallenden Dosen Menschenserum. 


Tabelle 11. 


Meer- 




Schwein 

Erstinjektion 

Reinjektion 

Resultat 

Nr. 




8217 

0,001 ccm Affenserum 

0,4 ccm Affenserum 

Sehr schwere Sympt. 

8205 

0,001 „ 

0,2 „ „ 

do. 

821fi 

0,001 „ 

0,2 „ 

do. 

8215 

0,001 „ 

0,1 „ 

do. 

8214 

0.001 „ 

0,05 „ 

do. 

S203 

0,001 „ 

0,4 ., Menschenserum 

Keine Symptome 

8204 

0,001 * 

0,2 ; 

Sehr leichte Sympt. 

8212 

0,001 * 

0,2 „ 

do. 

8218 

0,001 „ 

0,1 n 

Keine Symptome 

8218 

0,001 „ 

0,05 „ „ 

Sehr leichte Sympt. 

8039 

7980 

| Kontrolliere 

0,4 „ 

0,4 „ Affenserum 

Keine Symptome 
do. 


Während ich also nach den Versuchen in Tabelle 11 den Ein¬ 
druck hatte, als ob eine gewisse Differenzierung zwischen Menschen- 
und Affenserum durch den Ucberempfindlichkeitsversuch möglich wäre, 
lehren die Versuche der Tabelle 10, dass eine Differenzierung von 
Menschenserum und Affenserum auch bei quantitativ abgestufter 
Reinjektion nicht eindeutig gelingt. 

In ähnlicher, wenn auch nicht in so systematischer Weise, ver- 


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Verwert, d. spezif. Ueberempfindlichkeits-Reakt. z. biolog. Ei weissdifferenzierg. 255 

suchte ich Schaf- und Ziegenserum voneinander zu differenzieren. 
Die Vorbehandlung der nachfolgenden Meerschweine erfolgte mit 
0,5 ccm Ziegenserum bzw. Schafserum. Die Reinjektion erfolgte 
5 Wochen später und zwar in diesem Falle direkt in das Herz. Das 
Resultat enthält die nachfolgende Tabelle 12. 


Tabelle 12. 


Meer¬ 

schwein 

Nr. 

Erstinjektion 

Reinjektion 

Resultat 

7969 

0,5 ccm Schafserum 

0,1 ccm Schafserum 

Leichte Symptome 

7986 

0*5 „ » 

0,1 „ 

Schwere Symptome 

7979 

v v 

0.1 * 

Keine Symptome 

7962 

0*5 1» V 

0,1 „ Ziegenserum 

Leichte Symptome 

7973 

0,5 „ * 

0,1 „ 

Schwere Symptome 

7968 

0,5 „ 

0,1 * 

Sehr schwere Sympt. 

7970 

0,5 „ „ 

0,1 „ 

t nach 37a Minuten 

7989 

0,5 * Ziegenserum 

0,1 „ 

Keine Symptome 

7991 

0,5 „ „ 

0,1 „ 

do. 

7975 

0,5 „ „ 

0,1 * 

f nach 3 Minuten 

8005 

0,5 „ „ 

0,1 * Schafserum 

Schwerste Symptome 

8000 

05 * 

0,1 „ 

t nach 2 72 Minuten 

7992 

0,5 „ „ 

0,1 „ 

f nach 2 Minuten 

7967 

0,5 * 

0,1 „ 

+ nach 172 Minuten 

7697 

7939 

| Kontrolltiere 

0,5 * * 

0,5 „ Ziegenserum 

Keine Symptome 
do. 


Das Ergebnis der vorstehenden Versuchsreihe kann geradezu als 
paradox bezeichnet werden, insofern als die mit Schafserum sensibili¬ 
sierten Tiere stärker auf Ziegenserum und die mit Ziegenserura sensi¬ 
bilisierten stärker auf Serum reagierten. Ich vermute, dass angesichts 
der kleinen Versuchsreihe das Paradoxe dieses Ergebnisses wohl Zu¬ 
fall ist. Jedenfalls lehren aber die in Tabelle 10, 11 und 12 be¬ 
schriebenen Versuche, dass auf eine Differenzierung des Eiweisses 
verwandter Tierarten mit Hilfe des U eberempfind lichkeits versuch es 
kaum zu rechnen ist. 

Versuchsreihe V. 

Versuch der Differenzierung chemisch verschieden konsti¬ 
tuierten Eiweisses derselben Tierart. 

Durch Untersuchungen, welche Bauereisen im Marburger In¬ 
stitut für Hygiene und experimentelle Therapie angestellt hat, konnte 
gezeigt werden, dass mit Hilfe der Präzipitinreaktion eine gewisse 
Differenzierung zwischen Frauenmilchkasein einerseits und dem Molken¬ 
protein der Frauenmilch bzw. den Proteinen des menschlichen Blut- 


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UNIVERSUM OF IOWA 




256 


Berthold Bachracb, 


serums andererseits möglich ist. Ein Kaseinantiserum rief zwar auch 
in Blutserum und Molkenprotcinlösungen Fällung hervor, wirkte aber 
bedeutend stärker auf Kaseinlösung und umgekehrt wirkte ein Molken¬ 
protein-Antiserum bzw. ein Serum-Antiserum viel stärker auf die 
homologen Eiweissarten als auf Kasein. 

In ähnlicher Weise versuchte ich im Uebercmpfindlichkeitsversuch 
das Eiweiss des Rinderserums, das Eiweiss der Kuhmilchmolke und 
das Kuhmilchkasein voneinander zu differenzieren. Das Kasein war 
aus der Milch durch Essigsäurefällung gewonnen und durch wieder¬ 
holte Alkoholwaschung von Fett tunlichst befreit. Die Molke gewann 
ich als klares Filtrat nach der Essigsäurefällung der auf das 4 fache 

Tabelle 13. 


Meer- 




schwein 

Nr. 

Esrtinjektion | 

Reiujektioo 

Resultat 


Digitized b> 


0,2 ccm 

Rinderserum 

0,2 ccm 

Rinderserum 

f nach 4 Minuten 

(Eiweissgehalt des Rin¬ 
derserums 7,492 pCt.) 





0,2 ccm 

Rinderscrura 

0,2 

r> 

99 

Leichte Symptome 

0,2 „ 

» 


0,34 

v> 

5 proz. Kasein- 

Keine Symptome 






lüsung 


0,2 „ 

99 


0,34 

99 

99 99 

do. 

0,2 „ 

99 


0,34 

99 

„ Molke 

+ nach 3 V 2 Minuten 

0,2 „ 

r> 


0,34 

rt 

99 99 

f nach 3 Minuten 

0,34 ccm 5proz. Kasein- 

0,2 

n 

Rinderserum 

Keine Symptome 



lösung 




f nach 3 V 2 Minuten 

0,34 „ 

y> 

r> 

0,2 

SS 

99 

0,34 „ 

99 

r> 

0,34 

r> 

5 proz. Kasein¬ 

Keine Symptome 






lösung 


0,34 „ 

99 

99 

0,34 

•9 

99 99 

t nach 4 Minuten 

0,34 „ 

99 

y> 

0.34 

99 

„ Molke 

t nach 2 Minuten 

0,34 „ 

99 

y> 

0,34 

99 

99 99 

Keine Symptome 

0,34 ccm 

5 proz. 

Molke 

0,2 

n 

Rinderserum 

do. 

0,34 „ 

99 

r> 

0,2 

n 

99 

f nach 5 Minuten 

0,34 * 

99 

99 

10,2 

9) 

99 

Schwere Symptome 

0,34 „ 

99 

99 

0,34 

99 

5 proz. Kasein- 

Keine Symptome 




1 


lüsung 


0,34 „ 

99 

y> 

0,34 

99 

99 99 

Schwerste Symptome 

0,34 „ 

99 

*9 

0,34 

99 

99 99 

f nach 3 Minuten 

0,34 „ 

99 

r> 

0.34 

99 

99 99 

Schwere Symptome 

0,34 „ 

n 

99 

0,34 

99 

„ Molke 

Keine Symptome 

0,34 „ 

r* 

r> 

! 0,34 

99 

99 V 

Schwere Symptome 

0,34 „ 

v> 

y> 

1 0,34 

99 

99 99 

t nach 2 Minuten 

0,34 * 

99 

99 

' 0,34 

99 

99 99 

Keine Symptome 

0,34 „ 

r> 

99 

1 0,34 

99 

99 99 

t nach 2 Minuten 

0,34 „ 

99 

r> 

i 0,34 

99 

99 99 

f nach 2 Minuten 

)ogle 






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UNIVERSSTY OF IOWA 









Verwert, d. spezif.Ueberempfindlichkeits-Rcakt. z. biolog. Eiweissdifferenzierg. 257 


Volumen verdünnten Milch. Die Tabelle 13 enthält das Ergebnis 
der mit diesen Eiweisslösungen angestellten Versuche. Ich hebe be¬ 
sonders hervor, dass sämtliche sowohl zur Sensibilisierung als zur 
Reinjektion benutzten Eiweisslösungen auf den gleichen nach der 
Kjeldahlschen Methode ermittelten Eiweissgehalt gebracht waren 
(durch Verdünnung oder Konzentration im Vakuum). Die Kasein- und 
Molkenproteinlösungen wurden überdies vor ihrer Verwendung zur 
Reinjektion isotonisch gemacht und auf Blutalkaleszenz gebracht. 

Aus diesen Versuchen geht hervor, dass eine Differenzierung von 
Serumeiweiss, Kasein und Molkenprotein durch den Ucberempfindlich- 
keitsversuch nicht gelingt. Denn die mit Molkenprotein vorbehandelten 
Tiere reagieren auch auf Rinderserum und Kasein, die mit Kasein 
vorbehandelten auf Rinderserum, Molke und Kasein und es ist wohl 
nur ein Zufall, wenn ich bei den mit Rinderserum vorbehandelten 
Tieren zwar nach Reinjektion von Rinderserum und Molke die typische 
Reaktion erzielte, aber nicht durch Reinjektion von Kasein. 

Eine Differenzierung von verschieden konstituiertem 
Eiweiss der gleichen Tierart ist mir also mit Hilfe der 
Ueberempfindlichkeitsreaktion nicht gelungen. Bekanntlich 
haben Uhlcnhuth und Andrejew zeigen können, dass die eigen¬ 
artige biologische Sonderstellung, die die Linse einnimmt, auch im 
Uebcrempfindlichkeitsversuch nachweisbar ist, insofern als mit Linsen- 
eiweiss sensibilisierte Tiere nicht auf das artgleiche Serum reagieren, 
wohl aber auch auf das Linseneiweiss der allerverschiedensten Tier¬ 
arten. 


Versuchsreihe VI. 

Prüfung von Eiweissgemischen durch den Ueberempfind- 

lichkeitsversuch. 

Die nachfolgende kleine Versuchsreihe sollte erweisen, ob bei 
der Injektion von Eiweissgeraischen die Spezifität der Ueberempfind- 
lichkeitsreaktion nicht leidet und zugleich festgestellt werden, ob bei 
den mit solchen Eiweissgemischen sensibilisierten Meerschweinen jede 
der eingespritzten Eiweissarten durch die entsprechende Reinjektion 
nachgewiesen werden kann. Die Sensibilisierung der Meerschweine 
erfolgte mit 0,003 ccm einer Mischung von gleichen Teilen Pferde¬ 
serum, Rinderserum und Schweineserum. Die Reinjektion erfolgte 
nach 28 Tagen. 


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258 Bertbold Bachrach, 


Tabelle 14. 


Meer- 





schwein 

Erstinjektion 


Reinjektion 

Resultat 

Nr. 





8254 

0,003 ccm Serummischung 

0,4 ccm Pferdeserum 

Leichte Symptome 

8268 

0,003 „ ft 

0,4 

V » 

Sehr schwere Sympfc. 

8256 

0,003 „ 

0,4 

ft Rinderserum 

t nach 4 Minuten 

8255 

0,003 „ 

0,4 

„ Schweineserum 

f nach 12 Minuten 

8266 

0,003 „ 

0,4 

„ Menschenserum 

Keine Symptome 

8267 

0,003 „ 

0,4 

n n 

do. 

8305 


0,4 

„ Pferdeserum 

do. 

8304 

8303 

\ Kontrolltiere 

0,4 

0,4 

„ Rinderserum ! 
„ Scbweineserum 

do. 

do. 

8031 

\ 

0,4 

„ Menschenserum 

do. 


Der Versuch lehrt, dass nach Sensibilisierung mit Eiweissgemischen 
Ueberempfindlichkeit für jede der injizierten Eiweissarten eintritt und 
dass weiterhin die Spezifität der Reaktion dadurch nicht leidet; denn 
die mit dem Pferde-, Rinder-, Schweine-Serumgemisch vorbehandelten 
Meerschweine waren völlig unempfindlich für Menschenserum. 

Versuchsreihe VII. 

Wirkung von normalen Seris bei intravenöser Injektion. 

Die in Tabelle 15 zusammengestellten Versuche beziehen sich 
auf die Prüfung von normalen Seris bei normalen, nicht vorbehandelten 
Meerschweinen und zwar handelt es sich einmal um die Prüfung von 
frischen Seris und sodann von inaktivierten d. h. 1 / 2 —1 Stunde auf 
56° erhitzten Seris. 

Die nebenstehenden Versuche lehren, dass die Mehrzahl der frischen, 
nicht erhitzten Sera sich bei intravenöser Injektion giftig erweist, und 
zwar entspricht der hierdurch erzeugte Symptomen komplex ziemlich 
genau dem der Ueberempfindlichkeitsreaktion. Durch Inaktivieren der 
Sera während l / 2 Stunde auf 56° wird einem grossen Teil derselben 
die Giftigkeit genommen, aber nicht allen. Bei einigen ist infolge¬ 
dessen 1 ständiges Inaktivieren nötig und bei manchen Seris kommt 
man selbst hierdurch noch nicht zum Ziel, d. h. erzielt keine Ungiftig¬ 
keit. Man muss in solchen Fällen ein anderes, am besten abgelagertes 
Serum der gleichen Art prüfen. 

Für Ueberempfindlichkeitsstudien ergibt sich demnach, 
dass man stets eine ganz exakte Vorprüfung des zur Re- 
injektion zu verwendenden Serums an einer genügenden 
Anzahl nicht vorbehandelter Kontrollraeerschweine vor- 


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Verwert, d. spezif. Ueberempfindlichkeits-Reakt. z.biolog.Eiweissdifferenzierg. 259 


Tabelle 15. 


Meer¬ 

schwein 

Nr. 

Dosis und Art des Serums 

Resultat 

8005 

0,4 

ccm 

Menschenserum, nicht inaktiviert 

Leichte Symptome 

8250 

0,4 

* 

„ inaktiviert 

Keine Symptome 

7907 

0,2 

n 

Affenserum, inaktiviert O /2 Stunde) 

Leichte Symptome 

7930 

0,3 

Ti 

99 99 ( 99 ) 

t nach 3 Minuten 

7964 

0,5 

n 

99 99 ( 99 ) 

Leichte Symptome 

7991 

0,5 

y> 

„ „ (1 Stunde ) 

Keine Symptome 

8222 

0,5 

19 

99 99 ( 99 ) 

do. 

7960 

0,1 

n 

Pferdeserum, unerhitzt 

do. 

7959 

0,1 

91 

99 99 

do. 

8000 1 

0,2 

n 

99 99 

do. 

7992 

0,5 

Ti 

99 99 

Leichte Symptome 

7989 

0,5 

Ti 

99 99 

t nach 3 Minuten 

8223 

0,4 

Ti 

n inaktiviert ( J / 2 Stunde) 

Keine Symptome 

8220 

0,4 

Ti 

99 99 ( 99 ) 

do. 

7971 

0,5 

Ti 

99 99 ( 99 ) 

do. 

7935 

0,4 

91 

Rinderserum I, unerhitzt 

f nach 1 Minute 

7922 

0,4 

99 

„ inaktiviert (*/* Stunde) 

f nach 20 Minuten 

7985 

0,5 

99 

„ „ (1 Stunde ) 

Leichte Symptome 

8140 

0,5 

99 

7} 19 ( 99 ) 

Schwere Symptome 

8010 

0,5 

99 

99 99 ( 99 ) 

Leichte Symptome 

8221 

0,2 

99 

Rinderserum II, inaktiviert O /2 Stunde) 

Keine Symptome 

8220 

0,4 

99 

99 99 ( 99 ) 

do. 

7700 

0,5 

19 

99 99 ( 99 ) 

do. 

6669 

0,5 

99 

99 9T ( 99 ) 

do. 

7967 

0,1 

99 

Schweineserum I, unerhitzt 

f nach 2 Minuten 

7924 

0,1 

99 

„ inaktiviert O /2 Stunde) 

Sehr schwere Sympt. 

7915 

0,4 

99 

99 99 ( 99 ) 

f nach 5 Minuten 

8031 

0,3 

99 

„ 99 (1 Stunde) 

Leichte Symptome 

7694 

0,4 

99 

99 99 ( 99 ) 

do. 

8224 

0,4 

99 

Schweineserum II, inaktiviert (V 2 Stunde) 

Keine Symptome 

8226 

0,4 

99 

99 99 ( 99 ) 

do. 

7708 

0,1 

99 

Schafserum, unerhitzt 

do. 

7975 

0,2 

99 

99 99 

Leichte Symptome 

7783 

0,5 

99 

99 99 

Schwerste Symptome 

7697 

0,5 

99 

„ inaktiviert ( l / 2 Stunde) 

Keine Symptome 

7968 

0,2 

99 

Ziegenserum, unerhitzt 

do. 

7940 

0,3 

19 

99 99 

Leichte Symptome 

7939 

0,5 

99 

„ inaktiviert (*/ 2 Stunde) 

Keine Symptome 

7734 

0,5 

Ti 

n 99 ( 99 ) 

do. 


nehmen muss und das Serum nur dann verwenden darf, 
wenn es für diese Tiere sich als völlig atoxisch erwiesen hat. 

Anhangsweise will ich noch einige Experimente hinzufügen, die 
nur gelegentliche Prüfungen darstellen für die Frage der Ueber- 
empfindlichkeit aber ganz illustrativ sind. 


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260 


Berthold Bachrach, 
Tabelle 16. 


Meer- 


i > 

— ^ 

— cd r; fl 

eö *- S © 
>W 




schwein 

Erstinjektion 

S c s 

0 ) o <D 
c 'iS 


Reinjektion 

Resultat 

Nr. 


“ J* .2 

. _ w flj ü 

N 5.2 




7795 

0,1 ccm Pferdeserum 

69 Tage 

0,1 ccm Pferdeserum 

f nach P /2 Minuten 


intrakutan 



7786 

0,1 „ Pferdeserum 

69 „ 

0,1 

V v 

f nach IV 4 Minuten 


intrakutan 




7958 

0,1 „ Pferdeserum 

30 „ 

0,1 

V V 

f nach 2 Minuten 


intravenös 




7691 

0,001 „ Pferdeserum 

24 „ 

0,1 

n r> 

f nach 5 Minuten 


subkutan 





7959 

7960 

| Kontrolliere 

— 

0,1 

0,1 

v n 

n n 

Keine Symptome 
do. 

7761 

0,1 ccm Schafserum 

78 Tage 

1 0,1 

„ Schalserum 



subkutan 



f nach 18 Minuten 

7708 

Kontrollier 

| — 

0,1 

V V 

Keine Symptome 


III. Schlussfolgerungen. 

Aus den vorstehenden Untersuchungen im Verein mit den zahl¬ 
reichen in der Literatur bereits vorhandenen Arbeiten über die Be¬ 
deutung der spezifischen Eiweiss-Ueberempfindlichkeitsreaktion geht 
unzweifelhaft hervor, dass diese neueste und wirklich rein biologische 
Methode der Eiweissdifferenzierung für wissenschaftliche Unter¬ 
suchungen bereits jetzt als ausserordentlich bedeutungsvoll bezeichnet 
werden muss. Auch für praktische Untersuchungen ist sie, zumal in 
solchen Fällen, wo nach Lage der Dinge die Präzipitinreaktion oder 
die Komplementbindungsreaktion versagen können, von nicht zu unter¬ 
schätzendem Werte. Die Zuverlässigkeit der Reaktion werden wir 
indes am sichersten beurteilen können, wenn wir sie an der Brauch¬ 
barkeit für forensische Zwecke messen. 

Solchen forensischen Zwecken könnte die Ueberempfindlichkeits- 
reaktion in verschiedenen Richtungen dienen. Sie wäre verwertbar 
für die forensische Blutuntersuchung, für die forensische Untersuchung 
von Fleisch und Wurst, von sonstigen Nahrungsmitteln, z. B. zum 
Nachweis von Honigverfälschungen, zur Erkennung von Futtermittel¬ 
fälschungen etc. Wir werden am zweckmässigsten zu einem Urteil 
über die Bedeutung der Reaktion kommen, wenn wir lediglich ihre 
Bedeutung für die forensische Blutdiagnose zu bewerten versuchen. 
Denn bei der Wichtigkeit der hier in Betracht kommenden forensischen 


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Verwert, d. spezif. Ueberempfindlichkeits-lleakt. z. biolog. Eiweissdifferenzierg. 261 

Fragen müssen wir zweifellos auch am anspruchvollsten gegenüber 
einer Methode sein, die über so wichtige Punkte mitentscheiden soll. 

Gegenwärtig halten müssen wir uns bei der spezifischen Uebcr- 
empfindlichkeitsreaktion, wenn wir sie zur Bestimmung der Herkunft 
verdächtigen Blutes benutzen, zunächst stets, dass es sich genau wie 
bei der Präzipitinreaktion und der Komplementbindungsreaktion nicht 
um ein Verfahren handelt, das dem Blutnachweis dient. Es handelt 
sich lediglich um ein Eiweissdifferenzierungsverfahren. Wir 
sind also, genau wie bei den bisherigen Methoden der forensischen 
Blutuntersuchung, gezwungen, erst mit den bekannten chemischen und 
physikalischen Untersuchungsmethoden (Richtersche Wasserstoffsuper¬ 
oxydprobe, Guajakprobe, Benzidinprobe, Nachweis der Härainkristalle, 
spektroskopische Untersuchung) den Nachweis zu führen, ob über¬ 
haupt Blut vorliegt. Erst dann vermag die nachfolgende biologische 
Untersuchung den Nachweis der Herstammung des Blutes zu erweisen. 
Ich will also im nachfolgenden die spezifische Ueberempfindlichkeits- 
reaktion lediglich von dem Standpunkt aus zu bewerten versuchen, 
ob sie für die forensische Blutdifferenzierung zuverlässig genug ist. 

Ich schicke eine Besprechung der Versuchsbedingungen voraus, 
die meines Erachtens erfüllt sein müssen, wenn überhaupt von einer 
Verwertung der Ueberempfindlichkeitsreaktion für forensische Zwecke 
die Rede sein soll. Ich will damit nicht behaupten, dass man mit 
Hilfe einer anderen Methodik — ich denke speziell an die Pfeiffersche 
Methode — ebenso gut und noch zuverlässiger zum Ziel kommt; ich 
selbst vermag aber begreiflicherweise nur diejenigen Versuchsbedingungen 
zu beurteilen, mit denen ich meine Untersuchungen angestellt habe. 

Zunächst die Beschaffung des geeigneten Materiales zur 
Sensibilisierung der Tiere. Für die Extraktion verdächtiger Blutflecke 
können wir uns sehr genau an die Vorschriften halten, welche Uhlen- 
huth und Weid an z für die Extraktgewinnung zum Zweck der Prä¬ 
zipitinreaktion gemacht haben. Wir können aber auf völlige Klarheit 
der Extrakte für die Ueberempfindlichkeitsreaktion verzichten. Als 
Extraktionsmittel empfehle ich ebenfalls physiologische (0,85 pCt.) 
Kochsalzlösung. Es wird ebenso wie für die Präzipitinreaktion 
zweckmässig sein, durch eine vorhergehende mit dem Extrakt 
angestellte Eiweissprobe, am besten Kochprobe, unter Zusatz einiger 
Tropfen 25 proz. Salpetersäure von dem Eiweissgehalt sich eine un¬ 
gefähre Vorstellung zu verschaffen, am zweckraässigsten unter gleich¬ 
zeitiger Zuhilfenahme von Kochproben genau hergestelltcr Blutver- 


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262 


ßertbold Bachraoh, 


dünnungen von bekannter Konzentration. Durch Vergleich der Stärke 
der auftretenden Trübung bzw. des betreffenden Niederschlages ist 
man in der Lage, leidlich genau anzugeben, mit wieviel Kubikzenti¬ 
metern Blut bzw. Serum man die Versuchstiere behandelt hat. Liefert 
die Kochprobe eine eben noch erkennbare schwache Trübung, so 
entspricht dies, wie ich in Bestätigung der Angaben Uhlenhuths 
gefunden habe, ungefähr einer Verdünnung 1: 1000. Für die Sensi¬ 
bilisierung genügt eine derartige Verdünnung vollkommen. Ist der 
Blutextrakt konzentrierter, so ist es immerhin empfehlenswert, über 
eine Konzentration von 1:100 nicht hinauszugehen und, falls eine 
solche vorliegt, die Meerschweine mit nur 1 ccm zu sensibilisieren. 
Handelt es sich um einen einer Blutverdünnung von 1 : 1000 ent¬ 
sprechenden Extrakt, so genügen zur Sensibilisierung 1—5 ccm. Lässt 
sich mit der Kochprobe kein koagulierbares Eiweiss nachweisen, so 
ist es, wie Uhlenhuth und Händel gefunden haben, ganz zweck¬ 
mässig, 3 mal je einen über den anderen Tag 1 ccm oder mehrere 
Kubikzentimeter zu injizieren. 

Was den Modus der Sensibilisierung betrifft, so habe ich in 
meinen Untersuchungen ausschliesslich von der subkutanen Injektions¬ 
methode Gebrauch gemacht und glaube, dass sie für praktische 
Zwecke vollauf genügt. Eine beträchtlichere Ueberlegenheit anderer 
Iniektionsmethoden (intravenös, intraperitoneal, intrazerebral usw.) ist 
bisher kaum festgestellt und an Einfachheit und Sicherheit der Aus¬ 
führung übertrifft die subkutane Einverleibung zweifellos die anderen 
Applikationsmethoden. Ich führte die subkutane Sensibilisierung stets 
in den seitlichen Brustpartien aus, indem ich nach der Richtung der 
Achselhöhle hin injizierte. 

Was die Auswahl der Meerschweine betrifft — dass aus¬ 
schliesslich Meerschweine in Betracht kommen, habe ich bereits oben 
erwähnt —, so bedarf dieser Punkt einer ganz besonderen Beachtung. 
Für forensische Zwecke ist man meines Erachtens gezwungen, nur 
Tiere einer gut kontrollierten eigenen Zucht zu verwenden, da man 
bei dem von Händlern gelieferten Material, zumal bei den zurzeit in 
so zahlreichen Laboratorien angestellten Versuchen über Ueber- 
empfindlichkeit, niemals sicher ist, wirklich „normale“ Tiere geliefert 
zu erhalten. Wenn man weiterhin nicht die Garantie hat, dass die 
Muttertiere der Versuchstiere normale Tiere waren, die noch niemals 
für Ueberempfindlichkeitsversuche benutzt sind, ist die Vorsichts- 
massregel zu beachten, nur ausgewachsene, ca. 300 g schwere Tiere 

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Verwert, d. spezif. Ueberempfindlichkeits-Reakt. z.biolog.Eiweissdifferenzierg. 263 

zu verwenden, denn wie Rosenau und Anderson, Gay und Southard, 
Lewis u. a. gezeigt haben, kann die spezifische Ueberempfindlichkeit 
der Mutter auf die Jungen übergehen. Im übrigen verweise ich auf 
das S. 243 Gesagte. Grosser Wert ist weiter auf eine sorgfältige 
Kennzeichnung zu legen, die bei forensischen Fällen am zweck- 
mässigsten in dreifacher Weise erfolgt: einmal durch Aufnahme einer 
genauen Beschreibung der natürlichen Zeichnung des Tieres, weiterhin 
durch eine künstliche Zeichnung des Tieres mit Hilfe von dauerhaften 
Farben und endlich noch durch eine Ohrmarke. Um jede Ver¬ 
wechselung auszuschliessen, würde es in einem gegebenen forensischen 
Fall weiterhin zweckmässig sein, den Versuchskäfig unter Verschluss 
zu halten. Endlich ist es nötig, unter den gleichen Bedingungen 
ebenso genau gekennzeichnete, nicht behandelte Kontrolliere in 
grösserer Zahl vorrätig zu halten. 

Die Zahl der zu sensibilisierenden Meerschweine wird 
naturgemäss in bestimmten Fällen durch die Masse des Untersuchungs¬ 
materiales begrenzt sein. Wo diese Begrenzung nicht besteht, ist 
Ausdehnung des Versuches auf eine möglichst grosse Zahl von Tieren 
erwünscht, da, wie auch meine Untersuchungen zeigen, sich gelegent¬ 
lich doch refraktäre Tiere finden können. Ausserdem ist es ja nötig, 
zur Kontrolle der Spezifität der Sensibilisierung eine Reihe hetero- 
loger Sera zur Reinjektion heranzuziehen. In forensischen Fällen 
liegt die Sache sehr häufig so, dass der betreffende Beklagte an¬ 
gibt, die Blutflecken rührten von irgend einem anderen Tiere her. 
In solchen Fällen ist es dann unerlässlich, eine entsprechende An¬ 
zahl Meerschweine für die Nachprüfung mit mindestens 2 Seris zu 
präparieren. Genauere Bestimmungen über die Zahl der zu sensibili¬ 
sierenden Tiere lassen sich also nicht treffen. Als Mindestzahl für 
den Einzelfall kämen für forensische Fälle meines Erachtens doch 
10 Meerschweine in Betracht. 

Was den Zeitpunkt für die Reinjektion betrifft, so empfehle 
ich in Uebereinstimmung mit Uhlenhuth und Händel 3—4 Wochen 
nach der Sensibilisierung. Nach 4 Wochen kann man, selbst wenn 
sehr kleine Eiweissmengen injiziert sind, darauf rechnen, dass die 
Sensibilisierung eingetreten ist, zu einem späteren Zeitpunkt habe 
ich wenigstens keine Uebererapfindlichkeit mehr finden können, wenn 
sie nicht auch schon nach 4 Wochen vorhanden war. Ich möchte 
aber betonen, dass es keine grossen Bedenken hat, die Tiere erst zu 
einem späteren Zeitpunkt zu prüfen, weil erfahrungsgemäss die 

Vierteljahraschrift f. ger.Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 2. jg 


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264 


Berthold Bachrach, 


Ueberempfindliehkeit sehr lange andauert. In Fällen, wo es erwünscht 
ist, rascher als in 4 Wochen zu einem Resultat zu kommen, empfiehlt 
sich, vorausgesetzt, dass genügend Tiere sensibilisiert worden sind, 
ein schon 14 Tage nach der Sensibilisierung anzustellender Vorversuch 
mit einigen Tieren. 

Als Material zur Reinjektion kommt für die Blutdifferenzierung 
ausschliesslich das Serum in Betracht. Nach unseren Erfahrungen 
ausschliesslich inaktiviertes, d. h. 1 Stunde auf 56—60° erwärmtes 
Serum. Die von Pfeiffer, Uhlenhuth und Händel u. a. nach¬ 
gewiesene toxische Wirkung zahlreicher normaler Sera wird durch 
diese Inaktivierung in vielen Fällen beseitigt, indes, wie wir uns 
überzeugen konnten, nicht immer, so dass es sich für praktische 
Zwecke empfiehlt, nur ältere abgelagerte Sera, die unter sterilen 
Bedingungen ohne Zusatz von Antisepticis aufbewahrt worden sind, 
zu verwenden. 

Auf alle Fälle aber ist eine exakte Prüfung des zur Reinjek¬ 
tion dienenden Serums an einer genügenden Zahl unvorbehandelter, 
einwandfreier Kontrolltiere nötig. Was die Zahl der Kontrolltiere be¬ 
trifft, so möchte ich als Norm hinstellen, dass in forensischen Fällen 
die Zahl der Kontrolltiere mindestens die Hälfte der spezifisch sensi¬ 
bilisierten Tiere betragen soll. 

Was die Dosis der Reinjektion betrifft, so hält man sich 
prinzipiell daran, nur die Hälfte der Dosis zu injizieren, die für un- 
vorbehandelte Kontrolltiere ganz bestimmt unschädlich ist. 

Die Applikationsweise bei der Reinjektion war in meinen 
Versuchen ausschliesslich die direkte Einführung in das Blut, sei es 
durch Einspritzung in die freigelegte Vena jugularis, sei es durch 
direkte Herzinjektion. Für forensische Zwecke möchte ich auf Grund 
meiner Erfahrungen ausschliesslich die direkte Einführung des Rein- 
jektionsmateriales in das Blut empfehlen. Denn zweifellos ist der 
Symptomenkomplex nach Einführung ins Blut sehr charakteristisch, 
setzt sehr prompt ein und führt in vielen Fällen zum Tode, der 
schliesslich die objektivste aller Folgeerscheinungen ist. Ich hebe 
aber hervor, dass der Tod durchaus nicht immer das charakteristischeste 
Symptom ist; er ist es nur dann, wenn ihm die klassischen Symptome 
des Ueberempfindlichkeitsshocks vorausgehen. Als Modus für die Re¬ 
injektion schlage ich ausschliesslich die intravenöse Injektion nach 
der von mir Seite 243 beschriebenen Technik vor. Bei der direkten 
Injektion ins Herz ist man bei aller Anerkennung der grossen Sicher- 


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Verwert, d. spezif. Ueberempfindlicbkeits-Reakt. z. biolog. Eiweissdifferenzierg. 265 


heit, die man durch Uebung erlangen kann, doch nicht absolut sicher, 
dass man die Flüssigkeit wirklich in das Blut injiziert. Bei der intra¬ 
venösen Injektion kann der Operateur selbst und, was besonders 
wichtig ist, auch der unparteiische Zuschauer sich leicht überzeugen, 
dass das eingespritzte Serum wirklich in die Blutbahn gelangt. Dosen 
von 0,4 bis 0,5 ccm des Serums sind nach meinen Erfahrungen einer¬ 
seits ausreichend zur Erzeugung des typischen Ueberempfindlichkeits- 
shocks bei empfindlichen Tieren und andererseits unbedenklich, wenn 
die oben beschriebene Forderung einer genügenden Prüfung an Kon¬ 
trollieren erfüllt ist. Nötig ist es, das einzuspritzende Serum vorher 
auf Körpertemperatur zu erwärmen, was zweckmässigerweise durch 
einstündiges Einstellen in einen auf 37° eingestellten Thermostaten 
geschieht. 

Die Beobachtung des Tieres nach der Reinjektion soll 
sich immer nur auf ein Tier erstrecken und an der Hand der Uhr 
von genauer Registrierung und Kennzeichnung der Art der Symptome 
begleitet sein. Am zweckmässigsten geschieht es, indem man einem 
Zweiten die beobachteten Symptome diktiert, denn bei dem stürmischen 
E'nsetzen und dem raschen Aufeinanderfolgen der einzelnen Symptome, 
wie man es gelegentlich beobachtet, ist gleichzeitige Beobachtung und 
Registrierung durch dieselbe Person nicht immer möglich. 

Die für die Anerkennung eines typischen Ueberempfind- 
lichkeitsshocks charakteristischen Symptome habe ich weiter 
oben (Seite 244) charakterisiert. Für forensische Zwecke scheint es 
mir nötig, ausschliesslich jenen Syptomenkomplex als wirklich be¬ 
weisend anzusehen, den ich als „schwere Symptome“ oben gekenn¬ 
zeichnet habe. Ich bin zwar nicht im Zweifel, dass auch die leichten 
Symptome, wenn der Versuch unter allen beschriebenen Kautelen 
vorgenommen worden ist, das Vorhandensein von Ueberempfindlichkeit 
beweist; für forensische Zwecke aber erscheint mir grössere Vorsicht 
•empfehlenswert. Vielleicht wird die genaue Registrierung des Tempe¬ 
ratursturzes nach Pfeiffer weitere Konzessionen hinsichtlich des an¬ 
zuerkennenden Symptomenkomplexes ermöglichen. 

Endlich hebe ich hervor, dass bei den im Ueberempfindlichkeits- 
shock zugrunde gegangenen Tieren sich eine sorgfältige Sektion 
des Versuchstieres anzuschliessen hat, wobei speziell die von Biedl 
und Kraus nachgewiesene charakteristische Lungenblähung eine auf¬ 
klärende oder die Diagnose „Ueberempfindlichkeitsshock“ sichernde 
Ergänzung bildet. 

18 * 


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Berthold Bachrach, 


Im Vorstehenden sind also lediglich die Bedingungen charak¬ 
terisiert, die erfüllt sein müssen, wenn eine forensische 
Verwertung der Ueberempfindlichkeitsreaktion in Frage 
kommen soll. 

Es bleibt mir noch übrig zu erörtern, ob ganz allgemein die 
Ueberempfindlichkeitsreaktion unter den genannten Bedingungen den 
Anforderungen genügt, die wir an eine forensische Methode stellen 
müssen, welche eventuellen Vorzüge, welche Nachteile sie besitzt und 
was sie im Vergleich mit den bereits vorhandenen biologischen Eiweiss- 
differenzierungsmethoden leistet. 

Die unerlässlichste Forderung für die forensische Verwertung ist 
natürlich die Spezifität der Reaktion. Wenn wir dabei uns gegen¬ 
wärtig halten, dass diese Spezifität durch die Tatsache der Verwandt¬ 
schaftsreaktion eingeschränkt wird, genau wie dies auch bei den 
anderen biologischen Eiweissdifferenzierungsmethoden bekannt ist, so 
müssen wir im übrigen zugeben, dass die Ueberempfindlichkeitsreak¬ 
tion einen auch für forensische Zwecke genügenden Grad von Spezi¬ 
fität besitzt. Wir müssen dabei allerdings auf die Verwendung des 
die Uebererapfindlichkeit steigernden Diphtheriegiftes bei der Sensibi¬ 
lisierungsinjektion auf Grund meiner Untersuchungen verzichten, so 
erwünscht an sich eine solche Steigerung der quantitativen Leistungs¬ 
fähigkeit der Methode wäre. 

Was nun diese quantitative Leistungsfähigkeit betrifft, so 
ist auch diese für forensische Zwecke vollkommen genügend, ja es 
zeigt sich hierin die Ueberempfindlichkeitsreaktion der Präzipitinre¬ 
aktion zum Teil der Komplementbindungsreaktion noch überlegen, 
was am besten daraus hervorgeht, dass, wie Uhlenhuth und Händel 
gezeigt haben, auch mit erhitztem Eiweiss und mit Mumienmaterial 
die spezifische Sensibilisierung gelang, also Material, bei dem die 
anderen biologischen Methoden versagen. 

Was die Beurteilung der Ueberempfindlichkeitsreaktion 
angeht, so ist der Symptomcnkomplex, zumal unter der von mir 
(S. 265) gegebenen Einschränkung, so eindeutig, dass, zumal wenn 
wir einige Todesfälle im gegebenen Versuch zu verzeichnen haben, 
die wir überdies noch durch Sektion kontrollieren, wir ruhig sagen 
können, dass die Reaktion in ihrer Sinnfälligkeit eindeutig genug ist, 
um zu keinen Irrtümern Anlass zu geben. Voraussetzung ist selbst¬ 
verständlich, dass nur ein Sachverständiger, der schon Erfahrungen 
über die Reaktion besitzt, Schlüsse aus den beobachteten Symptomen 


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Verwert, d. spezif. Ueberempfindlichkeits-Reakt. z. biolog. Eiweissdifferenzierg. 267 

ziehen darf. Dass nur Sachverständige zur Ausführung der biologischen 
Eiweissdifferenzierung in Frage kommen, gilt ja ebenso auch für die 
bisher gebräuchlichen Methoden. 

Einen sehr schätzenswerten Vorteil der Uebereropfindlichkeits- 
reaktion erblicke ich in ihrer Anwendbarkeit auf Eiweiss- 
geraische. Wie schon früher Sachs und Bauer hervorgehoben 
haben, kann in solchen Fällen die Präzipitinreaktion versagen. Man 
denke z. B. nur an den Fall, dass ein Mörder den verdächtigen Fleck 
mit Rinderblut übergiesst. Der nach Uhlenhuths Vorschrift hieraus 
hergestellte Extrakt entsprechend 1/1000 Blutverdünnung wird zwar 
mit der Präzipitinreaktion nachweisbare Mengen von Rindereiweiss 
enthalten, die gleichzeitig vorhandenen geringen Mengen von Menschen- 
eiweiss können aber dem Nachweis durch das spezifische Präzipitin 
leicht entgehen. Hier könnte die quantitativ viel feiner arbeitende 
Ueberempfindlichkeitsreaktion noch zum Ziele führen. Mein eigener 
oben raitgeteilter Versuch mit einem Eiweissgemisch, in allerdings 
etwas roher Weise angestellt, beweist jedenfalls, dass im Prinzip die 
Differenzierung von Eiweiss auch in Eiweissgemischen gelingt. 

Alles in allem glaube ich sagen zu können, dass an 
Spezifität, an quantitativer Leistungsfähigkeit und an Ein¬ 
deutigkeit der Reaktion die Ueberempfindlichkeitsmethode 
als Mittel der biologischen Eiweissdifferenzierung nichts zu 
wünschen übrig lässt. 

Es drängt sich uns noch die Frage auf: Ist überhaupt angesichts 
der auch unter praktischen Verhältnissen bewährten Zuverlässigkeit 
der bisherigen biologischen Eiweissdifferenzierungsmethoden, speziell 
der Präzipitinreaktion, es nötig, noch eine weitere, in ähnlichem 
Sinne arbeitende Methode zu besitzen? Nötig ist eine solche Methode 
gewiss nicht, als Ergänzung erwünscht aber ist sie auf alle Fälle. 
Ich schliesse mich hier völlig dem an, was Pfeiffer sagt: „Es gibt 
auf dem grossen weiten Gebiete der ärztlichen Sachverständigkeit 
keine Untersuchungstechnik, die so absolut einwandfrei und in allen 
Fällen anwendbar ist, dass eine zweite und selbst dritte auf anderen 
Wegen demselben Ziele zustrebende Probe nicht Bedürfnis wäre.“ 
Zumal wenn wir uns erinnern, dass die Ueberempfindlichkeitsreaktion 
noch unter solchen Bedingungen Resultate liefert, wo die Präzipitin¬ 
reaktion und die Komplementbindungsreaktion versagen, werden wir 
sie als eine nicht unerwünschte Ergänzung der bisherigen Methoden 
wohl bezeichnen müssen. 


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268 


fierthold Bachrach, 

Der Einwand, dass die Reaktion zu umständlich sei, könnte 
auf Grund meiner obigen breiten Schilderung aller der Vorbedingungen, 
die notwendigerweise erfüllt sein müssen, sehr berechtigt erscheinen. 
Tatsächlich sind diese Bedingungen nicht so schwer zu erfüllen, als 
sie sich im geschriebenen Wort ausnehmen; lediglich die grosse Ver¬ 
antwortlichkeit bei Empfehlung von Methoden für forensische Zwecke 
zwingt zu einer sehr ausführlichen schriftlichen Darstellung, wo in 
Wirklichkeit die praktische Methode gar nicht so umständlich ist. 
Ueberdies muss man sich doch praktisch auf den Standpunkt stellen, 
dass für forensische Zwecke die Umständlichkeit einer Methode kaum 
in Betracht kommt, wenn ihr Ergebnis eindeutig ist. Der Vergleich 
mit der Präzipitinreaktion hinsichtlich dieser Umständlichkeit liegt 
natürlich besonders nahe: Hier eine einfache im Reagensglas anzu¬ 
stellende Reaktion, dort eine über Wochen sich hinziehende, unter 
zahlreichen Kautelen anzustellende tierexperimentelle Untersuchung. 
Ich gebe aber Pfeiffer vollkommen Recht, wenn er hervorhebt, dass 
die Anstellung der Präzipitinreaktion durchaus nicht immer so einfach 
ist und die der Ueberempfindlichkeitsreaktion nicht so umständlich, 
wie man meist meint. Die Herstellung der präzipitierenden Antisera 
gehört ja doch eigentlich auch zur Technik der Präzipitinreaktion und 
es ist meines Erachtens für den gewissenhaften Gutachter in forensischen 
Fällen eine kaum erlässliche Forderung, sich die für die Praxis 
nötigen Präzipitine selbst herzustellen, auch bei allem Vertrauen, was 
man zu den Laboratorien haben darf, welche die betreffenden Sera 
liefern und bei aller Möglichkeit diese Sera noch selbst objektiv zu 
prüfen. Bei der Ueberempfindlichkeitsreaktion fällt die Schwierigkeit 
in der Herstellung des nötigen Antikörpers eigentlich völlig weg, es 
genügt die subkutane Einspritzung des Meerschweins und es bildet 
seinen Antikörper, sein „Sensibilisin“ recht prompt. 

Unerwünscht ist gewiss die durch die Methode gegebene späte 
Ermöglichung des Urteils. Wie ich aber ausführte, kann unter 
geeigneten Bedingungen durch einen nach 14 Tagen schon angestellten 
Versuch eine Entscheidung geliefert werden. Ueberdies ist das Vor¬ 
gehen in gerichtlichen Fällen'auch in anderer Richtung nicht immer 
so rasch, dass eine sofortige Entscheidung ä tout prix nötig wäre. 

Der gewichtigste Einwand gegen die Brauchbarkeit der Ueber¬ 
empfindlichkeitsreaktion ist zweifellos der von Uhlenhuth und Händel 
gemachte, dass sie zu fein sei. Sie konnten zeigen, dass mensch¬ 
licher Schweiss und normaler, chemisch eiweissfreier Urin noch Meer- 


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Verwert, d. spezif. Ueberempfindlichkeits-Reakt. z. biolog. Eiweissdifferenzierg. 269 


Schweine zu sensibilisieren vermag. Mit Rücksicht auf diese Fragen 
habe ich mir gerade in Berücksichtigung des Menschenserums ein 
genaues Urteil über die quantitative Leistungsfähigkeit der Reaktion 
zu verschaffen gesucht. 

Nach den in Tabelle 1—3 verzeichneten Resultaten liegt bei 
0,000001 ccm Menschenserum als sensibilisierende Dosis ungefähr die 
Grenze, bei der wir durch Reinjektion noch den beweisenden Symptoraen- 
komplex (schwere Symptome) erzielen können. Ich glaube kaum, 
dass z. B. ein durch Rinderblut entstandener Fleck an einem mensch¬ 
lichen Kleidungsstück gleichzeitig soviel durch Benetzung mit Urin 
oder Schweiss ihm zugemischtes Menscheneiweiss enthält, dass der 
nach Vorschrift hergestellte Extrakt noch zur Sensibilisierung ge¬ 
nügende Mengen enthält. Immerhin verdient dieser Punkt weitere 
Beachtung. 

Die Frage der Anwendung der Ueberempfindlichkeits- 
reaktion als Mittel der biologischen Eiweissdifferenzierung 
für praktisch-forensische Zwecke ist also meines Erachtens 
noch nicht völlig spruchreif. Die Bedeutung der Reaktion 
aber scheint mir doch so gross, dass ihre weitere gründliche 
Bearbeitung gerade im Hinblick auf praktische Zwecke 
sehr angezeigt scheint. 

Ich erfülle noch die angenehme Pflicht, Herrn Professor Römer 
für die Anregung zu dieser Arbeit und für die freundliche Unter¬ 
stützung aufrichtig zu danken. 


Literatur. 

1. Zusammenfassende Darstellungen über Eiweiss- 
überempfindlichkeit. 

1) Dörr, Die Anaphylaxie. Handbuch der Immunitätsforschung von Kraus und 
Levaditi. Bd. II. 

2) Derselbe, Der gegenwärtige Stand der Lehre von der Anaphylaxie. Zeitschr. 
f. Immunitätsforschung. Ref. Bd. II. 

3) Levaditi, Ueber Anaphylaxie. Weichardts Jahresberichte über das Jahr 1907. 

4) Michaelis, Anaphylaxie. Oppenheimers Handbuch der Biochemie. Bd. II. 

5) Otto, Ueber Anaphylaxie und Serumkrankheit. Handbuch der pathogenen 
Mikroorganismen. U. Ergänzungsbd. 1908. 


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270 


Berthold Bachrach, 


II. Arbeiten über praktische, speziell forensische Verwertung der 

Eiweissüberempfindlichkeit 

6) Pfeiffer, Ueber das verschiedene Verhalten der Körpertemperatur nach In¬ 
jektion und nach Reinjektion von artfremdem Serum. Wiener klin. Wochenschr. 
1909, 1. 

7) Derselbe, Versuchstechnische Bemerkungen zum Nachweis des anaphylak¬ 
tischen Temperatursturzes. Ebendas. 1909, 36. 

8) Derselbe, Ueber anaphylaktischen Temperatursturz und seine praktische 
Bedeutung. Sitzungsberichte der Akademie der Wissensch. Wien. IIL Abt 
Bd. 118. 1909. 

9) Derselbe, Verhandlungen der 81. Versammlung Deutscher Naturforscher und 
Aerzte. Salzburg 1909. 

10) Pfeiffer u. Mita, Studien über Eiweissanaphylaxie. Zeitscbr. f. Immunitäts¬ 
forschung. Bd. IV. 

11) Pfeiffer, Die Serumüberempündlichkeit und ihre forensische Bedeutung. 
Archiv f. Kriminalanthropologie und Kriminalistik. Bd. 36. 

12) Sleeswijk, Bemerkungen zu der Arbeit von 0. Thomsen. Zeitschr. f. 
Immunitätsforschung. Bd. II. 

13) Thomsen, Ueber die Spezifität der Serumanaphylaxie und die Möglichkeit 
ihrer Anwendung in der mediko-forensischen Praxis zur Differenzierung von 
Menschen- und Tierblut (in Blutflecken usw.). Ebendas. Bd. I. 

14) Derselbe, Untersuchungen über Blutanaphylaxie und die Möglichkeit ihrer 
Anwendung in der Gerichtsmedizin. Ebendas. Bd. III. 

15) Titze, Die Anaphylaxie und ihre praktische Verwertbarkeit. Zeitschr. f. 
Fleisch- u. Milchhygiene. Bd. 20. 1909. 

16) Uhlenhuth, Diskussion zu dem Vortrag von Händel: Ueber Ergebnisse der 
Immunitätsforschung. Deutsche militärärztl. Zeitschr. 1909, 2. 

17) Derselbe, Bemerkungen zu vorstehender Arbeit von 0. Thomsen. Zeitschr. 
f. Immunitätsforschung. Bd. I. 

18) Derselbe, Diskussion bei der III. Tagung der Freien Vereinigung für Mikro¬ 
biologie. Ref. Ebendas. Bd. I. 

19) Uhlenhuth u. Händel, Untersuchungen über die praktische Verwertbarkeit 
der Anaphylaxie zur Erkennung und Unterscheidung verschiedener Eiweiss¬ 
arten. Ebendas. Bd. IV. 

III. Sonstige Literatur. 

20) Andrejew, Ueber Anaphylaxie mit Eiweiss tierischer Linse. Arbeiten aus 
dem Kaiserl. Gesundheitsamt. 1909. Bd. 30. H. 2. 

21) Bauereisen, Die Beziehungen zwischen dem Eiweiss der Frauenmilch und 
dem Serumeiweiss von Mutter und Kind. Arch. f. Gynäkol. Bd. 90. 

22) Biedl u. Kraus, Experimentelle Studien über Anaphylaxie. Wiener klin. 
Wochenschr. 1910, 11. 

23) Bordet u. Gengou, Sur l’existence des substances sensibilatrices dans la 
plupart des serums antimicrobiens. Annales de l’Institut Pasteur. 1909. 

24) Braun, Zur Frage der Serumüberempfindlichkeit. Zeitschr. f. Immunitäts¬ 
forschung. Bd. III. 


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Verwert, d. spezif. Ueberempfindlichkeits-Reakt. z. biolog. Eiweissdifferenzierg. 271 

25) Dörr u. Russ, Stadien über Anaphylaxie. Ebendas. Bd. U. 

26) Friedberger, Kritik über die Theorien der Anaphylaxie. Ebendas. Bd. II. 

27) Gay and Southard, On Serum anaphylaxis in the guinea-pigs. Journ. of 
med. researches. 1907, 2. 

28) Lewis, Further observations on anaphylaxis to horse serum. Journ. of 
experim. med. Vol. X. 1908. 

29) Mita, Ueber die Verwertbarkeit des anaphylaktischen Temperatursturzes zur 
Grössenbestimmung eines Ueberempfindlichkeitsshocks. Zeitschr. f. Immunitäts¬ 
forschung. Bd. V. 

30) Moreschi, Zur Lehre von den Antikomplementen. Berl. klin. Wochenschr. 
1905, 37. 

31) Neisser u. Sachs, Ein Verfahren zum forensischen Nachweis der Herkunft 
des Blutes. Ebendas. 1905, 44 u. 1906, 3. 

32) Römer, Zur Theorie der spezifischen Eiweissüberempfindlichkeit. Sitzungs¬ 
berichte der Gesellsoh. z. Beförderung d. gesamt. Naturw. Marburg 1910, 12. 

33) Rosenau and Anderson, A study of the cause of sudden death following 
the injection of horse serum. Hygienic laboratory bull. 1906. 

34) Sachs u. Bauer, Ueber die Differenzierung des Eiweisses in Gemischen 
verschiedener Eiwoissarten. Arbeiten aus dem Frankfurter Seruminstitut. H. 3. 

35) Trommsdorff, Ueber biologische Eiweissdifferenzierung bei Ratten und 
Mäusen. Arbeiten aus dem Kaiserl. Gesundheitsamt. Bd. 32. H. 2. 1909. 

36) Uhlenhuth u. Händel, Ueber nekrotisierende Wirkung normaler Sera, 
speziell des Rinderserums. Zeitschr. f. Immunitätsforschung. Bd. III. 

37) Uhlenhuth u. Weidanz, Praktische Anleitung zur Ausführung des bio¬ 
logischen Eiweissdifferenzierungsverfabrens. Gustav Fischer, Jena 1904. 


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11 . 

Aus der Unterrichtsanstalt f. Staatsarzneikunde der Kgl. Univ. 
Berlin (Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. Dr. F. Strassmann). 

Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 

Von 

cand. med. Hochstetter, Studierendem der Kaiser-Wilhelms-Akademie in Berlin. 

(Hierzu Tafel I u. II.) 

Die Zahl der weissen Blutkörperchen, die Berechnung des pro¬ 
zentuellen Verhältnisses der einzelnen Arten derselben zueinander, 
sowie ihre Morphologie, kurz, das ganze Verhalten dieser Zellen war 
in den letzten Jahren und Jahrzehnten Gegenstand ausgedehnter 
Forschung vieler Autoren. Der Zweck dieser Arbeiten war ein ver¬ 
schiedener; teils wurden sie aus rein hämatologischen, teils aus 
therapeutischen, vielfach aus diagnostischen Gründen ausgeführt. 

Es ist daher nicht zu verwundern, dass nicht nur manche Diagnosen 
von Krankheiten, sondern auch von bestimmten Todesarten durch 
das Verhalten der Leukozyten zu stützen versucht wurden. Von ver¬ 
schiedenen Seiten ist darauf hingewiesen worden, dass sich beim 
Ersticken und Ertrinken an diesen Zellen, sowohl in bezug auf ihre 
Zahl als auch auf ihre Morphologie typische Erscheinungen finden, 
eine Tatsache, die, falls richtig, diagnostisch wertvoll sein könnte. 
Haben wir doch immer noch keine ganz sicheren Kriterien für den 
Erstickungstod, wenn uns der Nachweis der erstickenden Gewalt fehlt. 

Mo di ca (16) hat in seiner Arbeit „Studii sull’ asfissia“, die er 
einen Beitrag zur „Physiopathologie der Erstickung“ nennt, aus¬ 
gedehnte experimentelle Untersuchungen über diese Frage angestellt. 
Als Versuchstiere benutzte er Kaninchen. Durch Tamponade von 
Nase und Mund behinderte er den Lufteintritt in die Lungen und 
setzte diese Prozedur mit Unterbrechungen bis zu zwei Stunden fort. 
Kurz vor der Erstickung, manchmal während derselben, nach der¬ 
selben und dann noch längere Zeit alle zwei Stunden machte er 
von dem Blut der Tiere Ausstrichpräparate und bestimmte das pro¬ 
zentuelle Verhältnis der einzelnen Arten zueinander. Diesen Versuch 


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Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


273 


machte er an 6 Tieren. Nur bei 2 Versuchen davon berechnete 
er das Verhältnis der weissen zu den roten Blutkörperchen und gibt 
damit ein Bild von den ungefähren, absoluten Schwankungen dieser 
Zellen. 

Aus dem Prozentanteil der einzelnen Arten — er unterscheidet 
Polynukleäre, Mononukleäre, Uebergangsformen und Lymphozyten — 
berechnet er die sogenannte Leukozytenformel, d. h. das Verhältnis 
der Polynukleären zu sämtlichen anderen Formen, wodurch er ein ganz 
anschauliches Bild der relativen Verschiebungen der einzelnen Zell¬ 
arten gibt. 

Folgendes möchte ich aus seinen Versuchen anführen: Bei kurz 
dauernder Erstickung beobachtete er Zeichen beginnender Chromatolyse 
und Quellung von Kern und Protoplasma, bei lange dauernder Homo¬ 
genisierung des Kernes, Zerstörung des Protoplasmas und Freiwerden 
der Granula. Ferner hat er in 33 pCt. der Fälle kernhaltige Erythro¬ 
zyten gefunden. 

Das Verhältnis der Leukozyten zu den Erythrozyten stieg von 
durchschnittlich 2,68 pM. auf 6,9 pM., ein Ansteigen, das hauptsäch¬ 
lich auf Kosten der Polynukleären zu setzen ist, die sich von durch¬ 
schnittlich 50,78 pCt. der Gesamtzahl auf 82,91 pCt. vermehrten, 
und zwar erreichten sie diesen Höhepunkt gewöhnlich 4 Stunden 
nach Anfang der Erstickung, also 2 Stunden nach ihrem Aufhören. 

Zweimal hat Mo di ca schon nach 20, bzw. 30 Minuten Erstickung 
gezählt und dabei eine Verschiebung zugunsten der Mononukleären 
gefunden, die von 31 pCt. bzw. 37,5 pCt. auf 41 pCt. bzw. 50,9 pCt. 
gestiegen waren. Späterhin sank der Prozentsatz der Mononukleären 
und auch absolut schienen sie vermindert zu werden. Die Lymphozyten 
zeigten ungefähr dasselbe Verhalten wie die Mononukleären, d. h. am 
Anfang eine Vermehrung, später eine Verminderung. 

Er schliesst daraus, dass sowohl bei kurz-, als auch bei lang¬ 
dauernder Erstickung eine Leukozytose zustande komme, und zwar 
sei die kurzdauernde Erstickung charakterisiert durch eine prozentuelle 
und absolute Mononukleose, die langdauernde durch eine ebensolche 
Polynukleose. Daher sinke am Anfang der langhingezogenen Er¬ 
stickung der Wert der Leukozytenformel, steige nachher an, und zwar 
einmal bis auf 12,69 (normal bei den Versuchen von Modica ist 
etwa 1). Nach Aufhören der Erstickung kehren im Verlauf mehrerer 
Stunden alle Formen zur Norm zurück. 

Nach früheren Untersuchungen desselben Autors (17) bleibt auch 


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Hochstetter, 


bei kurzdauernder Erstickung längere Zeit eine Leukozytose bestehen; 
z. B. war die Zahl der Leukozyten nach 10 bzw. 20 Minuten Er¬ 
stickung von 9760 bzw. 10 560 auf 15 600 bzw. 21 600 gestiegen 
und nach einer Stunde noch auf 14 800 bzw. 20 720; Resultate, die 
durch Zählung aus dem Blut der Art. femoralis bestätigt wurden. 
Ich werde später noch an der Hand meiner eigenen Versuche diese 
Ergebnisse kritisch beleuchten. Auch auf die weiteren Versuche von 
Modica, sowie seine Theorie will ich erst eingehen, nachdem ich 
meine eigenen Resultate berichtet habe. 

Auch Le Sourd und Pagniez(13) haben schon bei einem Luft¬ 
abschluss von 50 Sekunden eine Vermehrung der Leukozyten fest¬ 
gestellt und zwar bis beinahe auf das Dreifache des Anfangswertes 
(von 6000 auf 16 000); die Zahl der Erythrozyten zeigt nach ihnen 
nur ganz unwesentliche Schwankungen. Nach ‘/j Stunde fanden sie 
wieder normale Werte. 

Ascarelli (1) hat ebenfalls bei verschiedenen Todesarten Blut¬ 
untersuchungen gemacht und zwar bei Tod durch Bulbusstich (5), 
durch Erhängen (5) und durch Ertränken (18). Auch hat er Gelegen¬ 
heit gehabt, das Blut von 3 menschlichen Leichen zu untersuchen. 
Er kommt zu folgenden Schlusssätzen: 

Bei Ertränkung tritt in der Agone eine Mononukleose und eine 
Polynukleolyse ein; die erstere Erscheinung ist bedingt durch das 
Ersticken, die zweite durch die Blutverdünnung infolge des ein¬ 
gedrungenen Wassers. Dadurch kommt eine Inversion der Leuko¬ 
zytenformel zustande (so bei einem Hund von 2,678 auf 1,48). An 
den Leukozyten, besonders den Polynukleären kommt beim Ertrinken 
eine schwere morphologische Alteration zustande, besonders am Kern 
(Blässe, Schwellung, Fragmentation, Homogenisierung), eine Er¬ 
scheinung, die besonders im Blut des linken Herzens deutlich sei. 
Sie komme zustande durch die Blutverdünnung (V 9 — 7e) mit hypo¬ 
tonischer Lösung und trete nicht ein beim Ertränken in iso- und 
hypertonischer Lösung. Beim Erhängungstode finde sich eine auf 
Rechnung der Asphyxie zu setzende Mononukleose, aber kaum eine 
Verminderung der Polynukleären, wie auch die histologischen Ver¬ 
änderungen an diesen Zellen nur gering seien. , 

Zu ähnlichen Resultaten kommt auch Woizechowsky (28) in 
seinen Untersuchungen über Blutveränderung beim Ertrinkungstode: 
Im linken Herzen finde man eine Blutverdünnung (Verminderung der 
roten und weissen Blutzellen, des Hämoglobingehaltes und des spe- 


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Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


275 


zifischen Gewichtes); im rechten Herzen seien diese Erscheinungen 
nur angedeutet. Die Färbbarkeit dar Erythrozyten ertränkter Hunde 
sei herabgesetzt. 

Le Verdereau (14) hat 23 Hunde und Kaninchen in ver¬ 
schiedenen Flüssigkeiten ertränkt und besonders im linken Herzen 
eine starke Blutverdünnung gefunden, die beim Ertränken in hypo¬ 
tonischer Lösung infolge Hämolyse noch stärker war, als der Blut¬ 
verdünnung entsprach. Jedoch muss man bedenken, dass bei solchen 
Zählungen, wenn sie nicht sofort nach dem Tode vorgenomraen werden, 
postmortale Eindickung und Gerinnselbildung das Resultat immer 
trüben werden. 

Um diese verschiedenen Befunde nachzuprüfen, ihre teilweise 
Verschiedenheit zu erklären und dem Grunde dieser Erscheinungen 
näher zu kommen, habe ich unter Leitung von Herrn Privatdozenten 
Dr. Fraenckel, eine Anzahl ähnlicher Versuche unternommen, über 
die ich nun zunächst berichten will. 

Als Versuchstiere benutzte ich ausschliesslich Kaninchen, deren 
Leukozyten allerdings mit denen des Menschen nicht übereinstimmen. 

Ich habe in der Literatur folgende verschiedene Daten darüber 
gefunden. 

Modica (18) unterscheidet, wie schon oben erwähnt, a) poly¬ 
nukleäre neutrophile Leukozyten, denen er die eosinophilen zuzählt 
und die bei ihm 36,53—83,55 pCt. der Gesamtzahl der Leukozyten 
ausmachen; b) die mononukleären Leukozyten, von der 2—3fachen 
Grösse eines Erythrozyten, die einen grossen, ovalen, gewöhnlich 
exzentrisch liegenden, sich nur schwach färbenden Kern haben, der 
von viel basophilem Protoplasma umgeben ist, sind nach seinen 
Zählungen mit 10,36—45,19 pCt. vertreten; c) Lymphozyten nennt 
er mononukleäre Zellen, die, höchstens von der doppelten Grösse 
eines Erythrozyten, einen zentral gelegenen, sich stark färbenden 
Kern und nur wenig basophiles Protoplasma besitzen, und die 5,75 
bis 30,16 pCt. betragen. Die Uebergangsformen (0—8,02 pCt.) 
charakterisiert er nicht. 

Noch grösser sind die, das prozentuelle Verhältnis betreffenden 
Schwankungen, besonders in bezug auf die Einkernigen, wenn man 
alle in der Literatur vertretenen Angaben berücksichtigt, die Lind- 
berg (15) zusammengestellt hat. Danach fallen auf die Poly¬ 
nukleären 33—55 pCt., auf die Mononukleären 2—25 pCt., auf die 


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Hochstetter, 


Lymphozyten 20—65 pCt. und auf die Basophilen 2—10 pCt. Aus 
diesen grossen Schwankungen, sowie seinen eigenen Präparaten, die 
er nach verschiedenen Färbemethoden hergestellt hat, zieht er, nach 
meiner Ansicht vollkommen mit Recht den Schluss, dass es nicht 
gut möglich ist, innerhalb der einkernigen und kompaktkernigen 
Leukozyten verschiedene Gruppen zu unterscheiden, da bei dieser 
Zellart alle Uebergänge Vorkommen, und teilt daher die Leukozyten 
ein in 1. polymorphkernige (pseudoeosinophile, basophile und neutro¬ 
phile) und 2. mononukleäre. 

Pröscher (21) unterscheidet polynukleäre pseudoeosinophile, ent¬ 
sprechend den Neutrophilen des Menschen mit araphophilen Granula 
(33—40pCt.), polynukleäre eosinophile (0—0,57 pCt.), basophil gekörnte 
Mononukleäre (4—8 pCt.) und grosse und kleine Lymphozyten (60 
bis 65 pCt.). 

Die Gesamtzahl der Leukozyten schwankt nach diesen Autoren 
zwischen 6000 und 12 000. Bei meinen Tieren bewegte sich dieselbe 
zwischen 3300 und 12 590 mit einem Durchschnittswert von 6822. 
Die Kaninchen mit Werten über 10 000 waren alles ältere Tiere als 
die mit niedrigeren Werten. 

Auf Grund eingehender Studien an meinen nach Giernsa ge¬ 
färbten Präparaten glaube ich am geeignetsten folgende Zelltypen 
unterscheiden zu können: 

1. Polynukleäre (polymorphkernige) amphophile (pseudoeosino¬ 
phile) Leukozyten von der V/ 2 —2 l / 2 fachen Grösse eines Erythro¬ 
zyten. Besitzen diese Zellen nur einen Kern, so hat dieser die typische 
polymorphe Gestalt, d. h. er ist gebuchtet, ring-, stab- oder wurst¬ 
förmig. Oft aber sind auch mehrere Kerne vorhanden, die dann häufig 
durch schmale Brücken verbunden sind. Die Kernmasse färbt sich 
basisch. Das oxyphile, bei Giemsafärbung rötlich erscheinende Proto¬ 
plasma enthält mehr oder weniger amphophile Granula, die besonders 
an der Peripherie angeordnet sind. Zu den Pseudoeosinophilen habe 
ich noch die eosinophilen Polynukleären gerechnet, die sich von 
ersteren nur durch grössere, eosinophile Granula unterscheiden und 
die übrigens beim Kaninchen nur in sehr geringer Anzahl Vorkommen. 
Die Polynukleären machen nach meinen Versuchen durchschnittlich 
39,5 pCt. aus (Maximum 49 pCt., Minimum 29 pCt.). 

2. Uebergangsformen, die ungefähr 2—3 mal so gross als die 
Erythrozyten sind. Ihr Kern zeigt die verschiedensten Formen, von 


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Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


277 


einfacher, beinahe runder, nur leicht gelappter, bis zu stark poly¬ 
morpher; selbst mehrkernige Uebergangsformen habe ich oftmals be¬ 
obachtet. Ihr Kern färbt sich kräftig basophil, das ziemlich reichlich 
vorhandene Protoplasma, das bei Giemsafärbung mit Azurviolett 
kräftig gefärbt erscheint, ist homogen bis wolkig getrübt und enthält 
teilweise auch neutrophile Granula in verschiedener Anzahl und Grösse. 
0,75—16,5 pCt. aller Zellen fallen auf diese Art. Betonen möchte 
ich noch, dass ich mit dem Ausdruck „Uebergangsform“ nur auf ihre 
morphologische, nicht auf ihre genetische Stellung Bezug nehme. 

Den Uebergangsformen zugezählt habe ich noch die nur selten 
(1 pCt.) vorkommenden, ungefähr die 2—3 fache Erythrozytengrösse 
erreichenden hämatogenen polynukleären Mastzellen, wie sie Pappen¬ 
heim (19) bezeichnet, der sie trefflich charakterisiert als Zellen, deren 
Kerne breite blattförmige, flächenhaft erscheinende Gebilde mit mannig¬ 
fachen Ausläufern und Spitzen darstellen, und deren Protoplasma 
spongiös wabenförmig erscheint und sich basophil färbt. 

3. Lymphozyten, zu denen ich sämtliche mononukleären Zellen 
von der 1—3(—4) fachen Erythrozytengrösse rechne. Bei ihren 
kleinsten Formen, den Kleinlyraphozyten, ist der Kern kreisrund, 
höchstens an einer Stelle ganz leicht eingebuchtet, und da er chro- 
matinreich und in seiner Struktur. kompakt ist, erscheint er sehr 
kräftig gefärbt. Das nur sehr spärlich vorhandene Protoplasma um¬ 
gibt entweder als ganz schmaler Ring den Kern oder es ist nur an 
einer Stelle ein Minimum davon sichtbar. Es färbt sich homogen 
basophil, mit Giemsalösung schön himmelblau. In einem gewissen 
Gegensatz zu diesen Kleinlymphozyten stehen -die grossen mononu¬ 
kleären Zellen, die Grosslymphozyten. Ihr weniger chromatinreicher, 
daher schwächer gefärbter Kern, der eine lockerere Struktur besitzt, 
ist häufig leicht gelappt oder wurstförmig; liegt er exzentrisch, so 
erscheint das Protoplasma reichlicher als bei konzentrischer Lage des 
Kernes. Dieses ist, wie das der kleinsten Arten, basophil, doch be¬ 
sitzt es oft eine wolkige Struktur. Selten konnte ich im Gross¬ 
lymphozytenprotoplasma feine Granula bemerken. Zwischen den Gross¬ 
und Kleinlymphozyten sind sämtliche Uebergangsformen vorhanden, 
sodass es, wie auch Grawitz (7) erklärt, nicht gut möglich ist, 
natürliche Gruppen unter ihnen aufzustellen, besonders da ihre Grösse 
auch in nicht zu kontrollierender Weise von der Präparation des Bluts¬ 
tropfens abhängt. Sie machen nach meinen Versuchen 41,25 bis 
67 pCt. aller Leukozyten aus, im Durchschnitt 53 pCt. 


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Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 



278 


Hochstetter, 


An 8 Kaninchen machte ich 17 Versuche. Zwischen je 2 Versuchen 
an demselben Tier liess ich gewöhnlich einen Zeitraum von mindestens 
8—10 Tagen verstreichen, damit es sich in genügender Weise er¬ 
holte. In 11 Versuchen erstickte ich die Tiere einfach durch Vor¬ 
halten eines grossen Wattebausches vor Nase und Mund, wodurch ich 
den Luftzutritt leicht beliebig regeln konnte. Wie stark bei den 
einzelnen Versuchen die Tiere der Asphyxie unterzogen wurden, teile 
ich bei den jeweiligen Protokollen mit. In 9 von diesen 11 Ver¬ 
suchen hatte ich während des Erstickens, das ich 3 Minuten bis 

1 Stunde hinzog, die Tiere einfach auf den Schoss genommen, da ich 
glaubte, so besser, als wenn ich die Tiere gefesselt hätte, natürliche 
Verhältnisse nachzuahmen und alle störenden Einflüsse zu beseitigen. 

2 Tiere erstickte ich 1 bzw. 2 Stunden bei Fesselung auf dem 
Kaninchenbrett und, um den Einfluss letzterer selbst zu studieren, 
untersuchte ich das Verhalten der Leukozyten bei 2 Tieren, die ich 
2 Stunden ohne Erstickung gefesselt hielt. Bei 2 Versuchen brachte 
ich die Tiere ungefähr \ l l 2 Stunden in künstlich kohlensäurereiche Atmo¬ 
sphäre und daran schloss ich 2 weitere mit 30—35 Sekunden dauernder 
Ertränkung. Die Blutentnahme machte ich immer kurz vor der Er¬ 
stickung, bei länger dauernder während derselben, sofort nach der¬ 
selben und dann noch längere Zeit, alle 1 / 2 —1 Stunden, abwechs¬ 
lungsweise aus den Randvenen beider Ohren. Oefter war ich ge¬ 
zwungen, das Ohr mit etwas Aether oder Xylol zu betupfen, um eine 
genügende ßlutmenge zu bekommen. Dies Hilfsmittel hatte, wovon 
ich mich öfters überzeugte, gar keinen Einfluss auf die Zahl der Leuko¬ 
zyten. Ich zählte nun erstens die absolute Zahl der in einem Kubik¬ 
millimeter Blut enthaltenen Zellen, und zweitens bestimmte ich das 
prozentuelle Verhältnis der einzelnen Arten zu einander. 

Zur Bestimmung der absoluten Zahl benützte ich die Thoma- 
Zeisssche Kammer, zählte aber nach Gesichtsfeldern, da bei Zählung 
innerhalb der Kammer eine zu kleine Zahl Leukozyten zur Prüfung 
kommt und ein etwaiger Fehler sich sehr stark multipliziert. Bei 
einer Blutverdünnung 1 : 20 mit 0,3 proz. Essigsäure unter Zusatz von 
etwas Gentianaviolett zählte ich mit Leitz Objektiv 6, Okular 1, Tubus¬ 
länge 155 mm, 78 Gesichtsfelder, die einer Flüssigkeitsmenge von 
1 cmm entsprechen, da ein Gesichtsfeld, wie ich auf Grund mehr¬ 
maliger sorgfältiger Ausmessung mittels des Objektivmikrometers aus¬ 
gerechnet habe, 0,012819 cmm Inhalt hat. Durch Multiplizieren des 
gefundenen Wertes mit 20 erhielt ich dann sofort die Zahl der in 


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Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


279 


einem Kubikmillimeter enthaltenen Leukozyten. Mehrmals bestimmte 
ich auch die Anzahl der Erythrozyten. 

Daneben stellte ich immer zur selben Zeit auch Ausstrichpräpa¬ 
rate her. Nach 2 Minuten langer Fixierung in Methylalkohol, dem 
etwas Formol zugesetzt war, färbte ich die Präparate nach Giemsa 
(Grübler, Leipzig). Ich habe diesen Farbstoff sehr geeignet ge¬ 
funden, da sämtliche Zellen kräftig gefärbt werden und leicht von¬ 
einander unterschieden werden können. Zum Studium der Morpho¬ 
logie der Polynukleären färbte ich öfter mit Ehrlichs Triazid, das 
ich zum Auszählen weniger geeignet fand, da dabei die Lympho¬ 
zyten nur sehr schwach gefärbt werden, und daher leicht übersehen 
werden können. Ich zählte mit Leitz Immersion Y 12 , Okular 1, ge¬ 
wöhnlich 400 Zellen aus, und berechnete daraus das Verhältnis der 
einzelnen Arten zueinander. 

Aus diesen beiden Daten: absolute Zahl sämtlicher Leukozyten 
und prozentueller Anteil der einzelnen Arten konnte ich dann leicht 
die absolute Menge jeder einzelnen Form pro Kubikmillimeter be¬ 
rechnen. Ich halte dies für sehr wesentlich, da es fast nur auf diese 
Weise möglich ist, ein klares Bild über das Verhalten der einzelnen 
Leukozytenformen zu bekommen. Denn, wenn ich nur eine Inversion 
der Formel konstatiere — ich habe auch diese immer bestimmt — 
kann ich nicht entscheiden, ob sie auf einer Vermehrung der einen 
oder Verminderung der anderen Art beruht. Allerdings könnte auch 
gegen meine Art der Berechnung mit einem gewissen Recht einge¬ 
wendet werden, dass dabei immer 2 Fehler gemacht werden (denn 
keine Zählung ist absolut richtig), die sich eventuell addieren. Dessen 
bin ich mir vollkommen bewusst, und ich werde daher bei meinen 
Schlussfolgerungen nur grössere und regelmässig auftretende Aus¬ 
schläge verwenden. Kleinen atypischen Schwankungen darf man schon 
deshalb keine Bedeutung zuschreiben, weil ja die Tiere immer nebenher 
einer Anzahl äusseren und inneren, mehr oder weniger physiologischen, 
unkontrollierbaren Einflüssen unterworfen sind. Denn das dürfen wir 
nie vergessen, einen Versuch in vivo können wir nie mit der Schärfe 
anstellen wie einen solchen im Reagensglas. 

Ich habe es für unnötig, ja sogar für unrichtig gehalten, die 
Tiere längere Zeit (3—4 Stunden) vor dem Versuch hungern zu 
lassen, wie cs Modica getan hat. Denn der Einfluss der Verdauungs¬ 
leukozytose ist, wie Klieneberger u. Carl (12) kürzlich deutlich zeigten, 
beim Kaninchen, das ständig, aber wenig Eiweiss frisst, so gering, 

Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 2. ig 


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UMIVERSITY OF IOWA 



280 


Hochstetter, 


dass die Schwankungen innerhalb der Fehlergrenzen liegen. Priese (20), 
Goldscheider u. Jakob (5), Pohl sind ganz derselben Ansicht. 
Wenn nun Modica seine Tiere 3—4 Stunden vorher hungern lässt, 
dann an ihnen einen 6—8 Stunden lang dauernden Versuch macht, 
erreicht er damit nur, dass die Tiere am Ende des Versuches in 
einen für sie unphysiologischen Zustand von Unterernährung kommen. 

Nun lasse ich die Protokolle meiner Versuche folgen. 

Versuch I. Junges graues Kaninchen von 1500 g. 3 Uhr 15 Min. Beginn 
der Erstickung durch Vorhalten eines Wattebausches ohne Fesselung. 3 Uhr 17 Min. 
Erste, leichte Krämpfe. 3 Uhr 18 Min. Kurze, kräftige Krämpfe. Ohrvene dunkel¬ 
blau, geschwollen. Kornealreflex abgeschwächt. 3 Minuten. 


Zeit 

Erythro¬ 

zyten 

Leuko¬ 
zyten J ) 

Polynukleäre 

Uebergangs- 

formen 

Lymphozyten 

Formt 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

IV* Std. vor Erstickung 

_ 

5480 


___ 

_ 

_ 

_ 

_ 

_ 

1 y) n „ 

5 216 000 

5520 

1656 

30 

414 

7,5 

8450 

«2.5 

0,U 

Sofort nach Erstickung . 

5 352 000 

7400 

1480 

20 

130 

1,75 

5790 

7S,25 

O.'2o 

V 2 Std. nach Erstickung 

— 

6180 

1916 

31 

865 

14 

3399 

55 

0.42. 

IV 2 * „ 

— 

5680 

2687 

47,3 

454 

8 

2539 

44,7 

0.S2 

-'7, „ „ 

5 184 000 

6320 

2970 

47 

395 

6,25 

2955 

46,75 

0 ,*' 


Versuch II. Junges weisses Kaninchen von 1350 g. 3 Uhr 12 Min. Beginn 
der Erstickung mittels eines Wattebausches. Anfangs wehrte sich das Tier sehr 
stark. 3 Uhr 14 1 / 2 Min. Krämpfe. 3 Uhr 15 Min. Aufhören der Erstickung nach 
3 Minuten. 


Zeit 

Leuko¬ 

zyten 

Polynukleäre 

Uebergangs- 

formen 

Lymphozyten 

Formel 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

1 Stunde vor Erstickung 

3300 

1518 

46 

287 

8,7 

1495 

45,3 

0,S5 

1L 

J2 59 v w 

3060 

1551 

50,7 

254 

8,3 

1255 

41 

1.03 

Sofort nach Erstickung 

3880 

1862 

48 

97 

2,5 

1921 

49,5 

0,92 

10 Min. „ „ 

3160 

1983 

62,75 

276 

8,75 

901 

28,5 

1,63 

40 „ 

2080 

1061 

51 

208 

10 

811 

39 

0,96 

1 St. 45 M. n. Erstickung 

3340 

2181 

65,3 

200 

6 

959 

28,7 

1.89 

2 j? 45 v v n 

3140 

2072 

66 

179 

5,7 

889 

28,3 

1,94 


Versuch III. Junges braunes Kaninchen von 1250 g. 1 Uhr 30 Min. Beginn 
der Erstickung durch Vorhalten eines Wattebausches. 1 Uhr 32 Min. Die Ohren 
des Tieres sind zyanotisch. 1 Uhr 35 Min. Es bekommt starke Krämpfe, jedoch 


1) Leukozyten kurzweg bedeutet die Gesamtzahl aller weissenBlutkörperchen. 


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Original frnm 

UNIVERSUM OF IOWA 






Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


281 


kein Atemstillstand. 1 Uhr 39 Min. Kornealreflex erloschen, starke Krämpfe. 
Atmet kanm noch. 1 Uhr 40 Min. Schluss der Erstickung (10 Min.). 


Zeit 


Polynukleäre 

Uebergangs- 

formen 

Lymphozyten 

Formel 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

3‘/ 2 Std. vor Erstickung 

5910 

2748 

46,5 

635 

10,75 

2527 

42,75 

0,85 

^ ! 2 T W V 

6300 

2867 

45,5 

787 

12,5 

2646 

42 

0,84 

Sofort nach Erstickung 

8054 

3000 

37,25 

725 

9 

4329 

53,75 

0,59 

10 Min. „ „ 

6960 

3063 

44 

814 

11.67 

3083 

44,3 

0,79 

40 „ „ 

3240 

1466 

45,25 

623 

19,25 

1150 

85,5 

0,83 

1 St. 35 M. n. Erstickung 

5580 

3833 

68,7 

631 

11,3 

1116 

20 

2,2 

‘2 , 40, „ 

5380 

2624 

48,75 

565 

10,5 

2191 

40,75 

0,95 

3 n n » n 

5240 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 


Versuch IV. Junges weisses Kaninohen von 1000g. 4 Uhr. Beginn der 
Erstickung wie bei den vorigen Versuchen. 4 Uhr 5 Min. Leichte Krämpfe, Lippen 
7.yanotisoh. 4 Uhr 8 Min. Starke Krämpfe. Kornealreflere erloschen. Atemstill¬ 
stand. Nach ganz kurzer künstlicher Atmung kehrt dieselbe zurück. 4 Uhr 10 Min. 
Schluss der Erstickung nach 10 Minuten. 


Zeit 

Leuko¬ 

zyten 

Polynukleäre 

Uebergangs- 

formen 

Lymphozyten 

Formel 


abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 


IVa Std. vor Erstickung 

lj. 

/ 2 v n » 

5860 

2476 

42,5 

967 

16,5 

2417 

41,25 

0,88 

5400 

2484 

46 

810 

15 

2106 

39 

0,85 

Sofort nach Erstickung 
(10 Min.). 

7420 

2485 

33,5 

742 

10 

4193 

56,5 

0,5 

] / 2 Std. nach Erstickung 

4820 

2159 

44,8 

771 

16 

1890 

39,2 

0,87 

1 * n yt 

4800 

2403 

50 

800 

16,7 

1600 

33,3 

1,0 

iy 2 * * 

4800 

3360 

70 

336 

7 

1104 

23 

2,33 


Versuch V. Junges braunes Kaninchen von 1470 g. 3 bis 3 Uhr 20 Min. 
Erstickung. 3 mal in dieser Zeit hatte es starke Krämpfe, Verlust des Korneal- 
retlexes und Atemstillstand, so dass künstliche Atmung gemacht werden musste. 
Gleich nach der Erstickung war aus äusseren Umständen eine Blutentnahme nicht 
möglich. Ausstrichpräparate habe ich von diesem und dem nächsten Versuch nicht 
gemacht, da es meine ersten waren. 


Versuch VI. Junges braunes Kaninchen von 1400 g. 4 Uhr 31 Min. Beginn 
der Erstickung. 4 Uhr 33 Min., 4 Uhr 36 Min., 4 Uhr 40 Min., 4 Uhr 44 Min., 4 Uhr 
46 Min., 4 Uhr 50 Min. Krämpfe, das letztemal war künstliche Atmung not¬ 
wendig (30 Minuten). 


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19* 

Original from 

UNIVERSUM OF IOWA 
















282 


Hochstetter, 


Zeit 

Versuch V 

Leukozyten 

Versuch VI 

Leukozyten 

Vor der Erstickung. 

7390 

12 590 

Sofort nach der Erstickung .... 

— 

14 980 

3 / 4 Stunde nach der Erstickung . . 

3840 

7 760 

1V4 n r> n n • 

— 

9 760 

1/2 «9 tj r> v • 

4220 

— 

2 Std. 20 Min. „ „ „ . . 

7320 

— 


Versuch VII. Junges schwarz-weisses Kaninchen von 1300 g. 4 Uhr 7 Min. 
Beginn der Erstickung. 4 Uhr 11 Min. Leichte Krämpfe. Das Tier ist bewusstlos. 
4 Uhr 16 Min. Länger andauernde, aber schwache Krämpfe. Herzschlag langsam, 
Lippen zyanotisch, Atmung sehr erschwert. 4 Uhr 21 Min. Leichte Krämpfe. 
4 Uhr 22 Min. Starke Krämpfe. 4 Uhr 30 Min. Krämpfe. Zyanose. 4 Uhr 34 Min. 
Kornealreflexc erloschen. 4 Uhr 37 Min. Schluss nach 30 Minuten. 


Zeit 

Erythro¬ 

zyten 

Leuko¬ 

zyten 

Polynukleäre 

Uebergangs- 

formen 

Lymphozyten 

Fon:- 


abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 


1 Std. vor der Erstickung 

V 2 n n rt n 

5 360 000 

5860 

5220 

2020 

38,7 

784 

15 

2416 

46,3 

0,6$ 

Sofort nach Erstickung 
(30 Min.). 

5 432 000 

8980 

2065 

23 

1320 

14.7 

5594 

62,3 

0.3 

30 Min. nach Erstickung 

— 

5820 

2578 

44,3 

972 

16,7 

2270 

39 

0.8 

1 Std. 10M. nach „ 

— 

5930 

3S55 

65 

1067 

18 

1008 

17 

l.N 

1 » 30 „ „ - 

— 

6040 

4065 

67,3 

888 

14,7 

1087 

IS 

2.Ö 

2,10, „ 

— 

— 

— 

52,6 

— 

21,3 

— 

26 

1.1 


Versuch VIII. Junges graues Kaninchen von 1900 g. Mit demselben 
Kaninchen hatte ich am Tage vorher Versuch XIII angestellt. Es wurde bei vor¬ 
liegendem Versuch wie die andern der Erstickung unterzogen. 4 Uhr. Beginn der 
Erstickung. 4 Uhr 10 Min., 4 Uhr 14 Min., 4 Uhr 15 Min., 4 Uhr 20 Min. hatte 
es je mehr weniger stark Krämpfe, einmal war der Kornealreflex erloschen. 4 Uhr 
30 Min. ganz kurzer Krampf, nach dem ganz unerwartet der Exitus eintritt. 
Sofort Sektion. Die Lunge ist stark kollabiert bei Eröffnung des Thorax. Das linke 
Herz ist sehr stark mit dunkelrotem Blut überfüllt, von dem ich eine Zählung vor¬ 
nahm und ein Präparat anfertigte. Ausserdem machte ich Ausstrichpräparate von 
Lunge, Milz und Knochenmark. 


Zeit 

Leuko¬ 

zyten 

Polynukleäre 

Uebcrgangs- 

formen 

Lymphozyten 

Formel 


abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. j 

pCt. 

abs. Z. 

| PCt. 


Vor Erstickung . . . 

6920 

2439 

35,25 

450 

6,5 

4031 

58,25 

0,54 

Nach V 2 Std. Erstickung 
Tod (linkes Herzblut) 

5440 

1007 

18,5 

190 

3,5 

4243 

78 

0,23 


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Original fro-m 

UNIVERSUM OF IOWA 










Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


283 


VersuchIX. Junges braunes Kaninchen von 2125 g. 2 Uhr 43 Min. Beginn 
der Erstickung. Anfangs wehrt sich das Tier stark. 2 Uhr 53 Min. Ohrvene stark 
gefüllt. Zyanose. 3 Uhr 35 Min. Krämpfo leichter Art. Das Tier wurde einer 
verhältnismässig nur leichten Erstickung unterzogen, so dass es immer nur leichte 
Krämpfe bekam. 1 Stunde Erstickung. 


Zeit 

Leuko¬ 

zyten 

Polynukleäre 

Uebergangs- 

forra 

Lymphozyten 

Formel 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

1 pCt. 

Vor der Erstickung . . 

10 960 

4 466 

40,75 

603 

5,5 

5 891 

53,75 

0,69 

Nach l / 2 Std. Erstickung 

13 640 

4 024 

29,25 

546 

4 

9 070 

66,5 

0,41 

r> 1 v v 

13 420 

4 026 

30 

570 

4,25 

8 824 

65,75 

0,43 

V 2 Std. nach „ 

18 620 

6 144 

33 

1490 

8 

10 986 

59 

0,49 

IV 2 » » V 

18 500 

12 506 

67,6 

2368 

12,8 

3 626 

19,6 

2,09 

2 Vi * * 

11 280 

7 840 

69,5 

507 

4,5 

2 933 

26 

2,28 


Versuch X. Junges weisses Kaninchen von 1200 g. 


Versuch XI. Junges weiss-braunes Kaninchen von 1500 g. In beiden 
Versuchen waren die Tiere nur je 2 Stunden auf das Brett gefesselt, ohne einer 
Erstickung unterzogen zu sein. 



Versuch X 




Versuch XL 



Zeit 

Temp. 

Leuko¬ 

zyten 

Leuko¬ 

zyten 

Polynukleäre 

1 

Uebcrgangs- 

formen 

Lymphozyten 

Formel ’ 



abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 



ftVor Fesselung . . 

38,3 

5840 

4680 

2200 ) 

47 

152 

3,25 

2328 

49,75 

0,89 

. Nach 1 Std. Fesselung 

36,7 

5340 

4840 

2274 

47 

290 

6 

8874 

47 

0,89 

* 2 „ v 

36,8 

5280 

4140 

1933 

46,7 

236 

5,7 

1971 

47,6 

0,88 

- 1 Std. nach Fesselung 

V 


6640 

4780 

2486 

52 

191 

4 

2103 

44 

1,08 


, l 


Versuch XII. Junges graugelbes Kaninchen von 1430 g. 2 Uhr 38 Min. 
Beginn der Erstickung dos auf dem Kaninchenbrett gefesselten Tieres durch 
Vorhalten eines Wattebausches. 2 Uhr 41 Min. Das Tier wehrt sich anfangs, 
bekommt bald leichte Krämpfe. 2 Uhr 49 Min. Nase zyanotisch, Korneal- 
reflex abgeschwächt. Solange der Wattebausch vorgehalten wird, atmet das 
Tier langsam (36mal pro Minute) und stossweise, wird er entfernt, sehr rasch 
(112 mal). 3 Uhr 18 Min., 3 Uhr 24 Min., 3 Uhr 29 Min. Leichte Krämpfe. 
3 Uhr 39 Min. Schluss der Erstickung nach 1 Stunde. Das Tier macht einen 
sehr ermatteten, beinahe kranken Eindruck, erholt sich aber wieder verhältnis¬ 
mässig rasch. 


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Original frnm 

UNIVERSITÄT OF IOWA 











284 


Hochstetter, 


1 


Zeit 


Erythro¬ 

zyten 

•Leuko¬ 

zyten 

Polynukleäre 

Uebergangs- 

formen 

Lymphozyten 

Korr 



abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 


3 Std. vor Erstickung 

/ n 

4 040 000 

6640 

5940 

2911 

49 

44 

0,75 

2985 

50,25 

0.97 

Nach Vz Std. 

V 

— 

4840 

2190 

45,25 

145 

3 

2505 

51,75 

0.£ 

* 1 * 

V 

4 318 000 

4880 

1840 

37,7 

195 

4 

2845 

5S,3 

0.6 

1 /o Std. nach 

V 

4 000 000 

4540 

1861 

41 

34 

0,75 

2645 

5S,25 

0 .6. J 

i vi » » 

1 ) 

— 

4940 

3322 

67,25 

99 

2 

1519 

30,75 

2 .ü> 

2'/4 * - 

jy 

— 

9200 

6440 

70 

184 

2 

2576 

28 


2 3 /« * „ 

V 

; — 

4860 

3815 

78,5 

73 

1,5 

972 

30 

2.4,’ 


Versuch XIII. Graues Kaninchen von 1900 g. 2 Uhr. Beginn der Er¬ 
stickung auf dem Kaninchenbrett. Das Tier wehrt sich nur schwach. 2 Uhr 
4 Min. Beginn von Krämpfen, atmet ruckweise, mit sehr kräftigen In- und Ex¬ 
spirationsbewegungen. Puls langsam, jedoch sofort schnell, wenn man das Tier 
atmen lässt. 2 Uhr 7 Min. bis 2 Uhr 13 Min. 4 mal leichte Krämpfe. Zyanose. 
2 Uhr 20 Min. Krämpfe. Kornealreflexo abgeschwächt. 2 Uhr 30 Min. bis 4 Uhr. 
8mal mehr weniger starke Krämpfe. 4 Uhr. Schluss nach einer Erstickung von 
2 Stunden. Das Tier macht einen sehr geschwächten Eindruck, erholt sich aber 
nach einiger Zeit wieder gut. 


Zeit 

Leuko¬ 

zyten 

Polynukleäre 

Uebergangs- 

formen 

Lymphozyten 

Formel 

abs. Z. 

pCt. 

abs.Z. 

pCt. 

abs.Z. 

pCt 

2 Stdn. vor Erstickung . 

12500 

5625 

45 

500 

4 

6375 

51 

0 .S2 

45 Min. „ „ 

12280 

5587 

45,5 

553 

4,5 

6140 

50 

0.84 

Nach V* Std. „ 

9040 

5514 

61 

543 

6 

2983 

33 

1,58 

„ 1 j» „ 

7380 

3764 

51 

184 

2,5 

3432 

46,5 

1.04 

„ IV, „ 

9080 

5335 

58,75 

272 

3 

3473 


1,42 

0 

V * fl 5? 

12760 

6635 

t 52 

414 

3,25 

5710 

44,75 

1,08 

1 Std. nach * 

10940 

7931 

72,5 

766 

7 

2243 

1 20,5 

2,64 

2 n n v 

10060 

7419 

| 73,75 

503 

5 

2138 

21,25 

2,81 


Bei Versuch XIV und XV brachte ich das Tier, um es der Erstickung zu 
unterziehen, in künstlich kohlensäurereiche Atmosphäre. Ich benutzte 
dazu einen ausser Betrieb befindlichen Brutschrank mittlerer Grösse, in den ein 
Gemisch von Luft und Kohlensäure eingeleitet wurde, nachdem das Tier hinein¬ 
gesetzt worden war. Die Luft wurde aus einem Wassergebläse, die Kohlensäure 
aus einer Bombe entnommen. In beide Leitungen waren verengte Glasröhren und 
mit Wasser bzw. Alkohol gefüllte Wulffsche Flaschen eingeschaltet, um einen 
gleichmässigen Gang der Gaszufuhr zu sichern. Die Menge der zuströmenden 
Kohlensäure wurde je nach dem Verhalten des Tieres reguliert, das durch die 
Glasscheibe des Brutschrankes gut zu beobachton war. 

Versuch XIV. Junges graues Kaninchen von 1370 g. 1 Uhr 50 Min. 
kommt das Tier in den Schrank. Zuleitung von C0 2 . 1 Uhr 55 Min. Es 

schnuppert unruhig hin und her und putzt sich. 1 Uhr 59 Min. Sitzt ganz ruhig 


I 


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Original frnm 

UNIVERSITÄT OF IOWA 







Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


285 


im Schrank und atmet ruhig. 2 Uhr 1 Min. bis 2 Uhr 4 Min. Unterbrechung des 
C0 2 -Stromes. 2 Uhr 1 Min. bis 2 Uhr 7 Min. Unterbrechung des Luftstromes. 
2 Uhr 8 Min. atmet das Tier unruhig, stossweise. Zyanose. 2 Uhr 9 Min. Es 
hebt den Kopf und sucht nach Luft. 2 Uhr 14 Min. Pupillen mittelweit, immer 
dieselbe erschwerte Atmung. 2 Uhr 16 Min. Unterbrechung des Luftstromes. 
2 Uhr 22 Min. Das Tier macht einen ganz benommenen Eindruck, schnuppert 
nach Luft an der Decke, Ohren sehr zyanotisch, setzt sich wieder hin, wackelt mit 
dem Kopf und sucht immer wieder nach Luft. 2 Uhr 30 Min. fällt es zusammen, 
richtet sich nochmal auf, schnappt stark nach Luft. Leichte Zuckungen. 2 Uhr 
35 Min. Das Tier wird zwecks Blutentnahme herausgenommen. 2 Uhr 37 Min. 
kommt es wieder in den Schrank; hat sich etwas erholt. 2 Uhr 46 Min. Starke 
Zyanose, legt sich hin und atmet schwer. 2 Uhr 55 Min. Sehr starke Zyanose, 
schreit, atmet sehr schwer. 3 Uhr. Liegt ganz unbeweglich da. 25 Atemzüge 
pro Minute. Es ist ganz betäubt, Kornealrellexe erloschen, das Blut stark venös. 
Es hat stark alkalischen Urin unter sich gelassen. 3 Uhr. Aus dem Schrank ge¬ 
nommen nach im ganzen 1 Stunde 10 Min. Erstickung (2 Min. Unterbrechung'). 



Zeit 

Leuko¬ 

zyten 

Polynukleäre 

Uebergangs- 

formen 

Lymphozyten 

Formel 

abs.Z. 

pCt. 

abs.Z. 

pCt. 

abs.Z. 

pCt. 


Vor Erstickung . . . 

5380 

1923 

35,75 

391 

7,25 

3066 

57 

0,56 


Nach 45 Min. Erstickung 

4440 

1798 

40.5 

333 

7,5 

2309 

52 

0,68 


* ,10 * 

3530 

1174 

33,25 

106 

3 

2250 

63,75 

0,49 


40 Min. nach Erstickung 

3440 

1471 

42,75 

103 

3 

1866 

54,25 

0,75 

-i 

1 Std. 40 M. n. Erstickung 

4640 

2135 

46 

139 

3 

2366 

51 

0,85 


2 „ 40 „ „ 

6760 

4698 

1 69,5 

85 

1,25 

1977 

29,25 

2,28 


d v 25 n n r, 

11140 

8310 

74,6 

134 

1,2 

2696 

24,2 

2,94 


. 

'* 

ü 

r* 

. 

c* : 

i ' 

ü» 

et 


Versuch XV. Junges grauweisses Kaninchen von 1500 g. 11 Uhr 11 Min. 
kommt das Tier in den C0 2 -Schrank. 11 Uhr 20 Min. Pupillen mittelweit, Atmung 
erschwert, sitzt aber ganz ruhig. 11 Uhr 30 Min. etwas unruhig, geht mit 
der Schnauze nach oben. Zyanose. Bauchatmung. 11 Uhr 35 Min. Stärkere 
Zufuhr von C0 2 , legt sich auf die Seite, schnuppert nach Luft, richtet sich auf. 
11 Uhr 37 Min. mehr C0 2 -Zufuhr, starke Dyspnoe, droht zu fallen. Zyanose, weite 
Pupillen. 11 Uhr 38 Min. Herausgenommen, kommt bald wieder zu sich. Blutent¬ 
nahme. Es hatKot und Urin unter sich gelassen. Es blutet etwas schwer. Erholt sich. 


Zeit 


Leuko¬ 

zyten 

Polynukleäre 

Uebergangs- 

formen 

Lymphozyten 

Formel 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. | 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

Vor Erstickung . 


4 288 000 

5440 

1578 

29 

217 

4 

3645 

r.7 

0,41 

Nach 29 Min. Erstickung 

— 

4120 

824 

20 

134 

3,25 

3162 

76,75 

0,25 

n 58 „ 

r 

3 667 000 

3800 

1197 

31,5 

465 

12,25 

2138 

56,25 

0,46 

„ 1 St. 26 M. 

V 

— 

3700 

766 

20,7 

111 

3 

2823 

76,3 

0,28 

37 Min. nach 


— 

2940 

573 

19,5 

140 

4,75 

2227 

75,75 

0.24 

1 St. 23 Min. n. 


— 

3760 

1617 

43 

226 

6 

1917 

51 

0,75 

9 23 

w n v * 

V 

4 280 000 

7900 

5332 

67,75 

277 

3,5 

2271 

28,75 

2,1 

3 yy 38 „ „ 

V 

— 

6000 

3762 

62,7 

198 

8,8 

•.-(Mn 

34 

1,64 

4 „ 18 , * 

n 

— 

5340 

3006 

56,3 

251 

4,7 

2083 

39 

1,29 


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Original frn-m 

UN1VERS1IY OF IOWA 







286 


Hoctastetter, 


5 


11 Uhr 43 Min. Wieder in den Kasten. Wenig C0 2 zugeleitet. 11 Uhr 50 Min. 
Putzt sich andauernd. Allmählich Dyspnoe und Zyanose an Nase und Ohren. 
Pupillen etwas mehr als mittelweit. 11 Uhr 58 Min. Starke Dyspnoe, mehr C0 2 - 
Zustrom. Atmung 65. Es sinkt um, nachdem es sich einige Male hochgericbtet 
hatte. 12 Uhr 8 Min. wird es herausgenommen, ganz schlaff. Kornealreflex er¬ 
loschen. Es erholt sich nach Blutentnahme. 12 Uhr 13 Min. zurück in den Kasten. 
Schwacher C0 2 -Strom. Respir. 90. 12 Uhr 26 Min. Sitzt mit erhobener Nase im 
Kasten, Zyanose. Respir. 78. 12 Uhr 34 Min. Starke Zyanose. Respir. 54. 

12 Uhr 37 Min. Sucht nach Luft, atmet kaum noch, fallt um, ist sehr schlaff. 
Kornealreflex erloschen. Erholt sich verhältnismässig rasch. 

Versuch XVI. Junges grauweisses Kaninchen von 1720 g. Das Tier, das 
sich kräftig wehrt, wird 3 Uhr 43 Min. und 3 Uhr 45 Min. je 15 Sekunden unter 
Wasser von 35° gehalten. Anscheinend hat es ziemlich viel Wasser geschluckt 
und auch in die Luftwege bekommen. Es macht nachher einen sehr ermatteten 
Eindruck und ist dyspnoisoh. 3 Uhr 48 Min. Respiration 132, Puls 160. 3 Uhr 
55 Min. ist das Tier wieder ganz munter. Blutentnahme. 


Zeit 

Erythro¬ 

zyten 

Leuko¬ 

zyten 

Polynukleäre 

Uebergangs- 

forraen 

Lymphozyten 

Formel 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

abs. Z. 

pCt. 

Vor Ertränkung . . . 

5 176 000 

4960 

1488 

30 

198 

4 

3274 

66 

0.43 

10 Mia. nach Ertränknag 

4 840 000 

3300 

683 

20,7 

175 

5,3 

2442 

74 

0>' 

40 „ 

— 

3840 

1766 

46 

154 

4 

1920 

50 

0,Sö 

ISt. 25 Min. n. „ 

— 

5340 

3137 

58,75 

120 

2,25 

2083 

39 

IM 

2 * 10 „ „ 

— 

6280 

3909 

63,2 

88 

1,4 

2223 

35,4 

1.6* 

3 „ 10 * „ 

— 

6360 

3943 

62 

83 

1,3 

2334 

36,7 

1/4 

4 „ 10 „ „ „ 

— 

5280 

3537 

67 

53 

1 

1690 

32 

2,03 


Versuch 

Gesamtzahl der Leukozyten 


Vor dem 

Versuch I 

Sofort nach 
dem Ver¬ 
such II 

A. Differenz 

11 —I 

Versuch I (3 Min. Erstickung). 

5 520 

7 400 

1880! 


„ 11 (3 Min. Erstickung). 

3 060 

3 880 

820! 


r III (10 Min. Erstickung). 

6 300 

8 054 

1754! 


„ IV (10 Min. Erstickung). 

5 400 

7 420 

2020 ! 


„ VII (30 Min. Erstickung). 

5 220 

8 980 

3760! 


IX (1 Std. Erstickung). 

10 960 

13 420 

2460! 


r XII (1 Std. Estickung mit Fesselung) . 

5 940 

4 880 

— 1060 


„ XIII (2 Std. Erstickung mit Fesselung) . 

12 500 

12 760 

260 


^ XIV (IV 4 Std. Erstickung in C0 2 ) . . 

5 380 

3 530 

— 1850 


„ XV (l 1 / 2 Std. Erstickung in C0 2 ) . . 

5 440 

3 700 

— 1740 


„ XVI (Ertränkung 30 Sek.). 

4 960 

3 300 

— 1660 


* XVII (Ertränkung 35 Sek.). 

6 260 

4 800 

— 1460 



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Original frnm 

UMIVERSITY OF IOWA 













Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


287 


Versuch XVII. Junges weisses Kaninchen von 1250 g. Zwischen 12 Uhr 
45 Min. und 12 Uhr 50 Min. kommt es 2mal unter Wasser von 30°, erst 20, dann 
15 Sekunden. Darauf ist es ganz apathisch. Es wird sofort in Tücher gehüllt. 

1 Uhr 5 Min. wird es wieder lebhaft und fängt an sich zu putzen. 

- . - — - 

Uebergangs- 

Zeit Erythro- Leuko- Polynukleäre formen Lymphozyten 

zyten zyten -:-i- 

abs. Z. pCt. abs. Z. | pCt. abs. Z. pCt. 


Jor Ertränkung . . . 4 288 000 6 260 2 942 47 657 10,5 2661 42,5 0,89 

5 Min. nach Ertränkung 3 716 000 4 800 2 352 49 398 8,3 2050 42,7 0,96 

- 50 „ „ „ — 9 320 4 730 50,75 955 10,25 3635 39 1,03 

läSt. 30Min. n. „ — 12 980 7 713 59,5 1817 14 3440 26,5 1,22 

J * 30 „ „ — — — 75 — 9 — 16 3,00 

$ „ 30 „ , — 16 500 13 530 82 371 2,25 2599 15,75 4,55 

t „ 30 „ „ „ — 10 980 9 223 84 412 3,75 1345 12,25 5,25 

> * 30 „ „ * — 10 760 8 985 83,5 430 4 | 1345 12,50 5,06 

_ Die Hauptpunkte meiner Resultate habe ich auf untenstehender 

Tafel nach folgenden Gesichtspunkten zusammengestellt: Der Gesamt¬ 
zahl der Leukozyten vor dem Versuch stellte ich die unmittelbar nach 
demselben gegenüber und berechnete daraus die Differenz. Ent¬ 
sprechend gab ich die Zahl der Lymphozyten kurz vor und sofort nach 
dem Versuch wieder und daneben die daraus berechneten Unterschiede. 

Um andererseits die Beziehung der sekundären Polynukleose zur 
Gesamtleukozytose zum Ausdruck zu bringen, führte ich in Stab 7 
bis 9 die höchsten und niedrigsten Werte der Gesamtzahl der Leuko¬ 
zyten in der auf die Erstickung folgenden Periode, sowie die daraus 


< L 

SJ 

ymphozyten 

Gesamtzahl der Leukozyten | Polynukleäre Leukozyten 
nach dem Versuch 

s Ö 

: *- zL 

!• £ 7 

5 “ 

* . P-H 

CQ 

Sofort nac 
dem Ver¬ 
such III 

Vor dem 

Versuch I 

Niedrigst. 

Wert V 

Höchster 

Wert VI 

C. 

Differenz 
VI—V 

D. 

Differenz 

VII—VIII 

Höchster 

Wert VII 

Niedrigst. 
Wert VIII, 

2340! 

5790 

3450 

5 680 

6 320 

640 

1 490 

2 970 

1480 

656! 

1911 

1255 

2 080 

3 340 

1 260! 

1 011 ! 

2 072 

1061 

; 1817! 

4463 

2646 

3 240 

5 580 

2 340! 

2 367 ! 

3 833 

1466 

2087! 

4193 

2106 

4 800 

4 800 

— 

1 201 

3 360 

2159 

3178! 

5594 

2416 

5 820 

6 040 

220 

2 065 

4 065 

2000 

3033! 

8824 

5791 

13 420 

18 620 

5 200 

8 482 

12 506 

4024 

* — 140 

2845 

2985 

4 540 

9 200 

4 660! 

4 600! 

6 440 

1840 

— 665 

5710 

6375 

7 380 

12 760 

5 380! 

4 167 ! 

7 931 

3764 

— 816 

2250 

3066 

3 440 

11 140 

7 700! 

7 136! 

8310 

1174 

— 822 

2823 

3645 

2 940 

7 900 

4 960! 

4 799 ! 

5 372 

573 

— 832 

2442 

3274 

3 300 

6 360 

3 060! 

3 260! 

3 943 

683 

— 211 

2050 

i 

2261 

4 800 

16 500 

11 700! 

11 178! 

13 530 | 

2352 


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UNIVERSUM OF IOWA 




288 


Hochstetter, 


gezogene Differenz an und stellte ihr die ebenso berechneten Werte 
der Polynukleären allein in Stab 10—12 gegenüber. Die Stäbe 
sind so angeordnet, dass die zu vergleichenden Differenzen neben¬ 
einander liegen. 

I. Betrachten wir nun erst das Verhalten der Lymphozyten bei 
den ohne Fesselung angestellten Versuchen I—IX. so erkennen wir, 
dass ungefähr entsprechend der Gesamtzahl der Leukozyten die der 
Lymphozyten während des Versuches steigt und zwar annähernd pro¬ 
portional der Dauer der Asphyxie. Am ausgesprochensten ist diese 
Vermehrung bei Versuch VII, wobei die Gesamtleukozyten um 3760, 
die Lymphozyten um 3178 Zellen im Kubikmillimeter zunehmen. 
Versuch V und VI müssen wir dabei ausser Betracht lassen, da ich 
bei ihnen das prozentuelle Verhältnis der einzelnen Leukozytenarten 
nicht berechnet habe. Bei Versuch V allerdings können wir vermuten, 
dass dem Ansteigen der Gesamtleukozyten ein solches der Lympho¬ 
zyten entspricht. Bei Versuch VIII, der mit dem Tod des Tieres 
endete, sehen wir zwar eine Verminderung der weissen Blutzellen im 
ganzen, und nur eine geringe Zunahme der Lymphozyten, aber der 
Prozensatz der letzteren ist doch von 58,25 auf 78 gestiegen. 

II. Diese rasch eintretende Steigerung der Lymphozyten, die, 
wenn die anderen Zellen in ihrer Zahl wenig Veränderung zeigen, 
natürlich eine solche der Gesamtleukozyten macht, hält nicht lange 
an, und nach durchschnittlich einer halben Stunde sehen wir wieder 
normale oder subnormale Werte. Dieses Abfallen erkennen wir auch 
deutlich bei dem nur unvollkommen ausgeführten Versuch VI. 

III. Bei allen anderen Versuchen, der Erstickung mit Fesselung 
oder im C0 2 -Schrank, sowie der Ertränkung sehen wir ein Abfallen 
der Gesamtzahl der Weissen, die sich ungefähr gleichmässig auf alle 
Arten verteilt. Bei Versuch XIII, bei dem ich die Erstickung über 
2 Stunden hinzog, verschleiert die Polynukleose, auf die ich sofort zu 
sprechen komme, das Resultat. 

IV. Die Polynukleären, deren Zahl anfangs bei fast allen Ver¬ 
suchen mehr weniger, jedoch nie sehr stark sinkt, zeigen nach einiger 
Zeit eine gewöhnlich ziemlich beträchtliche Steigerung in absoluter 
und prozentueller Hinsicht, eine Steigerung, durch die natürlich, da 
die anderen Zellen in diesem Stadium hinsichtlich ihrer absoluten 
Menge ziemlich unverändert bleiben, die Leukozyten im ganzen in 
gleicher Weise vermehrt werden und die selten sofort, durchschnittlich 
nach einer Stunde beginnt, um nach \ l j 2 bis 4 Stunden — bei inten- 


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Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


289 


sivcr Vermehrung später als bei leichter — ihren Höhepunkt zu er¬ 
reichen. Die in ihrem Minimum bei Versuch II, einer Erstickung von 
3 Minuten, 1011 Zellen im Kubikmillimeter betragende Steigerung ist 
am ausgesprochensten bei Versuch XVII, einer Ertränkung, nämlich 
11 178 (die Vermehrung der Gesamtzahl beträgt 11 700), bei Ver¬ 
such XIV, einer Erstickung im C0 2 -Schrank, 7136 (Gesamtzahl 7700) 
und bei Versuch IX, einer eine Stunde dauernden, in gewöhnlicher 
Weise angestellten Erstickung, 8482 (Gesamtzahl 5200). 

Eine richtige Anschauung von dem enormen Ansteigen der Poly¬ 
nukleären bekommen wir erst dann, wenn wir uns klar machen, wieviel die 
Vermehrung dieser Zellen, auf das ganze Blut berechnet, beträgt. Das 
Kaninchen von Versuch XVII hatte ein Gewicht von 1250 g; 5,4 pCt. 
= 135 g kommen davon nach Ranke auf das Blut, was einer Menge 
von 128 ccm entspricht. Bei einer Vermehrung der Polynukleären um 
11178 im Kubikmillimeter bedeutet dies eine solche von 11178 X128000 
= 1431 Millionen in der gesamten Blutmenge. Nach mehreren 
Stunden kehren sämtliche Zellen wieder zu ihren normalen Werten 
zurück. 

V. Die an den Uebergangsformen beobachteten Erscheinungen 
sind nicht sehr typisch; auch kann ihren Schwankungen schon deshalb 
kein grosser Wert beigemessen werden, da bei einer Zellart, die oft 
nur wenige Prozent ausraaeht, ein Durchzählen von 400 Zellen im 
Präparat, wie ich es ausgeführt habe, nicht genügen kann, um kleine 
Unterschiede mit Sicherheit festzustellen. Immerhin kann man bei 
ihnen ungefähr parallel mit den Polynukleären eine Vermehrung ihrer 
Zahl konstatieren und vielleicht dass sie dabei etwas früher als jene 
ihren Höhepunkt erreichen. 

VI. Entsprechend diesen Veränderungen innerhalb des Prozent¬ 
verhältnisses der einzelnen Leukozytenarten ändert sich natürlich auch 
die Formel, die erst in ihrem Wert sinkt (bis auf 0,23 bei Ver¬ 
such VIII), um dann zu steigen (5,25 bei Versuch XVII). 

VII. Bei Versuch X und XI, bei denen ich das Verhalten der 
Leukozyten an gefesselten Tieren studierte, konnte ich ein leichtes 
Sinken der Gesamtzahl entsprechend der Temperatur beobachten, wie 
es auch Goldscheider und Jakob beschreiben, wobei jedoch die 
Formel ziemlich unverändert blieb. Eine so erhebliche Verminde¬ 
rung wie die genannten Autoren konnte ich jedenfalls nicht fest¬ 
stellen. 

Auch in morphologischer Hinsicht konnte ich an den 


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290 


Hochstetter, 


weissen Blutkörperchen der Tiere, die ich der Erstickung unterzogen 
hatte, Veränderungen konstatieren. Allerdings ist es sehr schwer, mit 
Sicherheit solche Alterationen festzustellen, da ja das Aussehen einer 
Zelle im gefärbten Präparat sehr von dem Gelingen des Ausstriches, 
der Fixation und Färbung abhängig ist. Aus diesem Grunde habe 
ich auch nur tadellos gelungene Präparate zu solchen morphologischen 
Studien benutzt. 

Die Lymphozyten zeigen keine Besonderheiten. Die Uebergangs- 
formen enthalten öfter und grössere Granula als in der Norm. Haupt¬ 
sächlich sind es die Polynukleären, welche teilweise starke Verände¬ 
rungen zeigen. Besonders in Präparaten, welche einige Zeit nach der 
Erstickung angefertigt sind, kann man konstatieren, dass der Kern 
zum Teil nur schlecht gefärbt ist, und oft, wenigstens stellenweise, 
blass erscheint, eine Beobachtung, welche auch Ascarelli gemacht 
hat. Häufig liegt er inmitten einer ungefärbten Zone; gegen das um¬ 
gebende Protoplasma ist er nur unscharf abgegrenzt, er erscheint 
schollig, zerklüftet, wie angenagt. Das Protoplasma ist ebenfalls viel¬ 
fach schlecht gefärbt, so dass es sich kaum von dem ungefärbten 
Untergrund abgrenzen lässt und macht öfter einen gequollenen Eindruck. 
Die Granula erscheinen vermehrt und vergrössert. Gar keine Ver¬ 
änderungen zeigen die Myelozyten. Bei Versuch VII konnte ich ein¬ 
zelne kernhaltige Erythrozyten nachweisen. 

Die Milz- und Knochenmarkausstriche von Versuch VHI zeigen 
keine Besonderheiten. Ebensowenig kann man bei Betrachtung der 
bei diesem Versuch angefertigten Lungenausstriche, zu denen ich durch 
gleiche Versuche von Goldscheider nnd Jakob veranlasst wurde, 
annehmen, dass dabei in den Lungenkapilleren weisse Blutkörperchen 
angehäuft waren. 

Hauptsächlich sind es also folgende 4 Erscheinungen, die, immer 
in derselben Reihenfolge auftretend, bei meinen Versuchen bemerkens¬ 
wert erscheinen: 

1. Rasches Ansteigen der Lymphozytenzahl bei Versuch I—IX, 
das aber bald wieder normalen Werten weicht. 

2. Verminderung der Gesamtzahl der Leukozyten einige Zeit 
nach der Erstickung oder schon während derselben. 

3. Morphologische Alterationen der Leukozyten, besonders der 
polynukleären pseudoeosinophilen. 

4. Starke Vermehrung der Polynukleären im Gefolge der Er¬ 
stickung. 


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Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


291 


Diese Ergebnisse stimmen ziemlich überein mit den Angaben 
der von mir anfangs zitierten Autoren, die über Leukozytenveränderung 
bei Asphyxie gearbeitet haben, und es fragt sich nun, wie sie zu er¬ 
klären sind. 

Von vornherein kann man ausschlicssen, dass die während der 
Erstickung auftretende Leukozytose auf einer Eindickung des Blutes 
beruht. Die Annahme liegt ja nahe, dass im Krampfstadium infolge 
der Kontraktion der Gefässe eine Konzentration durch Flüssigkeits- 
abgabc erfolgt, wie sie von Grawitz u. a. naeh thermischen Ein¬ 
flüssen beobachtet worden ist. (Grawitz, 1. c. S. 86 ff.) Gegen 
diese Erklärung spricht, dass, wie aus Versuch I und VII hervorgeht, 
die Erythrozyten während der Erstickung so gut wie gar keine Zu¬ 
nahme erfahren, und es ja ganz einseitig nur die Leukozyten sind, 
die an der Leukozytose beteiligt sind. 

Aus letzterem Grunde möchte ich auch eine ungleiche Verteilung 
ausschlicssen, wie es auch neuerdings für die Arbeitsleukozytose in 
einwandsfreier Weise von Grawitz (8) geschehen ist durch ver¬ 
gleichende Zählung der Leukozyten im Blute verschiedener Gefäss- 
gebiete, und wie es auch Le Sourd und Pagniez (13) tun. Diese 
führen vielmehr als Ursache dafür eine Mobilisation der längs der 
Gefässwände festgehaltenen (immobilise) Zellen an, und zwar als Folge 
der Blutdruckänderung, der häufigeren (?) Herzkontraktionen und der 
starken Inspirationsbewegungen. 

Auch Ascarelli führt diese initale Lymphozytose auf mecha¬ 
nische Ursachen zurück, nämlich auf eine Kontraktion der Muskulatur 
von Lymphdrüsen und Milz infolge eines vom Zentralorgan ausgelöstcn 
nervösen Reizes auf dieselbe, sowie ein Auspressen derselben durch 
Muskelbewegung. 

Modi ca erklärt ebenfalls die geringe von ihm konstatierte Ver¬ 
mehrung der Lymphozyten mit dem allgemeinen Mechanismus der 
Lymphozytose, d. h. einem Uebergang dieser Zellen ins Blut aus den 
Lymphdrüsen durefy mechanisches Auspressen derselben. 

Wenn wir nun sehen, wie schnell bei den von mir ausgeführteu 

Versuchen eine oft beträchtliche Lymphozytose zustande kommt, (bei 

Versuch I eine Vermehrung um 68 pCt. innerhalb 3 Minuten), so 

muss es auch uns zu der Ansicht drängen, dass es sich nur um 

einen mechanisch-physikalischen Vorgang handeln kann. Auch der 
Umstand, dass diese Zellen so schnell wieder aus der Blutbahn ver¬ 
schwinden, spricht für mechanische und gegen chemische Ursachen. 

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Hoohstetter, 


Da die nächstliegende mechanische Veranlassung zum Auspressen von 
Lymphozyten in den Muskelkontraktionen zu suchen war, wurden die 
Versuche XII—XV angestcllt, bei denen die Muskelbewegungen gegen¬ 
über den Versuchen I—IX stark vermindert werden konnten. Das 
eine Mal wurde dies durch das Aufbinden erstrebt, das andere Mal 
durch ganz allmähliche Betäubung in Kohlensäure. Besonders bei 
letzteren Versuchen ist die Ausschaltung der mechanischen Momente, 
abgesehen von den Inspirationen gut gelungen, so dass das chemische 
allein für den Befund verantwortlich zu machen ist. Es zeigte 
sich in der Tat, dass bei beiden Versuchsarten die Lympho¬ 
zytose ganz ausblieb, so dass dadurch die von den anderen 
Autoren angenommene Hypothese, dass körperliche Be¬ 
wegung, besonders Krämpfe, die Lymphozytose bedingen, 
zum ersten Male als richtig erwiesen worden ist. 

Besonders schön lässt sich das Krampfstadium durch die all¬ 
mähliche Vermehrung des C0 2 -Gehalts der Atemluft ausschalten. Man 
erhält hiermit allerdings eine andere Erstickungsart, nämlich eine 
langsame und auf Kohlensäureüberladung beruhende Betäubung, während 
bei den ersten Versuchen eine brüske Sauerstoffentziehung stattfindet. 
Es könnte auch eingewendet werden, dass die durch die Kohlensäure¬ 
anhäufung im Blut bekanntlich verursachte Quellung der roten Blut¬ 
körperchen und vielleicht auch durch die Gefässdilatation die Lympho¬ 
zytose der numerischen Ermittlung bei unserem Verfahren entgeht. 
Dass dem nicht so ist, sondern dass ihr Fehlen auf dem Fortfallen 
intensiver Muskelbewegungen beruht, beweisen die Versuche am ge¬ 
fesselten Tier, die bis auf die Fesselung den übrigen durchaus glichen. 

Neben der Muskulatur ist event. wohl noch in geringerem Grade 
die starke Ansaugung des Lymphstromes aus dem Ductus thoracicus 
im Inspirationskrampf an dem Zustandekommen der Lymphozytose 
beteiligt. 

Eine weitere Stütze meiner Ansicht sind die von Formaneck 
und Haskovell (4) angestellten Versuche, welche bei verschiedent¬ 
lich erzeugten Krämpfen immer eine starke Vermehrung der weissen 
Blutzellen erhielten. Zu ganz demselben Resultat kommt auch 
Grawitz (8) in einer nach Vollendung meines Manuskripts erschienenen 
Arbeit, in der er über genau die gleichen Erscheinungen, die ich hier 
beschrieb, nach Körperanstrengungen berichtet und als weiteren Beleg 
Krumbmiller und Rohde anführt, die ungewöhnlich starke Leuko- 
hzw. Lymphozytosen nach epileptischen Anfällen beobachteten. Leber 


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Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


293 


den Einfluss der Körperarbeit schrieb schon früher Müller (18). „Die 
Einschwemmung von Lymphozyten ins Blut bei Körperarbeit geht mit 
grosser Schnelligkeit in wenigen Minuten vor sich, anscheinend in 
erster Linie durch Einwirkung der Muskelkontraktionen auf die 
Lyraphbahnen und vermehrten Uebertritt von Duktuslymphe mit ver¬ 
mehrten Zellen des lymphatischen Systems bewirkt.“ Durch Versuche 
an Hunden ist fernerhin erwiesen, dass bei Muskelarbeit aus dem 
Duktus mehr Lymphozyten als gewöhnlich ins Blut getrieben werden. 

Modica allerdings bestreitet ja jegliche stärkere Lymphozytose 
und somit die Tatsache, dass mechanische Einflüsse von grösserer 
Bedeutung sind, und er wirft Ascarelli vor, Lymphozyten und 
Mononukleäre nicht streng unterschieden zu haben. Auch führt er 
als Gegenbeweis seine früheren Versuche an, bei denen er die durch 
kurze, 20—30 Minuten dauernde Erstickung hervorgerufene Leuko¬ 
zytose noch nach einer Stunde nachgewiesen hat. Aber es ist wahr¬ 
scheinlich, dass zwischen dem ersten, kurz nach der Erstickung fest¬ 
gestellten Höhepunkt und dem zweiten, den er nach einer Stunde 
noch konstatierte, eine Leukopenie bestanden hat, und dass die initiale 
Vermehrung auf eine Lymphozytose, die zweite auf eine Polynukleose 
zurückzuführen ist. Denn dieser Autor hat bei seinen ersten Ver¬ 
suchen den prozentuellen Anteil der einzelnen Formen an der Ver¬ 
mehrung nicht berechnet. 

Die nächste Frage, die nun zu beantworten wäre, ist: Wodurch 
ist die bald nach dem Aufhören der Erstickung eintretende Leuko¬ 
penie bedingt? Vor allem können wir konstatieren, dass die Zahl der 
Lymphozyten rasch zur Norm zurückkehrt. Grawitz schreibt nun 
dem Blute die Eigenschaft zu, alle Aenderungen in bezug auf 
Mischung in kurzer Zeit wieder auszugleichen und zum mittleren 
Konzentrationsverhältnis zurückzukehren. Aber wenn wir auch eine 
solche Regelung vielleicht bedingt durch ein im Nervensystem liegen¬ 
des Zentrum (ähnlich der Temperaturregelung) annehmen wollen, so 
bleibt doch die Frage offen, wo die Lymphozyten bleiben, und wir 
können eigentlich nur annehmen, dass sie in einem der Filter der 
Blutbahn, wie es Milz und Knochenmark sind, zurückgehalten werden. 
Ob, und welchem Zweck sie hier noch dienen können, diese Frage 
wollen wir später auf werfen. Denn dass die Lymphozyten in so 
kurzer Frist zugrunde gehen, das können wir doch nicht annehmen. 

Für das Sinken der Gesamtzahl der Leukozyten können ver¬ 
schiedene Faktoren zur Erklärung angeführt werden, vor allem für 


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294 


Hochstetter, 


Versuch XII und XIII eine Abkühlung, die wie Versuch X und XI 
zeigen, immerhin etwas ausmacht (Goldscheider und Jakob, 
Reineboth und Kohlhardt), ferner den bei der Erstickung un¬ 
vermeidlichen Shock, den Decastello und Czinner, sowie Gold¬ 
scheider und Jakob als Ursache für Leukopenie annehmen. Viel¬ 
leicht können auch Blutdruckschwankungen hierbei eine Rolle spielen. 
Alle diese Faktoren machen es auch erklärlich, dass bei Versuch VIII 
nach dem Tod des Tieres die Gesamtzahl der Leukozyten eine ver¬ 
hältnismässig so geringe war. 

Bei den Ertränkungsversuchen spielt zweifelsohne auch die Blut¬ 
verdünnung durch das eingedrungene Wasser eine Rolle, wie wir ja 
auch aus der Verminderung der Erythrozyten sehen. Eine letzte 
Möglichkeit ist die einer Zerstörung von Leukozyten (Leukolyse), wie 
sie bei Ertränkung festgestellt ist und wir haben ja ebenso wie 
Modica und Ascarelli gesehen, dass auch bei der Erstickung 
Degenerationszeichen an den Leukozyten auftreten. Ob dieser Prozess 
eventuell zu einem völligen Untergehen dieser Zellen vielleicht in 
Milz oder Leber führen kann, möchte ich dahingestellt sein lassen. 
Es ist wohl ein müssiges Beginnen, zu untersuchen, welche von diesen 
Ursachen bei der Leukopenie hauptsächlich beteiligt sind, wahrschein¬ 
lich mehr oder weniger alle zusammen. 

Schliesslich bleibt nur noch die Polynukleose zu erklären übrig. 
Dass sie auf keiner Eindickung des Blutes, oder einer ungleichen 
Verteilung beruht, dafür sprechen die bei der Lymphozytose gegen 
die Möglichkeit solcher Vorgänge angeführten Gründe. Es bleibt also 
nur übrig anzunehmen, dass die Leukozyten aus dem festen Zell¬ 
verband des Körpers in den Blutstrom gelangen und zwar ist für diese 
Annahme das Knochenmark das nächstliegende Organ, das doch wohl 
inmitten aller hämatologischen Streitfragen noch nach wie vor von 
allen Seiten als Hauptbildungsstätte der Polynukleären angesehen 
wird. Auch Modica ist dieser Ansicht, die er auch noch näher aus¬ 
führt und begründet. 

Er hält es für wahrscheinlich, dass während des Erstickungs¬ 
prozesses im Organismus eine chemische Veränderung zustande kommt, 
w r elche die Polynukleose hervorruft, die bedingt sein kann durch ver¬ 
mehrte Ausfuhr dieser Zellen aus dem Knochenmark infolge eines 
chemotaktischen Reizes oder durch eine Hypergenese dieser Zellen. 

Zum Nachweis fremder Substanzen im Blute erstickter Tiere in¬ 
jizierte er gesunden Kaninchen das Blut von solchen, die er 2 Stunden 


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Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


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erstickt hatte, sofort oder 2 Stunden später, wobei er jedesmal eine 
Polynukleose beobachtete. (Ein Ansteigen von 41 pCt. auf 72 pCt., 
von 69 pCt. auf 72 pCt. und von 57 pCt. auf 68 pCt.) Kontroll- 
versuche machte er mit dem Blute gesunder Tiere, wobei er solche 
Veränderungen nicht auftreten sah. Er schliesst daraus, dass im 
Blute erstickter Tiere Substanzen vorhanden sind, welche eine Poly¬ 
nukleose hervorrufen. 

Ferner untersuchte er Knochenmark, Milz und Lymphdrüsen er¬ 
stickter Tiere an Ausstrich- und Schnittpräparaten. An den Organen 
der nur 20—30 Minuten erstickten Tiere fand er keine Veränderungen. 
Im Knochenmark der 2 Stunden erstickten Tiere konnte er eine 
stärkere tinktorielle Affinität der Myelozyten- und Erythrozytenkerne 
sowie ein häufigeres Vorkommen von Karyokinesen feststellen. Die 
Zellen der Milz sollen vermehrte phagozytäre Eigenschaften gezeigt 
haben. Daraus, dass er keine stärkeren Veränderungen gefunden hat, 
zieht er den Schluss, dass erst die Mononukleose, dann die Poly¬ 
nukleose hauptsächlich die Folge einer Mobilisation von Zellen ist. 
weniger die einer Neubildung, welche er jedoch nicht ausschliesst. 
Dafür spricht ja auch schon das freilich nicht immer beobachtete 
Auftreten von kernhaltigen Erythrozyten im Blut. Auch ich habe ja 
bei einem Versuch solche Zellen gefunden. 

Zu diesen Ausführungen von Modica möchte ich nun folgendes 
bemerken: Erstens halte ich es für unwahrscheinlich, dass dieselbe 
Substanz erst eine Mononukleose, dann eine Polynukleose erzeugen 
soll. Auch kann ich mir kaum vorstellen, wie eine solche chemo¬ 
taktische Wirkung so schnell zustande kommen sollte, wie diese 
Mononukleose, bzw. Lymphozytose, wie ich lieber sagen möchte, 
nämlich schon nach 3 Minuten. Aus diesem und dem schon vorher 
angeführten Grund, der Unmöglichkeit Lymphozyten und Mononukleäre 
scharf zu unterscheiden, ziehe ich den Schluss, dass bei jeder Er¬ 
stickung, die Krämpfe zur Folge hat, eine Lymphozytose eintritt, 
keine Mononukleose im Sinne von Modica. Danach halte ich es auch 
für ganz erklärlich, dass dieser Autor im Knochenmark von Tieren, 
die er eine halbe Stunde erstickt hat, keine Veränderungen finden 
konnte, da in diesem Stadium ja auch noch keine Leukozytose zu 
konstatieren ist. Schliesslich scheint es mir eine müssige Streitfrage 
zu sein, ob die Leukozyten infolge einer Mobilisation oder einer Neu¬ 
bildung aus dem Knochenmark in die Blutbahn gelangen. Natürlich 
kommen beide Erscheinungen nebeneinander vor. Es werden zuerst 

YierteUahrsaehrift f. ger. Med. u, &ff. Sauw-We*en. 3. Folge. XL. 2. 

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296 


Hoohstetter, 


die im Mark vorhandenen fertigen Leukozyten ausgeschwemmt werden, 
dann wird es zu einem Ersatz dieser Zellen durch eine ungewöhn¬ 
liche Hypergenese kommen und je nach Bedarfsfall werden diese 
neugebildeten Elemente sofort in die Blutbahn geschickt. 

Dass übrigens Sauerstoffmangel auf das Knochenmark einen ge¬ 
wissen Reiz ausübt, haben auch Itarai (10) und Priese (20) schon 
festgestellt. 

Welches sind nun die auf das Knochenmark ausgeübten Reize, 
bzw. welche Stoffe erzeugen dieselben? Wir können wohl annehmen, 
dass es endogen entstandene Stoffe sind, also wohl Eiweisskörper 
oder deren Zerfallsprodukte, die bei dem Mechanismus der Erstickung 
sich bilden; dafür spricht schon der Umstand, dass das Ansteigen 
der Polynukleären ungefähr proportional ist der Dauer der Erstickung. 
Auffallend aber ist, dass bei den Ertränkungsversuchen, bei denen 
das Tier nur 30—35 Sekunden der Asphyxie unterzogen war, eine 
so enorme Polynukleose eintrat (3260 und 11 178 Zellen im Kubik¬ 
millimeter). Erinnern wir uns nun der Tatsache, dass gerade beim 
Ertränkungsprozess die stärkste morphologische Alteration an den 
weissen Blutkörperchen zu beobachten ist, so liegt der Schluss nahe, 
dass die von mir angenommenen Stoffe, welche auf die Leukozyten 
eine chemotaktische Wirkung ausüben, Produkte sind, die durch eine 
Schädigung des Gewebes entstehen. Denn dass einerseits Sauerstoff¬ 
mangel und Kohlensäureüberladung, andererseits eine Blutverdünnung 
mit anisotonischer Lösung die Gewebe tief schädigen, sind bekannte 
Tatsachen. 

Ebenso fest steht die Tatsache, dass die freiwerdenden Be¬ 
standteile zerfallender Zellen, besonders der Kerne eine Vermehrung 
der weissen Blutzellen hervorrufen (Goldscheider und Jakob, 
Horbaczewski u. v. a.). Aehnlich deutet Grawitz die nach 
Muskelarbeit allein auftretende Polynukleose als „Schutzeinrichtung des 
Körpers gegenüber den Produkten des Stoffwechsels der Muskelarbeit. ü 

Diese Theorie entspricht unserer Kenntnis von den funktionellen 
Eigenschaften der Leukozyten. Haben diese Zellen doch die Fähig¬ 
keit, Zerfalls- und Resorptionsprodukte auch Toxine in sich auf¬ 
zunehmen und unschädlich zu machen. Ferner ist es nach der An¬ 
sicht vieler Autoren auch bei der Verdauung ihre Aufgabe die beim 
Stoffwechsel entstehenden giftigen Produkte wegzuschaffen und un¬ 
schädlich zu machen und tatsächlich finden wir ja bei eiweissreicher 
Kost eine starke Verdauungsleukozytose. So spricht Weiss Zerfalls- 


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Das Verhalten der Leukozyten bei Erstiokung. 


297 


Produkte von Eiweiss als Lockmittel für Leukozyten an; auch Japha 
erwähnt eine Chemotaxis dieser Zellen für Eiweiss und ßurian und 
Schur sagen: „Die Verdauungsleukozytose ist der Ausdruck des 
Bestrebens des Organismus sich mit Hilfe des lymphatischen Apparats 
eindringender Schädlichkeiten zu erwehren.“ 

Dass die Leukozyten aus dem Knochenmark stammen, zeigen die 
Versuche von Werigo u. Jegunow, die vielleicht, wenn sie auch bei 
der Erstickungsleukozytose ausgeführt würden, interessante Resultate 
geben würden. Sie erzeugten mittels Injektionen von Bakterien oder 
■deren Toxinen eine Leukozytose und untersuchten sowohl das Blut der 
Knochenvenen oder der Vena femoralis nach Unterbindung aller anderer 
Aeste, als das der Karotis auf ihren Leukozytengehalt, wobei sie 
fanden, dass in dem aus ersterem Gefäss stammenden Blute viel mehr 
Leukozyten waren als in letzterem. 

Wir können somit annehmen, dass die Leukozytose bei der 
Erstickung und Ertränkung ihre Ursache hat in einer durch einen 
chemischen Reiz des Blutserums angeregten vermehrten Aus¬ 
fuhr von Leukozyten aus dem Knochenmark, die für den 
Körper einen Schutz gegen die Einwirkung der bei jenen Prozessen 
entstehenden Autointoxikation geben kann. Diese Autointoxikation 
ist wohl eine Folge der Schädigung der Gewebe durch den Sauerstoff¬ 
mangel und der Kohlensäureüberladung und vielleicht auch der starken 
Muskelarbeit, die bei den Krämpfen geleistet wird. 

Ist es nun möglich, auf Grund dieser Versuche irgend welchen 
Beitrag zu liefern für die heute so viel umstrittene Frage vom Ur¬ 
sprung der Leukozyten? Entschieden sprechen verschiedene Um¬ 
stände für die Lehre von Grawitz, dass die Leukozyten das End¬ 
produkt einer Entwicklungsreihe sind, die mit den kleinen Lympho¬ 
zyten beginnt. Haben wir doch bei Versuch I—IX eine initiale 
Lymphozytose und eine sekundäre Leukozytose. Wohin kommen all 
die Lymphozyten, was wird aus ihnen und welchem Zwecke dienen 
sie in dem doch sonst so zweckmässigen Körperhaushalte? Darauf 
können wir allerdings keine andere so befriedigende Antwort geben, 
wie die, dass wir annehmen, dass sie in Leukozyten umgewandelt 
werden, eventuell im Knochenmark und vielleicht auch nicht sofort. 
Ferner sehen wir, dass die Uebergangsformen sich öfter vermehren 
und zwar liegt ihr Höhepunkt vor dem der Leukozyten. Auch können 
Avir konstatieren, dass die Zahl der Lymphozyten bei den Ertränkungs- 
versuchen während der Polynukleosc immerhin etwas abfällt. 

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Hoch stetter, 


Aber andererseits betone ich, dass ich niemals zwischen den 
Lymphozyten und Uebergangsformen einerseits und zwischen letzteren 
und den Polynukleären andererseits Zwischenstufen in Bezug auf das 
tinktorielle Verhalten des Protoplasmas gefunden habe, wenn auch 
Uebergänge der Kernformen vorkamen. Ferner sehen wir, dass in 
Versuch XIV—XVII eine Polynukleose ohne vorherige Lymphozytose 
eintritt, dass also erstere nicht von letzterer abhängen muss, und dass 
im Verhältnis zur Polynukleose nur wenig Lymphozyten aus der Blut- 
bahn verschwinden. 

Somit glaube ich nicht, dass es auf Grund obiger Versuche 
möglich ist, eine bestimmte Stellung im Streite der Monisten und 
Dualisten einzunehmen. Soweit jedoch möchte ich gehen, dass ich 
nach eingehendem Studium meiner Präparate den Satz aufstelle, dass 
wenigstens beim Kaninchen im strömenden Blut keine Umwandlung 
von Lymphozyten in Polynukleäre stattfindet. In diesem Falle müssten 
bei so grossen Verschiebungen des Blutbildes, wie ich es öfters 
beobachtet habe, viele Uebergangsformen nach allen Richtungen zu 
finden sein. 

Es steht nun noch die Frage offen, ob es eventuell möglich 
ist, aus dem Prozentverhältnis der einzelnen Leukozytenarten zuein- 
der im Leichenblut Schlüsse auf die Todesursache zu ziehen. Asca- 
relli hat hieraufhin 3 menschliche Leichen untersucht, worunter 
die eines Ertrunkenen. Bei dieser fand er, wie er meint als Folge 
dieser Todesursache (Zerstörung von Polynukleären und Vermehrung 
der Lymphozyten), eine Formel = 0,814, bei den anderen Leichen 
1,412 und 2,03; normal wäre bei 75pCt. Polynukleären beimMenschen 3~ 
Wir sehen also, dass auch bei einer anderen Leiche die Formel 
ziemlich stark von der Norm abweicht. Ferner müssen wir bedenken r 
dass Eindickungsvorgänge und Gerinnselbildung immer das Resultat 
stören werden und dass wir doch nie wissen, welche Leukozyten¬ 
formel die betreffende Person im Leben hatte. Denn sie ist ja 
keine konstante Zahl, sondern von vielen physiologischen und noch 
mehr pathologischen Veränderungen (Diabetes, Morbus Basedow, 
Leukämie) in hohem Masse abhängig. Ich glaube daher nicht, dass 
die Feststellung der Leukozytenformel jemals praktische Bedeutung 
für den Gerichtsarzt zur Feststellung der Todesursache haben wird; 
auf keinen Fall beim Ersticken, wo die Veränderungen nicht so auf¬ 
fallend sind. Der Ertrinkungstod kann besser durch die Blutver¬ 
dünnung nachgewiesen werden. 


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Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


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Auf Grund der beschriebenen Versuche und obigen Ausführungen 
können wir folgende Schlusssätze aufstellen: 

1. Bei der Erstickung von Kaninchen tritt sehr rasch eine starke 
Vermehrung der gesamten Leukozytenzahl auf, der im Er¬ 
holungsstadium eine Abnahme und schliesslich in der Regel 
eine neue Vermehrung folgt. Der erste Anstieg ist an das 
Auftreten von Muskelkrämpfen geknüpft. Dieser Verlauf der 
Leukozytenkurve beruht auf verschiedenen Komponenten. 

2. Zunächst stellt sich innerhalb weniger Minuten eine Lympho¬ 
zytose ein, die eine Folge mechanischer Vorgänge ist, be¬ 
sonders des Auspressens der Lymphdrüsen und Lymphge- 
fässe während der Asphyxie infolge der Krämpfe. Treten 
keine Krämpfe auf, so fehlt auch die Lymphozytose. 

3. Diese Lymphozytose ist nur ein rasch vorübergehender Zu¬ 
stand und nach ungefähr einer halben Stunde nicht mehr 
nachzuweisen; im Gegenteil es tritt eher im Verhältnis zur 
Anfangszahl der Leukozyten eine leichte Leukopenie ein. 

4. Einige Zeit nach der Erstickung, sowohl bei kurz, wie bei 
lang dauernder, tritt eine Polynukleose auf, die anzusehen 
ist als eine Reaktion des Knochenmarks gegen eine Autoin¬ 
toxikation (infolge Gewebeschädigung) und somit zum Schutze 
des Körpers dient. 

5. Bei der Erstickung durch Verschluss der Atemwege, noch 
mehr bei der Ertränkung von Kaninchen, erleiden die weissen 
Blutzellen, besonders die polynukleären Leukozyten eine mehr 
oder weniger tiefgreifende morphologische Alteration. 

6. Im strömenden Blute des erstickten Kaninchens ist keine 
Umwandlung von Lymphozyten in Leukozyten zu beobachten. 

7. Für den Gerichtsarzt hat die Feststellung der Leukozyten¬ 
formel keine Bedeutung für die Diagnose der Todesursache. 

Zum Schluss ist es mir eine angenehme Pflicht, auch an dieser 
Stelle Herrn Geheimrat Prof. Dr. Strassmann für die Anregung zu 
dieser Arbeit, sowie die Erlaubnis, in seinem Institut zu arbeiten, und 
seinem ersten Assistenten, Herrn Privatdozent Dr. Fraenckel, für seine 
vielfache Unterstützung und die Durchsicht der Arbeit auch an dieser 
Stelle meinen ergebensten Dank auszusprechen. 


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300 


Hochstctter, 


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Literaturverzeichnis. 

1) Ascarelli, Die Leukozyten des Blutes beim Erstickungstod. Vierteljahrshefte 
f. gerichtl. Med. 3. Folge. 38. 1909. S. 51. 

2) Burian und Schur, Verdauungshyperleukozytose. Wiener klin. Wochenschr. 
1897. No. 6. 

3) Decastello und Czinner, Ueber den Einfluss der Veränderung des Gefäss- 
volumens und des Blutdrucks auf die Leukozytenzahl. Ebendas. 1899. S. 395. 

4) Formaneck und Haskovel, Ueber einige Blutveränderungen bei Krämpfen. 
Wiener med. Blätter. 1896. No. 7. 

5) Goldscheider und Jakob, Ueber die Variationen der Leukozytose. Zeitschr. 
f. klin. Med. Bd. XXV. H. 5 u. 6. 1894. 

6) Gottschalk, Gerichtliche Medizin. Leipzig 1909. 

7) Grawitz, Klinische Pathologie des Blutes. 3. Aufl. Leipzig 1906. 

8) Derselbe, Ueber myogene Leukozytose. Deutsche med. Wochenschr. 1910. 
No. 29. 

9) Horbaczewski, Beiträge zur Kenntnis der Bildung der Harnsäure und 
Xanthinbasen, sowie die Entstehung der Leukozytosen im Säugetierorganismas. 
Sitzungsberichte der Kais. Akad. der Wiss. zu Wien. Bd. C. 1890. Abt. Ul. 

10) Itami, Weitere Studien über Blutzusammensetzung. Archiv f. exper. Path. 
u. Ther. Bd. LXII. S. 104. 

11) Jap ha, Zur Verdauungsleukozytose. Deutsche med. Wochenschr. 1900. 

12) Klieneberger und Carl, Die Verdauungsleukozytose beim Laboratoriumstier. 
Zentralbl. f. inn. Med. 1910. No. 24 n. 25. 

13) Le Sourd et Pagniez, Augmentation brusque du nombre des leucocytes 
dans l’aspbyxie aigue. La semaine medicale. 1908. No. 51. 

14) Le Verdereau, Die Erkennung des Todes durch Ertrinken mittels Blut¬ 
körperchenzählung. Referat. Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1908. S. 545. 

15) Lindberg, Zur Kenntnis der Alterskurve der weissen Blutkörperchen des 
Kaninchens. Folia haematologica. 1910. S. 64. 

16) Modica, Studii sull’asfissia. Contributo alla fisiopatologia dell’asfissia. 
Arch. Farmacol. speriment e scienze affini. VIII. 3. 1909. 

17) Derselbe, Sangue ed organi emopoietici nell’asfissia. Riassunto. Boll. soc. 
med. Parma. Serie II. 8. 9. 1908. 

18) Müller, Wirkung einiger physiologischer Einflüsse auf die Zusammensetzung 
des Blutes. Münchener med. Wochenschr. 1904. No. 38. 

19) Pappen heim, Atlas der menschlichen Blutzellen. Jena 1909. 

20) Priese, Ueber die Einwirkung periodisch erzeugter Dyspnoe auf das Blut. 
Zeitschr. f. Path. u. Ther. Bd. V. H. 3. 

21) Pröscher, Experimentelle basophile Leukozytose beim Kaninchen. Folia 
haematologica. 1909. 

22) Ranke, Grundzüge d$r Physiologie des Menschen. Leipzig 1881. 

23) Reineboth und Kohlhardt, Blutveränderung infolge von Abkühlung. 
Deutsches Archiv f. klin. Med. Bd. LXV. 1899. 


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Das Verhalten der Leukozyten bei Erstickung. 


301 


24) Schmidtmann, Gerichtliche Medizin. Berlin 1907. 

25) Wachholz, Experimentelle Beiträge zur Lehre des Erstickungstodes. Viertel¬ 
jahrshefte f. ger. Med. Bd. XXXII. 1906. 

26) Weiss, Blutfärbung und Leukozyten. Wiener klin. Wochenschr. Bd. XI. 
No. 3. 1898. 

27) Werigo und Jegumow, Das Knochenmark als Bildungsort des zirkulierenden 
Blutes. Pflügers Archiv. Bd. LXXXIV. S. 451. 

28) Woizechowski, Ueber die Veränderung des Blutes im kleinen Kreislauf 
beim Ertrinken. Inaug.-Diss. Petersburg 1908. Referat. Folia haematologica. 
1910. S. 40. 


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12 . 


Aus dem Institut für gerichtliche Medizin der Kgl. Universität 
Turin (Vorstand: Prof. M. Carrara). 

Ueber den gleichzeitigen Befünd kriminell erzeugter 
und spontaner Läsionen bei Neugeborenen, mit be¬ 
sonderer Berücksichtigung der Diagnose der „intra 
vitam“ erzeugten Läsionen. 

Von 

Dr. L. Lattes, Assistent. 

In einer kürzlich erschienenen Arbeit untersucht Lesser 1 ) die 
Weichteilverletzungen, welche bei Foetis infolge des einfachen Geburts¬ 
aktes entstehen können und führt auch einige diesbezügliche Daten 
aus der Literatur an. 

Bei Neugeborenen, die unter solchen Verhältnissen geboren waren, 
dass kein Zweifel über den Ursprung der Läsionen möglich war, fand 
er, in einem wirklich hohen Masse, Haut-, Unterhaut- und Muskel¬ 
blutungen an den verschiedenen Körperstellen, wie den Wangen, der 
Nase, dem Kinn, dem Halse, der Brust, dem Bauch usw. 

Diese Läsionen können, besonders wenn sie am Gesicht, am 
Halse und am Rumpf lokalisiert sind, denjenigen ähnlich sein, welche 
in Fällen von gewaltsamer Erstickung durch Verschluss der Atmungs¬ 
öffnungen, durch Erwürgung oder durch Rumpfkompression aufzutreten 
pflegen. Lesser bemerkt jedoch, dass bei allen diesen Todesarten 
kaum je eine völlige Integrität der Epidermis vorhanden sein dürfte. 
Durch diese Behauptung scheint Lesser ein, wenn nicht absolutes, 
doch wenigstens in der Mehrzahl der Fälle, gütiges Differentialkriterium 
zwischen dem natürlichen und dem durch Gewalt am Neugeborenen 
hervorgerufenen Erstickungstode aufstellen zu wollen. Und in der 

1) Diese Vierteljahrsschrift. 3. Folge. Bd. XXXIX. 1. H. 1910. S. 1 u. 114. 


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Befund kriminell erzeugter und spontaner Läsionen bei Neugeborenen. 303 


Tat, ist man allgemein darüber einig, dass für diese Diagnose die 
oberflächlichen Läsionen von der grössten Bedeutung sind. Da anderer¬ 
seits bekanntlich eine Gewalttat stattgefunden haben kann, ohne 
weitere Spuren zurückzulassen als die tiefen Hämorrhagiea, so be¬ 
greift man, dass Lessers Untersuchungen, wie auch seine eignen 
Schlussfolgerungen lauten, dazu beitragen müssen, die Bedeutung 
solcher tiefen vereinzelten Blutungen am Halse bedeutend einzu¬ 
schränken, indem man keineswegs mehr behaupten kann, dass sie 
möglicherweise infolge von nach der Geburt ausgeübten traumatischen 
Wirkungen entstanden seien. 

Die Kenntnis der durch den Geburtsakt hervorgerufenen spontanen 
Verletzungen ist auch unter einem anderen Gesichtspunkte von Wichtig¬ 
keit, worauf Lesser nicht näher eingeht, weil der gerichtliche Fall, 
welcher ihn zu seiner Arbeit veranlasste, ihm keine Veranlassung 
dazu bot. In dem Falle handelte es sich darum, festzustellen, ob 
die an einem Neugeborenen Vorgefundenen Blutungen auf eine Gewalt¬ 
tat oder nur auf das Geburtstrauma zurückzuführen waren. 

Ich habe vor kurzem, noch bevor mir die Arbeit Lessers be¬ 
kannt wurde, Gelegenheit gehabt, einen gerichtlichen Fall zu beurteilen, 
in welchem die Zeichen der stattgefundenen Gewalt unzweifelhaft 
waren. Dagegen handelte es sich im wesentlichen darum, zu ent¬ 
scheiden, ob diese Gewalt während des Lebens oder nach dem Tode 
ausgeübt worden war. Die Möglichkeit spontaner Blutungen nahm 
somit auch unter diesem Gesichtspunkte eine entscheidende Bedeu¬ 
tung an. 

Ich will hier kurz über den betreffenden Fall berichten, den ich 
zusammen mit Herrn Prof. Tovo begutachtete. 

Gin 23jähriges, in einem Privathause als Dienstmädchen angestelltes Mädchen, 
stand seit einiger Zeit bei ihrer Hausherrin im Verdacht, schwanger zu sein, hatte 
aber die Sache stets hartnäckig abgelehnt. Eines Abends, während die Herrschaft 
zu Tisch sass, sperrte sie sich in den Abtritt ein und verweilte dort mehrere 
Stunden, wonach sie sich zu Bett legte und über starke Leibschmerzen klagte. 
Der Hausherrin, welche im Abtritt und im Schlafzimmer des Dienstmädchens Blut 
auf dem Fussboden gefunden hatte und sie eindringlich befragte, antwortete sie, 
es sei ihre Menstruation eingetreten. Ein Arzt, welcher hinzugezogen wurde, fand 
die Zeichen einer frischen Niederkunft, konnte aber nicht das richtige Alter der 
Schwangerschaft feststellen und stellte Diagnose auf Abortus. Auf die Frage, wo 
sie den Fötus versteckt habe, antwortete das Mädchen schliesslich, sie habe „etwas“ 
in die Röhre des Abtritts herunterfallen gehört, aber nicht die Empfindung gehabt, 
zu gebären. 


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304 


Dr. L. Lattes, 


1 


Das Mädchen wurde in die geburtshilfliche Klinik gebracht, wo die Aerzte 
feststellten, dass es sich nicht um einen Abortus, sondern um eine regelrechte, 
am normalen Ende der Schwangerschaft erfolgte Erstgeburt, mit Entstehung 
schwerer Dammrisse, handelte, so dass die Möglichkeit, dass das Kind in die 
Abtrittsröh’re gefallen sei, ausgeschlossen war. Es wurden die nötigen Unter¬ 
suchungen vorgenommen und dabei im Kleiderschrank des Mädchens die Leiche 
des Neugeborenen, in verschiedene Stücke Stoff eingewickelt und mit einem am 
den Hals gebundenen Schnupftuch, gefunden. Es konnte nicht festgestellt werden, 
mit welcher Kraft das Taschentuch geschnürt worden war. Das Mädchen gestand 
nun zu, sie habe eine regelrechte Geburt gehabt, sie könne nicht angeben, ob das 
Kind geschrieen habe, sie habe es zwar eingewickelt und ihm das Taschentuch 
um den Hals geschnürt, das Kind habe aber dabei kein Lebenszeichen von sich 
gegeben, und sie habe es dann in den Kleiderschrank geschlossen. Auf Veran¬ 
lassung des Untersuchungsrichters wurde nun am 12. März 1910 die Autopsie der 
Leiche vorgenommen, welche folgenden Befund ergab: 

Männlicher Fötus, 51 cm lang, Gewicht 3120 g. Aus den Dimensionen der 
einzelnen Teile und aus den übrigen Charakteren geht hervor, dass es sich um 
ein am normalen Ende der Schwangerschaft geborenes, regelmässig entwickeltes 
und erst vor kurzem geborenes Kind handelt. Die Durchtrennungsfläche des 
Nabelstranges ist unregelmässig und gefranzt. Die Ränder sind mit Blut durch¬ 
tränkt. Im oberen Abschnitt der linken Stirngegend beobachtet man, nahe der 
Körpermittellinie, eine hellrote, rundliobe Exkoriation; Exkoriationen von ähnlichen 
Charakteren und derselben Grösse findet man auf der Glabella frontis resp. auf der 
rechten Backe, 1 cm oberhalb und auswärts des Mundwinkels. Eine weitere, steck¬ 
nadelkopfgrosse Exkoriation findet man an der Basis des rechten Nasenflügels. Auf 
dem Rücken findet man, entsprechend den Dornfortsätzen des XL und XII. Brustwirbels 
und des I. Lendenwirbels, drei rundliche, übereinander auf einer Senkrechten an¬ 
geordnete, durchschnittlich 5 mm grosse Abschabungen, von denen die mittlere 
eingeschnitten wird und eine geringe Blutinfiltration aufweist. In der vorderen 
Mediangegend des Halses ist die Haut auf eine Ausdehnung von etwa einem Zwei¬ 
markstück unregelmässig gerötet. In dieser Zone findet man rötliche Streifen, 
über welchen die Haut körnig ist und eine rauhe Konsistenz aufweist. Im linken 
oberen Teil dieser Zone zeigt die Haut eine rundliche, etwa 3 mm tiefe und erbsen¬ 
grosse Vertiefung, welche sich unten mit einer anderen streifenförmigen, quer ver¬ 
laufenden, 4 cm langen und 5 mm breiten, vereinigt. An der Stelle dieser Ver¬ 
tiefungen fühlt sich die Haut rauh an. Diese Hautpartie, die herausgeschnitten, 
präpariert und untersucht wurde, zeigte eine grössere Dünnheit und Durchsichtig¬ 
keit als die umgebenden Zonen. Diese Dünnheit und Durchsichtigkeit erreicht 
den höchsten Grad an der Stelle der erwähnten Vertiefungen und längs einem 
oberhalb der erwähnten streifenartigen queren Vertiefung gelegenen und derselben 
parallel verlaufenden Streifen. 

Den erwähnten oberflächlichen rötlichen Streifen entsprechend, beobachtet 
man ein Netzwerk aus äusserst feinen injizierten Gefässohen und hier uud da ver¬ 
einzelte rote Pünktchen, welche bei der mikroskopischen Untersuchung der Haut 
sich als kapillare Blutungen ergeben und auch in den durchsichtigen Zonen zahl¬ 
reich vorhanden erscheinen. Bei der Dissektion der Weichteile des Halses findet 
man in dem zwischen dem Musculus sternocleidomastoideus und dem rechten 


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Befund kriminell erzeugter und spontaner Läsionen bei Neugeborenen. 305 

Gefass- und Nervenbündel des Halses gelegenen lockeren Bindegewebe ein Extra¬ 
vasat von weichgeronnenem Blut, welches die Gewebe in dem Umfange etwa 
eines Fünfpfennigstückes durchtränkt. 

Auf der inneren Oberfläche der behaarten Kopfhaut beobachtet man sowohl 
vorn wie hinten eine zu zusammenfliessenden Flecken verschiedener Grösse an¬ 
geordnete hämorrhagische Infiltration. In der rechten Okzipitalgegend ist diese 
Infiltration besonders deutlich und mit starkem Oedem der Gewebe vereinigt. 
Kleine Blutextravasate findet man auch hier und da unter dem Periost der Scheitel¬ 
beine und des Hinterhauptbeines. 

Auf dem Rücken findet man zwischen dem rechten Schulterblatt und der 
Wirbelsäule im Unterhautzellgewebe 7 bis 8 rundliche, im Durchschnitt erbsen¬ 
grosse Blutextravasate. 

Der Fötus hat normal geatmet, die Lungen sind durch Luft gedehnt; der 
Magen enthält ebenfalls Luft und schwimmt auf dem Wasser; der Darm ist da¬ 
gegen in allen seinen Teilen luftleer. 

Die Leiche zeigt die allgemeinen auf Erstickungstod hinweisenden Charaktere: 
flüssige Beschaffenheit des Blutes, punktförmige Ekchymosen auf der Augenbinde¬ 
haut, auf der Thymusdrüse, auf der Pleura; Kongestion der Leber und der Milz; 
Lungenödem. 

Aus dem nekroskopischen Befunde ergab sich somit das Zu¬ 
sammentreffen des allgemeinen, der akuten Asphyxie entsprechenden 
Bildes mit Hautläsionen am Halse, welche höchstwahrscheinlich auf 
die Wirkung des Taschentuches zurückzu führen waren. Andererseits 
konnte man nicht ohne weiteres die Möglichkeit ausschliessen, dass 
die Asphyxie spontan während der Geburt eingetreten sei und kurz 
nach Beginn der Atmungsbewegungen zum Tode des Kindes geführt 
habe. 

Um eine kausale Beziehung zwischen der Anlegung des Taschen¬ 
tuches und dem Erstickungstode feststellen zu können, musste man 
deshalb notwendigerweise nachweisen, dass die Schlinge auf den Hals 
des lebenden Kindes eingewirkt hatte. 

Die an gewissen Stellen der vorderen Halsgegend vorhandene 
feine Gefässinjektion konnte in der Tat in dieser Hinsicht keine ent¬ 
scheidende Bedeutung haben, da die Möglichkeit nicht ausgeschlossen 
war, dass diese Injektion der Gefässe auf geringe Hypostase oberhalb 
der durch die Schlinge komprimierten Punkte zurückzuführen wäre, 
ähnlich wie man sie in den Hautpartien oberhalb der Erhängungs- 
strangrinnen beobachten kann. 

Bezüglich der Hämorrhagien am Halse ist uns der Zweifel ent¬ 
standen, ob sie tatsächlich sichere Zeichen einer während des Lebens 
geschehenen Erdrosselung sind und zwar, wie gesagt, unabhängig von den 
Untersuchungen Lessers, welche uns noch nicht bekannt waren. 


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306 Dr. Lattes, Befund kriminell erzeugter u. spontaner Läsionen bei Neugebor. 

! 

In der Tat entsprach die zwischen dem Muse, stemoraastoideus 
und dem Gefäss- und Nervenbündel des Halses angetroffene Blutung 
genau der unteren Grenze der veränderten Hautzone. Ferner bestand 
eine grosse Aehnlichkeit zwischen dieser tiefen Blutung am Halse und 
denjenigen, welche, abgesehen von der behaarten Kopfhaut, im Unter* 
hautgewebe des Rückens vorgefunden worden waren, welche jedenfalls 
nicht auf die Erdrosselung zurückzuführen waren und keineswegs durch 
eine äussere Gewalt herbeigeführt schienen. Wir haben deshalb die 
tiefe Blutung am Halse nicht als eine Folge einer Erdrosselung, 
sondern als eine solche des Geburtstraumas betrachtet. 

Wir haben dagegen eine viel grössere Bedeutung den am Halse 
in der Dicke der veränderten Haut Vorgefundenen papillären punkt¬ 
förmigen Blutungen zugeschrieben und dieselben als die Folge der 
Anlegung der Schlinge an den lebenden Körper betrachtet. Wir haben 
infolgedessen geglaubt, behaupten zu können, dass „der Tod des 
Kindes höchstwahrscheinlich auf Erstickung durch Erdrosselung zurück¬ 
zuführen sei“. Die Angeklagte bekannte später ihr Verbrechen und 
bestätigte unser Urteil. 

Wenn ich jetzt, gestützt auf die Beobachtungen Lessers, unser 
Gutachten revidiere, so erscheint mir unser Urteil über die tiefe 

Blutung am Halse, welche ganz den von Lesser beschriebenen 

spontanen Hämorrhagien ähnelte, noch mehr gerechtfertigt. 

Dagegen neige ich dazu, die punktförmigen Hautblutungen anders 
zu deuten. 

Diese hat auch Lesser als eine spontane Folge des Geburts¬ 
aktes gefunden, und deshalb könnte ihre Anwesenheit nicht an und 

für sich ohne weiteres beweisen, dass die Hautläsion am lebenden 
Körper herbeigeführt worden ist. 

Es scheint mir jedoch, dass die genaue Beziehung zwischen dem 
Sitz dieser Blutungen und demjenigen der Hautverletzungen uns ohne 
weiteres berechtigt, an unserem ersten Urteil festzuhalten. 


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13. 


Zur Kasuistik des § 224 Str.-G.-B. 

Von 

Oberarzt Dr. Mönkemöller, Hildesheim. 


Bei dem 22jäbrigen Musketier (früheren Dachdecker) Fi. liegt Heredität in¬ 
sofern vor, als sein Vater ein sehr lebhafter, jähzorniger und starrköpfiger 
Mann ist, der im Laufe des Prozesses immer äusserst energisch für das Recht 
seines Sohnes eingetreten ist. Er hat den Verletzten mit grösster Strenge erzogen 
und ihn von jeder freien Willensbetätigung nach Kräften abgehalten. 

Nach Aussage der Matter ist Fi. vor seinem Eintritt in das Militär, abgesehen 
von den gewöhnlichen Kinderkrankheiten, nie krank bzw. in ärztlicher Behandlung 
gewesen. Der Vater gibt an, sein Sohn sei geistig immer ganz normal gewesen 
und in keiner Weise aufgefallen. Auch ein befreundeter Altersgenosse hat nie 
etwas Auffälliges an ihm bemerkt. Sein Pastor bezeichnet ihn als einen Schüler 
von normaler Begabung, der nie Zeichen von geistiger Schwäche oder Krankheit 
gezeigt habe. Nach Angabe des Lehrers war er ein mittlerer Schüler von einwand¬ 
freiem Betragen, der in keiner Weise anffiel. „Krampfanfälle oder andere Störungen 
der Nerven oder der Geistestätigkeit während der Schulzeit sind nicht bekannt 
geworden. Einen ausschweifenden Lebenswandel hat er nicht geführt, er neigte 
weder zu Gewalttätigkeiten noch war er schüchtern oder ängstlich“. Gutes Ab¬ 
gangszeugnis. 

Beim Militär ist er nie bestraft worden. Führung sehr gut. Keine Krämpfe. 
Nur fiel es allgemein auf, dass er stets eine krankhaft gelbe Gesichtsfarbe 
hatte. Auch schien er etwas aufgeregt und nervös zu sein. 

„Es zeigte sich bei ihm immer eine förmliche Angst, wenn er angesprochen 
wurde, gern war er für sich allein und wurde, wenn er plötzlich gestört wurde, 
einen Augenblick stutzig; auch war er bei Ausführung von Aufträgen etwas 
schwer schlüssig“. Im übrigen war er ein sehr gewissenhafter und zuverlässiger 
Mann. Geistig war er gut veranlagt und hegte stets den Wunsch zu kapi¬ 
tulieren. 

Am 30. 5. 1909 wurde Fi. im Truppenlager zu Munster in Gemeinschaft mit 
einem anderen Rekruten von drei „alten Leuten“ misshandelt. Er hatte, als ihm 
seine Drillichjacke abhanden gekommen war, die Jacke eines „alten Mannes“ ge¬ 
nommen und seinen eigenen Namen hineingenäht, weshalb er schon von jenem zur 
Rede gestellt worden war. 


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308 


Dr. Mönkemöller, 


An dem betreffenden Tage batte er Stubendienst. Alkohol batte er nicht zu 
sich genommen. Als die alten Leute nach Hause kamen, ging der eine anf Pi. los, 
der in der Ecke mit Ausziehen beschäftigt war, stellte ihn zur Rede und schlug 
ihn, als er keine Antwort gab, mehrere Male mit der Hand auf den Kopf und ins 
Gesicht. Nachdem die Lampe ausgelöscht worden war, schlugen noch zwei andere 
Musketiere gemeinschaftlich mit den Fäusten und vielleicht mit der Klopfpeitsche 
auf Fi. ein. Dieser stöhnte nur leise vor sich hin. Eine Verletzung wurde nach 
dieser Misshandlung nicht bemerkt. Fi. zog sich in seiner Ecke weiter aus und 
äusserte zu Kameraden, die mit ihm sprachen, keinerlei Klagen. Als in der Nähe 
zwei Gewehre umfielen, stellte er sie auf die Aufforderung eines Kameraden 
hin, der ihn in diesem Zeitpunkte noch für vollkommen vernünftig hielt, in die 
Gewehrstützen und machte dabei ein loses Brett wieder fest. 

Darauf kamen die drei, nachdem sie mittlerweile den anderen Rekruten miss¬ 
handelt hatten, wieder auf ihn los und schlugen mit Fäusten auf ihn ein. Fi. stöhnte 
wieder. Als das Licht wieder angezündet wurde, stand er zuerst unbeweglich am 
Fenster, dann taumelnd in der Ecke und redete irre. Er kam mit stierem Blicke 
auf andere Kameraden zu, die ihn ansprachen, und fragte: „Wer sind Sie eigent¬ 
lich? Mein Vater muss doch noch kommen.“ 

Nach Aussage des Unteroffiziers bekam er eine Art Krampfanfall. Er wurde 
sofort in das Barackenlazarett eingeliefert. „Hier wechselten hochgradige Angst¬ 
zustände mit Erregungszuständen ab, die sich bis zu Tobsuchtsanfällen steigerten. 
Er fühlte sich offenbar von jedem, der in seinen Gesichtskreis kam, bedroht und 
gab dies durch Ballen der Fäuste und Abwehrbewegungen zu erkennen. Ueber 
Zeit, Art und Umgebung war er nicht orientiert, über die Schläge vermochte er 
nichts anzugeben.“ 

Ueber jedem Scheitelbein hatte er eine taubeneigrosse blutunterlaufene Beule. 
Das rechte obere Augenlid war blutunterlaufen. Beide Nasenöffnungen waren mit 
Blutgerinnseln angefüllt. Bei Druck auf die verletzten Stellen wurde über Schmerz¬ 
empfindungen geklagt. „Allen Fragen gegenüber verhielt er sich ablehnend, da er 
ganz unter dem Drucke seiner Wahnideen stand.“ 

Am anderen Morgen erkannte er den ihn pflegenden Sanitätsgefreiten, der 
aus seinem Heimatsorte stammte. Um 12 Uhr mittags war er wieder so weit bei 
Besinnung, dass er auf Aufforderung seinen Namen und Heimatsort aufschrieb. 

Am 31. 5. 1909 wurde Fi. in das Garnisonlazarett Hannover eingeliefert. 
Nach Angaben des ihn begleitenden Sanitätsfeldwebels soll er auf dem Transporte 
deliriert haben. Während des Transportes ist er dann ruhig geworden. 

Befund bei der Aufnahme (31. 5. 1909): Kräftig gebauter Mann von 
gutem Ernährungszustände. Bei der Aufnahme völlig ruhig. Es fällt bei ihm das 
lebhaft grimassierende Mienenspiel auf. Leichtes Flockenlesen. Ueber die Vor¬ 
gänge in Munster macht er unsichere Angaben. Auch auf Fragen nach seinem 
Namen, Alter und Stand gibt er nur zögernde Antworten. Sein Erinnerungsvermögen 
erscheint gestört. Andeutung von Druckpuls, Puls hart, regelmässig, kräftig. 
G5. Pupillen ziemlich eng, reagi er en n ur träge auf Lichteinfall. Patellarreflexe 
regelmässig. Bei dem Versuch, sich allein aufzurichten oder zu stehen, heftiges 
Schwindelgefühl und Sch wank en. Kein Zungenbiss. Klagt über sehr starke 
Kopfschmerzen, besonders der linken Kopfseite. Starkes Hunger- und Durstgefühl. 


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Zur Kasuistik des § 224 Str.-G.-B. 


309 


Das Kauen ist erschwert. Kein Erbrechen, kein Ausfluss aus den Ohren. Macht 
einen sehr ängstlichen Eindruck. Das ganze Gesicht ist leicht geschwollen, ober¬ 
halb des Ohres eine etwa 3 cm lange, 5 mm breite, mit Schorf bedeckte, ganz ober¬ 
flächliche Quetschwunde. Umgebung leicht geschwollen. Keine Schädelknochen¬ 
depression. Beide unteren Augenlider rotbläulich verfärbt. Keine Sensibilitäts¬ 
oder Motilitätsstörungen. Keine Stauungspapille. Behandlung: Eisblase auf 
den Kopf, Bettruhe. 

1. 6. 1909. Während der Nacht völlig ruhig. Heute Morgen liegt Fi. ziem¬ 
lich teilnahmlos im Bett, reagiert erst auf mehrmaliges Anrufen, seine Antworten 
erfolgen zögernd, er muss vor jeder Antwort längere Zeit nachdenken. Urinlassen 
ohne Beschwerden, Stuhlgang erfolgt auf Einlauf, Urin enthält keine krankhaften 
Bestandteile. Kopfschmerzen haben etwas nachgelassen, Mienenspiel noch immer 
sehr lebhaft, häufiges Grinsen. Zunge weioht etwas nach links ab beim 
Heransstrecken, Pfeifen erschwert. 

2. 6. 1909. Zustand im allgemeinen unverändert. Hat mehrmals spontan 
Urin gelassen, einmal Stuhlgang. Nachts war er ruhig. Antwortet auf mehrmaliges 
Fragen nach seinem Namen mit leiser Flüstersprache. Macht noch immer einen 
sehr ängstlichen Eindruck. Puls hart, regelmässig, 64. 

3. 6. 1909. Beim Versuch zu stehen sehr heftiges Schwindelgofühl. Puls 
bedeutend weicher, 64. Pupillen reagieren prompt, Antworten erfolgen noch 
immer zögernd, aber etwas prompter als die Tage vorher. Fi. macht nicht mehr 
einen so ängstlichen Eindruck. Lebhaftes Grimassieren. 

4. 6. 1909. Vollkommen orientiert über Namen, Familie, Angehörige, jetzigen 
Aufenthalt, aber nicht über das, was ihm in der Pfingstnacht passiert ist. Will 
am Pfingstsonntag nicht ausgegangeu sein, keinen Streit gehabt, überhaupt über 
Widerwärtigkeiten im Dienst nicht zu klagen gehabt haben; war gern Soldat. 
Antwortet richtig auf alle Fragen, aber sehr langsam, stammelnd-stotternd, dabei 
fortwährend grinsend und zwar mit beiden Gesichtshälften gleicbmässig im Gebiet 
aller Fazialisäste. Keine Paraphasie. Spontan hat er noch kein Wort gesprochen. 
Stimmung ruhig, nicht besonders ängstlich oder gedrückt. Zungo weicht noch eine 
Spur nach links ab. Pfeifen ist möglich. Alle Rumpf- und Extremitätenbewegungen 
langsam und ungeschickt, aber ohne Lähmung. Sensibilität intakt, allgemeine 
geringe Hyperalgesie. Warm und kalt wird überall prompt unterschieden. 
Sehnen- und Periostreflexe an den Armen etwas lebhaft, desgleichen 
Bauchdecken- und Rachenreflexe. Patellar- und Achillessehnenreflex 
kaum gesteigert, ebenso Plantarreflex. Links deutlicher Babinski, rechts 
dagegen Plantarflexion der Zehen. Beim Aufstehen Schwanken; alles, was er 
sieht, geht ihm rundum. An der linken Schläfe bläulichgelbe Hautverfärbung und 
noch geringe Schwellung, desgleichen am rechten unteren Augenlid. Augenhinter¬ 
grund normal. In den Gehörgängen kein Blut. 

7. 6. 1909. Das lebhafte Mienenspiel und Grimassieren hat eher zu- wie 
abgenommen, auch scheint die Sprache noch schwerfälliger und stockender. Seinen 
Namen und Wohnort schreibt er fehlerfrei und geläufig, wenn auch etwas langsam. 
Bei Prüfung des Babinski links zunächst keine Bewegung, dann abwechselnd 
Plantar- und Dorsalflexion, schli osslich krampfartige Dorsalflexion. 
Rechts deutliche Plantarflexion der Zehen. 


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310 


Dr. Mönkemöller, 


9. 6. 1909. In der Sprache keine Veränderung. Steht heute versuchsweise 
etwas auf. Schwindelgefühl hat bedeutend nachgelassen. Geht mit leichter Unter¬ 
stützung in der Stube umher. 

13. 6. 1909. Schläft viel, auch bei Tage. Wenn er dann angefasst wird, 
schreckt er heftig auf. Appetit sehr gut; isst ganz sauber. Geht zum Stuhl auf 
die Latrine. W'arme Bäder sind ihm unangenehm, werden deshalb nach 2 Tagen 
wieder ausgesetzt. 

20. 6. 1909. Geht jetzt morgens etwas besser, allerdings mit kleinen spa¬ 
stischen Schritten. Freut sich über den Besuch von Vater und Mutter, spricht 
mit ihnen stotternd und stammelnd, kaum verständlich. Schreibt seinen Namen 
ganz gut, aber sehr langsam. 

28. 6. 1909. Versteht alles, handelt auch durchaus zweckmässig. Spontan 
spricht er kein Wort. Seine Antworten sind schwer zu verstehen, er murmelt alles 
in den Bart. Geht vormittags besser als nachmittags, hängt sich in den Arm eines 
anderen und geht dann taumelnd nebenher, fortwährend grimmas- 
sierend. Schläft sehr viel, bei Tage liegt er oft halb sitzend auf dem Bett, immer 
in höchst unbequemen albernen Stellungen. Beim Aufwecken schrickt er 
zusammen, stiert einen ängstlich an. Allgemeine Reflexsteigerung. Allgemeine 
Ueberempfindlichkeit gegen Nadelstiche, keine analgetischen Zonen. Warm 
und Kalt wird unterschieden. Bei Kälte schrickt er zusammen, ebenso bei Hitze, 
ist gegen beides überempfindlich. Kniehackenversuch äusserst unsicher, dabei 
keine Spasmen bei passiven Bewegungen. Sobald er aber Kniehacken¬ 
versuch machen will, spannt er alle Muskeln des Beines krampfhaft an und lässt 
den Hacken über den ganzen Untersohenkel hinaufschleifen. Beim Stehen wackelt 
er fortwährend mit den Knien, macht den Eindruck völliger Kraftlosigkeit. Dermo- 
graphie keineswegs stärker als bei vielen gesunden Menschen. 

8. 7. 1909. Wenig Veränderung. Schlaffe Haltung des Körpers. Geht 
unter Benutzung sämtlicher Stützmöglichkeiten in gebeugter Haltung 
langsam im Zimmer herum. Sucht Fliegen zu fangen, reisst ihnen die Flügel aus 
und freut sich kindisch darüber. Spricht spontan wenig mit den Mitkranken. Den 
Vorgesetzten gegenüber zeigt er kein militärisches Verhalten, fasst sie an und 
streichelt ihnen das Gesicht. Sprache unverändert stockend. 

13. 7. 1909. Patient ist etwas lebhafter geworden, hat etwas mehr Interesse 
für seine Mitpatienten, gibt auch an, was ihnen fehlt, kennt ihre Namen, alles 
jedoch wird sehr langsam unter ständigem Stocken und Stottern gesprochen. Er 
ermüdet leicht. Das Erinnerungsvermögen ist immer noch sehr gehemmt, die 
Merkfähigkeit wesentlich herabgesetzt. Ist noch sehr schreckhaft. Sowie zwei Mit¬ 
kranke sich necken, glaubt er, sie wollten sich hauen. Sucht dann mit 
ängstlichem Gesicht Frieden zu stiften. Macht man eine Bewegung nach 
seinem Kopfe, so wird er sehr ängstlich und spricht: „Nicht schlagen!“ 

22. 7. 1909. Karten und Briefe seiner Angehörigen kann er lesen und ver¬ 
stehen, freut sich darüber kindisch, sitzt lange Zeit und sieht fortwährend 
die Karten an. Appetit und körperliches Befinden nicht gestört, jedoch noch immer 
sehr schlaffe Haltung des Körpers. Ist zu keiner ablenkenden Arbeit zu 
bewegen. 

1. 8. 1909. Intelligenzprüfung: Als er im Zimmer des wachhabenden Arztes 


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311 


diesen Kaffee trinken sieht, sagt er: „Es schmeckt“. Sieht sich grimassierend und 
blöde lächelnd im Zimmer um, fasst den auf dem Tisch stehenden Helm an und 
besieht namentlich die blanken Stellen wie ein Kind. 


Was für ein Helm? 

Was für ein Soldat setzt solchen 
Helm auf? 

Wo hier! 

Was für ein Ort? 


Welcher Monat? 

Was heute für ein Wochentag? 
Welche Jahreszeit? 

Welche Jahreszahl? 

Was ist Munster? 

Wie nennt man den grossen 
Platz in Munster? 


Wer herrscht über Deutschland? 
Hauptstadt von Deutschland? 
Dio grössten Flüsse in Deutsch¬ 
land? 


Wer hat 1870/71 gegen einander 
gefochten? 

Wer war Bismarck? 

Wer war Moltke? 

Wer war Napoleon? 

War Napoleon nicht aus Frank¬ 
reich? 


2 X *2? 
5X6? 
7X8? 


„Soldatenhelm“, dann „Schwarzer Helm“. 

„Jeder“! 

„Beim Doktor“. 

„Lazarett“. (Steht auf, fasst den Arzt vertraulich 
auf die Schulter. Nochmals befragt, gibt er 
an unter Stocken): „Hannover“. 

„Juni“. 

„Sonntag“. 

„Sommer“. 

„1909“. 

„Bin ich schon gewesen“. 

„Platz“. (Sucht man ihn auf die Bezeichnung 
zu führen, so grimassiert er, sieht an die 
Decke und wiederholt nur immer) „Platz“, 
steht dann wieder auf, klappt die auf dem 
Tische liegenden Bücher auf und zu, sieht zum 
Fenster hinaus. 

„Kaiser Wilhelm“. 

„Berlin, da wohnt der Kaiser“. 

„Weser“, „Donau“. Weiter aufgeführt, sagt er: 
„Bischen warten“, (auch treten deutlich Er¬ 
müdungserscheinungen auf. Nach 5 Minuten 
weitergefragt): „Fulda“, dann „Nichtsoviel“! 

„Krieg Deutschland gegen Oesterreich“. 

„Hat Schlachten mitgemacht“. 

„Auch mit wie Bismarck“. 

„Von Oesterreich“. 

„Franzose, doch“. (Ist nicht mehr zu fixieren,- 
reagiert nur auf Anruf, geht wieder im Zimmer 
umher, betrachtet den an der Wand hängenden- 
Säbel und sagt: „Schön“, spielt mit den an 
der Wand hängenden Schlüsseln usw.). 

„4“ (ziemlich schnell). 

„30“. 

(Grinst, als draussen Militär vorbeimarschiert 
und ist erst auf wiederholte Aufforderung zu 
einer Antwort zu bewegen, sagt dann): „So 
schwer nicht“. 


Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 2. 


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312 


Dr. Mönkemöller, 


9 + 7? 


8 + 4? 

17 + 12 ? 
19 — 7 ? 

7 — 5? 

8 — 5? 


„15“. Als er darauf aufmerksam gemacht wird, 
dass das nicht riohtig ist, antwortet er nur 
immer: „Doch“. Als er aufgefordert wird 
stillzustehen, antwortet er: „Wird bald wieder 
besser“! 

„12“ (ziemlich schnell). 

Lächelt: „Soviel nicht“. 

„Nicht soviel nehmen, wenig; das geht nicht“. 

„2“ (ziemlich schnell). 


Das Krankenexamen muss wieder abgebrochen werden, da Patient nicht mehr 
zu fixieren ist 

9. 8. 1909. Als er aufgefordert wird, sich zur Untersuchung auf das Bett 
zu legen, zieht er sich langsam aus, sieht etwas ängstlich aus, freut sich über die 
Haare an seinen Unterschenkeln. 

Hautreflexe nicht gesteigert, Patellarsehnenreflex lebhaft. Achillessehnen¬ 
reflex prompt. Kein Babinski. Plantarreflex lebhaft. Bauchdeckenreflex prompt, 
Kremasterreflex wenig lebhaft. Konjunktivalreflex herabgesetzt, desgleichen Rachen- 
Würgreflex. Pupillen reagieren auf Licht und Konvergenz ganz prompt. Knie- 
Hackenversuch unsicher, beschreibt auf Aufforderung zwar mit dem Bein einen 
Kreis in der Luft, es tritt aber dabei lebhaftes Zittern und Schwanken auf. 
Romberg vorhanden. Sensibilität intakt. Schmerzempfindlichkeit herab¬ 
gesetzt, hauptsächlich im Gesicht. Kopfperkussion kann wegen Aengstlich- 
keit des Patienten nicht ausgeführt werden. Zunge wird unter leichtem Zittern 
gerade herausgestreckt. Sämtlichen Aufforderungen wird nachgekommen. Als 
Fi. sich wieder anzieht, hört er plötzlioh auf und sagt: „Erstmal ausruhen“, spielt 
dann mit dem Perkussionshammer. Gefragt, was das für ein Hammer sei, sagt er: 
„Zum Klopfen“. Kümmert sich wenig um die Anwesenheit des Arztes, sucht 
immer nach einem Stützpunkt. Freut sioh über seine Schriftzüge und sagt: „Schön“. 

Aufgefordert, aus drei Worten einen Satz zu bilden, sagt er: „Wie soll ich 
das machen“? Trotz mehrerer Beispiele steht er dieser Aufgabe vollkommen ver¬ 
ständnislos gegenüber“, beschäftigt sich vielmehr mit Bildern usw. 

Ab und zu macht er den Eindruck, als ob er lichtere Momente 
hätte; macht auch, wenn auch selten, witzige Bemerkungen. Nach den 
Aussagen der Mitkameraden soll er ganz richtig Karten „Schafskopf“ und 
„Domino“ spielen, spielt im übrigen wie ein kleines Kind mit Karten,.> Ab und 
zu ist er ziemlich mitteilsam, erzählt dann geordnet unter Stocken undGrim&ssieren. 
Jedes laute Geräusch erweckt bei ihm sofort Aengstlichkeit. Aufgefordert, 
mit zur Wage zu kommen, um zu sehen, wer der Schwerere sei, sagt er unter 
Lächeln, das sehr listig aussieht: „DerDoktor ist schwerer.“ Gewicht 68kg. 

Einen gewissen Massstab für den Grad der Verblödung bildet sein 
vollkommen unmilitärisches Benehmen. So sagt er beispielsweise, als ein höherer 
Vorgesetzter vorbeigeht: „Das ist auch eine schöne Nummer“. 

An seine Ausbildungszeit scheint er sich zwar ganz gut zu 
erinnern, doch spricht er sehr selten von militärischen Verhält¬ 
nissen. 


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In seinem Ueberweisungsattest vom 1.8. 09 erklärte Herr Oberstabsarzt Pro¬ 
fessor Dr. Th öle, dass jetzt schon ein gewisser Grad von Verblödung bestehe, 
auch sei zu befürchten, dass der Verblödungsprozess noch weiter fortschreite. Er 
kam zu dem Ergebnisse, dass eine Dementia praecox vorliege. „Die Ein¬ 
richtungen im hiesigen Garnisonlazarett können eine sachgemässe 
•Durchführung der Pflege eines derartigen Geisteskranken nicht 
gewährleisten. Es ist daher eine baldige Ueberführung Fi.’s in 
eine geschlossene Anstalt geboten, da die hiesige militärisch ge- 
handhabte Aufsicht im Lazarett bei der Aengstliohkeit Fi.’s nur 
ungünstig auf die Krankheit einwirkt.“ 

Am 10. August 1909 wird Fi. in die Heil-und Pflegeanstalt zu Hildesheim 
aufgenommen. Bei der Aufnahme macht er einen äusserst leidenden Eindruck. 
Oertlich und zeitlich vollkommen orientiert. 

Appetit mässig, Schlaf unregelmässig. Steht bald auf, geht in den Garten, 
schreibt an seine Braut einen geordneten Brief. Seiner Familie teilt er mit, es ge¬ 
falle ihm hier nicht so gut wie in Hannover. Mit seinem Kopfe wolle es nicht so, 
ihm sei noch immer so dumm zu Mute. Hoffentlich werde es bald besser. 

22. 8. 99. Kommt zu der Untersuchung in langsamem, schleppendem Gange, 
sitzt in zusammengesunkener und schlotteriger Haltung auf dem Stuhle, behält da¬ 
bei die Mütze auf dem Kopfe. Sieht am Arzte vorbei, starrt gegen die Decke und 
ins Leere. Starkes Grimassieren, besonders um die Mundmuskulatur herum. Pflüokt 
an seinen Fingerbeeren. Starrer, etwas leerer Gesichtsausdruck. Als ihm die 
.Mütze vom Kopfe genommen wird, schrickt er zusammen und macht abwehrende 
Bewegungen. Ebenso sträubt er sich heftig gegen einen Versuch, den Schädel 
zu berühren. Auf die Frage, ob das wehe tue, sagt er mit stotternder Stimme: 
„Nur da oben“. 

Beim Beklopfen des Schädels mit dem Perkussionshammer steht er auf und 
sagt stammelnd: „Nicht auf den Kopf“. Dabei haben sich die Pupillen stark 
erweitert, die rechte mehr wie die linke, die auch in der Ruhe enger ist 
wie die rechte. R/L prompt. R/C vorhanden. Beim Blicke nach oben bleibt das 
linke Auge ein weuig zurück. Beim Blicke nach aussen werden die Endstellungen 
nicht ganz erreicht. Das Gesichtsfeld ist nicht zu prüfen, da Fi. hier wie bei der 
ganzen körperlichen Untersuchung den Aufforderungen ein ausgesprochenes 
Widerstreben entgegensetzte. Die rechte Nasenlippenfalte ist flacher 
wie die linke. Druck auf die Quintuspunkte ist schmerzhaft. Die Zunge 
ist belegt, zeigt Zahneindrücke, aber keine Bisse oder Narben, zittert stark. 
Der Rachen ist gerötet, der Würgreflex nicht auszulösen, die Mandeln 
sind stark vergrössert. 

Beim Ausziehen hält Fi. den Kopf ganz steif und sucht das Hemd beim 
Herüberziehen möglichst weit vom Kopfe entfernt zu halten. Sehr starkes 
vasomotorisches Nachröten, mechanische Muskelerregbarkeit ge¬ 
steigert, Puls hart, unregelmässig, 100 in der Minute, nach zwei¬ 
maligem Bücken steigt er auf 120. Fi. ist nicht zu bewegen, einen Stuhl 
zu heben, da ihm der Kopf zu wehe täte. Zeigefingernasenspitzenversuch gelingt. 
Beim Zuknöpfen des Anzuges ist Patient ganz geschickt, Händedruck gleichmässig 
.kräftig; die ausgestreckten Finger zittern lebhaft. Keine Ulnarisanalgesie. 

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314 Dr. Mönkemöller, 

Biceps-, Triceps-, Periostreflex gesteigert, Bauchdecken- und Kremaster- 
rellex lebhaft. 

Auf dem Hinterhaupte wird in Handtellerbreite spitz als stumpf be¬ 
zeichnet, auf beiden Schultern analgetische Partien. Starke Spinal¬ 
irritation. 

Unter der rechten Mamilla Druckpunkt. Keine Orarie. Gute Muskel¬ 
spannung, Haut elastisch. Beide Hände fühlen sich eiskalt an, sind feucht. 

Patellarreflexe gesteigert, beiderseits gleich. Patellarklonus nicht zu 
erzielen, dagegen besteht ein ausgesprochener Fussklonus. Der Babinski- 
sche Reflex besteht nioht. Die Füsse sind eiskalt, froschartig. Be¬ 
wegungen der unteren Extremitäten spastisch, bei passiven Bewegungen 
geraten diese lebhaft ins Zittern. Beim Aufstehen vom Stuhle hebt sich Patient 
langsam und hilft mit den Armen nach. Bei geschlossenen Augen und Füssen 
tritt lebhaftes Lidflattern und Schwanken ein. Patient droht umzufallen. 
Geht langsam mit kleinen Schritten sich stützend und an allem festbaltend, was 
in der Nähe ist. Sprache stotternd, besonders am Ende der Unterredung. 

Das ganze Wesen macht einen sehr theatralischen und affektierten Eindruck. 

Erkennt angeblich den Arzt nicht als solchen, will das Datum nicht 
wissen, der Wärter habe ihn hierher gebracht, weiter könne er nichts 
angeben. Fragen aus seinem Vorleben beantwortet er leidlich zutreffend, wenn 
auch nur oft mit einzelnen Worten und Bruchstücken von Sätzen, wobei er sofort 
die Stimme sinken lässt. 

Sei seit dem Herbst 1908 beim Militär gewesen; es habe ihm dort sehr gut 
gefallen, er sei nie bestraft worden, mit den „alten Leuten“ habe er immer sehr 
gut gestanden. Er wisse auch, wie er nach Munster gekommen sei, nicht aber, wie 
es dort gewesen sei. Am Pfingstsonntag sei er nicht in Munster gewesen; wo er 
sich aufgehalten habe, könne er nicht angeben. Auf die Frage, ob er geschlagen 
worden sei, sagt er stotternd und sich vorbeugend: „Ich bin nicht geschlagen 
worden, wer soll mich denn geschlagen haben?“ Im Barackenlazarett in Munster 
sei er nie gewesen. Wie er in das Lazarett nach Hannover gekommen sei, wisse 
er nicht. Seine Erinnerungen für Hannover fangen angeblich erst mit der Zeit an, 
als er schon herumging. Die Erinnerung für die Zeit vor dem Militärdienste ist 
tadellos erhalten. 

Klagt, dass es ihm im Kopfe fehle, er habe immer solche Kopfsohmerzen und 
fühle sich so schlaff, er wisse nicht, woher das komme. Im Laufe des Gosprächs 
wird er zusehends müder, die zuckenden Bewegungen um den Mund werden stärker» 
er sinkt immer mehr in sich zusammen, sieht suchend im Zimmer herum und hat 
mehrere Male sehr bald vergessen, was er gefragt worden ist. Schreibt mit regel¬ 
mässiger kräftiger Schrift seiner Braut, es gehe ihm ganz gut, aber nicht so wie 
es sein müse. Er habe im Kopfe noch immer Schmerzen. Länger könne er nicht 
schreiben, da ihm die Augen weh täten. 

15. 9. 09. Schreibt auch sonst ganz geordnete Briefe, in denen er sich voll¬ 
kommen orientiert zeigt und eine grosse Anhänglichkeit an seine Familie erkennen 
lässt. Bei der Visite sitzt oder steht er meist in müder Haltung mit 
schmerzlich verzogenem Gesichte herum. Kommt man unerwartet, so wird er 
öfters spazierengehend angetroffen. Antwortet immer müde, stotternd» 


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wortkarg. Zieht man ihn im Laufe der Unterhaltung plötzlich ruokweise einen 
Schritt weiter, so steigt der Puls auf 120—140 nnd wird sofort unregelmässig. 

Klagt immer über Kopfschmerzen, ist zu keiner Beschäftigung zu bewegen, 
da das bei seinen Kopfschmerzen unmöglich sei. 

23. 9. 09. Kriegsgericht, in dem die Täter zu je zwei Jahren Gefängnis ver¬ 
urteilt werden. 

28. 9. 09. Wird etwas freier. Die Nachricht von dem Ergebnisse der Haupt¬ 
verhandlung berührt ihn sehr wenig, wie er auch vorher, als Referent ihm mit¬ 
teilte, dass er dahin reisen werde, nie das Gespräch fortleitete. Schreibt sich die 
Namen der „alten Leute“ auf, die ihn misshandelt haben, um sie zu behalten. 

12. 10. 09. Spricht nie von selbst, sondern immer nur auf Anreden, wobei 
sich sein Gesicht krampfhaft verzieht. Kümmert sich nicht um seine Umgebung, 
ist zu keiner Arbeit zu bewegen, da er die heftigsten Kopfschmerzen habe. Lebt 
stumpf und interesselos in den Tag hinein. Sitzt mit wehleidigem Gesichte herum, 
indem er stets den Kopf nach Möglichkeit zu stützen sucht. Beim Gehen zieht er 
die Beine langsam und schleppend nach. Bei der körperlichen Untersuchung ver¬ 
zieht er das Gesicht schmerzhaft und kommt allen Anforderungen zögernd und 
widerwillig nach, indem er beständig heftig stöhnt und seufzt. Spricht immer 
mit kaum wahrnehmbarer Stimme, braucht für seine Antworten sehr lange Zeit. 
Nach jeder körperlichen und psychischen Untersuchung bietet er das Bild schwerster 
Erschöpfung. 

28. 10. 09. Oberkriegsgericht, in dem die Strafen auf 4 Monate bis 1 Jahr 
3 Monate herabgesetzt werden. 

19. 11. 09. Schädelperkussion schmerzhaft (rechts mehr wie links), doch 
nioht mehr in dem Masse wie früher, wenn Patient auch noch immer lebhafte Ab¬ 
wehrbewegungen macht. Auf dem Schädel besteht jetzt allgemeine Hyper¬ 
ästhesie. Gesichtsfeld bei Fingerprüfung nach oben stark eingeengt, 
Würgreflex sehr lebhaft, dabei fängt die ganze Gesichtsmuskulatur an zu flattern. 
Der linke Mundwinkel geht bei Innervation höher wie der rechte, der linke Nasen¬ 
flügel steht höher. Bewegungen freier, wenn sie auch immer etwas langsam aus¬ 
geführt werden. Mechanische Muskelerregbarkeit nicht mehr gesteigert. 
Ausserordentlich stark ausgeprägte Dermographie. Reflexe sehr lebhaft. 
Geringe Spinalirritation. Puls am Beginne der Untersuchung 80, am Endo 124. 
Fussklonus nicht mehr vorhanden. Bei Augenfussschluss Lidflattern 
und leichtes Schwanken, Patient kann mühelos auf einem Beine stehen. 
Weigert sich, mehr als zwei Kniebeugen zu machen, da er zu schwach sei. Wenn 
er schnell durch das Zimmer geführt wird, leistet er heftigen Widerstand. 

4. 12. 09. Zeigt nicht mehr das scheue und ängstliche Wesen wie früher, 
geht mehr aus sich heraus, verrät Interesse für seine Umgebung, unterhält sich 
mit anderen Kranken, raucht, liest die Zeitung. Beschäftigt sich mit Strohmatten- 
und Körbeflechten. Stimmung etwas besser. Folgt leichter in der Unterhaltung. 
In seinen Aeusserungen vollkommen orientiert, sachlich und verständig. Nach 
einiger Zeit stellt sich beim Sprechen wieder das Stottern ein, das Gesicht 
beginnt leise zu zuoken, während es sonst noch immer starr und unbewegt ist. 
Antwortet noch immer leise und langsam, stockt manchmal. Die Bewegungen sind 
schlaff und müde, sein ganzes Wesen trägt den Stempel der Energielosigkeit. Keine 


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Dr. Mönkemöller, 


Spontanäusserung. Aussert weder Wünsche noch Klagen. Hat noch nie von seiner 
Entlassung gesprochen, ebensowenig über sein Verhältnis zum Militär, über ein 
eventuelles Weiterdienen, oder eine Invalidisierung. Das Schicksal der Kameraden, 
die ihn misshandelt haben, scheint ihm vollkommen gleichgültigzu sein. Hat sich 
über seine Zukunft noch keine Gedanken gemacht. 

15. 1. 10. Arbeitet fleissig beim Körbeflecbten mit, hält sich äusserlich sehr 
ordentlich. Führt mit seinen Angehörigen eine regelmässige Korrespondenz. Hat 
noch nie darum gebeten, entlassen zu werden, spricht nie von seinem Unfälle, 
bringt auch keine körperlichen Klagen vor. Wenn er gefragt wird, was er über 
das Urteil denke, sagt er, das könne er nicht beurteilen, er müsse die Entscheidung 
dem Richter überlassen. Als er in eine andere Anstalt kommen soll and gefragt 
wird, ob er zu seinem Vater wolle, antwortet er in derselben Weise, das müsse 
der Arzt bestimmen, er könne nicht beurteilen, ob er schon zu Hause sein könne, 
auch wisse er nicht, ob das seinem Vater recht sei. 

Spricht dabei immer sehr langsam und leise, sieht meist am Arzte vorbei. 
Der Gesichtsausdruck bleibt starr und unbewegt. Auffassung und Verständnis 
seiner Lage sind durchaus in Ordnung. Uebcr seine Zukunft will er sich noch 
immer gar keine Gedanken gemacht haben. Ob er in der Anstalt bleiben solle 
oder nicht, hänge davon ab, ob er wieder gesund werde oder nicht. (Ob er heiraten 
wolle?) „Wie kommen der Herr Oberarzt dazu, vom Heiraten zu sprechen, da ist 
ja kein Gedanke danach.“ (Die Gesichtsmuskeln fangen au zu zucken, Patient 
steht dicht vor dem Weinen.) Seine Profession könne er nicht wieder machen, die 
sei zu gefährlich für ihn, er werde nie wieder gesund werden wie früher. Sonst 
sei er einigermassen zufrieden, nur mit seinem Kopfe gehe es noch nicht so. Gr 
habe noch Stiche, die über die Schläfen ausstrahlten, wenn er scharf gehe oder 
sich ein bischen anstrenge. So gut wie früher könne er sich nicht bücken, dann 
kriege er Kopfschmerzen. Ueber Schwindel könne er nicht mehr klagen. Er werde 
jetzt viel früher müde. Schon am Nachmittage merke er durch den ganzen Körper, 
dass er schlapp sei. Er könne nicht mehr so denken wie vor der Misshandlung. 
Wenn er über etwas nachsinne, kriege er Kopfschmerzen. Die Gedanken kämen 
nicht mehr so rasch wie sonst. Das Gedächtnis habe bedeutend nachgelassen. Ob 
es für die früheren oder späteren Ereignisse schlechter sei, könne er nicht sagen. 
Aergern tue er sich nicht. Manchmal falle ihm alles so schwer, dann sei ihm so 
dumm zu Mute. Manchmal habe er ein Zittern in den Gliedern, dann sei ihm so 
ängstlich um das Herz. Der Schlaf sei gut, zu träumen brauche er überhaupt 
nicht. Mit dem Appetit gehe es so einigermassen. 

Gesichtsfarbe blass -geblich. Beklopfen des rechten Scheitelbeinhöckers 
schmerzhaft, dabei erweitern sich die Pupillen. Linke Pupille dauernd 
weiter als die rechte. Beschleunigter Wimperschlag. Die ausgestreckte Zunge 
zittert nioht mehr. Will vor der Verletzung besser gehört haben wie 
jetzt. Flüstersprache wird angeblich erst auf 3 m verstanden. Linker Mund- 
facialis schlechter innerviert wie der rechte (in Ruhe und Tätigkeit). Geschmack 
und Geruch erhalten. Gesichtsfeld bei Fingerprüfung nicht mehr eingeengt. 

Bei der Prüfung der Sensibilität auf dem Schädel wird Fi. äusserst ab¬ 
weisend: „Das brauche er sich nicht gefallen zu lassen, da er es nicht vertragen 
könne.“ Bei der Berührung des rechten Scheitelbeinhöckers wird die Nadel- 


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Zar Kasuistik des § 224 Str.-G.-B. 


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spitze überall als stumpf bezeichnet, auf dem übrigen Schädel zuweilen. 
Weigert sich bei der Prüfung der Dermographie mit verbissener Wut und 
starkem Affekte, den Körper mit der Nadel berühren zu lassen: „er brauche 
nicht zu dulden, dass sein Körper verhunzt werde.“ Beim Bestreichen mit dem 
Hammerstiele bilden sich sehr breite, erhabene Quaddeln, die sich schnell über 
Doppelhandbreite ausdehnen. Beim Beklopfen der Muskulatur starkeWulst- 
bildung, Puls 120, unregelmässig. Die gespreizten Finger zittern lebhaft. Hände 
und Füsse sind feucht und frosohartig. 

Spinalirritation nicht mehr nachzuweisen. Kniephänomene 
gesteigert, links Patellarklonus, bei der Prüfung geraten die unteren Extre¬ 
mitäten in lebhaftes Zittern. Starker Fussklonus. Bei Augenfuss- 
schluss deutliches Schwanken und Lidflattern. Patient vermag heute 
nur mit Mühe auf einem Beine zu stehen. Nach dem Ankleiden und mehr¬ 
maligem Hin- und Hergehen ist der Puls auf 140 gestiegen. Gespannter und 
verdrossener Gesichtsausdruck. 

1. 3. 10. Dauernd fleissig mit Korbilechten beschäftigt. Arbeitet langsam, 
aber sehr zuverlässig. Liest die Zeitung, spielt Karten, unterhält sich regelmässig 
mit seiner Umgebung. Willig, anspruchslos, verträglich. Als seine Ueberführung 
nach Hause geplant wird, weiss er nicht, wie er sich dazu stellen soll, ist ausser¬ 
ordentlich energielos und unschlüssig, überlässt dem Arzte die Entscheidung, ob 
er zu seiner Familie oder in eine braunschweigische Anstalt soll. Bei der Ent¬ 
lassung macht er Schwierigkeiten (hatte einige Tage vorher mit seinem Vater eine 
Unterredung gehabt, in der er zweifellos aufgehetzt worden war). Weigert sich, 
das Effektenverzeichnis zu unterschreiben, verlangt im letzten Augenblicke anderes 
Unterzeug, trinkt seinen Kaffee ostentativ langsam, sodass er schliesslich unter 
energischem Zureden auf den Transport gesetzt werden muss. Als sein Vater, dem 
die Pension nicht hoch genug ist (Patient war mit Verstümmelungszulage inva¬ 
lidisiert worden), sich weigert, ihn bei sich aufzunebmen, und dem Kranken vom 
herbeigerufenen Ortsvorsteher die Entscheidung überlassen wird, wohin er wolle, 
erklärt er, „das könne er nicht sagen, das müssten andere bestimmen, was mit 
ihm gemacht werden solle“. 

Zu der Kasuistik des § 244 St. G. B., die, soweit er den 
Verfall in Geisteskrankheit ins Auge fasst, nicht sehr ausgiebig ist, 
liefert der Fall in mancher Beziehung ein fraglos interessantes Material. 
Ziemlich einzig in seiner Art steht er dadurch da, dass sich hier das 
Einsetzen einer wohl charakterisierten Psychose in unmittelbarstem 
Anschlüsse an eine Verletzung, die auf den ersten Blick nicht allzu 
schwer erscheint, wie mit einem Blitzschläge vollzieht, ohne dass ein 
totaler Bewusstseinsverlust oder sonstige schwere akute Ausfalls¬ 
erscheinungen den Uebergang zu der späteren Krankheit vermittelt 
hätten. Gerade diese unvermittelte Umwandlung von vollkommener 
Leistungsfähigkeit zu ausgesprochenster Geisteskrankheit ist es ge¬ 
wesen, die einen Zweifel an dem ursächlichen Zusammenhänge zwischen 


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Dr. Mönkemöller, 


der Verletzung und den später auftretenden Krankheitssymptomen zu 
keiner Zeit aufkommen liess: bei der Berufungsverhandlung wollte die 
Verteidigung sogar auf alle psychiatrischen Sachverständigen ver¬ 
zichten, weil sie den Zusammenhang als erwiesen unterstellte. Dem 
widersprach auch nicht die anscheinend geringe Gefährlichkeit des 
verletzenden Agens — aller Wahrscheinlichkeit nach kommen nach 
dem Ergebnisse der Beweisaufnahme nur Ohrfeigen und Faustschläge 
in Betracht, und die Klopfpeitsche ist bei ihm nicht in Tätigkeit ge¬ 
treten. Als Parallelfall diente sein Leidensgefährte, ein sehr robuster 
Mensch und eine in psychischer Beziehung sehr resistente Natur, 
der infolge ähnlicher Verletzungen in Ohnmacht gefallen war. Dass 
es sich bei Fi. nicht lediglich um eine psychische Einwirkung ge¬ 
handelt hat, beweist am besten der körperliche Befund nach der Auf¬ 
nahme in das Barackenlazarett: das Seitwärtsschielen, die Verengerung 
und träge Reaktion der Pupillen, die Verlangsamung des Pulses, der 
den Charakter des Druckpulses hatte, das heftige Schwindelgefühl, 
das Auftreten des Babinskisehen Reflexes lassen erkennen, dass eine 
ausserordentlich starke Reizung des Gehirns stattgefunden haben muss. 
Es lässt sich sogar nicht von der Hand weisen, dass eine materielle 
Veränderung des Gehirns, Blutaustritte in seine Masse, gesetzt worden 
war. Das Gewicht der Begleiterscheinungen, unter denen sich immer 
solche Verletzungen vollziehen, braucht dabei nicht unterschätzt zu 
werden: das Unvermutete des Ueberfalls, das Dunkel, in dem sich die 
ganze Szene abspielte, der Schrecken und die Angst vor dem 
Kommenden. 

Dass bei dem Verletzten diese eklatante Wirkung wohl nie ein¬ 
getreten wäre, wenn nicht die Grundlage einer Disposition vorhanden 
gewesen wäre, hat dieser Fall mit den meisten hierher gehörenden 
Folgezuständen von Verletzungen des § 224 gemein, bei denen nicht 
schwere Insulte des Gehirns und Schädels ausgesprochene Verblödungs¬ 
zustände im Gefolge haben. Fi. war eine etwas ängstliche Natur, die 
durch die Tyrannei des aufgeregten Vaters systematisch in einen Zu¬ 
stand geringerer Widerstandsfähigkeit gegen widrige äussere Einflüsse 
hineingedrängt worden war. Sonst aber war die Ausbeute in seinem 
Vorleben für hysterische und epileptische Antezedentien vollkommen 
negativ. Man braucht sich nur immer vor Augen zu halten, dass 
man mit ihm kapitulieren wollte, um die enorme Veränderung richtig 
zu würdigen, die sich bei ihm eingestellt hat. 

Was den Fall weiterhin bemerkenswert macht, ist die längere 


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Zeit vorhanden gewesene Schwierigkeit in der Beurteilung, welcher 
Krankheitsform er zugerechnet werden sollte. Während er in der 
ersten Zeit seiner Beobachtung im Lazarett anstandslos der trauma¬ 
tischen Hysterie zuerkannt wurde, führte man ihn schliesslich bei der 
Uebergabe unter der Diagnose der Dementia praecox. Bei dem 
Charakter, den die Psychose zu dieser Zeit angenommen hatte, musste 
man unstreitig zu dieser Diagnose in mancher Beziehung hingedrängt 
werden. Für sie sprachen das eigentümlich läppische Wesen, die auf¬ 
fälligen Stellungen, die er oft einzunehmen beliebte, die undefinierbare 
stotternde Sprache, das Grimassieren, der Negativismus, der besonders 
bei den körperlichen Untersuchungen deutlich zutage trat, und die an¬ 
scheinend vorhandene Demenz, die in diesen Untersuchungen und ira 
Verkehre mit der Umgebung immer weitere Fortschritte zu machen schien. 

Da die traumatische Entstehung der Krankheit auch zu dieser 
Zeit nicht angezweifelt wurde, könnte es ja vielleicht in praktischer 
Beziehung ganz zwecklos erscheinen, auf die verschiedenartige Klassi¬ 
fikation irgend welchen Wert zu legen. In forensischer Beziehung je¬ 
doch, vor allem was die Stellung der Prognose anbetraf, war eine 
scharfe differential-diagnostische Scheidung unbedingt erforderlich. Lag 
ein Jugendirresein vor, dann konnte der Misshandlung nur eine 
auslösende und beschleunigende Wirkung eingeräumt werden. 

Sah man die Krankheit als eine traumatische Hysterie an, 
dann konnte dieser jähe Umschwung ohne Bedenken in seinem ganzen 
Umfange auf diese Gewalteinwirkung zurückgeführt werden, der dann 
die Verantwortung einzig und allein aufgebürdet werden musste. 

Man mag über den ursächlichen Einfluss von Schädelverletzungen 
auf den noch nicht genügend geklärten Krankheitsprozess des Gehirns 
bei dieser Krankheit denken wie man will, — dass durch eine 
Schädelverletzung im Handumdrehen ein solcher Entartungsprozess 
ins Leben gerufen und sofort auf den Höhepunkt der psychischen 
Krankheitssymptome erhoben werden sollte, widerspricht denn doch 
allen klinischen Erfahrungen. 

Nun versagt die Vorgeschichte nicht ganz und gar für das Be¬ 
stehen einzelner Erscheinungen, die auf einen sich schleichend ent¬ 
wickelnden Krankheitsprozess hindeuten könnten, der dann infolge des 
Traumas auf eine jähe Höhe emporgeschnellt wäre. Hierher gehört 
die eigentümlich gelbe Gesichtsfarbe, die sefner ganzen Umgebung 
auffiel und die sich ja mit dem noch nicht bewiesenen und ebenso 
wenig genügend gedeuteten Vergiftungsprozess in Einklang bringen 


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Dr. Mönkemöller, 


Hesse, durch den man dem Wesen der Dementia praecox gerecht zu 
werden sucht. Hierher könnte auch das stutzige Wesen des Ver¬ 
letzten gehören, der nervös, leicht aufgeregt, schwer schlüssig, gern 
für sich allein war und zusammenschreckte, wenn er gestört wurde. 
Alles das könnte die ersten Vorboten der sich schleichend ent¬ 
wickelnden Krankheit darstellen. Aber diese Symptome können 
gerade so gut schon längst bestanden haben, nur dass diese seine 
Eigenart erst im Getriebe des Militärlebens auffällig wurde, während 
sie im Privatleben seiner Umgebung entgangen war oder überhaupt 
keine Gelegenheit hatte, sich zu präsentieren. Sie könnte recht gut 
das Resultat der überstrengen väterhchen Erziehung darstellen, die 
ihn systematisch eingeschüchtert hatte. Es fehlt jedenfalls jeder 
Anhaltspunkt dafür, dass sich eine Veränderung im Wesen des Ver¬ 
letzten vollzogen hätte, die doch wenigstens retrospektiv der Um¬ 
gebung in den Anfangsstadien der Krankheit immer zum Bewusstsein 
kommt. Dass man mit einem Manne, der schon im Banne des 
geistigen Entartungsprozessus stand, an eine Kapitulation gedacht 
hätte, erscheint trotz der Schwierigkeiten, einen guten Unteroffizier¬ 
ersatz zu bekommen, höchst unwahrscheinlich. 

Das Symptom, das schliesslich den Ausschlag nach der Seite 
der Dementia praecox gab, die zunehmende Verblödung hat sich in 
der Folgezeit als trügerisch erwiesen. Dass das zunehmende geistige 
Versagen, das sich durch das alberne Wesen, die läppischen Handlungen, 
das respektslose Verhalten den Vorgesetzten gegenüber, die mangel¬ 
haften Leistungen in der Intelligenzprüfung kundgab, sich nur als 
den Ausfluss einer temporären Pseudodemenz entpuppte, bestätigt 
wieder einmal die ausserordentliche Schwierigkeit, in einem Zeiträume 
über die psychische Leistungsfähigkeit eines Kranken ins Reine zu 
kommen, in dem noch eine Hemmung auf dem ganzen Wesen lastet 
und eine erschöpfende Feststellung der psychischen Bilanz unmöglich 
macht. Hatten schon in diesem Stadium das gelegentliche listige 
Lachen, die kleinen Witze und die plötzliche Veränderung des Gesichts¬ 
ausdrucks ahnen lassen, dass unter dieser Decke noch mehr schlummerte, 
als zu ahnen war, so liess der spätere Verlauf, in dem das läppische 
Wesen, die kindischen Handlungen, die Sprachstörung, das Grimassieren 
fast ganz vom Schauplatz abtraten, deutlich erkennen, dass das Urteils¬ 
vermögen erhalten war, dass der Fonds an Kenntnissen der ganzen 
Lebensstellung und Erziehung des Verletzten entsprach, dass das 
Gedächtnis genügte, dass die Auffassung, wenn auch noch verlang- 


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Zur Kasuistik des § 224 Str.-G.-B. 


321 


samt, so doch genügend erhalten war. Ethik und Gefühlsleben 
liessen keine Einbusse erkennen. Was das Krankheitsbild beherrschte, 
war eine ganz enorme Willensschwäche und Energielosigkeit, 
die allen denen, die Fi. im Vorleben gekannt hatten, als das Charak¬ 
teristische der Veränderung erschien, die ihn betroffen hatte. Im 
Verein mit der gesteigerten Ermüdbarkeit, die noch immer 
nach längeren Unterredungen die Leistungen des Verletzten herab¬ 
minderte, liessen sie das Bild einer rein traumatischen Psychose 
immer deutlicher hervortreten. Das Auftreten der Erscheinungen, die 
das Vorhandensein einer Dementia praecox vortäuschten, war ein 
Zustandsbild, das durch das Alter des Verletzten seine Deutung 
fand. In diesem Lebensabschnitte nehmen eben gelegentlich alle 
Psychosen das Gepräge der Krankheitsform an, die für diese Zeit 
typisch ist. 

Mit einer traumatischen Hysterie liess sich auch die ganze Art 
und Weise der Entstehung zwanglos in Uebereinstimmung bringen. 
Ihr entsprach der Verlauf des Leidens, der nach einem ängstlichen 
Delirium in einen Verwirrtheitszustand überging, um dann längere 
Zeit in einem Zustande schwerster Hemmung zu verharren. Im 
weiteren Verlaufe beherrscht die schärfste Betonung der subjektiven 
Erscheinungen, die geringere Leistung trotz offenbar erhaltener Fähig¬ 
keit, mehr zustande zu bringen, das Feld. So lässt sich auch ein 
Symptom zwangslos deuten, das zur Stützung der Diagnose der 
Dementia praecox ins Feld geführt worden war: die eigentümlich ge¬ 
zwungenen Stellungen, die aber immer nur dazu dienten, den Kopf 
ruhig zu stellen und die Kopfschmerzen zu mindern. 

Für den hysterisch-traumatischen Charakter des Leidens sprach 
weiter der körperliche Befund. Dass auch im Gefolge der 
Dementia praecox eine Reihe von körperlichen Symptomen sich ein¬ 
zustellen pflegt, muss gebührend berücksichtigt werden. Das Auf¬ 
treten so zahlreicher und vielseitiger Symptome aber, wie sie im Ge¬ 
folge dieser Krankheit auftraten, entspricht denn doch viel zwangsloser 
dem Wesen einer hysterischen Psychose. Charakteristisch dafür ist 
auch der eigenartige Wechsel in der Zahl und der Gruppierung 
der Symptome, wie man ihn wohl nur bei der Hysterie findet und 
der nicht nur allein in dem Wechsel der Beobachter seine Erklärung 
findet. 

Der weitere Verlauf klärte bald die differential-diagnostischen 
Schwierigkeiten. Aber man musste mit ihnen schon in einem recht 


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Dr. Mönkemöller, 


frühen Stadium fertig werden, da die Hauptverhandlung schon in 
einer Zeit stattfinden musste, in der die Entscheidung noch recht 
schwankend war. Zur Stellung der Prognose, die in dem Tat¬ 
bestände des § 224 eine grosse Rolle spielt, war die Frage, ob 
Dementia praecox, ob traumatische Hysterie, recht bedeutungsvoll. 
Die Dementia praecox bietet, mag man bei ihr auch noch so sehr 
dem Optimismus huldigen, eine ungleich trübere Aussicht wie die 
traumatische Psychose. Schwierig blieb die Stellung der Prognose 
auch dann noch, wenn man dabei blieb, dass lediglich ein trauma¬ 
tisches Irresein vorlag. Es darf dabei nicht vergessen werden, dass 
die Strafe, die in Betracht kommen konnte, bis zu 5 Jahren Zucht¬ 
haus steigen kann. Nun wird ja in konstanter Rechtsprechung von 
der Geisteskrankheit des § 224 nicht mehr Unheilbarkeit ge¬ 
fordert. Sie zu erfüllen, genügt ein langdauernder Krankheitszustand, 
dessen Beseitigung sich entweder überhaupt oder doch der Zeit 
nach nicht bestimmen lässt. Nun waren die akuten, das äussere 
Wesen einer Geisteskrankheit erfüllenden Symptome sehr bald vom 
Schauplatze abgetreten. Bei dem hysterischen Charakter der Krank¬ 
heit mit seiner ganzen Unberechenbarkeit musste man immer auf 
Ueberraschungen nach beiden Seiten hin gefasst sein. Auch zur Zeit 
der ersten Begutachtung war gegen die schwersten Stadien der 
Krankheit immerhin eine unverkennbare Besserung eingetreten, die bei 
der zweiten Begutachtung so deutlich zum Ausdruck kam, dass sie 
auf die Höhe der Strafe nicht ohne Einfluss blieb. Aber gerade die 
Unberechenbarkeit der Krankheit verbot es, auf diese Besserung 
zu hohe Hoffnungen zu setzen. Auch im besten Falle blieb die 
Prognose noch trüb genug, um über die Dauer der für die Heilung 
nötigen Zeit ein auch nur vermutungsweises Urteil unmöglich zu 
machen. Diese Vorsicht war zur Zeit der ersten Verhandlung um so 
mehr geboten, als damals die Hemmung noch so sehr ausgeprägt, 
war, das negative Verhalten ausgesprochen, und die Schlaffheit und 
Energielosigkeit im Verein mit der scharfen Ausprägung der körper¬ 
lichen Symptome auf dem Höhepunkte stand. Bei der zweiten Be¬ 
gutachtung andererseits war die Reizbarkeit zu beachten, die manch¬ 
mal einen ausgesprochen paranoischen Charakter trug. Dazu hatte 
er gelegentlich einer ganz leichten Attacke von Gelenkrheumatismus 
aufs unzweideutigste erwiesen, wie ausserordentlich resistenzlos er 
gegen widrige äussere Einflüsse war, die weitere Entwicklung hat ge¬ 
zeigt, dass, wie es in den beiden Gutachten ausgeführt wurde, auch 


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Zur Kasuistik des § 224 Str.-G.-B. 


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die beste Heilung vorausgesetzt, nur eine kümmerliche Defektheilung 
zustande kam. Der Verletzte ist nicht mehr entfernt das, was er 
vor seiner Erkrankung gewesen ist und wird er aller Voraussicht 
nach auch niemals wieder werden. Seine Energie ist gebrochen, 
seine Leistungsfähigkeit herabgesetzt, seine Selbständigkeit ist dahin. 
Nicht nur ist er ausserstande, seinen früheren Beruf wieder auf¬ 
zunehmen, er hat noch eine Fülle von subjektiven Beschwerden zu 
ertragen, und widrigen äusseren Einflüssen vermag er nur noch eine 
geringe Widerstandskraft entgegenzusetzen. So entspricht er bei der 
äusserlichen Korrektur der ursprünglich vorhandenen Abweichungen 
von der Norm in Laienaugen vielleicht nicht der Geisteskrankheit, 
wie sie der § 224 verlangt. Um so mehr erfüllt er den Begriff des 
Siechtums, dem jene gleichgestellt ist, und der immer am zweck- 
massigsten zum Vergleich herangezogen wird. 

Der Fall ist weiterhin dadurch bemerkenswert, dass er den Ver¬ 
lauf einer traumatischen Psychose skizziert, losgelöst vom Einflüsse 
eines sie begleitenden Rentenstreitverfahrens und ohne das Hinein¬ 
spielen der leidigen Begehrungsvorstellungen. Zwei Momente konnten 
nach dieser Richtung hin ein Versagen des eigenen Mitwirkens an 
der Genesung und die bewusste oder unbewusste ungünstige Be¬ 
einflussung der subjektiven Krankheitsbeschwerden im Gefolge haben: 
die Bestrafung der Kameraden und die Höhe der Invalidenpension, 
die ihm gewährt wurde. Das Schicksal der Urheber seines geistigen 
Siechtums hat ihn ziemlich kalt gelassen. Ebensowenig hat er sich 
Gedanken darüber gemacht, w'ie hoch seine Pension ausfallen würde, 
wie er von je her eine bescheidene und anspruchslose Natur war. 
Nie hatte man das Gefühl, dass sein Gedankeninhalt von diesen 
beiden Momenten durchsetzt wäre und sein Verhalten den subjektiven 
Krankheitsempfindungen gegenüber und ihre Verwertung nach aussen 
hin dadurch beeinflusst würde. 

Wäre er übrigens zur Beobachtung auf den Grad seiner Erwerbs¬ 
fähigkeit in einem schwebenden Rentenverfahren in der Anstalt ge¬ 
wesen, dann würde sein Verhalten manchmal trotzdem höchstwahr¬ 
scheinlich die Frage nach einer etwaigen Aggravation aufgerollt 
haben. Er machte recht häufig den Eindruck des Theatralischen, des 
Gemachten und Affektierten. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt 
durch den manchmal sehr ausgeprägten Widerspruch zwischen seinem 
Verhalten dem Arzte gegenüber und seiner Art sich zu geben, wenn 
er sich unbeobachtet glaubte. In der Zeit, in der er bei den Visiten 


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324 


Dr. Mönkemöller, 

noch das Bild des schwersten Leidens und der tiefsten Teilnahms¬ 
losigkeit bot, rauchte er schon auf der Abteilung, las die Zeitung, 
unterhielt sich und spielte Karten. Traf man ihn in dieser Zeit bei 
der Visite nur sitzend, den Kopf wehleidig auf die Hand gestützt, so 
wandelte er, wenn man ausser der gewöhnlichen Zeit kam, im Garten 
herum. Dahin gehört auch das listige Lachen, gehörten die kleinen 
Scherze, die den Anschein erwecken konnten, als trage er die Demenz 
geflissentlich zur Schau, die ostentative Art und Weise, in der er sich 
die Namen seiner Quäler aufschrieb, obschon die Sache recht oft ver¬ 
handelt worden war und sein Gedächtnis sich sonst schon als aus¬ 
reichend genug erwies, der Widerstand ferner gegen die körperliche 
Untersuchung, die anscheinende Uebertreibung des Schwankens beim 
Rombergschen Versuche. Zum Charakter der traumatischen Hysterie 
gehört eben fast immer das theatralische Wesen. Bei der Beurteilung 
der traumatischen Neurosen muss man mit dieser Neigung zu Ueber- 
treibungen bis zu einem gewissen Grade immer rechnen, wenn man 
dem Verletzten nicht Unrecht tun will. 

Eine andere Schwierigkeit, die bei der Begutachtung ernstlich in 
Frage hätte kommen können, ist in beiden Verhandlungen nur ge¬ 
streift worden: Fi. war zweimal misshandelt worden. Bei den Miss¬ 
handlungen waren die verschiedenen Teilnehmer nicht in gleichem 
Masse beteiligt. Wer die Misshandlungen ausgeführt, wie sie sich im 
einzelnen vollzogen haben, das ist durch die beiden Verhandlungen 
nicht gänzlich aufgeklärt worden. Diese lieferten vielmehr ein sehr 
instruktives Material zum dunklen Kapitel der Psychologie der Zeugen¬ 
aussagen. Die Vorgänge hatten sich in der Zeit von ungefähr einer 
Viertelstunde und zwar zum grössten Teil im Dunkeln abgespielt. Er¬ 
wägt man, welche Beobachtungen die 45 Zeugen, die zu Worte kamen, 
über die kleinsten Details der drei Attacken bekundeten, und das nach 
ungefähr einem halben Jahre und jedenfalls nach einer ungezählten 
Reihe von Unterredungen über das interessante Kapitel, und wie sich 
diese Aussagen zum Teil im Laufe der weiteren Verhandlungen ver¬ 
schoben, dann wird man die unendliche Schwierigkeit zu würdigen 
wissen, aus diesem Wüste ein klares Bild zu rekonstruieren. Man 
wird dann auch nicht wünschen, jeden der Eide nachschwören zu 
müssen, die optima fide die Schilderung aller dieser Einzelheiten be¬ 
kräftigen sollten. 

Die schwerste Strafe drohte natürlich denen, die mit ihren Miss¬ 
handlungen die Geisteskrankheit auf dem Gewissen hatten. Durfte 


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Zar Kasuistik des § 224 Str.-G.-B. 


325 


man nun auch der ersten Misshandlung einen Einfluss auf den Aus¬ 
bruch des Leidens einräumen? Im Verlaufe beider Verhandlungen 
wurde nur mit der zweiten Verletzung gerechnet, da die krankhaften 
Symptome der Umgebung erst nach ihr zum Bewusstsein gekommen 
waren. Als ausschlaggebend wurde in dieser Beziehung angesehen, 
dass ein Kamerad den Fi. in der Zwischenzeit beider Misshandlungen 
noch für vernünftig gehalten hatte, und dass Fi. noch zwei Gewehre 
in die Stützen gestellt und dabei ein loses Brett festgemacht hatte. 
Ob dieser Beweis psychiatrischerseits als schlüssig angesehen werden 
kann, ob diese einfachen Handlungen nicht auch einen rein automa¬ 
tischen Charakter hätten tragen können, muss dahingestellt bleiben. 
Es liess sich bei der Dürftigkeit des Beweismaterials weder für das 
Eine noch das Andere der strikte Beweis führen. Da die zweite 
Misshandlung immerhin schwerer gewesen zu sein scheint wie die 
erste, wird das Urteil, das die Schuld auf die mutmasslichen 
Schuldigen bei der zweiten Misshandlung häufte, wohl das Richtige 
getroffen haben. 


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14. 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


Dugge, C., Sanitätsrat und Kreisarzt in Rostock, Untersuchungen zur 
Magendarmprobe. Rostock, 1910. 

Die Schrift Dugges, die der medizinischen Fakultät zu Rostock als Habi¬ 
litationsschrift vorgelegt worden ist, gibt zunächst eine ausführliche Darstellung 
der Geschichte der Magendarmprobe und enthält in der Hauptsache einen Bericht 
über eigene Versuche zur Klärung der in dieser Frage noch bestehenden Zweifel. 
Die Versuche sind zumeist an ungeborenen Kälbern angestellt, die auf dem 
Schlachthof oder der Abdeckerei getöteten Kühen entnommen worden waren und 
die Dugge nun unter verschiedenen Umständen bat faulen lassen. Daneben sind 
einzelne Versuche an Kindesleichen und anderen Tierfoten angestellt worden. 
Als positive Ergebnisse der Versuche kann man festhalten, dass die Einwanderung 
der Fäulnisbakterien bei Totgeborenen in erster Reihe durch die Nabelgefässe er¬ 
folgte, in zweiter Reihe durch die äussere Haut. Es trifft die Einwanderung der 
Bakterien in dieser Beziehung zusammen mit der von Fliegenlarven, geht ihr je¬ 
doch zumeist voraus. Bei sehr weit vorgeschrittener Fäulnis wurde in einzelnen 
Versuchen Schwimmfähigkeit sowohl der Lunge als auch des gesamten Magcn- 
darmkanals beobachtet, dessen Wand nicht nur, sondern dessen Lumen auch mit 
Gas gefüllt waren. Die Erreger der gasbildenden Fäulnis waren meist Bacterium 
coli, Proteusarten, Sarzine. Bei Versuchen mit Einspritzung von Luft in den 
Magen ergab es sich, dass diese nur bis in den Magen und den obersten Abschnitt 
des Dünndarms eindringt. Eine Luftfüllung des Mastdarms wurde gelegentlich 
gefunden und war wohl auf Manipulationen an der Leiche zurückzuführen. 

Strassmann. 

Der Redaktion sind zugegangen: 

Stier, Oswald, Trunksucht und Trunkenheit in dem Vorentwurf zu einem 
deutschen Strafgesetzbuch. S.-A. aus Archiv für Psyohiatrie. Bd. 47. Heft 1. 
Berlin 1910. 

Albrand, Walter, Zur augenärztlichen Tätigkeit in der Irrenanstalt. S.-A. aus 
Archiv für Augenheilkunde. Bd. 46. Heft 2 u. 3/4. Würzburg 1910. 

Da in mann, Moderne Sensationsprozesse. Leipzig 1910, Neuer Verlag, Deutsche 
Zukunft. 

Notizen. 

Der Ausschuss der Freien Vereinigung der Deutschen medizinischen Fach¬ 
presse (Dr. B. Spatz), bittet uns um den Abdruck der nachstehenden Erklärung: 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


327 


Herr Prof. W. Heubner in Göttingen hat in einem in der Jani-Nummer der 
„Therapeutischen Monatshefte“ veröffentlichten Artikel „Reklame durch Sonder¬ 
abdrucke“ sich gegenüber einer Bemerkung von Prof. Klemperer, dass die 
Redaktion der „Therapeutischen Monatshefte“ in der Frage der Sonderabdrucke 
selbständig vorgegangen sei, ohne sich an das berufene Forum, die Freie Ver¬ 
einigung der deutschen medizinischen Fachpresse, zu wenden, in folgender Weise 
geäussert: „Diese Vereinigung hat bereits im Jahre 1908 diese Frage diskutiert 
und ist zu dem Resultate gekommen: Es dürften weiterhin Separate an industrielle 
Firmen geliefert werden. Somit erschien ein Appell an diese Vereinigung von 
vornherein ziemlich aussichtslos. Auch darf es zweifelhaft sein, wie weit bei 
dieser Entscheidung der Einfluss der pharmazeutisch-chemischen Grossindustrie 
beteiligt war, deren Vertreter ja zu gewissen Beratungen der Vereinigung der 
medizinischen Fachpresse hinzugezogen wird. Ich halte mich für berechtigt, diesen 
Zweifel auszusprecben, da ioh Beweise dafür in der Hand habe, dass von seiten 
der Grossindustrie versucht worden ist, sogar den redaktionellen Teil wichtiger 
Publikationsorgane in ihrem Sinne zu beeinflussen.“ Gegen diese Ausführungen, 
die bei uneingeweihten Lesern den Verdacht erwecken können, dass der von Herrn 
Heubner erwähnte Beschluss der Vereinigung vom Jahre 1908 durch eine un¬ 
zulässige Beeinflussung seitens der pharmazeutisch-chemischen Grossindustrie zu¬ 
stande gekommen sei, legt der Unterzeichnete Ausschuss der Freien Vereinigung 
der deutschen medizinischen Fachpresse im Namen ihrer Mitglieder nachdrücklich 
Verwahrung ein. Wäre Herr Heubner Mitglied unserer Vereinigung, so müsste 
er wissen, dass der Vertreter der pharmazeutisch-chemischen Grossindustrie bei 
Sitzungen der Vereinigung lediglich informatorisch zugegen ist, zu dem Zwecke, 
die medizinische Fachpresse in ihrem Kampfe gegen die Arzneimittel-Soldschreiber 
mit geeignetem Material za versehen. Nur dieser Unterstützung hat die deutsche 
medizinische Fachpresse es zu verdanken, dass sie innerhalb kurzer Zeit den 
Reinigungsprozess so erfolgreich durchführen konnte. 

W enn Herr Heubner ferner auf Versuche der pharmazeutisch-chemischen Gross- 
indnstrie, wichtige Publikationsorgane in ihrem redaktionellen Teil zu beeinflussen 
hinweist, so erwarten wir von ihm das belastende Material zur weiteren Verfolgung. 

Auf Ersuchen teilen wir mit, dass auf die Initiative einiger Nervenärzte, 
unter anderen von Prof. Forel, Dr. Oscar Vogt und L. Frank am 22. Sep¬ 
tember d. J. in Salzburg ein Internationaler Verein für medizinische 
Psychologie und Psychotherapie gegründet wurde. 

Das Komitee wurde wie folgt konstituiert: 

Präsident: Prof. Raymond, Paris; Vizepräsident: Dr. Oskar Vogt, 
Berlin und Prof. Dr. A. Forel, Yvorne; Geschäftsführer: Dr. L. Frank, Zürich; 
Schriftführer: Dr. Seif, Münschen und Dr. v. Hattingberg, München; Bei¬ 
sitzer: Prof. Dr. Semon, München. 

Alle Anfragen, insbesondere bezüglich Aufnahme in den Verein sind zu 
richten an den 2. Schriftführer: Dr. v. Hattingberg, München, Widenmayer- 
strasse 23/11, Telephon-Nr. 2704. 


Vierteljahrsschrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 2. 


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n. Oeffentliches Sanitätswesen. 


6 . 

Gutachten 

der Kgl. Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinal wesen 

vom 27. Juli 1910, 

betreffend 

Korn- und Malzkaffee. 

Referenten: Rubner und Kraus. 


Ew. Exzellenz haben hochgeneigtest der W. D. f. d. M. eine An¬ 
frage Seiner Exzellenz des Herrn Justizministers, betreffend die Ein¬ 
führung des X.’schen kandierten Korn- und Malzkaffees anstelle von 
echtem Bohnenkaffee in den Gefängnissen, zur Beantwortung unter¬ 
breitet. 

Die W. D. f. d. M. beehrt sich ihr Gutachten wie folgt abzu¬ 
geben: 

Nach der beigegebenen Broschüre der Firma X., welche sich im 
Interesse des Vertriebes ihrer Produkte an das Justizministerium ge¬ 
wandt hat, handelt es sich dabei um eines der unzähligen Zusatzmittel 
zu Kaffee, welche die Kosten für den Kaffeeverbrauch einschränken 
sollen. Von einem Ersatz des Kaffees in seinen eigenartigen Wir¬ 
kungen kann dabei gar keine Rede sein. Kaffee lässt sich durch 
Korn oder Malz eben nicht ersetzen, daher erzielt ein solches Prä¬ 
parat zumeist nichts anderes als die Herstellung einer dunklen kaffee¬ 
artigen Flüssigkeit oder eine kleine Vermehrung der nährenden Bestand¬ 
teile, was man ebenso gut durch ein paar Bissen Brot — billiger 
noch — erzielen kann. 

Für Bohnenkaffee können Surrogate nie gleichwertig sein, seine 
erfrischenden Wirkungen fehlen den letzteren durchaus; aus diesem 
Grunde haben auch Preiswertvergleichungen keine Berechtigung. 


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Gutachten der Kgl. Wissenschaft!. Deputation für das Medizinal wesen. 329 

Wir sind der Meinung, dass die Gefängnisverwaltung von ihrem 
bisherigen Standpunkte, den Gefangenen Bohnenkaffee zu reichen, 
abzugehen nicht den geringsten Anlass hat. Die Kost der Gefangenen 
bietet an sich für Genuss- und Erfrischungsmittel nicht viel, der 
Kaffee sollte beibehalten werden, weil er eines dieser wenigen Er¬ 
frischungsmittel ist. 

Dass solche Surrogate billiger sind wie Kaffee, ist richtig, sie 
sind aber als Ware und mit Rücksicht auf die Herstellungskosten 
überreichlich hoch bezahlt. 

(Unterschriften.) 


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7. 


Ueber die Verwendung der Bleiröhren zu 
Hausanschlüssen. 1 ) 

Von 

Dr. Hartwig Klüt, 

Wissenschaftlichem Mitgliede der Königlichen Prllfnngsanstalt fllrWaBserversorgung and 

Abwässerbeseitigung tu Berlin. 

Bei Wasserversorgungsanlagen werden zu Hausanschlüssen häufig 
Bleiröhren verwendet. Diese haben den besonderen Vorzug für die 
Praxis, dass sie sich bequem handhaben, namentlich leicht biegen 
lassen, so dass sic sich überall glatt an die Wände usw. anlegen. 
Bleirohrleitungen bieten dem Installateur die geringsten Hindernisse 
für Formveränderungen, sie widerstehen starken Druckschwankungen 
des Leitungswassers im allgemeinen besser als Eisenrohre. -<Auch 
können bei Bleirohrleitungen ohne besondere Schwierigkeiten an jeder 
Stelle Abzweigungen vorgenommen werden. Reparaturen, Ergän¬ 
zungen, Veränderungen usw. sind bei ßleiröhren leicht vorzunehmen, 
ohne dass hierbei besondere Formstücke oder wesentliche Verände¬ 
rungen an der Leitung erforderlich werden. Ihre Zähigkeit befähigt 
sie ferner auch zum Widerstande gegen die Einwirkungen des 
Frostes 2 ). 

Als Nachteile in technischer Hinsicht sind bei Bleiröhren in erster 
Linie anzusehen ihre geringe Widerstandsfähigkeit gegen mechanische 
Angriffe von aussen, z. B. Benagung durch Ratten, Stoss usw. infolge 
der grossen Weichheit des Bleis. Bleirohre sind bei wagerechter 
Führung an der Wand mit grosser Sorgfalt zu unterstützen, weil 
sonst leicht bauchige und schlangenlinige Senkungen entstehen, welche 
eine vollständige Entleerung der Leitungen unmöglich machen. 

In sanitärer Hinsicht haben bei Wasserversorgungen Bleiröhren 

1) Vortrag, gehalten in der Mitgliederversammlung des Vereins für Wasser¬ 
versorgung und Abwässerbeseitigung E. V. in Berlin am 11. April 1910. 

2) Vgl. u. a. 0. Lueger, Die Wasserversorgung der Städte. 2. Abteilung. 
Leipzig 190S, Der städtische Tiefbau, ßd. 2. S. 15ff. 


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Ueber die Verwendung der Bleiröhren zu Hausanschlüssen. 


331 


eine grosse Bedeutung, da eine Reihe von Wässern die Fähigkeit be¬ 
sitzt, Blei aufzulösen. Infolge seiner akkumulierenden Wirkung übt 
das Blei auch schon in geringen Mengen bei längerer Zufuhr einen 
schädigenden Einfluss auf den menschlichen Organismus aus. 

In der Literatur sind eine Reihe von Bleivergiftungen bekannt 
geworden. Ich erinnere nur an Calau 1 ), Crossen 2 ), Dessau 8 ), 
Emden 4 ), Offenbach a. M. 6 ) und Wilhelmshaven 6 ). Welchen 
Umfang solche Bleivergiftungen annehmen können, hat man so recht 
in Dessau beobachten können. Von 28 000 Einwohnern litten im 
Jahre 1886 nicht weniger als 92 unter heftigen Symptomen der Ver¬ 
giftung. Ausser diesen schweren Fällen sind natürlich auch sehr viele 
leichtere Erkrankungen vorgekommen. 

Der durchschnittliche Gehalt an Blei der an verschiedenen Stellen 
der Stadt Dessau entnommenen Wasserproben 7 ) betrug hier 4,14 mg 
Blei (Pb) im Liter. So grosse Mengen Blei werden freilich nur von 
wenigen in der Natur vorkommenden Wässern, welche für Wasser¬ 
versorgungszwecke 8 ) in Frage kommen, gelöst. 

Es fragt sich nun: wo liegt die Grenze, bei welcher der Bleigehalt 
eines Wassers Gesundheitsschädigungen hervorrufen kann. Da be¬ 
kanntlich die Resistenz des menschlichen Körpers bei verschiedenen 
Personen gegen Gifte grossen Schwankungen unterliegt und auch Ge¬ 
wöhnung bis zu einem gewissen Grade nicht ausgeschlossen ist, so 
lässt sich eine feste Grenze nicht angeben, wie es überhaupt eine 
mathematisch genaue Trennung zwischen schädlichen einerseits und 
völlig unschädlichen Dosen anderseits in der belebten Welt 9 ) bei keinem 

1) B. Proskauer, Zeitschr. f. Hygiene. 1893. Bd. 14. S. 292. 

2) Deutsche med. Wochenschr. 1888. S. 936. 

3) G. Wolffhügel, Arbeiten a. d. Kaiserl. Gesundheitsamte. 1887. Bd. 2. 
S. 160 und 484. — C. Heyer, Ursache und Beseitigung des Bleiangriffs durch 
Leitungswasser. Dessau 1888. S. 10—12. 

4) Liebrich, Zeitschr. f. angew. Chemie. 1898. S. 703 und Tergast, 
Zeitschr. f. Medizinalbeamte. 1899. S. 6. 

5) Pullmann, Deutsche Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundh. 1887. Bd. 19. 
S. 255. 

6) Reichardt, Arch. d. Pharm. 1887. S. 225 u. 858. 

7) Vgl. B. Kühn, Arbeiten a. d. Kaiserl. Gesundheitsamte. 1906. Bd. 23. 
H. 2. S. 389. 

8) Vgl. Hel wes, Ueber Vergiftungen durch bleihaltiges Brunnenwasser. 
Diese Vierteljahrsschrift. 1906. Bd. 31. S. 408—433. 

9) Vgl. Abel u. Rubner, Diese Vierteljahrsschrift. 1908. Bd. 35. 3. Folge. 
H. 2. S. 327. 


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332 


Dr. Hartwig Klut, 


Gifte und bei keinem Desinfektionsmittel gibt. Schon Wolffhügel 1 ) 
vertritt diesen Standpunkt, und in der vor einigen Jahren erschienenen 
umfangreichen Arbeit 2 3 ) des Kaiserlichen Gesundheitsamtes: „Unter¬ 
suchung über die Beschaffenheit des zur Versorgung der 
Haupt- und Residenzstadt Dessau benutzten Wassers, ins¬ 
besondere über dessen Bleilösungsfähigkeit“ von Paul, Ohl- 
mülier, Heise und Auerbach wird darauf hingewiesen, dass es 
nicht möglich sei, eine untere Schädlichkeitsgrenze für den Bleigehalt 
des Trinkwassers festzusetzen. 

In Dessau beträgt im jetzigen Leitungswasser, dessen freie Kohlen¬ 
säure durch Chemikalien künstlich gebunden ist, der Bleigehalt 8 ) noch 
etwa 0,3 mg Pb in einem Liter. Seitdem diese künstliche Bindung 
erfolgt und der Magistrat die Vorschrift erlassen hat, dass länger im 
Rohre stehendes Wasser nicht in Benutzung zu nehmen ist, sind seit 
dem Jahre 1886 keine Vergiftungsfälle mehr bekannt geworden. Ueber 
die Schädlichkeitsgrenze von Blei 4 5 ) selbst sind schon seit Jahren aus¬ 
gedehnte Versuche angestellt worden. Angus Smith 6 ) gibt als 
Schädlichkeitsgrenze für Blei im Trinkwasser 0,36 mg Pb in einem 
Liter an. Auch M. Rubner 8 ) gibt in seinem bekannten Lehrbuch 
der Hygiene als höchst zulässige Bleigrenze die obige Zahl 0,36 an. 
Das Berliner Leitungswasser löst nach vom Verfasser angestellten 
Versuchen selbst in längerer Zeit in Gebrauch befindlichen Bleiröhren, 
wenn das Wasser 24 Stunden in der Leitung gestanden hat, im Mittel 
noch 0,3 mg Blei (Pb) in 1 Liter, ohne dass bislang hierdurch Blei¬ 
vergiftungen bekannt geworden sind 7 ). Man darf daher vielleicht an¬ 
nehmen, dass im allgemeinen Wässer mit einem Gehalt bis zu 0,3 mg 
Pb im Liter bei dauernder Zufuhr noch keine Gesundheitsstörungen 


1) Wasserversorgung und Bleivergiftung. Arbeiten a. d. Kaiserl. Gesundheits¬ 
amte. 1887. Bd. 2. S. 484—542. 

2) Arbeiten a. d. Kaiserl. Gesundheitsamte. 1906. Bd. 23. H. 2. S. 342. 

3) 1. c. S. 375 u. 377. 

4) Vgl. u. a. B. Kühn, 1. o. S. 389—391 und A. Gärtner, Diese Viertel¬ 
jahrsschrift. 1910. Bd. 40. 3. Folge. H. 3. S. 109. 

5) Dinglers polytechn. Journ. 1861. Bd. 162. S. 222. 

6) M. Rubner, 8. Aufl. Leipzig u. Wien 1907. S. 358 u. 383. — W. Ohl- 
müller und 0. Spitta, Die Untersuchung und Beurteilung des Wassers und des 
Abwassers. 3. Aufl. Berlin 1910. S. 374. — Albert Pierre Bonnin, L’intoxi- 
cation saturnine par les eaux d’alimentation. Bordeaux 1906. 

7) Vgl. Klut, Mitteilungen a. d. Königl. Prüfungsanstalt f. Wasserversorg. 

H. 13. Berlin 1910. S. 127. 


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Ueber die Verwendung der Bleiröbren zu Hausanschlüssen. 


333 


hervorrufen. Nach einer neueren Veröffentlichung von A. Gärtner 
kann man sogar unbedenklich die Grenze des noch zu gestattenden 
Bleigehaltes in Leitungswässern höher legen, etwa bis zu 1 mg Pb in 
1 Liter (nach zwölfstündigem Stehen in den Leitungsröhren), 1. c., 
S. 111. 1910. 

Die Anstalt hat seit ihrer Gründung (1901) sich eingehend mit 
dieser Bleifrage beschäftigt. Auf Grund ihren Beobachtungen und 
Erfahrungen und unter weitgehendster Berücksichtigung der umfang¬ 
reichen Spezialliteratur auf diesem Gebiete kann im allgemeinen als 
feststehend jetzt folgendes angenommen werden: 

Reines, völlig luftfreies Wasser 1 ) greift Blei nicht an. Durch 
Einwirkung von Sauerstoff bildet sich Bleioxyd: 

I) Pb + 0 = PbO 

II) PbO + H 2 0 = Pb(OH) 2 

das in Wasser mit alkalischer Reaktion als Bleihydroxyd löslich ist. 

1 Liter destilliertes Wasser mit einem Gehalt von 9,5 mg freiem 
Sauerstoff löst ca. 120 mg Blei (Pb) 2 3 ). 

Alle gegen Lackmuspapier und Rosolsäurelösung sauer reagierende 
Wässer haben fast stets bleilösende Eigenschaften 8 ). 

Ein hoher Gehalt an Chloriden 4 5 ) begünstigt die Bleiaufnahme. 

Desgleichen ein hoher Nitrat- 6 * ) bzw. Nitritgehalt. 

Schon Wolffhügel 6 ) sagt, dass Wasser bei einem Gehalt an 


1) Vgl. u. a. Philipps, Diese Vierteljahrsschrift. 1904. 3. Folge. Bd. 27. 
H. 2. S. 316. — E. Schmidt, Ausführl. Lehrbuch d. pharmazeut. Chemie. 
5. Aufl. Bd. 1. Braunschweig 1907. S. 726. — A. F. Hol lern an, Lehrbuch 
d. unorganischen Chemie. 7. Aufl. Leipzig 1909. S. 255. 

2) Vgl. u. a. Arbeit, a. d. Kais. Gesundheitsamte. 1906. Bd.23. H.2. S.378. 

3) J. König, Chemie der menschlichen Nahrungs-und Genussmittel. 4.Aufl. 
Berlin 1904. Bd. 2. S.1407 u. H.Wehner, Gesundheit. 1908. No.24; J.S.Low, 
Surveyor. 1908. Bd. 34. S. 517; G. Kühnemann, Ueber die Verwendbarkeit 
verschiedener Hohrmaterialien für Hauswasserleitungen mit besonderer Berück¬ 
sichtigung der Bleiröhren. Vierteljahrsschr. f. geriohtl. Med. u. öffentl. Sanitäts¬ 
wesen. 1904. Bd. 27. Heft 2. 3. Folge. S. 323, 325, 333 u. 338. 

4) Nach F. Fischer, Das Wasser. 3. Aufl. Berlin 1902. S. 37 ist es eine 
alte Erfahrung, dass Wässer mit hohem Gehalt an Chloriden weit mehr Bestand¬ 
teile lösen als Wässer mit geringen Chlormengen. Ferner J. König, 1. c. 
S. 1407; G. Kühnemann, 1. c. S. 315 u. 320 u. Klut, 1. c. H. 13. S. 125. 

5) J. König, 1. c. S. 1407; P. Carles. Zeitschr. f. Untersuchung d. 
Nahrungs- u. Genussmittel. 1901. S. 559 u. E. Schmidt, I. c. S. 727. Bd. 1. 

6) Arbeiten a. d. Kaiserl. Gesundheitsamte. 1887. Bd. 2. S. 146, 160, 182 

und 199. 


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Dr. Hartwig Klut, 


Chloriden und Nitraten und Ammoniakverbindungen mehr zur Ein¬ 
wirkung auf Blei neigt, und dass besonders der Luftgehalt eines 
Wassers den Angriff fördert. 

Durch elektrolytische Vorgänge kann die Bleiauflösung unter 
Umständen wesentlich erhöht 1 ) werden. Legiertes oder unreines Blei, 
z. B. mit einem Gehalt an Kupfer, Zink, Zinn usw. wird weit mehr 
vom Wasser gelöst als reines Blei. Bei den gewöhnlichen Bleiröhren 
beobachtet man in der Regel an den Lötstellen die Korrosionen. 

Freie Kohlensäure gelöst enthaltende Wässer begünstigen die Blei¬ 
aufnahme 2 ). Bleihydroxyd wird bei Anwesenheit von viel freier 
Kohlensäure im Wasser in Bleibikarbonat verwandelt, das in Wasser 
relativ leicht löslich ist: 

Pb(0H) 2 + 2 C0 2 = Pb(HC0 3 ) 2 . 

Ist Kohlensäure nicht im Ueberschuss, so entsteht Bleikarbonat, 
das in Wasser nur w T enig löslich ist: 

Pb(0H) 2 -{- C0 2 = PbCOg -f- H 2 0. 

Bei wenig freier Kohlensäure im Wasser entstehen basische 
Karbonate (Bleiweissverbindungen), welche fast unlöslich sind: 

3 Pb(OH) 2 -(- 2 C0 2 == [2 PbC0 3 + Pb(OH) 2 ] + 2 H 2 0. 

basisches Bleikarbonat 

Letztere sind im Leitungswasser meist in feinsten Suspensionen 
verteilt enthalten und können somit ebenfalls sanitäre Gefahren 3 ) beim 
Genüsse eines solchen Wassers hervorrufen. 

Auf Grund eingehender Untersuchungen, die das Kaiserliche 
Gesundheitsamt 4 ) mit dem Dessauer Leitungswasser angestellt hat, 
kommt es zu folgendem Ergebnis: 

11 A. Frühling, Der Wasserbau. III.Teil des Handbuches der Ingenieur¬ 
wissenschaften. Bd. 3. Die Wasserversorgung der Städte. 4. Aufl. Leipzig 1904. 
S. 368; J. König, 1. c. S. 1407; Bissari6, Gesundheits-Ing. 1900. S. 286 
u. Kühnemann, 1. c. S. 339. Auch vagabundierende Ströme in der Nähe 
von LeituDgsröhren verursachen Bleiaüflösung, vergl. u. a. B. Latham, Journal 
f. Gasbel. u.Wasservers. 1906. Bd.49. Nr. 23. S.504; u. Wasser u. Abwasser 
1909. Bd. 1. Nr. 137. S. 169. Mit Angabe der Behebung dieser Uebelstände. 

2) Klut, Die Bedeutung der freien Kohlensäure im Wasserversorgungs¬ 
wesen. Gesundheitsingenieur. Bd. 30. 1907. Nr. 32. S. 517—524 und Klut, 
Untersuchung des Wassers an Ort und Stelle. Berlin 1908. S. 79 u. 107. 

3) Vergl. auch C. Flügge, Grundriss der Hygiene. 6. Aufl. Leipzig 1908. 
S. 158. 

4) Arbeiten a. d. Kaiserlichen Gesundsheitsamte. 1906. Bd. 23. Heft 2. 
S. 367 u. 377. 


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Ueber die Verwendung der Bleiröhren zu Hausanschlüssen. 


335 


„Bei gleichzeitiger Anwesenheit von Sauerstoff und freier Kohlen¬ 
säure nimmt das Bleiauflösungsvermögen mit sinkendem Gehalt an freier 
Kohlensäure ab, und durch die chemische Bindung der freien Kohlen¬ 
säure des Wassers wird seine bleilösende Eigenschaft vermindert.“ 

Die freie Kohlensäure kann aber, wie bereits erwähnt, nur Blei lösen, 
bei gleichzeitiger Gegenwart von freiem Sauerstoff 1 ). Da nun Luft¬ 
sauerstoff beim Fördern des Wassers stets in grösserer oder geringerer 
Menge in das Leitungsnetz gelangt, auch viele Wässer durch Enteisenung 
mit Luft nahezu gesättigt werden, so ist auch die Möglichkeit der Blei¬ 
aufnahme ohne weiteres gegeben. Ein abwechselndes Gefülltsein mit 
Luft und Wasser (Leerlaufen der Bleileitung) ist auch möglichst zu 
vermeiden, da hierdurch das Blei oxydiert und in wasserlösliches Blei- 
hvdroxyd verwandelt wird 2 ). Durch die Versuche von M. Müller 3 ) 
steht jetzt fest, dass der Angriff auf Blei am grössten ist, wenn die 
Volumina von Sauerstoff zur Kohlensäure sich wie 1:2 verhalten. 

Neuerdings vom Verfasser 4 5 ) angestellte Versuche haben ergeben, 
dass alle lufthaltigen Wässer anfangs bleilösende Eigenschaften be¬ 
sitzen. Die von Ruzicka 6 ) angegebene Methode zur Bestimmung der 
Bleilösungsfähigkeit eines Wassers, bei der in erster Linie der 
ursprüngliche Gasgehalt des betreffenden Wassers berücksichtigt wird, 
hat. für die Ermittelung der Bleilösungsfähigkeit eines Leitungswassers 
nicht den ihr bisher beigemessenen praktischen Wert, da, wie bereits 
ausgeführt, durch Fördern. Enteisenen usw. Wasser stets lufthaltig wird. 
Aus der chemischen Analyse eines Wassers lässt sich fast immer schon 

1) Vergl. u. a. 0. Kröhnke, Die Reinigung des Wassers f. häusliche u. 
gewerbliche Zwecke. Stuttgart 1900. S. 84ff. 

2) Die Bleilösung des Dessauer Leitungswassers imJahrel886 wurde noch 
durch den Umstand vermehrt, dass bei der unzureichenden Wasserlieferung die 
bleiernen Anschlussleitungen oft leer liefen. Die nasse Innenwand der Rohre kam 
hierdurch mit Luft in Berührung, wobei der Bleiangriff erhöht wurde. Vergl. 
Arbeiten aus dem Kaiserl. Gesundheitsamte. 1906. Bd.23. Heft 2. S. 340 u. 367. 

3) Journal f. prakt. Chemie. 1887. S. 317. Bd. 36. 

4) Vergl. Klut, Mitteilungen a. d. Königl. Prüfungsanstalt für Wasser¬ 
versorgung und Abwässerbeseitigung. Heft 13. Berlin 1910. S. 121 ff. 

5) Systematische Untersuchungen über die Angreifbarkeit des Bleies durch 
Wasser. Arohiv f. Hygiene. Bd. 41. 1902. S. 23; ferner Erlass vom 23. April 

1907, betr. die Gesichtspunkte für Beschaffung eines brauchbaren, 
hygienisch einwandfreien Wassers. Ministerial-Blatt f. Medizinal- u. med. 
•Unterrichts-Angelegenheiten. Bd.7. 1907. No. 11S. 183. „Anweisung.“ Ferner 
-P. Butten borg, Zur Bestimmung der bleilösenden Wirkung des Trinkwassers. 
Gesundheits-Ingenieur. 1903. Bd. 26. S. 240. 


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336 


Dr. Hartwig Klut, 


vorher ersehen, ob ein Wasser dauernd bleilösende Eigenschaften besitzt 
oder nicht. Wässer, welche die Tendenz haben, durch Kontaktwirkung 
allmählich an der Innenfläche der Rohre einen feinen Wandbelag von 
Kalziumkarbonat 1 ) zu bilden, schützen dadurch diese Rohre selbst vor 
weiteren Bleiangriffen, so dass dann ein für die Praxis in Betracht 
kommender Angriff bzw. Lösung des Bleies nicht mehr stattfindet. In 
Uebereinstimmung mit den Beobachtungen, die bereits andere Forscher, 
wie J. König 2 ), G. Kühnemann 3 ), K. B. Lehmann 4 ), gemacht haben, 
fand auch ich, dass Wässer, die gegen Rosolsäurelösung alkalisch 
reagieren und eine (vorübergehende) Karbonathärte von mehr als 7 D. Gr. 
haben, nur anfangs bleilösende Eigenschaften besitzen, die sich später 
praktisch fast ganz verlieren. Bei Trinkwässern von derartiger 
chemischer Zusammensetzung stehen also der Verwendung von Blei¬ 
röhren keine sanitären Bedenken entgegen. 

Die hohe Härte 5 ) eines Wassers wirkt also — entgegen der 
häufig verbreiteten Ansicht — nur dann auf die Bleilösung hemmend, 
wenn die Härte des Wassers vorwiegend durch Kalziumbikarbonat 
bedingt wird. Sulfate 8 ) (Sulfathärte) sind ohne merklichen Einfluss. 

Tabelle über die Löslichkeit einiger Bleiverbindungen im 
Wasser nach M. Pleissner 7 ) usw. 

Bleichlorid (PbCl 2 ) = 9340 mg in 1 Liter Wasser. 

Bleisulfat (PbS0 4 ) = 38,2 mg in 1 Liter Wasser. 

Basisches Bleikarbonat (Pb 3 (C0 3 ) 2 (0H) 2 ) = unter 0,04 mg Blei (Pb) 
in 1 Liter Wasser. 

Bleikarbonat 8 ) (PbC0 3 ) = 1,1 mg in 1 Liter Wasser. 

1) Ueber Sinterbildung vergl. u.a. A.Frühling, l.o. S. 83, 94 u. 336; 
ferner Klut, Untersuchung des Wassers an Ort und Stelle. Berlin 1908. S. 52 
u. E. Schmidt, 1. o. S. 58 u. 715. 

2) 1. o. S. 1406. 

3) 1. c. S. 322. 

4) Die Methoden der praktischen Hygiene. 2.Aufl. Wiesbaden 1901. S.239. 

5) Vergl. Klut, Die Ausdeutung der Analysenbefunde bei der chemischen 
Wasseruntersuchung. Berichte der Deutsch. Pharmazeut. Gesellschaft. Bd. 19. 
1909. Heft 3. S. 140-166. 

6) Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte. 1906. Bd. 23. Heft 2. 
S. 386 und Klut, Mitteilungen aus der Königlichen Prüfungsanstalt für Wasser¬ 
versorgung und Abwässerbeseitigung. Heft 13. Berlin 1910. S. 123. 

7) Arbeit, a. d. Kaiserl. Gesundheitsamt 1907. Bd. 26. H. 3. S. 384—443. 

8) Landolt-Börnstein, Physikal.-ehern. Tabellen. 3. Aufl. Berlin 1905. 
S. 564. 


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Ueber die Verwendung der Bleiröhren zu Hausanschlüssen. 


337 


Schutzmassnahmen. 

Bei Bleileitungen ist stets zu empfehlen, Wässer, die längere 
Zeit, z. B. über Nacht, in den Leitungen gestanden haben, vorher 
ab laufen zu lassen, und erst das Wasser zu verwenden, wenn man 
die Gewissheit hat, dass die ganze Leitung vom Strassenrohr ab 
einmal entleert ist. Dieses Verfahren ist auch schon deshalb zweck¬ 
mässig, um stets frisches Trinkwasser 1 ) zu haben. Je mehr Wasser 
man ablaufen lässt, desto sicherer ist der Erfolg. 

Besitzt ein Wasser dauernd bleiauflösende Eigenschaften, d. h. fehlt 
ihm die Möglichkeit, einen allmählichen Schutzbelag auf der Innen¬ 
wandung der Rohrleitungen zu bilden, so wären am besten Bleiröhren 
von der Verwendung auszuschliessen. Dass dies praktisch durch¬ 
führbar ist, beweisen z. B. die in Württemberg und Hessen erlassenen 
Vorschriften, wonach Bleiröhren bei für Trinkzwecke bestimmten 
Wasserleitungen überhaupt nicht verwendet werden dürfen. In solchen 
Fällen sind der beste Ersatz zunächst Gussrohren, die bis zu 30 mm 
kleinster 1. W. erhältlich sind, sodann asphaltierte Stahlrohren oder ver¬ 
zinkte schmiedeeiserne Röhren. Bei den engeren verzinkten Röhren ist 
es jedoch schwer festzustellen, ob die Innenwand der Röhren auch 
durchweg mit einer genügenden Zinkschicht überdeckt ist. Für die 
Leitungen innerhalb der Häuser eignen sich, wenn Bleiröhren nicht 
verwendet werden können, insbesondere wiederum verzinkte (galvani¬ 
sierte) schmiedeeiserne Röhren oder eventuell Bleiröhren mit Zinn¬ 
mantel. Bei Bleiröhren mit Zinneinlage 2 ) ist namentlich darauf zu 
achten, dass an den Stosstellen der Zinnmantel beim Verlöten nicht 
verletzt wird. Innen geschwefelte oder verzinnte Bleiröhren 3 ) be¬ 
währen sich in Folge elektrolytischer Vorgänge nicht. Die schmiede¬ 
eisernen (verzinkten) Eisenrohre haben nach H. Bunte 4 ), abgesehen 

1) Vergl. u. a. Proskauer, Die Beurteilung des Wassers iu hygienischer 
Beziehung. Journ. f. Gasbeleuchtung u. Wasserversorgung. Bd. 51. 1908. S. 870 
und Arbeiten a. d. Kaiserl. Gesundheitsamte 1906. Bd. 23. Heft 2. S. 377. Nr. 6. 

2) Vergl. u. a. G. Kühnemann, 1. c. S. 347. 1904 und 0. Lueger, 1. c. 
S. 17. 1908. 

3) G. Kühnemann, 1. c. S. 318; 326 u. 350; J. König, 1. c. Bd. 2. 
S. 1408; Wolffhügel, Arbeiten aus d. Kaiserl. Gesundheitsamte. Bd. 2. 1887. 
S. 444 ; 0. Lueger, Die Wasserversorgung der Städte. 2. Abt. Leipzig 1908. 
Der städtische Tiefbau. Bd. 2. S. 16 und W. Lösen er, Trinkwasserversorgung 
der Truppe. Berlin 1909. S. 37. 

4) Jonm. f. Gasbel. u. Wasservers. 1907. S. 736. Bd. 50; 1909. Bd. 52. 
S. 548. und B. Proskauer, 1. c. 1908. S. 865fF. 


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338 Dr. Klut, Ueber die Verwendung von Bleiröhren zu Hausanschlüssen. 

davon, dass bei ihnen gar keine hygienischen Bedenken vorliegen, 
gegenüber den Bleiröhren noch den weiteren Vorzug grösserer Wider¬ 
standsfähigkeit sowohl gegen äussere Verletzungen als auch gegen 
Druck und die in der Leitung auftretenden Stösse des Wassers. 

Neuerdings werden von der Schlesischen Metallgesellschaft 
m. b. H., Berlin W. 9, Röhren aus reinem Zink für Hausleitungen 
in den Handel gebracht. Praktische Erfahrungen liegen zur Zeit über 
diese Röhren noch nicht vor. Auch Aluminiumröhren—aus reinem 
Metall — können nach 0. Lueger (1. c. S. 11) eventuell als Ersatz der 
Bleiröhren in Betracht kommen. 

Enthält ein Wasser freie Kohlensäure gelöst und beträgt seine 
Karbonathärte über 7 D. Gr. *), so können nach Entfernung dieser 
Säure (durch Rieselung des Wassers) ungeschützte Bleiröhren verwendet 
werden. 

Ist dagegen solches Wasser weich, so muss die freie Kohlen¬ 
säure durch chemische Mittel, wie Aetzkalk, Kalkstein, Kalkspat, 
Marmor, Magnesit, Soda, Natriumhydroxyd usw. gebunden werden. 

Bei Untersuchung des weichen Dessauer Leitungswassers ge¬ 
langte das Kaiserliche Gesundheitsamt 1 2 ) auf Grund eingehender Ver¬ 
suche zu folgendem Ergebnis: „Durch die chemische Bindung der 
freien Kohlensäure mittels Natronlauge oder Soda kann die Blci- 
lösungsfähigkeit des Reinwassers weiter herabgesetzt werden, als 
durch die ausschliessliche Entfernung derselben mittels Durchlüftung.“ 

Lässt sich durch Chemikalienzusatz zu weichem Leitungswasser 
wie beispielsweise durch gesättigtes Kalkwasser die vorübergehende 
(Karbonat-)Härte steigern, wodurch das Wasser die Fähigkeit erlangt, 
einen künstlichen Schutzbelag auf dem Rohrinnern zu bilden, so wird 
natürlich die Gefahr einer Bleiaufnahme ebenfalls herabgesetzt. 

Ueber Schutzvorrichtungen an den Röhren bei vagabundierenden 
Strömen (Isolierung — auswechselbare Schutzröhren — Herstellung 
gutleitender metallischer Verbindungen zwischen Rohrleitungen mit 
verschiedener Stromstärke) vgl. Journ. f. Gasbeleucht, u. Wasserversorg. 
1907. Bd. 50. S. 224 und 1908. Bd. 51. S. 207. 

1) Vergl. Klut, 1. c. Mitteil. a. d. Kgl. Prüfungsanst. f. Wasservers. pp. 
Heft 13. 1910. S. 129. 

2) Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamt. 1906. Bd. 23. Heft 2. 
S. 375. 


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8 . 


Ueber Grubenwasserleitungen und ihre Gefahren, 
mit besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen 
in Altwasser (Schlesien). 

Von 

* 

Dr. C. Hagemann, 

Kreisarzt und ständigem Hilfsarbeiter bei der Ktinigl. Regierung zu Breslau. 


In einer vorjährigen Abhandlung 1 ) hat Roth auf die sanitäre und 
epidemiologische Bedeutung der Gruben Wasserleitungen hingewiesen, 
zumal derjenigen, welche über den eigenen Bergwerksbetrieb hinaus 
in grösserem Umkreis der kommunalen Wasserversorgung dienstbar 
gemacht worden sind. Er erinnert dabei an die Beuthener Typhus¬ 
epidemie vom Jahre 1897 mit ihrer Erkrankungsziffer von 1344 Fällen 
in der Stadt Beuthen, darunter 71 mit tödlichem Ausgange — einer 
Seuche, die auf den Konsum infizierten Trinkwassers aus der noch im 
Betriebe befindlichen Carsten-Zentrum-Grube zurückgeführt werden 
konnte. 

Es bedarf für den Hygieniker keiner Betonung, dass genau wie 
bei jeder anderen zentralen Wasserversorgungsanlage — ja schliesslich 
auch jedem Einzelbrunnen — auf die bedeutsame Gewinnung eines 
völlig intakten Wassers und die sichere, vor äusserlicher speziell 
menschlicher Beeinflussung geschützte Fortleitung desselben auch hier 
alles ankommt und dass die mehr oder weniger vollkommene Er¬ 
füllung dieses Postulats über die gesundheitliche Beschaffenheit in 
erster Linie entscheidet. Nicht so allgemein bekannt aber dürfte es 
sein, wie schwer oft gerade bei den Grubenleitungen diese Be¬ 
dingungen zu erfüllen sind, wie vielseitig und ausgedehnt hier noch 
im Gewinnungsgebiet des Wassers seine Gefährdung und wie schwierig 

1) Dr. E. Roth-Potsdam, Zur Frage der Wasserversorgung und Abwässer¬ 
beseitigung in gewerblichen Betrieben. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medizin etc. 
1909. Heft 4. 


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340 


Dr. G. Hagemann, 


bisweilen eine sachgemässe Beaufsichtigung sein kann. Diese für 
Grubenleitungen wohl ziemlich allgemeingültigen Besonderheiten lassen 
sich an der Hand eines Beispiels am besten erörtern. 

Es bestehen zur Zeit, speziell im schlesischen Bergbaubezirk, 
Grubenwasserleitungen, die sich bei quantitativ bemerkenswerter 
Leistungsfähigkeit auch in qualitativer Hinsicht des besten Leumunds 
erfreuen. So wird die Stadt Tarnowitz durch das aus verlassenen 
Grubenbauten dem sogenannten Kählert-Schacht zuströmende Wasser 
seit Jahr und Tag in anscheinend einwandfreierWeise versorgt 1 ), und 
der Kreis Kattowitz wie auch die Stadt Beuthen beziehen mit gutem 
Erfolge ihr Wasser aus der abgebauten Rosaliengrube 2 ). Es kommt 
aber leider auch gelegentlich das Gegenteil vor; und die alte Erfah¬ 
rung, dass mein über die hygienische Unzulänglichkeit mancher W T asser- 
Versorgungsanlage nach jahrelangem, ungestraftem Optimismus plötzlich 
durch Lektionen bitterster Art aufgeklärt wird, hat sich im Jahre 1909 
in Altwasser wiederholt. Es kam zu einer Typhusepidemie, welche 
in dem ca. 17 000 Einwohner zählenden Industriedorfe mit Einschluss 
der Kontaktfälle 659 Erkrankungen, insgesamt in Altwasser und Um¬ 
gebung 702 Erkrankungen mit 77 Todesfällen verursachte. 

Eine detaillierte Beschreibung der Epidemie, welche übrigens 
bereits von berufener Seite geliefert wurde und voraussichtlich auch 
in der Literatur erscheinen wird, liegt nicht im Sinne dieser Zeilen. 
Auch handelt es sich nicht darum, für die Annahme einer Entstehung 
der Epidemie durch Vermittelung des Trinkwassers nochmals eine 
Lanze zu brechen, denn diese Annahme ist für jeden vorurteilslosen 
Beobachter längst zur Ueberzeugung geworden. Aber das Wie? und 
Wo? der Wasserverseuchung, und im Zusammenhang damit die 
schwachen Seiten dieser und jeder Grubenwasserleitung ganz allgemein, 
bedürfen noch einer Beleuchtung. 

Zum besseren Verständnis der Einzelheiten möge eine summa¬ 
rische Schilderung der geologischen Verhältnisse des Waldenburget 
Steinkohlenbezirks, zu welchem Altwasser gehört, dienen. 

Das Waldenburger Gebiet stellt die grösste, bis auf 8 km im 
Querdurchmesser anschwellende Verbreiterung des streckenweise ganz 
schmalen Ringes von produktivem Steinkohlengebirge in Nieder¬ 
schlesien und den böhmischen Grenzbezirken dar. Dieser Ring oder 

1) Journ. f. Gasbeleucht, und Wasser versorg. 1905. Nr. 5. S. 93. 

2) Bloch, Die hygienischen Fortschritte der Stadt Beuthen. Deutsche 
Vierteljahrsschr. f. öffentl. Gesundheitspflege. 1904. Bd. XXXVI. S. 602. 


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Ueber Grubenwasserleitungeu and ihre Gefahren. 


341 


— wie man wegen der Ueberlagerung durch mächtige jüngere For¬ 
mation nach Südosten zu wohl besser sagt — dieses mit der Kon¬ 
vexität nach Nordwesten gerichtete Hufeisen kleidet annähernd 
konzentrische Schichten älteren Carbons (Culm) nach innen zu aus, 
stellenweise lagert es sich auch direkt dem Urgebirge (Gneis der Eule, 
Glimmerschiefer in Böhmen) an, teils wird es schliesslich beiderseits 
von jüngeren Formationen eingeschlossen. Zentralwärts wird es ganz 
allgemein von den letztgenannten jüngeren Schichten der Dyas (Rot¬ 
liegendes) und der Kreide (Cenoman) abgelöst. 

Mit dem Rotliegenden haben beide Carbonschichten eine Durch¬ 
setzung mit reichlichen, palaeovulkanischen Gesteinsmassen, und zwar 
speziell Porphyr, gemein. 

Die Kohle findet sich eingebettet vorwiegend in grobkörnigen, 
feldspatreichen Sandstein und mittelstückige sandige Konglomerate 
sowie Tonschiefer. Die einzelnen Flötze zeigen im allgemeinen ge¬ 
ringe Mächtigkeit (1—iy 2 m) und lassen sich deutlich in zwei Gruppen 
trennen, eine ältere und eine jüngere, oder — wie der bergmännische 
Ausdruck lautet — eine „liegende“ und eine „hangende“. Beide, der 

Liegendzug wie der Hangendzug, sind an zahlreichen Stellen er¬ 

schlossen und abgebaut worden; und zwar reicht der Kohlenbergbau 
speziell bei Altwasser nachweislich bis ins 18. Jahrhundert zurück. 
So wurden die oberen Flötze in der Nähe des jetzt verfallenen 

Scharnhorstschachtes bereits im Jahre 1798 abgebaut. Naturgemäss 
hat man zunächst, d. h. vorwiegend in der ersten Hälfte des 19. Jahr¬ 
hunderts, die leichter erreichbaren oberen Flötze ausgebeutet, und erst 
in den sechziger und siebziger Jahren die tiefen Lager in Angriff 
genommen. 

Alle diese Einzelheiten sind von grösster Bedeutung für die 

hydrologischen Verhältnisse der Gegend. Das Gleiche gilt für das 
eigenartige In- und Durcheinandergreifen sedimentärer und eruptiver 
Gebirgsschichten, wie es eben dort zu beobachten ist. Der vulkanische 
Charakter der Landschaft muss in prähistorischer Zeit ein sehr aus¬ 
gesprochener und durch lange Zeiträume andaueruder gewesen sein; 
man nimmt an, dass einzelne charakteristische Porphyrkuppen, wie 
der Hochwald bei Gottesberg, in der Zwischenzeit zwischen Bildung 
der älteren und der jüngeren Steinkohlenschichten entstanden sind. 
Gerade auch bei Altwasser haben die bergbaulichen Aufschlüsse eine 
bunte Abwechselung, eine Durchsetzung des Carbons durch Porphyr¬ 
gänge an zahlreichen Stellen ergeben, — sei es, dass die letzteren 


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342 


Dr. C. Hagemann, 


aus dem weicheren, umgebenden Gestein gegenwärtig als Hügel empor¬ 
ragen, wie z. B. die für unser Thema wichtigen Kuppen des Butter¬ 
berges, sei es, dass sie nur in der Tiefe angefahren wurden, wie die 
Ursprungsstelle der nachher zu erwähnenden Porphyrquelle. 

Auffällig und bedeutungsvoll ist die zerklüftete, spaltige Be¬ 
schaffenheit der oberen Bodenschichten; ob diese in der Hauptsache 
der früheren vulkanischen Unruhe oder anderweitigen tektonischen 
Einflüssen ihre Entstehung verdankt, mag dahingestellt bleiben. Be¬ 
merkenswert ist ferner die zumeist mürbe, poröse Beschaffenheit des 
Porphyrs, der stellenweise deshalb geradezu als Porphyrtuff (Butter¬ 
berg) bezeichnet wird. Das Gestein erhält hierdurch in besonderem 
Masse die Eigenschaft eines Grundwasserträgers, daneben aber, "was 
hier betont werden soll, eines Meteorwassersammlers. Letztere Funktion 
hat bei dem an oder dicht unter die Oberfläche tretenden Gestein 
natürlich einen im hygienischen Sinne verdächtigen Beigeschmack, und 
das Gleiche gilt von der oben erwähnten Zerklüftung des Bodens. In 
dieser Hinsicht haben allerdings geologische Feststellungen ergeben, 
dass die unerwünschte Kommunikation der tieferen mit dem ober¬ 
flächlichen Wasser durch ein spontanes Einschlämmen lettiger Boden¬ 
bestandteile in die Spalten und Risse bis zu einem gewissen Grade 
verhütet wird. 

Mit den Bodenverhältnissen vertraut, können wir nunmehr mit 
der Einrichtung der Grubenwasserleitung uns befassen. 

Derartige Leitungen, zur kommunalen Wasserversorgung benutzt, 
bieten ein anschauliches Beispiel für das an sich löbliche Bestreben, 
aus der Not eine Tugend zu machen. Ursprünglich dienen jene 
Stollen und Querschläge, welche das unterirdische Wasser führen, 
nicht als Wasserversorgungs-, sondern als Entwässerungsanlagen: sie 
entlasten das Abbaugebiet, indem sie das seitlich aus dem Gestein 
tretende Wasser in sanfter Neigung entweder direkt zu Tage, oder in 
einen Sammelschacht führen, von wo es durch Pumpen zu Tage ge¬ 
fördert wird. Es liegt auf der Hand, dass die erstere Form der Ab¬ 
leitung durch eigenes Gefälle nur unter bestimmten Bedingungen, im 
bergigen Terrain, möglich ist, w r o das Baugebiet — wenngleich viel¬ 
leicht beträchtlich unter dem Niveau des angefahrenen Hügels — so 
doch immerhin noch etwa über der oberirdischen Talsohle liegt. Von 
Einrichtungen beider Art haben wir bei der Altwasser-Anlage typische, 
schon durch ihren Namen gekennzeichnete Beispiele in dem so¬ 
genannten Theresien-„Stollen u einerseits, und dem Steiner- n Schacln u 


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Ueber Grabenwasserleitungen und ihre Gefahren. 


343 


andererseits: der Inhalt des ersteren tritt nahe einem nach Walden¬ 
burg führenden Landwege im offenen Wiesengelände zu Tage und 
wird hier in die Leitung gefasst, während das Wasser des Steiner¬ 
schachtes zum gleichen Zweck künstlich etwa 40 m gehoben werden 
muss. Nachdem der bergbauliche Betrieb seit Jahr und Tag in dem 
wasserführenden Gebiet südlich von der Dorfstrasse — genauer in 
dem Dreieck zwischen dieser im Nordosten, den drei Kuppen des 
„Butterberges“ im Westen und den Hängen des „Langenberges“ im 
Südosten — zum Stillstand gekommen war, staute man durch 
Mauern den Inhalt des Theresien-Stollens sowie eines südlich vom 
Steinerschacht auf diesen zu führenden Querschlages an, und diese 
Reservoire in Verbindung mit einer mehr im Nordwesten in der 
(noch betriebenen) Segen-Gottes-Grube 35 m unter Tage angefahrenen 
und direkt gefassten Wasserader im Porphyr lieferten bis zum Juni 
1909 das Trink- und Brauchwasser für den grössten Teil des Dorfes; 
nur der kleinere, nordwestliche Ortsteil wurde durch die Waldenburger 
städtische Leitung versorgt. 

Wie sieht nun das Sammelgebiet für die zu Wasserbehältern 
umgewandelten, unterirdischen Gänge aus? 

Man denke sich ein vielfach verzweigtes System von verlassenen 
Baustrecken in verschiedener Tiefe unterhalb der Oberfläche, welche 
teilweise eingestürzt — „zu Bruche gegangen“, wie der technische 
Ausdruck lautet —, teilweise aber durch die noch tragfähige hölzerne 
* Auszimmerung offen gehalten, konvergierend auf einen geräumigeren 
Gang oder Querschlag zuführen. In bestimmten Abständen wird eine 
Kommunikation mit der Aussenwelt, d. h. mit dem oberirdischen 
Gelände, durch senkrechte, gemauerte Schächte hergestellt, welche 
ursprünglich für die Zwecke der Kohlenförderung oder der Ventilation 
angelegt waren. Diese Schächte sind zumeist späterhin zugeworfen 
oder auch nur durch Schienen und Erdbewurf überdeckt worden. 

Das ist das allgemeine Bild. In Altwasser handelt es sich ur¬ 
sprünglich um zwei getrennte Systeme, welche späterhin aus teclmischen 
Gründen durch einen Querschlag (zwischen Franz- und Bianka-Schacht) 
vereinigt wurden, um dann durch eine Mauer südlich vom 3. Licht¬ 
loch des Theresien-Stollens wiederum, jedoch in anderer Weise, in 
zwei verschiedene Ent- bzw. Bewässerungsgebiete zerlegt zu werden. 
Gegenwärtig liegt die Sache so, dass dem Theresien-Stollen das ge- 
sammte Bergwasser aus dem Bereich der ehemaligen Kaspar-Grube 
zufliesst, welches in der Hauptsache den Bianka-Schacht, Karl-Schacht 

Yierteljahrsaehrift f. ger. Med. u. öff. San .-Wesen. 3. Folge. XL. 2. 23 

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344 


Dr. C. Hage mann, 


und Maximilian-Schacht umgreift, während die Strecken mehr nörd¬ 
lich im Bereich der jetzigen Ziegelei und des (ehemaligen) Scharn¬ 
horst-Schachtes das Wasser für den Steiner-Schacht liefern. 

Dem unterirdischen Wasserzufluss drohen nun auf seinen dunklen 
und verschlungenen Pfaden mancherlei Gefahren. Zunächst leuchtet 
ein, dass die alten, mit mehr oder weniger grobem Schutt notdürftig 
zugeworfenen Schächte unter bestimmten Umständen sehr unliebsame 
Immissionen von oben her vermitteln können; und auch wo dieses 
nicht der Fall ist, birgt die oben beschriebene Beschaffenheit des 
Bodens, namentlich wenn die Deckschicht unterhalb einer gewissen 
Mächtigkeit bleibt, die Gefahr eines direkten Einsickerns von ober¬ 
flächlichem Wasser samt seinen Beimengungen. Die Schächte werden 
besondert da gefährlich sein, wo sie in einer Mulde stehen oder 
sonstwie, etwa durch Lage am Abhang, dem oberirdisch fliessenden 
Wasser reichlicheren Zutritt gewähren — alles dies natürlich unter 
der Voraussetzung, dass letzteres selbst der Verschmutzung und be¬ 
sonders der Verseuchung ausgesetzt ist. Dies trifft aber leider über¬ 
all, wo menschliche Wohnstätten, Wiesen- und Gartenland in der 
Nähe sind, und so auch stellenweise bei der Altwasser-Anlage zu. 

Es ist das Verdienst eines von sachverständigster Seite 1 ) im 
November vorigen Jahres abgegebenen Gutachtens, welches die 
Weiterbenutzbarkeit der alten Wasserleitung zum Gegenstände hatte, 
auf diese Gefahren im einzelnen hingewiesen und Massnahmen gegen¬ 
über denselben angegeben zu haben. Hier sei nur so viel angedeutet, 
dass es sich um Ableitungsgräben oberhalb der Schächte, Zemen¬ 
tierung einer Abortgrube in der Nähe des einen Schachtes und Ein¬ 
bringung einer geschlossenen Röhrenleitung in den zentralen, nörd¬ 
lichen Teil des Theresien-Stollens handelte. Wichtig dagegen für 
das eigentliche Thema dieser Arbeit erscheint die Feststellung, dass 
diese und wohl jede Grubenwasserleitung die bekannten Gefahren, 
welche jedem Einzelbrunnen drohen, mit denjenigen, welche offenen 
Wasserläufe anhaften, verquickt, und das beide zusammengenommen 
durch die schwere Kontrollierbarkeit des Systems noch gesteigert 
werden. Das soll nicht heissen: eine Gruben Wasserleitung ist als 
solche von vornherein zu verwerfen, sondern nur: sie ist oder kann 
wenigstens sein eine ganz besonders diffizile, aufsichtsbedürftige, pro¬ 
blematische Versorgungsanlage. 

1) König!. Versuchs- und Prüfungsanstalt für Wasserversorgung und Ab¬ 
wasserbeseitigung zu Berlin. 


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Ueber Grubenwasserleitangen und ihre Gefahren. 


345 


Als Anfang Juni vorigen Jahres die Typhusepidemie in Altwasser 
ausbrach, ergaben die amtlichen sanitätspolizeilichen Ermittelungen 
sehr bald die eigenartige Tatsache, dass die Seuche 10 Tage nach 
Inbetriebnahme eines reparierten Kiesfilters explosionsartig und in 
einer Verbreitung aufgetreten war, die eine Trinkwasserinfektion als 
einzige Deutung zuliess. Das genannte Filter gehörte der Ent¬ 
eisenungsanlage an, welche das sehr eisenreiche Wasser des Steiner- 
Schachtes vor dem Einlass in die Leitung zu passieren hatte. Der 
Gedanke, dass eine Verunreinigung dieses Filters während der 
Reparatur, welche durch sechs Grubenarbeiter ausgeführt worden war, 
erfolgt sein konnte, lag so nahe und hatte bei der zur Zeit vielfach 
betonten Bazillenträgergefahr etwas so Faszinierendes, dass er anfangs 
von allen sachverständigen Beobachtern akzeptiert wurde, um so mehr, 
als der in erster Line vom Steiner-Schachtwasser versorgte Ortsteil 
ganz vorwiegend betroffen zu sein schien. Es zeigte sich indessen 
bei weiterer Beobachtung, dass die Grenze zwischen verseuchtem und 
ziemlich seuchenfreiem Ortsteil anderswo zu ziehen war, nämlich 
zwischen dem durch die Altwasser-Leitung überhaupt versorgten 
jUI. und IV. Bezirk, dem sogenannten Oberdorf, und dem das Nieder¬ 
dorf bildenden I. und II. Bezirk, wo die meisten Häuser an die ein¬ 
wandfreie Hochdruckquellwasserleitung der Stadt Waldenburg an¬ 
geschlossen waren. Diese Erfahrungen sind in einer Abhandlung des 
Kreisassistenzarztes Dr. v. Leliwa in Waldenburg 1 ) sowie in einem 
ausführlichen, epidemiologischen Bericht des dortigen Kreisarztes 
Medizinalrat Dr. Dybowski 2 ) niedergelegt worden. Als für unser 
Thema wesentlich ist jedenfalls zu betonen, dass die eingehendere 
Prüfung des Versorgungsgebietes spez. des Theresien-Stollens auch 
bei diesem hinlängliche Infektionsmöglichkeiten der oben geschilderten 
Art, somit eine Verdächtigkeit der ganzen Altwasserer Grubenwasser¬ 
leitung überhaupt erwiesen, und hierdurch unsere Erfahrungen über 
die schwachen Seiten derartiger Versorgungsanlagen um eine neue, 
eindrucksvolle bereichert hat. 

Man wird trotz alledem nicht soweit gehen dürfen, auf Grund 
genereller hygienischer Bedenken diese Art einer zentralen Wasser¬ 
versorgung grundsätzlich abzulehnen. Aus wirtschaftlichen Gründen, 


1) Die Typhusepidemie in Altwasser. Deutsche med. Wochenschr. 1909. 
No. 32. 

2) Noch nicht veröffentlicht. 

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346 Dr. C. Hagemann, Ueber Grubenwasserleitungen und ihre Gefahren. 

wegen der Wohlfeilheit des zumeist quantitativ recht befriedigenden 
Wassers wird man sich darauf beschränken müssen, abgesehen von 
einer stetigen, peinlichen Ueberwachung der Leitung selbst und ihrer 
Nebenanlagen nur eine sanitäre Sicherstellung des Gewinnungsgebietes 
zu verlangen: diese aber, meines Erachtens nicht mit kleinen Mitteln, 
welche das Ausbleiben unglücklicher Zufälle oder auch böswilliger 
Handlungen voraussetzen, sondern — ähnlich wie beim Talsperren¬ 
system — in grosszügiger Weise und nötigenfalls auch mit reich¬ 
licheren pekuniären Aufwendungen. Das heisst, es würde sich 
dringend empfehlen und keineswegs als übertriebenes Opfer angesehen 
werden können, wenn eine auf Grubenwasser angewiesene Gemeinde 
systematisch danach trachtete, das gesamte oberirdische Gelände 
über dem Sammelgebiet in ihre Hand zu bekommen und zwecks 
dauernder Reinhaltung von den schädlichen Einflüssen — letzteres 
Wort in ursprünglichstem Sinne — menschlicher Niederlassungen und 
landwirtschaftlichen Betriebes aufzuforsten. Ob und inwieweit ein 
derartiges Vorgehen wirtschaftlich der Anlage einer einwandfreien 
anderweitigen Wasserversorgung vorzuziehen sein wird, muss im 
Einzelfall speziellen Erwägungen Vorbehalten bleiben. 


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9. 


Die ärztliche Organisation bei Unfällen. 

VOD 

Dr. Ernst Joseph, 

Stellv, ärztlichem Direktor der Unfallstationen Tom Boten Kreuz in Berlin. 


Die ärztliche Organisation bei Unfällen und Massenunglücksfällen 
hängt aufs engste mit der Organisation des gesamten Rettungswesens 
zusammen. Ohne Aerzte kein Rettungswesen! Vor etwa 50 Jahren 
war der Begriff „Rettungswesen“ eigentlich noch so gut wie unbe¬ 
kannt, wohl existierten schon hier und da Einrichtungen, welche den 
Zweck hatten, Menschen, die sich in Gefahr befanden, zu retten, wie 
z. B. die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrü<tfiiger in Amsterdam, 
deren Gründung bis zum Jahre 1767 zurückreicht. Auch hatten die 
Menschen von jeher schon das Bestreben sich mit den Kenntnissen 
der ersten Hilfe vertraut zu machen, denn in der Menschenseele wohnt 
der Samaritergeist, jener wunderbare Trieb der Nächstenliebe. Aber 
dieses Streben des Einzelnen, seinem Nächsten zu helfen, bildete kein 
organisches Ganze. Es war in keine bestimmte gesetzmässige Form 
gefügt; nur vereinzelt waren die Bestrebungen, sich zum Rettungswerk 
zusammenzuschliessen und gemeinsame Vorkehrungen zu treffen. 

Erst die neuere Zeit mit ihrem stark gesteigerten Verkehrsleben, 
mit den vervielfachten Gefahren, welche uns Technik und Industrie 
gebracht haben, nicht zum wenigsten die Fortschritte auf sozialem 
Gebiet, insbesondere auch die soziale Gesetzgebung verlangten ge¬ 
bieterisch das Vorhandensein von Organisationen und Einrichtungen, 
welche die Bestimmung haben, in Unglücksfällen sofort zu helfen. 
So entstand das, was wir als Rettungswesen bezeichnen. 

Obwohl die Aerzte ihrem Beruf und ihrer Vorbildung nach die 
Hauptträger des Rettungswesens sind und sein müssen, so ist doch 
ihre Stellung zum Rettungswesen, und man muss offen bekennen nicht 
ganz ohne ihre Schuld, von Anfang an nicht richtig erkannt und ein- 


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348 


Dr. Ernst Joseph, 


geschätzt worden. Die Gründung von besonderen Rettungseinrich¬ 
tungen in grossen Städten, wie z. B. die der Sanitätswachen, der Un¬ 
fallstationen ist von sozial oder humanitär tätigen Vereinigungen, nicht 
von x\erzten ausgegangen. Es ist sogar eine Zeit lang die Notwendig¬ 
keit solcher Einrichtungen von einem grossen Teil der Acrzteschaft 
bestritten und ihre Existenz bekämpft worden. Man sah in ihnen 
nicht Einrichtungen, welche für das Wohl der Bürgerschaft notwendig 
waren, sondern solche, die die Aerzte in ihrer Tätigkeit schädigten 
und ihnen, wie man häufig hörte, unlauteren Wettbewerb machten. 
Die wirtschaftliche Lage des Aerztestandes mag an dieser falschen 
Stellung, die ein grosser Teil derselben einnahm, Schuld gewesen 
sein; jedenfalls hat es die mangelhafte Unterstützung, welche die 
Aerzte der Entstehung dieser Einrichtungen entgegenbrachten und 
welche zum Teil bis zu einer unfreundlichen Haltung sich steigerte, 
zuwege gebracht, dass andere Kreise, wie das Rote Kreuz, die Be¬ 
rufsgenossenschaften, Samaritervereine usw. das Rettungs wesen ohne 
Mitwirkung der Aerzte organisierten, während diesen eigentlich eine 
führende Stellung hierbei zugekommen wäre. 

Es ist genau dieselbe Gegnerschaft, welche seinerzeit in Er¬ 
scheinung trat, als Esmarch den Samaritergedanken in die Tat um¬ 
setzte und die Anregung gab, die Menschen soviel wie möglich zu 
Samaritern zu erziehen, und dem grossartigen Werk dieses genialen 
Mannes Schwierigkeiten bereitete. Heute wird es keinen Arzt mehr 
geben, welcher nicht selbst den Segen des Esmarchschen Gedanken 
zu schätzen weiss und die Saraariterhilfe missen möchte. Auch die¬ 
jenigen unter den Aerzten, die früher Gegner besonderer Rettungsein¬ 
richtungen waren, haben jetzt anerkannt, dass dieselben ein Bedürfnis 
sind, gerade so wie die öffentlichen Krankenanstalten. Der Mit¬ 
arbeiterschaft der Aerzte auf diesem Gebiet ist es wesentlich zu 
danken, dass in Deutschland nun mehr allenthalben, auf dem flachen 
Lande wie in den grossen Städten, sich Bestrebungen zeigen, das 
Rettungswesen in sachgemässer Weise zu organisieren. Dass den 
Aerzten hierbei eine führende Rolle zukommt, ist selbstverständlich. 
Es gibt kein Rettungswesen ohne Aerzte! 

Andererseits aber ist es erforderlich, dass die Tätigkeit des 
Arztes im Rettungswesen sich in den Rahmen der Vorkehrungen, 
welche zur Hilfe der Verunglückten getroffen sind, in sachgemässer 
Weise einfügt. Gerade so, wie es ein technisches und ein sanitäres 
Rettungswesen gibt, welche unzertrennbar mit einander verbunden 


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Die ärztliche Organisation bei Unfällen. 


349 


sind, so müssen auch diejenigen, welche berufen sind, das sanitäre 
und das technische Rettungswesen auszuüben, vereint mit einander 
wirken. Wenn bei einem Brand die Feuerwehr die Menschen aus 
dem brennenden Hause herausgeholt hat, und die von Rauchvergiftung 
Ohnmächtigen am sicheren Platze birgt, so muss sofort der geschulte 
Arzt eingreifen um das Rettungswerk zu vollenden und die den 
Flammen Entrissenen durch Einleitung künstlicher Atmung und Ver¬ 
abreichung von Sauerstoff dem Leben wiederzugeben. Und wenn 
der Arzt nicht gleich zur Hand ist, so muss auch die sanitäre Hilfe 
von den Mannschaften der Feuerwehr, welche im Samariterdienst ge¬ 
schult sind, ausgeübt werden. So wichtig die möglichst schnelle Hilfe 
des Arztes ist, so bildet sie doch nur das Glied in einer Kette. Ohne 
jede fremde Hilfe am unrichtigen Ort, ohne geeignete und gute Trans¬ 
portmittel ist auch der beste Arzt ohnmächtig. Die ärztliche Organi¬ 
sation bei Massenunfällen kann also nur im Rahmen des allgemeinen 
Rettungswesens sich sachgemäss entfalten. 

Auf der Tätigkeit der Aerzte basiert der sanitäre Rettungsdienst. 
Fast nirgends kann der Arzt seine Leistungsfähigkeit und den Erfolg 
der ärztlichen Wissenschaft besser zeigen, als wenn er bei Unglücks¬ 
fällen schnell und sachgemäss Hilfe leistet. Es muss von jedem Arzt 
verlangt werden, dass er die hierzu erforderlichen Kenntnisse besitzt. 
Leider, und das können wir wohl unumwunden aussprechen, ist dies 
zurzeit noch nicht durchweg der Fall, da die erste ärztliche Hilfe 
bisher noch nirgends zum Gegenstand eines besonderen Unterrichts in 
den medizinischen Fakultäten gemacht worden ist. Der Student der 
Medizin hört so gut wie nichts von erster ärztlicher Hilfe, vom 
Krankentransport und von der Versorgung der Kranken. Dr. C har ras 
in Wien hat vor 3 Jahren in einem auf dem Internationalen Kon¬ 
gress für Hygiene und Demographie in Berlin gehaltenen Vortrag ganz 
richtig gesagt: „Die erste ärztliche Hilfe bildet zwar kein Spezialfach 
im eigentlichen Sinne des Wortes, es kommt vielmehr die Einheit der 
medizinischen Wissenschaft in derselben am deutlichsten zum Aus¬ 
druck, denn sie erfordert Kenntnisse und Fertigkeiten auf allen Ge¬ 
bieten der Heilkunde; nichtsdestoweniger ist eine Zusammenfassung 
des gesamten Stoffes behufs rascher Uebersicht und Orientierung, 
sowie die praktische Uebung für denjenigen Arzt, der zur Hilfeleistung 
berufen ist — und "welcher Arzt ist es nicht — unbedingt erforderlich“. 

Der Notwendigkeit, hier eine besondere Ausbildung dem Arzt zu 
geben, hat z. B. die österreichische Militär-Sanitätsverwaltung Rech- 


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350 


Dr. Ernst Joseph, 


nung getragen, indem sie im Einvernehmen mit der Wiener freiwilligen 
Rettungsgesellschaft jährlich eine Anzahl von Militärärzten behufs 
theoretischer und praktischer Betätigung in der ersten Hilfe zura 
Sanitätsdienst in die Sanitätsstationen der Wiener freiwilligen Rettungs¬ 
gesellschaft kommandiert, woselbst dieselben in abwechselndem Turnus 
von je 6 Herren einen 24 ständigen Dienst versehen. Hiermit hat die 
österreichische Heeresverwaltung in richtiger Weise gezeigt, dass sie 
eine Ausbildung ihrer Aerzte sowohl theoretisch wie praktisch in der 
ersten Hilfe als notwendig erachtet. Wenn der Arzt die ihm ge¬ 
bührende Stellung im Rettungswesen einnehmen soll, so muss von 
ihm verlangt werden, dass er auf dem Gebiete der ersten Hilfe in 
jeder Weise beschlagen ist. Sich die nötigen Kenntnisse zu erwerben, 
dazu bedarf es der Gelegenheit und diese müsste ihm während seiner 
Studienzeit durch theoretische Vorlesungen mit praktischen Uebungen 
oder bei uns in Deutschland während des praktischen Jahres ge¬ 
boten werden. Nur ein in der ärztlichen ersten Hilfe gut aus- 
gebildeter Aerztestand kann den Anforderungen auf diesem Gebiet 
genügen und ist berechtigt, die erste Hilfe zu organisieren. 

Jeder Arzt ist durch seinen Beruf dazu bestimmt, bei Unglück 
und Unfällen Hilfe zu leisten. Die Anforderungen, welche die heutige 
Zeit mit dem hochentwickelten Verkehrs- und industriellen Leben an 
das Rettungswesen stellt, verlangen aber, dass diese Hilfe organisiert 
ist. Naturgemäss wird die Organisation verschieden sein, mit Rück¬ 
sicht auf die Verschiedenheit der Oertlichkeit und der jeweiligen Er¬ 
fordernisse. Welch gewaltiger Unterschied besteht in dieser Hinsicht 
zwischen dem flachen Land und einer Grosstadt? Nichtsdestoweniger 
ist man heute wohl berechtigt, selbst auf dem Lande gewisse Organi¬ 
sationen und Einrichtungen allgemein zu verlangen. Vor allem erfor¬ 
derlich ist die einheitliche Mitwirkung möglichst aller Aerzte. Aller¬ 
dings tritt auf dem Lande naturgemäss die erste ärztliche Hilfe hinter 
der Samariterhilfe zurück, da infolge der grossen Entfernung und 
der Schwierigkeit Aerzte schnell bei der Hand zu haben der Ver¬ 
unglückte zuerst meist auf Laienhilfe angewiesen ist. Als zweck¬ 
mässig hat sich auf dem Lande deshalb das Bestehen von Land¬ 
samaritervereinen gezeigt. Ein solcher Verein muss über eine grössere 
Anzahl ausgebildeter Nothelfer verfügen, um jederzeit auch unvorher¬ 
gesehenen Ansprüchen gewachsen zu sein. Es empfiehlt sich daher, 
nicht in jeder kleinen Landgemeinde einen Samariterverein zu gründen, 
sondern mehrere örtlich günstig gelegene, kleine Gemeinden zu einem 


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Die ärztliche Organisation bei Unfällen. 


351 


solchen zu vereinen. Der ländliche Samariterverein soll eine Zentral¬ 
stelle haben, in welcher sich Rettungsgerät und Rettungswagen be¬ 
finden und von welcher bei eventuellen Katastrophen die Alarmierung 
der gesamten aktiven Rettungsmannschaft einschliesslich der Aerzte 
erfolgt. Im übrigen ist in ländlichen Distrikten im Hinblick auf 
den ausgedehnten Raumbereich gerade so wie in sehr grossen Städten 
eine Dezentralisation der Rettungseinrichtungen erforderlich. So soll, 
wenn irgend möglich, in jedem Ort des ländlichen Samariterdistrikts 
eine eigene, mit Verbandstoffen und Krankenfahrbahre ausgerüstete 
Sanitätswache bzw. Hilfsstation vorhanden sein. Bedauerlicherweise 
gibt es noch in Deutschland viele Gegenden, in welchen solche Ein¬ 
richtungen gänzlich fehlen, während sie doch genau so notwendig 
sind, wie die Einrichtungen der Feuerwehr. Andererseits aber haben 
wir auch Distrikte, in welchen der Rettungsdienst in vorzüglicher 
"Weise geregelt ist. Eine derartige ländliche Musterorganisation stellt 
die freiwillige Rettungsgesellschaft Mügeln-Heidenau (Bez. Dresden) 
dar, über welche der leitende Arzt, Herr Dr. Teiche-Heidenau an¬ 
lässlich des 8jährigen Bestehens der Rettungsgesellschaft in Nr. 17, 
Jahrgang 1909 der „Zeitschrift für Samariter- und Rettungswesen“ 
berichtet. Ich führe in Kürze an, was Herr Dr. Teiche über diese 
Organisation sagt: 

„Die Wache, verbunden mit dem Hauptdepot für Verband¬ 
stoffe und Krankenpflegeartikel, liegt in Mügeln. Es ist dies die 
Sanitätswache I Mügeln, für die die Gemeinde in dankenswerter 
Weise Räumlichkeiten im alten Schulgebäude an der Dresden- 
Pimaer Staatsstrasse zur Verfügung gestellt hat. Hier ist mit 
gutem Erfolg der Versuch gemacht worden, die Wache den Sonntag 
über bei erheblich gesteigertem Strassenverkehr zu Wagen, Rad und 
Auto mit 2 Samaritern besetzt zu halten, obwohl sich im allgemeinen 
auf dem Lande ein ständiger Wachdienst nicht empfiehlt. Das 
Depot für den grossen Rettungswagen befindet sich im Rathaus des 
benachbarten Heidenau, wo durch Entgegenkommen der Gemeinde 
eine besondere Abteilung im neuerbauten Gerätschuppen der frei¬ 
willigen Feuerwehr angewiesen worden ist. Sanitätswachen bzw. 
Hilfsstationen mit Krankenfahrbahren ausgestattet unterhält 
der Verein an 7 Orten. Bei der Verteilung der Fahrbahren war 
in erster Linie das praktische Bedürfnis nach der jeweiligen Dichte 
der Bevölkerung und der Häufigkeit der benötigten Transporte 
massgebend. Drei Sanitätswachen sind ausserdem mit einem Entleih- 


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Dr. Ernst Joseph, 


depot für Krankenpflegeartikel versehen. Hilfsstationen, ohne 
Krankenfahrbahre, nur mit Verbandschränken ausgerüstet, zählt 
der Verein ebenfalls 7. In einzefnen Orten wurde bislang von 
der Errichtung besonderer AVachen und Hilfsstationen abgesehen. 
Dafür sind aber dortselbst wohnenden Samaritern für bedeutendere 
Unfälle grosse Verbandkästen zur Verfügung gestellt worden.“ 

Sehr richtig bemerkt Herr Dr. Teiche am Schlüsse seiner Aus¬ 
führungen : 

„Das Ideal muss sein, über unser ganzes engeres und weiteres 
\ 7 aterland ein so dichtes Netz wohlorganisierter Samaritervereine 
in Stadt und Land auszuspannen, dass ein \ r erunglückter oder 
Erkrankter jederzeit, wo immer es sei, der AVohltat geschulter 
Nothilfe und eines raschen, schonenden Transportes in kürzester 
Frist teilhaftig werden kann.“ 

Aehnliche Verhältnisse wie auf dem flachen Lande Anden wir in 
den kleinen Städten. Die Träger des Rettungswesens werden auch 
hier meistens die Samariterorganisationen bilden. Die Zentrale des 
Rettungswesens wird in kleinen Städten an diese oder an die Orts¬ 
polizei anzugliedern sein. Von hier aus erfolgt die Requirierung der 
Rettungsmannschaften, Samariter, Feuerwehr, Transportgeräte, sowie 
die der Aerzte. 

Etwas anders liegen die A T erhältnisse in grösseren Städten, ins¬ 
besondere in den Industrievierteln. Die Zentralisierung kann hier 
entweder in der Hand der \ 7 erwaltung oder einer humanitären Orga¬ 
nisation, welche diesen Zwecken dient, liegen. In jedem Falle muss 
verlangt werden, dass die Aerzte mit der Zentrale in geregelter Ver¬ 
bindung stehen. — Die ersten Stellen, welche berufsmässig Hilfe zu 
leisten haben, sind in grösseren Orten und in Industrievierteln die 
Krankenhäuser. Dieselben sollen, und das ist ein Erfordernis, dem 
noch lange nicht allenthalhen entsprochen worden ist, so eingerichtet 
sein, dass sie zur Leistung erster Hilfe bei Unfällen jederzeit auch 
nach ausserhalb bereit sind. Es muss in jedem Krankenhause zum 
mindesten ein Arzt sein, welcher auf Requirierung, mit dem nötigen 
Rettungsmaterial ausgerüstet, sofort an die Unfallstelle eilen kann. — 
Da bei grösseren Unglücksfällen die Hilfeleistung eines Krankenhaus¬ 
arztes nicht ausreichend ist, so sind Vorkehrungen zu treffen, dass 
andere Aerzte schnell an die Unfallstelle entsandt werden können. 

Es empfiehlt sich für mittlere Orte, dass die praktizierenden 
Aerzte, soweit sie dazu bereit sind, angeben, zu welcher Zeit sie auf 


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Die ärztliche Organisation bei Unfällen. 


353 


Anruf in der Lage sind, sofort bei einem Unfall Hilfe zu leisten. 
Es ist natürlich erforderlich, dass die Aerzte in der Zeit, welche sie 
angegeben haben, sich auch tatsächlich dafür bereit halten. Es muss 
ihnen dies geradezu zur Pflicht gemacht werden, denn nur so ist auf 
ein sicher funktionierendes Rettungswesen zu rechnen. 

Für mittelgrosse Orte ist die Beteiligung der Aerzte in ihrer 
Gesamtheit am Rettungsdienst notwendig, denn bei einer kleineren 
Anzahl von Aerzten kann nur eine möglichst grosse, ja vollzählige 
Beteiligung derselben eine genügende Gewähr für dauernde Aufrecht¬ 
erhaltung des Wachdienstes bieten. 

Ich komme jetzt zu den Grosstädten. Die Zentralstelle ist 
natürlich hier noch notwendiger, wie sonst. Bestimmte Vorschriften, 
wie und wo diese Zentralstelle in der Grosstadt einzurichten ist, 
lassen sich schwer geben. Hier müssen die historische Entwicklung 
und die lokalen Verhältnisse entscheidend sein. Ist das Rettungs- 
■wesen eine öffentliche Einrichtung der Stadt, so wird die städtische 
Verwaltung die Pflicht haben, die Zentralstelle zu bilden. Machen 
dagegen andere Faktoren das Rettungswesen aus, wie das Rote Kreuz, 
Sanitätskolonnen, Samariterorganisationen usw., so ist auch die Ein¬ 
richtung einer Zentralstelle im Rahmen dieser Korporationen möglich 
und durchführbar. Allerdings scheint es a priori wünschenswert, 
wenn die Verwaltung grosser Städte nicht abseits steht und wenn 
irgend möglich die Zentralstelle für das Rettungswesen selbst ein¬ 
richtet und leitet, schon mit Rücksicht darauf, dass der Zusammen¬ 
hang mit den grossen Krankenhäusern so am besten gewahrt bleibt, 
denn das liegt im Interesse der Verletzten. Mit der Zentralstelle 
verbunden oder ihr angegliedert soll der Krankentransport sein. Im 
übrigen verlangen die Grosstädte, wie vorhin beim flachen Lande an¬ 
geführt, eine Dezentralisation der Rettungseinrichtungen, d. h. es muss 
eine Reihe den örtlichen Verhältnissen entsprechend verteilter Stationen 
für erste Hilfe vorhanden sein. 

Für Grosstädte kommen als Rettungsstationen, wie schon erwähnt, 
in erster Linie die Krankenhäuser in Frage. Dass diese indessen 
nicht genügen, ist eine anerkannte Tatsache. Einmal sind sie meist 
nicht gleichmässig genug über die Stadt verteilt; häufig, ja zumeist 
liegen sie an der Peripherie der Orte und fehlen an den Verkehrs¬ 
und Industriezentren. Es wird also immer noch besonderer Wachen 
bedürfen. In Berlin ist die Notwendigkeit, solche Wachen einzu¬ 
richten, zuerst von den Berliner Unfallstationen erkannt worden. 


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Dr. Ernst Joseph, 


Man kann aber nirht leugnen, dass auch die Krankenhäuser hin¬ 
sichtlich der Ausübung des Rettungsdienstes vielfach noch recht reform¬ 
bedürftig sind. Vor allem muss jede Krankenhausverwaltung dafür 
sorgen, dass mindestens ein Arzt jederzeit für diesen Zweck zur Ver¬ 
fügung steht. Niemals darf ein Krankenhaus, wenn es als ein Faktor 
im Rettungswesen gelten will, Hilfe bei Unglücksfällen innerhalb und 
ausserhalb verweigern. Es ist aber noch gar nicht lange her, dass 
man selbst in Berlin in manchen Krankenhäusern auf einem anderen 
Standpunkt stand und auf Anruf erklärte, nach ausserhalb ginge man 
nicht. Auch ich bin indessen der Ansicht, dass die Krankenhäuser, 
wenn sie in der richtigen Weise organisiert sind, in erster Linie dazu 
berufen sind, Hilfe zu leisten. Ausser ihnen braucht aber die Gross¬ 
stadt noch besonders Unfallstationen, Wachen, oder wie sie sonst 
heissen mögen. Diese müssen beständigen ärztlichen Dienst haben, 
und jederzeit innerhalb und ausserhalb der Wache Hilfe leisten. 

Die Frage der Beteiligung der Aerzte an dem Wachdienst in 
den Stationen hat vielfach zu Meinungsverschiedenheiten Anlass ge¬ 
geben. In der einen Grosstadt (Berlin) besteht eine besondere ärzt¬ 
liche Rettungsgesellschaft, welche das Prinzip hat, jeden Arzt, der 
sich meldet und dazu bereit ist, am Dienst in den Wachen teilnehmen 
zu lassen. Eine andere Grosstadt (Wien) hat das entgegengesetzte 
Prinzip durchgeführt. Die Wiener freiwillige Rettungsgesellschaft hat 
festangestellte Aerzte, sog. Funktionäre, welche im wesentlichen nichts 
anderes sind, als Aerzte des Rettungswesens. In Berlin hat bekanntlich 
die Verschiedenheit der Anschauungen zu einem langjährigen Kampf 
zwischen zwei derartigen Korporationen geführt, welcher aber seit 
einiger Zeit durch das Eingreifen der Stadtverwaltung beigelegt ist. 

Welches Prinzip ist das richtige? Ich meine, das richtige liegt, 
wie so häufig, in der Mitte. Die Gesamtheit der Aerzteschaft einer 
Millionenstadt wird niemals bereit sein, sich am Rettungswesen zu 
beteiligen. Die Zahl der wirklich zur Verfügung stehenden Aerzte 
stellt doch nur einen Bruchteil der vorhandenen dar, indem die bei 
weitem grössere Zahl durch ihre Tätigkeit in der Praxis nicht in der 
Lage ist, sich dem Dienst auf Rettungswachen zu widmen. Falsch 
erscheint es mir, nun aus dem Grunde die Beteiligung aller Aerzte 
zu verlangen, damit diesen Gelegenheit zur Beschäftigung geboten 
wird. Das Rettungswesen und seine Einrichtungen sind öffentlicher 
Art. Wenn ein Unfall in der Grossstadt passiert, so ist der Verletzte 
nicht in der Lage, sich den Arzt seiner Wahl auszusuchen, sondern 


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Die ärztliche Organisation bei Unfällen. 


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wird in eine dieser Hilfsstellen gebracht, und dort empfängt er die 
erste Hilfe. Man muss deswegen von derartigen Einrichtungen ver¬ 
langen, dass die Aerzte, welche in ihnen beschäftigt sind, von der 
ersten Hilfe auch wirklich etwas verstehen. Das kann nur dann der 
Fall sein, wenn ihnen genügende Gelegenheit zur Betätigung auf diesen 
Wachen geboten wird, und wenn sie genügend ausgebildet werden. 
Bringt ein Arzt nur wenige Stunden in der Woche einmal auf einer 
Wache zu, so kann er nicht die Hebung haben, wie ein solcher, der 
täglich 4—5 Stunden dort tätig ist. In Wien hat man meines Er¬ 
achtens dies ganz richtig erkannt und darum für die öffentlichen 
Hilfsstellen nur bestimmte Aerzte gewonnen. Andererseits hat es 
aber auch eine Berechtigung, die Aerzte in grösserem Umfang am 
Rettungswesen zu beteiligen; denn wird ihnen nicht Gelegenheit ge¬ 
boten, sich in der Praxis mit diesem Gebiet vertraut zu machen, so 
wird die erste Hilfe schliesslich nur Privilegium einiger weniger Aerzte 
und die Ausbildung der Allgemeinheit auf diesem Gebiet muss zu 
wünschen übrig lassen. Es liegt daher im Interesse der ärztlichen 
Fortbildung, dass möglichst vielen Aerzten Gelegenheit geboten wird, 
sich noch praktische Kenntnisse in der Leistung der ersten Hilfe zu 
verschaffen. 

Die Berücksichtigung dieser verschiedenartigen Gesichtspunkte 
bei der Organisation der Stationen ist nicht ganz leicht. 

Nach meinen Erfahrungen empfiehlt es sich, in Grossstädten bei 
dem Rettungswesen eine nicht zu grosse Anzahl von Aerzten zum 
Dienst heranzuziehen. Dieselben müssen unbedingt in einem mehr¬ 
stündigen Turnus den Wachdienst versehen. Wenn sie in einer 
kürzeren Zeit als 2 Stunden abgelöst werden, so scheint mir hierin 
keine genügende Gewähr für das sichere Funktionieren des Rettungs¬ 
systems zu liegen. 

In welcher Weise die Aerzte für den Rettungsdienst gewonnen 
werden, ist eine sekundäre Frage. Am natürlichsten erachte ich es, 
wenn eine ärztliche Zentralstelle vorhanden ist, bei welcher sich die¬ 
jenigen Aerzte, welche willens und geeignet sind, auf Wachen Dienst 
zu tun, melden, und von welcher aus die Aerzte auf die Wachen 
verteilt werden. Diese Zentralstelle muss die Aerzte der Reihenfolge 
nach zum Dienst heranziehen. Den Wünschen der einzelnen Aerzte 
bezüglich der Oertlichkeit der Wache und der Zeit ist nach Möglich¬ 
keit Rechnung zu tragen und der Dienst im ganzen einheitlich zu 
regeln. Diese Zentralstelle muss auch gleichzeitig diejenige Instanz 


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Dr. Ernst Joseph, 


sein, welche den Rettungsdienst überwacht. Ihr muss die unbedingte 
Leitung zustehen und das Recht, Missstände, welche zutage treten, 
sofort abzustellen. Diese Zentralstelle kann entweder aus einem oder 
mehreren ärztlichen Persönlichkeiten oder aus dem Vorstand eines 
besonders den Zwecken des Rettungswesens dienenden Vereins ge¬ 
bildet werden, welchem jeder Arzt angehören kann, der sich am 
Rettungswerk beteiligen will. Dagegen halte ich es für nicht zweck¬ 
mässig, wirtschaftliche oder Standesvereine, welche allgemeine ärzt¬ 
liche Interessen verfolgen, um den Nachweis von Aerzten für den 
Rettungsdienst anzugeben, wie dies vielfach verlangt worden ist. 

Die ganze Frage, wer in einer Grossstadt die Aerzte für das 
Rettungswesen organisiert, erscheint mir übrigens von untergeordneter 
Bedeutung. Das wichtigste ist, dass der Dienst ständig und gewissen¬ 
haft ausgeführt wird und sich in den Rahmen des gesamten Rettungs¬ 
wesens einfügt. Nur so kann die ärztliche Organisation das leisten, 
was man heute mit Recht von ihr bei Unfällen und Massenunglücks¬ 
fällen verlangt. 

Ich schliesse meine Ausführungen mit der Aufstellung folgender 
Leitsätze: 

1. Der Arzt ist der Träger des sanitären Rettungswesens. 

2. Die Tätigkeit des Arztes bei Unfällen und Massenun¬ 
glücksfällen muss sich, wenn sie erfolgreich sein will, 
in den Rahmen der übrigen zum Rettungsdienst not¬ 
wendigen Einrichtungen in sachgemässer Weise ein- 
fügen. 

3. Die Hilfeleistung des Arztes bei Unfällen und Massen¬ 
unglücksfällen erfordert Kenntnisse und Fertigkeiten, 
welche während der Studienjahre oder, falls eine prak¬ 
tische Uebungszeit vorgeschrieben ist, während dieser 
durch besonderen Unterricht erworben sein muss. 

4 . Die ärztliche Organisation hat sich den örtlichen Ver¬ 
hältnissen anzupassen. Ueberall auf dem Lande wie in 
den Städten soll eine Zentralstelle für das Rettungs¬ 
wesen vorhanden sein, von welcher die Aerzte bei Un¬ 
fällen und Massenunglücksfällen alarmiert werden. 

5. In den Krankenhäusern ist der ärztliche Dienst be¬ 
sonders zu organisieren. Auch die Aerzte der Kranken¬ 
häuser müssen bei Unfällen innerhalb und ausserhalb 
des Krankenhauses sofort Hilfe leisten. 


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Die ärztliche Organisation bei Untällen. 


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6. Grossstädte und Industriezentren bedürfen zur Hilfe bei 
Unfällen und Massenunglücksfällen ausser den Kranken¬ 
häusern besonderer mit beständigem örtlichen Dienst 
versehener Rettungsstationen, welche den ärztlichen 
Bedürfnissen entsprechend über das Weichbild der 
Stadt verteilt sind. 

7. In jeder Rettungsstation soll ständiger ärztlicher Wach¬ 
dienst von einer Anzahl bestimmter Aerzte unterhalten 
werden, von denen jeder mehrere Stunden hinterein¬ 
ander tätig ist. Die wachhabenden Aerzte auf diesen 
Stationen unterstehen einer ärztlichen Zentralstelle. 


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10 . 


Zur Verhütung des Entstehens yon Unfallneurosen. 

Von 

Dr. Alfred Jacoby, Gross-Lichterfelde. 


Die Beurteilung von Massregeln, welche dazu dienen können, den naoh Un¬ 
fällen bei Unfallversicherten vorkommenden allgemeinen nervösen Störungen mög¬ 
lichst vorzubeugen, wird von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehen und zu ver¬ 
schiedenen Ergebnissen führen müssen, je nachdem das Bedürfnis des Klinikers 
oder des Verwaltungsbeamten in Betracht kommt. 

Der Arzt als Kliniker wird und muss das Verlangen haben, dem Verletzten 
als Individuum zu helfen, ihm in dessen eigenem Interesse die drohende nervöse 
Erkrankung zu ersparen. Seine Massnahmen müssen entsprechend individuelle 
sein. Sie werden sich z. B. auf körperliche Kräftigung, psychische Beeinflussung, 
Ueberleitung zu einem anderen Beruf usw. beziehen, aber sie werden immer von 
dem einzelnen Kranken selbst ihren Ausgang nehmen. 

Der Arzt als Verwaltungsbeamter hingegen ist vorpflichtet, vor allem das 
Interesse der Allgemeinheit, in diesem besonderen Falle das Interesse der allge¬ 
meinen Arbeiterwohlfahrt wahrzunehmen. Seine Massregeln müssen zu verhindern 
suchen, dass durch eine unverhältnismässige Zunahme der nervösen Störungen 
nach Unfällen die Mittel der Unfallversicherung für einen Bruchteil der Verletzten 
zu ungunsten anderer in ungebührlicher Höhe in Anspruch genommen werden. Er 
muss ferner, was vielleicht noch wichtiger ist, möglichst verhüten, dass auf Grund 
des eigenartigen, seelischen Anteils an der Entstehung dieser Störungen durch 
(bewusste oder unbewusste) Nachahmung der Krankheitserscheinungen immer 
grössere Kreise von Versicherten an ihrer psychischen Widerstandsfähigkeit Schaden 
nehmen, und daduroh der Arbeitswert und die sittliche Höhe der zahlreichsten Be¬ 
völkerungsklasse eine bedenkliche Minderung erfährt. 

Seine Aufgabe grenzt damit an die entsprechende der eigentlichen Ver¬ 
waltungsbehörden, welche in .einer Entscheidung des Reichsversicherungsamts 1 ) 
mit den Worten gekennzeichnet wird: „Es ist die ernste, im dringenden Interesse 
der Arbeiterschaft selbst wie des Volksganzen liegende Aufgabe der Rechtsprechung, 
alle verfügbaren Mittel anzuwenden, um ungerechtfertigten Einflüssen der Begehr¬ 
lichkeit auf die Rentenbewilligungen nach Möglichkeit entgegenzutreten. Die Ver- 


1) Amtl. Nachr. d. R.-V.-A. XXIII. 1907. S. 466. 


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Zur Verhütung des Entstehens von Unfallneurosen. 


359 


nachlässigung dieser Pflicht würde mit Notwendigkeit zur Erschlaffung der Arbeits¬ 
freudigkeit und des sittlichen Verantwortlichkeitsgefühls in den Kreisen der nicht 
mehr voll erwerbsfähigen Versicherten und damit gleichzeitig zu einer Schädigung 
der Volkskraft führen.“ 

Eine wirksame Bekämpfung des Uebels muss sich also beider Wege, des 
medizinischen, wie des verwaltungstechnischen bedienen; sie muss begründet sein 
auf einer eingehenden Prüfung der Ursachen, welche die Erkrankung hervorrufen 
können, und diese Untersuchung wird zugleich einen Massstab dafür abgeben, 
welche Mittel des einen und des anderen Gebietes zur Erreichung des Zieles aus- 
sichtsvoll erscheinen. 

Zuvor dürfte es aber angezeigt sein, den Begriff der „allgemeinen nervösen 
Störungen“ schärfer zu fassen. Eine Begrenzung empfiehlt sich namentlich aus 
praktischen Zwecken, um von vornherein aus dem Gebiet der „allgemeinen ner¬ 
vösen Störungen“ alle diejenigen Krankheitsformen auszuscheiden, deren Verhütung 
der Natur der Sache nach voraussichtlich unmöglich ist. Als solche stehen auf 
der einen Seite die nach Verletzungen vorkommenden Geistesstörungen, auf der 
anderen die symptomatisch auftretenden nervösen Beschwerden bei schweren orga¬ 
nischen Veränderungen. 

Dass das Auftreten von Geistesstörungen im eigentlichen Sinn, seien es (nach 
Ziehens Einteilung) Früh- oder Spätpsychosen, nach Unfällen nicht verhütet 
werden kann, liegt auf der Hand und bedarf keiner eingehenden Erörterung. Etwas 
anders verhält es sich mit der traumatischen, psychopathischen Konstitution. Sie 
bildet offensichtlich fliessende Uebergänge zu den nervösen Störungen im engeren 
Sinne. Ihre Bekämpfung fällt also mit den zu besprechenden allgemeinen Vor- 
beugungsmassregeln zusammen, wobei im Einzelfall zu entscheiden wäre, ob eine 
etwa schon vor dem Unfall vorhanden gewesene Prädisposition vermutlich den Er¬ 
folg vereiteln wird, oder umgekehrt eine gesunde psychische Grundlage ihn wahr¬ 
scheinlich macht. 

Die Verhütung der traumatischen Psychosen spielt aber auch aus dem Grunde 
keine erhebliche Rolle, weil sie selten auftreten. Thiem (107) führt an, dass sich 
unter 18606 Geisteskranken nur 2 1 /, pCt. Unfallpsychosen fanden, und andere 
geben sogar noch niedrigero Beteiligungsziffern an. 

Andererseits ist es zweckmässig, auch diejenigen nervösen Störungen aus der 
Besprechung auszuscheiden, welche symptomatisch zu einer organischen Ver¬ 
letzung hinzutreten können, z. B. Schwindel, Kopfschmerzen usw. nach einer 
traumatischen Hirnblutung, oder ausstrahlende Sohmerzempfindungen, Krämpfe, 
welche auf die druckempfindliche Narbe eines Amputationsstumpfes oder dergl. 
zurückzuführen sind. Auch das ganze Gebiet der Jacksonschen Epilepsie, so¬ 
weit sie auf Trauma beruht, gehört hierher. Hier bilden offenbar die nervösen 
Störungen, selbst wenn sie sich über verschiedene Gebiete des Nervensystems er¬ 
strecken, nur Begleiterscheinungen eines körperlichen Krankheitszustandes und 
sind von diesem an Stärke und Ausdehnung abhängig. 

Sie erheben sioh nicht zum Range eines selbständigen nervösen Allgemein¬ 
leidens und sind in ihrer Entstehung unbeeinflussbar, soweit nicht das organische 
Grundleiden selbst behoben werden kann. Aber dass es auch auf diesem Felde 
Uebergänge gibt, dass mindestens für einen Teil der Unfallsnervenkrankhciten im 

Yierteljahrsaehrift f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 2. 

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360 


Dr. Alfred Jacoby, 


engeren Sinne eine organische Grundlage nicht ausgeschlossen ist, dass es im 
konkreten Falle sehr zweifelhaft sein kann, ob beginnende nervöse Erscheinungen 
bei einem Verletzten organisch oder funktionell begründet sind, oder ob sie von 
dem organischen auf das funktionelle Gebiet überleiten, ist ohne weiteres zuzu¬ 
geben, und insoweit wird auch bei dieser Art von Erkrankungen der Versuch der 
Vorbeugung gemacht werden, werden auch sie mit ihrer Aetiologie berücksichtigt 
werden müssen. 

Die allgemeinen nervösen Störungen beschränken sich demnach wesentlich 
auf die Zustände der traumatischen Neurasthenie, einschliesslich der hypochon¬ 
drischen Abart, der Hysterie und ihrer Mischformen und der traumatisch entstan¬ 
denen, aber nicht durch lokale Veränderung bedingten Epilepsie, welche auch 
Binswanger (11) zu den traumatischen Nervenkrankheiten rechnet. Aber auch 
diese letztere Erkrankung scheidet aus der Reihe derjenigen Neurosen aus, deren 
Erörterung Anhaltspunkte zur Bekämpfung ihrer Entstehung liefern kann. Tritt 
die epileptische Veränderung nach einem Unfall auf Grund einer bestehenden kon¬ 
genitalen oder erworbenen Prädisposition auf, sodass der Unfall nur als auslösendes 
Moment zu betrachten ist, so liegt die Verhütung derartiger Krankbeitsformen auf 
dem Gebiete der Bekämpfung der allgemeinen nervösen Prädispositionen. Ist aber 
eine Prädisposition nicht erkennbar, so gestattet weder Art und Ort der Verletzung, 
noch irgend ein Symptom des Heilungsprozesses die Vorhersage, ob eine etwa ent¬ 
stehende Neurose sich als Epilepsie entwickeln wird. Soweit eine Neurose indi¬ 
viduell überhaupt durch Ruhe, Kräftigung, Regelung der Diät und der körper¬ 
lichen und geistigen Lebensweise usw. verhütet werden kann, erfordert auch die 
Vorbeugung der Epilepsie keine anderen Massregeln. Wenn es aber gestattet ist, 
jetzt schon vorwegnehmend zu erwähnen, dass die Beeinflussung der traumatischen 
Neurasthenie und Hysterie durch psychische Mittel am wirkungsvollsten ihre Ent¬ 
stehung zu verhüten vermag, so versagen diese letzteren bei der Epilepsie durch¬ 
aus. Zwar erwähnt Vorkastner (109) eine Angabe Oppenheims, dass „manche 
Kranke sich nach Eintritt der Aura noch mit Aufbietung aller Kräfte bei Bewusst¬ 
sein erhalten und den Anfall so durch einen Willensakt coupieren können.“ Man 
könnte also vielleicht versuchen wollen, durch Stärkung der auf die Verhinderung 
des Anfalles gerichteten Vorstellungen die Anfälle zu unterdrücken; dazu gehört 
aber zunächst, dass bereits die Erkrankung eingetreten ist, es würde sich also um 
einen Heilungs-, nicht um einen Vorbeugungsversuch handeln. Aber ausserdem 
kann man wohl unbedenklich annehmen, dass diese Möglichkeit der Coupierung 
ausserordentlich selten ist, sodass in der grossen Mehrzahl der Fälle von Epilepsie 
„die Psychotherapie den epileptischen Anfällen als solchen gegenüber ganz 
wirkungslos“ ist (121). 

Kann man somit in den verschiedenen Formen der traumatischen Neurasthenie 
und Hysterie im wesentlichen jene allgemeinen nervösen Störungen nach Ver¬ 
letzungen erblicken, so stösst die Verwertung ihrer ursächlichen Momente als 
Material für Vorbeugungsmassregeln sofort auf eine neue Schwierigkeit, auf die 
Frage, ob und in welchem Masse die Erscheinungen dieser Neurosen vorgetäuscht 
werden können und vorgetäuscht werden. 

Damit kommen neben den rein klinischen Betrachtungen rechtliche und sozio¬ 
logische zur Geltung. 


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Zar Verhütung des Entstehens von Unfallnearosen. 


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Die Vortäaschung von Krankheitserscbeinungen kann, von wenigen Aus¬ 
nahmen pathologischer Eitelkeit usw. abgesehen, im wesentlichen nur da von Be¬ 
deutung sein, wo es sich um die Erreichung von persönlichen und zwar meist 
materiellen Vorteilen bzw. Abwendung von Nachteilen handelt. Die Vorteile, welche 
die Unfallgesetzgebung den Verletzten bietet, sind vor allen Dingen Renten; und 
die Vortäuschung von Krankheit bei einem Unfallversicherten bedeutet demnach 
fast immer die widerrechtliche Erstrebung von Rente. 

Es ist ja ohne weiteres klar, dass der Nachweis, dass eine solohe Vorspiege¬ 
lung auch nur einigermassen häufig ist, eher zu rechtlichen als zu medizinischen 
oder Verwaltungsmassregeln Veranlassung geben dürfte; und in dem Kampfe der 
Meinungen, der im letzten Dezenium des vorigen Jahrhunderts um die Berechtigung 
oder Nichtberechtigung der traumatischen Neurosen“, oder wie man in Rücksicht 
auf das integrierende Moment des damit verknüpften Verlangens nach Unfall¬ 
renten sagen müsste, „Unfallsneurosen“ tobt, forderte Seeligmüller (83—86) 
in mehreren Aufsätzen über die traumatischen Neurosen eine gerichtliche Be¬ 
strafung des Simulanten in Form der Freiheitsstrafe mit Arbeitszwang, Erstattung 
der Kosten und öffentlicher Bekanntmachung des Delikts. Dieser Vorschlag wurde 
zwar allgemein als zu weitgehend und undurchführbar abgelehnt, aber dass er 
überhaupt gemaoht werden konnte, beweist die Berechtigung, auch nach der Seite 
der Simulation und Uebertreibung hin das Gebiet der zu untersuchenden Krank¬ 
heitszustände abzugrenzen. 

Zur Unterscheidung über die Simulationsfrage wird man am sichersten 
kommen, wenn man die wissenschaftlichen Kämpfe um diesen Gegenstand historisch 
kurz verfolgt. 

Nachdem die ersten Autoren, welche nervöse Erkrankungen nach Verletzungen 
beschrieben (Erichsen, Westphal, Rieger u. a.) diese Erscheinungen als aus¬ 
schliesslich spinale, durch organische Veränderungen bedingte betrachtet hatten, 
gab Moeli durch eine Arbeit: „Ueber psychische Störungen nach Eisenbahn¬ 
unfällen“ (67) Veranlassung, sie auf ihre psychische Komponente zu prüfen. Be¬ 
sonders aber erklärte Charcot in „Neue Vorlesungen über die Krankheiten 
des Nervensystems“ (14) die nervösen Störungen nach Unfällen als rein psyohisch 
und zwar durch Vorstellungen bedingt. Aus der Annahme der „Vorstellung“ als 
alleiniger Causa efficiens heraus betrachtete er die Erkrankung als Hysterie. Der 
Charcotschen Theorie der psychogenen Entstehung schloss sich dann Oppen¬ 
heim in seiner Monographie (75) an, wenn er auch glaubte, diese als besonderes, 
eigenartiges Krankheitsbild von der Hysterie trennen zu müssen. 

Solange man an der organischen Entstehung der nervösen Erkrankungen 
nach Verletzungen festhielt, konnte der Gedanke an Simulation nur für krasse 
Ausnabmefälle auftauchen. Sobald man aber psychische, mehr oder weniger un¬ 
kontrollierbare Momente als die Ursache der Störungen zu betrachten begann, 
musste die Möglichkeit der Simulation oder mindestens der erheblichen Ueber¬ 
treibung ernstlich in Erwägung gezogen werden. 

Aber auch praktische Bedenken drängten die Simulationsfrage in den Vorder¬ 
grund. Die Einführung der Unfallversicherungsgesetze hatte in kurzer Zeit zahl¬ 
reiche Aerzte und Verwaltungsbehörden mit nervösen Krankheitsbildern nach Ver¬ 
letzungen bei Unfallversicherten bekannt gemacht, die vordem nur ganz vereinzelt 

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Dr. Alfred Jacoby, 


bei Leuten beobachtet worden waren, welche schweren Katastrophen, Eisenbahn- 
ud fällen usw. ausgesetzt gewesen waren. Es war nur gelegentlich in Betracht ge¬ 
zogen worden, dass mindestens ein Teil dieser Verletzten auch Entschädigungs¬ 
ansprüche auf Grund des Haftpflichtgesetzes oder privater Versicherungsverträge 
gestellt hatte. Man hatto also gar keinen zureichenden Grund zu der Vermutung 
haben können, dass die Krankheitserscheinungen mit eben diesen Ersatzansprüchen 
in irgend einem Zusammenhang stehen könnten. Nun aber machte man die Er¬ 
fahrung, dass angebliche Erwerbsunfähigkeit in vielen Fällen von Versicherten 
nach Unfallverletzungen behauptet wurde, deren objektiver Befund dieses Ver¬ 
langen durchaus nicht zu rechtfertigen schien, und die erfahrungsgemäss bei Nicht¬ 
versicherten eine nennenswerte Erwerbsbeschränkung nicht zu hinterlassen pflegten. 
Was war natürlicher als der Gedanke an Simulation oder grobe Uebertreibung 
zwecks Erlangung einer ungerechtfertigten Entschädigung? 

Oppenheims Monographie entfesselte also ausser einer lebhaften Diskussion 
über speziell neurologische Fragen auch einen scharfen, zum Teil persönlichen 
Kampf über das Thema der Simulation. Seeligmüller vertrat in den erwähnten 
Arbeiten, sowie in der Broschüre: „Die Errichtung von Unfallkrankenhäusern“ (82) 
am energischsten die Meinung der ausserordentlichen Häufigkeit der Simulation. 
Er nahm an, dass die Erkrankung in */ 4 — 1 / 3 der Fälle vorgetäuscht werde. 
Schultze unterstützte seine Ansicht (94) und J. Hofmann konnte sogar einen 
Fall anführen, in welchem ein Verletzter angeblich von einem Arzt gegen Entgelt 
in der Simulation unterrichtet worden war (36). Dagegen nimmt schon Albin 
Hoffmann (35) an, dass Simulation im allgemeinen nicht oft Vorkommen, bzw. 
nicht längere Zeit erfolgreich duichgeführt werden könne, und ebenso Möbius 
(68-69). 

Andererseits bemühte sich Oppenheim, naohzuweisen, dass die vonSeelig- 
müller u. a. behaupteten Fälle von Simulation in Wirklichkeit echte Neurosen 
gewesen seien. Alle diese Erörterungen führten schliesslich zu der Erkenntnis, 
dass beide Parteien über das Ziel hinausgeschossen hatten und statt weiter für 
oder gegen das Vorkommen der Simulation zu streiten, begann man das Vor¬ 
stellungsleben der Unfallverletzten im allgemeinen genauer zu analysieren und 
damit auch das psychologische Werden der seelischen Vorgänge zu untersuchen, 
die nach aussen als wirkliche oder scheinbare Simulation in Erscheinung treten. 

Indem Strümpell von den unmittelbaren sofortigen oder späteren seelischen 
Wirkungen des Unfalls (Schreck, Angst, Sorgen usw.) absah, rückte er in dem 
Aufsatz: „Ueber die Untersuchung, Beurteilung und Behandlung von Unfall- 
kranken“ (101), später auftauchende Vorstellungsreihen der Kranken als Erklärung 
der Krankheitsentwicklung und der Simulationsversuche in den Vordergrund. Er 
wies darauf hin, dass die Gedanken des Verletzten von den „Begebrungsvorstel¬ 
lungen“ beherrscht würden; die, zumeist ungebildeten, Verletzten hätten mangels 
genügenden Gesetzesverständnisses die Anschauung, dass der Unfall als solcher 
ihnen eine Rente, gewissermassen als Schmerzensgeld einbringen müsse; sie 
könnten garnicht von der Vorstellung loskommen, dass auf jeden Unfall eine ge¬ 
wisse Beschränkung der Erwerbsfähigkeit eintreten müsse, und ihr ganzer Ge¬ 
dankeninhalt gipfle sohliesslich in dem Streben nach der Erlangung eines ge¬ 
sicherten, mühelosen Einkommens, als eines ihnen zustehenden Rechtes; aber alle 


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Zur Verhütung des Entstehens von Unfallneurosen. 


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diese Vorstellungen und Wünsche seien nicht die Folge einer klaren, sachlichen 
Ueberlegung, sondern die Kranken ständen dabei selbst unter dem Zwange ihrer 
verworrenen Vorstellungen und Wünsche. 

Es ist klar, dass mit dieser Erklärung der Charakter der ganzen Erkrankung 
immer mehr von dem neurologischen auf das psychiatrische Gebiet verschoben 
wird. Wenn man zugibt, dass der ganze Gedankenablauf der Unfallverletzten, 
mindestens auf der Höhe der Krankheit, von einer oder wenigen überwertigen Vor¬ 
stellungen beherrscht wird, gegen die kontrastierende Hemmungen mehr und mehr 
wirkungslos werden, so ist der Uebergang von der Rentenhysterie zum Unfall- 
querulantentum nur ein Schritt; und es wäre schliesslich im konkreten Fall der 
Willkür überlassen zu entscheiden, ob die Grenze zur Psychose überschritten sei 
oder nicht. 

So haben sich denn allmählich die Meinungen dahin geklärt, dass eine Simu¬ 
lation selten und auf die Dauer kaum durchführbar ist, dagegen gehören „Ueber- 
treibungen zu den täglichen Beobachtungen des Unfallgutachters“ (76), oder wie 
Hoche (37) fortfährt: „Es ist menschlich durchaus verständlich, dass Unfall¬ 
verletzte .gegenüber der staatlichen Unfallversicherung.eine Art 

von Selbstschutz versuchen, indem sie zu den tatsächlich vorhandenen Beschwerden 
soviel hinzuaddieren, als nach ihrer Schätzung die Gegenpartei abziehen wird“. 

Mag man also die vorkommenden Uebertroibungen mehr oder weniger bewusst 
sich vollziehen lassen, so ist ihnen doch sicherlich ein lockerer oder festerer kau¬ 
saler Zusammenhang mit der psychischen Entstehung der Krankheitserscheinungen 
selbst nicht abzusprechen; sie sind in weiteren oder engeren Grenzen der Krank¬ 
heit zuzurechnen, und damit ist auch ihre Berücksichtigung bei dor Erörterung 
von Vorbeugungsmassregeln gerechtfertigt. 

Während so psychologisch ein Zusammenhang der Rentenhysterie mit den 
Uebertreibungen und dieser mit dem ursprünglichen Unfall und seinen unmittel¬ 
baren psychischen Folgen gegeben ist, fragt es sich, ob sich die Rechtsprechung 
dieser Anschauung angeschlossen hat, ob also das Auftreten allgemein nervöser 
Störungen nach einem Unfall als entschädigungspflichtige Beeinträchtigung der 
Erwerbsfähigkeit anerkannt wird. Anderenfalls fiele ein sehr wesentlicher Teil des 
öffentlichen Interesses an dem Auftreten dieser Störungen fort; man könnte sogar 
behaupten, dass abweisende Entscheidungen in dieser Beziehung geradezu als 
(unbeabsichtigte) Vorbeugungsmassregeln im Sinne der Abscbreckungstheorie 
wirken könnten. 

Das Reichsversicherungsamt verlangt in der Entscheidung Nr. 1972*) zur 
Begründung des Zusammenhanges zwischen Unfall und Nervenleiden, dass der 
Unfall an sich und seine Folgen wesentlich zur Entstehung und Entwicklung eines 
Nervenleidens beigetragen haben müssen: „Ein ursächlicher Zusammenhang kann 
aber nicht schon dann angenommen werden, wenn der Unfall selbst als wesent¬ 
liches Moment für d:^ Entstehung des Nervenleidens nicht in Betracht kommt und 
von dem Unfälle körperliche, die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigende Folgen nicht 
mehr vorhanden sind, der Verletzte indessen sich mit der Einbildung trägt, einen 
Anspruch auf Rente zu haben und dann deshalb, weil diesem eingebildeten An¬ 
spruch die rechtliche Grundlage versagt bleibt, durch die Bemühungen um Durch- 

1) Amtl. Nachr. d. R.-V.-A. Bd. XIII. 1903. S. 196. 


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364 Dr. Alfred Jacoby, 

Setzung des vermeintlichen Anspruchs ein Nervenleiden zur Entstehung und Ent¬ 
wicklung gelangt.“ 

In einer weiteren Entscheidung vom 30. 9. 1905 heisst es: „Liegt aber der 
Grund der vorhandenen Nervenschwäche nur in Einbildungen des Verletzten, so 
kann das vorhergegangene, geringfügige Unfallereignis für den Zustand des Klägers 
auch dann nicht verantwortlich gemacht werden, wenn der Kläger glaubt, sein 
Leiden auf diesen Unfall zurückführen zu müssen.“ 

Das Landesversicherungsamt für das Königreich Sachsen stellt in einer Ent¬ 
scheidung vom 20. 12. 02 ebenfalls strenge Ansprüche an den Beweis des ursäch¬ 
lichen Zusammenhangs zwischen Unfall und Neurose. 

Auch Strümpell bestreitet in einem Obergutachten (102) die Entschädi¬ 
gungspflicht der Berufsgenossenschaft einem Versicherten gegenüber, bei dem sich 
nach einer leichten Muskelzerrung eine schwere Neurasthenie entwickelt batte. Er 
betrachtet den Unfall nur als die Gelegenheitsursache, die den Verletzten zum 
Nachdenken darüber anrege, ob er nicht auf Grund derVerletzung Entschädigungs¬ 
ansprüche geltend machen könne. 

„In allen derartigen Fällen nun eine Unfallneurasthenie anzuerkennen und 
dem Betreffenden eine Rente zu bewilligen, erscheint uns als gänzlich unrichtig. 
Das würde dahin führen, und tatsächlich sind wir leider schon fast so weit, dass 
die Arbeiter für jeden überhaupt vorkommenden, noch so kleinen Unfall eine Rente 
beanspruchen. Denn in eine Unfallneurasthenie kann sich der Arbeiter, der über¬ 
haupt an Rentenansprüche denkt, sehr leicht hinoinreden.“ 

Wenn man auf dem strengen psychologischen Standpunkt steht, dass jede 
seelische Entwicklung das Ergebnis einer inneren Veranlagung und äusserer Um¬ 
stände ist, so muss man diese Entscheidungen anfechten. Die Tatsache der Be¬ 
einflussung des Seelenlebens durch dio, wenn auch nur in der Vorstellung vor¬ 
handenen Unfallfolgen ist nicht zu bestreiten, und dass gegebenen Falles diese 
Vorstellungen übertrieben ausgestaltet, dass entgegengerichtete Vorstellungen zur 
Ueberwindung der Beschwerden nicht gebildet oder unterdrückt worden sind, ist 
eben die Folge der abnormen psychischen Konstitution, die ebenso wenig einen 
Hinderungsgrund für die Anerkennung von Unfallfolgen abgeben dürfte, wie wenn 
die krankhafte körperliche Konstitution eines Versicherten eine Verschlimmerung 
von Unfallfolgen verursacht hätte. Iloche (37, S. 16) führt hierzu das schwere 
Bedenken an, „dass niemand imstande ist, zu entscheiden, wo beim Nachdenken 
über einen Unfall das Verschulden beginnt.“ 

Diese Einwändc sind theoretisch unzweifelhaft berechtigt. Aber unter dem 
Zwange des praktischen Bedürfnisses muss man die obigen Entscheidungen als 
gerechtfertigt bezeichnen. In den Fällen, welche zu den angeführten Entschei¬ 
dungen Veranlassung gegeben haben, handelte es sich durchweg um ganz gering¬ 
fügige Verletzungen, welche ohne nennenswerte Folgen geheilt waren (Muskel¬ 
zerrung, Fingerverletzung u. dergl.), aber angeblich nervöse Leiden verursacht 
hatten. Ob dieselben Verletzungen bei denselben nicht versicherten Individuen 
dieselben schweren Störungen hervorgerufen haben würden, lässt sich nicht ent¬ 
scheiden. 

Da aber unzählige ähnliche und selbst viel erheblichere Verletzungen ohne 
irgend eine Störung ausheilen, so muss man annehmen, dass die Erkrankung, 


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deren Tatsache an sich unbestritten ist, im wesentlichen auf eine abnorme 
seelische Konstitution zurückzuführen ist, und dass der Unfall selbst nur eine 
nebensächliche, auslösende Rolle gespielt, nur den von vornherein pathologisch 
veranlagten Vorstellungen die Richtung gegeben hat. In diesem Falle lässt sich 
aber die Erkrankung nicht als „Unfallsfolge“ in dem Sinne hinstellen, in welchem 
das Gesetz aus dem Grundsatz der Haftung heraus dem Unternehmer die Ent¬ 
schädigungspflicht aufbürden wollte. Diese Deutung der in Frage stehenden Fälle 
dürfte der Art ihrer psychologischen Entstehung näher kommen, als Wind- 
scheids etwas rigorose Annahme, dass dabei „die Hysterie nur als ein Mittel zum 
Zweck der Erlangung einer Unfallrente dient, oder der Kampf um die Rente ledig¬ 
lich das Moment ist, welches die Hysterie hervorgerufen hat“ (113). Bei jedem 
schwereren Unfall hingegen, und besonders bei Kopfverletzungen, wird ohne 
weiteres die Annahme wahrscheinlich sein, dass die nach gewiesenen nervösen 
Störungen durch die Schwere des Unfalls, bzw. der mit ihm verbundenen seelischen 
Erregung, wenn sie auch dann durch sekundär sich anschliessende Vorstellungs¬ 
reihen unterhalten und ausgebildet werden, hervorgerufen worden sind. Und in 
Grenzfällen hat bisher stets die Versicherungsrechtsprechung „in dubio pro minori“ 
entschieden. 

Die Summe der durch Unfälle hervorgerufenen nervösen Störungen wird also 
auch durch diese Entscheidungen nicht so wesentlich vermindert, dass nicht ander¬ 
weitige Massregeln zu erwägen blieben. 

Trotz des grossen Interesses, welches den Unfallneurosen entgegengebracht 
wurde und entgegengebracht wird, ist bisher selten versucht worden, ihr Vor¬ 
kommen zahlenmässig zu bestimmen. Obgleich nur eine genaue Statistik dieser 
Störungen nach Häufigkeit, Altersklassen, ßerufsarten, Art und Ort des Unfalls, 
Vorleben usw. eine sichere Grundlage für den Umfang und die Beurteilung der 
vorzuschlagenden Vorbeugungsmassregeln abgeben kann, begnügen sich die meisten 
Autoren mit allgemeinen Schätzungen. Windscheid (113, S. 118) spricht von 
der „schweren, sozialen Gefahr“, die das „Anwachsen der traumatischen Neurose 
in der Weise, wie es in den letzten zehn Jahren stattgefunden hat“, bedeutet; 
Ho che (1. c. S. 6) glaubt „den sehr bestimmten Eindruck einer gewaltigen Zu¬ 
nahme der nervösen Unfallsfolgen gewonnen zu haben“ und erwähnt eine Arbeit 
von von Zwiedineck-Südenhorst (122), nach welcher „bei gleichbleibender 
Todesziffer die Zahl der dauernd Erwerbsunfähigen von 19 auf 42 und der vor¬ 
übergehend Erwerbsunfähigen von 56 auf 113 gestiegen ist“. Andere stehen der 
angeblich starken Zunahme der Unfallneurosen skeptischer gegenüber. Wich- 
mann (111) hält die Zunahme für scheinbar, hervorgerufen durch die häufigere 
Erkennung infolge besserer Schulung der Aerzte. 

Zahlenangaben fehlen nicht ganz, sind allerdings z. T. nur schätzungsweise 
gewonnen. Wilmanns (117) berichtete in der Sitzung des AerztlichenVereins zu 
Hamburg vom 21. 4. 06 von 0,5 pCt. unter 2600 Verletzten. Dölloken (16) hat 
den Berichten einer Bernfsgenossenschaft, bei welcher 200000 Arbeiter versichert 
sind, die Angaben entnommen, dass an neuen Unfallentschädigungen anerkannt 
wurden: 

1887 0,3 pCt. 

1905 1 


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Dr. Alfred Jacoby, 


und dass Renten überhaupt erhielten: 


1887 0,7 pCt. 

1905 6 „ 

und schliesst aus der hohen Zahl der Rentenempfänger im Jahre 1905, dass diese 
Zunahme im wesentlichen auf die chronischen, unbeeinflussbar gewordenen Fälle 
von Unfallnervenstörungen zurückzuführen sei. 

Auch Schwechten (98) giebt hohe Zahlen für diese Erkrankung an. Nach 
seiner Angabe erkrankten im Jahre 1901 


an Unfallneurose 2773 Beamte 
„ Tuberkulose 141 „ 

Dieses Missverhältnis ist wohl darauf zurückzuführen, dass bei der An¬ 
stellung eines Beamten eine Erkrankung an, bzw. die Anlage zu Tuberkulose ver¬ 
hältnismässig leicht zu entdecken ist und die Anstellung verhindert, während der 
Vorbeugung gegen das Eintreten von Unfallneurosen, soweit eine solche überhaupt 
möglich ist, bisher weniger Beachtung geschenkt wurde. 

Nur zwei Arbeiten haben sich ausschliesslich oder vorwiegend mit der Statistik 
der Unfallneurosen beschäftigt. 

Biss (9) hat die Unfallakten der See-Berufsgenossensohaft und der Privat¬ 
bahn-Berufsgenossenschaft bearbeitet. Er liess als Unfallneurosen nur solche 
gelten, bei welchen die Erkrankung ausschliesslich auf den seelischen Shock 
zurückzuführen war und in engem, zeitlichem Zusammenhang mit dem Unfall auf¬ 
trat. Unter diesen Voraussetzungen fand er unter 9000 Unfällen der See-Berufs¬ 
genossenschaft in den Jahren 1901—1903 einen Fall von Unfallneurose; unter 
21783 Unfällen der Privatbahn-Berufsgenossenschaft in den Jahren 1889—1903 7 Fälle. 

Rechnete er dagegen die nervösen Störungen nach schweren Unfällen hinzu, 
bei denen eine organische Grundlage nicht mit unbedingter Sicherheit aus- 
zuschliessen war, so fand er unter den obigen 9000 Fällen 24 = 0,26 pCt an¬ 
scheinend funktionelle Neurosen. Biss hat den Begriff der Unfallneurose un¬ 
gewöhnlich eng gefasst, wenn er nur die nach schweren Verletzungen oder auf 
psychischen Schok hin unmittelbar einsetzenden Fälle berücksichtigte. Gerade 
die langsam auf Grund von Vorstellungen, Affekten und Suggestionen entstehen¬ 
den Neurosen scheinen die häufigsten und die verhältnismässig am leichtesten zu 
verhütenden Formen darzustellen. Merzbacher endlich hat: „Einige statistische 
Bemerkungen über Unfallneurosen“ (71) veröffentlicht, welche die Unfälle der 
Sektion IV der Süddeutschen Stahl- und Eisen-Berufsgenossenschaft behandeln. 
Merzbacher hat dieZählkarten derBerufsgenossensohaft daraufhin durchgesehen, 
ob nach einem anscheinend leichten Unfall längere Zeit hohe Renten gezahlt 
wurden. Die zu diesen verdächtigen Zählkarten gehörigen Akten prüfte er auf 
das Vorliegen von Unfallneurosen. Auf diese Weise fand er unter 1370 Unfällen 
der Jahre 1886—1898 13 = 0,9 pCt. Neurosen, wobei er untor „Neurosen“ alle 
funktionellen Erkrankungen verstand. Unter den 1370 Unfällen waren vertreten: 


Schwere Erschütterungen des 

ganzen Körpers. 10 

schwere Kopfverletzungen . 12 

leichte Kopfverletzungen . . 10 

peripherische Verletzungen . 1340 


Davon erkrankten an Unfallneurose: 

0 . 

5 = 41,7 pCt. 

2 = 20 „ 

6= 0,44 „ 


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Aber alle diese Angaben, so dankenswert ihre Veröffentlichung auch ist, sind 
weder einheitlich genug gewonnen, noch auch auf ein genügend grosses Material 
gestützt. Solange nicht eine Prüfung der Akten mindestens mehrerer grosser, in 
allen Teilen Deutschlands vertretener Berufsgenossenschaften nach einheitlichen 
Grundsätzen während eines längeren, 10 bis 20 Jahre umfassenden Zeitraums 
stattgefunden hat, lassen sich weder über die absolute Häufigkeit, noch über Zu- 
und Abnahme der Neurosen bestimmte Angaben machen. Solche wiederholte 
Zählungen sind die unerlässliche Vorbedingung zur Einführung von Vorbeugungs- 
massregeln und zur Prüfung ihrer Wirksamkeit. 

Nachdem im Vorhergehenden versucht wurde, den Begriff der allgemeinen 
nervösen Störungen nach Unfällen nach den Seiten der groben anatomischen Ver¬ 
änderungen, der Geistesstörungen und der Simulationen und Uebertreibungen ab¬ 
zugrenzen und die Häufigkeit des Vorkommens soweit wie möglich festzustellen, 
wird nunmehr eine genaue Prüfung der Ursachen, welche eine derartige Er¬ 
krankung hervorrufen können, stattfinden müssen, um auf Grund der gefundenen 
Resultate dann Vorbeugungsmassregeln und ihre vermutliche Wirksamkeit zu 
erörtern. 

Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass andere, nicht durch Trauma 
entstandene Neurosen vorwiegend bei solchen Individuen auftreten, deren Nerven¬ 
system, sei es durch ererbte Anlage, sei es durch erworbene Schädigungen, 
minderwertig in bezug auf seine Widerstandsfähigkeit gegen äussere Einflüsse ge¬ 
worden ist, und die Frage liegt nahe, ab auch bei Unfallneurosen eine solche 
Prädisposition in der Regel vorhanden oder gar Vorbedingung ist. Der exakte 
Nachweis der angeborenen Prädisposition wird allerdings nur ausnahmsweise zu 
erbringen sein. Einesteils wissen Leute aus den unfallversicherungspflichtigen 
Berufsständen auffallend wenig über die Erkrankungen und noch weniger über 
Charaktereigenheiten in ihrer Aszendenz, und dieses wenige ist meist ungenau. 
Wenn Tugendreich in einer Diskussion in der Gesellschaft für soziale Medizin, 
Hygiene und Medizinalstatistik in Berlin (108) unwidersprochen annehmen durfte, 
dass „es nahezu unmöglich sei, von einer längere Zeit verheirateten Frau eine 
auch nur einigermassen zuverlässige Angabe über die Zahl ihrer Aborte zu er¬ 
halten“, so trifft diese Annahme in noch viel höherem Masse auf die Erhebung 
anamnestischer Nachrichten über Nerven- oder Geisteskrankheiten der Familien¬ 
angehörigen zu; und einwandfreie Angaben über Eltern und Geschwister hinaus 
dürfte zu den Ausnahmen gehören. Aber auch in anderer Hinsicht ist das ana¬ 
mnestische Material mit grosser Vorsicht zu behandeln. Entweder fürchten die 
Leute durch das Zugeständnis von früheren, eigenen oder Familienerkrankungen 
die Wirkungen des Unfalls abzuschwächen und so ihre Rente zu gefährden; in 
diesem Falle werden sie eine ererbte oder erworbene Belastung möglichst dissimu¬ 
lieren; oder sie sind darüber aufgeklärt, dass ein prädisponiertes Nervensystem 
auch durch einen verhältnismässig geringfügigen Unfall schwer und dauernd ge¬ 
schädigt werden kann, und dass sie trotz der Prädisposition ein Anrecht auf Rente 
haben. Dann haben die Verletzten, namentlich wenn ein leichterUnfall sie betroffen 
hat, Interesse daran, sich als schwer belastet auszugeben, und ihre Angaben 
werden dementsprechend ausfallen. Eine Nachprüfung ist begreiflicherweise meist 
unmöglich. Auf jeden Fall liegt die Gefahr vor, dass die Erhebungen ein falsches 
Ergebnis haben. Ueber gewisse Punkte werden von den Verletzten im allgemeinen 


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Dr. Alfred Jacoby, 


verlässliche Angaben überhaupt nicht zu erlangen sein, nämlich über vorauf¬ 
gegangene Geschlechtskrankheiten und über den Alkoholmissbrauch; gerade diese 
Ursachen von Schädigungen scheinen aber sehr bedeutungsvoll für das Zustande¬ 
kommen von Neurosen zu sein. 

Die Prädisposition kann individuell oder sozial bedingt sein; ohne dass 
zwischen beiden Betrachtungsweisen übrigens eine scharfe Grenze gezogen werden 
kann. Viele individuelle Eigenschaften w’erden sich durch soziale Schäden er¬ 
klären lassen. Die Bedeutung der Prädisposition wird von keinem Autor 
bestritten, wenn ihr auch Windscheid (12) und Moebius (69) nicht allzu viel 
Wert beimessen. Andererseits nimmt Specht (91) an, dass eine krankhafte Ver¬ 
anlagung für das Entstehen von Unfallsnourosen Vorbedingung sei, weil „das 
Trauma einen Boden finden muss, auf dem es seine Wirkungen entfaltet“. 

Man ist wohl berechtigt, zwischen diesen Extremen einen Mittelweg ein¬ 
zuschlagen, und mit Oppenheim (75), Bruns (4—6), Strümpell (99) u. a. 
anzunehmen, dass eine um so schwerere Schädigung des Nervensystems schon vor 
dem Unfall bestanden haben muss, je grösser das Missverhältnis zwischen der 
Schwere des Unfalls und der Heftigkeit der Neurose ist. Schon eine leichte Ver¬ 
letzung, bzw. ein leichter psychischer Stoss werden bei schwer geschädigtem 
Nervensystem Folgen auslösen können, welche bei robusterer nervöser Konstitution 
nicht eingetreten wären. 

Von prädisponierenden individuellen Momenten wird vor allem die ererbte 
nervöse Minderwertigkeit angeführt. Eine solche kann ganz allein durch die 
Rasse gegeben sein. Sänger (79) (Monographie) bezeichnet nach seinen 
Erfahrungen die Polen als besonders „wehleidig“ und zur Neurasthenie geneigt. 
Blind (I. internationaler Kongress für Unfallheilkunde, Lüttich 1905, zitiert nach 
Hoche) sah „auf 905 Unfallverletzte unter den Elsässern 6 pCt. Männer und 
12pCt. Frauen nervös erkranken, während bei italienischen Männern der Prozent¬ 
satz 39 betrug“. Persönlich teilte mir Herr ProfessorWindscheid mit, dass nach 
seiner Erfahrung die Schlesier, Westpreussen und Posener zu Neurosen neigen, 
was wohl auf den stärkeren slawischen Einschlag dieser Bevölkerungsteile 
zu beziehen ist. „Im Wesen der Zeit“ liegt nach Wichmann (Ueber 
Suggestion und Autosuggestion Verletzter) „dieZunahme der nervösen Veranlagung. 
Die Geueigtheit des Nervensystems zu Erkrankungen infolge von Vorstellungen 
und Einbildungen ist . . . niemals so gross und allgemein gewesen, wie jetzt. 

Sachs und Freund (87) heben die Bedeutung der hereditären neuropatbi- 
schen Belastung hervor, welche als Degeneration der gesamten Familie in Form 
von nervöser Reizbarkeit, Hysterie, Epilepsie, Geisteskrankheit, Noigung zu Selbst¬ 
mord, zu Trunksucht, zu Verschrobenheit und Absonderlichkeiten auftritt“. 

So waren von 20 Unfallnervenkranken Albin Hoffmanns drei durch 
Epilepsie prädisponiert, zwei hatten geistesschwache Kinder, einer einen geistes¬ 
kranken Bruder. Gumpertz (32) weist daraufhin, dass der Degenerierte auch 
durch seine Charaktereigenschaften leichter der Neurose verfällt, als der Gesunde. 
Der Degenerierte wechselt infolge seiner Unbeständigkeit, seiner Launenhaftigkeit 
und Unverträglichkeit häufig die Arbeit, oder verliert sie bei Arbeiterentlassung 
früher als tüchtige Arbeitsgenossen; er lebt deshalb meist unter schlechteren 
wirtschaftlichen Verhältnissen; seine Zügellosigkeit verleitet ihn mehr als andere 


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Zur Verhütung des Entstehens von Unfallneurosen. 


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zu sexuellen und Alkoholexzessen; Konflikte in jeder Beziehung versetzen ihn 
häufiger als andere in Erregtheit und Spannung, in Zorn, Angst, Missmut. So 
tritt der Unfall (Gumpertz) als „ein schwächendes Moment mehr“ zu den schon 
vorhandenen. 

Ist der nervengesunde Arbeiter wenigstens mitunter imstande, dem Entstehen 
der Neurose Hemmungen entgegenzusetzen, die aus seinem Ehr- und Pflicht¬ 
gefühl, aus der Schätzung des idealen Arbeitswertes, event. auch aus nüchterner, 
rechnorischer Vergleichung des bisherigen Verdienstes mit der zu erwartenden 
Rente usw. hervorgehen, so sind für den Degenerierten derartige Hemmungen 
meist nicht vorhanden. In jeder Beziehung also ist die Gefahr der Neurose beim 
Degenerierten grösser als beim Nichtdegenerierten. 

Es würde zu weit führen, hier alle die bekannten Ursachen nervöser Minder¬ 
wertigkeit, wie familiäre Belastung, chronische Intoxikationen, Unterernährung 
usw., einzeln anzuführen, sei es, dass diese Schäden auf die Eltern, sei es, dass 
sie auf das heranwachsende Kind, oder auf den Erwachsenen einwirken. Nur 
einige seien näher behandelt, und unter ihnen steht die Gefährdung durch den 
Alkoholismus in erster Reihe. In der erwähnten Zusammenstellung von Albin 
Hoffmann waren von 20 Unfallnervenkranken 7 Alkoholiker. Die Trunksucht 
als vorbereitende Ursache der Neurose schuldigen ferner Bruns, Sachs und 
Freund, Hellpach (39), Gaupp (31) an. Oppenheim (Monographie) will 
zwar unter 42 Fällen nur einen Potator beobachtet haben; und auch Döllcken 
will dem Alkohol keine grosse Bedeutung beimessen. Aber es sei noch einmal 
darauf hingewiesen, dass fast kein Verletzter sich freiwillig als Säufer bekennt. 
Da andererseits fast jeder Arbeiter Schnaps geniesst, so ist es zwar, so lange 
nicht deutliche, körperliche oder geistige Symptome vorhanden sind, unmöglich, 
ihn als Alkoholiston zu bezeichnen, aber die schädigende Wirkung des Alkohols 
auf sein Nervensystem kann lange zuvor eingetreten sein, bevor das klinische Bild 
des Alkoholismus deutlich wird, und der Neurotiker damit statistisch als Alkoholist 
gezählt werden kann. Die bekannten Versuche über die Wirkung kleiner Alkohol- 
mengen von Kräpelin (52, 53) und seinen Schülern lassen diese Vermutung als 
durchaus gerechtfertigt erscheinen. Ich bin daher der Ansicht, dass dem Alkohol¬ 
missbrauch mehr Schuld an der Prädisposition zu Neurosen zukommt, als 
statistisch nachgewiesen werden kann und pflichte durchaus Leppmann (58) 
bei, der einen grossen Teil der Unfallneurotiker als nervös minderwertig durch 
Alkoholmissbrauch bezeichnet. Ebenso führt Dumstrey (15) drei dahingehörige 
Fälle auf, die in Alkoholabstinenz heilten, aber nach Rückfall in Trunksucht 
wieder auftraten. Auch Golebiewski (29), Löwenfeld (55) und Strassmann 
(106) kommen zu demselben Urteil. 

Neben dem Alkoholismus können dann noch alle Schädlichkeiten prädis¬ 
ponierend in Betracht kommen, welche den allgemeinen Kräftezustand des Körpers 
herabzusetzen imstande sind, also Tuberkulose und andere schwere Erkrankungen, 
besonders Syphilis. [Kowalewsky (47), Ueberanstrengung in körperlicher und 
geistiger Beziehung, übertriebener Tabakverbrauch.] Freund (22) und Wind¬ 
scheid (114) erwähnen auch noch die prädisponierende Wirkung früherer Unfälle, 
und im Hinblick auf die Tatsache, dass nach Unfällen, besonders nach Kopf¬ 
verletzungen, auch anderweitige Zeichen verminderter, nervöser Widerstandsfähig- 


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Dr. Alfred Jaooby, 


keit, z. B. Intoleranz gegen Alkohol, auftreten können, ist es leicht begreiflich, 
dass ein durch einen Unfall erschüttertes Nervensystem einem zweiten Unfall um 
so leichter zum Opfer fällt. Ferner gehören ungünstige Berufsverhältnisse in die 
Reihe der Momente, welehe den Ausbruch einer Neurose nach einem Unfall er¬ 
leichtern. Soweit diese ungünstigen Verhältnisse auf Ueberanstrengung oder ge¬ 
werbliche Vergiftung zurückgeführt werden können oder eine schlechte wirtschaft¬ 
liche Lage bedingen, sind sie bereits erwähnt; aber ganz besonders scheinen die 
mit einigen Berufsarten verknüpften ständigen, seelischen Reize zerstörend auf die 
nervöso Konstitution zu wirken [Sch uster (95)], so das Verantwortlichkeitsgefühl 
und die aufs höchste gespannte Aufmerksamkeit bei dem Botriebspersonal der 
Eisenbahnen und Strassenbahnen, bei den Bedienungsmannschaften wichtiger 
Maschinen, bei den für die Sicherheit und die ordnungsmässige Arbeit ihrer Rotte 
verantwortlichen Vorarbeitern usw. 

Beispiele seelischer Schädigung in dieser Beziehung führt Heilig (42) an. 
Er konnte von 574 Fällen = 8,9 pCt. nach den eigenen Angaben der Erkrankten 
auf die nervöse Ueberspannung durch Verantwortlichkeit znrückführen. Auch die 
notwendige, dauernde, intensive Aufmerksamkeit der Telephonistinnen ist als prä¬ 
disponierendes Moment für diese Beamtinnen zu beachten. 

Die Inanspruchnahme der nervösen Widerstandskraft durch seelische Vor¬ 
gänge scheint aber in noch höherem Masse und dauernd stattzullnden auf einem 
Gebiet, welches der weiteren Erschliessung dringend bedarf; nämlich auf dem des 
seelischen Verhältnisses des Arbeiters zu seiner Arbeit. Leubuscher und 
Bibrowitz (65) und Hellpach (39, 40) haben zuerst auf die Berufsneurastbenie 
des Arbeiters aus dieser Ursache aufmerksam gemacht. Wenn schon die Berufs¬ 
wahl auch der höheren Stände meist nicht oder nicht ausschliesslich nach der 
Neigung des Wählenden erfolgt, so ergreift die grosse Mehrzahl derArbeiterkinder 
die Beschäftigungsart nur unter dem eisernen Druck der äusseren Verhältnisse. 
Nicht die Freude an einem Beruf kann für sie massgebend sein, sondern die Not¬ 
wendigkeit, recht bald einen baren Verdienst aufweisen zu können. So wird höch¬ 
stens auf die mehr oder weniger kräftige Körperbeschaffenheit des Lehrlings Rück¬ 
sicht genommen, in der Hauptsache aber entscheidet die Möglichkeit, in dieser 
Fabrik oder in jener Werkstatt Arbeit zu finden, den Berufsweg. Und die Arbeit 
selbst wird, von einigen Berufen abgesehen, mehr und mehr eine rein mechanische 
Teilarbeit, in der im günstigsten Fall ein gewisses Virtuosentum in der stets 
gleichen Anfertigung eines und desselben Arbeitsstückes erworben wird. Die per¬ 
sönliche Anteilnahme des Arbeiters an seinem Werke, welches er begonnen und 
vollendet hat, konnte wohl im Kleinwerkstattsbetrieb früherer Jahrhunderte, nicht 
bei der Maschinenarbeit der Jetztzeit entstehen. Herkner gesteht in einerArbeit: 
„Die Bedeutung der Arbeitsfreude in Theorie und Praxis derVolkswirtschaft“ (41) 
der Arbeitsteilung so lange eine fördernde Wirkung auf das Seelenleben des 
Arbeiters zu, als „die auszuübende Tätigkeit den Charakter der Berufsspezialität 
behauptet, also eine Berufslehre voraussetzt u ; wo diese Grenze überschritten wird, 
und die Maschinenarbeit „gut bezahlte, interessante berufliche Leistungen an sich 
reisst und den Arbeiter zu ihrem Sklaven macht“, arbeitet der Arbeiter nur noch, 
um Brot zu haben. 

So, ohne innere Anteilnahme an seiner Arbeit, ohneAussicht, von der Arbeits¬ 
fessel früher loszukommen, als bis ihn Krankheit und Siechtum davon befreien, 


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sieht er grollend und missmutig auf die Besitzenden. Im steten Gefühl des Unbe¬ 
friedigtseins vergleicht er ihre Tätigkeit, deren Umfang und Wert er nicht zu 
schätzen versteht, mit der eigenen verhassten Arbeit, ihre Wohlhabenheit mit 
seinem geringeren Lohne, ihre Freiheit mit der notwendigen straffen Disziplin der 
Fabrikordnung. So gelangt er in lebenslanger unmutiger Spannung nie zum 
seelischen Gleichgewicht, pendelt er zwischen rohen Vergnügungen, politischer 
Verhetzung einerseits und der Oede seines Arbeitslebens hin und her. „Ueberall, 
wo geistig strebende, lebhaft denkende Menschen, noch dazu unter mässigen 
äusseren Verhältnissen, hoffnungslos unselbständig jahraus, jahrein eine schwere, 
die höchste Aufmerksamkeit erfordernde Arbeit ohne Wert für sie selbst leisten 
müssen, wird Neurasthenie gezüchtet.“ (Leubuscher und Bibrowitz). Diese 
Autoren beweisen die starke Verbreitung der Neurasthenie unter den Arbeitern 
durch statistische Erhebungen, wonach die Schriftsetzer 1 pCt. der Bevölkerung, 
dagegen 15,75 pCt. der in der Nervenheilanstalt Beelitz vertretenen neurasthenischen 
Berufsstände betragen. Bezüglich der Tischler lauten die entsprechenden Zahlen 
5 pCt. und 9,45 pCt. Heilig konnte allerdings von seinen 574 Fällen nur 12 
anamnestisch auf Mangel an Arbeitsfreudigkeit zurückführen. Er warnt davor, an 
die Psyche des Proletariers den Massstab des Gebildeten anzulegen. Trotzdem 
lässt sich meines Erachtens dieses Moment aus der Reihe der prädisponierenden 
Ursachen nicht mehr streichen. Damit gebt das Gebiet der individuellen in das 
der sozialen Prädisposition über. 

Die Geneigtheit des Arbeiters, sich wirklichen oder eingebildeten Besohwerden 
widerstandslos hinzugeben, die Unfähigkeit, nach Unfällen oder Erkrankungen 
durch Selbstzucht und Selbstbeherrschung denWeg zur Arbeit wiederzufinden, der 
Mangel an Selbstachtung, der die kärgliche Unterstützung durch eine Rente dem 
Verdienst duroh eigene Tätigkeit würdelos vorzieht, führt in letzter Linie auf die 
allgemeine wirtschaftliche Umwälzung der letzten 100 Jahre zurück. Es würde zu weit 
führen, auf die Ursachen dieser Umwälzung hier einzugehen. Eine ihrer Folgen 
aber war die Vernichtung zahlloser kleiner, wirtschaftlicher Einheiten zu Gunsten 
verhältnismässig weniger kapitalskräftiger Unternehmungen, von welchen jene 
wirtschaftlich abhängig wurden, die Umwandlung von selbständigen Handwerks¬ 
meistern und Gewerbetreibenden in Lohnarbeiter. Es mag davon abgesehen 
werden, ob das Einkommen dieser Menge gleichblieb oder vielleicht sogar grösser 
wurde. Psychologisch ausschlaggebend ist, dass sie mit dem Verlust ihrer Selb¬ 
ständigkeit gleichzeitig einen grossen Teil ihres Verantwortlichkeitsgefühls und 
ihres Pflichtbewusstseins einbüssten, während ihnen gleichzeitig unklare politische 
Anschauungen eingeimpft und politische Rechte überantwortet wurden, für welche 
beide sie nicht reif waren. Derselbe Mann, der als Handwerker sich wohl bewusst 
war, dass von seiner Geschäftstüchtigkeit, seiner Geschicklichkeit, seinem ganzen 
Auftreten nicht nur sein und seiner Familie Unterhalt, sondern auch das Weiter¬ 
bestehen seines Geschäfts, Kreditfähigkeit, seine soziale Stellung, die Achtung 
seiner Mitbürger abhing, sank als Fabrikarbeiter zu einem namenlosen Teil der 
grossen Summe „Arbeiterschaft“ herab. Wenn er seine oftmals rein mechanische 
Teilarbeit geleistet hatte, so war sein einziger Lohn der materielle, mehr oder 
minder grosse Arbeitsverdienst. Er hatte das niederdrückende Bewusstsein, dass 
ihm ein Mehr, sei es an Lohn, sei es an Stellung, über eine enge Grenze hinaus 
nicht erreichbar war; er hatte mit den Sorgen des selbständigen Mannes zugleich 


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Dr. Alfred Jacoby, 


seine Initiative zum Vorwärtsstreben, das Vertrauen auf die eigene Tüchtigkeit und 
den Stolz auf seine Arbeitsleistung verloren. Dafür fühlte er sich als Märtyrer der 
Gesellschaftsordnung, als der Enterbte, dem nach Fug und Recht der ganze Staat 
gehörte. Mit dem Untergang der kleinen Handwerksbetriebe hörten auch die bisherigen 
Beziehungen zwischen Meistern und Gesellen auf. Ohne behaupten zu wollen, dass 
dieses halb familiäre, halb auf Standesgemeinsamkeit begründete Verhältnis stets alle 
Missstände ausgeglichen und für beide Teile in gleicher sozialer Gerechtigkeit ge¬ 
wirkt habe, muss man doch anerkennen, dass es ein organisch erwachsenes Band 
der Zusammengehörigkeit um alle Glieder desselben Gewerbes und schliesslich um 
das ganze Handwerk legte. An seine Stelle trat die unpersönliche, politische, und 
zwar im wesentlichen die sozialdemokratische Partei, für die der einzelne ebenso¬ 
wenig existierte, wie für den Unternehmer, der die Masse als Angriffsmittel diente, 
wie dem Unternehmer als Arbeitsmittel. Den Parteiführern kam es nicht darauf an, 
den einzelnen Arbeiter in seiner sittlichen Widerstandskraft gegen die Unbilden 
des Lebens zu stärken, scino Individualität zu heben. Das hatte wohl im Interesse 
des Handwerksmeisters gelegen, der mit seinem Gosellen Seite an Seite arbeitete, 
mit ihm in engster häuslicher Gemeinschaft lebte, und von dem persönlichen Ein¬ 
druck, den sein Geselle in der Stadt, bei Fachgenossen, Kunden und Behörden 
machte, beinahe ebenso abhängig war, wie von seiner Arbeitsleistung. Der Partei 
dagegen war es gerade recht, wenn in der Seele des Arbeiters die Vorstellungen 
des Unterdrücktseins, der „Verelendung“, die Empfindungen des grundsätzlichen 
Misstrauens (Hoohe), des glühenden Hasses gegen den Besitzenden die Oberhand 
gewannen. Die Argumente für die Schürung des Hasses, für das Anstacheln der 
auflodernden Begehrlichkeit lagen nahe. Der zunehmende Luxus der oberen 
Klassen konnte dem Arbeiter nicht verborgen bleiben, an ihm steigerte er soine 
eigenen Bedürfnisse, und über sie hinaus seine Wünsche; der ständig wachsende 
Umfang des Arbeiterheeres und sein Hervortreten in der Oeffentlichkeit bei Wahlen 
aller Art flössten ihm das Siegesbewusstsein der proletarischen Masse ein, und die 
Einleitung der sozialen Gesetzgebung durch die Kaiserliche Botschaft vom 17. No¬ 
vember 1881 führte eher zu einer Verstärkung des sozialistischen Verlangens, als 
dass sie die Arbeitermassen mit der unumstösslichen Neuordnung der wirtschaft- 
schaftlichen Verhältnisse versöhnt hätte. Die Arbeiterversicherungsgesetze, duroh 
welche „im Anschluss an die christliche Sittenlehre den Schwachen und Be¬ 
drängten eine grössere Fürsorge gewidmet werden sollte“ [Lass (66)] haben trotz 
aller Wohltaten nach der Meinung der sozialdemokratischen Anhängerschaft diese 
Aufgabe nicht erfüllt, wohl aber haben sie in der Arbeiterschaft den Glauben erweckt 
oder verstärkt, dass der Staat allein für alle Schädigungen aufzukommen habe, die 
jemals den Arbeiter treffen können. Der Trieb zurGesundung durch eigenen Willen 
und eigene Kraft, die Freude an der wiedererwachenden Arbeitsfreudigkeit nach 
cinerVerletzung ist ausgelöscht durch die Vorstellung, endlich einmal am „Reich¬ 
tum der Ausbeuter“ teilnehmen zu können, ist ausgelöscht durch den Schrei nach 
der Staatsunterstützung, die, wie immer sie ausfallen möge, nie reichlich genug 
ist. Auf diesem Boden erwächst die Hilflosigkeit, die Verzagtheit, die Verdrossen¬ 
heit des Unfallverletzten; hier finden auch die Begehrungsvorstellungen, dieUeber- 
treibungen und die Unbelehrbarkeit des Neurotikers ihre tiefste Wurzel. So kann 
Windscheid (Arzt als Begutachter) mit vollem Recht sagen: „Tatsache ist, dass 
wir eine ungeheure Zahl von willensschwachen, nervenkranken Arbeitern durch 


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Zur Verhütung des Entstehens von Unfallneurosen. 


373 


die soziale Unfallgesetzgebung bekommen haben“. Von älteren Neurologen hat 
z. B. Mendel denselben Gedanken ausgesprochen (68. Versammlung deutscher 
Naturforscher und Aerzte, gelegentlich eines Referates von Fürstner (25)]. 
Wichmann (111) widerspricht zwar dieser Auffassung; es habe auch schon vor 
der sozialpolitischen Gesetzgebung diese Erkrankung gegeben. Aber er scheint 
mit seiner Ansicht ziemlich allein zu stehen. Auch auf der 78. Versammlung 
deutscher Naturforscher und Aerzte in Stuttgart 1906 vertraten Nonne und 
Gaupp (31) den Standpunkt, dass die Gesetzgebung als solche zurUnfallsnenrose 
prädisponieren könne. Albin Hofmann (35) wies schon 1891 auf den Vor¬ 
stellungskreis hin, in dem der Fabrikarbeiter lebt und der ihn ständig an seine 
Rechte gegenüber dem Staat bzw. dem Unternehmer erinnert. Fabrikordnungen 
und die aushängenden gesetzlichen Bestimmungen über Moldung von Unfällen, 
Erzählungen von Arbeitsgenossen, welche sich eine Rente erstritten haben, das in 
Versammlungen und bei zwanglosen Zusammenkünften genährte Bewusstsein der 
politischen Wichtigkeit als Arbeiter und Proletarier „schaffen eine mächtige und 
gefährliche Prädispositon, (welche) durch den Erlass der einschlägigen Gesetze 
noch gesteigert (worden ist)“. 

Es bedarf keiner Begründung, dass eine der wichtigsten Aufgaben der Pro¬ 
phylaxe darin bestehen muss, die individuelle und soziale Prädisposition abzu¬ 
schwächen. Zwar ist es ebenso aussichtslos, der Umwälzung der wirtschaftlichen 
Ordnung sich in den Weg zu stellen, wie die Verhetzung des Arbeiters durch die 
sozialdemokratische Agitation zu verhüten. Beides sind unvermeidliche Folgen 
der gesamten sozialen Entwicklung. Um ihren verderblichen Einfluss auf das 
Seelenleben des Volkes möglichst einzudämmen, kommt nur die Schule in Betracht. 
Zielbewusste Heranbildung zum Pflichtgefühl, zur Selbstzucht, zum Verständnis 
der Notwendigkeit sozialer Schichtung und andererseits Einpflanzung eines starken 
Gefühls für soziale Gerechtigkeit und werktätige, nicht sentimentale Nächsten¬ 
liebe muss die Kinder aller Stände zu selbständigen, ernsten Charakteren erziehen. 
Nicht das Einprägen zahlenmässig bestimmter Wissensgebiete, sondern die Er¬ 
ziehung zu pflichtbewussten Persönlichkeiten tut uns not. 

Aber auch auf dem Gebiet körperlicher Hygiene kann vieles geleistet werden. 
Diesem Zwecke dienen zunächst alle Massnahmen, welohe eine Hebung der Volks¬ 
gesundheit im allgemeinen bewirken sollen. 

So sind alle Bestrebungen zu unterstützen, welche den minderbemittelten 
Ständen gesunde Lebensmittel zu angemessenem Preise zur Verfügung stellen 
wollen; die Volks- und Kindervolksküchen, die Schulspeisungen, die Errichtung 
von Arbeiterkantinen, falls in ihnen geistige Getränke nicht verabfolgt werden; 
auch die Bildung von Einkaufsvereinen für Lebensmittel (Konsumvereinen) kann 
in dieser Beziehung günstig wirken, wenn sie sachkundig geleitet werden und 
nicht, wie häufig, verschleierte Parteiunternehmungen zur Unterstützung not- 
leidender Parteigenossen sind. Andererseits muss gerade bei diesen 
Gründungen die örtliche Lage berücksichtigt werden, da sie unter 
Umständen den privaten Kleinhandel bis zur Vernichtung schädigen 
können, und damit das Proletariat mit seinen ungünstigen Lebens¬ 
verhältnissen noch verstärken, statt es sozial zu heben. Im grössten 
Stil gilt dasselbe von der Preisbildung für Lebensmittel durch Zölle und Steuern. 
Es überschreitet bei weitem den Rahmen der Aufgabe, zu ergründen, ob eine Er- 


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374 


Dr. Alfred Jacoby, 


höhung oder Erniedrigung der Lebensmittelabgaben in letzter Linie die Ernährung 
des Arbeiters günstig oder ungünstig beeinflusst, aber jedenfalls darf in dieser 
Frage weder das Sonderinteresse des Industriearbeiters, noch des Landwirts allein 
massgebend sein. Eine solche Regelung dieser wichtigsten, innerpolitischen An¬ 
gelegenheit, dass das Gedeihen des ganzen Staatswesens dabei gefördert wird, ist 
schliesslich auch die beste Lösung für die Hebung der sozialen Lage des einzelnen 
Lohnarbeiters. 

Der Unterstützung bedürfen ferner alle Bestrebungen, welche dem Arbeiter 
gesunde Wohnungen verschaffen wollen, also Kredit- und Spargenossenschaften 
und ähnliche Vereine zum Bau von Arbeiter- und Beamtenwohnhäusern; Preis¬ 
ausschreiben für denselben Zweck usw. Von besonderer Wichtigkeit ist die Zu¬ 
teilung von kleinen Landparzollen, sei es in Verbindung mit der Wohnung, sei es 
von dieser getrennt (Laubenkolonien). Mit dem Aufenthalte in freier Luft und der 
gesunden Bearbeitung des Bodens verbindet sich die Möglichkeit für den Arbeiter, 
in sich vollendete und abgeschlossene Arbeitswerte zu schaffen, sei es auch nur 
im Bau von Kartoffeln, Gemüsen usw. oder in der Herrichtung einer Laube und 
anderer primitiver Wirtschaftsgegenstände. Das Bewusstsein, so selbständig nach 
eigenem Ermessen zu schaffen, die Freude an dem selbsterdachten und selbst¬ 
erreichten Ziel bildet ein nicht zu unterschätzendes Gegengewicht gegen die zer¬ 
rüttende Monotonie der Lohnarbeit und der in psychohygienischem Sinne zu weit 
getriebenen Arbeitsteilung. In diesem Sinne kann auch die Einführung 
des Handfertigkeitsunterrichtes zweoks Erziehung zur Geschick¬ 
lichkeit in den Schulen nur mit Freude begrüsst werden. 

Die landwirtschaftliche Tätigkeit auf eigenem, kleinen Besitz, hat ferner noch 
den Vorteil, den Arbeiter vom Kneipenleben abzuhalten und den Alkoholgenuss, 
wenn nicht zu verhüten, so doch wenigstens etwas einzuschränken. Demselben 
Zweck können ausser der körperlichen Kräftigung auch Sportübungen dienen, von 
denen allerdings nur diejenigen in Betracht kommen, die mit wenig oder keinen 
Kosten verknüpft sind. So können das Turnen, Wandern, Schwimmen, Spielen 
und ähnliche Betätigungen zur Bekämpfung der neuropathischen Konstitution bei¬ 
tragen, sofern sie nicht entweder in rohehrgeizige Championbestrebungen ausarten, 
oder andererseits nur als Deckmantel für Zechgelage benützt werden. 

Da unter den prädisponierenden Momenten auch die Erkrankungen durch 
gewerbliche Gifte einerseits, an Tuberkulose und Syphilis andererseits zu nennen 
w'aren, so ist es unnötig, ausführlich zu erörtern, dass auch der Kampf gegen die 
gewerblichen Schädigungen, ebenso wie gegen Tuberkulose und Syphilis zu den 
Mitteln gehört, mit denen der Prädisposition entgegengetreten werden kann; es 
wäre aber gerade zur Bekämpfung der gewerblichen Schädigungen ausserordent¬ 
lich wünschenswert, indieReihe der Gewerbeaufsichtsbeamten besonders vorgebildete 
Aerzte einzustellen und ihnen die Bearbeitung der rein medizinisch-hygienischen 
Gebiete zu übertragen; eine Forderung, welche ausser von vielen anderen auch 
von Roth lebhaft vertreten worden (78) ist. Der Kampf gegen den Alkoholismus 
verdient eine besondere Erwähnung. 

Der Alkoholismus ist bedeutungsvoll nicht nur für das Zustandekommen der 
Unfallsneurosen, sondern auch der Unfälle selbst [Weymann (118)]. Laquer 
hat nachgewiesen, dass im Frankfurter Brauereigewerbe seit der Ablösung des 


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Zur Verhütung des Entstehens von Unfallneuroson. 


375 


„Haustrunkes“ die Zahl der Betriebsunfälle um */ 4 abgenommen hat. Ich weise 
ferner auf die bekannte Tatsache der Steigerung der Unfälle nach Sonn- und Fest¬ 
tagen hin. 

Die Einschränkung des Alkoholgenusses kommt also in beiden Richtungen 
den Unfallneurosen zugute. Abgesehen von den gemeinnützigen Bestrebungen 
der Guttempler, der Vereine vom Blauen Kreuz, der sonstigen Abstinenz- und 
Mässigkeitsvereine, kommen in dieser Hinsicht besonders Vorschriften der Berufs- 
genossenschaften in Betracht. Nach den „Beiträgen zur Alkoholfrage 11 (13) hatten 
bis dahin 6 Berufsgenossenschaften den Genuss von alkoholischen Getränken 
während dor Arbeitszeit völlig (eine davon nur für eine Art von Arbeiten) unter¬ 
sagt. Eine weitere Berufsgenossenschaft hat nach Zeitungsberichten neuerdings 
wenigstens den Verkauf von geistigen Getränken auf den Bauplätzen verboten. 

Sieben andere Berufsgenossenschafton haben den Genuss von Branntwein 
während der Arbeit untersagt; 12 gewerbliche Berufsgenossensohaften haben die 
Beschäftigung von „Trunksüchtigen 11 mit Arbeiten untersagt, mit welchen eine 
aussergewöhnliche Gefahr verbunden ist [VValdschmidt (116)]. Wie wesent¬ 
lich derartige Fabrikordnungen den Alkoholmissbrauch einzuschränken imstande 
sind, geht aus einer Aufstellung von Bonhöfer über Beruf und Alkoboldelikte 
hervor (12). 

Von 1634 Verurteilungen wegen Körperverletzung, Widerstand, Hausfriedens¬ 
bruch und Sachbeschädigung, also wegen Vergehen, welche meist auf Alkohol¬ 
wirkung zurückzuführen sind, betrafen 29,7 pCt. Gelegenheitsarbeiter, 26,4 pCt. 
Handwerker und 20,5 pCt. Bauarbeiter; dagegen nur 2,4 pCt. Fabrikarbeiter. 
Der Unterschied zwischen jenen Berufsklassen, bei welchen eine strenge Disziplin 
undurchführbar ist, und den unter dem Einfluss der Fabrikordnungen stehenden 
Fabrikarbeitern, beweist treffend den günstigen Einfluss der genannten Vor¬ 
schriften. 

Unbedingt hat den Alkoholgenuss für die Zeit des Dienstes die preussische 
Eisenbahn Verwaltung untersagt; aber sie war gleichzeitig bemüht, den Beamten 
die Beschaffung alkoholfreier Getränke zu erleichtern. Diese notwendige, positive 
Ergänzung des Verbotes wird in Gewerbebetrieben tunlichst der freiwilligen Für¬ 
sorge der Unternehmer zu überlassen sein; und für viele Betriebe sind bereits ent¬ 
sprechende Einrichtungen getroffen, bzw. von Arbeitgeberverbänden dahingehende 
Grundsätze beschlossen worden. Beispiele dieser Art führen Neisser in seiner 
„Internationalen Uebersicht über Gewerbehygiene“ (74) und die erwähnte Veröffent¬ 
lichung aus dem Reichsarbeitsblatt, Seite 35, an. 

Wenn so dank jahrzehntelanger, vorbeugender Arbeit vielleicht ein Arbeiter¬ 
geschlecht mit gesunderem Körper und gesunderer Seele herangewachsen ist, kann 
man von dem Verletzten mit Strümpell verlangen, dass er „ebenso sich bemüht, 
dem Unfall gegenüber in seinem ganzen psychischen Verhalten die richtige 
Stellung einzunehmen, wie er sich anderen ärztlichen Massnahmen zu unterwerfen 
bat.“ Immerhin wird es gut sein, auch diese Erwartung nicht zu hoch zu spannen, 
und „der Kunst, durch die Willenskraft seiner krankhaften Gefühle Herr zu werden“ 
(58), auch dann nicht Wunder zuzumuten. 

Abgesehen von allen diesen Bemühungen, das Entstehen und die Weiterver¬ 
breitung der neuropathischen Konstitution von Anfängen zu unterdrücken, könnte 

YierteUahrsschrift f. ger. Med. u. öff. S&n.-Wesen. 3. Folge. XL. 2. 25 


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Dr. Alfred Jacoby, 


man daran denken, gesundheitlich minderwertige Arbeiter von gefährlichen Be¬ 
trieben dadurch fern zu halten, dass der Nachweis der Gesundheit durch vorher¬ 
gehende ärztliche Untersuchung zur Bedingung der Annahme gemacht wird. Eine 
entsprechende Anordnung besteht bereits durch Verfügungen des Bundesrats für 
Bleihütten, Akkumulatorenfabriken usw.; indessen ist ein dahingehender, selbst¬ 
ständiger Versuch einer Berufsgenossenschaft durch Entscheidung des Reichsver¬ 
sicherungsamts auf Grund § 78, 2 des Gesetzes für unzulässig erklärt worden. Eine 
wichtige Vorbeugungsmassregel zur Bekämpfung der Unfallsneurosen ist schliess¬ 
lich eine Verminderung der Unfälle selbst. Soweit dieses Ziel durch maschinelle 
Einrichtungen zu erreichen ist, liegt die Verhütung auf rein technischem Gebiet. 
Dass aber auch auf dem Wege, sei es erzieherischer, sei es sozialer Massnahmen, 
manches zu verbessern ist, beweisen die Untersuchungen über die inneren Ur¬ 
sachen der entschädigungspflichtigen Unfälle seitens des Reichsversicherungsamts. 
Nach Klein, Statistik der Arbeiter-Versicherung (54), ereignen sich die meisten 
Unfälle der gewerblichen Arbeiter (2,21 — 2,37) in der Tageszeit von 9—12 Uhr 
vormittags, der landwirtschaftlichen Arbeiter (2,36—2,51) in der Tageszeit von 
3—6 Uhr nachmittags, also zur Zeit der stärksten körperlichen Ermüdung. Es 
wird dabei angenommen, dass auf einen Zeitraum von 3 Stunden durchschnittlich 
ein Unfall kommt. Eine den Bedürfnissen der einzelnen Betriebe angemessene 
Regelung der Arbeitszeit käme also unfallverhütend in Betracht. Aber auch von 
diesen beiden Ursachen abgesehen, kann die Unfallziffer durch bessere Belehrung 
des Arbeiters herabgedrückt werden. Nach einer von mir vorgenommenen Zu¬ 
sammenstellung aus den Berichten der Knappschaftsberufsgenossenschaft sind Un¬ 
fälle veranlasst worden durch: 



1893 

1894 

1895 

1897 

Unvermeidliche Betriebsgefahr 

52,44 pCt. 

58,05 pCt. 

57,79 pCt. 

69,70 pCt. 

Mängel des Betriebes . 

0,87 „ 

0,79 „ 

0,96 „ 

1,16 „ 

Schuld des Mitarbeiters . . 

4,08 „ 

4,42 „ 

4,02 „ 

3,62 „ 

Schuld des Verletzten 

41,89 „ 

36,74 „ 

37,24 „ 

25,52 r 


1898 

1899 

1906 

1907 

Unvermeidliche Betriebsgefahr 

73,45 pCt. 

74,22 pCt. 

69,31 pCt. 

67,29 pCt. 

Mängel des Betriebes . 

1,25 „ 

0,95 „ 

0,78 „ 

1,27 „ 

Schuld des Mitarbeiters . 

3,24 „ 

3,33 „ 

3,24 „ 

3,40 „ 

Schuld des Verletzten 

22,06 „ 

21,50 „ 

26,67 „ 

28,04 „ 


(Die Berichte der Jahre 1896 und 1900 bis 1905 waren mir leider nicht zu¬ 
gänglich.) Es wurden also selbst in diesem an sich höchst gefährlichen Beruf 
durchschnittlich 20,95 pCt. der Unfälle durch eigene Schuld des Arbeiters und 
3,76 pCt. durch Schuld des Mitarbeiters verursacht. Es ist unzweifelhaft, dass 
durch grössere Aufmerksamkeit und Sachkenntnis dieser Prozentsatz erheblich 
geringer werden und auch dadurch der Entstehung von Unfallsneurosen vorgebeugt 
werden kann. 

Ist demnach die Prophylaxe auf dem Gebiet der Prädisposition mit seinen 
unabsehbaren politischen und volkswirtschaftlichen Ausläufern eine der wichtigsten 
Aufgaben, so ist nunmehr festzustellen, welche Rolle der Unfall selbst bei dem 
Zustandekommen der Unfallsneurosen spielt, welche unterstützenden Momente 


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Zur Verhütung des Entstehens von Unfallneurosen. 377 


dabei zu beachten sind, und welche Folgerungen für die Vorbeugung sich daraus 
ergeben. 

Der Unfall kann durch die körperliche Verletzung und durch die Einwirkung 
auf das Seelenleben Veranlassung der Neurose werden. Wichmann nimmt sogar 
drei Möglichkeiten der Schädigungen an: 1. die mechanische Einwirkung auf den 
Körper, 2. Shock (Erschütterung der Zentren der Medulla oblongata), 3. psy¬ 
chisches Trauma. Während die seelische Erschütterung (und zutreffenden Falles 
der Shock) als ursächliches Moment allseitig anerkannt wird, ist dies bezüglich 
der körperlichen Verletzung nicht der Pall; dabei sollen die Fälle grober anato¬ 
mischer Veränderung ganz ausser Betracht bleiben, da schon im Beginn der Arbeit 
die in ihrem Gefolge auftretenden Nervenkrankheiten von den „allgemeinen ner¬ 
vösen Störungen“ abgegrenzt sind. 

Seitdem Oppenheim und Charcot die „traumatischen Neurosen“ als funk¬ 
tioneile Erkrankungen zu betrachten gelehrt haben, wird von vielen Seiten die ur¬ 
sächliche Bedeutung der körperlichen Verletzung überhaupt geleugnet oder als 
ganz nebensächlich hingestellt. So gibt Gaupp (1. c.) an, dass Stärke und Art 
der Verletzung ohne wesentlichen Einfluss auf die Dauer und Schwere der Neurose 
sei. Auch für Biss (1. c.) ist die traumatische Neurose „nach strenger Auffassung 
eine rein funktionelle, duroh den seelischen Shock des Unfalls zustande kommende 
Erkrankung des Zentralnervensystems“. Lissauer (63) trennt ebenfalls die 
„traumatische Neurose, bei der das Trauma selbst in organischer Weise die Neu¬ 
rose verursacht“, von der „psychogenen Neurose nach Trauma“, welche „weder 
das Trauma direkt zur Ursache hat, noch in einer organischen Läsion besteht“. 
Diese Differenzen begründet er psychologisch, indem er fortfährt: „Beim Präva- 
lieren des Traumas als mechanische Tatsache ist der Betroffene in der Hauptsache 
Unfallsobjekt; im anderen Falle beim Prävalieren des Unfalls als Gegenstand 
psychischer Funktionen Unfallssubjekt.“ 

Dieser theoretisch sehr bestechenden Einteilung steht die Meinung so er¬ 
fahrener Neurologen wie Bruns und Strümpell entgegen; mindestens für Nerven¬ 
störungen nach Kopfverletzungen. Bruns (5) ist für schwere Neurosen das Vor¬ 
handensein feiner organischer Läsionen wahrscheinlich. Strümpell (99) ver¬ 
mutet, dass wenigstens für einen Teil der Neurosen „organische, wenn auch nicht 
anatomisch feststellbare Veränderungen“ sich mit psychischen Störungen ver¬ 
einigen. Die Unsicherheit auf diesem Gebiete ist durch die Seltenheit der Todes¬ 
fälle durch Unfallneurosen erklärlich. Immerhin gibt es einige positive Befunde. 
So fanden Kronthal und Sperling (48) und Friedmann (23) nach Gehirn¬ 
erschütterung ohne Knochenverletzung nachweisbare Erkrankungen der Hirnge- 
fässe, in Form von Erweiterung und starker Füllung der Gefässe, bzw. durch 
Rundzellenanhäufung in der Gefässwand und -Umgebung charakterisiert, und 
Friedmann führt besonders den vasomotorischen Symptomenkomplex (Kopf¬ 
schmerz, Schwindel und Intoleranz des Gehirns gegen äussere Reize) auf diese 
Veränderungen zurück. Leers (64) beobachtete auffällig häufig Arteriosklerose 
bei Traumatikem; seiner Mitteilung schlossen sich in der Diskussion Mondei und 
Cimbal an. Es ist gewiss nicht ausgeschlossen, dass in manchen dieser Fälle 
die GefässVeränderungen auch anderweitig bedingt sein können; aber eine sichere 
Entscheidnng ist zur Zeit nicht zu treffen. Es ist unzweifelhaft, dass sich dadurch 

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378 


Dr. Alfred Jacoby, 


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die Aussicht, nach Kopfverletzungen das Auftreten nervöser Störungen zu ver¬ 
hüten, wesentlich trübt. Auch L epp mann (59) sagt in einem Gutachten über 
einen Fall, in welchem nach einer Kopfverletzung mit kurzer Bewusstlosigkeit, 
ohne dass eine Prädisposition oder Alkoholismus nachweisbar gewesen wäre, epi¬ 
leptische Anfälle auftraten, „dass es gerade die Verletzungen mit stumpfer Ge¬ 
walt sind, welche nach dieser Richtung hin besonders schädlich auf das Gehirn 
wirken, und dass die Kleinheit oder Grösse der äusseren Verletzung und ihr Ver¬ 
lauf garnicht massgebend sind für die Schwere der Wirkung“. Man kann also mit 
einiger Sicherheit annehmen, dass die Verhütung um so unwahrscheinlicher wird, 
je wahrscheinlicher das Vorhandensein von organischen Veränderungen nach Kopf¬ 
verletzungen ist. 

Andererseits muss man die auffallende Tatsache anerkennen, dass bei Nicht¬ 
versicherten auch nach schweren Kopf- und anderen Verletzungen Neurosen sehr 
selten Vorkommen oder meist nach kurzer Zeit wieder heilen. So sah Dölicken 
(IC) unter 700 Mensuren zwar 25 Neurosen auftreten, aber sie heilten nach 
Wochen bis spätestens zwei Jahren aus. Bruns u. a. weisen auf die Häufigkeit 
schwerer Stürze von Sportsleuten, Offizieren und Artisten hin, ohne dass Neurosen 
in nennenswerter Zahl entstehen. Knotz (51) hat drei Fälle schwerer Kopfver¬ 
letzung bei nichtversicherten bosnischen Arbeitern veröffentlicht, bei denen trotz 
grober anatomischer Veränderungen binnen ein bis zwei Jahren Genesung eintrat. 

Es scheint also aus diesen Beobachtungen mit Sicherheit hervorzugehen, dass 
die Verletzung allein in der Regel nicht zur dauernden nervösen Störung führt, 
sondern dass seelische Vorgänge mitbeteiligt sind, und zwar auch solche, welche 
mit der Tatsache des Versichertseins in Verbindung stehen. 

Dagegen ist es unzweifelhaft, dass lauch ohne jede körperliche Verletzung 
nur auf Grundlage eines „seelischen“ Unfalls schwere, unheilbare Neurosen auf¬ 
treten können. Solcher Fälle erwähnt z. B. Oppenheim zwei; Müller (73) be¬ 
richtet gleichfalls über einen bezeichnenden Fall. 

Die seelischen Einflüsse, welche, sei es mit, sei es ohne Beihülfe der körper¬ 
lichen Verletzung, zur Entstehung der Unfallneurosen führen, kommen bald sofort, 
im Anschluss an den Unfall oder kurze Zeit danach, teils erst nach einem längeren 
Zeitraum anscheinend gesunden seelischen Verhaltens, der Periode der mdditation 
inconsciente nach Charcot zur Geltung. Die ersteren betreffen im wesentlichen 
die Affektsphäre, die letzteren vorwiegend das Gebiet der Vorstellungen, aber ver¬ 
knüpft oder kompliziert durch Affekte. Jene sind zeitlich und ursächlich unmittel¬ 
bare Folgen des Unfalles, diese entstehen allmählich und mittelbar auf dem Um¬ 
wege nachträglicher Empfindungen uud Ueberlegungen. 

Der Unfall kann unmittelbar auf die Seele des Verletzten durch Shock oder 
durch Angst oder durch beides wirken, je nachdem das Ereignis der Beschädigung 
plötzlich erfolgte oder in einer, wenn auch kurzen Zeitspanne sich abspielte. 
Schuster (95) macht besonders auf die Wirkung der Massenaffekte bei Eisen¬ 
bahn-, Schiffs-, Theaterunglücksfallen usw. aufmerksam. Die Schädigung kann so 
plötzlich nach Art eines Shocks verlaufen, dass zu bewussten Vorstellungen keine 
Zeit bleibt [Blitzschlag mit anschliessender Bewusstlosigkeit, aus welcher der Ver¬ 
letzte mit einem hysterischen Symptom erwacht (Bruns)]. An Neurosen dieser 
Art denkt wohl Oppenheim, wenn er von einem Verlust der Erinnerungsbilder 


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Zar Verhütung des Entstehens von Unfallneurosen. 


379 


für Bewegungen durch Fortpflanzung der peripherischen Erschütterung auf die 
Zentren spricht. In anderen Fällen wirkt das n psychische Trauma u etwas längere 
Zeit ein, so dass es zur Bildung von Gedankengängen kommen kann. Dann kommt 
die Empfindung des Schmerzes, die Vorstellung der Verstümmelung, der Lebens¬ 
gefahr oder der Ideenkomplex der Verantwortlichkeit, gegebenenfalls der Schuld 
zu Bewusstsein. Alle diese Vorstellungen und Empfindungen sind im höchsten 
Hasse unlustbetont und wirken vermutlich in der Hauptsache durch diese Gefühls¬ 
komponente. Sehr schwer scheinen namentlich diejenigen Vorgänge das Nerven¬ 
system zu schädigen, welche das kommende Unglück voraussehen lassen, ohne 
dass die Möglichkeit der Abwendung vorhanden oder die Kettung wahrscheinlich 
ist. Die Eigenart dieser ursächlichen Beziehungen rechtfertigt die Benennung der 
n Schreckneurose u nach Wernicke. Die Unterscheidung derartiger Neurosen von 
der oben skizzierten zweiten Gruppe ist aber auch im Sinne dieser Aufgabe ange¬ 
zeigt, da es der Natur der Sache naoh unmöglich ist, sie zu verhüten. Höchstens 
lässt sich dem Auftreten solcher Einflüsse Vorbeugen, welche sekundär die Neu¬ 
rosen konsolidieren und komplizieren können. Ihnen ist das Zustandekommen der 
zweiten Gruppe von Unfallneurosen zuzuschreiben. 

Sind die ersten stürmischen Erscheinungen des seelischen oder körperlichen 
Shocks nach einem Unfall abgeklungen, hat bei schweren Verletzungen das Kranken¬ 
lager begonnen, oder ist bei leichteren der Versuch gemacht worden, die Arbeit 
wieder aufzunehmen, so spiegelt sich doch das Ereignis in zahllosen Ideenasso¬ 
ziationen wieder, die sich vorwiegend mit den etwaigen Folgen des Unfalls be¬ 
schäftigen. In der Psyche des Gesunden finden diese unlustbotonten Vorstellungen 
ihre Grenze an den kontrastierenden Vorstellungen der Hoffnung auf Genesung, 
gegründet auf Vertrauen zum Arzt, zur eigenen Konstitution, zur göttlichen Für¬ 
sorge; selbst die Tatsache des Versiohertseins wird den Arbeiter, dem persönliches 
Ehrgefühl und sittliche Widerstandskraft nicht fehlt, oder der sich gleichmütig 
mit der Notwendigkeit der Arbeit abgefunden hat oder gar mit seiner Beschäfti¬ 
gung zufrieden ist, nicht von dem Streben abhalten, durch die Wiedererlangung 
seiner Gesundheit für sich und seine Angehörigen duroh seine eigene Arbeit sorgen 
zu können. 

Anders bei vorhandener Neigung zu schwächlichem Unterliegen und zu 
krankhafterWehleidigkeit. Der psycho-pathologisch veranlagte Verletzte empfindet 
die unvermeidlichen Schmerzen und Beschwerden als ausserordentlich schwere; 
er zweifelt zuerst daran, in kurzer Zeit und bald, überhaupt wieder gesund zu 
werden. Sein Unfall, den er sich immer wieder in das Gedächtnis zurückruft und 
dessen Shockwirkung dadurch, wenn auoh in milderer Form [Ewald (19)], immer 
wieder von neuem aufgefrischt wird, erscheint ihm stets grösser und furchtbarer; 
die begleitenden Tatumstände verzerren sich inUebertreibungen. Er kann sich von 
der Vorstellung nicht mehr befreien, dass naoh einem derartigen Ereignis über¬ 
haupt die Wiederherstellung und die Erwerbsfähigkeit ausgeschlossen sind. Da¬ 
mit verknüpft sich der Gedanke, dass er nun nicht mehr für seine Familie sorgen 
könne, dass er ihr womöglich siech zur Last fallen müsse, dass seine und seiner 
Angehörigen Zukunft im Armenhause ondigen werde usw. Die Untätigkeit des 
Krankenlagers, das Fehlen der gewohnten körperlichen Arbeit lenken seine Auf¬ 
merksamkeit immer mehr auf seine Beschwerden und vergrössern sie insUngeheuer- 


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Dr. Alfred Jaooby, 


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liehe. Um sich aus diesen Sorgen und Beängstigungen loszureissen, greift er zur 
Schnapsflasche, und der verflachende, lähmende Einfluss des Alkohols auf die 
Urteilsfähigkeit lässt ihn völlig seinen trüben Gedankengängen erliegen. Aehnlich 
gestaltet sich die Entwicklung, wenn derartige Personen, sei es nach einem 
Krankenlager, sei es sofort nach dem Unfall, die Arbeit wieder aufnehmen wollen. 
Sie begeben sich schon zaghaft zur Arbeitsstelle, begleitet von den Mahnungen 
ihrer Angehörigen, vorsichtig zu sein, sich nicht zuviel zuzumuten. Es ist unver¬ 
meidlich, dass ihnen, namentlich wenn sie eine körperliche Verletzung erlitten 
hatten, die Arbeit schwerer als sonst fällt, dass die der Tätigkeit entwöhnten 
Körperteile schmerzen; sollen die Verletzten wieder auf dem Schauplatz des 
Unfalls tätig sein, so tritt ihnen das Bild der für sie schreckcnvollen Begebenheit 
wieder vor das Auge: sie fürchten, wieder von der Leiter zu stürzen, von einem 
Stein getroffen zu werden usw. Alle diese unangenehmen Gefühle können von dem 
Willenstarken niedergerungen werden; dem Willensschwachon erwecken sie die 
Vorstellung, schwer krank und erwerbsunfähig zu sein. 

So kommt es bald dazu, dass, um mit Strümpell zu reden, im „wesentlichen 
nichtScbmerzen,nicht Leistungsunfähigkeit, sondern Vorstei 1 ung von Schmerzen, 
von Leistungsunfähigkeit 1 ' ihr Leiden ausmacht. 

Alle die bisher geschilderten Erscheinungen hängen ausschliesslich von der 
Tatsache des Unfalls und der nervösen Konstitution des Verletzten ab, sie können 
nach entschädigungspllichtigen Unfällen, wie nach anderen Verletzungen auftreten. 

Bei dem unfallversicherten Arbeiter kommt als drittes und 
zwar charakteristisches’Moment die Entschädigungsfrage hinzu, 
deren ursächliche Bedeutung für das Auftreten der „Begehrungsvorstellungen“ 
Strümpell in seiner oben zitierten klassischen Arbeit erschöpfend behandelt hat. 

Die Mehrzahl der Arbeiter besitzt ferner eine so ungenaue Kenntnis der ein¬ 
schlägigen Gesetzstellen, dass sie sich über den Umfang ihrer Rechte durchaus 
unklar sind. Sie verstehen nicht, dass die Rente nur die Entschädigung für einen 
nachweislichen Verlust an Erwerbsfähigkeit darstellt; sie glauben vielmehr ein 
Schmerzensgeld für den Unfall selbst beanspruchen zu dürfen. 

Alle diese Vorstellungen enthalten nicht notwendig das Bewusstsein der 
Rechtswidrigkeit, sondern sind als krankhaft entstandene der Erkrankung zuzu¬ 
rechnen, und meines Erachtens geht Jeremias (46) zu weit, wenn er behauptet, 
„der innere Zwang der Begehrungs- und Rechtsvorstellungen ist nichts weiter als 
die durch das Unfallversicherungsgesetz heraufbeschworene Aktivierung oder 
Reaktivierung des Hanges zum Nichtstun“. 

In diesem Bestreben fangen die Verletzten an, sich ängstlich und genau zu 
beobachten, nicht in der Besorgnis, eine Verschlimmerung zu entdecken, als viel¬ 
mehr sie zu übersehen und dadurch eines zu kapitalisierenden Vorteils verlustig 
zu werden. Sie wenden ihre Aufmerksamkeit ausschliesslich ihrem Körper und 
ihren krankhaften Erscheinungen bzw. der Verfolgung ihrer Rechtsansprüche zu. 
Ihre Befangenheit und ihre Urteilslosigkeit setzen sie ausserstande, zu entscheiden, 
ob irgend eine krankhafte Veränderung nicht vielleicht schon vor dem Unfall be¬ 
standen hat, ohne ihre Erwerbsfähigkeit irgend zu beeinträchtigen; ihre krankhaft 
gesteigerte Einbildungskraft malt ihnen ihr Leiden in den schwärzesten, die er¬ 
hoffte Zeit des Renlenbezuges in den rosigsten Farben. So ist es nur folgerichtig, 


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Zur Verhütung des Entstehens von Unfallneurosen. 


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wenn sie sich verpflichtet fühlen, „mindestens bis zur Austragung des Streites um 
die Rente die Beeinträchtigung ihrer Erwerbsfähigkeit sorgfältig zu konservieren“ 
[Sachs und Freund (87)], und „der Kranke sieht es schliesslich als ein Unrecht 
gegen sich oder als einen Versuoh, ihn finanziell zu schädigen, an, wenn man 
überhaupt Besserungsversuche macht“ [Bruns (5)]. 

Vergegenwärtigt man sich, welche psychologischen Momente schon vor dem 
Unfall eine Prädisposition zur Neurose schufen, die Unsicherheit und Kärglichkeit 
der Existenz, die Unfähigkeit, sich durch geistige Genüsse über die Armseligkeit 
des Daseins zu erheben, die niederdrückende Wirkung der geisttötenden Lohn¬ 
arbeit, der Groll und Hass auf die besitzenden Klassen, so ist es klar, dass alle 
diese Einflüsse nach dem Unfall um so stärker zur Geltung gelangen. Man kann 
es verstehen, wenn, wie Hellpach sich ausdrüokt, die Rente dem Arbeiter „ein 
Strohhalm ist, um wenigstens eine Zeit lang von der ungeliebten Arbeit los- 
znkommen“. 

Zu diesen Vorstellungen und Gefühlen, die aus dem Gedankenkreise des 
Verletzten selbst stammen, treten non noch eine Reihe von teils gewollten, teils 
ungewollten Einflüssen aus den persönlichen bzw. sozialen und politischen Be¬ 
ziehungen des Verletzten, aus den mit der ärztlichen Behandlung verbundenen 
Vorgängen und aus dem Entschädigungsverfahren. 

Es ist selbstverständlich, dass die aus derselben Gesellschaftsschicht wie der 
Verletzte stammenden und mit denselben Anschauungen durchtränkten Verwandten 
und Freunde sich bemühen, ihn im Rentenkampf zu unterstützen und die krank¬ 
haften Vorstellungen nicht abschwächen, sondern verstärken. Ganz besonders die 
Frauen scheinen nach der Meinung fast aller Autoren die stärkste, treibende Kraft 
zu sein; Freunde und Bekannte wetteifern in einer Art von Wichtigtuerei, dem 
Verletzten die Folgen des Unfalls so schwer wie möglich vorzustellen. Die 
Zeitungen, welche in Arbeiterkreisen gelesen werden, betonen unablässig den Um¬ 
fang der den Arbeitern gewährten Rechte, die sie ins Grenzenlose erweitert sehen 
möchten, ohne an die entsprechenden Pflichten zu erinnern; sie nähren in ihren 
Lesern geflissentlich den Glauben, dass Staat, Berufsgenossenschaften und sonstige 
Behörden ihre natürlichen Feinde seien, deren Bestrebungen nur dahin gingen, 
die Renten soviel wie möglich zu beschneiden, ln dieser Ueberzeugung werden 
die Verletzten von ihren Organisationen und den gewerkschaftlichen Sekretären 
bestärkt, deren sie sich meist zur Erreichung ihrer Rentenwünsche bedienen, falls 
sie nicht in die Hände von Winkelkonsulenten fallen. Alle diese Einflüsse sind in 
hohem Masse geeignet, die Vorstellungen des Verletzten nach der Richtung der 
Neurose weiter zu entwickeln. 

Aber auch durch manche, mit der ärztlichen Untersuchung und Behandlung 
zusammenhängende Geschehnisse wird unabsichtlich der Ausbruch nervöser 
Störungen begünstigt. Es sei hier ganz davon abgesehen, dass wirtschaftlich und 
sittlich schwache Aerzte, um sich das Wohlwollen der Arbeiterkreise zu erwerben 
und zu erhalten, den Verletzten nach dem Munde reden, ihre Beschwerden be¬ 
glaubigen mögen, ohne selbst davon überzeugt zu sein. Diese Ausnahmen sind 
glücklicherweise zu selten, um eine ernstliche Gefahr zu bedeuten. 

Anders verhält es sich mit bona fide gefallenen ärztlichen Aussprüchen, aus 
welchen die Verletzten eine Bestätigung ihrer hypochondrischen Vorstellung zu 


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Dr. Alfred Jacoby, 


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hören glauben. Es ist eigentlich überflüssig, mit Wichmann darauf binzuweisen, 
dass „die Persönlichkeit des Arztes bei unseren an abnormen Vorstellungen 
leidenden Kranken das Wichtigste“ ist. Angesichts dieser unbestreitbaren Tat¬ 
sache kann die Wirkung einer unvorsichtigen Aeusserung bezüglich Diagnose und 
Prognose in der Seele des Kranken unzerstörbare Suggestionen schaffen. Einem 
grossen Teil der Arbeiter ist selbst die Bezeichnung der „traumatischen Neurose“ 
nicht fremd, und kehrt in den Gesprächen „sachkundiger“ Freunde und Genossen 
gern wieder. Es genügt also u. U. der ausgesprochene Verdacht, dass eine 
traumatische Neurose zum Ausbruch kommen könne, um sie wirklich zu erzeugen. 
So betonte Lenhartz auf dem Kongress für innere Medizin 1893 [zitiert nach 
Sänger, Monographie (79)] die Wichtigkeit des ärztlichen Taktes bei der ersten 
Untersuchung: „Anstatt den durch den Unfall erregten, in seiner Existenz be¬ 
drohten Arbeiter zu beruhigen, geben sie dessen unklarer Empfindung und Vor¬ 
stellung durch eine unbedachte oder mangelhaft begründete, schwerwiegende 
Diagnose eine dauernd kranke Richtung und vermitteln ihm oft das Bewusstsein 
eines schweren, irreparabcln Leidens.“ 

Verwirrend wirken auf den Verletzten auch abweichende Meinungen von 
Aerzten, von welchen er naturgemäss demjenigen Glauben schenkt, der die 
düsterste Prognose ausspricht. Umgekehrt kann aber auch ungerechtfertigtes Miss¬ 
trauen des Arztes in dem Verletzten das Gefühl der Depression, der ungerechten 
Behandlung wachrufen, und so seine düstere Grundstimmung noch vermehren. 
Dass auch operative Eingriffe des Arztes u. U. das verschlimmernde Moment einer 
Neurose werden können, lehrt eine Beobachtung von Pel (77). 

Eine verhängnisvolle Rolle in der Ausbreitung der Unfallsneurosen können 
auch dio Verhältnisse spielen, unter welchen der Kranke ausserhalb seinerWohnung 
behandelt wird. Am verderblichsten scheinen in dieser Beziehung die Polikliniken 
zu sein, in deren Vorzimmer der Kranke u. U. stundenlang mit anderen Verletzten 
und Erkrankten warten muss. Es gibt kaum eine günstigere Gelegenheit als diese, 
um den Neuling auf dem Gebiet der Unfallneurosen mit den schlimmsten Vorher¬ 
sagen seitens der dort befindlichen alten Neurotiker zu überschütten, ihn über die 
Eigenart dieses Arztes, der den Arbeitern günstig gesinnt sei, und jenes Arztes, 
dom man nur durch schwerste Symptome imponieren könne, zu belehren, ihm die 
Annehmlichkeit des Rentonbezuges gegenüber der harten Arbeit, aber auch die 
Winkelzüge, Uebertreibungen und Simulationen klar zu machen, mit denen man 
die Rente erringen und erhalten muss. 

Nicht geringere, deletäre Wirkungen kann der Aufenthalt in einem all¬ 
gemeinen oder gar in einem Unfallkrankenhaus entfalten, sofern nicht ganz be¬ 
sondere Sicherheitsmassregeln getroffen werden können. Die grösste Gefahr be¬ 
steht wieder in dem unkontrollierten Zusammensein vieler Kranker, und der 
dann unvermeidlichen psychischen Infektion durch gegenseitige Mitteilung der 
Erfahrungen. Je weniger beschäftigt die Kranken sind, und je grösser das Kranken¬ 
haus ist, umsomehr ist zu solchen Unterhaltungen Gelegenheit geboten. 

Werden andererseits die Insassen durch hydrotherapeutische, mediko- 
mechanischo und ähnliche Behandlung stark in Anspruch genommen, so werden 
wiederum durch diese Vielgeschäftigkeit die Kranken im Glauben an die Schwere 
ihrer Leiden bestärkt. „Das Herumkurieren un Unfallkranken züchtet die hysterische 


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Zur Verhütung des Entstobens von Unfallneurosen. 


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Neurose geradezu“; behauptet Hellpach (39). Ebenso wie ein Uebermass von 
Behandlung, ist auch ein Uebermass von Untersuchungen dem Verletzten schäd- 
lieh, bei dem zu dieser Zeit allerdings meist schon die Neurose besteht. Damit 
tritt die Erörterung auf das Gebiet der durch das Entschädigungsverfahren ge¬ 
setzten Ursachen der Unfallsneurosen. 

Zunächst ist die 13wöchige Karenzzeit der Berufsgenossonschaften zu be¬ 
klagen. Die Berufsgenossenschaften haben zwar die Befugnis, innerhalb dieser 
Zeit die Behandlung selbst zu übernehmen; aber sie tun es verhältnismässig 
selten, meist nur bei sehr schweren Verletzungen, die als solche durchaus nicht 
mehr zur Komplikation mit nervösen Störungen neigen, als anscheinend harmlose 
Unfälle. 

Die zuständige Krankenkasse (falls der Verunglückte krankenversicherungs¬ 
pflichtig war) hat zwar ein sehr grosses Interesse daran, dass die Erkrankung auf 
einen entschädigungspflichtigen Unfall zurückgeführt werden kann (Sohuster, 
1. c.), da in diesem Falle nach der 13. Woche die Berufsgenossenschaft für die 
Kosten eintreten muss. Sie hat aber kein Interesse an der genauen Prüfung der 
Tatumstände und ebensowenig an der Erhebung eines genauen Status, welcher 
event. das Vorhandensein, besonders nervöser Krankheiten vor dem Unfall be¬ 
weisen kann. Aber auch die Berufsgenossenschaften scheuen sehr oft vor einer 
Untersuchung sofort nach dem Unfall zurück, «ei es in Unkenntnis des Wertes der 
Untersuchung, sei es aus Sparsamkeitsgründen. Gewöhnlich erst im Laufe der 
12. Woche findet die erste berufsgenossenschaftliche Untersuchung statt, die nun 
sohon häufig ganz veränderte, nervöse Verhältnisse vorfindet; zu dieser Zeit ist 
womöglich die Neurose schon in vollem Umfang vorhanden, deren Ausbruch bei 
früherer Untersuchung und dadurch veranlasster früherer Uebernahme der Be¬ 
handlung vielleicht hätte verhütet werden können. 

Auch der Kranke empfindet dieses Vierteljahr als etwas Unsicheres, Provi¬ 
sorisches. Er weiss noch nicht, wie die Berufsgenossenschaft sich zu seinem Un¬ 
fall stellen wird, er weiss nicht, ob nicht die bisherige kassen- oder privatärztliche 
Behandlung durch die Borufsgenossenschaft geändert werden wird, er hat auch 
eine unbestimmte Scheu vor den ihm bevorstehenden Vernehmungen usw. So 
lebt er in ständiger, seinem seelischen Zustande durchaus nicht zuträglicher 
Spannung. Beginnt dann die geschäftliche Behandlung dos Unfalls seitens der 
Berufsgenossenschaft und gelingt es nicht, die Entschädigungsansprüche in kurzer 
Zeit zum endgültigen Abschluss zu bringen, was gewöhnlich nur bei ganz klar- 
liegenden Fällen geschieht, so sind immer wiederkehrende Vernehmungen, ärzt¬ 
liche Untersuchungen und Verhandlungen nicht zu vermeiden, da ja jeder von 
beiden Parteien bei jeder Zustands- und darauf begründeter Rentcnändorung die 
Anrufung aller Instanzen kostenlos freisteht. Diese Verhandlungen und Unter¬ 
suchungen zwingen geradezu den Verletzten, sich das Bild seiner Beschwerden 
fest und fester einzuprägen. Je häufiger Untersuchungen und Verhandlungen 
stattfinden, „umsomehr wird der ganze Gedankengang auf dieso eine Richtung ein¬ 
gestellt, umsomehr beherrscht dieser eine Vorstellungskreis das ganze geistige 
Leben des Verletzten“ [Sachs und Freund (87)]. 

Der Verletzte findet eine sehr wesentliche Unterstützung seiner hypochon¬ 
drischen Vorstellungen in den Gutachten der Acrzte, die teils in öffentlicher Ver- 


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Dr. Alfred Jacoby, 


handlung vorgetragen, teils ihm im Rentenbescheid leider fast immer abschriftlich 
vollständig mitgeteilt werden. In diesen Gutachten hat er seine Erkrankung sozu¬ 
sagen schwarz auf weiss; er kann die positiven Befunde bewusst oder unbewusst 
verstärken und befestigen und erfahrt aus dem negativen Befund, was ihm zur 
Neurose noch fehlt. So bildet das Hinausziehen der endgiltigen Entscheidung 
auch in dieser Beziehung eine schwere Gefahr für den Verletzten. Schönfcld 
hat einen von M. Laehr begutachteten Fall mitgeteilt, welcher bis dahin zehnmal 
vor dem Schiedsgericht und achtmal vor dem Reichsversicherungsamt verhandelt 
und ausserdem noch nichtamtlich mehrfach ärztlich begutachtet worden war (97). 

Es ist aber ferner leicht verständlich, dass die zumeist unbemittelten Unfall¬ 
kranken es schmerzlich empfinden, wenn durch die Verzögerung der endgiltigen 
Entscheidung auch die Auszahlung des Geldes verhindert wird. Ohne Barmittel, 
da die Krankenkassenunterstützung gewöhnlich längst aufgehört hat, bedeutet für 
sie, die an ihre Erwerbsfähigkeit nicht glauben, die Rente das einzige Mittel für 
den Lebensunterhalt, und ihre ohnehin oft zur Erkrankung vorbereitete, durch die 
Erregungen des Unfalls und seiner Folgen geschwächte nervöse Konstitution bricht 
völlig zusammen, wenn sie monatelang genötigt sind, in angstvoller Spannung auf 
die Entscheidung zu warten. 

Die Genese der Unfallneurosen ist also in kurzer Zusammenfassung folgende: 
Entweder entstehen die nervösen Störungen unmittelbar nach dem 
Unfall bzw. kurze Zeit darauf als akute Affektstörungen, oder sie 
entwickeln sich allmählich im Verlaufe der anatomischen Heilung, 
bzw. nach einer Zeit anscheinend er Gesundheit. In diesen Fällen 
beginnen sie mit unlustbetonten Vorstellungen der körperlichen 
oder wirtschaftlichen Insuffizienz, auf Grund suggestiv entstan¬ 
dener oder suggestiv übertriebener Krankheitsempfindungen. Gleich¬ 
zeitig oder später treten Begehrungsvorstellungen hinzu. Alle diese 
Erscheinungen können verstärkt und befestigt werden durch schädi¬ 
gende Einflüsse seitens der näheren Umgebung und unberufener 
Ratgeber, seitens ungeeigneter ärztlicher Behandlung und seitens 
des Entschädigungsverfahrens. 

Auf der Kenntnis dieser Genese muss sich die Verhütung aufbauen. Es war 
schon darauf hingewiesen worden, dass die akut im unmittelbaren Anschluss an 
den Unfall entstandenen Erkrankungen bei gegebener Anlage nicht verhütet werden 
können. Ist aber auch nur soviel Zeit nach dem Unfall ohne das Auftreten ner¬ 
vöser Erscheinungen vergangen als notwenig, um eine ärztliche Behandlung ein¬ 
zuleiten, so kann auch schon mit Vorbeugungsmassregeln begonnen werden, und 
zwar fällt diese Aufgabe dem erstbehandelnden Arzt zu. Eignet sich die Ver¬ 
letzung zur häuslichen Behandlung, so muss es der hinzugezogene Arzt möglichst 
vermeiden, überhaupt eine Prognose, keinesfalls aber eine ungünstige zu stellen. 
Er wird im Besitze des notwendigen ärztlichen Taktes eine gründliche Unter¬ 
suchung und gewissenhafte Beurteilung mit geschickt gewählten, ermutigenden 
Trostworten verbinden können und aus seinem ganzen Wesen den Kranken ersehen 
lassen, dass eine Heilung in sicherer Aussicht steht. Ist die Ueberführung in ein 
Krankenhaus erforderlich, wogegen während der Zeit der chirurgischen Behand¬ 
lung nichts einzuwenden ist, so kommt die Pflicht der psychischen Beruhigung 
den dortigen Aerzten zu. 


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Nun muss ohne weiteres anerkannt werden, dass nicht jeder Arzt trotz viel¬ 
leicht vorzüglicher wissenschaftlicher und praktischer Kenntnisse im Besitz der 
seelischen Feinfühligkeit ist, welche dem Verletzten unmerklich die Sorgen und 
Einbildungen abnimmt. Andererseits kann nicht jeder Arzt und nicht jeder 
Krankenhausleiter ein spezialistisch ausgebildeter Psychiater sein. Aber angesichts 
der ungeheuren Zahl der Unfälle und der schwerwiegenden Bedeutung der Ver¬ 
sicherungsgesetzgebung kann verlangt werden, dass jeder Studierende der Medizin 
die Grundlagen der sozialen Medizin beherrscht, zu welchen auch das Verhalten 
zu Unfallverletzten gehört. 

Abgesehen von der Psychotherapie wird sich die chirurgische Behandlung 
nach der Art des Falles richten, wobei allerdings besondere Vorsicht bei opera¬ 
tiven Eingriffen im Hinblick auf die oben geschilderten Erfahrungen geboten ist. 

Während es nur von dem Taktgefühl und dem Verständnis der Aerzte ab¬ 
hängt, von ihnen ausgehende Ursachen für die Unfallsneurosen zu vermeiden, ist 
es ausserordentlich viel schwerer, die Einflüsse der Familie, der Freunde, Ge¬ 
sinnungsgenossen und der politischen Faktoren auszuschalten. Soweit nicht die 
bereits besprochenen, allgemeinen ethischen und sozialpolitischen Gesichtspunkte, 
wie gegen die Prädisposition, so hier gegen die ebengenannten Schädigungen sich als 
wirksam beweisen, kann nur eine Entfernung des Verletzten au3 dem Kreise jener 
Personen in Frage kommen. Aber abgesehen von den Fällen, welche durch die 
Schwere der Verletzung die Aufnahme in ein Krankenhaus notwendig machen, 
kann grundsätzlich eine Ueberführung dorthin in jedem Falle weder jedem Ver¬ 
letzten, noch der Krankenkasse, bzw. der Berufsgenossenschaft zugemutet werden, 
noch ist sie mit dem berechtigten Interesse der Aerzte vereinbar, wenn keine Ver¬ 
anlassung zu dem Verdacht gegeben ist, dass eine Unfallsneurose auftreten werde. 
Nur besondere Umstände können die Entfernung aus der häuslichen Behandlung 
rechtfertigen. Dahin gehören das Vorhandensein einer ausgesprochenen neuro- 
oder psychopathischen Konstitution, das Auftreten einzelner, durch den objektiven 
Befund nicht genügend erklärter, nervöser Symptome, vor allem eine unmotivierte 
Aenderung der Stimmungslage, mangelnde, häusliche Pflege und nachweislich 
ungünstiger Einfluss der Umgebung auf das Seelenleben. Keinesfalls darf aber 
unter solchen Umständen zu lange mit der Ueberweisung gewartet werden. 

Die beste Aussicht zur Verhütung der Neurosen besteht sofort nach Beendi¬ 
gung der chirurgischen Behandlung, wenn die Arbeit wieder aufgenommen werden 
soll. Dann tritt dem Verletzten „der Kontrast zwischen behaglichem Nichtstun 
und mühsamer Arbeit vor das Bewusstsein, entsteht die Frage, ob alle Folgen des 
Unfalls wirklich beseitigt sind, ob sich nicht Ansprüche auf eine weitere Unfall¬ 
rente rechtfertigen lassen“ [Strümpell (101)]. In diesem Zeitpunkt muss die 
psychische Beeinflussung seitens des Arztes, die schon sofort nach dem Unfall 
einsetzte, ihren Höhepunkt erreichen und gegebenenfalls durch Entfernung des 
Kranken aus der Häuslichkeit unterstützt werden. Es fragt sich nun vor allem, 
welche Art von Heilanstalt für die Erreichung des Zieles die günstigste ist. 

Der Aufenthalt in der Heilanstalt soll in negativem und positivem Sinne 
wirken. Der Verletzte soll dem ungünstigen Einfluss seiner Umgebung entzogen 
und von seinen eigenen hypochondrischen Vorstellungen abgelenkt werden, dafür 
soll durch die suggestive Kraft der ärztlichen Autorität und der angewandten Heil- 


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Dr. Alfred Jacoby, 


methoden sein Selbstvertrauen, seine Lebensfreude wieder geweckt und durch sorg¬ 
fältige körperliche Pflege sein Kräftezustand gehoben werden. 

Die körperliche Kräftigung des Verletzten durch gute Ernährung und Körper¬ 
pflege kann in jeder gut geleiteten Heilanstalt geschehen; auch die gegebenen 
Falles angezeigte chirurgisch-orthopädische Nachbehandlung mittels Massage, 
Bäder und der sonstigen Methoden der physikalischen Therapie überschreitet 
innerhalb gewisser Grenzen nicht die Kompetenz der meisten Krankenhäuser. 

Aber alle diese gewissermassen unpersönlichen Massnahmen stehen an Wich¬ 
tigkeit weit zurück hinter dem persönlichen Einfluss des Arztes. In dieser Be¬ 
ziehung sind die kleinen den grossen Hoilanstalten entschieden überlegen. Wenn 
selbst der leitende Arzt eines grossen allgemeinen Krankenhauses die durchaus 
erforderliche psychotherapeutische Vorbildung besitzt, welche zur prophylaktischen 
Behandlung Unfallverletzter notwendig ist, so kann er doch unmöglich bei einer 
starken Belegziffer soviel Zeit und Aufmerksamkeit auf seine Unfallkranken ver¬ 
wenden, wie es in ihrem Interesse notwendig ist, und den Assistenten fehlt zumeist 
die genügende Erfahrung und Autorität, um selbständig psychotherapeutisch auf 
die Kranken einzuwirken. Aber es wird überhaupt leichter soin, Aerzte mit sozial¬ 
hygienischer Bildung für eine kleinere Heilanstalt zu finden, als Spezialärzte der 
inneren Medizin oder Chirurgie, welche sich für die Leitung eines grossen Kranken¬ 
hauses eignen und ausserdem noch sozialmedizinische Schulung besitzen. Anderer¬ 
seits sprechen ökonomische Gründe dafür, die Anstalten nicht zu klein zu ge¬ 
stalten, um den Betrieb nicht übermässig zu verteuern; eine Belegziffer von 70 bis 
100 Patienten dürfte ungefähr der notwendigen Grösse entsprechen. 

Sind also grosse, allgemeine Krankenhäuser meines Erachtens nicht der 
passende Ort zur Verhütung von Unfallneurosen, so eignen sich Unfallkranken¬ 
häuser häufig aus anderen Gründen nicht zu diesem Zweck. Um mir ein Bild der 
Behandlung in Unfallkrankenhäusern zu verschaffen, habe ich das Unfallkranken¬ 
haus der „Nordöstlichen Holzberufsgenossenschafi“ in Wilhelmsbagen bei Berlin 
und das „Herrmannhaus“, Unfallnervenklinik der „Sächsischen Baugewerksberufs¬ 
genossenschaft“ in Stötteritz bei Leipzig besucht, wozu mir die leitenden Aerzte, 
Herr Dr. Deutz bzw. Herr Prof. Dr. Windscheid, in liebenswürdigster Weise 
die Erlaubnis erteilten. Beide Anstalten haben das Gemeinsame, dass sie klein 
und von Berufsgenossenschaften eingerichtet sind und nur Unfallverletzte (mit 
seltenen Ausnahmen) aufnabmen. Dagegen unterscheiden sie sich insofern, als 
die Anstalt Wilhelmshagen im wesentlichen die chirurgische Nachbehandlung 
pflegt und von einem Chirurgen geleitetwird, während an derSpitze des„Herrmann- 
hauses“ als einer spezialen „Unfallnervenklinik“ ein Neurologo steht. 

Grundsätzliche Bedenken gegen dio Eignung derartiger Anstalten für die 
Verhütung von Unfallneurosen erregt der Umstand, dass sie berufsgenossenschaft¬ 
liche Gründungen sind. Ohne dass dadurch ihre Vortrefflichkeit objektiv im ge¬ 
ringsten beeinträchtigt würde genügt diose Tatsache für den Durchschnittsarbeiter, 
um sie mit dem Gefühl des tiefsten Misstrauens zu betrachten. Seine ganze, sozial¬ 
politische Entwickelung lässt ihn nun einmal in den unteren Versicherungsbehörden 
seine Feinde erblicken, die ihn seiner wohlerworbenen Hechte berauben wollen; und 
als die Mittel zu diesem Zweck betrachtet er die „Rentenquetschen“ und ihre Leiter, 
mögen diese auch noch so humane, verdiente Männer sein. Wenn Windscheid in 


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Zar Verhütung des Entstehens von Unfallnenrosen. 


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der Beschreibung des Herrmannbauses (112) diese Besorgnis dadurch za entkräften 
meint, dass er auf die finanzielle Nichtbeteiligung des leitenden Arztes im Gegensatz 
za Privatkliniken hinweist, so rechnet er meines Eraohtens nicht mit der misstrau- 
ischen Beschränktheit des Arbeiters, der hinter solchen Argumenten nur Ausflüchte 
wittert. Gerade der beruhigende und befreiende seelische Einfluss, der von dem 
Arzte und seinen Anordnungen ausgehen soll, wird notwendigerweise von dem 
Misstrauen des Arbeiters gegen die Einrichtungen der Berufsgenossenschaften para¬ 
lysiert und damit die wichtigste Waffe im Kampf ihrer Schärfe beraubt. Aber 
auch nach anderer Richtung hin erscheinen mir die Unfallkrankenhäuser grund¬ 
sätzlich ungeeignet. 

Während in den allgemeinen Krankenhäusern der Unfallkranke unter den 
übrigen Kranken verschwindet, sind die berufsgenossenschaftlichen Heilanstalten 
ausschliesslich dem Unfallkranken zugänglich. Der Verletzte bewegt sich also, 
vom ärztlichen und Pflegepersonal abgesehen, nur in einer Gesellschaft, deren 
Interessen und Anschauungen mit den seinen identisch sind. Es ist unvermeidlich, 
dass die Insassen sich psychisch ungünstig beeinflussen, dass die trübe Stimmung, 
die Gereiztheit, das Misstrauen eines Nervenkranken auf andere übergeht, bei denen 
nur die Anlage zur Neurose besteht; dass Erfahrungen ausgetauscht, Neulinge 
belehrt werden, kurz, dass gerade die Einflüsse, denen man den Verletzten ent¬ 
ziehen wollte, hier in reinster Form auf ihn einströmen. Nicht zu Unrecht sind 
diese Anstalten „Hochschulen der Simulation 11 genannt worden. Die Leiter der 
Unfallkrankenhäuser sind sich dieses Uebelstandes wohl bewusst: aber sie glauben, 
ihn durch die Möglichkeit ständiger Ueberwachung verhindern zu können. Ich 
habe indes den persönlichen Eindruck gehabt, dass die Kontrolle doch einen recht 
erheblichen Spielraum für die psychische Infektion lässt. Sowohl in Wilhelms- 
bagen als im Herrmannhaus ist es trotz des Zeitaufwandes einerseits für hydro- 
und mechanotherapeutische Massnahmen, andererseits für werktätige Beschäftigung 
unmöglich, eine längere unbeaufsichtigte Aussprache der Patienten untereinander 
zu verhüten. Dazu kommt, dass eine ständige Aufsicht im eigentlichen Sinne des 
Wortes nur durch das mit dem Kranken sozial auf einer Stufe stehende Wärter- 
personal, nicht durch die Aerzte, ausgeübt wird. Da nun, aus Sparsamkeitsgründen, 
z. B. für die 35 bis 40 Patienten des Herrmannhauses nur ein Wärter zur Ver¬ 
fügung steht, so lässt sich die Ueberwachung meines Erachtens nur lückenhaft 
durchführen. In diesem Sinne warnen auch Sachs und Freund, Löwen fei d, 
Schuster u. a. vor den reinen Unfallkrankenhäusern. 

Als weitere Möglichkeit ergibt sich die Unterbringung der Unfallverletzten, bei 
denen eine Neurose verhütet werden soll, in Sanatorien allgemeinen Charakters. 
Als Beispiele solcher Anstalten durfte ich mit gütiger Erlaubnis der Herren Chef¬ 
ärzte Dr. Pielicke bzw. Prof. Dr. Max Lähr das Sanatorium der Landesversiche¬ 
rungsanstalt Berlin in Beelitz und die Nervenheilslätte „HausSchönow“ beiTeltow 
besichtigen. Beide Anstalten haben nur das Gemeinsame, dass sie nicht nur für 
Unfallnervenkranke geöffnet sind; sonst aber sind sie auf verschiedenen Grund¬ 
sätzen aufgebaut. Während Beelitz durchschnittlich täglich von 317 Kranken be¬ 
legt ist, zählt Haus Schönow deren nur 100 bis 110. In Beelitz finden neben 
Nervenkranken auch solche Aufnahme, welche „an gutartigen, chronischen, die 
Erwerbsfähigkeit bedrohenden Krankheiten leiden“ [Siefart (90)]. Haus Schönow 


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Dr. Alfred Jacoby, 


dagegen ist ein Sanatorium, ausschliesslich für Nervenkranke, aber aus allen 
Ständen; während Beelitz nur für die aus dem Bereich der Landesversicberungs- 
anstalt Berlin stammenden Kranken bestimmt ist. Diese Gegenüberstellung kenn¬ 
zeichnet zugleich die Vorzüge und Fehler beider Einrichtungen. 

Boelitz ist nach den oben entwickelten Grundsätzen zu gross und der ganze 
Betrieb notwendigerweise zu unpersönlich, um eine intensive psychische Beein¬ 
flussung des Einzelnen seitens des leitenden Arztes möglich zu machen; durch 
die Anhäufung verschiedenartigster Kranker wird das Interesse von den einzelnen 
Unfallnervenkrankcn abgelenkt, wenn auch nicht in dem Masse, wie in einem 
grossen, allgemeinen Krankenhause; endlich ist auch Beelitz, wie das Herrmann¬ 
haus von einer Versicherungsbehördo eingerichtet und demnach für den Arbeiter 
nicht vertrauenerweckend. 

Auch in Beelitz sind sich die Patienten zuviel selbst überlassen, um nicht in 
der mehrfach geschilderten Weise sich gegenseitig zu beeinflussen. 

Ganz anders dagegen in Haus Sohönow. Vor allen Dingen ist diese Nerven¬ 
heilanstalt die Gründung eines wohltätigen Vereins, ihr leitender Arzt von Ver¬ 
sicherungsbehörden durchaus unabhängig. Ferner befindet sich der Unfallnerven¬ 
kranke zwar nur unter anderen Nervenkranken, aber, was sehr wichtig ist, auch 
unter solchen anderer Stände, und zwar werden Unfallpatienten grundsätzlich nur 
bis zu Ys des Bestandes aufgenommen. Wenn es aber das Kennzeichen des Unfall¬ 
nervenkranken ist, aus Begehrungsvorstellungen heraus nicht gesund werden zu 
wollen, so hat der nichtentschädigungsberechtigte Nervenkranke gerade um¬ 
gekehrt den dringenden Wunsch nach Genesung. Es kann mit Leichtigkeit dafür 
gesorgt werden, dass die Unfallpatienten unter die Privatkranken soviel als mög¬ 
lich verteilt werden; und das Beispiel der letzteren kann ebenso günstig auf den 
Seelenzustand der ersteren einwirken, wie der Verkehr der Unfallkranken unter¬ 
einander schädlich ist. 

Die seelische Kräftigung der Kranken wird in Haus Sohönow ferner dadurch 
in bester Weise erreicht, dass sie fast niemals am Tage allein, sondern in Gesell¬ 
schaft eigens vorgebildeter Pflegerinnen sich befinden. Ich lege besonderes Gewicht 
auf die Tatsache, dass es weibliche Hilfskräfte sind, mit welchen die Kranken 
umgehen. Auch der beste Wärter wird höchstens kameradschaftlich den männ¬ 
lichen Kranken entgegentreten’, meist aber spielen Wärter entweder den Vor¬ 
gesetzten im Sinne des Unteroffiziers, oder sie legen das Hauptgewicht ihrer 
Tätigkeit auf die mechanische Krankenbehandlung durch Massage, Bäderverab¬ 
reichung usw. Seelische Einflüsse aber seitens der Wärter werden wohl ausnahms¬ 
los im Sinne der sozialen Schicht, der die Wärter angehören, also entgegengesetzt 
der vom Arzte gewünschten Riohtung erfolgen. 

Die Schwestern hingegen sollen höheren Schichten mit anderen sozialen An¬ 
schauungen und differenzierterem Gefühlsleben entstammen, sie stehen den poli¬ 
tischen Kämpfen und Parteien in der Regel fern und betrachten ihren Dienst als 
Liebestätigkeit; es ist auch viel leichter möglich, sie psychotherapeutisch im Sinno 
der Aufheiterung, der Ermutigung der Patienten zu instruieren; alles in allem sind 
sie, unter der Voraussetzung der geschickten Auswahl, die besten Vermittler der 
ärztlichen Absichten. 

Und schliesslich ist auch in Haus Schönow diejenige Behandlungsmethode 


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am reinsten durchgeführt, welche dem psychologischen Entstehen der Unfalls¬ 
neurosen am meisten gerecht wird, die Methode der Arbeitsbebandlung. 

Sobald man die primären Ursachen der meisten Unfallsneurosen in den krank¬ 
haften Vorstellungen der Leistungsunfähigkeit erkannt hatte, lag der Gedanke nahe, 
durch Gewöhnung an die Arbeit und durch den Nachweis der Leistungsmöglich¬ 
keit die Kranken zur Genesung zu bringen, und die Verletzten vor dem Eintritt 
der Krankheit zu schützen. So empfehlen schon Albin Hoffmann 1891, Eisen¬ 
lohr (Diskussion im ärztlichen Verein zu Hamburg am 1. 12. 91), Oppenheim 
1892, Wich mann 1895, die Kranken mit leichter Arbeit, welche keine Verant¬ 
wortung forderte, zu beschäftigen. Wich mann dachte auch schon an Arbeits¬ 
stätten im Anschluss an Krankenhäuser, in welchen unter ärztlicher Leitung die 
Kranken allmählich an die Arbeit gewöhnt werden sollten. 

Aber erst Moebius hat in seiner bekannten Broschüre: „Ueber die Behand¬ 
lung von Nervenkranken und die Errichtung von Nervenheilstätten, Berlin 1896“ 
die systematische Gewöhnung an die Arbeit in besonders dazu eingerichteten 
Arbeitssanatorien gefordert. Für ihn beruht das Hauptgewicht der Behandlung 
von Nervenkranken auf der Regelung der Tätigkeit; der „Ausschaltung falscher, 
schädlicher oder nutzloser Tätigkeit, Anleitung zu guter Arbeit, die in rechter 
Weise mit Ruhe wechselt.“ Dem Vorschläge von Moebius haben dann viele 
andere Neurologen zugestimmt, von denen nur Bruns, Edinger und Auer¬ 
bach (18), Jessen (45), Eschle (20) erwähnt seien. Wenn auch Moebius seine 
Arbeitsbehandlung zunächst für Nervenkranke erdacht hat, so liegt doch kein 
Grund vor, sie nicht auch für Verletzte zur Verhütung der Nervenkrankheit anzu¬ 
wenden; sie wird sogar zu diesem Zweck sich noch wirksamer erweisen, da bei 
der Verhütung nur die Anlagen der Krankheitserscheinungen unterdrückt werden 
sollen, die bei der Krankheit schon in vollem Masse ausgedrückt sind. 

In Haus Schönow gibt es als Arbeitsgelegenheit Werkstätten für Tischlerei, 
Buchbinderei, BürsteDbinderei und Kunstarbeiten (Zeichnen, Brennen usw.); 
ferner werden weibliche Handarbeiten und Strohflechtarbeiten angefertigt, und 
schliesslich werden die Kranken noch in der Gärtnerei und bei leichter Feldarbeit 
beschäftigt. Alle diese Arbeiten werden unter ständiger sachkundiger Leitung vom 
leichten zum schwereren fortschreitend, nach ärztlicher Verordnung, aber möglichst 
nach individueller Neigung ausgeführt. Für die Eintretenden besteht die Ver¬ 
pflichtung zur Arbeit, sobald sie ärztlich angeordnet wird. Auch in Beelitz wird, 
allerdings in sehr viel geringerem Umfang, mit Arbeit behandelt; doch besteht 
dort keine Arbeitspflicht. Während in Beelitz die Arbeitstherapie hinter der physi¬ 
kalischen zurücktritt, ist es in Haus Schönow umgekehrt. Im Herrmannhaus ist 
eine Behandlung durch Tätigkeit insofern vorhanden, als alle häuslichen und 
Gartenarbeiten durch Kranke ausgeführt werden, und ausserdem Gelegenheit zum 
Zerkleinern von Holz vorhanden ist; Arbeitswerkstätten sind dagegen nicht vor¬ 
gesehen. 

Freilich sind auch wichtige Bedenken gegen die Arbeitsbehandlung laut ge¬ 
worden. So erhofft Windscheid (114) von ihr keine grossen Erfolge, weil sie 
den Charakter des Zwanges trägt und tragen muss, wenn es sich um Unfallkranke 
bandelt. Er ist der Meinung, dass der Arbeiter darin nur den von der Behörde 
ausgehenden Zwang, nicht den Zweck sieht, denn „dem Arbeiter kann man cs 


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Dr. Alfred Jacoby, 


nicht klar machen, dass er in einem Krankenbause, wo er zur Behandlung unter¬ 
gebracht ist, zum Zweck der Heilung arbeiten soll“. Auch Hoc he (37) kann die 
Wirkung der Sanatoriumsarbeit, „wie überhaupt aller der Massregeln, zu denen 
die Kranken gegen ihren Willen gezwungen werden“, nur in beschränktem 
Masse loben. 

Der Widerstand aus diesem Grunde macht sich allerdings praktisch geltend, 
nicht nur von Seiten der Arbeiter solbst, sondern auch in Form politischer An¬ 
griffe, denen die ärztlichen Leiter ausgesetzt sind, und in welchen ihnen „Aus¬ 
beutung der Kranken“ und „Lohndrückerei“ vorgeworfen wird. Es ist aber be¬ 
zeichnend, dass Arbeitsverweigerung aus diesem Grunde nach den mir persönlich 
gemachten Angaben, häufiger in Beelitz, als in Haus Schönow vorzukommen 
scheint, obgleich die Arbeit in Beelitz freiwillig ist. Es scheint also an diesem 
Uebelstande mehr das allgemeine Misstrauen gegen behördliche Anstalten schuld 
zu sein. Vielleicht beschämt auch in Haus Schönow das Beispiel des nicht ver¬ 
sicherten Arbeitenden die störrischen Arbeitsverweigerer. 

Eine weitere Schwierigkeit erhebt sich bezüglich der Frage, ob die Arbeiten 
unentgeltlich oder gegen Bezahlung angefertigt werden sollen. Windscheid und 
Lähr sind entschieden der Ansicht, dass Bezahlung den Charakter der Behand¬ 
lung auf hebt; dass der Kranke eine Beschäftigung braucht, die ihn als solche 
erfreut, ohne dass er das persönliche Interesse des Geldverdienens hat; und dass 
schliesslich weder den Berufsgenossenschaften, noch den Krankenhausverwaltungen 
zugemutet werden kann, die Arbeiten, die naturgemäss meist dilettantenhaft aus- 
fallen, zu bezahlen, zumal rechnerisch der Verlust an verdorbenem Material den 
Nutzen mindestens aufwiegt. 

Strauss (105) denkt daran, wenigstens einen Teil der Verpflegungs- und 
Behandlungskosten durch die Arbeit decken zu lassen; er hat dabei allerdings die 
ländliche Feldarbeit im Auge. 

Dagegen erklärt sich Hellpach gegen die „kurgemässe“, unbezahlte Arbeit, 
welche vom Arbeiter eben als „Behandlung“ empfunden werde und sein Krank¬ 
heitsbewusstseinverstärke. Auch Bernstein (7), Schuster (95) und Bruns (5) 
fordern Lohnarbeit, damit der Neurotiker duroh das Bewusstsein gestärkt werde, 
dass er sich seinen Unterhalt verdienen könne. Bruns erklärt ausdrücklich: „Soll 
die Arbeit ihre volle heilende Kraft entfalten, so muss sie dem Arbeiter materiellen 
Nutzen bringen.“ 

Ich bin der Ansicht, dass beide Forderungen verwirklicht werden können, 
und zwar durch Bildung von Uebergangsstationen, wie Haus Schönow eine solche 
in der Kolonie Birkenhof geschaffen hat. ln diesen Uebergangsstationen soll 
nicht mehr dilettantische, sondern ernsthafte Arbeit geleistet und dementsprechend 
bezahlt werden. Wenn dies in Birkenhof nicht geschieht, so liegt doch die Mög¬ 
lichkeit vor, derartige (landwirtschaftliche oder gewerbliche) Stationen so einzu- 
zurichten, dass sie ihre Betriebskosten ganz oder grösstenteils selbst aufbringen, 
und demnach ohne wesentliche Belastung Anderer auch Löhne zahlen können. 
Solange der Unfallverletzte im Sanatorium sich aufhält, arbeitet er, um wieder 
arbeitsfähig zu werden und erhält für diese „Behandlung“ keinen Lohn. Ist er 
soweit hergestellt, dass eine Neurose nicht mehr zu befürchten ist, so geht er in 
die UebergangsWerkstatt bzw. Kolonie über, wo er einen, seiner Leistung ent¬ 
sprechenden Lohn, vielleicht mit einer kleinen Rente erhält, bis er sich wieder 


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Zur Verhütung des Entstehens von Unfallneurosen. 


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selbst ernähren kann. Jedenfalls halte ich dieUeberführung von geeigneten Unfall¬ 
verletzten in Sanatorien nach Art des Hauses Schönow für eine der wichtigsten 
Massregeln zur Vorbeugung der Unfallsneurosen. 

Wer soll nun diese Sanatorien gründen und unterhalten? Dass es die Ver- 
sichetungsbehörden nicht sein sollen, geht aus den obigen Darlegungen hervor, 
aber auch den Gemeinden und den Wohltätigkeitsvereinen kann man es nicht zu¬ 
muten, für die Pflichten der Versicberungsträger aufzukommen; und auch der 
Staat muss es sich versagen, in diese, der Selbstverwaltung überlassenen Gebiete 
einzugreifen. 

Nicht einzelne dieser Faktoren, sondern alle zusammen sind dazu berufen. 
Gemäss der wünschenswerten Zusammensetzung des Materials aus Patienten 
besserer, wenn auch wenig bemittelter Stände, aus versicherungspflichtigen 
Arbeitern und gänzlich Unbemittelten mögen sich Zweck verbände von Wohltätig¬ 
keitsvereinen, Versicherungseinrichtungen und Kommunalbehörden, u. U. mit Ge¬ 
währung eines staatlichen Zuschusses bilden, um Arbeitssanatorien gemeinsam in 
das Leben zu rufen. Diesen Sanatorien würde weder der Makel der „Renten¬ 
quetsche“, noch der des Almosens anbängen, wenn Minderbemittelte zum Selbst¬ 
kostenpreis aufgenommen würden, und fürVersicherungspflichtige die betreffenden 
Versicherungen aufzukommen hätten, und den nicht versicherungspflichtigen Un¬ 
bemittelten würde der Aufenthalt auf Kosten der Armenverwaltung gewährt. 
Keinesfalls aber dürfte in der Art der Aufnahme zwischen diesen drei Kategorien 
ein Unterschied gemacht werdon. Etwas anders verhält es sich mit den Ueber- 
gangswerkstätten oder Kolonien. Da diese sich im wesentlichen selbst erhalten 
sollen, so könnte das Kapital zu ihrer Einrichtung zinsfrei oder zu ganz geringem 
Zinssatz seitens einer Behörde, z. B. der Berufsgenossenschaft, zu welcher der 
Betrieb gehören würde, oder einer Versicherungsanstalt, vorgestreckt werden. 
Die Errichtung von Betriebswerkstätten durch die Berufsgenossenschaften schlägt 
auch Bernstein (1. c.) vor. Auch ein Zweckverband verwandter Berufsgenossen¬ 
schaften könnte zu diesem Zweck gesetzlioh gestattet werden und seinen Platz in 
der in Aussicht genommenen R. V. 0. finden. Eine ähnliche verschmelzende 
Organisation innerhalb der drei Versicherungszweige selbst regt Schwanck 
an (96). 

Der Bildung von Uebergangsstationen hätte sich allerdings noch ein weiterer 
Schritt zur Vollendung anzuschliessen, die Beschaffung von Arbeit für die aus den 
Stationen entlassenen, noch nicht völlig Erwerbsfähigen. Im allgemeinen gelingt 
es den eben aus der Behandlung entlassenen Verletzten nicht leicht, wieder 
Arbeit zu finden, vor allen Dingen in Zeiten schlechten Geschäftsganges und 
starken Angebotes, in welchen die Gesunden nach Lage der Dinge vorgezogen 
werden. Eine Periode der Arbeitslosigkeit muss aber möglichst vermieden werden, 
denn ausser der unzureichenden Ernährung als Folge des Geldmangels drohen in 
dem Unbeschäftigten alle die krankhaften Vorstellungen wieder aufzutauchen und 
Macht zu gewinnen, durch deren Unterdrückung der Eintritt der Neurose verhütet 
werden sollte. 

Um diesen Halbgenesenen Arbeit zu verschaffen, ist das Nächstliegende die 
Beschäftigung in dem Betriebe, in welchem sie verunglückt sind. Es könnte sozu¬ 
sagen als nobile officium der Arbeitgeber betrachtet werden, dass sie ihren ver- 
Vierteljahrsschrift f. ger. Med. o. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 2. 26 


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Dr. Alfred Jacoby, 


letzten Arbeitern die Möglichkeit bieten, sich durch Arbeit wieder emporzuraffen. 
So sagt Wilma ns in einer Diskussion des ärztlichen Vereins zu Hamburg am 
21. 4. 1896 (117): „Es ist die moralische Pflicht der Arbeitgeber, den verletzten 
Arbeiter zu beschäftigen.“ Dieser Standpunkt rechnet nicht mit den tatsächlichen 
Verhältnissen, ln einem grossen Betriebe mit seinen vielfältigen Beschäftigungs¬ 
arten wird sich allerdings die Mögliohkeit verhältnismässig leicht bieten, einen 
teilweise Erwerbsunfähigen unterzubringen, ohne dass wesentliche finanzielle 
Nachteile für den Betrieb entstehen. In der Werkstatt, der kleinen Fabrik, ist die 
Wiederaufnahme häufig ausgeschlossen, wenn der Arbeiter nicht voll leistungs¬ 
fähig ist. Die Kapitalskraft kleiner Unternehmer ist sehr oft so schwach, dass sie 
nur durch volle Ausnutzung von Arbeitskräften und Arbeitsmaterial sich kon¬ 
kurrenzfähig erhalten können; in diesen Betrieben gibt es auoh gewöhnlich nur 
eine oder wenige Arten von Arbeit, so dass eine Rücksichtnahme auf den einzelnen 
Arbeiter kaum angängig erscheint. Das letztere gilt auch von der landwirtschaft¬ 
lichen Arbeit im Kleinbetrieb. Vollends in Betrieben mit wechselnder Arbeits¬ 
gelegenheit und stark fluktuierenden Arbeitskräften, wie Ziegeleien, im Baugewerbe, 
im Tiefbau, bei Saisonarbeitern ist das Verhältnis von Arbeitgeber zu Arbeitnehmer 
so lose, dass jede ethische Voraussetzung für eine „moralische Pflicht“ fehlt. In 
allen diesen Fällen kann nur der Arbeitsnachweis durch die Berufsgenossenschaften 
helfend eintreten, den fast alle Autoren fordern. Arbeitsnachweise für teilweise 
Erwerbsunfähige sind meines Wissens bisher noch nicht vorhanden, ausser dem 
Berliner Verein für Unfallverletzte und einigen privaten Vermittlungsstellen nach 
den Angaben von Schuster und Jeremias. Nach einem in der Mediz. Reform, 
1909, Nr. 17 veröffentlichten Bericht scheint der Verein für Unfallverletzte keine 
wesentlichen Erfolge zu erzielen, da „die Arbeitsvermittlung nicht fungiert“ und 
„die Zahl der Mitglieder langsam im Fallen begriffen ist.“ Dagegen hat z. B. die 
Seidenindustrie-Berufsgenossenschaft (89) in Erkenntnis der Wichtigkeit der Arbeit 
für die Unfallverletzten die ihr ungehörigen Unternehmer aufgefordert, jenen leichte 
Arbeit zur Verfügung zu stellen. Auch eine Reihe grösserer Betriebe aus anderen 
Gewerben hat aus eigenem Antrieb sich entschlossen, ihre verletzt gewesenen 
Arbeiter möglichst wieder zu beschäftigen. Döllcken berichtet von vierFabriken, 
welche binnen 18 Jahren ca. 13000 Arbeiter beschäftigten, und den Grundsatz 
haben, „alle verunglückten Arbeiter mit vollem Lohn wieder einzustellen“; von 
dem Lohne ziehen zwei der Fabriken eine etwa gezahlte Rente ab. Es beruht 
daher sicher nicht auf Zufall, dass akute Neurosen dort zwar Vorkommen, aber 
ohne Behandlung nach Aufnahme der Arbeit wieder abheilen, dagegen von chro¬ 
nischen Neurosen in der ganzen Zeit trotz einer Unfallziffer von 5—15 pCt. nur 
drei Fälle verzeichnet sind, welche aber auch geheilt sind. 

Um zu erfahren, wie die Fabrikleitungen selbst über die Beschäftigung 
Unfallverletzter denken, habe ich mich an fünf grosse Betriebe mit einer ent¬ 
sprechenden Anfrage gewandt. Alle diese Firmen stellen ihre eigenen, verletzten 
Arbeiter, wenn möglich, wieder ein, und zwar für diejenigen Arbeiten, welche sie 
noch zu leisten vermögen, oder (Krupp) für besondere Invalidenbeschäftigungen 
(Wärter, Portier, Bürodiener und Beschäftigung in der Bürstenfabrik). In erster 
Reihe werden Arbeiter mit längerer Dienstzeit berücksichtigt. Die Löhnung er¬ 
folgt ohne Rücksicht auf die Höhe der etwaigen Unfallrente (Siemens & Halske 


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und Carl Zeiss), nach dem Werte der geleisteten Arbeit. Carl Zeiss und Friedr. 
Krupp gewähren ausserdem nooh aus ihren eigenen Pensionskassen Teilrenten. 

Dagegen lehnen alle diese Beiriebe die Einstellung fremder, teilweise er¬ 
werbsfähiger Arbeiter entweder ganz ab, weil, wie Gebr. Reichstein schreiben, „im 
•eigenen Betriebe sich invalide oder halbkranke Arbeiter genügend ansammeln und 
wir auf diese vor allem bedacht sein müssen“, und es „die Pflicht jedes Gross¬ 
betriebes ist, für seine Arbeiter selbst zu sorgen“ (Karl Zeiss); oder sie werden 
nur nach denselben Grundsätzen wie andere, gesunde Arbeiter angenommen. 

Soweit also Verletzte nicht in demselben Betrieb, in welchem sie verunglückt 
sind, wieder Arbeit erhalten können, wird eine Vermittlung von Arbeitsgelegenheit 
für sie praktisch mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Erst wenn 
tatsächlich leistungsfähige Nachweise geschaffen worden sind, wird man den Ver¬ 
letztem die Pflicht auferlegen können, eine ihnen angebotene und ihrem Körper¬ 
zustande angemessene Arbeit zu leisten. Eine derartige, gesetzliche Verpflichtung 
wollen Bruns, Döllcken, Auerbach (1) u. a. einführen. Auerbach schlägt 
vor, den Unfallversicherungsgesetzen einen Zusatz in folgender Form zu geben: 
An der Stelle eines Teilbetrages der Rente kann eine dem Verletzten von der Be¬ 
rufsgenossenschaft nachzuweisende, leichtere Arbeit treten, falls diese nach ärzt¬ 
lichem Gutachten für notwendig zur Erlangung der völligen Erwerbsfahigkeit er¬ 
klärt wird“. Hackländer (43) gedenkt dagegen dem Arbeiter dadurch die Auf¬ 
nahme der Arbeit zu erleichtern, dass er ihm sofort den vollen Lohn sichern will. 
Er verlangt, dass dem nervös erkrankten oder bedrohten Arbeiter auch bei teil- 
weiser Erwerbsunfähigkeit, also bei quantitativ oder qualitativ minderwertiger 
Arbeit der volle Lohn gezahlt werde, um ihn wieder psychisch aufzurichten; da¬ 
gegen solle die Berufsgenossenschaft dem Arbeitgeber den Teil des Lohnes ver¬ 
güten, den der Arbeiter unverdient erhalten hat. Ich bin der Ansicht, dass die 
sichere Gewähr des vollen Lohnes viele Arbeiter veranlassen wird, noch weniger 
zu leisten, als es ihnen nach ihrem Zustande möglich ist. Die Folgen wären ent¬ 
weder andauernde Streitigkeiten zwischen Unternehmer und Berufsgenossensohaft 
über die Höhe des zu vergütenden Lohnes oder, falls die Entschädigung ent¬ 
sprechend der jetzigen Abschätzung der Erwerbsfähigkeit bemessen würde, eine 
finanzielle Schädigung des Arbeitgebers, die ihn vermutlich veranlassen würde, 
überhaupt keine Unfallverletzten einzustellen. 

Mehr Erfolg kann man sich dagegen von einigen Aendeiungen des Verfahrens 
der Rentenfestsetzung versprechen. 

Es wird allseitig zugegeben, dass die Mitteilung der vollständigen ärztlichen 
Gutachten an die Rentenbewerber in diesen vielfach die Vorstellung nervöser 
Störungen erst hervorruft und befestigt. Dieser Uebelstand wäre mit Leichtigkeit 
zu beseitigen. Zur ungekürzten Mitteilung der Gutachten, als Stütze des Urteils, 
das nur „ausführlich begründet “ sein muss, besteht keine gesetzliche Verpflichtung. 
Auf die Zulässigkeit der Kürzung machen u. a. König (50) und Seiffer (88) auf¬ 
merksam, und eine Resolution der Abteilung für Unfallheilkunde der 67. Versamm¬ 
lung der Gesellschaft der Naturforscher und Aerzte [zit. nach Wichmann (1. c.)] 
„hält es für durchaus notwendig, dass die Gutachtenauszüge, welche den Ver¬ 
letzten beim Rentenfestsetzungsbescheid mitgeteilt werden müssen, von Aerzten 
ausgestellt werden“. 

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Dr. Alfred Jacoby, 


Das Reichsversicherungsamt hat am 23. 9. 93 (nach einer Mitteilung in 
Beckers (10) Lehrbuoh d. ärztl. Sachverständigen-Tätigkeit, S. 88) sich dabin 
entschieden, dass alle diejenigen Teile des Gutachtens, „auf welche das er¬ 
kennende.Gericht bei der Entscheidung Gewicht legt und welche bei Absetzung 
der Urteilsgründe verwertet werden müssen“, auoh den Parteien mitzuteilen sind. 
Dagegen kann die Mitteilung von Abschnitten unterbleiben, welche „einen für den 
Verletzten beunruhigenden Inhalt haben, sachlich aber entbehrlich sind“. 

Durch weitere Verwaltungsmassregeln kann man zu erreichen suchen, dass 
die Dauer des Verfahrens so viel als möglich abgekürzt wird, um den Verletzten 
nicht unnötig lange der Ungewissheit über das Schicksal seines Rentenantrages 
auszusetzen. Dazu ist vor allem ein besseres Zusammenarbeiten von Aerzten, 
Krankenkassen und Berufsgenossensohaften erforderlich; Schwanck(96) hat eine 
Verwaltungsgemeinschaft zu solchem Zweck vorgeschlagen, und in gewisser Be¬ 
ziehung dürfte dieserWunsch durch die Einrichtung von Versicherungsämtern, wie 
sie der jetzt vorliegende Gesetzentwurf der Versicherungsreform vorschlägt, in Er¬ 
füllung gehen. Dadurch würde zunächst eine Beschleunigung der Tatbestands¬ 
erhebungen erzielt, ferner wäre es leichter als jetzt möglich, die Berufsgenossen¬ 
sohaften schon bald nach dem Unfall von dem Befinden eines Verletzten zu unter¬ 
richten und gegebenfalls die Uebernahme der Behandlung durch sie in die Wego 
zu leiten. 

Freilich dürfte auch die Berufsgenossenschnft die Kosten eines ärztlichen, 
ausführlichen Gutachtens schon in diesem Zeitpunkt nicht scheuen, um sich ein 
genaues Bild der frischen, durch den Unfall gesetzten Veränderungen zu ver¬ 
schaffen, und so den etwaigen Versuch des Verletzten, schon vorhanden gewesene 
Störungen auf Kosten des Unfalls zu bringen, zu vereiteln. 

Durch die Beschleunigung der ersten Vernehmungen und durch die Möglich¬ 
keit, in geeigneten Fällen die chirurgische Behandlung schneller, vielleicht auch 
vollkommener herbeizuführen, kann auch der Rentenbescheid früher erlassen 
werden. Allerdings haben dann beide Teile, Verletzter und Genossenschaft, es in 
der Hand, durch Einlegung von je zwei Berufungen mit immer wiederholten Unter¬ 
suchungen und Verhandlungen bei jeder Rentenfestsetzung bzw. Rentenänderungr 
den Kampf wieder zu entfachen und in die Längo zu ziehen. In dieser Beziehung 
ist z. B. von Döllcken der Vorschlag gemacht worden, die bisher kostenfreien 
Berufungen für kostenpflichtig zu erklären; Hoche will die Kosten der in der Be¬ 
rufung unterlegenen Partei auferlegen. Die Realisierung dieser Vorschläge würde 
unzweifelhaft die Zahl der Berufungen sehr herabdrücken und damit auch eine 
raschere Erledigung der übrigen Unfallstreitfälle ermöglichen. Aber die soziale 
Ungerechtigkeit, welche die reichen Berufsgenossenschaften mit Leuten auf eine 
Stufe stellt, welche selbst bei angestrengter Tätigkeit meist keine Ersparnisse 
machen und durch einen Unfall mindestens eine Zeitlang in ihrem Erwerbe gestört 
sind, würde in den breiten Massen einen Sturm der Entrüstung entfesseln, welcher 
eine Zustimmung des Reichstags unmöglich machte. 

Jeremias (46) empfiehlt eine Einschränkung der Berufungen auf eine 
Instanz für alle technischen Fragen (Lohnabrechnung, Reisekostenentschädigung, 
Auslagen für Heilmittel usw.); ein Vorschlag, der sehr beachtenswert ist. 

Mit den letztgenannten Massregeln haben andere den Umstand gemeinsam, 


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dass sie dem Verletzten eine rasche und, dauernd oder wenigstens für längere 
Zeit, nicht umzustossende Entscheidung gewährleisten wollen. Dazu gehört ein 
weiterer Vorschlag von Jeremias, solchen Unfallverletzten, welche nach ärztlicher 
Ansicht durch Arbeit wieder an Arbeit gewöhnt werden können, und bei welchen 
nur die Gefahr der Neurose droht, von vornherein nach einem mehrwöchigen Er¬ 
holungslandaufenthalt eine gleitende Rente zu bewilligen, welche mit 50 bis 
66 2 / 3 pCt. beginnend, im Laufe einer bestimmten, etwa einjährigen Frist auf 0 pCt. 
herabsinkt und zwar, ohne dass gegen dieses Gleiten eine Berufung eingelegt 
werden kann. Der Vorschlag setzt Unfehlbarkeit der ärztlichen Diagnose voraus. 
Er mag in vielen Fällen sehr nützlich wirken, so lange aber die Möglichkeit nicht 
ausgeschlossen werden kann, dass statt der erwarteten Besserung tatsächlich eine, 
auch objektiv anzuerkennende, unvorhergesehene Verschlechterung eintritt, ist er 
mit den Grundsätzen der sozialen Gesetzgebung, mit der Pflicht der Entschädigung 
und dem Prinzip der Fürsorge unvereinbar. Dasselbe gilt von dem Vorschläge der 
Kapitalsabfindung oder vielmehr ihrer Ausdehnung. Während nach dem geltenden 
Rechte die Auszahlung eines Kapitals anstelle der Rente nur an Ausländer, und 
an Inländer mit deren Zustimmung bei einer Erwerbsunfähigkeit von höchstens 
15 pCt. gestattet ist, soll nach Vorschlägen von Gaupp, Hoche, Müller, 
Döllcken, Hellpach, Windscheid die Kapitalisierung auch bei höheren 
Renten und ohne Zustimmung der Verletzten in geeigneten Fällen eingeführt werden. 

Es kann nicht bestritten werden, dass nicht nur die Heilung, sondern viel¬ 
leicht noch sicherer die Verhütung der Neurosen durch eine Massregel gefördert 
werden kann, welche den Kranken, durch eine für seine Verhältnisse sehr erheb¬ 
liche Geldsumme auf längere Zeit vor Sorgen sichert und ihm gegebenenfalls den 
Uebergang in einen anderen Beruf erleichtert, ihn vor den Aufregungen der stets 
wiederholten Untersuchungen und vor der Angst der Aufhebung oder Verkürzung 
der Rente schützt und ihm das ermutigende Gefühl der Genugtuung und des end¬ 
gültigen Abschlusses gewährt. 

Aber auch schwere Bedenken werden gegen den Vorschlag erhoben. Vor 
allem ist die Unsicherheit der ärzlichen Begutachtung zu gross, um die Möglich¬ 
keit unerwarteter Verschlimmerung unbeachtet zu lassen. Dieser Einwand kann 
auch durch die von Hoche (1. c. S. 25) ausgesprochene Hoffnung nicht wider¬ 
legt werden, dass die Diagnostik eine sicherere werden wird. Deshalb schlägt 
Gaupp in dem erwähnten Referat, Stuttgart 1906, vor, die Begutachtung durch 
eine ärztliche Kommission vornehmen zu lassen, und sie nur dann für zulässig 
zu erklären, wenn nach völliger chirurgischer Heilung die übrig gebliebenen 
Störungen im Verlauf der letzten 12 Monate objektiv keine Verschlimmerung er¬ 
fahren haben, und „die endgültige Erledigung der Rentenfrage im gesundheitlichen 
Interesse des Unfallskranken selbst liegt.“ 

Ferner muss bedacht werden, dass die Abfindung Leuten ein Kapital in die 
Hand gibt, welche im allgemeinen mit derartigen Summen nicht zu wirtschaften 
verstehen, und durch Leichtsinn oder Ungeschick des Geldes verlustig gehen 
können, ohne sich damit einen anderen Erwerb gesichert zu haben, und ohne 
völlig geheilt zu sein. Die Folge wäre eine übermässige Belastung der Armen¬ 
pflege und des mit dem Empfang von Armenunterstützung unauflöslich verbundenen 
Sinken der sozialen und ethischen Höhe des Unterstützten. Will man, um diese 


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Folgen zu vermeiden, dem Verletzten nur die Zinsen des Kapitals gewähren, wie 
Hoche andeutet, so heisst das nichts anderes, als dass man ihm eine dauernde 
Rente aussetzt, die aber nur einen geringen Teilbetrag der ganzen Rente ausmacht, 
welche der Kapitalisierung zugrunde gelegt worden ist. Wird also z. B. die Er- 
werbsfähigkeit eines Arbeiters mit einem jährlichen Verdienst von 1500 Mark nach 
einer Verletzung auf 50 pCt. geschätzt, unter der Voraussetzung, dass eine sichere 
Heilung in 1 bis 2 Jahren eintritt, und erhält er statt der ihm zustehenden Rente 
von jährlich 500 Mark, eine einmalige Abfindung von 1500 Mark, so geniesst er 
davon jährlich 60 Mark Zinsen. Er ist also gezwungen, sofort die volleArbeit auf¬ 
zunehmen und erhält in Wirklichkeit fast keine Entschädigung. 

Der Vorschlag Hellpachs, welcher den Arbeiter bei der Verwendung des 
Geldes durch seine Organisation beraten lassen will, stellt den Verletzten in dieser 
Beziehung unter eine Vormundschaft, welche das Selbstgefühl des Verletzten sicher 
nicht, dagegen den Einfluss der Organisation sehr erheblich fordert, was im all¬ 
gemeinen Staatsinteresse kaum zu wünschen ist. Dagegen scheint eine von 
Wimmers auf dem IV. internat. Kongr. f. Versieh.-Medizin vorgeschlagene Modi¬ 
fikation besseren Erfolg zu versprechen. Darnach soll dem Verletzten zunächst 
eine grössere Teilzahlung gewährt werden, und nach einer von vornherein zu be¬ 
stimmenden Frist von 1 bis 2 Jahren soll eine erneute Untersuchung über die 
Notwendigkeit und Höhe einer Nachzahlung Aufschluss geben. Nach einer Mit¬ 
teilung desselben Autors im Zentralbl. f. Nervenheilk. (2. Februarheft 1910) ist es 
mit dieser Massnahme in Dänemark gelungen, binnen 10 Jahren von 104 Fällen 
von Neurose 54 durch eine einmalige Abfindung von durchschnittlich 20 pCt., und 
weitere 13 durch eine zweite Abfindung von ca. 24 pCt. wieder arbeitsfähig zu 
machen. 

Dagegen hat sich ein Versuch Windscheids, die Rente zum ausdrück¬ 
lichen Zwecke des Zwanges zur Arbeit, also aus Heilungsgründen, niedriger zu 
bemessen, als es der ärztlich abgeschätzten Erwerbsunfähigkeit entspricht, als ge¬ 
setzlich unzulässig herausgestellt (Hoche, 1. c. S. 13). 

Ich fasse demnach das Ergebnis der Arbeit in folgende Schiassätze zu¬ 
sammen : 

1. Dem Auftreten von allgemeinen, nervösen Störungen nach Verletzungen von 
Unfallversicherten kann durch die Bekämpfung prädisponierenden Ursachen 
und durch geeigneteMassregeln nach Eintritt des Unfalls vorgebeugt werden. 

2. Die Bekämpfung der prädisponierenden Ursachen soll sich auf Festigung 
des Charakters und Vertiefung des sozialen Gerechtigkeitsgefühls und Ver¬ 
ständnisses durch die Schule aufbauen. Als Mittel zur Vorbeugung auf 
dem Gebiet der Prädisposition kommen vorwiegend soziale in Betracht, 
nämlich die Verbesserung der Ernährung und Wohnungen, besonders die 
Ermöglichung von Gartenarbeit auch in Hinsioht auf ihren psychischen 
Wert; ferner die Hebung der gewerblichen hygienischen Verhältnisse, die 
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und des Alkoholismus und die 
Unterstützung gesunder Sportspflege. 

3. Ob ausser der Prädisposition auch die Art der Verletzung für die Mög¬ 
lichkeit der Verhütung nervöser Störungen ausschlaggebend ist, lässt sich 
mit Sicherheit nicht entscheiden. Doch scheinen, namentlich nach Kopf- 


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Verletzungen, nervöse Erkrankungen umso schwerer vermieden werden zu 
können, je wahrscheinlicher das Vorhandensein organischer Veränderungen 
ist. Trotzdem kann dem Auftreten von Störungen nach Kopfverletzungen 
nur mit denselben Mitteln vorgebeugt werden, wie nach den Verletzungen 
anderer Organe. 

4. Besteht begründeter Verdacht auf die Neigung zu Neurosen infolge von 
Prädisposition, ungeeigneter Pflege und schädlichen Einflusses derUmgebung, 
so ist die Ueberfiihrung in eine Heilanstalt angezeigt. In diesen Fällen liegt 
es im Interesse der Berufsgenossenschaft, die Behandlung so zeitig wie mög¬ 
lich zu übernehmen. Als Anstalten sind nach erfolgter chirurgischer Heilung 
kleine Volksnervenheilstätten im Sinne von Moebius mit Arbeitsbehand¬ 
lung zu empfehlen; ihre Errichtung durch Zweckverbände von Versicherungs¬ 
behörden, Gemeinden und wohltätigen Vereinen ist dringend erforderlich. 
Als Fortsetzung der Behandlung in diesen Anstalten ist der Aufenthalt in 
Uebergangsstationen gedaoht, worauf durch Arbeitsnachweise die Rückkehr 
der Verletzten in das gewerbliche Leben zu erleichtern ist. 

5. Sowohl in der häuslichen, als in der Anstaltsbehandlung ist das Haupt¬ 
gewicht auf die psychische Beeinflussung zu legen, welche den Verletzten 
ermutigen und stützen soll. Das Verständnis der Wichtigkeit dieser Be¬ 
handlung kann den Aerzten nur durch einen obligatorischen Unterricht in 
der sozialen Medizin vermittelt werden. 

6. Die vollständige Mitteilung der ärztlichen schriftlichen Gutachten an die 
Verletzte, sowie die Oeffentlichkeit während der Erstattung der mündlichen 
Gutachten im Schiedsgericht ist möglichst zu beschränken. 

7. Um eine Abkürzung des Verfahrens und damit eine raschere Herbei¬ 
führung der Entscheidung zu ermöglichen, sind engere Verbindungen der 
drei Versicherungszweige untereinander und mit den Aerzten anzustreben. 
Ferner empfiehlt sich zum gleichen Zweck die Beschränkung der Berufs¬ 
möglichkeit in technischen Fragen auf eine Instanz. Dagegen erscheint 
die Aufhebung der Kostenlosigkeit bei Berufung äusserst bedenklioh, und 
auoh die Kapitalsabfindung lässt sich in ihrer vermutlichen Wirkung auf das 
Seelenleben des Verletzten noch nicht übersehen. 


Literatur. 

1) Auerbach, Zur Reform der Unfallversicherungs-Gesetzgebung. Deutsche 
med. Wochenschr. 1901. Nr. 3. — 2) Derselbe, Zur Behandlung der funk¬ 
tionellen Neurosen. Berliner Klinik. 1902. Heft 170. — 3) Amtliche Nachlichten 
des Reichsversicherungsamts.— 4) Bruns, Sammelberichte über traumatische Neu¬ 
rosen. Schmidts Jahrbücher. Bd. 234ff. — 5) Derselbe, Die traumatischen 
Neurosen. Nothnagels spez. Path. u. Ther. 1902. Bd. XII. 1. Teil. 4. Abt. — 

6) Derselbe, Unfallneurosen. Enzyklopädische Jahrbücher. 1898. VIII. — 

7) Bernstein, Ueber eine besondere Form der Neurose bei Unfallverletzten. 
Aerztl. Sachverst.-Ztg. 1896. S. 1. — 8) Bogatsch, Ueber die Ausgleichung 
schwerer Unfallfolgen usw. Wissensch. Mitteil. d. Bresl. Inst. f. Unfallverletzte. 
Breslau 1896. — 9) Biss, Beiträge aus der Praxis zur Frage der traumatischen 
Neurosen. Aerztl. Sachverst.-Ztg. 1904. Nr. 13. — 10) Becker, L., Lehrbuch 
der ärztl. Sachverständigentätigkeit. Berlin 1900. — 11) Binswanger, Epilepsie. 


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Dr. Alfred Jacoby, 


Nothnagels spez. Path. u. Ther. 1904. Bd. XII. 1. Hälfte. 1. Abt. — 12) Bericht 
über die 32. Wandervers. südwestdeutscher Neurologen usw. Deutsche med. Wochen¬ 
schrift. 1907. Nr. 34. — 12) Bonhöfe r, Beruf und Alkoholdelikt. Monatsschr. 
f. Kriminalpsychologie. II. 1905/06. Nr. 10. — 13) Beiträge zur Alkoholfrage. 
Gesammelte Aufsätze aus dem Reichsarbeitsblatt. Berlin 1906. — 14) Charcot, 
Neue Vorlesungen usw., deutsch von Freud. Leipzig 1886. — 15) Dumstrey, 
lieber Kontusionspneumonien usw. Monatsschr. f. Unfallheilk. 1896. Nr.^8. — 

16) Döllcken, Wann sind Unfallneurosen heilbar? Neurol. Zentralbl. 1906. 
Nr. 23. — 17) Eulenburg, Nerven- und Geisteskrankheiten nach elektrischen 
Unfällen. Berl. klin. Wochenschr. 1905. Nr. 2—3. — 18) Edinger und Auer¬ 
bach, Unfallnervenkrankheiten. Eulenburgs Realenzykl. 1900. Bd. XXV. — 
19) Ewald, Die traumatischen Neurosen und die Unfallgesetzgebung. Med. Klinik. 
1908. Beiheft 12. — 20) Eschle, Das Arbeitssanatorium München. 1902. — 
21) Erlenmeyer, Ueber die Bedeutung der Arbeit usw. Neurol. Zentralbl. XIX. 
1000. S. 920. — 22) Freund, C. S., Ueberblick über den gegenwärtigen 

Stand usw. Samml. klin. Vorträge. N. F. 1892. Nr. 51. — 23) Fried mann, 
Ueber eine Form von Folgezuständen usw. Arch. f. Psychiatr. XXIII. Nr. 1. 
1892. — 24) Fröhlich, Zur Begutachtung der nervösen Unfallkranken. Zeitschr. 
f. Bahn- u. Bahnkassenärzte. 1908. Nr. 12. — 25) Fürstner, Einige Er¬ 
krankungen des Nervensystems nach Unfällen. Neurol. Zentralbl. 1896. Nr. 20. 

26) Derselbe, Zur Symptomatologie usw. und die Beziehungen zur Unfall¬ 
versicherungs-Gesetzgebung. Monatsschr. f. Unfallheilk. III. 1896. S. 330. — 

27) Frey, Ueber traumatische Neurosen. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Med. 3. F. 
Bd. XXIII. Suppl. 1902. — 28) Feilchenfeld, Ueber Rentenhysterie. Aerztl. 
Sachverst.-Ztg. 1906. Nr. 16. — 29) Golebiewsky, Die Alkoholfrage in ihrer 
Beziehung zur sozialpolitischen Gesetzgebung. Monatsschr. f.Unfallheilk. 1895. Nr. 11. 

— 30) Gnauck, Die Wandlungen in der Lehre usw. Aerztl. Sachverst.-Ztg. 1898. 
Nr.23. — 31) Gauppu. Nonne, Der Einfluss der deutschen Unfallgesetzgebung usw. 
Verhandl. d. Gesellsch. Deutscher Naturf. u. Aerzte. Stuttgart 1906. II. — 32) 
Gumpertz, Wie wirken Traumen usw. Deutsche med. Presse. 1901. H. 15/17. 

— 33) Grohmann, Entwurf zu einer genossenschaftlichen Musteranstalt. Stutt¬ 
gart 1899. — 34) Götze, Ueber Nervenkrankheiten und Nervenheilanstalten. 
Halle a. S. 1907. — 35) Hoffmann, Albin, Die traumatische Neurose usw. 
Samml. klin. Vorträge. N. F. Nr. 17. 1891. — 36) Hofmann, J., Erfahrungen über 
traumatische Neurose. Berl. klin. Wochenschr. 1890. Nr. 29. — 37) Iloche, 
Notwendige Reformen der Unfallversicherungs-Gesetzgebung. Samml. zwangl. Ab¬ 
handlung. aus d. Gebiete d. Nerven- u. Geisteskrankh. Bd. VII. Heft 8. Halle a. S. 

1907. — 38) Hoffa, Welche Nachteile haben sich bei der Durchführung der 
Unfallversicherungsgesetze usw. ergeben. Zeitschr. f. d. gesamte Versicherungs¬ 
wissenschaft. 1908. Bd. VIII. Nr. 1. — 39) Hellpach, Rentenhysterie. Ebenda. 

1908. Bd. VIII. Nr. 2. — 40) Derselbe, Unfallsneurosen und Berufsfreude. 
Neurol. Zentralbl. 1906. Nr. 13. — 41) Herkner, Die Bedeutung der Arbeits¬ 
freude. Zeit u. Streitfragen. III. Heft 1. Dresden 1905. — 42) Heilig, Fabrik¬ 
arbeit und Nervenleiden. Med. Reform. 1908. Nr. 31/33. — 43) Hackländer, 
Vorschläge zu einer usw. Unterstützung der Unfallverletzten. Münch, med. Wochen¬ 
schrift. 1906. Nr. 48. — 44) Immelmann, Ueber die Errichtung von Arbeits¬ 
nachweisen. Monatsschr. f. Unfallheilk. 1896. Nr. 3. — 45) Jessen, Ueber die 
funktionellen Erkrankungen usw. Neurol. Zentralbl. 1896. Nr. 12. — 46) Jeremias, 
Die Erwerbsfähigkeit bei traumatischer usw. Neurose. Monatsschr. f. Unfallheilk. 
1900. Nr. 12. — 47) Kowalewsky, Die funktionellen Nervenkrankheiten nach 
Syphilis. Arch. f. Psychiatr. XXVI. S. 252. — 48) Kronthal und Sperling, 
Eine traumatische Neurose mit Sektionsbefund. Neurol. Zentralbl. 1889. Nr. 11/12. 
49) K iss kalt. Die prozessuale Behandlung der traumatischen Neurose. Zeitschr. 
f. d. gesamte Versicherungswissenschaft. 1907. Nr. 49. — 50) König, Ueber die 
Mitteilungsbefugnis usw. Charite-Annalen. XXIX. Zitiert nach Bloch. Neurolog. 
Zentralblatt. 1906. S. 318. — 51) Knotz, Zur Frage der traumatischen Neu¬ 
rosen. Aerztl. Sachverst.-Ztg. 1902. Nr. 8. — 52) Kräpelin, Die Beeinflussung 
psychischer Vorgänge durch Arzneimittel. Jena 1892. — 53) Derselbe, Neuere 


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Zar Verhütung des Entstehens von Unfallneurosen. 


399 


Untersuchungen usw. Münch, raed. Wochenschr. 1899. Nr. 42. — 54) Klein, 
Statistik der Arbeiterversicherung. Heft 2 von „Die deutsche Arbeiterversicherung 
als soziale Einrichtung“. Berlin 1904. — 55) Löwenfeld, Kritisches und 
Kasuistisches zur Lehre usw. Münch, med. Wochenschr. 1889. Nr. 38. — 56) 
Laguer, Beiträge zur physikalischen usw. Therapie. Therapie d. Gegenwart. 
1902. Nr. 6. — 57) Derselbe* Diskussion auf der 16. Wanderversammlung süd¬ 
westdeutscher Neurologen usw. Archiv f. Psyehiatr. Bd. XXIII. S. 593. — 
58) Leppmann, Der Kampf um die traumatische Neurose. Aerztl. Sachverst.-Ztg. 
1896. Nr. 9. — 59) Derselbe, Die Sachverständigentätigkeit bei Seelenstörungen. 
1890. Berlin. — 60) Lauenstein, Beiträge zur Frage der Erwerbstätigkeit usw. 
Jahrb. d. Hamburg. Staatskrankenanstalten. Hamburg 1893/94. IV. S. 573. — 
61) Derselbe, Bemerkungen zur Beurteilung usw. Deutsche med. Wochenschr. 
1892. Nr. 15. — 62) Levy, Zur Lehre von der traumatischen Neurose. Berliner 
Klinik. Bd. XVII. 1900. S. 205. — 63) Lissauer, Ueber Rentenneurasthenie. 
Aerztl. Sachverst.-Ztg. XIII. 1907. Nr. 18. — 64) Leers, Die Beziehungen der 
traumatischen Neurose usw. Ebenda. 1907. Nr. 12. — 65) Leubuscher und 
Bibrowicz, Die Neurasthenie in Arbeiterkreisen. Deutsche med. Wochenschr. 
1905. Nr. 21. — 66) Lass, Die deutsche Arbeiterversicherung. Heft 1. Berlin 
1904. — 67) Moeli, Ueber psychische Störungen nach Eisenbahnunfällen. Berl. 
klin. Wochenschr. 1881. Nr. 2. — 68) Moebius, Bemerkungen über Simu¬ 
lation usw. Münch, med. Wochenschr. 1890. Nr. 50. — 69) Derselbe. Weitere 
Bemerkungen usw. Ebenda. 1891. Nr. 39. — 70) Derselbe, Ueber die Er¬ 
richtungen von Nervenheilstätten. Berlin 1896. — 71) Merzbacher, Statistische 
Bemerkungen über Unfallneurosen. Zentralbl. f. Nervenheilk. u. Psyehiatr. 1906. 
S. 905. — 72) Meyer, Hysterie und Invalidität. Deutsche med. Wochenschr. 
1907. Nr. 6. — 73) Müller, Ueber traumatische Neurose. Zeitschrift f. d. ge¬ 
samte Versicherungswissensch. 1907. H. 2. — 74) Neisser, Internat. Uebersicht 
über die Gewerbehygiene. Berlin 1907, — 75) Oppenheim, Die traumatische 
Neurose. II. Aull. Berlin 1892. (Daselbst vollständige, vorhergehende Literatur.) 

— 76) Plauth, Psychologische Untersuchungen an Unfallkranken. Allg. Zeitschr. 

f. Psycb. Bd. 63. 1906. S. 600. — 77) Pel, Merkwürdiger Fall einer trauma¬ 

tischen hysterischen Neurose. Berl. klin. Wochenschr. 1893. Nr. 24. — 78) Roth, E., 
Bericht über die XIV. Internat. Kongr. f. Hygiene. (II. Section.) Berlin 1907. — 
79) Sänger, Die Beurteilungen der Nervenerkrankungen nach Unfall. Stuttgart 
1896. — 80) Derselbe, Ueber die funktionellen Erkrankungen usw. Deutsche 
med. Wochenschr. 1896. S. 115. — 81) Derselbe, Ueber die nervösen Folge¬ 
zustände usw. Monatsschr. f. Psyehiatr. u. Neurol. Bd. X. 1901. H. 3. — 

82) Seeligmüller, Die Errichtung von Unfallkrankenhäusern. Leipzig 1890. — 

83) Derselbe, Zur Frage der Simulation usw. Zentralbl. f. Neurol. 1889. No. 20. 

— 84) Derselbe, Neurolog. Zentralbl. 1892. Nr. 4. — 85) Derselbe, Er¬ 
fahrungen und Gedanken zur Frage der Simulation. Deutsche med. Wochenschr. 

1890. Nr. 43/44. — 85) Derselbe, Weitere Beiträge zur Frage usw. Ebenda. 

1891. Nr. 34. — 87) Sachs und Freund, Die Erkrankungen des Nervensystems 

nach Unfällen. Berlin 1899. — 88) Seiffer, Schädliche Suggestion bei Unfall- 
nervenkranken. Berl. klin. Wochenschr. 1900. Nr. 37. — 89) Seidenindustrie B. G. 
(Aufforderung). Aerztl. Sachverst.-Ztg. 1907. Nr. 1. — 90) Siefart, Medizinische 
Anstalten auf dem Gebiete der Volksgesundheitspflege in Preussen. Jena 1907. — 
91) Specht, Einige Bemerkungen zur Lehre usw. Zentralbl. f. Nervenkrankh. u. 
Psyehiatr. 1906. Nr. 1. — 92) Sch ult ze, F., Referat über traumatische Neu¬ 
rosen. Bericht über die Verhandl. d. X. Internationalen Medizin. Kongresses. 1890. 
Bd. IV. — 93) Derselbe, Referat auf d. XIV. Wandervers. südwestdeutscher 
Neurologen. Arch. f. Psyehiatr. Bd. XXL S, 654. — 94) Derselbe, Ueber 
Neurosen und Neuropsychosen nach Trauma. Samml. klin. Vortr. N. F. Nr. 14. 
1891. — 95) Schuster, Die traumatischen Neurosen. Deutsche Klinik. Bd. VI. 
Abt. I. Berlin 1905. — 96) Schwanck, Die Reform des Heilverfahrens in der 
Kranken- usw. Versicherung. Köln 1906. — 97) Schönfeld, Traumatische 

Hypochondrie oder Rentenhypochondrie. Medizinische Klinik. 1908. Nr. 31. — 
98) Schwechten, Wie ist die Eisenbahnverwaltung usw. zu schützen? Aerztl. 


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400 Dr. Alfred Jacoby, Zur Verhütung des Entstehens von Unfallneurosen. 

Sachverst.-Ztg. 1903. Nr. 7. — 99) Strümpell, Referat über die traumatischen 
Neurosen. (XII. Kongr. f. inn. Med.) Berl. klin. Wochenschr. 1893. Nr. 21. — 
100) Derselbe, Ueber traumatische Hysterie. Münch, med. Wochenschr. 1889. 
— 101) Derselbe, Ueber die Untersuchung usw. von Unfallkranken. Ebenda. 
1895. Nr. 49/50. — 102) Derselbe. (Aus einem Obergutachten.) Monatsschr. 
f. Unfallheilk. 1899. Nr. 8. — 103) Stolper, Verhütung von Unfallneurosen. 
VierteljahrsSchr. f. gerichtl. Med. III. F. Bd. 31. Heft 2. — 104) Stern, 
Traumatische Neurose und Simulation. Festschrift f. Jaffe. Braunschweig 1901. 
S. 79. — 105) Strauss, Zur Arbeitserziehung Unfallverletzter. Medizin. Reform. 
1903. Nr. 2. — 106) Strassmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin. Stutt¬ 
gart 1890. — 107) Thiem, Handbuch der Unfallerkrankungen. Stuttgart 1898.— 
108) Tugendreich, Diskussion. Medizin. Reform. 1908. S. 103. — 109) Vor- 
kastner, Epilepsie. Deutsche Klinik. Berlin 1906. Bd. VI. Abt. I. — 110) 
Wich mann, Der Wert der Symptome der sogenannten traumatischen Neurose. 
Braunschweig 1892. — 111) Derselbe, Ueber Suggestion und Autosuggestion 
Verletzter. Monatsschr. f. Unfallheilk. 1895. Nr. 11. — 112) Windscheid, 
Das Herrmannhaus. Aerztl. Sachverst.-Ztg. 1902. Nr. 19. — 113) Derselbe, 
Der Arzt als Begutachter auf dem Gebiete der Unfall- und Invalidenversicherung. 
Jena 1905. — 114) Derselbe, Innere Erkrankungen usw. Handbuch d. sozialen 
Medizin. Jena 1906. — 115) Worbs, Zur Frage der Arbeitsbehandlung Unfall¬ 
verletzter. Aerztl. Sachverst.-Ztg. 1908. Nr. 6. — 116) Waldschmidt, Zu¬ 
sammenstellung der Vorschriften zur Bekämpfung der Trunksucht. Der Alkoholis¬ 
mus. 1903. — 117) Wil manns Diskussion im ärztlichen Verein zu Hamburg am 
21. 4. 96. Deutsche med. Wochenschr. 1896. S. 115. V. B. — 118) Wey mann, 
Arbeiterversicherung und Alkoholismus. Bericht über die 22. Jahresvers. d. Deutsch. 
Vereins gegen den Missbrauch geistiger Getränke. 1905. — 119) Wallenberg, 
Traumatische Neurose. Hoche, Handb. d. gerichtl. Psychiatrie. Berlin 1909. — 
120) Ziehen, Th., Psychiatrie. Leipzig 1908. — 121) Derselbe, Psychotherapie 
in Eulenburg und Samuel, Lehrb. d. allgem. Therapie. Berlin 1898. Bd. II. — 
122) v. Zwiedinek-Südenhorst (zit. nach Hoche). Zeitschr. f. d. gesamte 
Versicherungswissenschaft. Bd. 6. S. 20. — Nachtrag: 123) Mendel, Kurt, 

Ueber Querulantenwahnsinn und Neurasthenia querulatoria bei Unfallverletzten. 
Neurol. Zentralblatt. 1909. No. 21. 


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11 . 


Besprechungen, B,eferate, Notizen. 


Medizinalbericht von Württemberg für das Jahr 1908. Im Auftrag des 
Kgl. Ministeriums des Innern herausgegeben von dem Kgl. Medizinalkollegium. 
Mit 3 Uebersichtskärtchen. Stuttgart 1910. 

Die Sterblichkeitsziffer (Zahl der Gestorbenen auf 1000 Einwohner der 
mittleren Bevölkerung) ist im Berichtsjahre um 0,09 v. T. grösser als im Vorjahr; 
sie ist mit 19,78 die zweitkleinste seit 1872 und steht unter der Hälfte der höchsten 
württembergischen Sterblichkeitsziffer von 1875 mit 43,41. Die Geburtenzahl ist 
um 0,08 v. T. gesunken, sie ist mit 33,07 die zweitniedrigste seit 1872; die 
niedrigste Zahl findet sich 1883 mit 28,05. Der Ueberschuss der Geburten über 
die Gestorbenen ist der achthöchste seit 1872 mit 13,29 auf 1000 Einwohner; die 
niedrigste Zahl findet sich 1889 mit 7,91. 

Abgenommen gegen das Vorjahr hat die Sterblichkeit u. a. an Scharlach, 
Masern, Magen- und Darmkatarrh, zugenommen z.B. bei Kindbettlieber, Diphtherie, 
Keuchhusten, Typhus, Lungentuberkulose. Die Sterblichkeitsziffer des Scharlachs 
ist erheblich kleiner als im Vorjahr, aber immer noch die dritthöchste seit 15 Jahren. 
Der im Vorjahre erreichte tiefste Stand derTyphussterblichkeit mit 37 Todesfällen 
ist im Berichtsjahr nicht mehr übertroffen worden; immerhin bilden die vorge¬ 
kommenen 47 Fälle die zweitniedrigste Sterblichkeit seit 1872. Die kleine Steige¬ 
rung ist in der Hauptsache bedingt durch eine Epidemie von 68 Erkrankungs¬ 
fällen, die 8 Todesfälle forderte. Die Zahl der allgemeinen Krankenhäuser betrug 
163 mit 7835 Betten; in ihnen wurden 62 564 Kranke verpflegt, von denen 2673 
= 4,3 v. H. starben. Die Zahl der Badeanstalten betrug 189 gegen 168 im Vor¬ 
jahr. In einem kleinen Soolbad, das von Ferienkolonisten besucht wird, ereignete 
sich der bedauerliche Fall, dass 13 Mädchen durch den Gebrauch der Badewäsche 
mit Gonorrhöe infiziert wurden. Von den impfpflichtigen Erstimpflingen wurden 
1,45 v.H. vorschriftswidrig der Impfung entzogen, von den impfpflichtigen Wieder¬ 
impflingen 0,02 v. H. Bei einem Kinde, das im Voijahr wegen Gesichtsekzems 
zurückgestellt war, kam es im Anschluss an die Impfung zu generalisierter Vaccine, 
die einen günstigen Ausgang nahm. — Durch Ministerialerlass vom 21. August 1908 
wurden Gesichtspunkte aufgestellt, die bei der Herstellung und dem Betrieb bio¬ 
logischer Abwasserreinigungsanlagen (Hauskläranlagen) zu beachten sind. 

Nowack-Potsdam. 

Jahrbuch der Medizinalverwaltung in Elsass-Lothringen über das 
Jahr 1909. Im amtlichen Aufträge herausgegeben von Landesmedizinalrat 
Dr. Pawolleck und Reg.- und Med.-Rat Dr. Holtzmann. Strassburg 1910, 
Friedrich Bull. 

In ähnlicher Weise wie das „Gesundheitswesen des Preussischen Staates“, 
jedoch in der Anordnung des Stoffes von ihm verschieden, gibt das Buch eine 


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402 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


Uebersicht über alles das, was sich im Jahre 1909 in gesundheitlicher und sanitäts- 
polizeilicher Hinsicht Wichtiges in Elsass-Lothringen ereignet hat. Alle, das Medi¬ 
zinalwesen betreffenden Gesetze, Verordnungen, Erlasse und Verfügungen des 
Jahres sind an den entsprechenden Stellen abgedruokt. Erwähnenswert ist hier 
u. a. eine „Polizeiverordnung, betreffend die Bekämpfung ansteckender Krank¬ 
heiten“ für die Stadt Mühlhausen, die etwa dem Preussischen Gesetz vom 
28. August 1905 entspricht, nach der jedoch auch der Verdacht des Vorliegens 
von Typhus, das Bestehen vorgeschrittener Tuberkulose im Falle des Wohnungs¬ 
wechsels und gewerbliche Vergiftungen anzeigepflichtig sind. Von den statistischen 
Uebersichten sind besonders erwähnenswert eine Zusammenstellung über die 
Sterbefälle an Krebs und anderen Neubildungen in den Jahren 1874—1908 und 
eine Uebersicht über die Zahl der Typhuserkrankungen im Gebiet des Reiohs- 
kommissars für die Jahre 1904—1909. Von den früheren Jahrgängen unterscheidet 
sich der für 1909 dadurch, dass er ein vollständiges, nach Bezirken und Kreisen 
geordnetes Verzeichnis der Medizinalbehörden und Modizinalpersonen von Eisass- 
Lothringen enthält. Doepner-Charlottenburg. 


Bericht des Medizinalrats über die Medizinische Statistik des Ham- 
burgischen Staates für das ganze Jahr 1908. Hamburg 1909. Verlag 
von Leopold Voss. 

Dass die hamburgische Statistik musterhaft ist, bedarf wohl keiner besonderen 
Erwähnung. Ausserdem besteht ihr Wert in den grossen Zahlen, welche hier vor¬ 
liegen, und besonders noch in der Statistik der einzelnen (23) Stadtteile. Von 
diesen ist auch stets die Wohlhabenheit angegeben und somit der in den „Gesund¬ 
heitsverhältnissen Hamburgs im 19. Jahrhundert“ begonnene Versuch mit Erfolg 
fortgesetzt, Beziehungen zwischen Erkrankungen und Armut zu finden. Auf neun 
Tafeln sind die Resultate nochmals auf Stadtplänen angegeben. Der angehängte 
schulärztliche Bericht bringt Mitteilungen über die Organisation des schulärzt¬ 
lichen Dienstes sowie viele Zahlen über Messungen von Grösse, Gewicht, Brust¬ 
umfang etc., die bei ihrer Fortsetzung wertvolles Material versprechen. 

Kisskalt-Berlin. 

Krohne, Dr. 0., Regierungs- und Medizinalrat in Oppeln, Aerztliche Praxis 
und Medizinalgesetzgebung. Berlin 1909. Verlag von Richard Schoetz. 
170 S. 

Leider wird das Gebiet der Medizinalgesetzgebung und alles dessen, was 
damit zusammenhängt, im Rahmen der Ausbildung der Medizin Studierenden auf 
den Universitäten in durchaus ungenügender Weise behandelt und infolgedessen 
ist ein nicht geringer Teil der in der Praxis stehenden Arzte nur unvollkommen 
über die gesetzlichen und behördlichen Bestimmungen, die der Arzt nun einmal 
kennen muss, unterrichtet. Da die vorhandenen Bücher, die über das in Rede 
stehende Gebiet handeln, aber recht umfangreich oder mehr für den beamteten 
Arzt berechnet sind, hat es Verfasser unternommen, in möglichst knapper Form 
eine zusammenfassende Darstellung dieses Stoffes zu geben, wobei in erster Linie 
die Bedürfnisse des praktizierenden Arztes und des Studierenden der Medizin be- 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


403 


rüoksichtigt sind. Die Art and Weise, wie Verfasser dieser Aufgabe gerecht ge¬ 
worden ist, lässt erwarten, dass das Büchlein in den Kreisen, für die es bestimmt 
ist, die weiteste Verbreitung finden wird. Nowack-Potsdam. 

Förster, Dr. A., Wirkl. Geh. Oberregierungsrat und Direktor der Medizinal¬ 
abteilung im Kultusministerium. Die Preussische Gebührenordnung 
für approbierte Aerzte und Zahnärzte. Anhang: I. Der ärztliche 
Gebührenanspruch und seine gerichtliche Geltendmachung. II. Gesetz, betr. 
die Gebühren der Medizinalbeamten. V. Auflage, Berlin 1910, Verlag von 
Riohard Schoetz. Kl. 12°. 120 Ss. Preis geb. 2,50 M. 

Die Neuauflage des Büchleins, das sich in Aerztekreisen einer grossen Be¬ 
liebtheit erfreut, ist in vieler Hinsicht durch Ergänzungen und Aenderungen den 
jetzigen Verhältnissen angepasst worden. Insbesondere sind bei allen strittigen 
Punkten die neuesten gesetzlichen Bestimmungen, Erlasse und gerichtlichen Ent¬ 
scheidungen angeführt sowie auch an vielen Stellen Werke, wo Ausführlicheres 
zu finden ist. Besonders sei darauf hingewiesen, dass im Anhang I ein Kapitel 
den Rechten und Pflichten des Arztes gewidmet ist; hier ist kurz und doch voll¬ 
ständig alles Wesentliche über diese Fragen unter Anführung von Literatur und 
wichtigen Entscheidungen zusammengofasst, insbesondere auch die Rechte und 
Pflichten, die dem praktischen Arzt bei der Bekämpfung der gemeingefährlichen 
und übertragbaren Krankheiten zufallen. Da der praktische Arzt jetzt mehr als 
früher in die Lage kommen kann, einzelne Funktionen des beamteten Arztes aus¬ 
zuführen, bildet der Anhang II für ihn eine wesentliche Bereicherung des Büch¬ 
leins, dessen Brauchbarkeit noch durch ein ausführliches, übersichtlich angeord¬ 
netes Sachverzeichnis erhöht wird. Auch dem Medizinalbeamten wird dasBüchlein 
bei der Nachprüfung und Festsetzung ärztlicher Rechnungen gute Dienste leisten. 

Doepner - Charlottenburg. 

Medizinalarchiv für das Deutsche Reich. Herausgegeben von Kurt von 
Rohrscheidt, Berlin 1910, Verlag von Franz Vahlen. 

Die staatliche Verwaltung des Gesundheitswesens (gemeiniglich viel zu eng 
als „Medizinalverwaltung“ bezeichnet) trägt ein Janusgesicht. Die Grundsätze, 
nach denen der Staat die öffentliche Gesundheit pflegen soll, können nur der medi¬ 
zinischen Wissenschaft entnommen werden. Deshalb hat die preussische Ver¬ 
waltung des Gesundheitswesens gut daran getan, jederzeit den Blick auf die Ent¬ 
wickelung der medizinischen Wissenschaft fest gerichtet zu halten und ihre 
Errungenschaften alsbald für die amtliche Förderung der öffentlichen Gesundheit 
nutzbar zu machen. Das geht aber nicht immer so rasch und so einfach, wie der 
Arzt es wünscht. Wir leben in einem Rechtsstaat, in dem die staatliche Wirksam¬ 
keit nicht nur an bestimmte Formen gebunden, sondern auch zum Schutz des 
Individuums in seinen Einzelinteressen gegenüber den Gemeininteressen mit engen 
Schranken umgeben ist. Diese Formen und diese Schranken lehrt die Rechts¬ 
wissenschaft. Sie bildet das andere Gebiet, das die Gesundheitsverwaltung ständig 
im Auge behalten muss. Nur dann kann sie als auf der Höhe stehend anerkannt 
werden, wenn sie die aus der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Grundsätze 
lediglich auf dem von der Rechtswissenschaft, inbesondere vom Staats- und Ver- 
waltungsreoht gewiesenen Wege verfolgt. 


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404 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


Während die medizinische Seite der Gesundheitsverwaltung in Preussen in 
den letzten Jahrzehnten eine reichliche und wertvolle wissenschaftliche Bear¬ 
beitung durch Fachmänner erfahren hat, ist das Medizinalrecht ein Stiefkind der 
Rechtswissenschaft geblieben. Systematische wissenschaftliche Durcharbeitungen 
des gesamten neuen Medizinalrechts fehlen vollständig. Ueber fleissige, der rechts¬ 
kundigen Kritik aber ermangelnde Sammelwerke und über einige auch vom 
Rechtsstandpunkt aus wertvolle Einzeldarstellungen kleiner Gebiete hinaus ist man 
bis jetzt nicht gekommen. Dabei wird das Bedürfnis nach vollständiger Samm¬ 
lung und Klärung des Rechtsstoffes bei den damit beschäftigten Behörden und 
Beamten lebhaft empfunden. Die Beilagen zu den Veröffentlichungen des Kaiser¬ 
lichen Gesundheitsamts sowie zur Zeitschrift für Medizinalbeamte sind bereits mit 
Erfolg bemüht, solchen Wünschen entgegenzukommen, doch ist es mehr die Fülle 
des Stoffes, als eine kritische Ordnung, welche den Wert dieser Sammlungen 
bildet, und eine systematische Bearbeitung ist dort nicht in Angriff genommen. 

Einen wesentlichen Fortschritt verspricht das neu begründete „Medizinal¬ 
archiv für das Deutsche Reich 14 zu bringen, das vierteljährlich erscheinen soll und 
jetzt in zwei Heften vorliegt. Es bezeichnet sich selbst als „Zeitschrift für Recht¬ 
sprechung und Verwaltung auf dem Gebiete des Gesundheitswesens“ und will 
neben einer vollständigen Wiedergabe aller für das Reich und für Preussen er¬ 
gehenden Rechts- und allgemeinen Verwaltungsvorschriften sowie der grundsätz¬ 
lich bedeutungsvollen höchstrichterlichen Entscheidungen auch Abhandlungen 
von wissenschaftlichem Wert bringen. Der gesammelte Stoff soll in 14 Abschnitten 
einheitlich geordnet, mit sorgfältigem Inhaltsverzeichnisse und Sachregister ver¬ 
sehen und so zu einem übersichtlichen Nachschlagewerk ausgestaltet werden. Die 
vorliegenden beiden Hefte erfüllen, was der Herausgeber versprochen hat. Unter 
den Abhandlungen ragt die von Kronecker „Preussische Polizeivorschriften 
über Ankündigung von Arzneimitteln“ hervor. Wenn der Herausgeber auf dem 
beschrittenen Wege fortschreitet und insbesondere den der wissenschaftlichen 
Bearbeitung gewidmeten Teil pflegt und ausgestaltet, so dürfen wir vom Medizinal¬ 
archiv eine Förderung der rechtlichen Seite der Gesundheitsverwaltung erwarten, 
die zur allmählichen wissenschaftlichen Durchackerung auch dieses vielseitigen 
und interessanten Gebietes führen kann. 

Dennstedt, M., Die Chemie in der Rechtspflege. Leipzig 1910, Akade¬ 
mische Verlagsgesellschaft. Gr. 8°. 422 Seiten, 151 Abbildungen und 27Tafeln. 
Preis 18 M. 

Das Buch, das den Inhalt von Vorträgen des Verf. wiedergibt, ist in erster 
Linie für die Bedürfnisse des Untersuchungsrichters gedacht. Es soll ihm die 
Grundlage zum Verständnis der Gutachten des Chemikers geben und als Einleitung 
für das Studium von Sonderwerken dienen, es soll ihn ferner in die Lage setzen, 
auf Grund der Kenntnis der benutzten Hilfsmittel und der angewandten Unter¬ 
suchungsmethoden über wichtige Einzelheiten eines bestimmten Falles zu einem 
selbständigen Urteil zu gelangen. 

Dass diese Aufgabe mit dem vorliegenden Buche gelöst ist, kann nicht an¬ 
erkannt werden, zumal das Gebotene mehrfach die notwendige wissenschaftliche 
Grundlage vermissen lässt. Besonders auffallend ist, wie weit Verf. die Grenzen 
für die Tätigkeit des Chemikers steckt. So ist bei den Untersuchungen auf Blut 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


405 


und Sperma der Gerichtsarzt garnicht erwähnt. Gerade durch seine Darlegungen 
erbringt jedoch Verf. den Beweis, dass diese Untersuchungen weniger dem Che¬ 
miker als dem Gerichtsarzt, dem wir fast alle hier gebräuchlichen Untersuchungs¬ 
methoden verdanken, zufallen, da Verf. eine Reihe neuerer Methoden anscheinend 
nicht kennt, andere, wie den spezifischen Blutnachweis durch Komplementbindung 
und nach Marx-Ehrenrodt, unrichtig beschreibt. Bei der mikroskopischen 
Untersuchung von Haaren, die Verf. anscheinend ebenfalls durch den Chemiker 
ausführeu lassen will, werden Haarverletzungen nur nebenher erwähnt; von 
Veränderungen der Haare durch Hitze und von Lanugohaaren ist nirgends etwas 
vermerkt. Bei der Besprechung der Wasseruntersuchungen ist an keiner Stelle 
etwas von der Wichtigkeit der Besichtigung der Entnahmestelle durch einen hygie¬ 
nischen Sachverständigen gesagt. Die bakteriologische Untersuchung des Wassers 
soll nach Verf. stets der Chemiker vornehmen, sofern nicht der Fall vorliegt, dass 
eine Epidemie auf Wasser zurückgeführt wird. Bei dem Kapitel Milch behauptet 
Verf., dass diese mit einiger Sicherheit durch Pasteurisieren keimfrei gemacht 
werden könnte. Auch die Behauptung des Verf., dass die Stillfähigkeit bei der 
Zunahme männlicher Berufe in weiblichen Händen mit der Zeit wahrscheinlich 
vollständig verschwinden werde, ist nur geeignet bei den Laien, für die das 
Buch bestimmt ist, eine falsche Ansicht über die Frage der Stillfähigkeit zu ver¬ 
breiten. 

Auch sonst geben die Ausführungen des Verf. zu manchen Ausstellungen 
Anlass. Vielfach ist Nebensächliches sehr ausführlich behandelt und dafür Wich¬ 
tiges nur gestreift. Alles in allem kann nicht zugegeben werden, dass das Buch 
dem Untersuchungsrichter stets ein zuverlässiger Ratgeber in der Wahl der anzu¬ 
ordnenden Untersuchungen und der herbeizuziehenden Sachverständigen, sowie 
bei der Beurteilung der Untersuchungsergebnisse sein kann. Andererseits ist es 
zu umfangreich, um bloss als Einleitung für das Studium von Sonderwerken zu 
dienen; hierzu dürfte sich eher ein Buch über Kriminalistik, wie das Werk von 
Gross eignen, zumal hierin naturgemäss viele Sachen behandelt sind, von denen 
das vorliegende Buch nichts erwähnt. Zur Einführung des Chemikers in die foren¬ 
sischen Untersuchungsmethoden, wie es Verf. im Vorwort vorschlägt, ist das vor¬ 
liegende Buch nicht geeignet. Doepner-Charlottenburg. 

Gerlach, V., Physiologische Wirkungen der Benzoesäure und des 
benzoesauren Natron. Wiesbaden 1909. H. Staadt. 

Die Arbeit ist auf Veranlassung der Vereinigung deutscher Margarinefabri¬ 
kanten angefertigt, nachdem der Zusatz von Benzoesäure in deren Produkten be¬ 
anstandet worden war. Es sind zahlreiche Tierexperimente ausgeführt, die die 
verhältnismässig geringe Giftigkeit des Präparates beweisen, ferner die Wirkung 
auf den Menschen in kleinen und mittelgrossen Gaben. Die Resultate lauten recht 
günstig, in manchen Punkten günstiger als die früheren Arbeiten. Nach dem, was 
man jedoch bei anderen Konservierungsmitteln gesehen hat, wird es noch ein¬ 
gehenderer Arbeiten von verschiedenen Seiten bedürfen, bis die Frage definitiv 
geklärt ist. Dies gilt nioht nur für die toxische Wirkung, sondern auch für die 
konservierende, die in solchen Fällen ebenso überschäzt wird wie die toxische 
unterschätzt. Kisskalt-Borlin. 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


Hasterlik, Der Bienenhonig und seine Ersatzmittel. Mit 63 Abbildungen. 
(Bd. 314 der ehern.-techn. Bibliothek.) Wien u. Leipzig, A. Hartlebens Verlag. 
Preis 3 M. 

Das vorliegende Werk bietet eine willkommene Bereicherung der Literatur, 
der es bisher an einer vom Standpunkte des Nahrungsmittelchemikers aus ge¬ 
schriebenen Abhandlung über den Honig fehlte. Die Kapitel über Wesen und Ent¬ 
stehung des Honigs bieten das Wichtigste; ausführlich und mit reichlichen Angaben 
von Literatur ist dann die Chemie behandelt. Die folgenden Abschnitte bringen 
Angaben über die Honiggewinnung durch den Imker, seine Aufbewahrung und 
die Veränderungen, die er spontan erleidet, ferner über den Vertrieb und Mass¬ 
nahmen zu der Hebung des Konsums. Von besonderer Wichtigkeit sind die Kapitel 
über die Verfälschungen, sei es direkt durch Zusatz fremder Stoffe, sei es durch 
Fütterung der Bienen damit, und deren Nachweis. — Die Materie ist also für den 
vorliegenden Zweck sehr vollständig behandelt, die Darstellung eine gute, weshalb 
das Werk bestens empfohlen werden kann. Es wird hoffentlich dazu beitragen, 
die Kenntnisse vom Honig in weitere Kreise zu verbreiten, damit den Auswüchsen 
in wirksamer Weise entgegengetreten wird, die sich im Handelsverkehr in unserer 
Zeit fühlbar machen. Kisskalt-Berlin. 

Hübener, E., Fleischvergiftungen und Paratyphusinfektionen, ihre 
Entstehung und Verhütung. 204 Ss., 3 Tafeln, 2 Fig. und 3 Kurven im Text, 
Gr. Oktav, 8 M., Jena 1910, G. Fischer. 

Das Werk verdankt den Arbeiten des Kaiserlichen Gesundheitsamts über 
Schweinepest seine Entstehung. In Form von Tabellen führt Verf. zunäohst alle 
Fälle von Fleischvergiftung, die aus den Jahren 1898 bis 1909 bekannt geworden 
sind, unter Vermerk der hierbei gefundenen Krankheitserreger auf. Bei 36 Epi¬ 
demien wurden Paratyphusbazillen, bei 29 Enteritisbazillen als Erreger nach¬ 
gewiesen. Nachdem Verf. die morphologischen und biologischen Eigenschalten 
dieser Bakterien und die Nährböden, die zu ihrer Erkennung benutzt werden, be¬ 
schrieben hat, geht er auf das Vorkommen dieser Bakterien bei kranken und ge¬ 
sunden Menschen und Tieren und in der Aussenwelt ein und weist nach, dass 
man innerhalb der grossen Typhus-Coli-Familie wohl einzelne Gruppen, wie die 
des Paratyphus B und des Enteritisbazillus, stets leicht auseinanderhalten könne, 
dass aber zur Zeit keine Untersuchnngsmethode bestehe, durch die man innerhalb 
dieser Gruppen mit hinreichender Sicherheit einzelne Typen unterscheiden könne, 
da sich die behaupteten Unterschiede bei Untersuchung einer grösseren Anzahl 
Stämme verwischen. Dazu kommt, dass nach vielen Beobachtungen tierpathogene 
Stämme auch Krankheiten bei Menschen verursachen können und umgekehrt und 
dass bei gesunden Menschen und Tieren lebende Stämme nicht selten Erkrankungen 
von Menschen und Tieren erzeugt haben. Es ist demnach auch eine spezifische 
Virulenz in der Paratyphusgruppe nicht nachweisbar, wenn schon eine Anpassung 
an gewisse Tierarten vorkommt. 

Nach den vorliegenden Beobachtungen müsse man annebmen, dass die Mehr¬ 
zahl der Massenerkrankungen nach Fleiscbgenuss auf ein bei Lebzeiten mit Para- 
typliusbazillen infiziertes Tier zurückzuführen sei. Ausserdem könnten bei der 
Schlachtung vereinzelte Keime aus dem Darm des Tieres auf das Fleisch gelangen: 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


407 


doch sei dann eine längere Zeit erforderlich, bis sie sich in dem Fleisch hinreichend 
vermehrt hätten, um eine Erkrankung hervorrufen zu können, da vereinzelte Para¬ 
typhuskeime vielfach den Darm des Menschen ohne jode Störung passieren. Von 
wesentlichem Einfluss auf die klinischen Erscheinungen der Fleischvergiftung 
seien die hitzebeständigen Toxine, die von den Paratyphusbazillen erzeugt 
werden. 

Bei der gerichtsärztlichen Beurteilung des bakteriologisohen Befundes 
könne man nur dann die Entstehung der Krankheit durch eine Floischprobe als 
erwiesen ansehen, wenn sich in der Probe zahlreiche Paratyphusbazillen finden 
und der Nachweis dieser Erreger oder einer hohen Agglutinationsfähigkeit für 
diese auch bei mehreren erkrankten Menschen glücke, da Keimträger in manchen 
Gegenden nicht selten seien. Vielfach sei man aber im wesentlichen auf den zeit¬ 
lichen Zusammenhang der Erkrankung mehrerer Menschen nach dem Genuss von 
Fleisch desselben Tieres und auf die Krankheitserscheinungen bei dem Gutachten 
angewiesen. Fütterungsversuche an Mäusen sind nach Hübeners Ansicht für die 
Beurteilung des Falles nicht zu verwenden, da Mäuse häufig in ihrem Darm 
Paratyphusbazillen beherbergen, die für sie beim Genuss eiweissreicher Nahrung 
virulent werden. 

Verf. bespricht sodann den Botulismus und die Fleischvergiftung durch 
andere Bakterien, eine Frage, die noch wenig geklärt ist. Er geht weiter auf 
die gesetzlichen Bestimmungen, die zur Verhütung der Fleischvergiftung dienen, 
ein und empfiehlt die Einführung der bakteriologisohen Untersuchung des Fleisohes 
kranker oder verdächtiger Schlachttiere, um zu verhindern, dass einerseits Fleisch 
unnötigerweise vernichtet werde, andererseits infolge Verkennung der Art der 
Krankheit, Fleischvergiftungsepidemien entstünden. Die Methoden zur Probeent¬ 
nahme von Fleisch zur bakteriologischen Untersuchung werden eingehend be¬ 
schrieben. Ferner empfiehit Verf. die Einführung der Fleischbeschau auch bei 
Hausschlachtungen und, um den Verkauf beanstandeten Fleisches sicher zu ver¬ 
hindern, eine gesetzliche Regelung des Abdeckereiwesens. Um eine nachträgliche 
Infektion der Ware zu vorhüten, fordert er Bestimmungen über die Räume zur 
Aufbewahrung, Zubereitung und zum Verkauf von Fleisch und eine polizeiliche 
Revision dieser Räume. 

. Verf. beschreibt nun die Paratyphusinfektionen, die nicht auf Fleischgenuss 
zurückzuführen sind. Er unterscheidet hier wie bei der Fleischvergiftung eine 
gastrointestinale und eine choleraähnliche Form, die durch Eindringen zahl¬ 
reicher Bazillen und ihrer Gifte in den Darm entstehen, und eine typhöse, bei der 
zunächst eine Allgemeininfektion stattfinde und auf dem Blutwege die Darm¬ 
erkrankung hervorgerufen werde. Ausserdem seien Paratyphus B-Bazillen in einer 
Reihe von Fällen als Erreger einer typischen Septikämie oder lokaler Eiterungen 
gefunden worden. 

In epidemiologischer Hinsicht sei der wesentlichste Unterschied zwischen 
Typhus und Paratyphus, dass ersterer regelmässig auf einen kranken Menschen, 
wenn auch vielfach durch Vermittelung von Wasser, Milch oder anderen Nahrungs¬ 
mitteln zurückzuführen sei, während bei den Paratyphuserkrankungen dieser Nach¬ 
weis meist nicht zu erbringen sei und zwar infolge der Ubiquität dorParatyphus B- 
Bazillen, die ähnlich, wie die Streptokokken, sich sowohl bei Menschen und. 

Yiertelj&hrsschrifl f. ger. Med. u. öff. San.-Wesen. 3. Folge. XL. 2. 

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408 


Besprechungen, Referate, Notizen. 


Tieren als harmlose Schmarotzer und Krankheitserreger, als auch in der Aussen- 
welt weit verbreitet finden. 

Zum Schluss geht H. auf die Erkrankungen durch Bakterien, die eine 
Zwischenstellung zwischen Paratyphus B, Typhus und Coli innehaben, ein. Es 
folgt dann ein ausführliches Literaturverzeichnis. 

So bietet das vorliegende Werk dem Bakteriologen eine sehr sorgfältig 
und geschickt zusammengestellte kritische Uebersicht über alle wesentlichen Arbeiten 
auf dem weiten Gebiet der Bakterien der Paratyphus B- Gruppe und ver¬ 
wandten Arten. Es zeigt dem beamteten Arzt, worauf er bei Fleischvergiftungs¬ 
epidemien besonders zu achten hat und gibt wertvolle Anhaltspunkte bei der 
Beurteilung von gerichtlichen Fällen von Fleischvergiftung. 

D o ep n e r- Charlottenburg. 

Abel, P., Bakteriologisches Taschenbuch. 14. Auflage, 1910, Preis 2 M. 

Das im Aufbau auch dies Mal unverändert gebliebene Buch bringt einige 
neue Abschnitte (Bac. botulin., Burrisches Tuscheverfahren), Erweiterungen vor¬ 
handener Kapitel (Typhus- und Tuberkelbazillen) und manche kleineren Ergän¬ 
zungen. Erwünscht wäre jetzt doch vielleicht die Aufnahme der opsonischen 
Technik gewesen. Bei der Wassermannschen Reaktion fällt auf, dass von den 
alkoholischen Extrakten nur die aus Normalorganen genannt sind, nicht aber die 
so brauchbaren aus luetischen Fötallebern. Alles in allem dürfte die Neuauflage 
in erhöhtem Masse das werden, was ihre Vorgängerinnen waren: ein unent¬ 
behrliches Handwerkszeug für den Laboratoriumsbetrieb und ein überaus 
rasches Orientierungsmittel über bakteriologische Methodik, so wird sie zu den 
alten Freunden des Buches sicher manche neue hinzuerwerben. 

Konrich-Berlin. 


Müller, Paul Th., Technik der serodiagnostischen Methoden. 3.Aufl. T 
Jena 1910, 95 Ss., gebd. 2 M. 

Neue Auflage des bereits früher in dieser Zeitschrift besprochenen nützlichen 
Führers, erweitert u. a. durch Aufnahme der Much-Holzmannschen Psycho- 
reaktion nnd der Müller-Jochmannschen Untersuchung des Blutes auf anti- 
tryptische Wirkung. Abel. 


Verhandlungen des ersten deutschen Jugendgerichtstages. 15. bis 
17. März 1909. Herausgegeben von der deutschen Zentrale für Jugendfürsorge. 
Berlin und Leipzig 1909. B. G. Teubner. Preis 2,80 M.' 

Das Gebiet der Hygiene erweitert sich immer mehr, nach der Tiefe wie nach 
der Breite. Eines der neuesten Kapitel ist das der Jugendfürsorge. Sie setzte in 
den letzten Jahren mit einem eingehenden Studium der Ernährungsfrage ein, doch 
sind mit ihr viele andere Fragen so eng verbunden, dass der, der sich praktisch 
damit beschäftigt, nicht daran vorübergehen kann und mindestens von Zeit zu Zeit 
einen Ueberblick darüber wünscht. Einen solohen über die Jugendgerichte gibt die 
vorliegende Schrift, die den Stand der Frage in ausgezeichneter Weise zusammen¬ 
fasst und in der eben nach ihrer ganzen Anlage die verschiedenen Meinungen zu 


Worte kommen müssen. 

/ 


Besonders die engen Beziehungen der gesamten Fragen 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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zur Psychiatrie und ferner der dritte Punkt der Tagesordnung: Das Zusammen¬ 
wirken des Jugendgerichtes mit Verwaltungsbehörden und freiwilligen Fürsorge- 
organisationen sind von grossem Interesse. Kisskalt-Berlin. 

Jahrbuch für Volks- und Jugendspiele. 18. Jahrgang. 1909. Heraus¬ 
gegeben vom Vorstand des Zentralausschusses zur Förderung der Volks- und 
Jugendspiele in Deutschland. Verlag von B. G. Teubner, Leipzig und Berlin. 
8°. 316 S. Preis 3 M. 

In 31 einzelnen Abhandlungen gibt uns das Buch einen Ueberbliok über die 
Bestrebungon zur Förderung der Jugend durch körperliche Uebungen und Spiele 
in der freien Natur. Der I. Abschnitt enthält neben geschichtlichen Abhandlungen 
einen Bericht über die Bemühungen des Zentralausschusses um die körperliche 
Fürsorge für die schulentlassene Jugend sowie Aufsätze über Alkohol und 
Leibesübung und über die Fürsorge für schwächliche Volksschüler. Der 
II. Abschnitt bietet uns eine kritische Würdigung von 77 Erscheinungen des Jahres 
1908 aus der Literatur des Spiels und verwandter Leibesübungen. Die Abschnitte 
111 bis V enthalten Abhandlungen über Spielnachmittage, Schülerwanderungen 
und das Kriegsspiel von Schülern sowie über verschiedene neuere Spiele und ein¬ 
zelne für die heranwachsende Jugend empfehlenswerte Arten des Sports. Der 
VI. Abschnitt endlich bietet uns eine Uebersicht über die Zahl und Verbreitung 
der vom Zentralausschuss im Jahre 1908 abgehaltenen Spielkurse sowie über 
die Beteiliguug an diesen; es wurden 1432 männliche und 737weibliche Personen, 
meist dem Lehrerstande angehörig, im Spielunterricht ausgebildet; seit dem Jahre 
1890 wurden in diesen Kursen 13 022 männliche und 5626 woibliche Personen 
unterrichtet. Auch die Orte und Zeiten der vom Zentralausschuss für 1909 beab¬ 
sichtigten Kurse und die Teilnahmebedingungen werden aufgeführt. In einem 
weiteren Kapitel werden die Erlasse des Kultusministers über staatliche Spielkurse 
wiedergegeben. In den Jahren 1905—1907 wurden in diesen über 7000, 1908 
weitere 5246 Teilnehmer ausgebildet; dazu kommen noch eine grosse Zahl von 
staatlich unterstützten Kursen im Regierungsbezirk Oppeln, an denen allein 1908 
920Personen teilnahmen. — Einen Einblick in das, was auf dem Gebiet derVolks- 
und Jugendspiele schon erreicht ist, gibt uns eine Statistik über die Spiel¬ 
plätze, den Spielbetrieb, die Ferienspiele und Ferienerholung sowie über das 
Schwimmen, Baden und Eisläufen an deutschen Schulen, die der Zentralausschuss 
auf Grund einer Umfrage, die bei allen deutschen Gemeinden über 6000Einwohner 
im Jahre 1907 getan wurde, angefertigt hat. Hieraus ergibt sich u. a., dass in 
751 Orten 1052 Spielplätze für Schulen und 980 für Vereine vorhanden waren, 
wenn man von Schulhöfen und Tennisplätzen absieht; ferner wurden 202 Exerzier¬ 
plätze zum Spielen benutzt. Gegen das Jahr 1893 hat sich die Zahl der Spielplätze 
vervierfacht. Ein regelmässiger Spielbetrieb ausserhalb der Turnstunden fand in 
439 Orten an 3485 Schulen statt; dieTeilnahme war meist freiwillig. An 84 Orten 
wurden in den Fortbildungsschulen auch körperliche Uebungen vorgenommen; 
ferner bestanden 4093 Turn- und Sportvereine für die schulentlassene Jugend. 
Ferienspiele für Volksschüler waren in 107 Orten, darunter in 87 unter Leitung 
ausgebildeter Lehrkräfte eingerichtet. 52 200 Volksschüler wurden in Ferienkolonien 
oder anderweitig zur Erholung untergebracht. In 591 Orten bestand eine öffentliche 

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Besprechungen, Referate, Notizen. 


Schwimmgelegenheit, und zwar handelte es sich um 325 Schwimmhallen und 
1037 Schwimmanstalten im Freien; unentgeltlicher Schwimmunterricht wurde in 
1353 Schulen erteilt. In 655 Orten waren 1142 natürliche und 362 künstliche Eis¬ 
bahnen vorhanden . . . 

Das Buch kann jedem, der sich für die körperliche Ausbildung der Jugend 
interessiert und sich über die hierauf gerichteten Bestrebungen orientieren will, 
wegen seines reichhaltigen und wertvollen Inhalts aufs Wärmste empfohlen werden. 

D o e p n e r - Charlottenburg. 

Ficker, M., Fortschritte der Schulhygiene nach den Vorführungen auf der 
Deutschen Unterriohtsausstellung zu Brüssel 1910. P. Johannes Müller, Verlag 
für Schulhygiene, Charlottenburg. Preis 1,50 M. 

Ursprünglich als Leitfaden für den Besucher der vom Verfasser im Aufträge 
des preussischen Kultusministeriums in Brüssel eingerichteten schulhygienischen 
Abteilung gedacht, behält das 68 Seiten starke Schriftchen auch über den zeit¬ 
lichen und örtlichen Rahmen der Weltausstellung hinaus seinen Wert und kann 
jedem, der sich in Kürze über den heutigen Stand schulhygienischer Massnahmen 
und Probleme orientieren will, warm empfohlen werden. 

Ficker hat die schwierige Aufgabe, eine fast übergrosse Fülle von Aus¬ 
stellungsgegenständen aus allen Gebieten der weitverzweigten Disziplin auf dem 
ihm in Brüssel zugewiesenen beschränkten Raume übersichtlich und belehrend an¬ 
zuordnen, in sehr glücklicher Weise dadurch gelöst, dass er ein ideal gedachtes 
Dienstzimmer eines Schularztes mit daran anschliessendem Sammlungsraum für 
schulhygienische Apparate und für Demonstrationsmaterial beim Unterricht in 
Gesundheitspflege herrichtete. 

Die anschauliche, mit vielen instruktiven Abbildungen und mannigfachen 
anregenden Hinweisen und Quellenangaben versehene Erläuterung kann auch dem, 
der die Ausstellung nicht besuchen konnte, ein lebhaftes Bild derselben geben und 
dazu dienen, weiterhin zu zeigen, wie in Zukunft einmal ein ständiges schul¬ 
hygienisches Museum in Deutschland, verbunden mit Bibliothek und Archiv, ge¬ 
dacht werden kann. 

Das Ausstellungsmaterial wird gegliedert in: Schulärztliches Instrumentarium, 
schulhygienische Bibliothek, Organisation des schulärztlichen Dienstes, Ueber- 
sioht über Ausübung und Ergebnisse der Schulhygiene in den deutschen Volks¬ 
schulen, Hygiene der geistigen Arbeit, Hygiene der Schulräume und Schul¬ 
utensilien. 

Verf. schliesst mit dem Wunsche, die Ueberzeugung möge sich immer mehr 
Bahn brechen, dass durch die Schule die Gesundheit für die Schulzeit und für 
das ganze Leben weitgehend gefordert werden kann, und dass schon die Schule 
ein geeigneter Boden ist, dem die Saaten der Volksgesundheitslehre anzuvertrauen 
sind. Der Nutzen, den eine Nation hiervon habe, werde tausendfältig sein. 

Hallwachs-Berlin. 

Im Verlage von J. A. Barth, Leipzig, hat in diesem Jahre unter dem Titel 
„Klassiker der Medizin“, von Sudhoff herausgegeben, eine Reihe von hübsch aus- 


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Besprechungen, Referate, Notizen. 


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gestatteten Bändchen zu erscheinen begonnen, die Neudruoke medizinisch-geschicht¬ 
licher Abhandlungen darstellen. Als Bändchen, die von besonderem Interesse für 
die Hygiene sind, seien genannt das bereits erschienene, die Arbeit Jakob Henles 
über Miasmen und Kontagien (1840) bringende und die angekündigten: Koch, 
Ueber den Milzbrand, und Fraoastoro, De morbis contagiosis. Wünschenswert 
wäre es, wenn die zu den Büchern Einleitungen schreibenden Gelehrten durch 
reichlichere Fussnoten, als in den bisher vorliegenden Bändchen geschehen, das 
Verständnis mancher uns jetzt fernliegender Anschauungen erleichtern hülfen und 
wenn ferner der Preis der Bändchen sich niedriger stellen Hesse als bisher mit 
etwa 0,40 M. für den Druckbogen. 


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III. Amtliche Mitteilungen. 


Erlass des Ministers der geistlichen, Unterrichts-und Medizinal- 
Angelegenheiten an die Regierungspräsidenten vom 29.März 1910, 
betr. die Schädlichkeit des Alkoholgenusses im Kindesalter. 

(M. 567. UIIIA.) 

Aas den auf meinen Erlass vom 3. März v. Js., M. 5447. U III A. 1 ) einge¬ 
gangenen Berichten geht hervor, dass die Anregang zur Verteilung von Merk¬ 
blättern über die Schädlichkeit des Alkoholgenusses für das Kindesalter bei Ge¬ 
legenheit der öffentlichen Impfungen im allgemeinen bei den Kreisen und selb¬ 
ständigen Stadtgemeinden auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Insgesamt sind weit 
über 2 Millionen Merkblätter beschafft und zum grössten Teile bereits im Jahre 
1909 verteilt worden. Ausser den Nachschauterminen der öffentlichen Impfungen 
sind auch zahlreiche andere Gelegenheiten zu ihrer Verbreitung benutzt worden. 
So haben z. B. die Kreisärzte bei den von ihnen vorgenommenen Schulbesichti¬ 
gungen die Merkblätter verteilt und ihren Inhalt erläutert, auch bei den Kreis¬ 
lehrerkonferenzen über ihren Inhalt Vorträge gehalten. Die Lehrer haben eine 
Besprechung der Merkblätter beim Unterricht oder bei den Schulentlassungen vor¬ 
genommen, auch wohl das Einkleben der Blätter in die Schulbücher vorgeschrieben. 
Von anderen hier und da benutzten Verbreitungsmöglichkeiten sind zu nennen die 
Verteilung durch die Hebammen an die von ihnen Entbundenen, durch die Standes¬ 
ämter bei Geburtsanmeldungen und Trauungen, durch die mit der Durchführung 
der Arbeiterversicherungsgesetze befassten Behörden bei der Ausstellung und dem 
Umtausche von In validen versicherungs- Quittungskarten, durch die Guts- und 
Fabriksverwaltungen bei den Lohnzahlungen, durch die Geistlichen an Kon¬ 
firmanden, endlioh der Abdruck der Merkblätter in Zeitungen und Volkskalendern. 

Die Aufnahme der Belehrung wird, von Ausnahmefällen abgesehen, allge¬ 
mein als günstig bezeichnet, dass durchgreifende Erfolge von einer einmaligen Ver¬ 
teilung nicht zu erwarten sind, war vorauszusehen. Erfreulicherweise hat sich die 
überwiegende Zahl der Kreise und Gemeinden zur Wiederholung der Verteilung 
bereit finden lassen. Wo dies nicht der Fall ist, oder eine Verteilung überhaupt 
noch nicht vorgenommen worden ist, ersuche ich, auf die Nützlichkeit der Mass¬ 
nahme hinzuweisen. Der Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke, in 
Berlin W. 15, Uhlandstrasse 146, ist weiterhin bereit, Merkblätter zum Preise von 

1) Vgl. diese Zeitschrft. Jahrgang 1909. Heft 3. S. 208. 


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Amtliche Mitteilungen. 


413 


2 M. für 1000 Stück unter Ansatz von Verpackungskosten zu liefern. Inwieweit 
auoh eine Verteilung von Merkblättern, die die Gemeingefährlichkeit des Alkohol* 
genusses überhaupt, nicht nur für das Kindesalter, sohildern, anzuregen sein wird, 
überlasse ich dem dortigen Ermessen. 

Indem ich ergebenst ersuche, auch im Jahre 1911 erneut auf eine Verteilung 
der Merkblätter hinzuwirken, sehe ich einem gefälligen Berichte über die Erfolge 
bis zum 1. Januar 1912 entgegen. 


Erlass des Ministers der geistlichen, Unterrichts-und Medizinal- 
Angelegenheiten an die Regierungspräsidenten vom 14. April 
1910, betr. die Einrichtung von Medizinalnntersnchungsanstalten und 
Verteilung des Staatsgebietes auf diese. (M. 17 456.) 

Das folgende Verzeichnis gibt den Zustand vom 1. April dieses Jahres ab 
wieder. Gegen früher sind folgende Veränderungen eingetreten: Ein neues Medi¬ 
zinaluntersuchungsamt ist in Danzig eingerichtet, das Medizinal untersuchungs¬ 
amt in Liegnitz ist aufgehoben und die bisherige Medizinalüntersuchungsstelle 
in Breslau ist in ein Medizinaluntersuchungsamt umgewandelt. Die Medizinal¬ 
untersuch ungsstellcn in Marienwerder, Osnabrück, Wiesbaden und Trier 
sind aufgehoben. Alle Medizinaluntersuchungsämter sind mit je einem Kreisärzte 
als Vorsteher und je einem Kreisassistenzarzte als Assistenten besetzt. 


Verzeichnis der Medizinaluntersuehungsanstalten in Prenssen. 


Ort. 

Bezeichnung der Anstalt. 

Arbeitsgebiet. 

Königsberg . . 

Kgl. hygienisch. Universitätsinstitut. 

Reg.-Bez. Königsberg. 


Gumbinnen . . 

Kgl. Medizinaluntersuchungsamt. 

Reg.-Bez. Gumbinnen und Allenstein. 


Danzig. . . . 

Kgl. Medizinaluntersuchungsamt. 

Reg.-Bez. Danzig und Marienwerder. 


Berlin .... 

Kgl. Institut f. Infektionskrankheiten. 

) 

C 

* .... 

Kgl. hygienisch. Universitätsinstitut. 

> Stadt Berlin. 

i 

V .... 

Städtisches Untersuchungsamt für 

PQ 


hygienische u. gewerbliche Zwecke. 

) I 


Charlottenburg . 

Untersuchungsamt bei dem städti- 

Städte Charlottenburg ! 

o 

.jD 


sehen Krankenhause Westend. 

und Wilmersdorf. 

'S 

Schöneberg . . 

Untersuchungsamt bei dem städti¬ 
schen Auguste Victoria-Kranken¬ 
hause. 

1 Städte Scböneberg 1 

| und Rixdorf. 1 

O 

l 

1 C/J 

1 CJ 

Berlin .... 

Kgl. Institut für Infektionskrank¬ 

Stadt Lichtenberg und Gemeinden 

fl 


heiten. 

Boxhagen-Rummelsburg u. Stralau. 1 


Potsdam . . . 

Kgl. Medizinaluntersuchungsamt. 

Reg.-Bcz. Potsdam und Frankfurt &. 

0. 

Stettin . . . 

Kgl. Medizinaluntersuchungsamt. 

Reg.-Bez. Stettin und Köslin. 


Greifswald . . 

Kgl. hygienisch. Universitätsinstitut. 

Reg.-Bez. Stralsund. 


Posen .... 

Kgl. hygienisches Institut. 

Reg.-Bcz. Posen. 


Bromberg . . 

Kgl. Medizinalüntersuchungsstelle, 

Reg.-Bez. Bromberg. 


Breslau . . . 

Kgl. hygienisch. Universitätsinstitut. 

Stadtkreis Breslau. 


Breslau . . . 

Kgl. Medizinaluntersuchungsamt. 

Reg.-Bez. Breslau (mit Ausnahme des Stadt- 


kreises Breslau) und Reg.-Bez. Liegnitz. 

Beuthen O./S. . 

Kgl. hygienisches Institut. 

Reg.-Bez. Oppeln. 


Magdeburg . . 

Kgl. Medizinaluntersuchungsamt. 

Reg.-Bez. Magdeburg. 



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Amtliche Mitteilungen. 


Ort. 

Bezeichnung der Anstalt. 

Arbeitsgebiet. 

Halle a. S. . . 

Kgl. hygienisch; Universitätsinstitut. 

Reg.-Bez. Merseburg und Erfurt. 

Kiel .... 

Kgl. hygienisch. Universitätsinstitut. 

Reg.-Bez. Schleswig. 

Hannover. . . 

Kgl. Medizinaluntersuchungsamt. 

Reg.-Bez. Hannover und Aurich und vom 
Reg.-Bez. Lüneburg die Kreise Burgdorf, 
Celle, Fallingbostel, Gifhorn, Isenhagen 
und Soltau. 

Göttingen . . 

Kgl. Universitätsinstitut für medi¬ 
zinische Chemie und Hygiene. 

Reg.-Bez. Hildesbeim. 

Stade .... 

4 

Kgl. Medizinaluntersuchungsamt. 

Reg.-Bez. Stade und vom Reg.-Bez. Lüne¬ 
burg die Kreise Bleckede, Dannenberg, 
Harburg, Lüchow, Lüneburg, Uelzen und 
Winsen. 

Münster . , . 

Kgl. Medizinaluntersuchungsamt. 

Reg.-Bez. Münster (mit Ausnahme von 
Stadt- und Landkreis Recklinghausen) 
und Reg.-Bez. Minden und Osnabrück. 

Gelsenkirchen . 

Institut für Hygiene und Bakterio¬ 
logie. 

Reg.-Bez. Arnsberg und vom Reg.-Bez. 
Münster Stadt- und Landkreis Reckling¬ 
hausen, vom Reg.-Bez. Düsseldorf die 
Kreise Dinslaken, Duisburg, Stadt- und 
Landkreis Essen, Stadt- und Landkreis 
Mülheim und Oberhausen. 

Marburg . . . 

Kgl. Universitätsinstitut für Hygiene 
und experimentelle Therapie. 

Reg.-Bez. Cassel. 

Frankfurt a. M. . 

Vorbehalten. 

Stadt- und Landkreis Frankfurt a. M. 

Koblenz . . . 

Kgl. Medizinaluntersuchungsamt. 

Reg.-Bez. Koblenz und Reg.-Bez. Wies¬ 
baden mit Ausnahme von Stadt- und 
Landkreis Frankfurt a. M. 

Düsseldorf . . 

Kgl. Medizinaluntersuchungsamt. 

Reg.-Bez. Düsseldorf (mit Ausnahme der 
Kreise Dinslaken, Duisburg, Stadt- und 
Landkreis Essen, Stadt- und Landkreis 
Mülheim und Oberhausen und Reg.-Bez. 
Aachen. 

Cöln .... 

Städtisches Untersuchungsamt. 

Stadt- und Landkreis Cöln und Stadtkreis 
Mülheim (Rhein). 

Bonn .... 

Kgl. hygienisch. Universitätsinstitut. 

Reg.-Bez. Cöln [mit Ausnahme von Stadt- 
und Landkreis Cöln und Stadtkreis Mül¬ 
heim (Rhein)]. 

Trier .... 

Kgl. bakteriologische Untersuchungs¬ 
anstalt. 

Nach Eröffnung des Kgl. hygie¬ 
nischen Instituts in Saarbrücken 
werden die Untersuchungen dort 
ausgeführt. 

Reg -Bez. Trier (Typhusuntersuchungen 
finden bis auf weiteres in den Typhus¬ 
stationen in Trier, Saarbrücken und 
Idar statt). 

Sigmaringen. 

Kgl. Medizinaluntersuchungsstelle. 

Reg.-Bez. Sigmaringen. 


Uebersicht ttber das Yorkommen der übertragbaren Genickstarre ln 

Prenssen im Jahre 1909. 

Im Jahre 1909 gelangten 1030 Erkrankungen an Genickstarre zur amtlichen 
Kenntnis, gegen 1382 im Jahre 1908. In 73 Fällen ergab der weitere Verlauf der 
Erkrankung, die bakteriologische Untersuchung oder die Leichenöffnung, dass die 
übertragbare Genickstarre nicht vorlag; es handelte sich hierbei in 24 Fällen um 


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UNIVERSITÄT OF IOWA 






Amtliche Mitteilungen. 


415 


eine tuberkulöse, in 15 um eine durch Pneumokokken verursachte Hirnhaut¬ 
entzündung, 9mal war diese durch anderweitige Krankheitserreger hervorgerufen 
worden. Als sonstige Krankheiten, die den Verdacht auf übertragbare Genick¬ 
starre erweckt hatten, sind zu nennen die spinale Kinderlähmung, Gehirnblutungen 
und Geschwülste, Mittelohrerkrankungen, Mandelentzündung, Lungenentzündung 
und Lungenabszess, urämische Erscheinungen bei chronischer Nierenentzündung, 
Magenerkrankungen, Dysmenorrhoe und akute Infektionskrankheiten, wie Scharlach 
und Influenza. In 22 Fällen blieb die Diagnose zweifelhaft. Mit Einschluss 
dieser Fälle wurden im Jahre 1909 957 (1908: 1284) Erkrankungen beobachtet, 
bei denen es sich mit grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit um die über¬ 
tragbare Genickstarre handelte. 

Oertliche Verteilung. Die Verteilung auf die einzelnen Provinzen war 
in den Jahren 1904 bis 1909 folgende: 



1909 

1908 

1907 

1906 

1905 

1904 

Ostpreussen . . . 

48 

21 

20 

18 

28 

16 

Westprcussen . . 

3 

6 

3 

7 

26 

12 

Brandenburg . . . 

59 

66 

93 

61 

84 

14 

Pommern .... 

25 

76 

22 

60 

14 

6 

Posen. 

23 

74 

119 

174 

37 

2 

Schlesien .... 

93 

177 

403 

1011 

3317 

26 

Sachsen .... 

14 

10 

17 

22 

47 

3 

Schleswig-Holstein . 

14 

28 

74 

15 

21 

8 

Hannover .... 

28 

, 28 

63 

33 

28 

11 

Westfalen .... 

245 

323 

! 1059 

263 

70 

8 

Hessen-Nassau . . 

23 

16 

26 

25 

26 

10 

Rheinprovinz . . . 

382 

459 

692 

340 

66 

12 

Staat . . 

957 

| 1284 

i 2591 

| 2029 

3764 

118 


Die Zahl der Erkrankungen in den einzelnen Regierungsbezirken war: 



1909 

190S 

1907 

1906 

1905 

1904 


1909 1908 

1907 

1906 

1905 

1904 

Königsberg . . 

40 

,0 

12 

9 

6 

| 

Schleswig . 


14 

28 

74 

15 

21 

8 

Gumbinnen. . 

2 

— 

2 

7 

17 

6 

Hannover . 


5 

8 

10 

2 

— 

3 

Allenstein . . 

6 

1 

6 

2 

5 

1 

Hildesheim . 


3 - 

4 

6 

6 

— 

Danzig . . . 

— 

1 

— 

— 

— 

7 

Lüneburg . 


6 

4 

28 

17 

6 

5 

Marienwerder . 

3 

5 

3 

7 

26 

5 

Stade . . 


9 

9 

11 

4 

9 

— 

Berlin . . . 

41 

24 

58 

31 

34 

5 

Osnabrück . 


- - 

— 

1 

2 

2 

Potsdam . . 

9 

20 

23 

25 

39 

8 

Aurich . . 


5 7 

10 

3 

5 

1 

Frankfurt . . 

9 

22 

12 

5 

11 

1 

Münster 


31 

48 

230 

35 

18 

4 

Stettin . . . 

18 

65 

9 

13 

8 

2 

Minden . . 


17 

3 

4, 

A 5 

4 

1 

Köslin . . . 

4 

11 

13 

47 

6 

4 

Arnsberg 


197 272 

825 

*23 

48 

3 

Stralsund . . 

3 

_ 

— 

— 

— 

— 

Cassel . . 


9 

4 

7 

14 

17 

3 

Posen . . . 

17 

68 

116 

167 

36[ 

1 

Wiesbaden . 


14 

12 

19 

11 

9 

7 

Bromberg . . 

6 

6 

3 

7 

1 

1 

Koblenz . . 


10 

13 

18 

l! 

6 

4 

Breslau . . . 

18 

41 

81 

174 

146 

1 

Düsseldorf . 


310, 280 

507 

320 

40 

3 

Liegnitz . . . 

3 

9 

28 

26 

22 

4 

Cöln . . . 


38 

92 

108 

7 

3 

2 

Oppeln . . . 

72 

127 

294 

811 

3149' 

21 

Trier . . . 


9 

47 

39 

2 

7 

3 

Magdeburg . . 

7 

8, 

16 

15 

38| 

2 

Aachen . . 


15 

27 

20 

10 

5 

— 

Merseburg . . 

6 

2 

1 

6 

9, 

1 

Sigmaringen 


- | - 

— 

_ 

5 

— 

Erfurt . . . 

1 

i 

1 

1 

” 


Staat . . 

957 1284 

2591 

2029 

3764| 118 


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UNIVERSUM OF IOWA 














416 


Amtliche Mitteilungen. 


Die Zahl der Erkrankungen hat somit im Vergleich zumVoijahr um etwa x / 4 
abgenommen. Zugenommen hat sie in 13 Regierungsbezirken, am erheblichsten 
in den Regierungsbezirken Düsseldorf, wo sie von 280 auf 310 gestiegen ist, 
Königsberg, wo die Zahl der Genickstarreerkrankungen seit 1904 sich stetig, 
im letzten Jahre auf das Doppelte des Vorjahres, vermehrt hat, im Landespolizei¬ 
bezirk Berlin und im Regierungsbezirk Minden. Geringer ist die Zunahme in 
den Regierungsbezirken Allenstein, Merseburg, Lüneburg, Cassel und 
Wiesbaden; in den Regierungsbezirken Gumbinnen, Stralsund, Erfurt 
und Hildesheim, die im Jahre 1908 von der Seuche verschont geblieben waren, 
trateu vereinzelte Genickstarreerkrankungen auf. — Von den 957 Erkrankungen 
fielen 310 = 22,4 v. H. gegen 21,8 v. H. im Jahre 1908 auf den Regierungsbezirk 
Düsseldorf, 197 = 20,6 (1908: 21,2) v. H. auf den Regierungsbezirk Arns¬ 
berg und 72 = 7,5 (1908: 9,9) v. H. auf den Regierungsbezirk Oppeln. Es 
folgen dann der Landespolizeibezirk Berlin mit 41 = 4,3 v. H. und der Regie¬ 
rungsbezirk Königsberg mit 40 = 4,2 v. H. aller Erkrankungen. 

Zeitliche Verteilung. Auf die einzelnen Monate verteilen sich die Er¬ 
krankungen folgendermassen: 



1909 

1908 

1907 

1906 

1905 

1904 





1906 

1905 

1904 

Januar 

85 

110 

149 

216 

139 

11 

August . . 

28 

58 

122 

51 

72 

9 

Februar . 

82 

199 

260 

313 

320 

11 

September . 

36 

36 

102 

43 

44 

5 

März . . 

187 

206 

362 

370 

759 

11 

Oktober. . 

20 

45 

120 

61 

47 

3 

April . . 

207 

236 

467 

403 

1010 

14 

November . 

31 

42 

64 

56 

60 

17 

Mai . . . 

148 

167 

425 

258 

776 

8 

Dezember . 

32 

44 

57 

51 

72 

15 

Juni . . 

55 

78 

301 

122 

339 

9 

Unbestimmt 

— 

— 

8 

— 

2 

— 

Juli . . 

46 

63 

154 

j So 

124 

5 

Jahr. . 

907 

1284 

2591 

2029 

3764 

ns 


In den einzelnen Jahreszeiten betrug die Zahl der Erkrankungen: 



1909 

1908 

1907 

1906 

1905 

1904 

Frühjahr: März, April Mai .... 

542 

609 

1254 

1031 

2545 

33 

Sommer: Juni, Juli, August . . . 

129 

199 

577 

258 

535 

23 

Herbst: September, Oktober, November 

87 

123 

286 

160 

151 

25 

Winter: Dezember, Januar, Februar. 

199 

353 

466 

580 

531 

37 


Die Verteilung der Erkrankungsfälle auf die einzelnen Jahreszeiten ist dem¬ 
nach die gleiche wie im Jahre 1908, nur macht sich das Ueberwiegen des Früh¬ 
jahrs in der Zahl der Erkrankungen noch stärker bemerkbar; auf dieses trafen 
56,6 v. H., d. h. mehr als die Hälfte aller Erkrankungen; die zweithöchste Zahl 
fällt auf den Winter mit 20,8 v. H., es folgt der Sommer mit 13,5 und der Herbst 
mit 9,1 v. H. 


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UNIVERSUM OF IOWA 













Amtliche Mitteilangen. 


417 


Geschlecht und Alter der Erkrankten. Von den Erkrankten waren 
im Jahre: 

1909 1908 1907 

männlich. Geschlechts 564 = 58,9 v. H. 738 = 57,6 v. H. 1477 = 57,1 v. H. 

weiblich. Geschlechts 393 = 41,1,, „ 544 = 42,4,, „ 1112 = 42,9,, „ 

1906 1905 1904 

männlich. Geschlechts 1078 = 53,2 v. H. 1905 = 54 v. H. 67 = 56,8 v. H. 

weiblich. Geschlechts 951 = 46,8 „ „ 1666 = 46 „ „ 51 = 43,2 „ „ 

Noch mehr wie in den Vorjahren überwiegt demnach das männliche Ge¬ 
schlecht. 


Von den 957 Erkrankten waren alt: 


0—1 Jahre . 

. 92 = 9,6 v. H. 

6—10 Jahre . 

221 = 23,1 v. 

H 

1-2 „ . 

• 79 = 8,3,, „ 

11—15 

V 

117 = 12,2 „ 

11 

2-3 „ . 

• 70 = 7,3,, „ 

16-20 

n 

92 = 9,6 „ 

„ 

3-4 ,. 

. 60 = 6,3 „ „ 

21-25 

71 

53 = 5,3 ,. 

11 

4-5 „ . 

. 61 = 6,4 „ „ 

26-30 


29= 3,0 „ 

11 


31—40 Jahre . 

. 39 = 

4,1 v. H. 




41-50 „ 

. 37 = 

2,8 r ,, 




51-60 ,. 

. 12 = 

1,3 ,, ,, 




61-70 „ 

. 3 = 

0,3 „ „ 




unbekannt . 

. 2 = 





Die Beteiligung des Kindesalters an den Erkrankungen hat wiederum etwas 
abgenommen; 

es standen im Alter bis zu 5Jahren 1909 : 37,8, 1908 : 42,9, 1907 : 48,4 v. H. 

1 \ 73 1 0 7Q 7 

71 v n v r> n iU v n n <u > u j v '*> ” n 

der Erkrankten. 

Ausgang der Erkrankungen. Am Ende des Jahres 1909 befanden 
sich noch 10 von den 957 Erkrankten in Behandlung; in 947 Fällen war demnach 
die Krankheit zum Abschluss gekommen. Von diesen 947 Erkrankten waren 
499 = 52,69 v. H. gestorben. In den Vorjahren war die Sterblichkeit 1908: 
56,2; 1907:62,47; 1906 : 63,3; 1905:67,2 und 1904 : 69,9 v. H. Es hat dem¬ 
nach 1909 die Sterblichkeit im Vergleich zu dem Vorjahr wiederum erheblich ab- 
genommon. Bemerkenswert ist, dass die Sterblichkeit in den Bezirken, in denen 
die grössteZahl von Erkrankungen vorkam, verhältnismässig gering war; sie betrug 
im Regierungsbezirk Düsseldorf nur 42,6, im Regierungsbezirk Arnsberg nur 
46,2 v. H. Man wird wohl nicht fehlgehen, dies auf eine grössere Vertrautheit 
der Aerzte mit der Behandlung der Krankheit und insbesondere auf eine vermehrte 
Anwendung des Genickstarreantiserums zurückkzuführen. 

Bei 292 Gestorbenen ist sowohl der Tag der Erkrankung als der des Todes 
angegeben; bei diesen erfolgte der Tod: 


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418 


Amtliche Mitteilungen. 


am 

i. 

Tage . 

5 mal 

am 

8. Tage 



10 mal 

am 15. Tage . . 

5mal 

r> 

2. 

11 

• 28 „ 

ii 

9. „ 



7 „ 

ii 16* ii ■ • 

4 „ 

r> 

3. 

11 

• 26 „ 

ii 

10. „ 



7 „ 

„ 1 /. v . . 

1 ,5 


4. 

11 

. 22 „ 

ii 

11. „ 



6 „ 

v 18. „ . . 

2 ., 

V 

5. 

11 

. 34 „ 

ii 

12. „ 



3 „ 

ii 19. n • . 

4 „ 

11 

6. 

11 

. 21 „ 

ii 

13. „ 



5 „ 

„ 20. „ . . 

3 „ 

n 

7. 

v 

. 22 „ 

ii 

14. „ 



6 „ 

ii 21. „ 

4 „ 

in 

der 1. Woche 158mal 

in 

der 2. Woche 

44 mal 

in der 3. Woche 

23 mal 




am 22. Tage 


2 mal 


im 

1. Monat 

. . 246 mal 





ji 23. „ 


5 „ 



2. „ 

. . 33 „ 





„ 24. „ 


3 „ 


ii 

3. „ 

• • 11 „ 





„ 25. „ 


o „ 


ii 

4. „ 

. . 2 „ 





» 26 - » 


o „ 



zusammen 292 mal 





» 27. „ 


2 „ 









„ 28. „ 


4 „ 









in der 4. Woche 

16 mal 







Von 292 Gestorbenen starben demnach in der 1. Woche nach der Erkrankung 
158 = 54,1 (1908 : 50,3) v. H., in der 2. Woche 44 = 15,1 (1908: 14,4) v. H., 
in der 3. Woche 23 = 7,9 (1908: 13,1) v. H. und in der 4. Woche 16 = 5,5 
(1908 : 6.9) v. H. In den ersten drei Wochen erfolgte der Tod 225mal, d. i. 77,1 
vom Hundert der Todesfälle, 1908 in 77,8, 1907 in 73,1, 1906 in 73,8, 1905 in 
78,1, 1904 in 93,8 v. H. Nach Ablauf der vierten Krankbeitswoche trat nur in 
51 Fällen, d. i. 17,5 v. H., der Tod ein, nach dem dritten Monat nur in 2 Fällen 
= 0,7 v. H. (1908 ; 2,8) v. H. 

Dauernde Gesundheitsstörungen behielten von den 448 Genesenen, 
soweit Angaben darüber vorliegen, 24 .zurück — 5,4 v. H. Bei diesen Störungen 
handelt es sich in 2 Fällen um leichtere Schwerhörigkeit, in 1 um einseitige und 
in 8 um beiderseitige Taubheit: bei 1 Person blieb auf einem, bei 3 auf beiden 
Augen Blindheit zurück. Einmal machte sich nach Ablauf der Krankheit 
geistige Schwäche, Vergesslichkeit und nervöse Reizbarkeit bemerkbar. Zweimal 
zeigten sich Muskelläbmungen und eine Schwäche der Beine. Eine Militärperson 
war nach Heilung der Genickstarre dauernd zum Militärdienst untauglich und in 
einem Falle nahm die Krankheit ihren Ausgang in chronisches Siechtum. 

Bakteriologische Untersuchungen. In fast allen Regierungsbezirken 
wurde in allen Fällen, in denen es sich ermöglichen liess, die bakteriologische 
Untersuchung zur Sicherung der Diagnose hinzugezogen. Das Untersuchungs¬ 
material bildete in der Mehrzahl der Fälle, bei denen Angaben hierüber gemacht 
sind, die Zerebrospinalflüssigkeit, seltener begnügte man sich mit der Einsendung 
von Nasenrachenschleim. Vielfach wurden mehrere verschiedenartige Proben zur 
Untersuchung eingesandt. Die Untersuchung der Zerebrospinalflüssigkeit auf 
Meningokokken fiel in 180 Fällen mikroskopisch oder kulturell positiv, nur in 64, 
bei denen nach den klinischen Erscheinungen die übertragbare Genickstarre vor¬ 
lag, negativ aus. In 15 Fällen konnte nächgewiesen werden, dass die Krankheits- 


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UMIVERSITY OF IOWA 












Amtliche Mitteilungen. 


419 


erscheinungen durch Pneumokokken bedingt wurden. Die Prüfung des Blutserums 
auf Agglutinationsfähigkeit von Meningokokken zeigte 22mal ein positives, 11 mal 
ein negatives Ergebnis. Im Nasenrachenschleim Kranker wurden in 15 Fällen 
Meningokokken nachgewiesen, 21 mal gelang dies nicht. Bei Gesunden wurden, 
soweit hierüber Angaben gemacht sind, im Rachenschleim in 74 Fällen Genick¬ 
starreerreger gefunden. Es fielen ferner 452 Untersuchungen, bei denen das Unter- 
suohungsmaterial nicht genannt ist, positiv, 41 negativ aus. ln 50Fällen sicherte 
die Leicheneröffnung die Diagnose. Nur in 158 Fällen wurde die Diagnose ledig¬ 
lich auf Grund der Krankheitserscheinungen gestellt; vielfach handelte es sich 
hierbei um Personen, die bei Anstellung der Ermittelungen bereits gestorben oder 
auch schon beerdigt waren. Die meisten bakteriologischen Feststellungen wurden, 
wie im Vorjahr, im Regierungsbezirk Düsseldorf (318) und Arnsberg (179) 
gemacht; verhältnismässig selten wurde im Vergleich zur Zahl der Erkrankungen 
im Regierungsbezirk Oppeln eine bakteriologische Untersuchung vorgenommen. 

Bei 214 der 957 Erkrankten ist angegeben, dass eine Behandlung mit Genick¬ 
starreantiserum erfolgte. Obgleich diese Behandlung oft erst spät einsetzte, trat 
doch der Tod nur bei 66 Personen = 30,9 v. H. (1908 : 38,1) ein. Von den 
übrigen 743 Erkrankten, bei denen Angaben über die Art der Behandlung fehlen, 
starben 433 = 58,3 v. H. 


Erlass des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- 
Angelegenheiten für Handel, für Landwirtschaft und des Innern 
vom 21. Juni 1910 an die Regierungspräsidenten, betr. Keuch¬ 
husten und Masern in Kur- und Badeorten. 

(M. f. H. Ilb 6535, M. d. g. A. M. 10 205, M. f. L. II 5873, M. d. I. Ild 1760.) 

Es ist von sachverständiger Seite mehrfach in Anregung gebracht worden, 
das Königliche Staatsministerium möge auf Grund der §§ 5, 7 und 11 des Ge¬ 
setzes, betreffend die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, vom 28. August 1905 
(G. S. S. 373) die in den §§ 1 bis 4, 6 Abs. 1 und § 8 des Gesetzes enthaltenen 
Bestimmungen über die Anzeigepilicht, die Ermittelung und die Schutzmassregeln 
in allen Orten, die Fremde zum Gebrauche ihrer natürlichen oder künstlichen 
Kurmittel einladen oder zulassen — Kur- oder Badeorten —, für die Zeit der Kur¬ 
oder Badesaison auf Keuchhusten oder Masern ausdehnen, wenn und solange diese 
Krankheiten dort in epidemischer Verbreitung auftreten. 

Eine generelle Anordnung dieser Massregel erscheint gesetzlioh nicht zu¬ 
lässig. 

Damit jedoch den unleugbaren Gefahren, welche der Ausbruch einer der 
beiden genannten Krankheiten in einem Kur- oder Badeorte für die Kinderwelt im 
Gefolge hat, womöglich vorgebeugt, jedenfalls aber rechtzeitig tatkräftig entgegen¬ 
getreten werden möge, ersuchen wir Eure Hochwohlgeboren pp. ergebenst, ge¬ 
fälligst Vorsorge zu treffen, dass Sie von dem Ausbruch von Keuchhusten und 
Masern in einem der in Ihrem Bezirk belegenen Kur- oder Badeort stets umgehend 
unterrichtet werden, um für den Fall, dass eine dieser beiden Krankheiten in einem 
Kur- oder Badeort epidemische Verbreitung erlangt, unverzüglich, gegebenenfalls 


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telegraphisch, bei mir, dem Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- 
Angelegenheiten, die Ausdehnung der Anzeigepflioht usw. auf die betreffende 
Krankheit für den betreffenden Ort zu beantragen. 


Erlass des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- 
Angelegenheiten und des Innern an die Regierungspräsidenten 
vom 18. Juli 1910, betr. die Landeszentrale für Säuglingsfürsorge. 

(M. d. g. A. M. Nr. 1746, Min. d. Inn. Ile Nr. 1683.) 

Um die vielen nebeneinanderlaufenden Bestrebungen auf dem Gebiete der 
Säuglingsfürsorge in Preussen bei vollständiger Wahrung der Selbständigkeit der 
über die ganze Monarchie sich verteilenden Einzelorganisationen in einheitliche 
Bahnen zu lenken und zu einem wirksamen Ganzen zusammenzufassen, ist zu An¬ 
fang d. Js. die „Preussische Landeszentrale für Säuglingsschutz“ gegründet 
worden. Ihre nächstliegenden Aufgaben sind insbesondere die Förderung des 
Selbststillens durch Aufklärung aller Volkskreise, namentlich der arbeitenden und 
weniger bemittelten Klassen über den ausserordentlichen Wert der natürlichen Er¬ 
nährung, der Nachweis einwandfreier Milchbezugsquellen und Rat- und Auskunft¬ 
erteilung über Säuglingsschutz-Massnahmen von Gemeinden, Vereinen, grossen 
industriellen und anderen Betrieben. Von den weiterhin zu ergreifenden Mass- 
regeln der Landeszentrale kommen in Frage die Einführung einer dauernden Milch¬ 
kontrolle, die Verschaffung billiger Unterkunft für obdachlose oder in ungünstigen 
hygienischen Verhältnissen lebende Wöchnerinnen und Säuglinge, sowie die Ein¬ 
richtung einer Stellenvermittelung für Ammen und Säuglingspflegerinnen u.a. Die 
nahen Beziehungen, welche die Landeszentrale für Säuglingssohutz zu dem Kaiserin 
Auguste Victoria-Haus zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit im Deutschen 
Reiche hat, werden ihr bei Durchführung der gesteckten Ziele aufs beste zustatten 
kommen. 

Ein wichtiges Hilfsmittel zur Verbreitung gesunder Anschauungen über die 
richtige Ernährung und Pflege von Mutter und Kind soll die von der Preussischen 
Landeszentrale für Säuglingsschutz herausgegebene Zeitschrift „Unser Weg“ sein, 
deren erste Nummer am 1. Juli d. Js. in dem Verlag von Elsner und Dr. Salomon, 
Verlagsgesellscbaft m. b. H. in Berlin S. 42, Oranienstrasse 142, erschienen ist 
und von dem Verlag, durch die Post und im Buchhandel bezogen werden kann. 
Probenummern werden von der Landeszentrale noch besonders dorthin übermittelt 
werden. Die von hervorragenden Mitarbeitern unterstützte Zeitschrift bringt an¬ 
regende Unterhaltung mit Aufsätzen und Ratschlägen über Säuglings- und Klein¬ 
kinderpflege, Gssundheitspflege in der Familie usw. und ist geeignet, in weitesten 
Kreisen als Volksblatt im guten Sinne zu wirken. 

Unter Hinweis auf die Erlasse vom 14. Januar 1905 — Ia 2433, vom 10. Fe¬ 
bruar 1905 — M. 10378 — und vom 16. Juni (4. Dezember) 1908 — Min. d. Inn. 
II b 2538 u. 5651 (Min. d. g. pp. Ang. M. 9501/07 u. 9630) — ersuchen wir Ew. 
Hochwohlgeboren pp. ergebenst, die unterstellten Organe, die durch ihre beruf¬ 
liche Tätigkeit oder in sonstigerWeise die Säuglingsschutz-Bestrebungen zu fördern 


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in der Lage sind, auf die „Preussische Landeszentrale für Säuglingssohutz“ and 
deren Zeitschrift „Unser Weg“ in geeigneter Weise empfehlend aufmerksam zu 
machen. 


Erlass des Ministers der geistlichen, Unterrichts-und Medizinal- 
Angelegenheiten vom 11. Juli 1910 an die Regierungspräsidenten, 

betr. Förderung des Badewesens. (M. 5833.) 

Mit bezug auf die zu dem Erlasse vom 14. Februar 1907 — M. 5269 — er¬ 
statteten Berichte übersende ich die beifolgende nunmehr festgestellte „Anleitung 
zur Förderung des öffentlichen Badewesens“. 

Ich ersuche ergebenst, bei Massnahmen einschlägiger Art betreffend das 
öffentliche Badewesen und bei der Beaufsichtigung der im dortigen Bezirk be¬ 
stehenden öffentlichen Anlagen usw. diese Anleitung unter Berücksichtigung der 
besonderen Verhältnisse des Bezirks tunlichst zu beachten, wobei ich auf die Be¬ 
stimmungen des § 35 Abs. 1 der Reichs-Gewerbeordnung und des § 107 der Dienst¬ 
anweisung für dio Kreisärzte aufmerksam mache. 

Auch ersuche ich, auf die kommunalen Körperschaften des Bezirks (Kreise, 
Gemeinden), sowie auf die freiwilligen Wohlfahrtsorganisationen in dem Sinne ein¬ 
zuwirken, dass sie bei ihren Bestrebungen nach den in der Anleitung gegebenen An¬ 
regungen verfahren und dem Badewesen diejenige Aufmerksamkeit zuteil werden 
lassen, die es bei seiner Bedeutung für die öffentliche Gesundheit verdient. 

Zugleich wollen Ew.Hochwohlgeboren pp. die Medizinalbeamten des dortigen 
Bezirks veranlassen, auf die Förderung des öffentlichen Badewesens im Sinne der 
Anleitung hinzuwirken. Es empfiehlt sich, dass die Polizeibehörden bei der 
Prüfung von Anträgen auf Erteilung der baupolizeilichen Genehmigung von Bade¬ 
anstaltsanlagen ein Gutachten des Kreisarztes über die hygienischen Eigenschaften 
des Badegrundstücks und der projektierten Anlagen einholen. 

Zu M 5833. 


Anleitung zur Förderung des öffentlichen Badewesens. 

A. Im allgemeinen. 

I. Das Baden im Freien. 

Für das Baden im Freien sind Flüsse oder sonstige Wasserläufe und ge¬ 
eignete stehende Gewässer, wie Seen und Teiche, nutzbar zu machen. Notwendige 
Voraussetzungen sind hier, dass das Wasser auch in Zeiten grosser Trockenheit 
in ausreichender Menge zur Verfügung steht und dass es zu keinem gesundheit¬ 
lichen Bedenken Anlass gibt. Namentlich darf das Badewasser durch Zuflüsse 
nicht verunreinigt werden. Wichtig ist es, eine Schwimmgelegenheit zu schaffen, 
um den Badenden diese gesunde Leibesübung, sowie der Jugond die Erlernung 
des Schwimmens zu ermöglichen. Ferner ist es zweckmässig, die Badeanstalten 
mit einem Luft- und Sonnenbade zu verbinden oder wenigstens mit einigen Turn- 
und Spielgeräten zu versehen. 


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K. Das Baden in geschlossenen Räumen. 

Wo die Anlage von Bädern im Freien nicht ausführbar ist, empfiehlt es sich, 
Badegelegenheiten in geschlossenen Räumen zu schaffen. Dumpfe, feuchte, un¬ 
genügend belichtete und schlecht lüftbare Räume sind zum Baden ungeeignet. 

Die einfachste Form des Bades im geschlossenen Raume ist das Brausebad. 
Einrichtung und Betrieb erfordern so geringe Mittel, dass es selbst mit Seife und 
Handtuch zu sehr niedrigen Preisen abgegeben werden kann. Wo es sich um das 
Baden einer grösseren Zahl von Personen handelt, bildet das Brausebad da, wo 
Schwimmbäder nicht zur Verfügung stehen, die gegebene Badeform. Hier kommen 
zunächst Schulbrausebäder in Betracht. Auch für Pensionen und Erziehungs¬ 
anstalten ist die Anlage von Brausebädern empfehlenswert. 

Brausebäder lassen sich ferner im Anschluss an gewerbliche Betriebe mit 
Dampfkesselanlage ohne besondere Schwierigkeiten oder Kosten einrichten. Zahl¬ 
reiche Arbeitgeber sind bereits mit gutem Beispiel vorangegangen. Die Fabrik¬ 
brausebäder sind zwar in erster Linie für die Fabrikarbeiter bestimmt, in vielen 
Fällen sind sie jedoch auch für andere Ortsangesessene gegen billiges Entgelt zur 
Verfügung gestellt worden. 

Wenn die Besitzer von Dampfkesselanlagen nicht geneigt sind, die Her¬ 
stellung von einfachen Badeeinrichtungen selbst zu übernehmen, so werden sie 
sich doch häufig bereit finden lassen, den für die Erwärmung des Badewassers 
oder der Baderäume erforderlichen Dampf oder das vom Oel befreite Kondensations¬ 
wasser abzugeben. Das letztere eignet sich jedoch zu Badezwecken nur, wenn es 
geruchfrei ist. Auch beim Bau von Arbeiterwohnhäusern sollte der Beschaffung 
von Badeeinrichtungen in ausreichender Weise Rechnung getragen werden, wie 
dies in dem Domänenbetrieb des preussischen Staates bereits in die Wege geleitet 
ist. Es lässt sich dies im Anschluss an eine gemeinschaftliche Waschküche für 
mehrere Häuser unter Benutzung desselben Warmwasserbereiters ohne grosse 
Mehrkosten erreichen. 

Da der weibliche Teil der Bevölkerung erfahrungsgemäss Wannenbäder lieber 
bonutzt als Brausebäder, so empfiehlt es sich, mit der Anlage von Brausebädern 
zur öffentlichen Benutzung auch die Anlage von Wannenbädern zu verbinden. 

Sind die Gemeinden zur Beschaffung von Badegelegenheiten aus öffentlichen 
Mitteln nicht imstande, so sollten sie wenigtens alle Bestrebungen nach dieser 
Richtung, namentlich aber die Bildung und Tätigkeit gemeinnütziger Vereine zur 
Begründung von Volksbädern durch Ueberlassung eines geeigneten Baugrund¬ 
stückes oder durch Uebernahme der Bürgschaft für Darlehn aus der Landes¬ 
versicherungsanstalt oder durch regelmässige Zuschüsse unterstützen. Eine wirk- 
sameFörderung wird dem öffentlichen Badewesen schon durch kostenlose Lieferung 
des Wassers aus einer vorhandenen Wasserleitung zuteil werden. Auch können 
die Gemeinden zu den Kosten für die Benutzung der Badeeinrichtung seitens der 
minder bemittelten Volksklassen oder der Schulkinder Beihilfen gewähren oder die 
Kosten in diesen Fällen ganz übernehmen. Auf diese Weise lassen sich auch die 
Badeanstalten, welche nicht im Besitz der Gemeinden oder von Vereinen sind, als 
Volksbäder nutzbar machen. 

Wie bei allen Zweigen der Wohlfahrtspflege müssen auch hierbei Behörden 
und Vereine Hand in Hand gehen; besonders können die beamteten Aerzte erfolg- 


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reich mitwirken, indem sie fortgesetzt auf die grossen Vorzüge einer regelmässigen 
körperlichen Reinigung hinweisen und durch Belehrung und Aufklärung der Be¬ 
völkerung das Interesse für die Beschaffung von Volksbädern wachrufen. Wo be¬ 
ratende Körperschaften für gesundheitliche Angelegenheiten (Gesundheitskommis¬ 
sionen) vorhanden sind, bieten deren Sitzungen die beste Gelegenheit, für das 
öffentliche Badewesen einzutreten. 

B. Besondere Massnahmen für die Badeanstalten. 

I. Badeanstalten im Freien. 

Fluss- und sonstige Bade- und Schwimmanstalten im Freien sind möglichst 
oberhalb des Ortes, jedenfalls aber so anzulegen, dass das Badewasser keine un¬ 
reinen Zuflüsse erhält. Bei Wasserläufen mit Schiffsverkehr sind periodische 
bakteriologische Prüfungen des Badewassers vorzunehmen. Um den zum Baden 
benutzten Teil des Gewässers von fremden Gegenständen und gröberen Verunreini¬ 
gungen freizuhalten, soll das Badewasser durch ein bis nahe auf den Boden 
reichendes Gitter abgegrenzt sein. Der für Schwimmer bestimmte Teil ist von dem 
für Nichtschwimmer bestimmten Badegebiete in geeigneter Weise abzugrenzen. 

Um Verletzungen der Badenden zu vermeiden soll der Boden frei sein von 
Steinen und scharfen Gegenständen. Auch müssen die Laufbretter, um sie splitter¬ 
frei zu erhalten, und das Ausgleiteu zu verhüten, gehörig abgekantet, höchstens 
15 cm breit und quer zum Schritt gelegt sein, zwischen ihnen müssen Fugen von 
mindestens 1 cm Weite gelassen werden, um das Abfliessen des Wassers zu er¬ 
leichtern. Ausserdem ist es zweckmässig, die Bretter des Fussbodens mit Oel- 
farbenanstrich zu versehen und sie mit dünnen Kokosläufern oder anderen ge¬ 
eigneten Stoffen zu belegen. Zum Einsteigen in das Wasser sind Treppen und 
Leitern anzubringen. Sprungbretter dürfen nur über eine Wassertiefe von mindestens 
3 m angebracht werden. 

Auskleidehallen oder eine genügende Anzahl von verscbliessbaren Auskleide¬ 
zellen sind vorzusehen, ebenso ein Raum zum Aufbewahren der Badewäsche und 
ein Platz zum Trocknen. Zum bequemen Ablesen der Lufttemperatur sind Thermo¬ 
meter aufzuhängen. Auch sind Tafeln mit der jeweiligen Temperaturangabe auf¬ 
zustellen sowie Vorkehrungen für die sichere Aufbewahrung von Wertgegenständen 
zu treffen. 

Aborte und Pissoire müssen vorhanden sein. Die Abwässer und Fäkalien 
dürfen nicht in das Gewässer geleitet werden. 

Auf die Bereithaltung der zur Rettung Verunglückter erforderlichen Appa¬ 
rate, Boot, Stangen, Rettungsleine, Gürtel, Wiederbelebungsmittel, Verbandkasten 
usw. ist Bedacht zu nehmen. Es ist dafür zu sorgen, dass unter dem Badeper¬ 
sonal mindestens eine des Schwimmens und Tauchens kundige, tunlichst als 
Schwimmlehrer, jedenfalls aber in der ersten Hilfeleistung ausgebildete Person 
vorhanden ist. Eine Anleitung zur Wiederbelebung Ertrunkener oder Scheintoter 
wird in Plakatform deutlich und lesbar an geeigneten Stellen anzubringen sein. 

II. Wannen-, Brause- und Hallenbäder, 
a) Allgemein. 

In erster Linie ist eine gute Wasserversorgung und gute Entwässerung sicher 
zu stellen. Ist eine Wasserleitung am Orte vorhanden, so ist, sofern der Preis des 

Yierte\jfthrsaohrift f. ger. Med. u. Off. San -Wegen. 3. Folge. XL. 2. 28 


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Wassers hinreichend niedrig ist, der Anschluss an diese zweckmässig. Sonst 
müssen für grosse Anstalten mindestens zwei, für kleinere ein Brunnen angelegt 
werden, dessen hinreichende Ergiebigkeit vor dem Bau festzustellen ist. In der 
Regel soll das Wasser aus dem Brunnen durch eine Maschine auf die erforder¬ 
liche Höbe gehoben werden. Handbetrieb ist nur für ganz kleine Badeanstalten 
zulässig. Ist das Wasser so eisenhaltig, dass Eisenschlamm rasch und stark naoh 
der Förderung ausfällt, so ist es unmittelbar nach der Hebung zu enteisenen. 

Es ist dahin zu wirken, dass jede Anstalt, bei Anstalten mit Abteilungen 
für männliche und weibliche Personen jede Abteilung, einen hellen, hinreichend 
grossen, heizbaren und gut zu lüftenden Warteraum hat. Eine ausreichende Trink¬ 
wasserversorgung, Aborte, Pissoire, Müllbehälter, Wäschevorratsräume, auch eine 
Wäscherei, Wäschetrockenräume sind vorzusehen, sofern die Wäsche nicht an 
einer anderen Stelle ausserhalb der Badeanstalt gewaschen und getrocknet wird. 

Der Fussboden der Badezellen wird so zu legen sein, dass kein Wasser 
in diese treten kann; wenn irgend möglich, soll eine Fussbodenentwässerung vor¬ 
handen sein. 

Neuanlagen mit mehreren Abteilungen sind möglichst so einzurichten, dass 
durch Schliessung einzelner Zwischentüren ein Teil der Frauenabteilung auch von 
Männern und umgekehrt benutzt werden kann. 

b) Wannenbäder. 

1. Die Zellen sollen nicht unter 3 m Höhe und nicht unter 2,5 X 2,0 qm 
Grundfläche und müssen gutes Tageslicht haben, heizbar und gut zu lüften sein. 
Verbindungstüren zu anderen Zellen sind zu vermeiden. 

Die Innenwände sind glatt und bis 1,5 m Höhe abwaschbar mit ausge- 
ruudeten Ecken herzustellen; der Fussboden soll wasserdicht sein und ist mit einer 
an ein Abflussrohr anschliessenden Abflusseinrichtung zu versehen. Die Türen 
dürfen nicht ins Freie führen; ihr Verschluss ist so einzurichten, dass er vom 
Badewärter von aussen geöffnet werden kann. 

2. Die Badewannen können aus Zinkblech, emailliertem Gusseisen, Fayence, 
Porzellan, Mauerwerk oder Beton, mit Kachelauskleidung, Terrazzo, Kupfer, nickel¬ 
plattiertem Eisen-, Stahl- oder Kupferblech, auch Holz bestehen. Die Innen¬ 
wandung muss glatt und leicht zu reinigen sein, der Boden ist etwas geneigt nach 
der Abflussöffnung herzustellen. Wenn der Abfluss nach einem Schmutzwasser¬ 
kanal erfolgt, so ist für einen sicheren Wassergeruchverschluss zu sorgen. 

Der Rauminhalt der Wanne ist so zu bemessen, dass der Wasserinhalt nicht 
unter 200 1 beträgt. Die Wannen sollen im Boden mindestens 1,25 m i. L. lang 
und 0,5 m breit sein; nach oben sind sie zu erweitern. Die Wannen, die nicht 
aus Beton oder Mauerwerk mit Auskleidung bestehen, sind weder mit der Zufluss- 
noch mit der Abflusslcitung fest zu verbinden, so dass sie vom Badepersonal leicht 
bei Seite gestellt worden können, um eine gründliche Reinigung unter und hinter 
ihnen zu ermöglichen. Es muss deshalb der Wassereinfluss von oben über den 
Rand der Wanne erfolgen. Das Abflussventil muss in der Ebene des Wannen¬ 
bodens liegen, damit über dem Ventil oder dem Abflusshahn kein mit der Wanne 
in Verbindung stehender Hohlraum entsteht, der nicht gereinigt werden kann. 
Ueber der Wanne ist eine Brauseeinrichtung für kaltes Wasser anzubringen. 


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3. Für Kranke mit Hautaasschlägen sollen besondere Wannen (nicht aus 
Holz) vorhanden sein und jedesmal nach Gebrauch desinfiziert werden. 

4. ln jeder Zelle soll sich ein 100 teiliges Thermometer, ein Spiegel, ein 
Stuhl oder eine Bank, eine Badevorlage, einige Kleiderhaken (an nicht abfärbender 
Wand), ein Stiefelknecht, ein bis zur Hälfte mit Wasser oder Sägespänen ge¬ 
füllter Spucknapf, ein Nachtgeschirr sowie ein vom Badenden aus der Wanne leicht 
erreichbarer Druckkopf oder Klingelzug befinden, durch welchen das Badepersonal 
jederzeit in die Zelle gerufen werden kann. 

o) Brausebäder. 

1. Die Zellen bestehen zweckmässig aus einem Auskleide- und einem Brause¬ 
raum, für welchen sich eine Mindest-Grundfläche von 1 qm i. L. empfiehlt. 
Die Trennungswände zwischen den einzelnen Zellen müssen mindestens 2,25 m 
hoch sein. 

2. Ausser der schräg zu stellenden Kopfbrause ist es zweckmässig, eine 
Seiten- und eine Unterbrause anzubringen. Alle drei sollen möglichst gleichzeitig 
durch einen Zug oder dergl. in Tätigkeit gesetzt werden können, müssen aber auch 
einzeln benutzbar sein. 

3. Im Fussboden ist ein Fussbassin mit Ab- und Ueberlauf vorzusehen, 
dessen Wasserstand dem Badenden bis über die Knöchel reichen muss. Daselbst 
ist auch ein schmaler Wandsitz anzubringen, damit der Badende sich bequem die 
Füsse waschen kann. 

4. Der Fussboden, welcher reichliches Gefälle haben muss, soll einen Latten¬ 
rost erhalten, der leicht entfernbar ist. 

5. Die Wassermenge für ein Brausebad ist nioht unter 80 1 anzunehmen. 

6. Das Brausewasser soll, wenn möglich, den Brausen mit der vorge¬ 
schriebenen Temperatur (mindestens 35° C) entströmen. Duroh einen einfachen 
Kaltwasserhahn soll es dem Badenden jedoch ermöglicht werden, diese Temperatur 
nach Belieben zu erniedrigen. 

7. Das Inventar einer Zelle soll aus einer Sitzbank, einem kleinen Spiegel, 
einigen Kleiderhaken (an nicht abfärbender Wand), einem Stiefelknecht und aus 
einem bis zur Hälfte mit Wasser oder Sägespänen gefüllten Spucknapf bestehen. 

d) Hallen- (Schwimm-) Bäder. 

1. Zur Vermeidung des Hineinschleppens von Strassenschmutz in die Halle 
sind geeignete Vorkehrungen (durch Trennung der äusseren Umgänge der Aus¬ 
kleidezellen von den inneren, Anlegung besonderer Fussbekleidung, gründliche 
Reinigung des Schuhwerks vor dem Eintritt usw.) zu treffen. 

2. Der Fussboden muss aus nicht zu glattem leicht zu reinigendem Material 
bestehen; die Wände sollen glatte, leicht zu reinigende Flächen darbieten. 

3. Für eine hinreichende Zahl von möglichst verschliessbaren Auskleidezellcn 
ist zu sorgen. Auch sind Vorkehrungen für die sichere Aufbewahrung von Wert¬ 
gegenständen zu treffen. 

4. Eine Anzahl Reinigungsbäder (am besten Brausebäder), in Frauenab¬ 
teilungen auch Sitzwannen, sind vorzusehen. 

5. An den Wänden des Bassins sind Ueberläufe mit dauernder Selbstreini¬ 
gung oder Spucknäpfe anzubringen. 

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6. Aborte und Pissoire, die für Badende von der Bassinhalle zugänglich sind, 
müssen vorhanden sein. 

111. Betrieb der Badeanstalten. 

Die Leitung des Betriebes soll nur zuverlässigen, in der Badepflege gut aus¬ 
gebildeten Personen übertragen werden. Auszuschliessen sind Personen, welche 
die Heilkunde gewerbsmässig ausüben, ohne dazu staatlich anerkannt zu sein, oder 
dieses Gewerbe früher betrieben haben. 

Es sollen nur unbescholtene und gesunde Personen als Badepersonal ange¬ 
nommen werden. 

Es empfiehlt sich auch für den Betrieb bestimmte Vorschriften zu geben, die 
durch eine Betriebsordnung dem Betriebspersonal bekannt zu geben und von jedem 
Angestellten zu unterschreiben sind. 

Die Wassertemperatur der Wannen- und Brausebäder soll mindestens 35° C, 
die des Hallenbades (Schwimmbassins) mindestens 20° C betragen. 

In der ganzen Badeanstalt soll die grösste Sauberkeit herrschen. Die Bade¬ 
wannen sind nach jedem genommenen Bade zu reinigen und auszuspülen. Die 
Wannen- und Brausezellen sind täglich mit Wasserspülung gründlich zu reinigen, 
insbesondere auch unter und hinter den Wannen. 

Das Wasser des Schwimmbassins ist möglichst täglich, mindestens aber 
2 mal in der Woche zu erneuern; es ist ein ständiger allmählicher Zu- und Ab¬ 
fluss vorzusehen. Der Fussboden ist täglich zu reinigen. 

Kämme und Bürsten sollten überhaupt nicht in der Badeanstalt entliehen, 
sondern von den Badenden mitgebracht werden. 

Für jede Badeanstalt ist eine Badeordnung aufzustellen und in jeder Halle, 
den Warteräumen, der Sohwimmhallo usw. bequem lesbar aufzuhängen. Sie muss 
wenigstens enthalten: 

1. den Preis der Bäder; 

2. die Höchstdauer des Aufenthaltes, einschliesslich Aus- und Ankleiden 
(für Wannenbäder und Hallenbäder 45, für Brausebäder 30 Min.); 

3. eine Besstimmung, dass Personen mit ansteckenden oder ekelerregenden 
Krankheiten und Wunden die Bäder nicht benutzen dürfen, und dass 
Personen mit entstellenden Missbildungen von Hallen- und gemeinsamen 
Brausebädern ausgeschlossen sind. 

Wünschenswert ist auch eine Bestimmung, dass jeder Badegast, der 
das Schwimmbassin eines Hallenbades benutzen will, zuvor ein Reini- 
gungs- (Brause-) Bad nehmen muss. 

Wenn Badezellen, Schwimmanstalten oder Hallenbäder von Männern und 
Frauen benutzt werden sollen, so ist zwischen die Benutzungszeiten eine genügende 
freie Zeit ( 1 / 4 — x / 2 Stunde) zu legen. Während der Frauenbadezeit darf der Bade¬ 
raum nur von Frauen und Mädohen, sowie Knaben unter 8Jahren betreten werden, 
doch muss bei Schwimmbädern möglichst ein tauch- und schwimmkundiger Wärter 
für Notfälle zur Hand sein, sofern nicht eine vorschriftsmässig ausgebildeto und 
geprüfte Schwimmlehrerin vorhanden ist. 


Druck von L. Schumacher in Berlin N. 24. 


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7hr. ir. 










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