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Full text of "Z Ges Neurol Psychiatr Originalien 1913 20"

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Zeitschrift flir die gesamte 

Neurologie und Psychiatrie 

Herausgegeben von 

A. Alzheimer ft. Gaapp M. Lewandowsky K. Wilmanns 

Breslau TQblngen Berlin Heidelberg 


Originalien 


Redaktion 

despsychiatrischenTeiles I des neurologischen Teiles 

A. Alzheimer I M. Lewandowsky 

Zwanzigster Band 


Mit 89 Textfiguren und 14 Tafeln 



Berlin 

Verlag von Julius Springer 
1913 


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Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig 


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Inhaltsverzeichnis 


Seite 


Schlefferdecker, P. and E. Leschke. liber die embryonale Entstehung yon 
Hfihlen im Rtlckenmarke mit besonderer Berficksichtigung der anatomischen 
und physiologischen Yerh&ltnisse und ihrer Bedeutung fUr die Entstehung 

der Syringomyelie. (Mit 37 Textfiguren nnd 8 Tafeln). 1 

Krabbe, K. Beitrag zur Kenntnis der Frfihstadien der diffusen Hirnsklerose 
(die perivascul&re Marknekrose). (Mit 1 Textfigur und 1 Tafel) . . . 108 

Krueger, H. Beitrfige zur Klinik der Paranoia.116 

Wlttermann, E. Psychiatrische Familienforschungen. 153 


Lundsgaard, Ch. EigentUmliche Veranderungen im Rtlckenmarke eines Neu- 

gcborenen (kongenitale Syringomyelie). (Mit 5 Textfiguren und 4 Tafeln) 279 
Alters, R. und J. M. Sacrlst&n. Yier Stoffwechselversuche bei Epileptikern 305 
Meyer, M. Klinischer Beitrag zur Kenntnis der Funktionen des Zwischenhims 


(Encephalitis corporum mainmillarium).327 

Ponits, K. Beitrag zur Kenntnis der Frtlhkatatonie. (Mit 1 Textfigur) . . 343 
Gorn, W. liber therapeutische Yersuche mit kolloidalem Palladiumhydroxydul 

(„Leptynol u ) bei verschiedenen Psychosen.358 

Lerlnsohn, G. Der optische Blinzelreflex. (Mit 1 Textfigur).377 

Laplnsky, M. Die latente Form der Neuralgie des N. cruralis und ihre 
diagnostische Bedeutung bei den Erkrankungen der Organe des kleinen 

Beckens. (Mit 1 Textfigur).386 

Serobianz, N. A. Dntersuchungen liber das Verhalten des Restkohlenstoffs 

im Epileptikerblute. (Mit 1 Textfigur).425 

Lomer, G. Ein Fall von zirkularer Psychose, graphologisch gewtlrdigt. (Mit 

8 Schriftproben).447 

Kauffmann, A. F. Zur Frage der Heilbarkeit der Korsakowschen Psychose 488 

Sehilder, P. liber das SelbstbewuBtsein und seine Sttfrungen.511 

Bfrnbaum, K. Der Konstitutionsbegriff in der Psychiatrie.520 

v. Rad. liber Apraxie bei Balkendurchtrennung. (Mit 8 Textfiguren) . . 533 
Dzierzynsky, W. Dystrophia periostalis hyperplastica familiaris. (Mit 11 Text¬ 
figuren) .547 

Maass, 8. Psychiatrische Erfahrungen mit dem Abderhaldenschen Dialysier-, 

verfahren. 561 

Canestrinl, 8. Betrachtungen liber die klinische Symptomatik der Polio¬ 
myelitis (Heine-Medin) beim Erwachsenen. (Mit 15 Textfiguren und 
1 Tafel).585 


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tlber die embryonal© Entstehung yon Hdhlen im Riickenmarke 
mit besonderer Beriicksichtigung der anatomischen und physio- 
logischen Verhaltnisse und ihrer Bedeutung fur die 
Entstehung der Syringomyelie. 

Von 

P. Schiefferdecker (Bonn) und E. Lesehke (Berlin). 

Mit 37 Textfiguren and 8 Tafeln. 

(Kingegangtn am 28. Jvli 1913.) 

Erster Abschnitt. 

Ebersicht iiber die bisher vorliegenden Untersuehungen. 

Von Erich Lesehke. 

A. EntwicklangBgeschiehtliche Storungen als fttiologisehes Moment 

liir die Syringomyelie. 

Trotz der zahlreichen Untersuehungen der letzten Jahrzehnte iiber 
die Entstehung pathologischer Riickenmarkshdhlen, welche die sich 
mehrenden Beobachtungen iiber Syringomyelie und Hydromyelie mit 
sich gebracht haben, bestehen dennoch iiber die Genese solcher abnormer 
HOhlenbildungen weitgehende Differenzen in den Anschauungen der 
verschiedenen Autoren. Man kann die Ansichten iiber die Pathogenese 
der Syringomyelie in zwei grofie Gruppen bringen, wie es Schlesinger 1 ) 
in seiner Monographie iiber diese Erkrankung tut: Die erste Gruppe 
umfaQt diejenigen Autoren, welche die Ursache der pathologischen 
Veranderungen in Entwicklungsanomalien des Riickenmarkes 
suchen, die zweite Gruppe von Autoren macht dagegen eine auQere, 
extrauterin erworbene Einwirkung dafiir verantwortlich. 

Der erste Forscher, der auf die Bedeutung entwicklungs- 
geschichtlicher Anomalien fiir die Genese von Hohlen- 
bildungen im Riickenmark hinwies, war E. v. Leyden 2 ). Er 
fand bei der Untersuchung zweier Falle von kongenitaler Hydromyelie 
Bilder, die denen bei Erwachsenen so vollkommen entsprachen, dafl er 
die Syringomyelie der Erwachsenen auf die angeborene Hydromyelie 
zuriickfiihrte. „In einer gewissen Fbtalperiode ist der Zentralkanal 
stark erweitert, die HOhlenbildung kann sich vom Zentralkanale ab- 
schniiren, mit massenhaftem Gewebe umgeben, welches sich auf die 
Hinterstrange ausdehnt und deren Entwicklung beeintrachtigt.“ Die 
gleiche Ansicht vertritt Striimpell 8 ). 

Z. t d. g. Near. a. Psych. O. XX 1 


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P. Schiefferdecker und E. Leechke: 


Kahler und Pick 4 ) haben die Anschauungen von von Leyden 
dahin erweitert, daB nicht nur der Zentralkanal selbst hydromyelitisch 
verandert zu sein braucht, sondem daB auch aus Divertikeln, die 
parallel mit ihm verlaufen, und durch neugebildetes Gewebe oft weit 
von ihm abgedrangt worden sind, solche HOhlen entstehen kdnnen. 
Der Beweis fiir die Entstehung solcher Hohlen aus akzessori- 
schen Zentralkanalen, d. h. Divertikeln des urspriinglichen Zentral- 
kanales, ist darin zu sehen, daB sie mehr oder weniger vollstandig von 
Ependym ausgekleidet sind. 

Die grundlegenden Arbeiten iiber die Entstehung der Syringomyelie 
vhrdanken wir Fr. Schultze 6 ). Er wies in seinen zahlreichen Arbeiten 
nach, daB die Entstehungsart fiir die verschiedenen Falle 
von Syringomyelie eine verschiedene ist. Er trennt die Falle 
von entwicklungsgeschichtlichen Anomalien, fiir die er die 
Auffassung von von Leyden gelten laBt, ab von den Fallen, in denen 
die Syringomyelie aus einer Gliose hervorgeht, aus deren Zerfall 
sekundar Spalt- und Hdhlenbildungen entstehen. Eine dritte Ent- 
stehungsmdglichkeit sieht Schultze in Blutungen in die Riicken- 
markssubstanz, die besonders wahrend der Geburt haufig erfolgen. Da 
die Ansichten Schultzes allgemein bekannt und anerkannt sind, 
erubrigt es sich, sie an dieser Stelle ausfiihrlich zu wiederholen, nur 
mbchten wir nochmals betonen, daB er fiir einen groBen Teil der Falle 
entwicklungsgeschichtliche Anomalien als atiologisches Moment an- 
nimmt. 

Die Anschauung Schultzes iiber die Bedeutung entwicklungs- 
geschichtlicher Anomalien fiir die Genese der Syringomyelie wurde von 
Hoffmann 8 ) noch dadurch erweitert, daB er nicht nur fiir die erste 
Kategorie von Fallen, fiir die auch Schultze eine entwicklungsgeschicht¬ 
liche Anomalie postuliert, sondem auch fiir die zweite Kategorie, die 
nach Schultze aus einer primaren zentralen Gliose hervorgeht, St6- 
rungen der Entwicklung voraussetzt, die ihrerseits erst zu einer solchen 
Gliose fiihren. Auch Ziegler schlieBt sich in seinem Lehrbuche der 
Pathologie dieser Erweiterung des Geltungsgebietes entwicklungs- 
geschichtlicher Anomalien fiir die Atiologie der Syringoymelie an; er 
faBt seine Ansicht in die Worte zusammen: ,,Die primare zentrale Gliose 
ist als Form von Entwicklungsstorungen im Gebiete der grauen 
Kommissur und der Hinterstrange anzusehen.“ 

Auch Ribbert 7 ) nimmt fiir die Hohlraume, die mit Zylinder- 
epithel ausgekleidet sind, entwicklungsgeschichtliche Anomalien, z. B. 
eine embryonale Abschniirung vom Zentralkanale, an. Fiir die Hdhlen, 
die nicht mit Ependym, sondem mit Glia ausgekleidet sind, nimmt er 
ebenso wie Sch ultze einen Zerfall einer Gliose oder einer Hamatomyelie 
an. 


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tTber die embryonale Entatehung von Hohlen im Rttckenmarke. 


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Ebenso erklart Schlesinger 1 ) die Mehrzahl der mit Ependym 
ausgekleideten Hdhlen aus Entwicklungsanomalien. Daneben laBt er 
Jedoch die Mdglichkeit offen, dab solche Hdhlen, die durch Zerfall von 
Gliagewebe entstanden sind, nachtraglich eine Ependymauskleidung 
erhalten. Er berficksichtigt in diesem Zusammenhange die Mdglich- 
keit,daB Gliazellen sich inEpendy mzellen verwandeln konnte n. 
Das Vorkommen einer solchen Umwandlung ist jedoch bisher noeh nicht 
bewiesen, wenigstens nicht fur den erwachsenen Organismus. Im 
embryonalen Organismus allerdings kdnnen Gliazellen sich ependym- 
artig aneinanderlegen, einen Hohlraum bilden und ganz den Charakter 
des Zentralkanal-Ependyms annehmen. 

Wenn wir so mit sehen, daB eine groBe Reihe von Autoren ent- 
wicklungsgeschichtliche Anomalien zur Erklarung der 
Syringomyelic heranziehen, so stand doch der Anerkennung der 
Auffassung lange Zeit der Umstand hindemd im Wege, daB man solche 
Entwicklungsanomalien wie Erweiterungen und wie Divertikelbildungen 
des Zentralkanales bei Embryonen nicht fand. ,,Es fehlte also das End- 
glied oder vielmehr Anfangsglied in der Beweiskette, namlich: wie es 
im fotalen Leben zu solchen Anomalien des Zentralnerven- 
systems kommt. Die Antwort lautet zurzeit: Das wissen wir nicht. 
Dariiber kann nur die Pathologie des Embryo AufschluB geben, welche 
kaum in die Kinderschuhe getreten ist", konnte Hoffmann*) mit 
Recht sagen. 

Es war daher nur natfirlich, daB eine grdBere Anzahl von 
Autoren, sich der entgegengesetzten Ansohauung zuwandten, und 
die Bedeutung entwicklungsgeschichtlicher Anomalien 
fur die Genese pathologischer Riickenmarkshohlen vollig 
leugneten. 

Schon Sch ultze 6 ) hatte ja gezeigt, daB die Atiologie der S yri ngo- 
myelie kerne einheitliche ist und daB ein groBer Teil der Hdhlen- 
bildungen aus Zerfall von neugebildetem Gewebe oder aus Blutungen 
in die Riickenmarkssubstanz entsteht, und da die Beobachtungen 
gerade fiber die Hamatomyelien sich mehrten — dank den Arbeiten 
von Minor 8 ), Zappert 9 ), Westphal 10 ), Kolpin 11 ) u. a. — trat 
diese Entstehungsweise der Syringomyelie mehr und mehr in den Vorder- 
grund des Interesses und nahm schlieBlich eine so dominierende Stellung 
ein, daB Westphal 1905 schreiben konnte: ,,Wahrend man frfiher 
geneigt war, derartige Erweiterungen, Gestaltsveranderungen, Diver¬ 
tikelbildungen, so wie das Auftreten mehrerer Lumina ganz vorwiegend 
auf entwicklungsgeschichtliche Anomalien zurfickzuffihren, haben neuere 
Untersuchungen uns zur Erkenntnis geffihrt, daB alle die genannten 
Abweichungen sekundarer Natur seien und im spateren Leben durch 
irgendwelche auBere Einwirkungen, von denen auch besonders Traumen 

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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


und allmahliche Kompressionen in Betracht zu kommen scheinen, 
hervorgerufen werden k6nnen.“ 

Auch Schlesinger 1 ) erkennt die Bedeutung von Hamotomyelien 
auf traumatischer und arteriitischer Basis an, besonders fiir die Hohlen 
in den lateralen Teilen des oberen Halsmarkes und des verlangerten 
Markes. Dagegen rechnet er die Ham&tomyelie nicht zur 
Syringomyelic, da sie in der Regel nicht progredient ist. 
Wenn JedochTraumen ohne schwere Initialsymptome zu progressiven 
Hohlenbildungen AnlaB geben, bediirfen sie seiner Ansicht nack 
einer kongenitalen Veranlagung des Riickenmarkes. 

Die Kasuistik der Syringomyelic hat jedenfalls gelehrt, daB man nicht 
alle Syringomyelien auf eine einheitliche Atiologie zuriickfiihren kann. 
Kaiser und Kiichenmeister 29 ) haben die MGglichkeiten fiir die Ent- 
stehung pathologischer Riickenmarksh6hlen in folgendem Schema 
zusammengetragen: 

A. Einfache Erweiterung des Zentralkanales (Hydromyelie). 

1. angeboren 

2. erworben durch 

a) Riickenmarkskompression. 

b) Behindenmg im Abflusse des Liquor. 

c) HemmungsmiBbildung. 

B. Hohlenbildungen im Riickenmarke (Syringomyelie). 

1. angeboren 

2. erworben durch 

a) gliotische Wucherung und Zerfall, ausgehend 
a) vom Ependym des Zentralkanales 

P) von Zellennestem embryonalen Keimgewebes in der Marksubstanz. 

b) H&morrhagie. 

c) Embolie. 

d) Myelitis. 

e) Erweichung infolge von Kompression. 

f) regressiven Gewebszerfall. 

g) Abscedierung. 

Unter den bisher beobachteten Fallen von Syringomyelie ist jeden¬ 
falls die iiberwiegende Mehrzahl auf gliotische Wucherungen vom 
Zentralkanalependym oder von embryonalen Zellennestem in der Mark¬ 
substanz zuriickzufiihren. Leider fehlt in diesem Schema von Kaiser 
und Kiichenmeister die Analyse der angeborenen Hohlen¬ 
bildungen im Riickenmarke. 

Wir werden dieser bisher stark vemachlassigten Frage im folgenden 
einen besonderen Abschnitt widmen und darin zum ersten Male ein 
Schema fiir die Entstehungsmoglichkeit embryonaler 
Riickenmarkhohlen bringen und mit typischen Beispielen aus der 
Literatur und eigner Beobachtung belegen. Die bisher vorliegende 
Literatur ist mit wenigen Ausnahmen rein kasuistischer Art. Da sich 
jedoch im Laufe der Jahre die Mitteilungen iiber Falle von embryonalen 


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t)ber die embryon&le Entstehung von Hohlen im Rtlckenmarke. 


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RuckenmarkshChlen gehauft haben, ist es notwendig, unsere Kennt- 
nisse hieriiber einmal zusammenzustellen, zu sichten und 
zu ordnen. Derm nur dadurch kdnnen wir die bisher zerstreuten, 
zum Teile wenig bekannten und schwer zuganglichen kasuistischen 
Einzelmitteilungen fiir die Erkenntniss des Zustandekommens der- 
artiger Riickenmarksanomalien fruchtbar machen. 

B. Die Entstehung pathologischer Hdhlenbildangen im embryonalen 

Rfickenmarke. 

Soweit die Ansichten iiber die Entstehung der Syringomyelie. Wir 
sehen, daB die Mehrzahl der Autoren entwicklungsgeschichtiiche Ano- 
malien als atiologisches oder wenigstens pradisponierendes Moment 
annimmt. Fragen wir aber nach dem ,,Anfangsgliede in der Beweis- 
kette“ (Hoffmann), so ist dariiber recht wenig bekannt. Die Be- 
obachtungen iiberRiickenmarksmiBbildungen bei Embryonen 
lassen sich zahlen. AuBer bei den zwei Fallen von kongenitaler Hydro- 
myelie, die von Leyden*) untersucht hat, sind bei menschlichen 
Embryonen derartige pathologische RiickenmarkshOhlen nur in zwei 
Fallen aus dem Anfange des zweiten Monates gefunden worden, die 
Alfred Fischel 1 *) beschrieben hat. Merkwiirdigerweise bestanden 
die Veranderungen jedoch in diesen Fallen im kaudalen Teile des Riicken- 
markes, wahrend die Syringomyelie in der Mehrzahl der Ftille im Hals- 
marke lokalisiert ist. 

Bei dem ersten Embryo fanden sich neben dem ursprunglichen Zentralkanale 
an drei verschiedenen Stellen akzessorische Hfthlen, die mit Ependym ausgekleidet 
waren, und von denen zwei dorsal, die dritte jedoch ventral von dem als normal 
zu bezeichnenden Zentralkanale lagen. Bei zweiten Embryo bestand eine aus- 
gedehnte Erweitenmg des Zentralkanales, eine Hydromyelie. Das Medullarrohr 
war durch die angesammelte Fliissigkeitsmenge weit ausgedehnt worden und sogar 
die daruber hinwegziehende Epidermis war durchbrochen, so daB das Bild einer 
Myelocystocele entstand. Der dadurch entstandene Defekt war stellenweise 
wieder iiberbriickt worden. 

Wiehtig ist das Verhalten der iibrigen Organe, die in ihrerEntwicklung 
durch diese hochgradigen Anomalien des Ruckenmarkes nicht im min- 
desten gestdrt worden waren, so daB auch hier wieder ein Beweis fiir 
ein hochgradiges Selbstdifferenzierungsvermogen der Or¬ 
gane gegeben ist. Die bedeutsamen Ergebnisse der entwicklungs- 
mechanischen Arbeiten von M. NuBbaum, Harrison u. a. erfahren 
durch diese Tatsache von pathologischer Seite her eine neue Bestatigung. 
Eine bemerkenswerte Ausnahme machen Jedoch die Spinalganglien, 
die nur rudimentar ausgebildet waren und aus ganz atypischen Zell- 
raassen bestanden. Erst von der Stelle an, wo das Riickenmark wieder 
normal wird, sind wieder normale Spinalganglien und Spinalnerven 
ausgebildet. Wir werden unten sehen, daB diese Abhangigkeit der 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


Spinalganglien vom Riicketimarke durchaus nicht in alien Fallen 
besteht. 

Fiir die Entstehung dieser Entwicklungsanomalien kommen nach 
Fischel folgende MOglichkeiten in Betracht: 

1. Gestalt undLage schon der Medullarwfilste sind voneinander ver- 
Bchieden. 

2. Beim Schlusse des Medullarrohres kommt es zu StOrungen. 

a) Die MedullarrOhre schlieBt sich in zwei Etappen. Die ventralen 
Hdhlen sind das Produkt der ersten, die dorsalen das der zweiten 
SchlieBung. 

b) Zunachst wird ein einfaches Medullarrohr gebildet, das dann 
sekundar, durch Faltung und Verwachsung seiner Seitenwande, 
in zwei Abteilungen sich sondert. 

Der Unterschied zwischen diesen beiden Entwicklungsarten ist 
jedoch kein prinzipieUer, sondem nur ein gradueller, da der eine Vorgang 
sich an den anderen unmittelbar anschlieBen kann. 

Fiir die Entstehung der Hydromyelie nimmt Fischel eine vermehrte 
Fliissigkeitsansammlung an, deren Ursache er jedoch nicht angeben kann. 

Auch die Beobachtungen fiber Hohlenbildungen im embryo- 
nalen Bfickenmarke bei Tieren sind recht sparlich. 

Zuerst hat Oellacher 18 ) im Jahre 1875 multiple Zentralkanale 
bei einem 4tagigen Hfihnerembryo beschrieben. 

Auf den ersten Schnitten erecheint der Zentralkanal einfach, jedoch stark 
erweitert, entsprechend dem Bilde der Hydromyelie. Dann zeigt sich dorsalw&rts 
ein zweites, mit ektodermalen Zellen ausgekleidetes Rohr, weiter unten zeigen 
sich drei, schlieBlich sogar vier akzessorische Medullarrohre, die die gleiche Struktur 
zeigen wie der Zentralkanal. Diese vier Kanale verlaufen jedoch nicht einfach 
parallel, sondem verschieben sich gegeneinander, so daB ihre Reihenfolge in ver- 
schiedenen Hohen eine verschiedene ist. Wahrend z. B. die Reihenfolge auf Fig. 3 
der Oellacherschen Arbeit die folgende ist (von links nach rechts): r. II, r. HI, 
r. IV, r. I und diese vier Rohre die linke H&lfte des Zentralkanales umgeben, ist 
die Reihenfolge auf Fig. 4: r. II, r. I, r. HI, r. IV, und sie liegen hier auf der dor¬ 
salen Seite. 

Leider sind die Abbildungen, die Oellacher gibt, rein schematisch, 
so daB irgendwelche histologischen Details nicht zu erkennen sind. Als 
Ursache fiir die MiBbildung glaubt er „sekundare Medullarrinnen“ 
annehmen zu kfinnen, deren jede beim Schlusse des Medullarrohres sich 
fiir sich geschlossen haben dfirfte. Bemerkenswert ist auch die Angabe, 
daB betriichtliche Schwankungen der Brtittemperatur, die zu jener 
Zeit zufallig im Brfitofen vorkamen, vielleicht die Veranlassung zu der 
EntwicklungsstOrung gegeben haben. 

Einen ahnlichen Fall beschreibt Amelia Smith 14 ) bei einem 10- 
tagigen Hfihnerembryo. 

Unterhalb der Cervicalanschwellung ist zuerst die linke Riickenmarksh&lfte 
breiter und gekriimmt, darauf erscheinen in der linken Halfte Flecken von dtinkel 


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Uber die embiyonale Entstehung von Hohlen im KOckenmarke. 


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gef&rbten Zellen, die auf den n&ohsten Sohnitten eine runde Offnung erhalten, and 
Ton Flimmerepithel ausgekleidete Kan&le darstellen. Der Zentralkanal selbst ist 
vielkleiner als normal und liegt nach rechte verschoben, die zwei akzessorisahen 
Kan&le liegen der eine links, der andere dorsalw&rts von ihm, nach einigen 
Sohnitten verschwinden sie, so daQ anf eine kleine Strecke nur der Zentralkanal 
allein iibrig bleibt, dann aber beginnen neue Kan&le: Zun&ohst zeigen sich wieder 
zueret vier dunkle Fleoken, von denen drei ein elliptisches Lumen erhalten, diese 
Kan&le sind jedoch sehr kurz und verschwinden bald wieder. Auf weiteren Sohnitten 
erscheint der Zentralkanal auf der Unken Seite und drei akzessorische Kan&le 
mit einem Lumen, das von FUmmerepithel ausgekleidet ist. Zugleich bildet sich 
an der dorsalen Seite des Riiokenmarkes ein Auswuohs, der sogar nach aufien 
durch das Ektoderm durchbricht, und in dem sich ein neuer akzesaorisoher Kanal 
zeigt. Hierauf entstehen zwei neue Seitenkan&le und verschwinden zugleich 
mit dem dorsalen Auswuchse, und bereite nach wenigen Sohnitten erlangt das 
Ruokenmark (etwa von der Qegend des Wolffschen Kdrpers ab) seine normale 
Gestalt wieder. 

Die Frage nach der Entstehung dieser Anomalien kdnnen wir Jedoch 
auf Grand der Falle von Fischel, Oellacher und Amelia Smith 
nicht mit Sicherheit beantworten, da sie bereits abgeschlossene, 
vom Zentralkanale unabhangige Hohlenbildungen dar¬ 
stellen. Einen einheitilchen Mechanismus wird man Jeden- 
falls fiir die Entstehung dieser Anomalien kaum erw&rten 
dfirfen.. Auch Fischel fiihrt ja mehrere Mdglichkeiten an, durch die 
pathologische Rfickenmarkshdhlen entstehen kdnnen. Bei der Durch- 
arbeitung der Literatur fiber die bisher beschriebenen Falle von Rfioken- 
marksmiObildungen bei Embryonen haben wir nun eine Anzahl von 
Entstehungsmdglichkeiten gefunden, die sich in folgende Gruppen 
bringen lassen: 

I. Anomalien in der Anlage der Medullarrinne. 

a) Verdoppelung der Medullarrinne (Keibel, Voigt, Cutore, 

Jakoby, Banchi); 

b) Auswuchse der Medullarrinne (Banchi). 

II. Storungen beim Schlusse des Medullarrohres. 

a) SchlieBung in mehreren Etappen (?) (Fischel). 

b) Faltung und Verwachsung der Wande des Zentralkanales 
(Cutore, Kolster, Staderini); 

c) Absprengung von Epithelkeimen (Chiarugi); 

d) Einwachsen von anderen Geweben (Diastematomyelie) (Reck¬ 
linghausen, Benecke, Honel, Muscatello, Theodor, 
Voigt). 

III. Hohlenbildung unabhangig vom Medullarrohre. 

a) Zerfall von Glia (Cutore, Jakoby); 

b) Entstehung von ependymbekleideten Zentralkanalen unmittel- 
bar aus Glia (Paul Ernst, Schiefferdecker und Leschke). 


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P- SchieffcrdeclMW ufid E. Leschke 


1. Anomalies in <ier Anl&ge 4er SfeduHarrimie. 

a) T»ett jiiijgstep «iensehKeh#f» Embryo mifc Wnioppelung dor 
Riickenmarksaidage hat Kei bel 1& )/besdbmboft. Bet euiero. Embryo 

von' :-f .:3L^»-»jg© -• ~£a>>cl. fe.r hei sonst 

vdlljg das Emlo 

dea^E^lutkirrblire^ge&'pftlteiii lite teideji 


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Meduikrrohre (Fig. ij*, jla Jidiii AnlaB 
voiitegi. dec die Aiittithme begrimden 
y>' *$ k-Otmtin al* bate iygetodeiu Unjstand 
( " die Vereinigitrig; dor Medtdianrij late ver- 

hnidert. m Sa&t sioh dkwe Anomalie 
vorher bestehende YVrdoppdung dec Medutiaranne 


zurueJBit! 


Bin.? ctimtelie partielie Zv.'0>teiluiig {and. Voigs ’^ m einerr 
Ealle vt»a. embryonaler Spina bifida. - lb.a if<t^m«krt isn dieadm FaU< 
nut.Tnarmigf'sv,sheri MiBbildungen hie; imr die eine Steile {1, o. S, 400} 


an der das Rtiekortroark nits zwfci BaUteii testffet, dieBtirch eine 
,a»sob<f KmsohnUrung vcmeinnoder getremit fcind (Fig, 2 }. in der emeu 
Halite (d/) tefindot'sieh eta woliiaurfgobiWetvr. von Ependyio ausge- 


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N 




t)ber die embryenale Entstehung von Hohlen im Rllckenm&rke. 


9 


Oberflache eine noch nicht geschlossene, halbkreisf&rmige Medullarrinne 
tragt, die sich weiter unten zu einem selbstandigen Kanale schlieBt. 
SchlieBlich trennen sich auch noch die beiden Riickenmarkshalften von- 
einander. Wir haben also hier den Beweis fiir die Entstehung akzes- 
sorischer Riickenmarkshohlen durch Verdoppelung der Me¬ 
dullarrinne, die sich unabhangig voneinander zu zwei 
selbstandigen Zentralkanalen schliefien. 

Eine groBe Zahl von RuckenmarksmiBbildungen hat Cutore 17 ) da- 
durch erhalten, daB er die zu bebriitenden Eier auf einem groBen Teile 
ihrer Oberflache mit einer undurchdringlichen Schicht von Kaliumsilikat 
uberzog und dadurch StOrungen des Gasstoffwechsels verursachte. Bei 
alien so behandelten 
Eiem zeigten sich Ano- 
malien in der Ent- 
wicklung des Riicken- 
markes, die in der 
Mehrzahl der Falle zu 
multiplen Kanalen 
fiihrten (Embryo F, C, 

J, M, N, S, T, V, X). 

Bei den friihen Sta- 
dien (Embryo L, 48 
Stunden) zeigte sich, 
daB „das ganze dorsale 
Ektoderm, die charakte- 
ristischen Eigenschaften 
des Ektoderms der Medullarplatte angenommen hatte zugleich mit der 
Tendenz zur Faltenbildung an mehreren Stellen." (Fig. 3). Dadurch 
entstehen mehrere Medullarrinnen (sulci laterali anomali), die im 
weiteren Verlaufe sich zu den „canalini multipli anomali" schlieBen. 
Zugleich finden sich auBerordentliche Erweiterungen der Cardinalvenen, 
die der Verfasser fur die Ursache der Difformitat des Zentralnerven- 
systems halt (?). 

Femer hat Banchi 18 ) einige Falle von „monstruositk doppia“ im 
embryonalen Riickenmar- 
kebeschrieben, die den bis- 
her beschriebenen voll- 
kommen entsprechen. 

Auch hier handelt es sich 
wieder um Faltungen der 
Linea primitiva an zwei 
Stellen (Fig.4), die zu z wei 




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10 


P. Schiefierdecker nnd E. Leschke: 


Medullarrinnen und Medullarrohren fiihren (Embryo II, 33 
Stunden. Fig. h, i. Embryo I, 36 Stunden, Fig. f). 

- SchlieBlioh hat M. Jakoby 19 ) eine partielle Doppelbildung des 
embryonalen Biickenmarkes beschrieben mit doppelter Anlage der 
Nervenwurzeln der Spinalganglien. Der Fall entspricht am meisten dem 
von Keibel beschriebenen, ist aber bereits auf einer etwas hdheren 
Entwicklungsstufe. 

b) Auswiichse der Linea primitiva hat gleichfalls Banchi 18 ) be- 
schrieben (Fig. 5). „Die Linea primitiva zeigt zahlreiche verschiedene 
Abweichungen von ihrer graden und einfachen Form, in der Form von 
Einschnurungen und mehr oder weniger tiefen und zahlreichen Diver- 



Fig. 6. 


tikeln, die nicht selten den Anschein erwecken, als sei die grade Linie 
selbst in zwei Teile geteilt.“ Solche Auswiichse, die wie kleine runde 
Tumoren aus der Linea primitiva oder der Medullarrine hervorragen, 
finden sich auf mehreren Abbildungen (Taf. EH, Fig. 29, 46, Taf. IV, 
Fig. 74c. Auch in der Arbeit 1. c. VH, S. 232, Fig. f.) Leider gibt der 
Verfasser nur ganz schematische Abbildungen, die iiber den feineren 
Bau der Anomalien keinerlei AufschluB bringen. 


II. Storungen beim Schlusse des Hedullarrohres. 

a) Wir haben schon oben gesehen, daB Fischel die Mbglichkeit 
erwahnt, daB die Medullarrine sich in zwei Etappen schlieBt 
und dadurch mehrere Zentralkanale entstehen. Die ventralen sind dann 



das Produkt der ersten, die dorsalen das der zweiten Schlie- 
Bung. Diese Mbglichkeit kann a priori durchaus nicht an- 
gezweifelt werden, nur fehlen bisher Anhaltspunkte, die be- 
weisen, daB diese Art der Entwicklung tatsachlich vorkommt. 
Am ersten wiirde dieser Mechanismus fur den I. Fall von 


\ Kolster 20 ) (siehe Fig. 6) in Betracht kommen, jedoch fiihrt 
dieser Autor die in seinem Falle gefundene Anomalie auf 
Flg 6 nachtragliche seitliche Ausbuchtungen und Verwachsungen 
des urspriinglich einfachen Zentralkanales zuriick. 
b) Faltung und Verwachsung der Wande des Zentralkanales sind 
mehrfach beschrieben worden. Sie setzen alle eine urspriingliche Er- 
weiterung des Zentralkanales, eine Hydromyelie, voraus, die Jedoch 
nicht notwendig durch eine Fliissigkeitsstauung im Zentralkanale be- 
dingt zu sein braucht', sondern ebenso gut in primaren Wachstums- 
stdrungen ihre Ursache haben kann. Der Fall X von Cutore (1. c. S. 408) 
illustriert diesen Vorgang sehr gut (Fig. 7). 


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{Jbet easbryomie Sntstehuiig von RohJen inv Rtick^tnarke. 11 


ic 


Bei di^m Httimehei*Tuiden wjr an tndmiren; ^teilen de* Rdcferntturkes 
,„AuHwilchse, die merst ziemHefi tiriregelni&Ojg sttid, #icii v*m\UcsIej)en 

Kichtungea Mix f&lten, mu) c£kf Tench* nz stir BiWung rjidltipfcr ZemralkanAk 
seigen/' Der Zentrulkan&i s^lbst nird 
anqnnak dutch ether* Arj^wusM, der 
ron dor donfcileo .Seif^ ^in»^r Inncnwanci 
eutepnngt; wqdttffch -.up Mrfuh iTOpjH&le 
Oestafi mit&yfci ohm a nm eefekn ^pal - 

tos Wfiort- wrefefmifecg Yd&rmig 
vrird (trai^vi cfer WinJet «w>»ch^n den 
Widen SeWhkebv d& Y ctuftfc 0£mii d&s 
l*uiMon vm^prirignvtef* Atarotit&fi g^hfl* 
drt ^ifdh In 4&n folgvnden .5tehdxtten 
When «r«' an de» Zentralkanalw drtd s^Jcundftre K a na U\ zwei gegen 

die doraak O Wrflfuihe hin ond viimi pixe^ii die venuafc. Welter tmtvn verwhwindrjii 
dk Widen Atara&Wn Zentralkanak daduralu da# ihre Waod sich nach auikn Offnet. 
ami &#& Rdekcnrnarfc erh&lt d&thiroh die (he* tali einen Y. 



Ki*. ?. 




In deni oben erw&hnten Falle von Kolaier* 0 ) (Fig* 0) .fimlea wir 
die Bridling mehrere Zen tralkanAle durch Verklebung der 
Seitenwaride d4Bs Epead vrn k«nals. 

„£s buehten sich die Mitten, der ^.ntrhivMwJe aUm&Mich hervor; die Wider- 
seitigen Wblbungen U ruhr*ti wch sohliefifcOi ttwl vwehmelzGU niadaftii unter 
Bilduhg eitier deutlielien Raphe* «<0. daft ctri dor*»ler Olid v^ntruler Kim&i entateht. 
Von dkwti Widen i&t der dqn&aic der hedeut^ndi gt&lkie. Xach eiiihwi itioht langcw 
Yecl&ufe. Wg.innen die Seiteti^nde d^doraalen Kanaka .ihreiseits wieder diesclbon 
Vertadmitigcn in zvtgerv'dte' fangen • 'an,, gegVTt- das Lumen lies Ka miles • hin sich 
Yorto^ttllien. erraieheii sinwk'f vittd terechmeteo tsUwetefy so iiikl] det dwoife 
Kaiml in *.wei HalxUm Setei.lt. wird, und das Kiiekenmark uuf diesen ScMiitten 
dm. in der Mittvllinie liegendtf Offnangeii aufwetst, die «Ule Wn F.{x*nd % vm%elbti 
ausgekleidei sind. Die Wand, seiche* die ni.ittkm Offnnrtg vqn der donwikm 
wird kieiner tuid kleiner, mid echlieDlich ^vird dfc Verkkbung der Wlmde v* »t]stnndig 
get/>st> so da# a ieder ein kieiner ventraler und <dn grolh*r dorsuder KfttiaJ jiti Selmiite 
gefunden vrird^ Divsc Widen VorgAnge,. Bildung ein»^ dritU'D o<ler 

einer Hdhle dureh AWchniirung voxn dnrsalen Kana)e nmrrs&xl #^uder dundt Jim? 
eduvuderweichru der behien WAnde in der SlitW der Raplie tmiererseit^ wieder- 
bnienak^h mkh his an daft unUire Elide der Medulla mehrrnals, ereftern Btldmigswei^ 
dm Rtdtlraaniea ^rd noch dmmaJ gefunden, letztere uoeh ?,wviinaL** 

.... Die^ltk? A&omalie der Bi.ldung jtnehrerer Zontt^lkanSle 
dureli /t Verklobang dejr Seitenwande deft Eperrdvmkadales'’ 
fapd ^oleife.f ,^udh\b^i - .weiteJrn.-10 Embryonen v<^n SteniA liirndo und 
zwei Embryonen von harm eanu^. 

Die fteitsamaten D i vert i kel V* i td n ngen \he.§ Z# n t ra 1 k a iva let? 
findeii sicb in .einem Falte von Hydro men iugoe n cr^>H'a-U>co 1 e *i ve n 
menschlicben Ke ugebotenen, den Stadcriiii* 4 )’i^tfb-riuben-bat. 

Hier findeu wir znei^t im Bulbas z*uie Erweiterung d(& ^ntr^lkanafes mil 
astforruig: »kh abzwc*ig>3iulen Divertikeln (Fic, 8), im, C^m^ahnKtrke bjeiht mich 
die drsie^kige Erxndferung .dee ZentralkaoakH h^iiSJicix dtifd/tdfifnut bfer den groBieo' 
Teitdter hiatoreu HubkeriiiiarkshSifte ein. ■ ,Dafaei •' lipdoft.. fratti-.'W}' -dev graven 




Go. gle 


Original^rom 

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Ober die embiyonale Entstehung von Hohlen im Rttckenmarke. 


13 


des Zentralkanales, handelt, laBt sich schwer entscheiden. Beide modi 
der Entwicklungsstdrung mdgen vorkommen mit mannigfachen Zwischen- 
stufen.“ (Voigt). Solche Falle sind beschrieben worden von v. Reck¬ 
linghausen* 4 ), R. Benecke* 6 ), Honel**), Muscatello* 7 ), Theo¬ 
dor* 8 ), Voigt 14 ) u. a. 

m. Hohlenbildung unabhangig vom Zentralkanale. 

F. Schultze 6 ) hatte gezeigt, da6 eine groBe Anzahl der Falle von 
Syringomyelic durch den Zerfall einer primaren Gliose entstehen. Es 
ware nun interessant zu wissen, ob auoh fur diese von Anomalien des 
Zentralkanales unabhangige Entstehungsweise Vorstufen bereits im em- 
bryonalen Riickenmarke sich finden. DaB neben den bisher betrachteten 
Anomalien des Zentralkanales Degenerationen vorkommen kdnnen, ha- 
ben wir in dem Falle von Staderini* 1 ) gesehen. Auch Cutore 17 ) fand 
bei seinem Embryo Y die Gehimblase leicht deformiert und mit einem 
Detritus angefiillt, der von dem Zerfalle eines Teiles der Wand des Zen¬ 
tralkanales stammte, so daB dieser nach hinten hin offen war. 

Einen Fall von Hohlenbildung im embryonalen Riicken- 
marke bei vollig normalem Zentralkanale und auch sonst 
normaler Riickenmarksstruktur fand Jakoby 1 *) bei einem 4 cm 
langen Schweineembryo; der rechte vordere Quadrant war eingenom- 
men von einer sehr groBen Hdhle. ,,Nirgends besteht ein Zusammenhang 
mit dem Zentralkanale, nirgends auch nur eine Spur oder Reste 
eines Epithelbelages. Die Wand besteht aus demselben Gewebe 
wie das angrenzende graue Vorderhom, es fehlen jedoch in der Rand- 
schicht Ganglienzellen, femer liegen die Zellen und Kerne hier viel dich- 
ter als in dem iibrigen Ruckenmarksgewebe. Die Beschaffenheit der 
Wandung laBt zwei Moglichkeiten zu: Entweder kann es sich um eine 
Stauungscyste handeln, welche aus einem BlutgefaBe oder Lymph- 
raume entstanden ist. In zweiter Linie ware nach Analogic der Befunde 
beim Erwachsenen daran zu denken, daB zuerst Gewebe gewuchert 
und die Hohle dann durch sekundaren Zerfall entstanden 
ist. Beides ist mdglich, das wesentliche ist jedoch, „daB im embryo¬ 
nalen Marke Hohlen sich bilden konnen, welche nichts mit 
dem Zentralkanale zu tun haben.“ 

Fur die Entstehung von Hdhlenbildungen im Riickenmarke unab¬ 
hangig vom Zentralkanale bringen wir im II. Teil unserer Arbeit an der 
Hand eigener Falle noch weitere Ausfiihrungen, auf die wir an dieser 
Stelle nur hinweisen kdnnen. 

C. Beziehungen zwischen der Gliose bei Syringomyelic und dem Gliom. 

Die Forschungen der letzten Zeit haben uns eine Fiille von Be¬ 
ziehungen zwisohen MiBbildung und Geschwulstentstehung 


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14 


P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


kennen gelehrt. Askanazy 80 ) bat unlangst diese Beziehungen in einer 
groBen Arbeit aus dem Tiibinger pathologischen Institute zusammen- 
gestellt. Er unterscheidet folgende Gruppen: 

1. GewebstiberschuB ohne Platzveranderung. Hierzu ge- 
h6ren die Rumen- und Divertikelbildung des Medullarrohres, die Ver- 
doppelungen und das Auftreten multipier Zentralkanale. 

2. Raumliche Ausschaltung von Gewebe (Gewebsver- 
lagerung). Hierzu rechnet er die heterotopen Gliosen und das Gliom. 

Heterotope Gliawucherungen treten oft gesehwulstartig 
auf, so daB man sie von echten Gliomen nicht oder kaum zu unter- 
scheiden vermag. Man kann in einem und demselben Falle geschwulst- 
artige Gliosen und blastomatdses Gliom kombiniert finden. 

Der kongenitale Ursprung solcher heterotopen Gliawu- 
cherungen und echter Gliombildungen ist auch durch Befunde 
bei Embryonen sichergestellt worden. So berichtet T. Podmanicky 81 ) 
aus dem Frankfurter neurologischen Institute fiber kongenitale Neuro- 
gliome bei einem dtagigen Htihnerembryo. In diesem Falle war in der 
Hdhe des Schuhergfirtels der Zentralkanal in der Richtung des Septum 
mediale posterius gespalten, und diese Spalte erweiterte sich kaudal- 
warts immer mehr, bis sie in der Lumbodorsalgegend eine Kommuni- 
kation des Zentralkanales mit der Oberflache vermittelte. Im ganzen 
Bereiche des zentralen Nervensystemes waren nun auBerdem zahlreiche 
Hohlenbild ungen zu sehen, die sich in zwei Gruppen einordnen 
lieBen: 

1. Rfickenmarkshdhlen mit Zylinderepithelauskleidung. 

2. Hfihlen mit unregelmaBig angeordnetem Epithelbelage, an dessen 
Ende (meist dorsalwarts) sich eine unscharfe, fleckige Zellgrenze mit de- 
generierten, schlecht farbbaren Zellen fand. „An der einen Seite sehen 
wir, daB die einschichtige Anordnung der zylindrischen Zellen aufhort 
und in einen Wirbelknauel sich auflfisend in das umgebende Gewebe 
tibergeht.“ Der von Podmanicky beschriebene Fall weist manche 
Ahnlichkeiten mit dem unsrigen auf. 

AuBer dieserfand Podmanicky noch eine dritte Art von atypischen 
Zellbildungen, namlich glomerulusartige Anhauf ungen von Neu- 
roepithelzellen ohne Lumen und ohne rosettenfdrmige Anordnung, 
die in der Rfickenmarksubstanz zerstreut lagen und auf den verschieden- 
sten Schnitten und an den verschiedensten Stellen auftraten. An den 
Stellen, an denen sich solche Zellanhaufungen fanden, war auch meist 
die symmetrische Anordnung des Zentralkanalepithels gestfirt. 

Ffir die Entstehung sowohl der Rfickenmarkshdhlen mit Ependym- 
epithel- wie der mit unregelmaBiger Zellauskleidung, wie der Zellanhau¬ 
fungen ohne Lumen kommen in erster Linie Absprengungen vom 
Ze ntralkanale in Betracht. Vielleicht handelt es sich dabei nicht allein 


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Ober die einbryon&le Entstehung von Hbhlen im Rtlckenmarke. 


15 


um Abschnfirungen, sondem auch urn ein mechanisches Hineinquellen 
von Zentralkanalepithelien in die Riickenmarksubstanz, wofur nach 
der Ansicht von Pod manic ky das gleichzeitige Bestehen einer Ano- 
malie im Verscblusse des Zentralkanales spricht. 

Die wesentliehen Ergebniss© dieser Untersuchungen sind also die 
folgenden: 

1. Anlagen zu Gliomen konnen duroh Entwicklungssto- 
rungen des Zentralnervensystems entstehen. 

2. Diese gliomatbsen Anlagen sind rein neuroepithelialen 
Charakters und stammen vom Neuralepithele des Zentralkanales ab. 

3. Sie lokalisieren sich nicht nur an der Stelle der Stdrung des 
Zentralkanales, sondem — vielleicht durch veranderte Druckverhalt- 
nisse — auch an sonst intaktan Stellen des ze ntr ale n Nerve n- 
systems. 

Die Frage nach dem neuroepithelialen Charakter dieser atypischen, 
gliomatbsen Zellwucherungenund ihrer Abstammung vom Epithele 
des Zentralkanales hat namentlich dadurch ein groOes pathologisches 
Interesse, dab man in den Neurogliomen, die sich im postfbtalen Leben 
entwickelt haben, die gleichen Bildungen in Form von kleinen Kanalen 
oder Cysten gefunden hat, die mit einem Saume von Epithelzellen aus- 
gekleidet werden. Seitdem Steinhaus zuerst auf diese auch nach ihm 
benannten Rosetten hingewiesen hat, sind diese Befunde von einer 
grofien Anzahl von Autoren (Muthmann und Sauerbeck, Kling, 
Saxer, v. Wunschheim, Briining, Rosenthal, Miura, Buoh- 
holz, Stoebe, Henneberg, Bonome, Ribbert) bestatigt worden. 
Einen tJberblick fiber diese Frage und ein ausffihrliches Literaturver- 
zeichnis enthalt namentlich die grfindliche Arbeit von Muthmann und 
Sauerbeck 8 *). Ribbert 7 ) beschreibt diese Bildungen in seiner Ge- 
schwulstlehre (Seite 262) als „auberordentlich zahlreiche, auberst zier- 
liche, aber nur mikroskopisch kleine, kugelige oder gestreckte Hohl* 
raume, die mit Neuroepithel radiar umstellt sind.“ 

Ffir die Entstehimg dieser Hohlenbildungen in Gliomen hat 
man nun mehrere Mdglichkeiten angeffihrt. Wir wollen hier nur die mit 
zylindrischem Epithele ausgekleideten Hohlraume ins Auge fassen. 
Diese kdnnen entstehen: 

1. Durch Absprengung vom Zentralkanale. 

2. Durch Erweichung und Zerfall des gliosen Gewebes; die so 
entstandene H6hle kann in den Zentralkanal durchbrechen oder ihn 
wenigstens erreichen und sekundar mit einem Epithelsaume von 
dem Ependyme des Zentralkanales fiberhautet werden. Auf 
diese Mfiglichkeit hat Paul Ernst 88 ) in seiner „Morphologie der Mill* 
bildungen des Nervensystemes‘ ‘ hingewiesen. 

3. Es ist auch noch eine dritte Moglichkeit erOrtert worden, namlich 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


daB die Neuroepithelrosetten und -kanale in Gliomen nicht direkt vom 
Zentralkanalepithele abzustammen brauchten, sondem an Ort und Stelle, 
innerhalb der Gliome selbst, aus Gliazellen durch Riickschlag 
auf ihre embryonal© ependymale Vorstufe entstehen kdnnten. 

Fur diese dritte MOglichkeit haben wir jedoch weder in den entztind- 
lichen Gliosen noch sonst irgendwo im zentralen Nervensysteme einen 
Anhaltspunkt. Darum ist diese Annahme auch von den meisten For- 
schem abgelehnt worden. Ribbert 7 ) schreibt in seiner Arbeit fiber das 
Neuralepithel in Neurogliomen: „Die Umwandlung der Gliazellen in 
Neuroepithel setzt einen hdchst unwahrscheinlichen RfickbildungsprozeB 
voraus. Die natfirliche und selbstverstandliche Erklarung ist, dafi das 
Neuroepithel infolge von EntwicklungsstOrungen aus den embryonalen 
Hfihlen des Zentralnervensystemes in die werdende Substanz des Ge- 
himes oder Rfickenmarkes verlagert wurde.“ „Wir dfirfen also 
ruhig an der Ableitung des Neuroepithels und damit des 
Glioms aus entwicklungsgeschiohtlichen Storungen des 
Embryonallebens festhalten." 

Auch Paul Ernst 38 ) lehnt die Entstehung von Neuroepithel im 
extrauterinen Leben durch Riickschlag aus Gliagewebe als unwahr- 
scheinlich ab. Dagegen ffihrt er eine andere MOglichkeit einer embryo¬ 
nalen Entstehung von Neuroepithel in Gliomen an, die darin 
besteht, daB Teile des Hohlenepithels bei der Bildung der Glia aus dem 
Verbande getrennt werden und nun zu HOhlen auswachsen. Die so ent- 
standenen epithelialen Hohlraume brauchen also nicht aus Ausstfilpun- 
gen und Abschnfirungen des Ependyms des Zentralkanales entstanden 
zu sein, sondem das abgesprengte, gliabildende Epithel kann 
in einem Teile der Zellen den epithelialen Charakter bewah- 
ren, z. B. an der Innenflache von ZerfallshOhlen, oder sich wie Neuro¬ 
epithel radiar rosettenfOrmig zusammenordnen. Ffir diesen Entstehungs- 
modus, der somit zu den drei oben erorterten als vierter hinzutritt, 
spricht noch ein besonderer Umstand, namlich die Multiplizitat der 
epithelialen Kanale und Rosetten. Denn „so zahlreiche Epithel- 
kanale und -rosetten, wie man sie haufig in Gliomen findet, kdnnen ja 
nicht vom Ventrikelepithele abgeschnfirt sein“ (Ernst). 

Wir sehen somit, daB sich eine Reihe von Beziehungen zwischen 
der Gliose bei Syringomyelie und dem Gliome finden. Beide 
sind auf EntwicklungsstOrungen zurfickzuffihren, bei beiden finden wir 
atypische Rfickenmarkshdhlen, die auf verschiedenem Wege eine Aus- 
kleidung mit Ependym erhalten kOnnen, bei beiden finden wir im extra¬ 
uterinen Leben Proliferation von Gliazellen, die zu Storungen der Funk- 
tion des zentra'en Nervensystemes ffihren. Leider ist unsere Einsicht 
in die embryonal© Genese der Gliosen noch keine so vollstandige, als daB 
wir nicht Paul Ernst recht geben mfiBten, wenn er am Schlusse seiner 


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Uber die embryonale Entstehung von Hohlen im Ktlckenraarke. 


17 


„MiBbiidungen des Nervensystemes" sagt: ,,Eb wird Aufgabe kiinftiger 
Forscher sein, die Griinde zu sichten, vielleicht zu stiitzen und zu mehren, 
die fiir eine embryonale Entstehung der Gliosen und fur einen 
Zusammenhang von Syringomyelie mit Entwicklungssto- 
rung sprechen.“ 


D. Zusammenfassung. 

Die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen der Sy¬ 
ringomyelie sind demnach die folgenden: 

I. Die Entstehung der Syringomyelie im extrauterinen 
Leben ist keine einheitliche (Schultze). Es kommen viel- 
mehr drei Entstehungsmoglichkeiten in Betracht: 

a) Entwicklungsgeschichtliche Anomalien in der Aus- 
bildung des Zentralkanales reap, akzessorische Zentralkanale. 

b) Bildung einer zentralen Gliose, die auoh auf Entwicklungs- 
stGrungen zuruckzufiihren ist; durch ihren Zerfall entstehen die HOhlen, 
die nicht mit Ependym ausgekleidet sind. 

c) Hohlenbildung durch Traumen, Blutungen, allmah- 
liche Kompressionen (Westphal) und Gewebseinschmel- 
zungen entziindlicher Herkunft. Von alien diesen Faktoren 
kommt den entwicklungsgeschichtlichen Anomalien die grOBte Bedeu- 
tung fiir die Genese der Syringomyelie zu. 

Q. Dieselben entwicklungsgeschichtlichen Anomalien, 
die im extrauterinen Leben zum Bilde der Syringomyelie 
fiihren, konnen auch bereits im embryonalen Leben zu 
pathologischen Hohlenbildungen fiihren. Ebensowenig wie bei 
der Genese der Syringomyelie ist auch bei der Entstehung pathologischer 
Hbhlenbildungen im embryonalen Riickenmarke der Mechanismus ein 
einheitlicher. Es lassen sich vielmehr folgende Entstehungsmog¬ 
lichkeiten voneinander trennen: 

a) In der Anlage der Medullarrinne bestehen Anomalien der 
Art, daB 

<x) eine Verdoppelung der Medullarrinne eintritt (Keibel, 
Voigt, Cutore, Banchi, Jakoby), 

P) Auswiichse aUs der Medullarrinne entstehen (Banchi). 

b) Wenn auch die Anlage der Medullarrinne normal ist, so kann es 
dennoch beim Schlusse des Medullarrohres zu mannigfaltigen 
Anomalien kommen, die zur Entstehung mehrerer Riickenmarks- 
hOhlen fiihren kdnnen. 

«,) Eine SchlieBung der Medullarrinne in mehreren Etappen, wobei 
sich also von vom nach hinten mehrere Medullarrohre abschniiren miiB- 
ten, ist theoretisch denkbar (Fischel), aber bisher noch nicht beobachtet. 

P) Die haufigste Entstehungsweise pathologischer Ruckenmarks- 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych, O. XX. 2 


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18 


P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


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h6hlen nach SchluC des Meduilarrohres ist die durch Faltung und 
Verwachsung der Wande des Zentralkanales. Dadurch kann 
zunachst der Zentralkanal selbst die merkwiirdigsten Formen erhalten 
(Cutore, Staderini), sodann kann aber auch der vorher einheitliche 
Zentralkanal durch solche Auswiichse aus den Wanden in mehrere voll- 
kommen abgeschlossene HOhlen zerteilt werden (Kolster). 

y) Seltener entstehen akzessorische Zentralkanale durch Abspren- 
gung von Epithelkeimen (Chiarugi). 

d) SchlieBlich konnen erhebliche Storungen beim Schlusse des Me- 
dullarrohres eintreten, durch Einwachsen von Binde- oder Knor- 
pelgewebe aus der Umgebung des Riickenmarkes. Es konnen dadurch 
Teile des Zentralkanales mitsamt den sie umgebenden Riickenmarks- 
abschnitten v6llig voneinander abgesprengt werden (Diastemato- 
myelie), doch finden diese Vorgange fast nur im caudalen Teile des 
Riickenmarkes statt und stehen mehr zu der Spina bifida als zu der 
Syringomyelie in Beziehung. 

c) Es kOnnen auch unabhangig vom Medullarrohre patho- 
logische Hohlen bereits im embryonalen Riickenmarke entstehen, 
die den im extrauterinen Leben durch Zerfall von Gliosen entstandenen 
Syringomyelien am nachsten stehen (Cutore, Jakoby). Sie entstehen 
entweder gleichfalls durch Zerfall von Gliagewebe oder auch 
durch Stauung in den Lymph- und Blutraumen. 

III. Zwischen der Gliose bei Syringomyelie und dem 
Gliome bestehen eine Reihe von Beziehungen: 

a) Beide sind auf Entwicklungsstorungen zuriickzufiihren. 

b) Beide konnen in ein und demselben Riickenmarke nebenein- 
ander entstehen. 

c) Bei beiden finden wir atypische Riickenmarkshohlen, die 
auf verechiedene Weise eine Auskleidung mit Ependym erhalten konnen: 

1. Durch Absprengung vom Zentralkanale, 

2. Durch sekundare tJberhautung vom Zentralkanal- 
epithele aus, 

3. durch Riickschlag von Gliazellen auf ihre ependymale Vor- 
stufe (?), 

4. dadurch, daB das abgesprengte gliabildende Epithel in 
einem Teile der Zellen den urspriinglichen epithelialen 
Charakter bewahrt. 

Zweiter Abschnitt. Beschreibung der Befunde. 

Von P. Schiefferdecker. 

Den AnlaB zu dieser ganzen Arbeit gab das Auffinden der folgenden 
MiBbildung. Es handelte sich um ein Hiihnchen, das 7 Tage lang be- 
briitet worden war, dasselbe war dann fiir die Silberfarbimg von Cajal 


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tTber die embryonale Entstehung von Htihlen im RUckenmarke. 19 

in starkem Alkohol gehartet und in l,5proz. Loeung von Silbemitrat 
7 Tage lang im Briitofen impragniert worden. Vor der Impregnation 
war es in Stiicke zerschnitten worden, damit das Silber besser eindrang. 
Da dieses Huhnchen eins der ersten so behandelten war und als Probe 
fiir die Farbung dienen sollte, sowie gleichzeitig zur Ubung in der An- 
fertigung von Schnitten auf dem Laboratorium (der Befund stammt 
schon aus dem Winter 1906/07), so war bei dem Schneiden nicht vor- 
sichtig verfahren worden und so sind in der Serie, die zurzeit vorliegt, 
sicher eine Anzahl von Schnitten ausgefallen. Auch der kraniale An- 
fang der MiBbildung, der im unteren Teile des Halsmarkes lag, ist 
nicht mehr vorhanden. Trotz dieser Mangel haben wir den vorliegenden 
Fall doch fiir wichtig genug gehalten, um ihn einer eingehenden Be- 
schreibung zu unterziehen. In dieser werden wir aus den angegebenen 
Grlinden die Abbildungen nicht nach der Schnittnummer bezeichnen, 
da es ja zweifelhaft ist, ob diese Schnittnummern richtig sein wiirden. 
Einer Yon uns (Leschke) hatte dies© MiBbildung gefunden, die weitere 
Bearbeitung ist dann im wesentlichen von dem anderen ausgefiihrt 
worden. 

Die Abbildungen, welche wir hier im Texte als Erlauterung zu der Beschreibung 
geben, sind als halbschematische anzusehen, d. h. sie sind so hergestellt worden, 
daB sie alles fiir die Beschreibung Wesentliche schematisch klar wiedergeben, sich 
hierbei aber genau an die Natur halten. Wirklich naturgetreue Abbildungen 
batten sich bei der schwachen, 120maligen VergroBerung (bei 90maliger hier 
wiedergegeben) nicht hinreichend deutlich herstellen lassen, hatten ihrer feinen 
Ausfuhrung wegen nicht in den Text gedruckt werden konnen, wiirden viel zu 
teuer geworden sein und hatten auBerdem das Wesenthche nicht so klar hervor- 
treten lassen als die hier gegebenen halbschematischen Abbildungen. Von wesent¬ 
lichen Dingen sind auf diesen Figuren durchgehends in gleicher Weise dargestellt 
worden: 1. die weiBe Substanz genau ihrer Dicke und, soweit das bei der schwachen 
VergroBerung moglich war, auch ihrer Anordnung entsprechend; 2. die Stelle der 
austretenden vorderen und eintretenden hinteren Wurzeln; 3. die Grenze des das 
Riickenmark umgebenden Gewebes; 4. die Form und GroBe des Zentralkanales 
reap, der verschiedenen Kan&le oder Cysten; 5. die Kerne der Ependyinzellen sind 
an Zahl und GroBe nicht der Natur entsprechend eingezeichnet warden, es wdirden 
das bei weitem zu viele und zu kleine Kerne geworden sein, sondern sind nur ihrer 
Anordnung entsprechend und weit groBer als in Natur eingezeichnet worden. Das- 
selbe gilt von den Ependymzellen und von der sonstigen Gliasubstanz mit ihren 
Kemen, soweit sie als sole he, in groBeren Massen zusammenliegend, auf dem 
Schnitte hervortrat. Ebenso gilt das fiir die mitunter sehr deutlich hervor- 
tretende Gliafaserung. 6. Soweit das Riickenmark im wesentlichen normal oder 
wenigBtens nicht besonders stark verandert erscheinende Glia untermischt mit 
Nervenzellen enthielt, ist es nur durch einen grauen Ton angedeutet worden. 
7. Die weiBe Commissur ist schematisch durch Querstreifung angedeutet worden, 
ohne daB aus der Anzahl und dem Verlaufe der hier eingezeichneten Linien ein 
SchluB auf die Menge, die Dicke und den Verlauf der wirklich vorhandenen Nerven- 
fasern zu ziehen ist. 8. Ein Gliom, das in diesem Falle in weiterer Ausbreitung vor¬ 
handen war, ist in fthnlicher Weise, wie es in Natur erschien, aber auch nur 
schematisch eingetragen worden, es hebt sich von den iibrigen Gewebselementen 

2 * 


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P. Sehiefi'erileeker und E. J>*thke 


in itelur dftuilir'lior \V»i«e ab, wie da* aucb ist Natur der Pall war. AttBerdbfca 
hibi AhlaldungfOi, wdche s&inllkih b«i 120facher VergriiGA 

rotijg efm>ifcbp<*t and bid OOnialiger liiar wiedergei'Kbeti worden sind, j-xod au? 
tipi} i*t»rgKgvb«*iiefi Tafeln nSfch eintgo gcnaotuv Uildi-r gogeben warden, 6ei w/• 
»{5.hi^dwieti VVrgroLteninavn, wit wt-lcbe ntteh retwiaeeti wetden wild, und wetehr 
»/i(■*, naturgofrOuee AbbiM gybru. 

iter erste drr vnikgendeiV Sehnitte (Fig. TO) befindet men in tier 
IfiSUp d«! voixlrrc-ri Exirrmitiitrfiguri'-Ls. D»s itvidkertmark tdycheinil'; 
obgWioh dor Sehijitt ein rcmer QaeTHdtihitfc ist, in Ricli- 

" ' V . iung soflf iMsffe ^langesrt. 

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luui t«hi da- an InMen die 
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fdarkeft zuaa nunetiaetzon - 
den Xnlien selhst dii? iiufiere 
tfegreozuiig. Dor Qncr- 
orschoint irn gan- 
M?n etw*a tlroie«kig t ct.wn 
einem etwa* unregeliuiiBi- 
gen, gloix'.l>fiaiuMikc)igeti s spitzwinkeligeu Tfreiaeke entspjwbend, docb 
iff. die Spitz*’ at^est.iimpffc. . 'p$t :-a^- ZeOtraikanal lmt 
vU’nfalle dif. 'GehiaU- eine* r.*iek*cmil zwt'-i spitiieii imd eineia 
atijra^jifeih, Wittkel.* dtn '^mse^» Winke) Siegt M&$;- der vorderen 
CoiruRifmr bin, dt-r stumpfe xb)ts;ilnArts umi mdtt-f? (d. b. eigont- 
Kefa ant dor iinkfen Soijfe des Ri(ekenn;iftrko»): der avreito spitze Winkol 
de*radiwarta uud' etvai nnek i,hi!<> go.richkd,;'. An de»n vouf-raleti Winkel 
iiegfc das JSpeud j'io.Rjrit}t< 5 \ dea ,;veotral,en 

Er»e nd y m k<-. le.-’' L'ter Kier ibgende spitye.vfe Winkel swilt also 






(jber die embryonale Entstehung von Hbhlen im HUckenmarke. 


21 


zweifeUos den ventralen, gut entwickelten Abschnitt des gewChnlichen 
Zentralkanales dar. An dem stumpfen, nach rechts liegenden Winkel, 
sieht man sehr deutlich entwickelt ein Dreieck liegen, dessen Basis 
an den Zentralkanal stbBt, dessen Spitze hier auf der schematischen 
Zeichnung kurz abgebrochen erscheint, das ebenfalk, wie die Striche 
das andeuten sollen, aus langgestreckten EpendymzeUen besteht und 
das seiner Beschaffenheit nach, wie wir das spater noch genauer zeigen 
werden, dem Ependymepithel des „dorsalen SchluBkeiles“ 
entspricht. 

Die Zellen dieses Epithels sind duroh das Silber ziemlich stark gebr&unt 
worden. Dieses Dreieck liegt fast genau in der Hohe des dorsalen Endes der weifien 
Substanz derselben Seite, etwas weiter ventral w&rts. Der zweite spitze Winkel, 
links oben, ragt iiber den stumpfen dorsal warts ein Ende hervor. In seiner Hbhe 
liegt wiederum, und zwar diesmal genauer, das dorsale Ende der weiBen Substanz 
der entsprechenden Seite. Diese geht also links weiter dorsalwarts als rechts. 
In diesem Winkel liegt wiederum dorsales Keilepithel, das diesmal nicht ein solches 
Dreieck bildet, sondem mehr gleichmaBig um den Winkel herum ausgebreitet ist; 
es ist aber deutlich erkennbar an dem Zuriickweichen der Kerne und an der Brau- 
nung durch das Silber. In diesem Winkel des Zentralkanales liegt, was hier nicht 
dargestellt worden ist, eine Anhaufung einer feinkornigen Substanz, welche an 
den beiden Schenkeln des Winkels, sich allmahlich mehr und mehr verdiinnend, 
hinzieht, um schlieBlich ganz aufzuhoren. Diese Substanz enthalt auch eine Anzahl 
von Kemen. Es handelt sich um Gerinnsel und Detritus, herriihrend von den 
Zellen des Zentralkanales. Wir sehen also hier, daB das dorsale Keilepithel des 
Zentralkanales, das sonst ja bekanntlich nur einen ganz schmalen Streifen bildet, 
sich in zwei Halften geteilt hat, von denen die eine in dem dorsalen stumpfen 
Winkel, die andere in dem dorsalen spitzen Winkel liegt, und daB die weiBe Sub¬ 
stanz beiderseits dorsalwarts ziemlich genau so weit heraufgeht, bis sie die Hbhe 
dieser beiden Abschnitte des dorsalen Epithels erreicht. Die Zellmasse, welche 
den Raum zwischen den beiden Abteilungen des dorsalen Keilepithels ausfiiUt, 
so dorsal w&rts den Zentralkanal begrenzt und dann die ganze Spitze des drei- 
eckigen Riickenmarkes bildet, entspricht also nicht mehr einem Teile des sonstigen 
normalen Riickenmarkes, denn zwischen den EpendymzeUen des dorsalen Keil¬ 
epithels liegt keine sonstige Riickenmarksubstanz mehr, sondem ist als eine 
Wucherung der Glia anzusehen. Man findet auch in der Tat in dieser ganzen dor¬ 
salen Zellmasse keine ZeUen, welche irgendwie an NervenzeUen erinnern, ebenso- 
wenig Nervenfasem. Die Substanz besteht aus mehr oder weniger eng zusammen- 
liegenden Kemen (es sind, wie oben schon erw&hnt, in Natur weit mehr und weit 
kleinere Kerne vorhanden, als hier auf der Zeichnung wiedergegeben worden sind, 
nur die Richtung und Anordnung der Kerne entspricht einigermaBen der Natur), 
die zum Teile in langgestreckten, spindelformigen ZeUen zu Uegen scheinen, 
zwischen denen einige dunkler gefarbte Fasem hinziehen, und geht schUeBUch 
nach der dorsalen abgestumpften Spitze zu und nach der rechten Seite hin iiber 
in eine grofie Anzahl von sich verflechtenden Fasem, welche im wesenthchen 
nach der Spitze hin ziehen und hier, sowie an den Seiten in mehr oder weniger 
enger Beriihrung mit der das Riickenmark umgebenden Piaanlage endigen. DaB 
sie in das Bindegewebe dieser irgendwie hineinwachsen, oder das Teile des Binde- 
gewebes in die Riickenmarksubstanz hineinwachsen, sieht man nicht. Es scheint 
sich in der Tat nur um eine mehr oder weniger enge Beriihrung zu handeln. H&ufig 
sind beide TeUe auch infolge der Schmmpfung durch einen mehr oder weniger 


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22 


P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


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breiten Spaltraum deutlich voneinander getrennt. Einen solchen sieht man auch 
auf Fig. 1 Taf. I, in welcher der dorsalste Abschnitt der Miflbildung naturgetreu 
bei 225facher VergrbBerung dargestellt ist. Man sieht hier die zahlrcichen Glia- 
keme, welche in mehr oder weniger deutlichen Reihen angeordnet sind und zwischen 
welche liinein dunkel gefarbte Fasern mehr oder weniger weit ziehen, die aus einem 
Fasergeflechte stammen, das den ganzen dorsalen Abschnitt einnimmt. In dieser 
auBeren Faserschicht findet man nur einige wenige Kerne. Es handelt sich hier 
also in der Tat um lang ausgewachsene Gliafasern, welche sich verflechten, ein 
sehr eigenartiges Bild, namentlich in diesem friihen Entwicklungsstadium, in dera 
Gliafasern sonst iibcrhaupt nicht aufzufinden sind. Die Grenze der Piaanlage 
ist nur in einem diinnen Streifen wiedergegeben worden. Wie man sieht, legen 
sich die Enden der Gliafasern unmittelbar an das Gewebe der Piaanlage an, nur 
hin und wieder sind infolge von Schrumpfung Liicken entstanden. Die Gliafasern 
legen sich aber an das Piagcwebe in der Tat nur an, sie dringen nicht in dasselbe 
ein, es bleibt also eine durchaus scharfe Grenze bestehen zwischen dem ektodermalen 
Gliagewebe und dem mesodermalen Piagewebe. Die Piagrenze ist noch eine Strecke 
weiter an den Seiten des Riickenmarkes gezeichnet worden, um den Verlauf der- 
selben anzudeuten, und man sieht hier einen groBen, durch Schrumpfung entstan- 
denen Spaltraum. Merkwiirdig sind ein paar etwas dickere Briicken, welche, je 
eine auf jeder Seite, die Pia mit der gewucherten Gliamasse verbinden. Auch an 
diesen war kein Cbergang der Gewebe, sondem nur ein Anliegen festzustellen. 
Aus welchem Grunde aber diese eigentiimlichen Briicken sich gebildet hatten, 
entzog sich der Feststellung. Ganz unten sieht man auf der Abbildung einen 
leichten Ausschnitt, das dorsalste Ende des Zentralkanales, von dem zwei dunklere 
Ziige nach oben und links gehen, das dorsale Keilepithel der einen Seite, das 
durch Silber dunkler gefarbt ist, aber hier keine so deutliehe Dreiecksfigur auf- 
weist. Man erkennt deutlich, daB das Gewebe der Gliawucherung unmittelbar 
bis an den Zentralkanal herangeht, wie weit die Gliafasern zwischen die Kerne 
der Gliawucherung hineinziehen, lieB sich nicht genau feststellen, man erkennt 
aber deutlich, daB die mehr dorsal gelegencn Kernmassen sich der Richtung 
der zwischen sie hineinbiegenden Gliafasern anpassen und daB in dieser Gegend 
auch die Zwischenraume zwischen den Kcrnen erheblich groBer werden. Worauf 
dieses Auseinanderweichen der Kerne aber berulit, wie sich die Zellen, in denen 
die Kerne liegen, hier vcrhalten, lieB sich auf diesen Silberpr&paraten nicht mehr 
nachweisen. 

Wir wiirden hier also eine Gliawucherung vor uns haben, 
welche zum Teil aus Zellen, zum Teil aus langen Gliafasern 
besteht, und welche aus dem eigentlichen Riickenmarke 
zwischen dem geteilten dorsalen Keilepithel hervorwachst 
und mit dem umgebenden Bindegewebe der Piaanlage in 
enge Beriihrung tritt. 

Der Zentralkanal ist stark vergr6Bert, Hydromyelie. 

Er ist in dem Umfang zwischen dem ventralen Winkel und den beiden dorsalen 
Winkeln von einem ganz normal aussehenden Ependymepithel bekleidet, das 
einen deutlichen Saum erkennen laBt. An demjenigen Abschnitte, der zwischen 
den beiden Teilen des dorsalen Keilepithels liegt, ist ein regelrechtes Ependym¬ 
epithel nicht mehr vorhanden, auch der Saum nicht mehr deutlich, immerhin findet 
sich aber auch hier eine radiare Kernanordnung, welche an die des richtigen Epen- 
dymepithels erinnert. Da es sich hier aber nicht mehr um richtiges Ependym¬ 
epithel handelt, so kann man mit Recht sagen, daB diesem Abschnitte ein t)berzug 
von Ependymepithel mangelt, daB er also nackt ist. 


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t)ber die embryon&le Entstekung von Hdhlen im RUckenmarke. 


23 


In den rechten Vorderstrang (linke Seite der Figur) ist eine sehr merkwiirdige 
Bildung eingelagert. Der linke Vorderstrang zeigt das gewohnliche Aussehen 
der iibrigen weiBen Substanz: Sehr feine dunkle Piinktchen, die Querschnitte der 
jungen Achsencylinder, welche mehr oder wenigcr deutlic i zu radi&ren Ziigen 
vereint liegen. An der kuBersten Peripherie, namentlich medial von den durch- 
tretenden vorderen Wurzeln sieht man eine dunklere Zone, welche daher riihrt, 
daB die Achsencylinder hier dichter aneinanderliegen, vielleicht auch dicker und 
in ihrer Entwicklung waiter vorgeschritten sind. Auf der anderen Seite dagegen 
sieht man von dem normalen Vorderstrange nur ein kleines Stiick, das unmittelbar 
an die graue Substanz anstoBt und ventralwarts bedeckt wird von einer machtigen 
Schicht eines eigenartigen Gewebes. Es handelt sich um eincn im wesentlichen 
aus epithclahnlichen Gliazellen bestehenden Tumor, auf dessen nahere Beschreibung 
wir sehr bald weiter unten eingehen werden. Wie man sieht, ziehen die vorderen 
Wurzeln glatt durch diesen Tumor, dieses Gliom, hindurch. Dieser Tumor ist 
der weiBen Substanz nicht aufgelagert sondern eingelagert, wie man an manchen 
Pr&paraten deutlich erkennen kann, auf denen normal erecheinende weiBe Substanz 
dem Tumor nicht nur innen anliegt, sondern auch auBen in d tinner Schicht aufliegt. 

Wir wiirden auf diesem Schnitte also eine doppelte Art der Glia- 
wucherung vorfinden, einmal jene oben beschriebene, welche das 
Riickenmark dorsalwarts stark verlangert und aus mehr sprindelformigen 
Gliazellen mit ziemlich zahlreichen Gliafasern sich zusammensetzt und 
zweitens eine ganz abweichend von dieser gebaute, aus epithelartigen 
Zellen bestehende, welche im rechten Vorderstrange liegt und dort 
eine Geschwulst bildet, die man vielleicht am einfachsten als ein „em- 
bryonales epitheliales Gliom“ bezeichnen konnte. In diesem 
letzteren ist noch der epitheliale Charakter der embrvonalen Gliazelle 
gewahrt. Wir werden im folgenden diesen Abschnitt des Tumors (wir 
werden spater sehen, daB noch ein anderer Abschnitt vorhanden ist, 
der an anderer Stelle liegt) immer als den ,,Vorderstrangtumor“ oder 
als den ,,Vorderstrangabschnitt des Tumors “ bezeichnen, obgleich der- 
selbe, wie man sieht, auch in den Seitenstrang hineinreicht; der Aus- 
druck ist kiirzer und der Vorderstrang ist ja auch am meisten in Mit- 
leidenschaft gezogen. 

Was die sonstige Riickenmarksubstanz anlangt, so zeigt sie nichts Abweichen- 
des, auch die weiBe Substanz ist in gewohnlicher Weise angelegt. Die Spinalganglien 
sind durchaus gut entwickelt, die hinteren Wurzeln treten in normaler Weise in 
das Riickenm irk ein und die vorderen Wurzeln in normaler Weise aus. Es hat 
also nur eine Verschiebung der nervosen Teile durch die Gliawucherung bis zu 
einem gewissen Grade stattgefunden, ohne daB diese nervosen Teile sonst besch&digt 
wurden, wenigstens soweit man das im groBen und ganzen nachweisen kann. 
Nur der rechte Vorderstrang scheint durch die Geschwulst bildung insoweit be- 
sch&digt yu sein, als hier ein groBer Teil der Nervenfasern dieses Stranges nicht 
nachweisbar ist, der nach dem Vergleiche mit der anderen normalen Seite vorhanden 
sein miiBte. Wir mochten indessen hier gleich bemerken, daB nach dem Aufhoren 
dieser Geschwulst der Vorderstrang keine Besonderheit erkennen laBt, so daB 
also auch hier die Nervenfasern in der Tat durch die Geschwulst nur verdrangt 
und verlagert, aber nicht zerstort zu sein scheinen. 


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l J v Sitoe]fftfi$eckor uml E. Leedike 


Do* Priiparat ist si lire!) die Beltsyfldltuig out AlkiihnJ *nu3'.i>Utter ocwaa ge- 
:Vdirnii>Tift. m* \laU j xtri*ch*ti tier Obvrflaelie dry Ruftkeuuiarkes unit dcm mn- 
fittem'be tier .PiiftaiUa^itt iiwbr cider tveniger fercittr' Sj»ltoa» eiit- 
sauidw .ist. ( \\‘ 

'sAir’fi emigen Schaitten 1st drta Bikl edit wesentlich aiwlen'S gt}woniet> 
(Pig. H i. Der djemckigeZr-nt s* Ika uti lfcrscbemk yo<:h Reiter vergr*>flerf 
uiui noeb jneB.r spitz ddrsaiwatis m die: JL&itge 

jcs.t' b**chiie- 

• ••”"•' fv *’ h*rvt)rtwtmdori 

aammam a, m ifc 

salenin 

i •♦• *der 
t v’' ' ; revhtf , Atumpf^ 

1 YVirjkefrt** Zenindk&nalos 

jc-Ut vetHoWliDd^nH die reoli- 
; te VVliTKl zioht iii -sarifteii 

y* "'■ • Scii'VPhigi.usgeii: iiwelf jeneni 

\ v. dft>r©aiii>rt Ppitzcn \¥tnk?i hiD< 

^ % w*iplte* dtftw linkrn dorsaien 

’%AVjnfc*} dor vorigen 
*/ &}**£¥ i^i^ur zwfttfelioK ^t^pncht. 

; I PB p Zurich lit. doiii reebten 

<*:i * ' 5 t dorsolen WAuoh diis 

iuor Hegendij iJrcirck dee 
ffijz '. .*^ v '..' dorsaien.Ependyudceilas. v*fcr 

» ]/: : scbwimdon, tiugegeri iritMm 

j ^ok*h» s jetxt nooh detttJioh.6f 

- wn* Jriih^r lit dnm don&dfexi 

f 4Rh *& i spiteeu YVinkel hervor. Vui 

’ . * ; ’-^XV • )' V daswJbe ih&hmi «t*bC man 

dent lull cine straldiMif^mi^ 
Antircirmnp d*r Mjoaelim* 
knrne, Oil* nH*rkw»irdm^t#i 
an dem vmht^vnden BU.dc 
^ v v.*v:' •; • ‘'; ifetalH*r,daB ci^rZentmikanal 

ii». Janrcii ciitt? brdU. 1 Scheide- 

wand, v/elche v^rtin^*dorsal 
veirlauft und feieKfe Biognnirtack lirdb v niad\t, in ein*.V recbtie: andiiukfe 

IfeJiff/ F^rldli ^ird. ] W^iiwarl> Saheidtnvarid auf Ndinitte idcibt 

gaiius ir&ir&flbt rmr ninigc?C-’fc .m ^ wJrtie aus dwi- 

: lV.ilen- herridu^n., rliv d/iB Ateser ndcili .i&imiSm bat, 

•xtnd' Wutke-l rn’t^Jd ■ I)ef..ritn»* wic;’ aaf tfo; tron^ett Furat (in 

dt i* l^niwtKwnk ^nvtibnt, n-uf dvv Figur nicht rring^tdchnc-t.).. Writ mi visa der 
'wo &&&■ ;tfef*' v^ntr^ew r^eiu- df^ Z^irailtaualps 

out- in dciM Luirxu.t d^s^ibei) hiixHntritt. brgt <-in xwcile-r ki^in^r Zenti*aIkaBal 
•«nniiite(b^t. tie.r &n« I>i&stsr ^igt> 'dex■ %*»Td«ttn .tvimrttififttir 

.wigr?vfDndetv da^f in nijnnaJer Weise donate 

Begrt-tixung beak^hi abet tQi*hr uuregeliliaBig gebUdet^n ZelJeiv ^ek&e, weon 


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tjber die embryonale Entstehung von Hohlen im RQckenmarke. 


25 


ihre Kerne auoh im allgemeinen radiar geetellt aind, sioh doch von dem normalen 
Ependymepithel etwas unterscheiden, aneh nach dem Lumen zu nichfc von einem 
zusammenhangenden Saume begrenzt werden, sondem kleine Liicken zwischen 
sich lassen. Dieser ventrale, mehr kreisformige, kleine Zentralkanal entspricht 
zweifellos jenem Abschnitte des auf der vorigen Figur vorhandenen groBen gemein- 
samen Zentralkanales, der als ventraler Winkel desselben der vorderen Kommissur 
anlag. Eine Gliawucherung, durch welche die Scheidewand erzeugt worden ist, 
hat gleichzeitig diesen unteren Winkel des Zentralkanales von dem iibrigen Kanale 
abgetrennt, indem sie das Ependymepithel durchbrochen hat. Man sieht infolge- 
deasen jetzt auch die rechte und linke Wand des dorsalen groBen geteilten Zentral¬ 
kanales noch mit richtigem Ependymepithel bedeckt (auf der Figur durch die An- 
ordnung der Kerne angedeutet), die beiden Seiten der Scheidewand sind dagegen 
nackt, man sieht wohl auch Kemreihen, die aber unregelmaBiger liegen, zum 
Teil fehlen auch diese. Das Epithel, welches die dorsale Seite des kleinen ventralen 
Zentralkanales iiberzieht, wird wohl noch als Ependymepithel anzusehen sein, 
das aber bei der Umordnung etwas gelitten hat, es liegt unregelmaBiger angeordnet 
und laBt zwischen seinen Zellen hin und wieder kleine Liicken erkennen. Merk- 
wurdigerweise sieht man nun innerhalb der Scheidewand, etwa in der Hohe der 
Mitte des Zentralkanales, auf der rechten Seite zum Teile an den Kanal anstoBend, 
wiederum ein Stuck jenes epithelialen Glioms liegen, das wir von dem vorigen 
Schnitte her schon aus dem rechten Vorderstrange beschrieben haben. Wir wollen, 
dem weiter zu Sagenden vorgreifend, hier gleich bemerken, daB diese beiden 
Tumorstucke in der Tat zu einem gemeinsamen Tumor gehoren. Sonst 
besteht die Scheidewand aus Nervengewebe und Gliagewebe, zahlreiche Nerven- 
fasern ziehen durch sie hin. 

Die Faserung an der dorsalen Spitze des Riickenmarkes zeigt hier eine ver- 
anderte Beschaffenheit gegenliber der Fig. 10: Die Fasem nehmen hier einen 
noch groBeren Raum ein und verlaufcn eigentiimlich gewunden, nach den Seiten 
hin sieht man noch deutlich eine scharfe Abgrenzung des umgebenden Binde- 
gewebes, nach der dorsalen Seite hin ist es weit schwieriger, eine solche Abgrenzung 
festzustellen, so innig ist hier die Durchwachsung und Beriihrung der beiden 
Gewebe, doch findet sicher kein Ubergang statt. 

Der Tumor in dem rechten Vorderstrange hat seine Beschaffenheit 
nicht verandert, er ist hier nur etwas groBer geworden. 

Der Austritt der linken vorderen Wurzel ist deutlich erkennbar, die rechte 
sieht man nicht, die beiden dorsalen Wurzeln treten in normaler Weise, in gleicher 
Hohe ein. Wir mdchten hier gleich darauf aufmerksam machen — auf der vorigen 
Figur war es auch schon sichtbar, doch haben wir es nicht erw&hnt — daB die 
weiBe Substanz dorsalwarts von dem Eintritte der hinteren Wurzeln etwas dunkler 
aussieht als die ventral von demselben gelegene, nur ganz dicht an der hinteren 
Wurzel ist auch ventral von derselben noch ein ganz kieines Stiickchen dieser 
dunkleren Substanz sichtbar. Dieser ganze dunklere Bezirk der weiBen Substanz 
entspricht dem Hinterstrange, der durch die eintretenden Fasem der hinteren 
Wurzel gebildet wird. Der ganze Seitenstrang sieht heller aus. An dem Vorder¬ 
strange ist die ventralste Zone wieder dunkel, wie wir das bei der Beschreibung 
der vorigen Figur schon erw&hnt haben. Diese Eigentumlichkeiten der weiBen 
Substanz wiederholen sich auf alien Schnitten. 

Wie man sieht, endigt auf Fig. 11 der Hinterstrang auf beiden 
Seiten dorsalwarts fast in gleicher H5he und von dieser Stelle seiner En- 
digung aus beginnt dann jene groBe Gliawucherung, welche den ganzen 


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P. and B. Lfisnbte 


Absvhrutt <jes Rtiok^nmarkcs biM*:d. A«f Fig. 10 lag life 
.Spitz* •!<•> Zenlra5ka-mti^•;noeh zk?«iiu;f; g*nmi in dereelbcit 
|f : 0!a wie das nioifsale Kadi- des }lmtvrstnmgef»* hi*r auf Fig. } i i?t 
Weife hoWr dorsal .vacts geivckt,. tici 1 Zenitraikaiiat hat jdclr 
IMi dcd^jlwa.rl.s vertawgert., ; 

s ; F'erl»^'gRT««g de« ZeTiiralkftmiU actzt 

w< li rtuf ivaidisti'H Si linitteij noo-h fort, w'i* das aaf Fig. 12 dt;ot- 

lieh iit-rv'.'mitt n>ul 

gloiFiiaertig pit 

■ jet*t datt die. Sehekio- 

a wand dte dtit>»te K.awil- 

ftyiiid. ^rrfeitihb hat Aifijd 

. mil lltr v<Tsoiut,i>feij 


;iur lii-.-f-ll! 

AitFl cm dv>]lpdP- iVrvurk. 

fVn* ^po^lnitng; ck%* R}m<~ 

riymrpil iirl« • jfift <lf«n VVftpd'«n *'<<*«' doi*iil*it Z^ntralk^iak* i.art ninety ffor Mi. 
il, <\r • is( ,d*<; \vi*'d»T nut SvUvn r<it<*kf: ;uk m d«r V\n"k : * 

M rlfehi 


s*.*i tx <\kr Velnher m;U uiii der rerbimiK 

jE jfiibcl d^khdf M* ;/•; i 

IK-r v p j» \ i a jo Xivi|t c al ka md 'i$t > i w<i> v\< »(k*r ^woulen uml 
Xi iiLt ii\ (U i il»-»rsakii \\7»h»l zsvei floutliphe Liiokeb /wiwhvii den bier 
u^M/g^hiV»JA^er gela'gfcrten Ejieiidv<ir?»di»'h.' Wlr \m ben .sdiou Wx d* r 

Me, vwr 


v origin Fignr envajint* dall hiec fciinm? Uickpfj vork/ini^w. 
truie Keiieymtud e/vehemt, norm;*) 


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Original ■ 


ICHIGj 




tftasr die eHibrS '.nale IfritQtele&igr HD Boblet. im Rllckenmarke. 


27 


Baif iti dex Fetieidewatvi geteggne Tttmo.rbiurk ht jeizt otwa-s 
w*it«r> .gt*«ekt' uiid tier Tunica- im mditen Vonlerstmnge 

hat ‘iftfK- Form cm <wttjg versindciti 

J>i»i Cija\vut’lier»mg am derssaleo Ernie deft Riickeimiarkeg 1st im 
’jfrtttiipfc' itMr«<is1te'‘>ri*'an# -den' ’.ongen Figuren. nor i*t die Amminung 
dec Kerne tmd Fanem gin wenig antlers. 

in 



iverdon, '^wfiep den ;wjh<jn '■'' t 
erv-sihutnu klemntv Ltinken ini 
dex d^aleri Wa/iii cleg s-eo ■- 
tralejj &nt.iTtikaiialeg treteri 
aolehe aiudv % der linked ; ; 
veotrak-n Ecke tlW dprsMen 
ZentijilkaiViies anf. Wir wet. 
den xinp jetzt an dejrixtigd 
LiiC-ken zwiftthen den Ej**n- 
: dy Mzelkn ■ .«*$ - 

iorwige Euc kett in clem <ik- 
Ael*' des Ruekvmnft t l;»v : 
Jmmeritlieh an den JStelieu 
d*r CtiiaAvuebeniiigei i, 
v. icy ter in verschiedon gn>I.W 
Z*cW uuti von x'ersnliifetleiieT 





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WcgrOlJertHig denthVh her- 
yortreum. 

Die sibtigeiL Teile ver¬ 
bal ten sfc'h cistsjireeherid der sehott iruhtsr /gegeWmei* Bnschrpibung: 
,Au! den nik-hsten Schmttfcit Verwikthat (lie dursale ityitze tier $oifcid«: - 



'Jdj^iea ventnUen 

AM Fig.K1 ist die .St-lieiclnwind in brdter AuMjelmmur mit derdor- 
ftAien Wand den ^■eutralkftuftles vemehmotzeu Ea «iml m ttwx-i lange, 
fieliDiHie ckn^rtk Centra,Lkanale eutftlandkjr d«w> ••J2u§ft-»ttro.ewgehiUigkeit 


Go gle 


Original fro 

I'ERSITY OF f 





28 


P. Schiefferdecker und E. Lesckke: 


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zu einem aber durch das Verhalten des Ependymepitheles klar her- 
vortritt, da nur die auBeren Wande von einem regelmafiigen Epithele 
bekleidet sind, das an den dorsalen und ventralen Ecken noch mehr 
oder weniger weit auf die Scheidewand umbiegt, im iibrigen bleibt diese 
aber nackt. 

Wir sehen auf diesem Bilde wieder, da8 die Gliawucherung des dorsalen 
Abschnittes an dem dorsalen Ende der Hinterstrange in voller Ausdehnung beginnt 
und daB zahlreiche Lymphspalten wieder in das gewucherte Gewebe eingelagert 
sind. Die Dreiecke des dorsalen Keilepithels treten hier auf Fig. 13 nicht deutlich 
hervor, nur in der AuBenwand der linken Zentralkanalh&lfte sieht man eine Bildung, 
die daran erinnert, doch ist es zweifelhaft, ob sie wirklich als ein solches Dreieck 
anzusehen ist. 

In Fig. 2 Taf. I ist eine genauere Abbildung eines Schnittes ge- 
geben, welcher dem der Fig. 13 fast genau entspricht; er liegt ein paar 
Schnitte vor ihm. 

Entsprechend der schwachen VergroBerung (121fach) sind hier auch nur die 
Kerne und Fasem eingetragen, die weiBen Strange sind in ahnlicher Weise dar- 
gestellt wie auf den Textfiguren, nur alles zarter und naturgetreuer. Man sieht 
auf dieser Abbildung alles natxirlicher, manches deutlicher, das meiste aber weniger 
deutlich als auf den Textfiguren, da auf diesen, wie schon eingangs erwahnt, alles 
wesentliche eben starker hervorgehoben worden ist, um es ^uf den ersten Blick 
iibersichtlich hervortreten zu lassen. 

Man erkennt die zaite aber klare Anordnung der Ependymkem- 
reihen und sieht hier auch deutlich, daB an dem ventralen kleinen 
Zentralkanale das Epithel des ventralen Keiles durchaus gut entwickelt 
ist, daB aber das Epithel der dorsalen Seite, wie schon mehrfach in den 
Beschreibungen erwahnt, unregelmaBiger angeordnet ist. 

Sehr deutlich sieht man dann, mfiglichst naturgetreu dargestellt, 
die Beschaffenheit der beiden Tumorabschnitte, erkennt, wie scharf sie 
sich von der Umgebung abheben, und welch ein eigentiimliches Bild 
sie darbieten. Wir wollen hier etwas naher auf die Beschaffenheit 
des Tu morgewebes eingehen. 

Bei dieser schwachen VergroBerung sieht man in dem Tumor (die beiden 
Abschnitte sind durchaus iibereinstimmend gebaut) eine Menge von kleinen 
schwarzen Punkten, es sind dies verhaltnismaBig groBe, durch Silber stark schwarz 
gef&rbte Kerne. Durch diese Menge von schwarzen Punkten ziehen sehr dunkel- 
gefarbte Faserziige hindurch, welche sich ver&steln und so das Tumorgewebe in 
verachicden groBe Abteilungen mehr oder weniger deutlich zerlegen. Diese Septa 
erinnern einigermaBen an die, welche sonst durch die weiBen Strange hindurch- 
ziehen, haben aber mit diesen natiirlich nichts zu tun. Mitten durch den 
Vorderstrangtumor ziehen die vorderen Wurzeln unbeschadigt hindurch, 
wie sie sonst durch den Vorderstrang hindurchgetreten sein wiirden. Die ganze 
Fonn dieses Vorderstrangabschnittes des Tumors entspricht durchaus der des 
sonst hier vorhandenen Vorderstranges, nur nimmt der Tumor weit mehr Platz 
ein als der Vorderstrang das getan haben wiirde. 

Auf Fig. 3, Taf. II, sieht man ein starker vergr6Bertes Bild des 
Tumorgewebes (700fache VergrdBerung gegeniiber 121facher auf Fig. 1). 


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Ober die embryonale Entstehung von Hdhlen iin Rttckenmarke. 


29 


Man erkennt hier deutlich die groBen, bald mehr kreisformigen, bald mehr 
ovalen Kerne, die in verschiedenen Schichten iibereinanderliegen. An der Stelle 
des Tumors, welche in dieser Figur dargestellt worden ist (die Abbildung entspricht 
einem spateren Schnitte als Fig. 1, namlich der Fig. 5), war durch ein bogenformig 
verlaufendes Septum, das hier mitten durch die Figur geht, ein dunkler gefarbter 
Teil von einem heller gefarbten getrennt, die Grenze mit den beiderseitigen Tumor- 
strukturen ist auf der Figur dargestellt worden. In dem dunkleren, mehr unten 
rechts liegenden Abschnitte, treten die Kerne sch&rfer und dunkler gefarbt hervor, 
man sieht um eine Anzahl derselben deutliche, von zarten Konturen begrenzte 
polygonale Hofe, die Zellkorper, in denen die Kerne liegen. Durchaus einem 
Epithele entsprechend grenzen diese Zellen aneinander, ohne daB eine breitere 
Kittsubstanz oder sonstige Gebilde zwischen ihnen zu erkennen sind. Die Grenzen 
treten sehr scharf, wenn auch fein hervor. Weit weniger scharf sind diese Grenzen 
in dem nach links und oben liegenden helleren Abschnitte. Die Kerne liegen hier 
nicht so dicht, sie sind kleiner, mehr oval und weit heller, auch um sie herum 
sieht man Zellkbrper, aber die Begrenzungen dieser sind weniger scharf, neben 
feinen Linien sieht man vielfach mehr oder weniger breite Ziige einer feinkomigen 
Masse. Fasern irgendwelcher Art treten aber auch hier nicht hervor, wir haben 
also in beiden Abschnitten des Tumors reine Epithelbildungen vor uns von etwas 
verschiedener Beschaffenheit, welche durchzogen werden von stark gefarbten 
Septen, die sicher Gliabildungen sind. 

Auf den folgenden Schnitten sind jetzt wieder deutlich zwei Dreiecke 
an den beiden lateralen Seiten des groBen dorsalen Zentralkanales zu 
erkennen. Sie liegen wiederum ziemlich genau in der H6he, in welcher 
die weiflen Hinterstrange dorsal endigen. 

Eine sehr wesentliche Anderung in dem Ruckenmarksbilde ist da- 
durch eingetreten, daB der ventrale kleine Zentralkanal erst sein 
Lumen einbiiBt und dann vollstandig verschwindet. Der Tumor- 
abschnitt der Scheidewand riickt noch weiter ventral und nahert sich 
also mehr und mehr dem im Vorderstrange befindlichen Abschnitte. 
Es ist jetzt also auf dem Ruckenmarksquerschnitte nur noch der eine 
groBe, in zwei Halften zerfallene dorsale Zentralkanal librig, d. h. der 
dorsale Abschnitt des urspriinglichen Zentralkanales. 

Der Vorderstrangtumor zeigt als einzige Veranderung eine VergroBerung 
nach der medialen Seite hin, also nach der vorderen Kommissur zu, als Zeichen 
der Annaherung an den Scheidewandtumor. Die weiBe Substanz des Vorderstranges 
nimmt mehr und mehr ab, die vorderen Wurzeln gehen aber immer noch glatt 
durch den vorderen Tumor hindurch. Dieses Vorwachsen des Vorderstrangtumors 
geht auf den n&chsten Schnitten weiter, so daB die Fissura anterior von dem Tumor 
soweit erfiillt wird, daB das in dieselbe eindringende Bindegewebsseptum ganz nach 
der anderen Seite heriibergedrftngt wird, ja spgar von dem Tumor umwachsen 
wird, so daB dieser dann dem medialen Rande des Vorderstranges der anderen 
Seite anliegt. Zu gleicher Zeit hat sich der Scheidewandtumor allmahlich verdoppelt: 
auBer dem einen Stiicke, das noch an der alten Stelle liegt, findet sich jetzt ein 
zweites mehr nach der linken Seite der Scheidewand hiniiber ziemlich dicht der 
entsprechenden Kanalhalfte anliegendes. 

Gleichzeitig mit diesen beschriebenen Veranderungen verkleinert sich der 
Zentralkanal allm&hlioh wieder, w&hrend die Scheidewand an Dicke noch weiter 
zunimmt. 


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30 


P. SoJhieffcftlocker ;tmd E. Loschkc: 


•!){#•rorijemi ; W»r««ln• dorchbrecJicn auf dieaoa tSchiiitten in j&ipvni sehr krs/- 
• : 'f:ik ': iAvrerk iarfel syicdh a.ilnialilioh edit . w<?uig sn 


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Vrir ^ich tmt 


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vor 


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'■ ’ ' ta^6^aw4! jtjfc,. in • aeinen 

' Ix'.hii’u Halfteu- vleutlieh 

Lv-ifun- ;i!> -uii Ki*. 13. 

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itcbiiiOi flicker mid kiirzei 
gevvvuden. In beideiiZetH 
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ein deiiiiljehes Dreieek uud 
Jlif.bt: j}ijhie,i^^hii< 
j|^B KR^ ke), sondem Sir. \>*buit'e 

• '.' * . •' (krWaiui. uud z*vjit wie- 

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d.'K dorsiiktr Endfs dtp 
' itA lixjp'c Hmtefstfarigp; Von die-; 

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diiaxvu. berung. die 
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deri^ Seitov am die iverrmiu^M berain,^. 'd.on^dor^itefsi JBand bildftVid. 

• ^r'-'Uh^bung. • iet da-e 'QiA^^eb^ .wied^ruiti • 

a»)g0Sf?t7.t4 ' 

.; iB^jsfrewzur^ ifor 55^1^ Isi v^fi lM.nxif>#r dimJlw.v 

«'irv iiof< 3 fir Figur! die lat^^aicn »[dtjvon 

E[Kmd^an ubtir^ogeij* fla^' -ndeti in'^iir,'*J<i<^r- &vtni&i'L auf di/r njediafe rSiite 

1 ><h ; v»*ntrait* Zr ntndkan/U fiddi txier itUcJi nodi Von doni ScboidowaiKilumor 
'•• ‘ii m^n di uilicif ^vo i Absutoit.u> d.er otwa in dor Mittnjiiriift liegnruin, 

♦*(r}«t.*i- dc*m fnihor h^ehrirtmif-.n AbsoJuidU ik* Hciitudtnvandt-unn.^ ^ntspri. jd, 

jj?tat • *ohon *v ^it ^ Tentrat^^rt^^^g^rikkt iat> dali Wr. iiiit 4eni -df*rsaJwarts Ttrr- 
^Irwr^Ptiii inpdiaiifeh Mf d«s- -Vdrder^uangtuniiDr^ . in' dir^kte \Vrln»dgug 
^Ot'dnji ist.' IVr zwfrito, ■ m*'br dvrml- und j/d<-ralwart» tvlogeno Absnhndt dos 


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©EMICHIG. 




ttber die einbryonale Entstehung von Htfhlen im Kttckenmarke. 


31 


Scheidewandtumors ist von dem anderen Abschnitte durch Riickenmarkssubstanz 
getrennt, es ziehen zwischen beiden dicke Nervenfaserbundel hindurch. 

Wir sehen auf diesem Schnitte also die Stelle, an welcher der 
zunachst innerhalb des Vorderstranges entwickelte Tumor 
(nur in dem Sinne der bisherigen Beschreibung ist dies richtig) 
von der ventralen Seite her in das Ruckenmark hinein- 
gewachsen ist, in welchem er dann weiter Fortsatze nach verschie- 
denen Richtungen getrieben hat. Wir sehen auf diesem Schnitte aber 
weiter, daB der Tumor sogar auf den linken Vorderstrang iibergegriffen 
hat, wenn auch nur in geringer Ausdehnung. Auf dem Schnitte, der in 
Fig. 14 dargestellt ist, hat der Tumor etwa seine grflBte Entwicklung 
erreicht. Von dieser Einwucherungsstelle aus wiirde der Tu¬ 
mor dann in der Scheidewand kranialwarts vorgewachsen 
sein und wiirde sich dabei in zwei Aste geteilt haben — die 
beiden hier sichtbaren Abschnitte, den linken und den 
rechten —von denen der letztere weiter kranialwarts 
vorgewachsen sein wiirde als der erstere. Wie die 
folgenden Schnitte zeigen, ist der Tumor aber von dieser 
Stelle aus nicht nur kranialwarts, sondern auch caudal- 
warts gewachsen und hat hier ebenfalls Aste getrieben. 

Die rechte vordere Wurzel tritt durch den Vorderstrangtumor als ein machtiger 
Zug aus, die iibrigen Wurzeln verhalten sich normal. 

Auf den nachsten Schnitten nimmt der Vorderstrangtumor bedeutend an 
GroBe ab, namentlich an der medio-ventralen Seite. Wir sind ja jetzt auch unter- 
halb der Stelle, an welcher der Scheidewandtumor sich abzweigte. 

Auf einem der nachsten Schnitte beginnt die Bildung eines neuen 
Zentralkanales, zunachst in Form einer Zellrosette, im rechten 
Vorderhome, in der Nahe des Vorderstrangtumors. Auf den nachsten 
Schnitten hat diese Rosette schon ein kleines Lu men erhalten (Fig. 15). 
Gleichzeitig sieht man dorsal von der vorderen Commissur eine neue 
Zellanhaufimg, welcher dorsalwarts der ventrale Abschnitt des Scheide- 
wandtumors, welcher jetzt der Quere nach ausgewachsen ist, dicht 
anliegt. 

Diese Zellanhaufimg liegt an der Stelle, an der bei den ersten Schnitten 
das ventrale Ende des groBen erweiterten Zentralkanales lag und spater 
der kleine, kreisf6rmige, ventrale Zentralkanal, sie ist die erste Andeu- 
tung der Bildung eines neuen Zentralkanales an dieser Stelle, entspricht 
also einer Zellrosette. 

Die vordere Commissur, die auf den vorhergehenden Schnitten 
vollig verschwunden war, infolge des Hereinwachsens des Vorderstrang¬ 
tumors und der Abzweigung des Scheidewandtumors von diesem, tritt 
nun wieder sehr klar und deutlich hervor. Sie ist sehr lang, da die 
Fissura anterior breit und flach ist, und dementsprechend wolben sich 
die Vorderstrange nur wenig hervor. In den nachsten auf den hier ab- 


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P.' Schifffeniftrfcflr und E. Lescfake 


gebilctatei* Schuitt fblgeocjen Sebmtten word die- Zellauhtdjfuug 
warts viiif dor C\>mmtsrfur zu Kanale, itxdeiti «it? tin g hjiz schmotes. 
spaMbimiges LvijMen bek-umnt. das manclmml kaum sichtlwii isl, so 
daft vs den Eiudruck nuu'ht, «U »fen» dor sick inJdrnde ZtMo / a i 
*W;WcJ>^i dem und .dttr v^tdoreti.{k)nwais8ur;^^^e^u^^lt war¬ 
den wiinp,. Der dent .Zentrnlkanale. fto dieht ardk-gende ties 

Scbekfew ari* If uroors lire:* jetxt ttntftrlicli rbcbi me hr io der ?ig*nt1tcj<e» 
Sebeid«<vo4id aelUstV syfftiern tUrekt uS'-ifor ^ubfeenojarksulwtanx; die 

' regent iiehe hMdiddeivat^idbe- 
■ gwitrt c***t 

s' r‘* 

,f ' % Bet dorsalt* ZenUal- 

fi.tf'A! ten xi jii.-ii beideri 
KKtften h*t «ieh aHmahUeh 
; ;"• waiter v t i kHneri., na-ment- 

' tie'll in riofso-ventraler 
; liichtung und zvnvr atun 
: - gTMiJereu Teiloin del' YVeise. 

; j&'/yM • daft Heine t^ntVftleBegren- 

r ■• • }■ wing ntffti- mtd »wh«* dor- 

«*» VrBcM ist. Badureb 
isi die Arinndeivsmi *r- 
heUlicb verkiirzt wovdtfti 
und <fer venvm! wo tifm 
\ j/•■ ^djral^nftle ■v^rkk-' 

Hucki'uunii-k.-'ciitodinitt hat 

•v: v - sieli vergroBeft. In dvr 

e.igeiitlkiieu Seie-idcKktid 
liegt- datuVuttcb writer der 
zweite Absohnitf. ctes »$elipi“ 
de\VHmltnniu/.M, ckn rich ebeufjills in ||a.eic“.r Rieheung vorgiolk-.it hat. 
WaiiKftid,dic Aufteriwan.de i\et beiden ZentrTdkruiabi iisebnifre ?<»u eiue.in 
OputLurbeh » 

wandeedioiSeiteuwavide der Sehts5d$vtr<>ud nur zwi ’t>sl? novb um; das 
2sviaehe.rtStu0k aeigt mux erne KeruaiMitdAftdg, Wridifr lebhaff. m die tier 
Kerne des E]>exidynnvplthel*s riuir*t:rt,. Indosskn Ami die• Kerne sum 
Toil- grdikr; Heg»?«v night so client anoirmeder:. kmx. \vejin diesis Htiiek 
det Waukttdtfti’b ehiaiibledvn, r'fe aii das Epe^klvmbjrtt 1 ^! erjnneft... so 
liiiit ek sdckt Vdin: ^n^li yjf^aj : ; ut^r^bMtd^n-' Biy e® «adi 

uieht urn ein wirkbvhes Epc-miyinopiihe) iiandelt, s<:» ikt es tiui d.er Zeidi- 
mmg am }? uicht :>i.- girliesdargcsteHt, inum-rhio-ist. es bemerkens- 
wert. d/ili die OljazclJeu . we Kbe hirt 'am An Ren ran tie. dec 
Sefa e'ide wa ud an deu Ze ryt ru-llc.itn'ul’; a u grgaize n r -ea tsc hied p n 


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Oher itie ejubi'Yoaab' Entstehuiu? vou IpMeu ini H lick en mark**. 33 

eiuen Cha.rakter ang«Ki>tyime;n ha ben.weigher dem der Epeu- 
dyuizellest aJinticb ist. Wirjk.Oanton bier vicUeklit von euiem 
JPse'ndoe.peiidy’rae-pitbei 0 Ikux-h die Schekfewand imd 

durcb d©n dojnt. qner U^ehdien 2jdi»locaWliuitt ziehen titarke Bundel 
von -Secwo^aeflJC: 

J&ie donate Ver£&jgi;nmg itea Rtiek«i.niark»»jucriw'huiM< 1 s hat m tin atelir 
ahgenoojrtteu di« E**«rn »fr Meugo geringcr gpwbtdtefc- 

Zwieohch ,&ticn dies Epandytncpithels und aorwt in dor H.ii«kmmttrka- 
Siibalahz d)icl IsAVOrJialh:dcir (ibkwuchCJ’ung sieht nikti eiac A.nmb)' Vfcri- yurgrafiri?- 
ten Lymphs patten, o.uf > ltw> Vorkoiamt.ii \yir bei nichsteu Figuwn neck 
nkher fAiigivhftri Wetttea. : ' ' j - v ' > 

Aui fb'ii nfcVirtan Sehnitten verseluiindt-t tier Zentralkiuml a us dem 
reehten .Vo^frbww nJeder.. ivahremj der ventral© CentraUcanal all- 
mobile h ciu dewtliabes Lutben ertmlt, dessen liuVgste Aehse alier immer 
nocli vo« links uaoh i©ehls liegt. 

In Fig: 16 ist ©in 3«iyrdtt o«i» dieser Gk-gend nbgebildet worden, oof 
clem man doiitlich ©rkwuiy daft dor idown l© Zeiittalkdiial in .seinav lxddcn 
Abb-iUui.ee u kuraor geworV 

den 1st, ebpnso die SMw-id©- / . 

vcftniL ottfter* 

ordentbeb brert a^eWaVtv '' 

Ira der Nfihe des ubt'rrm 

Encb\s beiden ZentrAlk«nni> - 

alujohidite liegt ein deufcbche* 

I>rcteofc und fcwat wietternin 

stwa iii der Hohe das doi sulrn . 

Slides dor R]iucr«triiipc. £.< 
gebt damus hztVtiW daO dir 

mt Fi^ i i M 

ihre. Lags un^faiix |>€J- 
hflhaJten habetti t:nd ciaC daher 
die ZenLra3^arialatecdHtihe deb 
mebt nor voru ttec vrutraleu f 
miu&exn aach von der doTtsalen 
:&>iU- her v^rklirzt Jut ben. IX;- 

:isi in : • 5 ?• s 

drm^i-veutraJcr Richtung be- .• 

fcumt gewonlrn; -wo^ ^^ >!>**' 1 • v< *~ 

darsutrf beruht f daU die don?ale 
Idi^Fuc-bera^i^ ur< ikolid ;,t;- 

jgmo'mtw^: batx DioaidtiCf :br»* ^ . 

aber imtruftr noch mb 

Zellen tiniti Fiidem imd begfimt an deni dorsalew Elide der Hmt^rhirftuge. I>ie 


«p4l.t^n mu, mwah] m der i/mgebiing der ZeutrajUkajiftlbscjm ill der doi^ 

stdexi Oiiawnchenmg. 

Der vopderen Commissur dicht aoliegend sieht wjiii eiuen kleineu 
Z. I a v g* Nem. u. Psydi. 0 . XX. 3 


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/FR^rTV flF f 


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P. Sclaeffefdeeker nnd E. Lesehke 




t-ber die emhryonateiEintetebuog. von Uoblcn iw ({lli-kciiinarke. 


in dorr* Waken YVtrderhorne gehiklefc. Dieser bat ebensowenig. wie 
derfriiher in tie m reehten Vorderhorne entataudene, irgend- 

Zentralka nalen u nd 


eineo Zdsaai.oieobang mit den iibrig: 
ist wjedetum ale cine <iurch bus eelbst u udige Bildung a it z n - 
sc hen. • Baa dSpithe]., ••das diasea Zent.rulkaixal ausklr-idet, entepricht 
etna dem. welches sons* die Seitenwande dee nornialen Xentralkanales 
ufer^ebt , eat oder vest t-ra lor Keii ist afekt siehtbar. 

H% t'erschiedenen Wurzebi wrhalten sich wie aoust. 

A»l den folgenden Schnitten. bikiet sich jetrt auoh An der jetzigen 
dorsaleu Bask dor Sebeidewand von beiclen Seitou iter tin EmschniH, 
so duB tuatt strif Fig. IS den 
(Jbemsfe fie) ScJteidewand 
gleich ehv-'r hisei mitten in 

detrt ZewtrAlkanftie licgeti - 

sie-ht. Die Widen, Dreiecke 

liegen nock ■»*«»• anf Fig. 17, -pf' S 

zwiseben ihnen befmdet 
des ZenliaLkiUiales die 

Strecke, *?eiehe fridier ale ^ ? 

Basis fiir der. Zapfen dm 
Sc.beirie’wrt ud diente Diose 

Strecko ist wiederntn ruiekt, £ t -'i| 

vahrewl dm gaaze ahrige. 

ventrale UtrdiWg dee Zen- \'v&pljfr 

tralkanaliw. »n(*ptc«-hend V; ' ' 

tier Fig. 17. fftit dentbebem . ' ^ 

EpeDdymcpithtfic uWrkle i - ■ ' S 1 ' 

det 1st . Hickt. 1st ttwib 

der gemrate Urafang der Seheidewandinsti. Von dieser nackten 
dorsaten Wimd dea ^itmlklUiAlftt aus sieht man deutlieb nine Liicke 
in tkts Gewebe deivdorsatei Gtiawuchenmg liineittzHduti, weklte nur 
■dareb eiav acbmale Brucke von Kisei enveiterten JDyrbpbspalien getretmt 
istt, welcbe 'laioit. 

Wi» wd alien hier gege.bonen Abhiliitrngen sutd von dinsejt urweitorton Lyorph- 
*p*Iten immer our die grOUton gozeidimd. worden, vrdi’be Ueutlioi. i:i» An go fielcii, 
os wSrde bei der wshwaehen Vergr&Bmittg ?.u seU«'(>;rig geweeeo so in, stack idle- 
the feineren FortsStte tutd ZwsAnimeubaegcr an ytjrftdgen, wt batten ta aber Hitch 
den Bildero liir ziemh'eh sicker. dad wit ee ; i'n dbskai KfrcWmnarbsehmtten nitl 
uugtddjtiteD 'Neteen ven bytripltbakrttni ndcr bcftluckcn sit :turi biiben t -to! jptii® 
injr wefet. aider vmtifpt vide und meKr .alcr wcuj^n ;|M^r>od^dp<itiieb' 

hervorttvttmde Sfvreitemngen erkctitien fiahar konmt isk.,«.iieb r daB aol 

jruuiehoi von dieecn Scboitten gar keioe solehe bpuJter. eitivezetcknoi Bind, auf 
anderen ‘■Jnedei eitte gtoB&re Aurahl. vnrbafidetf sind solohe Lyniplinetze 
alcbef attf alien ditmen SehnSfiten. 



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36 


P. Schiefferdecker und B. Leschke: 


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Wenn wir also auf der vorliegenden Figur eine Ausbuchtung des 
Zentralkanales in die Substanz der Gliawucherung hineintreten sehen 
und, von ihr nur durch schmale Briicken getrennt, zwei groBere 
Lymphspalten, so kann man unserer Meinung nach mit Sicherheit 
annehmen, daB diese verschiedenen Bildungen miteinander zusammen¬ 
hangen. Auch Jene kleinen Liicken, welche an der ventralen Um- 
grenzung des Zentralkanales zwischen den Ependymzellen bis dicht 
an den Zentralkanal herangehen, werden wohl sicher mit demselben 
zusammenhangen und natiirlich ebenso auch wieder mit dem Netze 
in der iibrigen Riickenmarkssubstanz. Wir wiirden danach annehmen 
diirfen, daB die in dem Zentralkanale enthaltene Fliissigkeit 
mehr oder weniger direkt mit der in den Lymphnetzen des 
Riickenmarkes befindlichen zusammenhangt. 

Von einem der nachsten Schnitte, auf denen diese in die Gliawuche¬ 
rung eindringende Liicke auch noch vorhanden war, ist ein solches 
Liickengewebe bei 540facher Vergr6flerung Fig. 4, Tafel II, darge- 
stellt worden. 

Das Bild ist noch ganz khnlich dem in Fig. 18 dargestellten. Links liegt 
das braune Dreieck, welches sich auf Fig. 18 links befindet, und die Liicke, welche 
auf der rechten Seite der Figur in das Gewebe eindringt, entspricht der in Fig. 18 
dargestellten Liicke. Bei dieser starken VergroBerung sieht man nun deutlich, 
daB das ganze Gewebe der Gliawucherung, wenigstens sicher hier dicht am Zentral¬ 
kanale, ein schwammiges Gefiige besitzt, iiberall sieht man in dem Gewebe Liicken, 
welche untereinander zusammenhangen, und erkennt nun auch deutlich, daB 
die von dem Zentralkanale aus in das Gewebe eindringende Liicke sicher mit 
diesem ganzen Schwammwerke zusammenh&ngt. Diese Stelle ist hier ausgewahit 
worden, weil an ihr die Liicke in das Gewebe eindrang, und weil die schwammige 
Formation hier gut zu erkennen war, in ahnlicher Weise aber, mehr oder weniger 
reich an solchen Liicken, muB man sich auch das sonstige Gewebe vorstellen, in 
dem auf den Textfiguren Liicken eingezeichnet worden sind, allerdings ist das 
eigentliche Riickenmarksgewebe dichter als das Gewebe der Gliawucherung. 
Sehr deutlich sieht man hier auch die Figur des braunen Dreieckes und erkennt, 
daB lange und zarte Zellen an dieser Stelle in die Hdhe ziehen. Die an den Zentral¬ 
kanal anstoBende Basis ist allerdings so stark gefarbt, daB man hier die einzelnen 
Zellkorper nicht mehr unterscheiden kann. Wir werden etwas weiter unten auch 
von dem Baue dieser Dreiecke eine Abbildung und Beschreibung geben. 

In den beiden Vorderh6mem sieht man jetzt neue Epithelrosetten, 
noch ohne Lumen, innerhalb deren aber auf den nachsten Schnitten 
Lumina auftreten, so daB wir jetzt wieder die Entstehung von zwei neuen 
zentralkanalahnlichen Bildungen vor uns haben. 

Der Vorderstrangtumor ist weiter kleiner geworden. 

Auf den nachstfolgenden Schnitten treten, wie schon erwahnt, in 
den beiden Vorderhomrosetten Lumina auf, die aber sehr schnell wieder 
verschwinden, so daB es sich hier nur um kleine, cystenahnliche 
Bildungen handelt, und wir finden daher auf dem in Fig. 19 abgebil- 


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Clier die van IJtfhlStt iro Rii.'kennmrko. 37 

(ietfin Sehnitteour Ooch den t^jen^ airier so’cIipii Epithehtmette i m 
tinken Vorderfaotne. 

Aiil dtani Schaitten, die vor dt?m in Fije. 10 tijirgesteUleo Sehriittc: 
liegen, sielit i«an innerimlb der Riiekeniiuu-ktfubstanz mu den dorsuJeu 
Zentrglkftnai heru»u und in der dora&fen Oii&'tfMcinmttJSjig wittier pm 
Menge vnh._®r^it^rtyen Lyntphspaitea. ■ - : - -vl f ; /• V. 

Bwwjnders stark entwickdi i«t eiaro&l tru swlehet Zng; ‘fcytHphi^o&c'h 
dorsal van deijK da>Bai(m Zejitralkanak, ck>mlk-ii ja 

geleg*m^ iiki*- i»u*n Aucfa in der djnraatcn \Vartfi <1^ Zeritfe?kaati{es>.int> 4nd- 
M'iti>re Liii^fec. dt ft'ii Spitte dorealwart* liegt dud aitgensehi'iniseh nut di &n>m Znyy? 
•win .^ymjihgpattrn KuftAmnittdi&ggt. Ee rat >if k- jenots 

a*if Pig. iH 4»rgo»t«Htea Silde*. 

Auf d<-rn in Fig lOdaigesteHttt) Sehmtte ini wicffc-r eme wesentliche 
.Anderang etngetredeni Die .litte! In <U*m dorwden gnbfSen ZentctiU^fliiisile 
W M *M*t a .... 




38 


P. Seliiefferdecker and, E Lesidtke: 


Auf deb nacb«rten 8 elmitteri yetisotnvmdct muv dvr-Absidmitt 
dee Zehtralkailaies, det jd sohon vtstbtef klfdn^ty ^flr. Die 

Bcbeidawand bat augensdieinlieh den KAd&J durttbwa<'-hften ;nnd inch 
mil semer Uteralan Wand vetbu»dim£ Afe cdhziger &f> ooeh 

die ZeBmasse dee braumm Dreiecke vbe Fig. 20 

eiat? mehr rund- 



Hiigieitdmmen 
bat and mitten in eincm 
Oewelk 1 liegt, das sehr 
sob wa it) nitg cm’heinti Tm 
linken Vordoihotne siebt 
man an der SfceBe der 


1 

£4#ss£*& mau uer 

v fniheren Cyste nonh cine 

^ Vv,. AnhaufujijE ton Kerned, 

\ V-- Der mutrale, Mewe. kreis- 

|f|| femige S^^aikaryAl liegi 

g^Hp^.d©*, 'iCoinmfeAo't. ; noish an., 

’ t A ' a ^ r - Ctwoa hach Uiiks vet- 

f '. :;i:V y '' ; 

****&f$35g^ flnr Vi^erstrajvgtiiitiof ist 

^Imahiteh imwer kkuhfcr gv- 
"vrorden aad bt^chrajiki sielx 
jetfct *mhoti fast g&nz jftflif dee. 

^ v", .. V .■■•••/ . Vordmt*ang. !&&h awxht jetit, 

tkfi mih i^vet in thin &nebUdcri ( vrie 'dm *Kul Fig. \% 

Tai. il, dargt^teilt Worriori iei. dif 1 . wir chop schbii xx^lifesr • bcsprocben 

XVra hi Fig; 20 abgcbiWetoj $4vKrufcfce, iat dfe Fig*-5 r Taf. 11; sat- 
j*Dty>ra^b, Attf welcber ^iu bru;ty$ias in SeiiKT fehwren Be- 

&chaff0iheit (Vergr^Bemig 720.; ^Vtinimemcd4 ’.warden i$t. 

Man sikht rwischen Jen gt?^T»hr;ii« h»>n ft|KHidyro»ellen cine 'Dreieekafigur 
ik^DCV welebe «ioh mis airier Aimihl vnb&abr Ttiritti and aehr buig'g^ti'eokXen 




vvirdL Die au dusseo ZisUten gdhorigen Jv,eriU' liogeu in ttcferet'Entfvrnun^ vom 
Zentralksiiiale in deti allmhliiich burner. blwssirt .taaxtapdtti &dl'k#rnetHv die sieh 
Tiai'h obe-a bin fortsetzen untl wohl sithef hi? ?ar IVsripbiW ds» Riicken- 

nuvckee ImidurehtretAn. Bei diese.r tic^eu sick die 2 te.Uw» uicht 

vffsijK* vetfrijgen, die Art. ihtes VerJaafes vnp den ti.iil^X^arfniiigen her 

genitgend hckuiint. ''• > y i ; v ■■■ 

In Fig. 6 L~i ‘.in anderes tkrati.igea Dreieek dargys>tel)t, das einfjm 
fi ulien?n Sohnitte- entiwir/inien wt,. bei dem din «4rten tpet niebt »« 
erig zosjun Hieuliegen <uwl teilHeifK* gewcllt verb>ubi*n-, und Wi-deitt die 
Silttei-fatbung nidht so stark war. Dichi am Zcntralkatude sind die 
^ilkdrper avi:c’b bJcr^eiobpb elntk gefatld-, d^cii wild dit Fatbnng raaoh 
etdt'vachcr, Iro librigo^ybb^ti^rdiesc^. Bitd viodlstatvillg; d<?m vorigen. 


. 

•V*V . \ ' 1 vV »t'-v.v •»• 


'■ 

’ 


Go gle 


UNIVEF 


3 ri§inal fro-rn 

STY OF MICH! 



Ohftr die embryonal® Entstfthiuit* von Itohlen im Rflekeumarke. 


39 


AufLeiden Ahbild ungen sieht man detttfich.<lalj dasr Lumen dee Central- 
kanales von eineuv Saume begrenzt wird. IJift Dxcieoke siod also 
nichts weitet ais Anh5uf ungen von ganz Lego-riders; langeo 
urid zaite ,n Bpfind ym zellen, dereu Kerne z urn Teile weit. 
von dbiri Zesitfstjkanale entfernt liegfcn. Die ZeLUtdrper dteaer 
Zellen musi^n aioii «ber ehemiseh ,und ymhrsehemiiph nrieh phyaikalwob. 
a ndera refhalte u als dib' iibrigeri Epend^ mzolletv, denn sornt 
wurden sia nicht die.se dgerittimliehe, dun Ids Siiberfaibuug angenonaffien 
haben. tlie ja allenUugs. in ihcrw Starke etwaa weehseltj aich siber ui ah«~< 
iieber Weiar scant mrgerida waiter auf den Sehurtfen frndet, ami liureh 
welelu- sie mfolgiviessen auf alien Stdirutien so deuilk-h hervortreten. 
Wir wenien hierauf Welter tmteii noe.b eiuzugehen ha lien. Wie wir oben 
sehoo Iwinerkten, sieht man an der Basic des Dreieekesdeittlieh den Saum 
hittziehen. welcher aueh sonst iiber die Et)elvdjrnepitFieiie5i. hmlUuft und 
so deu Zerdialkiuial direkt begrcnzt... Aos dor Besehrelbung geht hervor, 
dafi diese 1 >reieke in der Tat cine gataz besotidere .fiddling iii clem Epen- 
4ymapii.fKd daretellenj dafl sie aber auch aiulewirseits tvieder direkfc zii 
tiernselljcn gohftcon. ’ •' • 

Die ndofeteu Sehnitte zeigeit ahnliehe R.ilder wie Fig. 2«.i. cw vrewenir 
ludiF Addening iiiffc erst eiu auf dew Sehnitre, dor hi Fig. -i dargeetellt 
vvi.ndoni.vi . Man siebt auf 
diesem Sohnitte nrir nocb 
die reeHte Abt<alubg ties 
dursalen &ntraika bate 
mit flirt m feraimnn Drei- 
eeke..:.'V >•’': ; •' • 


Efc inedialToii ciie?wm 
goht fcine grofie Luck*? auk 
dem Ontralkaaalii in daa 
(tewebe* der dorsalen 
wuchmmg hlrieiru Die late* 
des fixates ti#d, 

Auch Bern rct^ijraier Wmkel 
fund xm Ependymepiilid 
AUAgek Widet> wAhrtirtd v 
naekt ifttv. ent'. 
jsp^liend der nackton 

dor 8eheadewaad, wel*. 
eke ja dioao Wand bildot. 

t k>T vmtji ral# kfeiiie .Cett'tm..lkanii]-.wiedcr mdu xmd grofi 

gewoixien^ ^usgekleidet v6it 6^ht wfafm^ni Kj^nilymeTAtUdo, da* an der 
der vord^mx -Kitw.mis$ur.; direkfc anltege.mii.vti Seite Hieder die deutDcb 
' • Zeller des veritralen Keilepi^heles ejck^miai laBt , die 

dicht zagaiTutiengernoktetv^^^ unudttelhar dor Kdituniaa.ur an. 

lo Ixdden Vord^rb'druern liegerj jetzt eWniaLls verhaUnismaBig 




^5(X 



unqi 


Go gle 






40 


P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


Digitized by 


groBe und schon entwickelte Kan ale mit schOn ausgebildetem Epithele, 
das in seiner Bildung dem Epithele entspricht, das sonst die Seitenwande 
des Zentralkanales uberzieht. Irgendwelche Differenzierung zu 
einem ventralen Keilepithele fehlt vollstandig. An dem 
im rechten Vorderhome gelegenen Kanale sieht man wieder zwei gr6Bere 
Liicken zwischen den Epithelzellen liegen. Neben dem im linken Vorder¬ 
home gelegenen Kanale findet man immer noch die Kernanhaufung, 
welche dem friiher hier vorhandenen Kanale entspricht. 

Der Vorderstrangtumor ist weiter kleiner geworden. 

Die dorsale Gliawucherung zeigt jetzt in ihrer Mitte eine ziemlich tiefe Spalt- 
bildung, sie ist durchsetzt von zahlreichen Lymphliicken und es treten wieder 
einige Fasem in ihr auf. 

Auf den nachsten Schnitten bleiben die Verh&ltnisse wie eben beschriebeu, 
nur verandem die Kanale in den Vorderhornem mehr oder weniger stark ihre 
Form und GroBe. Eine Anderung tritt zunachst nur insoweit ein, ale der dorsale 
Zentralkanal etwas mehr medianwarts riickt. 

In Fig. 7 Taf. Ill ist bei 114facher VergrflBerung einer der nachsten 
Schnitte genauer dargestellt. (Dieses Bild liegt umgekehrt wie die 
ubrigen!) 

Man sieht deutlich, daB der dorsale Zentralkanal eine ganz ahnliche Form 
besitzt wie auf Fig. 21, und daB auch die aus dem Zentralkanale dorso-median¬ 
warts ziehende Liicke noch von ganz fthnlicher Beschaffenheit ist. 

Diese obere Zentralkanalpartie mit dem braunen Drei- 
ecke und der Liicke ist in Fig. 8, Taf. Ill, bei 630facher VergrflBerung 
noch genauer dargestellt worden. 

Man erkennt deutlich, daB die Liicke ohne scharfe Begrenzung in das Gewebe 
hineinzieht, das wiederum durchsetzt ist von groBeren und kleineren Liicken, so 
daB zweifellos die Lymphspaltennetze dieses Gewebes direkt mit dem Zentral¬ 
kanale zusammenhangen. Wegen dieses Spaltennetzes verweisen wir auch auf 
die schon oben gegebene Beschreibung und auf die Fig. 4, Taf. II, auf welcher 
dieses schwammige Gewebe schon dargestellt worden ist. Hier in Fig. 8 ist ja nur 
die allernachste Umgrenzung der Liicke dargestellt worden. 

Man erkennt auf Fig. 7 weiter sehr deutlich, wenn auch nur sehr zart 
und-klein dargestellt, die Anordnung der Ependymzellenkerne, 
die Kemmassen der dorsalen Gliawucherung, die Liickenbildung 
am dorsalen Rande, und sieht deutlich, wie auch sonst noch massenhafte 
Gliakeme in dichterer oder loserer Gruppierung die Substanz des Riicken- 
markes erfiillen. 

An dem ventralen Zentralkanale sieht man sehr deutlich das ventrale Keil- 
epithel, das nach der Kommissur hin ausstrahlt, und dessen Kerne genau bis zu 
der Kommissur hingehen, und im rechten Vorderhome sieht man jenen schon 
erwahnten Kanal resp. jene Cyste liegen, welche wiederum von einem schbnen 
Ependymepithele umkleidet ist, dessen Saum allerdings nicht an alien Stellen 
gleichmaBig gut entwickelt ist. Nach der dorsalen Seite hin, wo der Saum mehr 
fehlt, wird auch die Anordnung der Ependymzellenkerne eine unregelm&Bigere. 
Man sieht auf dieser AbbOdung sehr klar, wie sich die rechte hintere Wurzel in 


Gok 'gle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




Cher die tuiibrnnmle Fintsteining vcrn Holden ixn HOckeiimrke 


ein gut auagidiildetew grrdkw t Spit»&lgU.ugKnbfwfiietet nnd wie die entaprochendsn 
vordc-fen Wurzeln a la ft an dom Vorilersta'.'tfigt.nipw vterbeizieben und dann waiter 
»k'n deni %>inaigftngiu>ti hinlanfen. Auf rheaem Bible tritt wieder aehr doutlieb: 
der Coterschieii iii deni Ausseben ties ilimeratr/uigea Und Seitenalrangea hervor, 
den trir snbon ganz am Anfawge differ fie.aeiu-eibuugcmfcfmt,*haben, und der, 

rr diimsis st-Inni bervmhoben, darguf suruckf.uiiiJiren t»t r dad die HMter* 
wirAttf^fnff T-n dishler anemaliderlieRen und atich feichfc et-was lriebr schr&g gft- 
troffon aind, ivb die SeifeOBtjftngrifoiiern. Iter Vordecstmngtiinior seigt hier deuliie-b 
jeoe t>eh<in mehrfiw'b exwikhnien nm . AbteUungou, wrfche tliif-eh pin hogim/tirniigfS 
iSeptU'fii 'fpneiii&ttitev getremu sind. Diesem Sdinittav .ferf, uunh dto i?ig> % TaL .0, 
entpoWifnert, rod 5»oteh(irderBa.u der beider. Abteilunge» jus f fnnaifi? lad starfearer 
VrtgT4fien;itv>j deidbchei'dutgeatellfc w-'-irtleo iAt. 

•Avf vi«m ill Fig. 22 dargestellten Sehriitte liegt tier tipple Zeatral- 
kaual jetat sehon ziem- 
Jieh clicht Uebeii der 
.^JKtteliioie. Das brsuuo 
iJreiieek i«t aU *<>lches 
booh fieutlicb erkenn bar 
tmd liegt ?'tw‘a Mi steiner J 
aUemSteJk-,; rfofofc fttt-'JeiC Ml 
raeiiiateo V^anil des Zefr- ; ism£: 
triuk.-mrite-. dtaiieri sick . 
die GJiaaeitei jerzt meHr SMM-M 
eyetidvbutrtlg gebigert. M ' |i 
$fcr 'ganae des .fl? 

ZefitfivlicanftfeH ]# v<w ./ % 'Sl| 
itahlrijkfei Lymph* % % 
luekeii du>‘eh£e;m, 

Der veiitrole kleine 
Z»intr(iLkArirtlrtiider wir- 
deren KoimiiiAMir 1st kleiner gemtrdeo and sein domiles Epithel ist 
eiwoe teriregelm&Ciget uagepKlnet. 

Die Kaalftie ii! fefctea Viirderiiomein feind ala Cliche ver* 
sc h diade n md a-ii ikref Sheik- fmden wh rvm’ «o$k iuehr <>de<r •^oigyr 
grofie diid uaregfelteiiBigp K«y natihSuf ungeib Eine xyeHere iienifeh 

sich dwaftl im iiwvlitaid y‘jrderho‘rtiR 
gebildei, eiivi'. in der Degend des Eiutrittea der hirderen -Wurstd. 

E»je ibicfeenniarl^utistuTiz i»t ebeiifalfe von uib&bto&en Lympblucken durah- 
*t2t, 

I)er/V'onilersti'atlgtunior ist waiter feleiiiet- geworden und cUe Kerveufftatirquer- 
fehmtto dits yordettitrauges treten jetal netien ihni v.-ictler aJa eine aeutljchc Sebtftbt. 
hervor. JVe V"ixi^rs«tnmiftunior zeigt sieii nngBUin abgebspaelt und bestebt aeuti- 
iish/Aus iwei^Abteilungen. _ . > •, ?•;' ' . 

Aufifem oiUhsten in Fig. 23 nbgebildeten Scbnitte ist. der ventrale 
gewobdeu,- Jem- grdBere Kernanlvaxifiuig, welcbe 




Gotgle 







I\ Schieftecdeeker urni E. Leachke 


Fig. 33 :’../■ tet nonh H* o£ kieincr, ||*£ 

/ \ * X'ordert v ' ' 

I)y» dorsale GUaWuchenwjg hat* sicb jw cb wnnttei? ^jrikkgebiM&t und Tiogt jVfat 
itt Teriidllm^ni/UJig geri«£fcr Ausdehmmg 7-wta don riutmlen Exideri da r Ifcrtfcar* 
fttK&nge. * , "' ,J \ ‘ : ‘ ;*' ^ v \ < ., ’• ’ ■ '.'/- 

J3er <l^r^^ &T^tmiknnaJ ist vieder Vail zablivicben Lympkluoteu 
umldid D^ii^k^hildmig an Munem dbwsalfeo Ramie luR sich uei tvnevk'rt and wtd 
Ziidkeu bokamttuin. ’ ' < * ^ t • v . ‘ ' „ * t \ .'; 

m effiH K&na 1 , wdc.her dvh in. dirtf' Hobo ijtar Ewitrit t.-sldlp dt-r reditau 
'biutar^'- \Vtu>/d ;gfcbUder iiftjht^Vb^abt. uucjb anf dem folgenden 8 oiuiitU v heifer 

fort, w abroad der kleine ' v«n • 
fcriale Wei¬ 

ner and uomg^laiiiBtgCfur winJL 
Adtcu die vonim* 
wtrd vlrwxronsrdt obet i und in 
ilimr Forjw veriiivdert, doch 
bugr tier klemr Zentralkanai 
iiir steta dicht an Burr ueug* 
groBe* set Mich entstandene 
Kannl riiekt aDrrtahlioii toevfajr 
yentralvcarts, nxibei doracd- 
wart# von dim cine groUcre 
Anxahl ran &rrneft zuriick- 
tfnd licfo v prst-Jb windet 
er vmd. uufd#;r^ cntge^ei’ige^tz* 
t«w Seitn trill d&fur tin nones, 
waiiieb grat&e Lumen aaf, 
das naoh dor reirtro-niedi&lcm 
>knte bin dine grope Liioke in 
dmn nfagebnmleri EjutiaL 
vs *•;%• ik-.;'.^>ier groOten kartal&rligon Liioke aegemii^liegt, die bis 

^V---v: '•• : v •• ^':v -• :• 


mkwamlM, 

h teSsk ti \’.m mlf'irV-f $*&+, 
kgm* -^>:-vv4J , 


D 


Go gle 





Ober die embryon&le Entstehung von Htfhlen im Rttckenmarke. 


43 


an das eine Ende der vorderen Commissar hinzieht. (Fig. 24.) Es handelt 
sich hier sicher nicht am ein Blutgef&B, sondem wieder am eine erweiterte 
Lymphliicke, in deren N&he noch eine Anzahl weiterer solcher Liicken liegen, 
doch kann dies© Lymphliicke wohl za einem hier eintretenden Blutgef&Be gehoren. 

Der dorsale Zentralkanal liegt jetzt der Mittellinie ganz nahe an. Das braune 
Dreieckistebenfallsmehr nach der Mitte zu geriickt und bildet jetzt eine ausgedehnte 
Platte an der dorsalen Wand des Zentralkanales. Die mediale Sei ten wand des 
Kan&les, die der ja urspriinglich nackten Scheidewand entspricht, zeigt jetzt eben- 
falls eine radiare Anordnung der Kerne, so daB die Begrenzung ependymkhnlich 
aussieht, doch fehlt hier teilweise noch der scharfe, dem Ependymepithel zukom- 
mende Begrenzungssaum. Es zeigt sich hier mehrfach eine Liickenbildung. Eine 
grdBere derartige Liicke liegt dicht neben dem Dreiecke, aber auch an dem me- 
dialen Rande finden sich Einstiilpungen von dreieckiger Form, eine in der Gegend, 
in der der Saum noch vorhanden ist, and eine zweite, noch deutlichere, gerade an 
der Stelle, an der der Saum aufhdrt. Beide Einstiilpungen stellen Liickenbildungen 
dar, durch welche das Lumen des Zentralkanales mit umgebenden Lymphlucken 
in direkter Verbindung steht. Wir haben diese Einstiilpung schon auf einer Reihe 
von Schnitten gefunden, es handelt sich hier also augenscheinlich um einen ziem- 
lich tiefen, etwa rinnenfdrmigen Einschnitt in der Wand des Zentralkanales. 
Es ist klar, daB auf diese Weise eine sehr ausgiebige Verbindung der in dem Zen- 
tralkanale enthaltenen Flussigkeit mit der in den Lymphspaltnetzen enthaltenen 
enndglicht ist. 

Zu bemerken ist hier noch als eine besondere Eigentiimlichkeit, daB in der 
braunen Schicht des dorsalen Keilepitheles, ganz nach dem medialen Ende des- 
selben zu, eine diinne schwarze Faser direkt auf das Lumen des Zentralkanales 
zulauft, welche wohl kaum etwas anderes sein kann als eine Nervenfaser. Sie 
endigt, wie es scheint, kurz bevor sie den Zentralkanal erreicht, doch laBt sich der 
Ort der Endigung nicht sicher feststellen, da die Braunfarbung dicht am Rande 
des Zentralkanales sehr dunkel wird. 

Die dorsale Gliawucherung ist hier nur noch unbedeutend und nimmt wieder 
den jetzt klein gewordenen Raum zwischen den dorsalen Enden der Hinterstrange 
ein, doch hat sich eine groBere Gliamasse weiter ventralwkrts in das Riickenmark 
hineinbegeben, so daB die Gliawucherung jetzt einen groBeren Teil der friiheren 
Riickenmarksubstanz einnimmt. 

Der Vorderstrangtumor ist schon sehr klein geworden und zeigt nicht mehr 
zwei Abteilungen. Der Vorderstrang hat infolgedessen mehr Platz bekommen, 
sich in normaler Weise auszubreiten. 

Auf dem folgenden Schnitte ist namentlich die eine Einstiilpung des 
Epithels am Zentralkanale noch deutlicher, man sieht hier direkt einen 
feinen Kanal, der in eine groBere Lymphliicke iibergeht. Auch sonst finden sich 
auf diesem und den folgenden Schnitten eine ganze Menge von erweiterten Lymph- 
spalten im Ruckenmarke. Jene groBe Liicke, welche von der Seite der vorderen 
Kommissuraus nach jenem neugebildeten Zentralkanale reap, jener Cyste im linken 
Vorderhorne hinzog, ist nach den jetzt folgenden Bildern wahrscheinlich als ent- 
standen anzusehen durch die starke Ausdehnung eines Lymphraumes, der ein hier 
eintretendes BlutgefaB umgibt, wenigstens sieht man jetzt ein an derselben Stelle 
eintretendes BlutgefaB (wohl eine Art. spinal, anter.), das von einem sehrbreiten 
Lymphraume umgeben ist. 

Auch auf den folgenden Schnitten sieht man das Riickenmark durch* 
setzt von zahlreichen erweiterten Lymphspalten, so daB manche Ge- 
webspartien direkt ein schwammiges Aussehen erhalten. 


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Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MICHIGAN 




P. iSchirtferiit-eker utid it. Leschlio 


Baddf'ch, drtiJ I^ymphlfekenweric einerseits io direktef Yer* 

f suit dem ZenthUkaimle ateht, andererseits mit Lvmphbabrien in 

dt-r BloJigefafte, clip & in den Subarachnoi- 

drolmwn- iriiindetK Rtfdit die sw clem Zentralkanak- enthaltene 
FiusiHigkelt in it dtesft-.n Lympbroassen in Verb in dung 

Aid dc-*o in Fig. 26 diu-gestdlten, Jet-zt fblgenden Sehrutte »ngt siefi 
noeit eine:s«.hr intofessaote BesoJul.erheit. Uer Zenttalbanal 
in dpmreebiert Vorderhot rie,-der uhrigenf* wilder duroh za?et gfofe 

Liicken wit den nmgebpji" 
deb LysepbrStoniea lis Ver- 

S i.- htadung ateht, zeigt an 

seinpm ddraalen Ran- 
de ein bradnps Drei* 
yck, tiny, -oelnet Firbung 
£$ nod wiper aouatigen Be- 

f aeRalfenheii nacii den bis' 

i ;: ; v -her Iwwniiewiien brountm 

^m^^r'X’%' J^'ieekim/ die dew dor- 

salen Keilepiihete c3es ui - 

1# erifcApraolieri. dnrehaus 
ahulioh tsieiit itkn erkettnt 
aufth bet; -tier ftdtwacheh 
VergroBerung aehon, dab 
sieh an dieser Stelte Zell- 
kbrper und Kerne in iiingerer Anadehmrng ate son»t in dje HOhe ite-hen. 
Weslmlb sfeb pit djeabt.^telJe: pin sokjtea bi^uneei Oreieok g#b8det 
hat, laBt sjcii ana dmi cniktoskypisehen Bilde nkht eiwchbeBen. 
Jedenfalls gc-ht ail* dioster Beobachtiuig aber her-Ver, d»8 
aueb bei ;elniew;;'i»‘i.bfci?bi,; $y der. (I lid des VcHd®i^drnes ent ' 
staudenen Zenipalkdnak» eiiie dernrtige £?iffbrenzjeruug 
dpH Epithe]e» nibglich iet. Wir %rei-den bei -deg xehiieiSlicben 
Beaproehnng dieaer.BbfttMtle itcndv iutf dfese Beobaidutmg ein- 

•zogehen haben. 

Audit <nif dioser Atbildui^ gjeht man iwh wit-dor oiutu breiten Lympkapait, 
ylfcr eon der>^|*;d*te;^ in fbsiti 

kiymfc ldtutiebt nodi bie:r wavier yaur-r Bucko bp Bpiihtdji dica&r iyWbks direkfc 
gt*geniilk;rlie|t.. ■ •. ' . '■ . ' • ; '' •"; V » s -, r.:.-. ) 4 ’• v • • ■{'<■/\ 

Aiich in 'iteni teobteo 'inart auagednimte Ab- 

hiiuiiing .von Bhakt-roeu, ui t*-j<-.ivi' *i«h damn spatyr ■'wiodor «ici iicuer Katiid 
aufbildet. 

ifehlrekhn, gioik Bytuptilfi^Ken dtnrehf^ke? 

Auf den folge'nden iSclinilten ver-chwindei der Zentralkaiia? ini Ujlken 
VVjrderhoiritt winder volktandig.; e« fcritt ear neuer in detb reeJit-en Vorder- 




Wgig 


Gok«gle 





btyoimlr Kntst sluing von Holden iiu I{u>rki*?uiiiiJ)cd. 


home *«f (die K«manhSiifiw)g ttorfc detvbete dRs Ktjntltven 

Kauaies |a sehon an), tier venjrale Zentralkanni de>r y^rdteiwu K'oHkttiiasuf' 

wird «r*k*der grader. 

Aaf stmtn dieser ^elirufcfce aieht raan ubrigeas dinskt. dumb das %>ftbei dea 
venfcraten 2entralkanalea Ewei feino yervenfaRcrti huulurohziehen, deren Anfang 
vnd End* aicbr. tetzusU’Uen sind. 

Iter net) eathtaudeoei Zentr&lkiKi&i In detn m*ht«n, Vortlocb&roe zeigt erne eehr 
grefic and dentliohe Verbutdung rait tlen nralu^ndBii tyinphlScken. Er ver- 
.aehwTOdet vjrtta trad es trad datm our web tfcri dars&le uad rentrala 
tralkanoi vurhrtndtni, wflhreud m den he.idc-n Ruekeimmrkfhalfteii mohjare aus- 
gedehbte Ktfnignippfcn sichtbar sitid an der Btelbr der bier frit bar wrhandeneu 
KanaJe rwrp. Cistern Das braune Dmieck an <k-ut <1 atsabiti Zen Walkanale zieli t 
sich in din Lfingp trad siielit «o mdbr einflij feriiineti Ktc&ng dot-, ttef Vorinjrstrang* 
tumor®aigt kfjine. weaentliebon. yerAiulonuwn-’ , a 

Waiter iegt slcb jetrt im Unkcu Vonlerhorae wieder erne neae grotto* 
Cyste nil, die alter aaf <lyn niichsteu Sehmtten wieder iersclnvindefc, uhd 
es fiodefc $i«h. dafur <>m 

neue» gynfies Lptifien aaf • ~ ^ 

dor wditeo iSaitf ||| 

Bur.-k^riiiiftj'kt-fi indtji: Ilobe 
der EmtrjttwfcU*:- tier, bin- 
teren Wurxel (Fig, 2(31. An 
die^etn linriet sich wiede- 
rum u a iJf-r tiorsalen 
SpiUr rim: JEpjtU.l- 

par tie, die in Far bung . 

nnd Be'se.Us.ffenVeit an ~ : 

dns bran n* Dreieek ... 

dess tiv>rsa'<>•!) Keiiepi- '>•••; :•' 

theietj erinnert 

Da# B*M, t.?t ifid^scc niclit Fig. 2ft. 

bv siaA-k.£U*j$p&gtr:me in item- 

vori gen Aj.feb lifer fet dea 

Epejidyni^lithefoe auf clem inito^kopsohcn Bilcb nn:htlU t-brigem 

ist dLl^.- rietn r 


' 06 ;.M* Dtrieck 


Original from 

5ETY OF MICHIGAN 


Go gle 



Digitized by 


46 P. Schiefferdecker und E. Leschke: 

chen, dafi die dorsale Seite nicht nur des normalen Zentral- 
kanales, sondern auch solcher neuen Kan ale, die sich mitten 
in dem Gewebe des Riickenmarkes bilden, in ganz besonderer 
Weise beeinflufit wird, reap, eine ganz besondere Bedeutung 
hat. Wie sie beeinflufit wird, und welche Bedeutung sie hat, 
das lafit sich freilich vorlaufig noch nicht sagen. Wir werden 
hierauf weiter unten noch naher einzugehen haben. 

Weiter sieht man auf dieser Abbildung, dafi von der dorsalen Seite her ein 
tiefer Einschnitt in das Riickenmark eindringt, dafi das Dreieck an dem dorsalen 
Zentralkanale jetzt ganz an der dorsalen Spitze sitzt und lang und schmal gewor- 
den ist, und dafi eine grofiere Anzahl von Lymphliicken in der Nfthe dieses Drei- 
eckes die Gliawucherung durchsetzen. 

Es sind aber noch weiter zwei neue Lumina entstanden, eines dorsal 
von dem ventralen Zentralkanale, eines im linken Vorderhome, welche 
beide von nicht sehr regelmafiigen Kemreihen umgrenzt werden und 
unregelmafiige Spaltformen besitzen, und endlich sieht man eine mehr 
rundliche Kemanhaufung ventral von dem dorsalen Zentralkanale und 
eine andere dicht neben dem ventralen Zentralkanale. Es tritt jetzt also 
eine grofiere Anzahl von Kanalen oder Cysten auf. 

Der Vorderstrangtumor hat wieder etwas an Gr6fie zugenommen und 
sich mehr nach der medialen Seite hin ausgedehnt. 

Auf den nachsten Schnitten bleiben die Verhaltnisse im ganzen ahn- 
lich, nur verschwindet das braune Dreieck an dem Zentralkanale im 
seitlichen Teile des Riickenmarkes und der Vorderstrangtumor dehnt 
sich mehr nach der medialen Seite aus, indem sich hier wieder an den 
zelligen Teil, der jetzt schon seit langerer Zeit allein ubrig geblieben war, 
ein Abschnitt mit Septen, wie zuerst, anschliefit. 

Weiter verschwindet der links im Riickenmarke gelegene Zentralkanal und 
dafiir bildet sich ein neuer Kanal im Vorderhorne der rechten Seite aus. 
Der Vorderstrangtumor nimmt jetzt wieder die ganze ventrale Seite des Vorder- 
homes ein und ist in seiner ganzen Ausdehnung von Septen durchzogen. Weiter 
bildet sich auf der rechten Riickenraarkseite wieder ein grofier Zentralkanal aus. 
Die dorsal eindringende Liicke ist allmahlich wieder verschwunden, doch ist der 
Bau des Riickenmarkes an dieser Stelle etwas unregelm&Big geblieben. 

Auf den nachsten Schnitten bleiben die Verhaltnisse ganz ahnlich, die drei 
mehr ventral gelegenen Zentralkanale bleiben erhalten und werden abwechselnd 
etwas grofier oder kleiner, bis der im linken Vorderhome gelegene wieder ver¬ 
schwindet und der in der rechten Riickenmarkshalfte gelegene zu einem grofien 
Teile verschwindet, aber an dem noch iibrig gebliebenen dorsalen Abschnitte ganz 
dorealwarts eine einem braunen Dreiecke entsprechende Anlage zeigt. Der ven¬ 
trale, an der vorderen Commissur anliegende Zentralkanal zeigt ein vergrofiertea 
Lumen, eine verschobene, mehr dreieckige Form, und an den beiden mehr ven¬ 
tralen Ecken dieses Dreieckes, an den beiden Enden der vorderen Commissur, 
je eine grofie Liicke im Epithel, sowie eine kleinere dich neben der dorsalen Spitze. 
Das Riickenmark zeigt wieder zahlreiche grofie Lymphliioken, dor Vorderstrang¬ 
tumor ist sehr klein geworden und reicht nicht mehr so weit medianwarts, er zeigt 
noch den septalen Typus. Die vordere Wurzel tritt lateral vor und dicht neben 


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ftb&r die embryenaie fintetebungr 



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P. S4cbi^ff^rriOr und E, Ltitselike 


iVuhferee y^ihaurJonsi'in. Xahlivdelhii and roctit gmik' Lym phiiiek^n iifcgtai in dr* 
Chge'rid dee- ,fruher*n ZtMUralfenftk^ tjnd seixen 8>io b fart- liV ' -pli'aiiiii^iifuiig, 

■wetolie. efienfaUs von ^irfreicheh -girdlten rit^pbec^v.^it ' 'to' das 

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lUiekemrirtikes, etv>j<- ventral von iDintritte der idnieren 'Wureel, 

eiy -iiir nesfjit f ojBe-s L ti line n ivttf > dak 3U nineiri Tt>sftr, ir>..«W)ri*; i tJi vent rakn 
Ati&ehbiUtc von eibeiti sehdneh K^fiKty ine^it hefie«;ittisgeWeidet ist, 
wSkrepft d^rdamife Ted kerne irjgphdwBegT^tafttihg awd 

' fceio iJljffi&htd erk^rienlfiBk'und 
tiiaeli Liiekv.it ant 4eti urn- 

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etfllt. ist trtieh tinnier vprkan- 
derv, er verkehnindet auf dent 
niieliftten ^eVmitte, der h\t-in,nf 
j ;■; tolgemle ikt in Fig. 29 (Urge- 

,\ui Fig 2!) ait'li 1. man.- ki dvr 
Mitte dea dor««!en Randw flex 
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AuftHuekr irtiv-rlroirn. der 
rtjeder dureb ein-- u-rkore, 
in der zahlreiebe 

grolii-. Lyinpiilucken Ijegviv, pi«ie-YfirBruchproiig dt r 'Cilia hat sioh 
auf der; ri?rigif-n • ^ehidt-teh- i'didn angeitahni, in ilu- lag noch zuietzt. 
der hraune Fleck, der Jen letzw-n Ke.st deft duisalee EeilejVitlielea dar- 
stellte. JDerdcixale Ztnti :tlka nal. ist boi seinem Verselitviudeo 



Ober die embryon&le Entstehung Ton Hfthlen im Rtlckenraarke. 


49 


gewissermaBen ersetzt worden durch die zahlreichen groBen 
Lymphliicken, welche in dieser Gliawucherung vorhanden 
sind. 

Auf Fig. 27 Bah man ja schon am den viel kleiner gewordenen Zentr&lkan&l 
henun nur noch ganz unregelmaBige Reste des Ependymepithelfl und zwisohen 
diesen sehr zahlreiohe und groBe Lymphliicken. Es macht so den Eindruck, als 
wenn das urn den Zentralkanal ja auch schon friiher herumliegende schwammige 
Gliagewebe jetzt von verschiedenen Seiten her gegen den Kanal vorgewuchert 
ware, die EpendymzeUen auseinandergedrangt hatte, die jetzt mitten in dem 
Gliagewebe gelegen wieder zu Gliazellen geworden w&ren, und daB auf diese Weise 
das gesamte Lumen des Zentralkanales von diesem schwammigen Gewebe durch- 
wuchert und durch die weiterhin hier liegenden Lymphliicken ersetzt worden 
w&re. Von dem Ependymepithele ware dann zuletzt nur noch die kleine Anh&u- 
fung des dorsalen SchluBepitheles iibriggeblieben, welches, hoher differenziert als 
das iibrige Ependymepithel, noch zusammengehalten h&tte und an seiner braunen 
Farbung erkennbar geblieben ware. SchlieBlich ware dann auch dieses in dem 
Wucherungsgewebe aufgegangen. Auch dieses lange Erhaltenbleiben dieses braun 
gefarbten Epitheles spricht wieder fur seine Besonderheit. Weiter ventral, etwa 
in der Hohe des Eintrittes der hinteren Wurzel, sieht man dann wieder Kernanhau- 
fungen; in der auf der rechten Seite die Andeutung eines Lumens und im rechten 
Vorderhome ein kleines von Kemreihen umgebenes Lumen dicht neben dem 
ventralen Zentralkanale, der hier seitlich verschoben ist und wieder eine groBe 
Lucke in seiner Wand aufweist. 

Auf den nachsten Schnitten tritt ein neues groBes Lumen auf 
der linken Seite des Biickenmarkes auf, doch ist seine Begrenzung zum 
grOBten Teil eine durchaus unregelmaBige, iiberall gehen groBe 
Lymphliicken zwischen die radiar gestellten Zellen hinein, und ein Saum 
ist nur an einer kleinen Stelle sichtbar. 

Auch der ventrale, der vorderen Commissur anliegende Zentralkanal zeigt 
nach der linken Seite hin groBe Liicken. Es f&llt hier auf, daB an dieser und an der 
dorsalen Seite eine Anzahl von Nervenfasem direkt durch das Epithel des Zentral¬ 
kanales hindurchziehen, indem sie die Zellen desselben unter verschiedenen Win- 
keln schneiden. 

Einige Schnitte weiter ist wieder nur der ventrale Zentralkanal vorhanden, 
der jetzt auBergewohnlich groB geworden ist und nach links hin noch etwas iiber 
die vordere Commissur hinausgeht. Auch jetzt aber ist das ventrale 
Keilepithel nur so weit entwickelt, als die vordere Commissur 
reicht. 

Auf dem n&chsten Schnitte ist der ventrale Zentralkanal noch groBer gewor¬ 
den, hat ein ovales Lumen erhalten, dessen langere Achse dorso-ventral liegt, und 
ist gleichzeitig deutlich nach links verlagert; an seiner ventralen Seite zeigt er eine 
groBe Lucke. Auch hier ist die Differenzierung zu dem ventralen Keilepithele 
wiederum nur so weit erfolgt, als dieses Epithel der vorderen, hier schrag ge- 
stellten Commissur, anliegt. Auf der rechten Seite des Riickenmarkes ist etwa 
in der Mitte desselben eine neue groBe Cyste entstanden, deren ovales Lumen 
etwa dieselbe GroBe besitzt wie das des Zentralkanales und ebenfalls von einem 
schdnen Ependymepithele begrenzt wird, welches nur auf der dorsalen Seite eine 
Lucke erkennen l&Bt. 

Der nachste, in Fig. 30 dargestellte Schnitt zeigt noch sehr ahnliche 
Verhaltnisse, doch treten jetzt in der dorsalen, stumpfen, von Lymph- 

Z. t ± g. Nsor. XL Psych. O. XX 4 


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un«i E, Leachke 


liWkeu stark durchsetzten Gliawucberung groSere Lixek^nbilciucgen aof, 
von dencn die me Jwsondere groSe, rechts ge legend Wteder zw^i'deutlir;)) 

gebraunte Fart'icft au ihrem 


: : % ti I % i Ug, enie iwMie 

^L^UBBIb <UiS diener d««*b <ti«« 

iili'awueherwDg allnt&biutb' iiu- 
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&& ;(<>. und j» miw Form fntdu and 

■.; .: .v.rtV'";^ inejhr vocabdorto- ^fe»tr»lfoa»al 

iiuf oitJtf kattH' J*t«s*lus vijtUg ton ^»Mw #cbwaranu^.n f Jtdw'be dbe Gbnmicbrirung 
<iurrhw^ch*t'.ri wordon v*tt jrtr.t &iph <ita»rwder waiter Kfirtsotxi 

Vrntial, fl»^r i wwdisftiir ttoliegend, siobt min d»?u stark V<#graBnrtett w 
f'a.k-ir?rfiT)tr9jkawaJ, ilt-r <b* tTs^utnvJe. Kftik-jjitljc't wfcvfer rjur zeigt, al» ,er 

dor CVi'rnmis.sur auikiit. \a«i .&&& .tfvebrete:- Luck, on ’wfeainwi lafit. Recid.s ln*gt 
<;la» schori 'erw&hpte, groitf; Lunipri rod kemer epnitlymkhniichtni Begn-rutuag und 
Iii.-i ?« duMo/ii L'i.iiicn m'm und bi* su. dom mitralon ZoiitralkannJt- hiu zioheii <i.ii> 
b"''V>>ahl au(d?)gen *te r Glia^iebenlug.. •,, , ..’-F "> 

..W 1 ‘tWMii tier uar'issdr'ii ^rrhuitt** .siebt niiin. dali die ZHIen des 
dorat*len R^iH»jiitbjfiis' desi nun uoch .dem lieherhmwtwfepndeiivt 

wietka* aiilgetaucbteTi.. doiS 
saieu Zebtvklfoundes in i t 
v Hired doraalfen Enden 

^v. d}Tek*t lift da.si Binde- 
%. gevre.he , a t|o a n dto 
"K 1 Arilage dor PU / .tin,' 

S % kioiie?t., i#n*i nvrar ) xt'- 

g. gt? ix 

P go rudtfhib.t' Bhit • 
•5j' M geduiji; JHe • Keme dor 
P Jr 'Epitlii'Jiznlieri liegeu so tveit 
#> dorsaiwarta., diUi sic eben - 
$r. ••> falte direkt tier Biodegi?' 

■ ■.f ']':.... . «k-b»greiize auliegen.'; b.. 

Mi don nRchaton Sftbnitten 
bleibeiv die V (irbAiitife-w.' ini ^wetitlichon UiiVnrAiidwt, dooli worduti die dnrsalen 
Z^ntiulkaniilc ivitak-T uu'.W'Ulif]«-r. Qfffum sich au I dor .dorsaleU Snite do* Ruok^ri- 
inarkew und vdud nuf Sera in Fig; 3) abgt'biliiotnn Sokftitie wietler viiliig ver- 







51 



Zeatnvlkanal beisttirkerer Vergrofierung (327) zeigt. urn mm eigont-tim- 
•Iteiie' .L UK' k t ?\ h'fhl u ng m ihm rfc.ftfclk'hor.dfenmm ta^etL 

Man siohL d**8 rfem ventralen Karmic di« Oumnu&Hir anliogf, uml daU d&e 
ifieger K#depttii»:l au»b von dcio iihrig*n Epttri».jlyro?*pi<:hote 

iwsemlieh •ttrtUw-he.iJot. aber bier. auoh rigcuiumliobe VeramlvTun^n dre 

ni«?Jbt vorbancEen wap. Man miht. dafi die- Kerni* ♦Ilexes retitridtm Kell- 
epitbofe s&mtiidi' dfcbLdcr Comiimsur animgeu,-after zvri^Iioh^^n/kn^ Ju^gr-*- 
tretendeii Zelikorpenri sind bier unteti mehrero groBere Luqfcui ent>ita£iden, dti?ch 
wekhe dfe> ZeHkorper &elb#t nacb d*Hii Lumen zu diebt zuKamnOii^eidiliugi warden 
und ao erne etwa9 dunklere 8ill^rferburig mapnotnmm bobeiu Link* untvn 
sieht man em kielncs $tYiekcheiTi d**# r>xhlet\ Vardertdxaijges arid %(*h da in dio. 
Kobe x.iehend eioen zieiiilich tiefeii Spait, hi welctem #i& BluigeftB r vohl erne Art* 
bpin&l: ant. V in die Hohe zieb.t, deceit'An fang; auf dim^riv Schnitt^ zuFallig an das 
eine Linde der Comnnssur aoatfiflt, so daft es nut dieser zusammeiijailulng^ti *cl»<?irjt 7 
was natiirliefa eineT&tv&chtftig 1st. 


fiber die -emhryo'nale jEotsteimog rott HohJen itji Rttckontnarke. 

, ■> * , j,y *: * J i' \ 'c±'’' ''*i' *' 'S r , 

sehwunden. Der v**.ntr&le Zeniralkarra] nttd die Dae); flcdhte yvul ili*m iifl'gende 
grofie Cyste aind in Form and Grdfie efcwsut and ia^rt wiedor dinaUidic 

LucJken erkennoii. 

Auf emem der nfcluteto &c&mtte zeigt fcioli rxm nmic 4 aieinlicB grp Be 1+ticke 
in der dors&leu Gegeqd dear Ru^k^ntEiar k4s, die *ber n«r von getpofen- 
licbem Giiagewebe ganz; tiriregelic&llig begrenst iat und auch fceme • < 
/=8jpur von dam ii<rrzfrh?n KeilejiltbeJe erkennen la&t. teh* aweifaliiaft/ 

ob xnAzi d iege Liicke uWliaupt ate eine Zencralkanalbiliiu ng anzu^hen hat and ob 
sie mebt *$n!aofe inson&srs grof& Lynxphlueke darnt^Ut. 

Von diesein Sehnitt^ riibri- ;ft^eh. <iie Fig. 32 lior; den jetxt 

wilder klein gewordemm und Miehr nmcUich er^diehioiidetK rvntniten 



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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


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Nach dieser Seite hin zieht aber aus dem Zentralkanale 
eine deutliche Liicke heraus, an deren dorsaler Seite sich 
das Epithel des Zentralkanales direkt nach innen einbiegt, 
also eine sehr deutliche Liickenbildung, wie sie in dieser 
Art sonst nicht beobachtet worden ist, aus diesem Grunde ist 
da von hier auch eine Abbildung gegeben worden. Auch sonst sieht man 
in dem umgrenzenden Epithel mehr oder weniger deutliche Lficken 
und von rechts her eine ziemlich groBe Liicke in dem umgebenden 
Gewebe, welche bis in die Nahe des Epithels herantritt. 

Wir wollen durch eine nahere Beschreibung der folgenden Schnitte den Leser 
nicht weiter ermiiden, neue Formen treten nicht auf, alles, was von verschiedenen 
und wesentlicheren Formen zu erwahnen war, ist beschrieben worden. Der rechts 
liegende Zentralkanal riickt auf den n&chsten Schnitten mehr nach hinten zu und 
verschwindet bald ganzlich. Es bleibt dann also nur noch der mittlere Zentral¬ 
kanal hinter der vorderen Commissur iibrig, der gegen dieselbe etwas verschoben 
liegt. Dieser Kanal erweitert sich jetzt allmahlich nach hinten hin und wird auf 
diese Weise zu dem normalen, lang-ovalen Spalte, der mm wieder in der Mitte 
des vollig normal gewordenen Riickenmarkes verlauft. Um ihn herum findet sich 
zun&chst noch eine starkere Wucherung der langgestreckten Ependym- und 
GliazeUen, die jedoch auch bald verschwindet und normalen Verhaltnissen Platz 
macht. Das Riickenmark sieht dann so aus, wie es in Fig. 9, Taf. Ill, dargestellt 
worden ist. Man sieht auf diesem Bilde deutlich einen langen und schmalen Zen¬ 
tralkanal, der sich nach oben hin leicht zuspitzt und an der Spitz© das etwas dunk- 
ler gefarbte Dreieck des dorsalen Keilepitheles erkennen laBt mit seinen zarten, 
langen Zellkorpern, die hier bei der schwachen VergroBerung allerdings nicht her- 
vortreten. Diese Zellkorper mit ihren Kernen gehen, wie wir das weiter unten 
bei der Betrachtung des normalen Riickenmarkes noch genauer erortern werden, 
unmittelbar bis an die oben das Riickenmark begrenzende, der Piaanlage ent- 
sprechende Bindegewebsschicht. Ein paar quergestellte Nervenzellen liegen mitten 
in diesem Gewebe drin. Die Farbung dieses Dreieckes des dorsalen Keilepitheles 
ist hier in dem normalen Riickenmarke weit weniger dunkel als in den patho- 
logischen Abschnitten, immerhin aber auch noch sichtbar. Das ventrale Keil- 
epithel tritt wieder deutlich hervor und liegt der Commissur dicht an. Es geht 
seitlich so weit, wie die Commissur. Man sieht auch auf diesem Schnitte, daB auf 
diesem Entwicklungsstadium des Hiihnchens das dorsale Keilepithel etwa in der 
Hohe des Eintrittes der hinteren Wurzeln vom Zentralkanale abtritt, was wir 
auch bei der Beschreibung der ereten der hier vorgefiihrten Bilder schon bemerkt 
haben. 

Von hier an sind nun die Verh&ltnisse im iibrigen Riickenmarke weiter vdllig 
normal 

Aus der gegebenen Beschreibung geht also hervor, daB bei dem hier 
in Rede stehenden Hiihnchen eine starke Veranderung der Glia 
eingetreten ist, welche vom untersten Teile des Halsmarkes an bis weit 
in das Dorsalmark hineinzieht. Die ganze Ausdehnimg dieser Ver- 
anderung wird sich etwa fiber 250 Schnitte erstreckt haben, was bei 
einer Schnittdicke von 10 fx etwa 2,5 mm ergeben wiirde. Caudalwarts 
von dieser Veranderung erschien das Riickenmark durchaus normal, 


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Ober die embryonale Entatehung von Hohlen ira Rttckenmarke. 


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ein VerschluB dee Zentralkanales nach unten hin oder auch nur eine 
Verengerung desselben war also jedenfalls nicht nachzuweisen. Ob etwas 
derartiges kranialwarts bestanden hat, laBt sich nicht sagen, da diese 
Teile nicht untersucht worden sind. Der nervdee Anted des Riicken- 
raarkes erschien auch in der veranderten Ruckenmarkspartie kaum 
beeintrachtigt: Die vorderen Wurzeln traten gleichmaBig aus, die 
Spinalganglien waren gut entwickelt, die hinteren Wurzeln traten regel- 
maBig in das Ruckenmark ein, die weifien Strange waren nicht verandert, 
mit Ausnahme dessen, daB in den rechten Vorderstrang und zum Teile 
auch in die angrenzenden Teile des Seitenstranges ein Tumor eingelagert 
war, der die Nervenfasem verdrangte, sie aber nicht weiter zu schadigen 
schien. Die Veranderung der Glia erschien in zwiefacher Weise: In 
dem rechten Vorderstrange und zum Teile auch im Seitenstrange lag 
ein wohlbegrenzter, eigentiimlich gebauter Tumor, der von 
hier aus teilweise auch in die Riickenmarkssubstanz hineinragte und 
in diese, gerade in der Mitte sich verastelnd, sowohl kranialwarts 
wie caudalwarts ein Ende weiter hineinwuchs. Die Stelle, an der die 
Einwucherung des Tumors in das Ruckenmark sich fand, lag etwa gegen 
die Mitte des Tumors hin. Der Tumor bestand aus Zellen, die einen 
durchaus epithelialen Typus besaBen, mit zarten Konturen aneinander- 
grenzten und in ihrer Mitte deutliche, groBe, mehr rundliche oder mehr 
ovale Kerne zeigten. An manchen Stellen konnte man an dem Tumor 
zwei Abteilungen unterscheiden, in denen diese Epithelzellen leichte 
Verschiedenheiten erkennen lieBen. Die groBen Kerne dieser Epithel¬ 
zellen farbten sich sehr stark mit Silber. Vielfach war der Tumor durch- 
zogen von mehr oder weniger die ken Septen von faserigem Typus, 
die durch das Silber ebenfalls sehr dunkel gefarbt worden waren und 
wohl sicher als faserige Gliabildungen anzusehen sind. Die Menge dieser 
Septen war je nach den Stellen des Tumors sehr wechselnd. Wir haben 
den Tumor als ein „embryonales epitheliales Gliom“ bezeichnet. 

Die zweite Art der Veranderung des Gliagewebes bestand in einer 
starken Wucherung desselben, bei welcher zahlreiche neue Zellen, 
aber auch zum Teile grdBere Mengen von langen Gliafasem auftraten. 
Diese Wucherung der Glia ging augenscheinlich aus von der 
Mitte der dorsalen Begrenzung des Zentralkanales. Gleich- 
zeitig mit der Gliaveranderung zeigte sich eine starke Erweiterung 
des Zentralkanales, eine Hydromyelie, und weiterhin, nach den 
caudalen Teilen mehr zunehmend, eine sehr starke Ausbildung 
von erweiterten Lymphliicken, welche zum Teil direkt mit dem 
Zentralkanale in Verbindung standen und von der Gliawucherung aus 
iibertretend zum Teil weithin das Ruckenmark durchzogen, so daB auch 
von dem ventralen Zentralkanale aus derartige Liicken ausgingen und 
bis zur vorderen Fissur hinzogen. Durch diese Gliawucherung wurde in 


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P. Schiefferdecker und E. Leechke: 


dem kranialen Teile das Riickenmark sehr stark nach hinten verlangert 
und sehr erheblich vergroBert, die Fasem und Zellmassen grenzten direkt 
an die Piaanlage an, doch war niemals ein tTbertreten von mesodermalen 
Teilen in das Riickenmark oder ein solches von Gliagebilden in das Meso¬ 
derm sichtbar. Die beiden Gewebsteile beriihrten sich nur. Dadurch, 
daB die Wucherung gerade von der Mitte des dorsalen Ependymepitheles 
ausging, war es geschehen, daB das sonst hier an dem dorsalen Ende 
des Zentralkanales Uegende dorsale Keilepithel, welches sich bei der 
Silberbehandlung deutlich braun gefarbt hatte, in zwei Abschnitte zer- 
teilt worden war, welche rechts und links von der Glia wucherung an 
dem stark erweiterten Zentralkanale anlagen, zunachst etwa in der 
H6he des dorsalen Endes der Hinterstrange, wo dieses Epithel auch sonst 
zu liegen pflegt. Der eigentliche normale Ort des Zentralkanales befand 
sich dementsprechend ventral von den beiden Dreiecken, in welche das 
dorsale Keilepithel zerfallen war, und war in dieser Ausdehnung auch 
von einem normal erscheinenden Ependymepithele ausgekleidet. Die 
dorsale, der Wucherung angehdrende Partie der Begrenzung des Zentral¬ 
kanales zeigte dieses Ependymepithel nicht mehr, sondem erscbien nackt. 
Diese dorsale Glia wucherung beschrankte sich nun aber weiter caudal- 
warts nicht mehr auf die Verlangerung des Riickenmarkes nach hinten, 
sondem wucherte von jenem breiten Stiicke aus, das dorsal den Zentral- 
kanal begrenzte, in diesen hinein und durch diesen hindurch bis nach dem 
ventralen Ende desselben hin und bildete so eine dicke Scheidewand, 
durch welche der Zentralkanal in eine rechte und linke, schmale und 
lang gestreckte Halfte zerfiel, an deren jeder noch wieder eine braune 
Dreiecksfigur ansaB, entsprechend dem in zwei Halften zerlegten 
dorsalen Keilepithele. Durch diese den Zentralkanal durchsetzende 
Scheidewand war aber weiter auch das ventralste Ende des Zentral¬ 
kanales mit dem ventralen Keilepithele, von den beiden dorsalen Zentral- 
kanalteilen abgetrennt worden und blieb nun als ein kleiner ventraler 
Zentralkanal, der vorderen Commissur mit seinem vorderen Keil¬ 
epithele dicht anliegend, fast iiber die ganze Ausdehnung der erkrankten 
Stelle hin sichtbar. Nur auf eine kurze Strecke hin war er, augenschein- 
lich unter dem Einflusse der Ein wucherung des Vorderstrangtumors 
zusammengepreBt und von dem Gliagewebe durchwachsen worden. 
Das dorsale Epithel dieses ventralen Zentralkanales war durch diese Ab- 
trennung auch etwas unregelmaBig geworden, erschien aber immer noch 
als ein deutliches Ependymepithel. Weiter caudalwarts wurde das Ge- 
webe der Glia wucherung immer lockerer und schwammiger, immer mehr 
groBe Lymphliicken tauchten in ihm auf. Die Wucherung veranderte 
dabei mehr und mehr ihre Form, ihre dorsale Ausdehnung lieB mehr 
und mehr nach, sie wucherte weiterhin auch mehr ventralwarts in das 
Riickenmark hinein, und dabei wurden dann die beiden Abteilungen 


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Ober die embryonale Entstehung von Hohlen im RUckenmarke. 


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des dorsalen Zentralkanales auch mehr oder weniger in Mitleidenschaft 
gezogen, teilweise auf geringe Strecken vCllig durchwuchert, traten dann 
aber wieder auf, wobei die dunkel gefarbten Zellen des dorsalen Keil- 
epithels immer wieder hervortraten und als Richtschnur dienen konnten. 
Als weitere anormale Bildungen traten dann aber, namentlich 
in den mehr caudalwarts gelegenen Teilen, zahlreiche Cysten auf, 
die mehr oder weniger langgestreckt und gewbhnlich von einem gut 
ausgebildeten Ependymepithele ausgekleidet waren und daher, Je nach- 
dem man das wollte, bald mehr als Cysten, bald mehr als neue Zentral- 
kanale bezeichnet werden konnten. Diese Cysten oder Kanale 
lie Ben niemals einen Zusammenhang mit den verschie- 
denen Abschnitten des urspriinglichen Kanales erkennen, 
lagen im Gegenteile fast immer ganz weit ab von diesen in 
den Seitenteilen des Riickenmarkes. Ein Epithel von der 
Art des ventralen Keilepitheles wurde in ihnen niemals 
gefunden, dagegen in zwei Fallen ein solches von der Art 
des dorsalen Keilepitheles, und zwar ebenfalls in beiden 
Fallen an der dorsalen Seite gelegen. Auch in dem diese Cysten 
und Kanale auskleidenden Ependymepithele fanden sich zahlreiche 
Liicken, welche mit dem das Riickenmark sonst durchziehenden Lymph- 
liickennetze in Verbindung standen. Es war also zweifellos, daft 
die in den Abkommlingen des urspriinglichen Zentral¬ 
kanales enthaltene Fliissigkeit mit den Lymphliicken im 
gesamten Riickenmarke und mit der Fliissigkeit in den 
Cysten oder Nebenkanalen in Zusammenhang stand. 


Es fragt sich nun, wie wir die Bilder, welche wir von der MiBbildung 
erhalten haben, deuten kSnnen. Es ist hierzu ndtig, auf den normalen 
Bau des Riickenmarkes zu verschiedenen Zeiten der Ent- 
wicklung etwas naher einzugehen. 

Bei einem normalen drei Tage alten Hiihnchen (Fig. 10, Taf. IV) 
sieht ein Riickenmarksquerschnitt bei der Silberfarbung nach 
Cajal (Alkohol, Silber) etwa so aus, wie der hier abgebildete. 

Die Form des Zentralkanales kann dabei verschieden sein, hier war sie zuf&llig 
so, wie dargestellt. Man sieht, daB die dicken Seitenwande aus Reihen von Zellen 
bestehen, deren Kerne deutlich hervortreten und die Lage der Zellen andeuten. 
Nur an der huBersten Peripherie finden sich bereits Nervenfasem, die von hinten 
nach Tome heriiberziehen, vome seitUch sieht man die erste Andeutung der vor- 
deren Wurzel und um diese herum die ersten Spuren der weiBen Substanz. Ven¬ 
tral wird der Zentralkanal abgeschlossen durch die Bodenplatte, deren Zellen 
hier in 2—3 Reihen liegen und sich durch die langgestreckten hellen Zellkorper, 
deren Kerne mehr ventral liegen, schon auf diesem Stadium deutlich von den 
Zellen der Seitenplatten unterscheiden, deren K&rper nicht so lang hervortreten 
nnrl dunkler gef&rbt erseheinen. Dorsalw&rts wird der Zentralkanal abgeschlossen 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


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durch die Deckplatte, deren ZeUen hier noch im wesentliohen in einer Reihe liegen 
und ebenfalls verh&ltnismaBig lange Zellkorper erkennen lassen, die aber doch 
nicht so lang sind, wie die der Bodenplatte. Wie man sieht, grenzt die Piaanlage 
unmittelbar an die dorsalen Enden der Zellen an und die Kerne dieser liegen etwas 
mehr nach dieser Gegend hin verlagert. Die ZeUen der Bodenplatte stehen deut- 
Ueh radiftr, bei den ZeUen der Deckplatte tritt das nur bei den seitlichen ZeUen 
deutUcher hervor und hier sieht man dann auch in weiterer Fortsetzung, wie die 
Kerne der hier liegenden ZeUen ziemlich stark nach auBen abweichend nach der 
Peripherie des Riickenmarkes hinziehen. 

Der Riickenmarksquerschnitt besteht in dieser Zeit bekanntlich 
noch fast ganz aus den epithelialen Ependymzellen und den sich 
von diesen ableitenden Zellen, die spater zu Gliazellen werden, Neuro- 
blastensind zu dieserZeit erst in geringerMenge vorhanden. 
Das Riickenmark ist also noch im wesentlichen ein Organ, das sich aus 
dem emahrenden Gewebe aufbaut, welches diese Funktion ja auch spater 
beibehalt und auBerdem mehr oder weniger deutlich als Stiitzgewebe 
funktioniert. 

Die Silberfarbung nach Cajal ist ja eigenthch nicht geeignet, die Epithel- 
zeUen dieses emahrenden Gewebes in ihrer Form und in ihrer Anordnung darzu- 
steUen, es ist ja gerade der Vorteil dieser Methode, daB sie mit AusschluB des 
Gliagewebes das Nervengewebe darsteUt und dieses infolgedessen besonders 
klar hervortreten l&Bt. Wir haben es bei der hier beschriebenen MiBbildung in- 
dessen doch mit Schnitten zu tun, die nach Caj^l gefarbt worden sind, und so 
muB man aus diesem Grunde schon auch normales, in dieser Weise gef&rbtes 
Riickenmark zum Vergleiche heranziehen, und dann laBt sich bei der Cajal- 
farbung auch einiges erkennen, worauf wir die Aufmerksamkeit lenken mochten. 
Weit besser als die Cajalfarbung ist ja bekanntUch die Golgif&rbung dazu ge¬ 
eignet, die Glia auch in diesen friihen Stadien darzusteUen. Diese BUder sind so 
bekannt und liegen in so ausreichender Weise auch gerade fiir das Riickenmark 
des sich entwickelnden Hiihnchens vor, daB es uns zwecklos erschien, noch neue 
solche Pr&parate herzusteUen und AbbUdungen davon hier zu geben, zumal die 
Anzahl der Abbildungen in dieser Arbeit so wie so schon eine auBerordentlich 
groBe ist. Wir verweisen wegen dieser GolgibUder auf das bekannte Buch von 
Lenhoss^k 87 ), auf die prachtvoUen Abbildungen, die Retzius seinerzeit gegeben 
hat 88 ) und auf die ausfiihrliche Beschreibung und die schonen Abbildungen, welche 
Cajal in seinem groBen Handbuche 39 ) gegeben hat. Die Golgifarbung zeigt 
bekanntlich viele Details auBerordentlich deutlich, aber verhaltnismaBig nur an 
wenigen Elementen (wodurch ja gerade ihre Deutlichkeit mit bewirkt wird) und 
zeigt auch manches nicht, was bei der Cajalfarbung hervortritt. 

Die wiederum halb schematische Abbildung des Querschnittes 
des Riickenmarkes von einem 4 Tage alten Hiihnchen (Fig. 33) 
zeigt schon deutlich die vorderen und hinteren Wurzeln und grdBere 
Mengen von weiBer Substanz sowie einen grftBeren Teil des Riickenmarks- 
querschnittes, der hier, entsprechend den friiheren Abbildungen, einfach 
durch einen grauen Ton dargestellt ist, in welchem Nervenelemente 
und zerstreute Gliaelemente gemischt liegen. 

Diese Teile sind hier nicht genauer dargestellt worden, da fiir unsere Betracti¬ 
tling nur die W&nde des Zentralkanales in Frage kommen. Wahrend der soeben 


Go 'gle 


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liber die embryonal* Eatefeiuuig voirlltthiep im'liackgnmurko. 


besclmebeiie to 3t&gigeii Huhriehen* b*n einer VtTgrb0<*rung tou 5t$2 

gezeici&ret ist, urn 1 dieter mrr bet wltihen wm 1ST gezeuvhnet wud es 

gilt T£<a Va* wirr Ton dtm f* uher**n Abbildungon fur die MiBbUdung 

geett^-i^S&r-,4^S-- .«*• luiJb^beioatisob rift* ;d^'-;ii!yqf diejenigen Trile dargmbfeJlt 
warden i?iiid s dje ep/zieil h&trxirtrvi&i soHfceri^nd daS die Kerne und ZelJen* weteho 
don &ntmQ<rtiu\icd fiing^b«Hi r groto jpjS^jp sind and in geringerer- Atuahl ew- 
gez&fckaei warden $md- ste to Natur Mtftfprieht^. £>fe vordero Ooramiim'hit Am*&- 
fiur &ch«mAt<ecii wjgctortet. An( dkisef. balWhertiatw^hro Pigur triit- afthoii 
deutiich bem^r> dad slot die Zellen tier Xteckpjattei und tier Bod.en{>!*tt* ^rhe^ 
liob vtraielxrf fraben d*0 sio ijtrean ganz^n AudseJion narh &ch diWfiob v»p 


uj *-Ciy^a $ &&& 

MS; 


denen to b>itonpjAtton nntersfchekUm. Din Hetoiplatten teighri wiedter deutlick 
die Ke'mroifeiep r -die nsuh. deni dnr*aleu Ende to ^uckeiioiark^ zu bogenfanuig 
nach den Seiten bin umbiegen and so bis au die skh Kier biidonden weiCl?n ^into?r« 
str&ixge beranmchen. 0te Zefleu dor Dedqdatte b^i^n mco m rlitom Stadium 
faekerforraig tmdi don fteitern Mil to, *d : d&fi die $m metto» stntiich gele^nnn 
sohoti fast in die Horixoiitak urnkiegon Die Kerne iiegen jetat toitlioh awe U 
hie dreireih%. Snch toitiicto rretvn dies? Verhalirtoe hervor anf der nafcurg^treuets 
bed 502maliger Yerghotoung ,ge*fiiohneto« Fig* 11 TaJF, IT. Man siebt hier dent- 
lick, ww die lan geo, tcilWito juemlicJb stark. geschnr/npfU'ii and ditor duroh gr5* 
Bore Liickejv voneinander ^brenttoi Zellen Von dem Zenir^lkamUe an^ hiitdiirch- 
aehetv bm an der Pia/uiIagE imd *ich bier bald nvit fifcbj ato&niendtftk ladd aiit 
pecht <lvikwi Esulen anlegen. Dbisf-r p\nix Epitbelsbvifea tier DeckpUitte tM^ebeint 
heller als die S<^tten£ilaltert 1 e* boruht dies einmal daratif, dkO die ZelJen cneltr 
etder mnrtger gcsciinmipft »md. und daB iafolg^des^n xwi^ob.e.u. ihm?n hello Ltkton 
entetanden Bind, abt>r xweitrna «ind aueh dte ZeJJen *r)h*'t, und flas Ivalb'il wir fur 
«ehr weaentlioh, deutbeh heller gifarlit <fee y .wldK^kri iiegen. 



)igitizec 



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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


Man sieht auf dieser Abbildung deutlich, wie diese hellen Zellen nach den Seiten 
bin ganz schr&g, mitunter fast horizontal liegen und unmittelbar angrenzen an 
die dunkleren Zellen der Seitenplatten, die an diesen Angrenzungsstellen schon 
in bogenformigen, durch die Kerne deutlich hervortretenden Reihen seitlich um- 
biegen, wie das auf der halbschematisohen Fig. 33 deutlich zu erkennen ist. Das 
Ependymepithel wird gegen das Lumen des Zentralkanales hin wieder von einem 
deutlichen Saume begrenzt, der auch an der Deckplatte sehr deutlich hervortritt, 
hier aber so breit ist, daB sicher die untersten Zellenden schon mit eine dunkle 
F&rbung angenommen haben und so die grdBere Breite des Saumes entstehen 
lassen. 

In Fig. 12, Taf. IV ist ein naturgetreues Bild bei ebenfalls 562facher 
VergrftBerung von der Bodenplatte gegeben. 

Wie man sieht, liegen in den mittleren Teilen dieser die Kerne zweireihig, 
nach den Seiten hin mehrreihig, die Zellkorper sind wieder ziemlich stark ge- 
schrumpft und lassen infolgedessen groBere Liicken zwischen sich. Das ganze Ge- 
biet mit seinen langgestreckten Zellkorpern erscheint weit heller als die unmittelbar 
angrenzenden Teile der Seitenplatten, deren Zellen weit weniger stark geschrumpft 
sind. Aber auch hier, gerade so wie bei der Deckplatte, ist wieder deutlich zu er¬ 
kennen, daB auch die Zellkorper der Bodenplatte an sich heller gefarbt sind als 
die der Seitenplatten, so daB die hellere Farbung des ganzen Gebietes sich aus der 
helleren Farbung der Zellkorper und aus den zwischen ihnen befindlichen hellen 
Liicken zusammensetzt. Der Saum, welcher die Ependymzellen der Seitenplatten 
breit und dunkel iiberzieht, erscheint an der Bodenplatte weit zarter. An der 
ventralen Seite, den Kernrcihen unmittelbar anliegend, sieht man die vordere 
Commissur mit ihren feinen, sich unter spitzen Winkeln kreuzenden Nervenfasem. 
Die von den Golgi bildem her bekannten Fortsatze dieser ZeUen der Bodenplatte, 
welche durch die Commissur mit mannigfachen Ver&stelungen und Durchflech- 
tungen hindurchziehen und so die hier liegenden Nervenfasem umflechten, sind 
hier nicht sichtbar. Man sieht aber deutlich, daB die Kemreihen dem dorsalen 
Rande der Commissur anliegen. Ventral von der Commissur liegt die Piaanlage, 
welche von dem Riickenmarksschnitte infolge der Schrumpfung durch einen mehr 
oder weniger breiten Spalt getrennt ist, und von ihr aus sieht man an den beiden 
Seiten der Commissur GefaBe in das Riickenmark eindringen. Auf der halbscbe- 
matischen Abbildung ist einfach auf der einen Seite ein solches Gef&B hineinge- 
zeichnet worden, auf der naturgetreuen Abbildung sieht man an der entsprechen- 
den Stelle eine Reihc von Gef&Bkernen in der entsprechenden Richtung in das Riicken- 
mark hineinziehen, wahrend auf der anderen Seite der Commissur ein schmaler 
Gef&Bkanal gezeichnet ist, der sich hell von der Umgebung abhebt und durch einen 
langgestreckten Wandkern deutlich als ein solcher charakterisiert wird. Die hier 
nicht erkennbaren ventralen Enden der Zellen der Bodenplatte wiirden hindurch¬ 
ziehen bis zu der ventralen Grenze des grauen Streifens, in welchem die Com- 
missurfasem liegen und wiirden hier wieder unmittelbar angrenzen an die Pia¬ 
anlage. 

Wie man auf den Fig. 11 und 12 erkennt, tritt in diesem Stadium der 
Entwicklung sowohl in der Deckplatte wie in der Bodenplatte schon sehr 
deutlich (in geringerem Grade Ja auch schon friiher) die eigentiimliche 
Keilform der hier liegenden Zellreihen hervor: Der ,,dorsale und 
ventrale SchluBkeil" von Retzius. 

Auf Fig. 34 ist ein Ruckenmarksschnitt von einem 5 Tage alten 
nor male n Hiihnchen dargestellt worden. 


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Gck igle 


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Cbet dio embiyon^e Entetehimg von Hidden \ia Kttdtenmarke, 


In den. ztekl m;an dawtfich die K^rnmlioti, wolohe* cbest wic^eqr; 

hogenforcaig u^ib^eiidv bis nach don w&iBoa Hmterstr&jigen binziefyihl. Itt der 
N&he dee Ija.meria dea ^nf4‘aJkanak6 aieht man mnerb&Ib ike Eperid^nepiUieio& 
eino die deutlich chinfclor gefarkt hen r ortre1eri. 

Die D^kplatt^ iar *diraat gewordm, dafi me ak ^Platte** iwchfc 

mehr rw&l inipo&it&U Ahrend die Keilfumn um m dfeiithcher Uerrcwrtritk Darner 
Teil des 8chm*tes kt uul Fig, !3 r Ta£ V, frei ^Olaeher I^rgrosJerung nutargetmi 
dargesteflt wonlcn, wakrond die Fk J4 bei IhfJ.&cber. V^f^rdBeimiig wieder liatb' 
sBcbematkch iat Daa doraate Keilcpitkd, wie *ii dp^ Eprthei, der Dwkpkrtfce 


mehr KernreiUe>» j^ennrti, Xfifr langgeslracklen ^..Ukorjicr ireten. Ton deni Lti- 
men ck»,&yrit^vdlr^riiktea hindureh bm m d«r Piaankge, wo aic tedla nut 

broit*??***,, foik (arid A^itmxen Entkn der, I^aanlage anliegen. In diew-t k'tacteren 
sind Twe.i t,U8d&a v*:m BIutgef5ikTt ^r kenribar. Zwischen dein Riick^mrifirkv* und 
dt;r Fmut.'Sage wt a*;itlich jnfolgje tkr Hrhnmipkmg, *in schmaler Spaltraum ent- 
irtaiulen; 4tftafa v^'iohcn die ZeUrudcir kmdurchzi*d)«n. 

Jit i^wicMuixgsB^Jura Ted!* fler Zelleti dieses 

dorsaten K^teplthek schon anf cine weiteve-. Strecke,.h.m dureh da& 
Sillwr stark dunkct gefarbt A^il- -bildet «im> Figur, die Mellon an ein Dm- 
wi crirmertjd* die^ du^kkn Farbtnig bei tferi miuteren ZeUen des 
Keller Reiter -id* Vi fen /Bei die^-u miutenm 

Zeilea liegen auob die &>d deb* ; da.0’. 

Bin - Uugeras Stack dea y;wi dem Lufrien 

iie?s Zeixtralkanale^ freildeibt. ok dieses be) den seitUeheu Zelleu der 
Fall ist, Es scheiot also jatfct eine eigenartige Difference- 


Go gle 



60 


P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


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rung dieses dorsalen Keilepithels eingesetzt zu haben, 
bei welcher gleichzeitig die Form und die Beschaffenheit 
der Zellen sich nicht unwesentlich andert. Wie man sich er- 
innem wird, begann diese Differenzierung schon bei dem 4 Tage alten 
Hiihnchen (Fig. 11), wahrend sie bei dem 3tagigen noch nicht hervortrat. 

Von dem ventralen Keilepithel ist hier eine genauere Abbildung 
nicht gegeben worden, man erkennt aber auch auf Fig. 34 deutlich, 
daB die Anzahl der Zellen und der Kerne sich noch vermehrt haben, 
daB die Kemreihen wieder unmittelbar der Commissur anliegen, daB 
die langen Zellkorper des Epithels wieder heller sind als die Zellen der 
Seitenplatten und daB diese eigentiimliche Differenzierung des Ependym- 
epithels in dem ventralen SchluBkeile wieder nur genau so weit reicht 
als die Commissur geht. 

Die nachsten beiden Bilder (Fig. 14 und 15, Taf. V), welche aus ver- 
schiedenen Teilen des Riickenmarkes von einem Gtagigen nor male n 
Hiih nche n herriihren, lassen erkennen, daB die Form des Zentralkanales 
und seine Gr6Be sich jetzt anfangen zu andem. 

Auf Fig. 14 (VergroBerung 562), welche ein naturgetreues Bild des dorsalen 
Endes des Zentralkanales und der weiter dorsal liegenden Ruckenmarkspartie 
bis zur Piaanlage gibt, erkennt man deutlich, daB der dorsale Teil des Zentral¬ 
kanales schmaler geworden ist und sich stark zuspitzt. Die Zellen des dorsalen 
Keilepithels sind jetzt sehr schmal und lang geworden und bilden einen sehr 
spitzen und langen, dunkelgefarbten Keil. Die zun&chst seitlich an sie angrenzen- 
den Zellen des Ependymepithels der Seitenplatten haben sich ebenfalls langer 
ausgezogen und begrenzen die Seitenwande dieser Spitze des Zentralkanales. Sie 
haben aber eine nicht so dunkle Silberfarbung angenommen, wie die Zellen des 
Keilepithels. Der ziemlich breite Saum, welcher an den Seitenplatten die Ober- 
flache der Ependymzellen iiberziehend, den Zentralkanal begrenzt, nimmt naoh 
dem spitzen dorsalen Teile zu an Dicke ab. Dort, wo der dorsalste Teil des Riicken- 
markes an die Piaanlage anstoBt, sieht man, daB die Zellen des Keilepithels mit 
schm&leren oder dickeren Enden sich an die Piaanlage anlegen. Wo seitlich ein 
leichter Spaltraum auftritt, sieht man die Enden der Zellen klar durch diesen 
hindurch bis zur Pia hin verlaufen. 

Es spricht dies dafiir, daB hier ein engerer Zusammen- 
hang der Ependymzellen mit der Pia besteht, nicht etwa 
ein Ubergehen derselben In das Gewebe der Pia, sondern 
ein sehr inniges Anlagern, das vielleicht zu einem An- 
kleben gefiihrt hat. 

In Fig. 15 (Vergr6Berung 562) ist dieselbe Gegend aus einem anderen 
Abschnitte des Riickenmarkes desselben Tieres wiedergegeben worden. 

Man sieht hier, daB die beiden Seitenplatten in dem dorsalen Teile des 
Zentralkanales, der ja schon auf dem vorigen Bilde sehr schmal geworden war, 
sich bis zur Beriihrung eng aneinander gelegt haben, so daB man nur noch teil- 
weise eine Grenze erkennen kann. Immerhin sieht man eine solche im ventralen 
Abschnitte noch und weiter dorsalwarts findet sich sogar noch ein Stuck eines 
schmalen offenen Spaltes als tTberrest des alten Zentralkanales an dieser Stelle. 


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tTber die embryon&le Entstehung von Hohlen im Rtlckenmarke. 


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Map sieht, daB zu diesem Spalte hin wieder die lang ausgezogenen Zellkorper der 
Zellen des dorealen Ependymkeiles hinziehen und erkennt auch wieder ihre dunk- 
lere Farbung durch das Silber. Es sind hier nooh zahlreichere Zellen mit ent- 
Bprechend zahlreicheren Kernen vorhanden. Die Figur stellt ein weiteres Entwick- 
lungsstadium dar als die Fig. 14. Es entsteht jetzt aus dem „prim&ren“ Zentral- 
kanale durch allmahlichen VerachluB von der dorealen Seite her der „sekund&re“ 
Zentralkanal. An dem dorsalen Ende des Riickenmarkes war hier ein unmittel- 
bares Aneinanderliegen des Riickenmarkes und der Piaanlage vorhanden, so daB 
man nicht beo bach ten konnte, daB die Zellen des dorealen Keilepithels fester an 
der Piaanlage anhafteten, doch sieht man ja sehr deutlich das unmittelbare An- 
liegen deraelben. 

Wir mochten zu der eben gegebenen Beschreibung bemerken, daB das Ent- 
wicklungsstadium ein reichlich friihes fiir den SchluB des Zentralkanales ist. Wir 
ha ben bei Hiihnchen aus den n&chsten Bebriitungstagen den primaren Zentral¬ 
kanal noch vollig offen gefunden. Nun ist es ja aber bckannt, daB die Entwicklung 
der einzelnen Teile auch bei dem Hiihnchen individual sehr verechieden schnell 
vor sich geht, so daB es schon denkbar ist, daB in dem vorliegenden Falle der 
Zentralkanal in der Tat sich schon zu schlieBen bcgann. 

Eine Abbildung des ventralen Ependymkeiles von diesen Riickenmarksschnit- 
ten ist hier nicht gegeben worden, da sich eine wesentliche Anderung gegeniiber 
den friiheren Bildern nicht zeigte, sondem nur eine weitere Entwicklung. 

Fig. 16, Taf.V, stellt bei 420facher Vergrdflerung wieder den dorsal- 
sten Abschnitt des Zentralkanales und das dorsale Keilepithel von einem 
7tagigen normalen Hiihnchen dar, doch waren die Schnitte hier 
nicht mit Silber gefarbt, sondem mit Hamatoxylin. Trotzdem das Pra^ 
parat von einem alteren Hiihnchen herriihrt, entspricht die Bildung des 
Zentralkanales noch einem friiheren Stadium wie die in Fig. 14 und 16 
dargestellten. 

Das dorsale Ende des Zentralkanales ist noch nicht verechmalert, sondem 
noch breit ausgerundet. Man sieht sehr deutlich die groBe Anzahl der zarten Zell¬ 
korper des dorealen Keilepithels, deren Kerne weit von dem Zentralkanale ab- 
liegen. Die Zellkorper verlaufen wieder mehr oder weniger deutlich, wie das in 
der Zeichnung ausgedriickt worden ist, nach der Piaanlage hin, um sich an diese 
anzusetzen. Die Zellkorper des Keilepithels waren bei dieser Farbung vollkommen 
ungefarbt geblieben, und waren daher sehr schwer sichtbar. Bei der VergroBerung 
von 470, bei der diese Figur ausgefuhrt worden ist, traten sie nicht geniigend deut¬ 
lich hervor, und so sind sie unter Anwendung einer Olimmeraion eingezeichnet 
worden. Die Kerne traten dagegen sehr deutlich hervor. In der Piaanlage sieht 
man gerade dicht an der Grenze nach dem Ruckenmarke hin die Lumina zweier 
Blutgef&Be. Von dem einen sieht man gleich einem kolbigen Fortsatze einen Ast 
abgehen, der in das Ruckenmark hineinzieht. An den beiden Seiten der Figur 
erkennt man noch die dorealsten Abschnitte der Hinteretrange, die sich jetzt 
ein&nder schon mehr und mehr nahem. DaB dieser von einem 7tagigen Hiihn¬ 
chen herruhrende Schnitt ein jungeres Entwicklungsstadium darbietet als die in 
Fig. 14 und 16 abgebildeten Schnitte eines 6tagigen Hiihnchen ist ja an sich nicht 
wunderbar, da die verachiedenen Hiihnchen eine verechieden rasche Entwicklung 
zeigen und da auch die mehr kranialw&rts oder mehr caudalwarts liegenden 
Schnitte desselben Hiihnchen verechieden entwickelt sind. 

Ebenfalls ein verhaltnismaBig friihes Entwicklungsstadium mit noch 
weit offenem primarem Zentralkanale zeigt die halbschematische Text- 


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P. uml E. Lescbke 


ftgtir M te AOLfaober V ^rgrAfteriujg. Dienelbe stgJJt <miea • Rue ke n - 
m i t » us dor Oegend der bints re n Ex tr^mit aten 

.des|j.ei ;, be''!x‘. 7 t&gfge?* d ar, i n rleasen varderen 

A bsch Uiti'Qtv eieh die M j JJMld Un.g befandv Dieser hinttfre Tefl 
deb RuOkejvmarke« mt. dbeitl febboii erwatmt wurde, durehaw normal. 

Der Ruc&ejmi&Hksquerschoit f i<?t iofolgt* von Schnmipfutu* von dor umgeben- 
den Puut&Jage dturioh einen zieraJicli br»>ien SpaJtr&um getrotmt. Dicker Sobnjtfc 
ist bier aus rerjjehied.cnen Grawieii wiedergec^be.Ti wordwt- JDia 


fteh gegen die spitz au?dattfenderi Soil^nat rfrnge absetzen, li&ben 4*ch in dem dor- 
>aJefc 'leiie von der RikrkeiimarkssubstHTiz abgehobeu and pfy tfehr deutiudr 




fb : I " ■. . ' •:, ■ .;,. ;' : ;; 

die uiaehtjge Gli&formatum erkenmm* welcbe hter den dor&afon Abachmjtt &&%■ 
fefick^niparkft? bUdet. Wir wdlleo' .literati! tubht ge^gt b&ben, dad s&fntlfche 
hier dtircb Kertio •angcd^iioten ZelleteinenU*&pater zw Olia^leineQteu v?h rdoh r 
b'ibgob •• afcUdt noefa Nearob|aer^n daffwifechsiiliogpeits —— mail kramte. dieaelben iiv 
n<^f> nicht untett&ehfcklen — aberder bei w*item grc*0te Toil wird 
¥rjt)tr $n Gii^deraebteq. ’d.oraale-'.Abecihui£t den Riickanmarfces 

verbal! nism&$ig Olicr* 

Hkhreml, je Reiter man ventral geht* v e r li&l t tu 9m&6ig 
vw so %i]i ]\k: nervone Elomente herVortretbn. Man -sight deut lic-h. wiit das 
2$pitepiib fd fcte! e&Hti • naefc deni dorsalen Ende dee Zentralkarialee 

spits’K^’?J ■ mabti voni iSeutralkanale anageht, i&chte- 

fi'fnviji ‘•••der vVik.u-ht noeli b.*-8« r fodorbuschformig dor^aJwarl^ ?jeh verbreitert- 
*/di tbriden 8bm*n lichen elk- tiebn A^ehen, in die *ich die Von den Spin&lganglfcn 





tiber die embryonale Entstehung von Htthlen im Rttckenmarke. 


63 


her hereingewucherten weiBen Hinterstr&nge hineingelagert haben. Die braune 
Farbung des dorsalen Keilepithels trat hier, wie das auch die Figur zeigt, nor wenig 
hervor, das ventrale Keilepithel dagegen hob sich wieder sehr deutlich hell ab. 
An der rechten Seite sieht man an der Stelle, wo dieses Keilepithel an das der 
Seitenplatten anstoBt, eine durch das Epithel hindurchziehende langliche Liicke, 
die hier dargestellt worden ist, da sie sich iiber mehrere aufeinanderfolgende 
Schnitte erstreckte. Ob es sich trotzdem um ein Kunstprodukt handelt, oder 
ob sie wirklich im Leben vorhanden war, wollen wir unentschieden lassen. Der 
dorsale Ependymkeil wiirde sich natiirlich, bevor die Schrumpfung eingetreten 
war, mit seinen Zellenden an die Piaanlage dicht angelegt haben, wie wir das auf 
den vorigen Schnitten schon gesehen haben. Gerade an dieser-Stelle der Piaanlage 
nun liegen hier BlutgefaBe, welche unmittelbar an dem ventralen Rande der Pia¬ 
anlage sich befinden. Wir haben auch bei den friiheren Schnitten schon mehrfach 
Gelegenheit gehabt, darauf hinzuweisen, daB an dieser SteUe sich Blutgef&Be 
in ahnlicher Lage vorfanden. Die Zellen des dorsalen Keilepithels wiirden sich 
also der Piaanlage an einer Stelle anschmiegen, an der jedenfalls haufig Blut¬ 
gefaBe dicht am Rande liegen. 

In Fig. 17, Taf. VI, ist ebenfalls von einem 7tagigen, mit Silber be- 
handelten normalen Hiihnchen ein Teil eines Riickenmarkschnittes 
abgebildet, der das ventrale Keilepithel, die vordere Commissur und 
die angrenzenden Teile des Ependymepithels erkennen laBt. 

Man sieht hier wieder sehr deutlich, wie scharf sich das ventrale Keilepithel 
von dem Epithel der Seitenplatten abhebt: Die langen Zeilkorper des Keilepithels 
sind wieder heller als die der seitlichen Ependymzellen und zeigen wieder eine 
starke Schrumpfung, so daB groBe helle Liicken zwischen ihnen entstanden sind. 
Die jetzt schon mehrfachen Kemreihen liegen wieder dicht gedrangt der dorsalen 
Wand der vorderen Commissur an, welche hier nur einfach durch einen grauen 
Ton wiedergegeben worden ist. Die Fortsatze der Keilepithelzellen durch die 
Commissur hindurch waren hier nicht sichtbar, und sind infolgedessen auch nicht 
weiter dargestellt worden, ihr Verhalten ist von den Golgipraparaten her zur 
Geniige bekannt und hat fiir uns kein besonderes Interesse. Man sieht weiter 
deutlich, dafl das Keilepithel nur so weit geht wie die vordere Commissur, und 
daB in dieser so gut wie gar keine Kerne zu sehen sind. Diese Figur ist wieder 
bei 562facher VergrdBerung gezeichnet und ruhrt von einem anderen Silberhiihn- 
chen her als das, bei dem die oben beschriebene MiBbildung gefunden wurde. 
Die Verhaltnisse des dorsalen Keilepithels entsprechen so gut wie genau denen 
von dem 6tagigen Hiihnchen auf Fig. 15, auch in diesem Falle waren wieder an 
der Stelle, an der sich die Zellenden des dorsalen Keilepithels an die Piaanlage 
ansetzten, BlutgefaBe in dieser vorhanden, die nahe dem Rande lagen. 

In Fig. 18, Taf. VI, ist bei 250facher VergrOBerung der ganze mittlere 
Abschnitt eines Riickenmarksquerschnittes von einem 10- 
tagigen normalen Hiihnchen nach Behandlung mit Silber naturge- 
treu dargestellt worden. 

Wie man sieht, ist der Zentralkanal hier schon von der dorsalen Seite her 
allm&hlich so weit geschlossen worden, daB von dem prim&ren Zentralkanale nur 
das ventralste Stuck als sekundarer Zentralkanal iibrig geblieben ist. An dem 
ventralen Ende dieses Zentralkanales sieht man sehr deutlich das ventrale Keil¬ 
epithel mit seinen langen Zellkorpern und dichten Kemreihen liegen, doch grenzen 
diese Kemreihen jetzt nicht mehr so unmittelbar an die vordere Commissur an, 
sondem es haben sich jetzt weitere Gliakeme dazwischengeschoben. Das Epen- 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


dymepithel der Seitenplatten ist ebenfalls deutlich sichtbar, aber jetzt schon 
durchaus auf die n&chste Umgebung des Zentralkanales beschr&nkt. An der 
dorealen Seite des Kanales sieht man wieder eine deutliche dunkler gef&rbte Sil- 
berfigur, die noch etwas von der Dreiecksform erkennen laBt, und in der eehr lange 
zarte Zellkorper liegen, die sich nun aber nicht mehr deutlich bis nach dem dor- 
salen Rande des Riickenmarkes hin verfolgen Lassen. Etwa in der Mitte des Weges 
von dem dorsalen Ende des Zentralkanales bis zu dem dorsalen Ende des Riicken- 
markes sieht man einen langlichen braunlichen Streifen liegen. Wir haben auf 
Fig. 15, Taf. V, gesehen, daB beim Schlusse des Zentralkanales die Seitenplatten 
sich in dem dorsalen Ende des Zentralkanales, der vorher schon erheblich schm&ler 
geworden war, also unterhalb der Silberfigur des dorsalen Keilepithels, zusammen- 
legten und so den Zentralkanal schlossen. Es wiirde dann die Silberfigur des 
dorsalen Ependymkeiles dorsal von dem spateren dorsalen Ende des sekund&ren 
Zentralkanales im Gewebe des Riickenmarkes liegen bleiben miissen, falls in der 
Tat der SchluB des Zentralkanales nur durch das Zusammenlegen der Seiten¬ 
platten zustande kommt. Der hier soeben beschriebene braune Fleck auf Fig. 18 
wiirde dann voraussichtlich dieser braunen Silberfigur des friiheren dorsalen Keil¬ 
epithels entsprechen. Man miiBte dann annehmen, daB sich an dem dorsalen Ende 
des jetzigen sekundaren Zentralkanales ein neues dorsales Keilepithel aus den am 
ventralsten gelegenen Ependymzellen der Seitenplatten gebildet hat, und daB 
sich dieses wiederum in der VVeise differenziert hat, daB es zur Bildung einer 
neuen Silberfigur Veranlassung gibt. Man sieht auf dieser Abbildung femer, daB 
sich die weiBen Hinterstrange einander weiter stark genahert haben, und daB 
zwischen ihnen jetzt ein Gewebe liegt, das nur in seinem mittleren, schmalsten 
Teile noch an die Beschaffenheit des dorsalen Keilepithels einigermaBen erinnert, 
w&hrend die breiteren, seitlicher hegenden Teile mehr den Typus des Gliagewebes 
des iibrigen Ruckenmarkschnittes aufweisen. Es ist also in der Zeit vom 7. bis zum 
10. Tage eine sehr wesentliche Anderung in diesem ganzen dorsalen Abschnitte 
eingetreten. 

Eine noch weitere Veranderung zeigt Fig. 19, Taf. VI, welche von 
einem 11 tagigen Hiihnchen herriihrt und ebenfalls bei 225facher Ver- 
grOBerung gezeichnet ist. 

Der Zentralkanal ist noch erheblich kleiner geworden und hat eine mehr 
rundliche Form angenommen. An seinem dorsalen Ende liegt wieder die dunkle 
Silberfigur, die eine durch die langen Zellkorper bedingte feine Streifung erkennen 
l&Bt. Die weiBen Hinterstrange haben sich jetzt einander so weit genahert, daB sie 
einander fast beriihren, nur ein ganz schmaler Streifen von Gliagewebe liegt noch 
zwischen ihnen, das spatere Septum posterius, das sich jetzt schon seiner defini- 
tiven Form sehr nahert. In dem Verlaufe dieses Septumstreifens sieht man nun 
wieder einen l&ngeren br&unlich gefarbten Streifen liegen, seiner Lage imd seinem 
Aussehen nach durchaus entsprechend dem in Fig. 18 dargestellten. Nach der 
oben gemachten Annahme wiirde er wiederum als der Dberrest jenes pri m&ren 
dorsalen Keilepithels anzusehen sein. Der ventrale Abschnitt dieses mitt¬ 
leren Riickenmarkstreifens ist hier nicht weiter gezeichnet worden, da er gegeniiber 
der Fig. 18 nichts Besonderes zeigte. 

Vergleicht man mit den eben gegebenen Bildem diejenigen, die bisher 
nach Golgipraparaten fur den SchluB des Zentralkanales gegeben wor¬ 
den sind, so sieht man, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, ahnliches. 
So hat Cajal 39 ) eine Abbildung gegeben (Fig. 260, S. 626) von der Lum- 
balmarke eines menschlichen Embryos von 44 mm Lange. 


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L v ber die embryonal© Entatehung- von Htfhlen im Rflckenmarke. 


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Man sieht auf dereelben aehr deutlich, dab der Zentralkanal von der doraalen 
Seite her sioh zu einem ganz engen Spalte geschlossen hat, an (lessen beiden Seiten 
die Ependymzellen der Seitenplatten deutlich hervortreten, die jetzt nur duroh 
diesen ganz achmalen Spalt getrennt sind und sich also voraussichtlich bald be- 
ruhren werden. Man muB ja dooh annehmen, daB dieaer sohmale Spalt sehr bald 
vollig verachwinden wird und daB ein solides Gewebe an seine Stelle tritt. 

In Fig. 261 auf S. 629 gibt Cajal dann ein weiteres Bild eines 
spateren Stadiums von der neugeborenen Maus. 

Man sieht hier von dem dorsalen Ende dee ganz kurz gewordenen Zentral- 
kanalee einen Zng von langen Zellkorpem ausgehen, in dem einige wenigo Kerne 
liegen, und der bis an die Peripherie des Riickenmarkes rcicht. Zu beiden Seiten 
dieeee Zuges liegen Gliazellen, welche in ihrer Lage denen etwa entsprechen, welche 
vorher als Ependymzellen der Seitenplatten den achmalen Spalt begrenzten. 

Cajal spricht sioh auf S. 627 kurz fiber diese Verhaltnisse aus. 
Damach hat beim neugeborenen Tiere das Epithel des Septum posterius 
die Form eines sehr langen Biindels angenommen, das vom Zentralkanale 
bis zur dorsalen Media nfurche geht. Aber nicht alle seine Element© 
verlaufen iiber diese ganze Strecke hin, diejenigen, die von dem Kanale 
aus in der Raphe bis zu der dorsalen Furche hin verlaufen, besitzen 
diese groBte Lange, die Mehrzahl aber der sonstigen sind weit kiirzer. 
Alle haben ihre Endigung unter der Pia mater, aber ihr mit einem Kerne 
versehener Kbrper liegt verschieden weit von dem Zentralkanale ab, 
langs der Raphe. Diese Anordnung ist iibrigens nur die Folge der Art 
und Weise, wie sioh der hintere Teil des Kanales geschlossen hat. Nach 
diesem Schlusse haben sich die hinteren Epithelzellen nach vom begeben 
miissen, um das dorsale Keilepithel wiederherzustellen. Wahrend dieser 
Wanderung sind die einen ans Ziel gelangt und umgeben den Zentral¬ 
kanal, wahrend die anderen, die zuriickgeblieben sind, sich stufenweise 
langs der Medianebene angeordnet haben. Cajal fiigt dann noch hinzu, 
daB die peripheren Fortsatze der Epithelzellen des Septum posterius 
wahrend ihrer ganzen Entwicklung ungeteilt bleiben. Ihr auBerstes 
Ende endigt unter der Pia mater in dem Sulcus posterius mit einer 
konischen Anschwellung, ihr zentrales Ende, das diinn ausgezogen ist, 
ist unregelmaBig und besitzt keine Limitans, selbst nicht bei den Ele- 
menten, welche den Zentralkanal begrenzen. 

In dieser Weise spricht sich Cajal iiber die Vorgange beim Schlusse 
des Zentralkanales aus. Damach miiBten also die Zellen des dorsalen 
Keilepithels des primaren Zentralkanales, nachdem infolge des Sich- 
aneinanderlagems der Seitenwande der dorsale Teil des Zentralkanales 
vollstandig geschlossen worden ist, zwischen alien hier liegenden Kdrpern 
der Ependymzellen der Seitenwande hindurchwachsen, um das dorsale 
Ende des sekundaren Zentralkanales wieder zu erreichen und so von 
neuem den SchluBkeil dieses Kanales zu bilden. 

DaB man auf Golgipraparaten in dem Septum posterius in 

Z. f. d. g. Near. a. Piych. O. XX. 5 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


der Tat ein langes, bis nach der Peripherie hin durchziehendes 
Biindel von Ependymzellen findet, beweisen auch die so klaren Bilder 
in der Arbeit von Retzius 88 ), so die Fig. 3 auf Taf. 10 aus der 
Halsgegend eines 12 cm langen Hundeembryos und die Fig. 1 und 3 
auf Taf. 11 von menschlichen Embryonen, welche mit der Ab- 
bildung von Cajal durchaus ubereinstimmen. Es scheint uns, 
daB zwischen der ersten Abbildung von Cajal 88 ) (Fig. 260, 
S. 626) und der spateren (Fig. 261, S. 629) sowie den oben 
angefiihrten von Retzius noch eine Liicke bleibt in bezug 
auf die Vorgange bei dem Schlusse des Zentralkanales, die 
erst durch weitere Untersuchungen ausgefiillt werden muB. 
Jedenfalls findet man aber an dem neuen Ependymepithel des dor- 
salen SchluBkeiles bei dem sekundaren Zentralkanale wieder ein an den 
Zentralkanal angrenzendes Silberdreieck, das sich also aus irgendeinem 
Grunde wieder neu gebildet haben muB, geradeso, wie sich das erste 
an dem primaren Zentralkanale gebildet hatte. Es geht hieraus hervor, 
daB die Bildung dieser Silberfigur, d. h. also die besondere Differen- 
zierung der Enden der Ependymzellen des dorsalen SchluBkeiles, eine 
besondere Bedeutung haben muB. 

Es fragt sich nun, welches die Bedeutung dieser Silberfigur 
am dorsalen SchluBkeil ist, und wie sie zustande kommt. Wir 
konnten auf einer ganzen Reihe von Abbildungen aus verschiedenen 
Entwicklungsstadien des Hiihnchens zeigen, daB sich dieses dorsale 
Keilepithel in einer ganz besonderen Art und Weise verhalt und differen- 
ziert. Bei dem 3 tagigen Huhnchen trat diese Differenzierung noch nicht 
hervor, wenigstens war sie fur uns noch nicht sicher erkennbar. Bei 
dem 4 tagigen (Fig. 11, Taf. IV) sah man dagegen schon ihren Anfang*. 
Die Zellkorper der Zellen des dorsalen Keilepithels waren im ganzen 
heller gefarbt als die der Seitenplatten, zeigten eine weit starkere 
Schrumpfung als diese, setzten sich mit ihren Enden unmittelbar an die 
Piaanlage fest, breiteten sich von dem Zentralkanale dorsalwarts stark 
facherfdrmig aus und zeigten an ihren den Zentralkanal begrenzenden 
Enden bereits eine deutliche dunklere Farbung, die allerdings zunachst 
nur als ein schmaler Saum erschien. Bei dem 3 tagigen Huhnchen 
(Fig. 10, Taf. IV) war von dieser facherfdrmigen Ausbreitung nur erst der 
allererste Anfang sichtbar, der Unterschied zwischen dem 3 tagigen und 
dem 4 tagigen Huhnchen ist in dieser Hinsicht ein sehr groBer. Wenn 
die Zellen des dorsalen SchluBepithels sich nach der Pia hin so stark 
facherfdrmig ausbreiten, so wird dadurch erreicht, daB sie einem ver- 
haltnismaBig sehr groBen Abschnitte der Pia anliegen, einem Abschnitte, 
der etwa um das Doppelte grCBer ist als die Breite der Deckplatte betragt, 
welche ventral von denselben Zellen gebildet wird. Vergleichen wir hier- 
mit das Verhalten bei dem 6tagigen Hiihnchen (Fig. 13, Taf. V), so 


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tJber die embryonal® Entstehnng von Hflhlen im Ruckenmarke. 67 

sehen wir, daB hier der eben besohriebene Vorgang der starken dorealen 
Ausbreitung des dorealen Keilepithels noch erhebliche weitere Fort- 
schritte gemacht hat: Vergleicht man auf dieser Figur die Lange der den 
Zentralkanal begrenzenden Deckplatte mit der Strecke, auf welcher sich 
die peripheren Enden dereelben Zellen, welche diese Deckplatte bilden, 
an die Pia ansetzen, so sieht man deutlich, daB der GrflBenunteraohied 
ein noch weit erheblicherer geworden ist. Es ist das Ja nur dadurch 
mdglioh geworden, daB die Zellkdrper in ihren Zentralkanalenden 
auBerordentlich stark sich verechmalert haben, sie sind eben bei der 
weiteren Entwicklung vom 4. zum 5. Tage recht erheblich langer und 
schmaler geworden. Dieser ProzeB geht noch weiter, wie das von dem 
6tagigen Huhnchen gegebene Bild auf Fig. 14, Taf. V zeigt. Wahrend 
dieser beiden letzten Tage haben sich dann diese stark verlangerten 
und verschmalerten Zellkdrper auch insofem noch deutlich verandert, 
als sie Jetzt auf eine weite Strecke hin stark durch das Silber gefarbt 
zu werden vermochten, so daB Jetzt jene eigenartige Dreiecksfigur 
mehr und mehr hervortritt, die dann spater mehr zu einem schmalen 
braunen Streifen wird. Die Zartheit dieser lang ausgewachsenen Zell¬ 
kdrper tritt auf den Fig. 14 und 15 am Silberpr&parate Ja schon recht 
deutlich hervor, noch deutlicher aber vielleicht auf Fig. 16, Taf. V, 
welche nach einem Sublimatkarminpraparate gezeichnet worden ist. 
Auf dieser letzten Abbildung sieht man auch recht deutlich, daB der 
Saum, welcher als unmittelbare Begrenzung des Zentralkanales iiber die 
Ependymzellen der Seitenplatten heruberzieht, hier an dem dorsalen 
Keilepithele fehlt, oder wenigstens an dem Ja allerdings auflerat zarten 
Praparate auch mit Immersion nicht mehr zu erkennen war. Es wiirde 
dies ubereinstimmen mit der oben zitierten Angabe von Cajal. Wir 
haben nun schon bei der Beschreibung der Figuren 11, 13, 14, 15, 16 
immer wieder darauf aufmerksam gemacht, daB gerade an den Stellen 
der Piaanlage, an welche sich die Enden der Ependymzellen des dorsalen 
Keilepithels ansetzten, vielfach sich BlutgefaBe fanden, welche dem 
Piarande sehr nahe lagen. Das Gewebe der Piaanlage ist auBerdem ein 
sehr lockeres, in dessen feinen Liicken sicher eine Menge von Emahrungs- 
fliissigkeit vorhanden ist. Die hier nahe dem Bande gelegenen diinn- 
wandigen BlutgefaBe werden fortwahrend Fliissigkeit in die Umgebung 
austreten lassen reap, einen Stoffaustausch durch die GefaBwandung er- 
lauben, so daB man also sicher annehmen kann, daB die Enden der Zellen 
des Ependymepithels, die sich unmittelbar an die Pia ansetzen, und an 
dereelben auch, wie die Bilder, bei denen ein Schrumpfungsspalt zu 
sehen ist, erkennen lassen, an der Piagrenze recht feet anhaften, hier 
dure ha us in der Lage sind, Emahrungsfliissigkeit aus der Pia aufzu- 
neb men . Das Riickenmark des dreitagigen Huhnchens ist mm noch ge- 
f&Bloe, bei dem 4tagigen sieht man bereits von der ventralen Seite aus 

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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


die ersten Anlagen der Art. spinales anteriores zu beiden Seiten der 
Commis8ur in das Riickenmark hineinwachsen. (Man vergleiche die 
Textfig. 33 und die Fig. 12, Taf. IV), der ganze dorsale Teil des Riicken- 
markes aber und auch die ganzen Seitenpartien sind noch gefaBUos. 
Bei dem 7tagigen Huhnchen (Fig. 16, Taf. V) sieht man bereits einen 
GefaBast von einem PiagefaBe aus in den dorsalen Teil des Riickenmarkes 
hineinziehen. Es wird nun aber naturlich immerhin noch einige Zeit 
dauem, bis dies© in das Riickenmark hineingewachsenen GefaBe sich 
iiberallhin ausgebreitet haben. Jedenfalls spricht das ganze Verhalten 
des dorsalen Keilepithels bei dem 4tagigen, Stagigen, 6tagigen und 
7tagigen Huhnchen dafiir, daB wahrend dieser Entwicklungszeit das 
dorsale Keilepithel die besondere Funktion besitzt, Er- 
nahrungsflussigkeit aus der Piaanlage aufzunehmen und 
dem Zentralkanale zuzufiihren. Warum infolge dieser Funktion 
jene eigentiimliche starke Silberfarbung auftritt, laBt sich naturlich 
nicht ohne weiteres sagen, man kann aus derselben nur auf eine beson¬ 
dere chemische Differenzierung der morphologisch schon so stark 
differenzierten Zellkorper des dorsalen Keilepithels schlieBen. Diese 
eigenartige emahrende Funktion wird sicher noch, wenn allmahlich 
auch in mehr und mehr abgeschwachtem Malle, fortdauem, dafiir spre- 
chen die Bilder von den lOtagigen und lltagigen Hiihnchen (Fig. 18 und 
19). An dem Zentralkanale des erwachsenen Huhnes findet man eine 
solche Farbung nicht mehr. Bis zu welchem Entwicklungsstadium diese 
Farbung reicht, haben wir nicht untersucht. Die Fertigstellung dieser 
Arbeit wiirde sich durch solche Untereuchungen noch weiter verzOgert 
haben, und fiir die vorliegende Arbeit war diese Frage Ja auch belanglos. 
Bei dem Schlusse des primaren Zentralkanales dauert diese Funktion 
des dorsalen Keilepithels Jedenfalls noch fort, wenngleich in abgeschwach¬ 
tem MaBe, sonst wiirden sich nicht die Zellen des dorsalen Keilepithels 
wieder in derselben Weise differenzieren. Man sieht ja auch in der Tiefe 
des dorsalen Sulcus BlutgefaBe liegen, von denen der Emahrungsstrom 
wieder ausgehen wird. DaB sich die Zellen des dorsalen Keil¬ 
epithels infolge ihrer Funktion in dieser Weise differen¬ 
zieren, ist ein schones Beispiel fiir die Differenzierungs- 
fahigkeit der Zellen iiberhaupt. 

Nicht nur das dorsale Keilepithel, sondem auch das ventrale 
laBt eine besondere Differenzierung erkennen. 

Diese ist schon bei dem 3 tagigen Huhnchen (Fig. 10, Taf. IV) in ihren Anfan- 
gen zu erkennen und wird dann mit der weiteren Entwicklung immer deutlioher. 
Sohon bei dem 3t&gigen Huhnchen haben die ZeUen der Bodenplatte langere 
Zellkorper als die der Seitenplatten, und ihre Kerne riicken stark nach der Peri¬ 
pherie hin, so daB in diesem Entwicklungsstadium der ventrale SchluBkeil ziem- 
lich deuthch hervortritt. Bei dem 4 t&gigen Hiihnohen (Textfig. 33 und Fig. 12, 
Taf. IV) sieht man sehr deutlich, daB gerade so wie die Zellen des dorsalen Keil- 


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tJber die embryonale Entstehung von Htthlen im Rtlckenmarke. 


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epithels auch die des ventralen heller ale die der Seitenplatten sind und dabei 
infolge einer Btarken Schrumpfung grofle Liicken zwischen sioh erkennen lassen, 
welche zwischen den Zellen der Seitenplatten fehlen. Es ist also auch hier zweifel- 
los eine chemische Veranderung eingetreten, infolge deren die Zellen durch Silber 
weniger stark gef&rbt werden, dabei aber infolge der ganzen Behandlung starker 
schrumpfen als die Zellen der Seitenplatten. Dabei sind die Zellkorper st&rker 
ausgewachsen. Die Kerne liegen in mehreren Reihen der vorderen Commissur 
dicht an, moglichst weit vom Zentralkanale entfernt. Bei dem dorsalen Keil- 
epithele fanden wir etwas Ahnliches: Hier riickten die Kerne moglichst nahe an 
die Pia heran. Der ventrale SchluBkeil zeichnet sich infolgedessen, wie das auf 
Fig. 12, Taf. TV, sehr deutlich hervortritt, sehr scharf gegen die Umgebung ab und 
man vermag daher auch seine Ausdehnung nach den Seiten hin sehr genau zu be- 
stimmen: Er geht genau so weit, als die vordere Commissur geht. Bei 
dem 5t&gigen Huhnchen (Textfig. 34) tritt dasselbe Bild hervor, nur haben sich 
die Zellen und die Kerne noch vermehrt, dasselbe gilt fiir das 7tagige Huhnchen 
(Tertfig. 35 und Fig. 17, Taf. VI). Auch hier sind die Zellen wieder sehr stark ge- 
schrumpft, die Kerne liegen in dichtgedr&ngten Reihen, der SchluBkeil geht wieder 
genau so weit wie die vordere Commissur. Wenn man die vordere Commissur 
auf den eben genannten Abbildungen betrachtet, so sieht man, daB sich in ihr 
keine Kerne finden. Sie ist erfiillt von Nervenfasem, die, sich unter spitzen 
Winkeln kreuzend, von einer Riickenmarkshalfte zur anderen heriiberziehen 
(Fig. 12, Taf.IV, auf Fig. 17 sind diese Nervenfasem nicht eingezeichnet worden), 
aber Kerne sind in ihr nicht enthalten. Die zahlreichen Kerne der Gliazellen des 
Ruckenmarkes horen scharf zu beiden Seiten der Commissur auf. In dem weit 
spateren Entwicklungsstadium des 10 t&gigen Huhnchens (Fig. 18, Taf. VI) sieht 
man dagegen, daB jetzt von den Seiten her Kemreihen in die Commissur hinein- 
gewachsen sind, und daB jetzt die Kemreihen des ventralen Keilepithels nicht mehr 
unmittelbar den Nervenbahnen der vorderen Commissur anliegen, sondem eben 
durch diese hereingewucherten Kemreihen von ihnen getrennt sind. 

Es scheint uns, daB dieses ganz eigenartige Verhalten des ventralen 
Keilepithels, das wiederum eine besondere Differenzierung, morpholo- 
gisch wie chemisch, der hier befindlichen Zellen erkennen laBt, dafiir 
spricht, daB dieses ventrale Keilepithel eine ganz besondere Beziehung 
zu der vorderen Commissur wahrend dieser ersten Entwicklungszeit 
besitzen muB. Uberlegt man sich, was fiir eine Funktion das sein kann, 
so bleibt eigentlich nichts weiter iibrig, als wieder an eine ernahrende 
Funktion zu denken. Die in der Commissur liegenden Nervenfasem 
liegen frei, ohne von irgendwelchen Gliazellen begleitet zu sein, sie ziehen 
hindurch durch die mannigfach verastelten und verschlungenen peri¬ 
pheral Fortsatze der Zellen des ventralen Keilepithels, die auf den vor- 
liegenden Abbildungen nicht abgebildet sind, oder nur angedeutet 
worden sind, da sie eben bei der Cajalfarbung nicht deutlich hervor- 
traten. Die Nervenfasem ziehen also zwischen den Zell- 
korpern direkt hindurch und liegen ihnen also auch direkt 
an. DaB da eine Eroahrung von seiten der Ependymzellen leicht moglich 
ist, ist klar. Nun liegen die Keme dieser Zellen gerade der Commissur, 
d. h. den Nervenfasem, unmittelbar an. Das kann nicht ohne Bedeutung 
sein. Wir wissen, daB der Kem bei Zellen, welche eine besondere Stoff- 


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P. Schiefferdecker and E. Leschke: 


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wechseltatigkeit an einer besonderen Stelle entwickeln, stets an der 
Stelle liegt, wo eben diese Zelltatigkeit vor sich geht. Nehmen wir also 
an, daB diese Ependymzellen des Keilepithels eine solche Tatigkeit hier 
fur die durchtretenden Nervenfasem entwickeln, so ist es nur natiirlicb, 
daB ihre Kerne den Nervenfasem der Conunissur unmittelbar anliegen, 
denn hier findet eben jene Tatigkeit statt. Wird die Emahrung der Nerven¬ 
fasem der Commissur spater von anderen Gliazellen iibemommen, die 
in die vordere Commissur von den Seiten her hineinwuchem, wie das 
bei dem lOtagigen Hiihnchen schon der Fall ist, so liegen die Kemreihen 
des Keilepithels den Nervenfasem auch nicht mehr unmittelbar an, 
sondem sind durch die hineingewucherten Gliazellen von ihnen getrennt. 

Sollte unsere Annahme, daB das dorsale Keilepithel 
dem Zentralkanale Nahrungsstoffe zufiihrt, richtig sein, 
so wiirde der Zentralkanal in dieser Zeit der Entwieklung 
als ein Ernahrungskanal dienen, und man miiBte annehm- 
men, daB das sonst den Kanal umgebende Ependymepithel 
fahig ware, Nahrungsstoffe aus dem Kanale aufzunehmen 
und in das Riiokenmark hinein weiter zu leiten, wie das ja 
spater die Gliazellen auch tun. Es ware auch denkbar, daB aus 
dem Kanale feine Strdme zwischen den Ependymzellen hindurchtreten, 
um sich weiter in ein Spaltsystem zu ergieBen, welches das Riickenmark 
durchzieht. Es ist dies indessen nicht wahrscheinlich, wissen wir doch, 
daB, im erwachsenen Zustande wenigstens, stets die Gliazellen selbst 
die Funktion haben, die Nahrung aufzunehmen, sie zu verarbeiten, 
und dann die so passend gemachte Nahrung den nervflsen Elementen 
zuzufiihren. Weit eher kdnnen Spaltraume zum Abflusse dienen. 
Wir werden hierauf weiter unten noch einzugehen haben. Wie lange 
der Zentralkanal diese ernahrende Funktion besitzt, ist 
bisher unbekannt. Es ist moglich, daB sie durch das Leben 
hindurch andauert, vielleicht ist das auch bei verschie- 
denen Wesen verschieden. Beim Menschen obliteriert der 
Zentralkanal ja bekanntlich sohon oft in nooh jugend- 
lichem Alter. Daraus konnte man wohl sohlieBen, daB bei 
dem Menschen zu dieser Zeit die ernahrende Funktion ihr 
Ende erreicht hat. Bei Tieren bleibt der Zentralkanal aber 
meist offen, so daB es darnach moglich ist, daB die ernah¬ 
rende Funktion daB Leben hindurch andauert. 

Aus dem bisher Gesagten wiirde also hervorgehen, daB zu dieser 
Zeit der Entwieklung beim Hiihnchen das Ependymepithel 
an den verschiedenen Stellen des Zentralkanales sich we- 
sentlich verschieden verhalt: das dorsale Keilepithel wiirde 
eine Gruppe fur sich darstellen und wiirde wahrscheinlich die 
Funktion haben, aus der Pia Nahrungsstoffe aufzunehmen, und diese 


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tJber die embiyonale Entstehung- von Htthlen im Rdckenmarke. 


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dann, wahrscheinlich in bestimmter Weise verandert, in den Zentral- 
kanal zu entleeren. Daraus, daB die Kerne der Zellen dieses dorsalen 
Keilepithels gerade in der Nahe der Pia liegen, darf man wohl schliefien, 
daB hier die Haupttatigkeit der Zellen vor sioh geht. Eine zweite 
Gruppe wiirde das ventrale Keilepithel darstellen, das wahr¬ 
scheinlich die Funktion hat, die Nervenfasem der vorderen Commissur 
zu emahren, solange noch keine weiteren Gliaelemente in die Commissur 
eingewandert sind. Wie weit dieses Epithel auch noch die Funktion hat, 
Stoffwechselprodukte in den Zentralkanal oder in den Spaltraum, 
der das Riickenmark unterhalb der Pia in diesem Stadium umgibt, 
abzuscheiden, laBt sich natiirlich nicht sagen. Die Zellen beider Gruppen 
kdnnen ja leicht auch noch andere Funktionen haben, von denen wir 
vorlaufig nichts wissen. Die dritte Gruppe wiirde dann gebildet 
werden durch die Ependymzellen der Seitenplatten, welche 
wahrscheinlich Nahrungsstoffe a us dem Zentralkanale in das Riicken- 
mark iiberleiten. Alles dieses ist natiirlich zurzeit nur eine Hypothese. 
DaB der Zentralkanal zu dieser Zeit der Entwicklung als ein Emahrungs- 
kanal angesehen werden kann, dafiir spricht wohl auch der Umstand, 
daB die Neuroblasten gerade in seiner Umgebung entstehen. 

Als Tatsache haben wir also gefunden, daB sich ein eigenartiges, 
durch eine besonders starke Silberfarbung entstandenes Dreieck zu der 
Zeit der Entwicklung, welcher das Hiihnchen angehdrte, das die oben 
beschriebene MiBbildung aufwies, in dem dorsalen Keilepithele vorfindet. 
Das auf Fig. 5, Taf. II, von einem Schnitte der MiBbildung gegebene 
Bild entspricht in alien Einzelheiten durchaus dem Befunde bei dem 
normalen Hiihnchen. Wir haben bei den am meisten cranialwarts ge- 
legenen Schnitten a us jener MiBbildung (man vergleiche die Textfiguren 
lOff.) an dem stark erweiterten Zentralkanale zwei solcher Dreiecks- 
figuren gefunden, zwischen denen ein grdBeres Stuck der Wand des 
Zentralkanales sich befand, das nicht von richtigen Ependymzellen 
bekleidet war, sondem von den Zellen einer Gliawucherung, die den gan- 
zen dorsalen Teil des Riickenmarkes einnahm. Wir sind daher nach dem 
bisher Gesagten in der Lage, festzustellen, wo diese pathologische Glia¬ 
wucherung ihren Anfang genommen haben muB. Da sie zwischen 
den beiden Dreiecken an den Zentralkanal anstoBt, so muB 
sie ursprunglich mitten in den Zellen der Deckplatte be- 
gonnen haben, zu einer Zeit, da diese Deckplatte noch 
weiter ausgedehnt war. Nach den hier gegebenen Abbildungen 
kOnnte der Eintritt dieser Erkrankung also wohl bei einem 3tagigen 
Hiihnchen geschehen sein, vielleicht auch in einem noch Jiingeren Sta¬ 
dium. Wenn zu dieser Zeit in der Mitte der noch langen Deckplatte 
eine solche Erkrankung auftritt, kdnnte sehr wohl zu beiden Seiten 
der erkrankten Stelle sich ]e ein solches Dreieck bilden. Man versteht 


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P. Schiefferdecker and E. Leschke: 


dann auch, warum die zwischen den beiden Dreiecken gelegene Strecke 
des Zentralkanales nicht von einem richtigen Ependymepithele bekleidet 
ist: Die hier liegenden Ependymzellen haben infolge ihrer Erkrankung 
einen ganz anderen Charakter angenommen, haben die Gliawucherung 
gebildet, und unter ihrer Mitwirkung rniissen dann auch Jene merkwiir- 
digen Massen von Gliafasem entstanden sein, welche ja eigentlich diesem 
Entwicklungsstadium in keiner Weise entsprechen, Gliafasem treten 
ja sonst erst weit spater auf. Es war ja auf diesen pathologischen Silber- 
schnitten nicht mdglich, die Fortsetzungen der feinen ZelikOrper, welche 
die Dreiecke bildeten, bis zu dem Rande des Riickenmarkes zu verfolgen. 
Man wird aber wohl sicher annehmen diirfen, daB sie bis dahin hindurch- 
gegangen sind, und daB sie sich hier an die Pia angelegt haben und von 
ihr Nahrung aufgenommen haben, freilich von ganz anderen Stellen der 
Pia als unter normalen Verhaltnissen. Die VergrOBerung des Zentral¬ 
kanales, welche im Anfange der MiBbildung vorhanden war, braucht 
nicht auf eine Stauung zuruckgefiihrt zu werden, welche durch ein kra- 
nialwarts irgendwo gelegenes Hindemis herbeigefiihrt wurde: Der 
Zentralkanal wurde vergrOBert, da die an seiner dorsalen Wand ent- 
standene Wucherung diese Wand erheblich ausdehnte, Flussigkeit war 
natiirlich geniigend da, um den erweiterten Kanal zufiillen. Wir kdnnen 
hier also mit Sicherheit annehmen, daB nicht ein erhdhter 
Fliissigkeitsdruck die Ursache fiir die Erweiterung des Zen¬ 
tralkanales bildete: Der Zentralkanal erweiterte sich, und 
die Flussigkeit strbmte hinzu. 

Sehr merkwiirdig ist es, daB diese dorsale Gliawucherung direkt in 
den Zentralkanal hineinwuchs und ihn so als eine mediale Scheidewand 
durchteilte (man vergleiche die Textfig. 11—19). 

Es ist nicht leicht, sich einen Grand fiir dieses Durchwachsen zu 
denken; das Nachstliegende ist ja wohl anzunehmen, daB das Lumen 
des Zentralkanales, das einfach mit Flussigkeit erfiillt war, den wuchem- 
den Gliaelementen den geringsteo Widerstand darbot. Merkwiirdig 
bleibt es immerhin, daB die Wucherung dann nach der ventralen Seite 
des Kanales einfach wieder sich an die hier liegende Wand ansetzte. 
In dieser Weise kann die Sache auch nicht vor sich gegangen sein, denn 
wir haben ja gesehen, daB der ventralste Teil des Zentralkanales, welcher 
der vordereu Commissur unmittelbar anlag, als ein geschlossener Kanal 
erhalten blieb. 

Man muB also wohl annehmen, daB nicht nur von der dorsalen Ge- 
gend her, sondem auch von der lateralen eine Gliawucherung statt- 
gefunden hat. Die letztere Wucherung durchbrach den Zentralkanal 
seitlich, trennte so den ventralsten Teil desselben ab und wuchs dann 
ebenfalls in den Zentralkanal hinein und der dorsalen Wucherung ent- 
gegen, um sich schlieBlich mit dieser zu verbinden. Hierfiir sprechen 


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Cber die embryonale Entstehung von Hohlen im Rfickenm&rke. 


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auch die Textfiguren 11 und 12. Dieae ventrale Wucherung trat dann 
allerdings bei weitem nicht so deutlich in die Erscheinung wie die dorsale 
und lieB auch nichts von irgendwelchen Gliafasem erkennen. Wir werden 
weiter unten noch auf zwei andere MiBbildungen bei Hiihnchen zu spre- 
chen kommen, welche wir beobachten konnten, und welche ein solches 
seitliches Durchwachsen des Zentralkanales zeigen. DaB trotz aller dieser 
Umwalzungen im Riickenmarke die Silberdreiecke so deutlich hervor- 
traten, daB das eine von ihnen sogar (Textfig. 20) noch bei dem voll- 
standigen AufhOren des einen Zentralkanallumens als ein dunkler 
Silberfleck erschien, spricht fur die Starke und Dauerhaftigkeit dieser 
Differenzierung. Sehr merkwiirdig ist es Ja, daB in zwei Fallen (Textfig. 25 
u. 26) an dem dorsalen Rande einer neugebildeten Cyste, die in den 
Seitenteilen des Riickenmarkes lag, sich ebenfalls solche Silberdreiecke 
zeigten. Wir werden weiter unten hierauf noch naher einzugehen haben. 

Das der vorderen Commissur anliegende ventrale Keilepithel 
trat bei alien Schnitten der MiBbildung deutlich hervor und ent- 
sprach wieder genau der Breite der Commissur. Nur auf den Schnitten, 
auf welchen der Tumorfortsatz an dieser Stelle im Riickenmarke lag, 
fehlte zugleich mit dem Zentralkanale auch das ventrale Keilepithel 
(Textfig. 14 und 15), doch waren auf Fig. 15 schon wieder eigenartige 
Zellen sichtbar, die dorsalwarts der Commissur anlagen, und Jedenfalls 
Fortsetzungen des Ependymepithels darstellten. Bei den zahlrei- 
chen Cysten resp. kurzen Zentralkanalen, welche an ver- 
schiedenen Stellen des Riickenmarkes neben den Uber- 
resten des urspriinglichen Zentralkanales auftraten, war 
niemals eine Bildung zu erkennen, welche dem ventralen 
Keilepithele entsprach; dieses fand sich immer nur dicht 
an der vorderen Commissur. Wir sind der Meinung, daB diese 
Tatsache hervorgehoben zu werden verdient. Sie spricht unserer 
Meinung nach entschieden dafiir, daB es sich beim normalen Zentral¬ 
kanale in der Tat um eine funktionelle Differenzierung handelt. 


Wir haben bisher immer ohne weiteres bei den verschiedenen Ent- 
wioklungsstadien des Hiihnchens, die wir beschrieben haben, von Glia- 
zellen gesprochen, das ist eigentlich nicht richtig, denn wir haben es 
hier noch mit Zellen zu tun, welche nur die Yorstnfen der spateren 
Gliazellen darstellen. Cajal unterscheidet in seinem neuen groBen Werke 
vier Stufen in der Entwicklung dieser Zellen (39, 621): 1. Spongioblaste 
primitif on de His; 2. cellule dpithdliale primordiale ou corpuscule de 
Golgi; 3. cellule 6pith61iale Jeune ou ramifi^e; 4. cellule dpendymaire 
ou dpithdliale definitive. 

Die Zellen der ersten Stufe finden sich in den ersten beiden 
Bebriitungstagen. Sie stellen die groBen epithelialen Elemente dar, 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


welche die primitive Medullarrinne auskleiden, vor dem Auftreten der 
Neuroblasten. Diese Entwicklungsstufe kommt fur una in dieser Arbeit 
nicht in Betracht. 

Die zweite Stufe, das „primordiale Epithel“, tritt nach Cajal 
beim Huhnchen am dritten Bebriitungstage auf, wahrend der Differen- 
zierung, welche zur Bildung der Neuroblasten fiihrt. Die Spongioblasten 
werden langer und betrachtlich schmaler. Die primordialen Epithel- 
zellen haben auBerordentlich an Lange zugenommen, ohne daB das 
Ependym sich in demselben Grade ausgedehnt hatte. Es folgt hieraus: 
1. DaB die inneren und auBeren Teile der Zellkdrper schmaler geworden 
sein miissen und 2. daB Kerne ausgewandert sind, welche sich in mehr 
oder weniger groBer Entfemung von dem Zentralkanale in Beihen an- 
haufen. Infolgedessen kann man Jetzt das gesamte Epithel in zwei 
Zonen einteilen: 1. eine innere, „mur 6pith61ial“, welche die Gesamt* 
masse der ZellkOrper und ihrer Kerne enthalt, und 2. eine auBere, welche 
durch die radiaren Fortsatze gebildet wird, die bis zur Pia mater reichen. 
Die erste Zone ist im ventralen Abschnitte verhaltnismaBig schmal, 
aber rie verbreitert sich mehr und mehr nach der dorsalen Seite hin, so- 
daB sie schlieBlich einen breiten Baum an der Oberflache des Markes 
einnimmt. Die hier gegebenen Abbildungen lessen das auch deutlich 
erkennen. 

Der periphere Fortsatz der primordialen EpithelzeUen ist im allgemeinen aehr 
zart, nur an zwei Stellen besitzt er eine gewisse Dicke, an dem vorderen und hin- 
teren Keilepithel. Cajal beschreibt genauer die Form der Zellen des ventralen 
Keilepithels. Es ist hieraus hervorzuheben, dab der &uBere Fortsatz aehr dick ist. 
Seine Konturen sind zerrissen und zeigen mitunter tiefe Zahnelungen, ja sie konnen 
von wirklichen Lochem durchbohrt werden. Man ersieht aus dieser Beschreibung, 
daB diese auBeren Fortsatze sehr geeignet sind, den zwischen ihnen hindurch* 
ziehenden Nervenfasem der vorderen Commissur Nahrungsstoffe zuzufuhren. 
Von den Zellen des dorsalen Keilepithels gibt Cajal an, daB ihr huBerer Fortsatz 
diok und glatt ist und sich unter der Pia mater verbreitert, wahrend ihr zentraler 
Fortsatz feiner und langer ist und an dem Zentralkanale endigt, wo seine Basal* 
mem bran eine lange Cilie tragt. Der Kern soil an einer beliebigen Stelle in dem Zell* 
kdrper sich befinden, doch geht aus der von einem 3tagigen Huhnchen naoh Golgi* 
f&rbung gegebenen Abbildung hervor, daB die Kerne sich zu einem groBeren Teile 
in der Nfthe der Pia befinden. 

Das dritte Entwicklungsstadium, die „junge oder ver- 
astelte Epithelzelle" tritt am 5. Tage deutlich hervor. Ihre Bildung 
hangt von der Entwicklung der weiBen Substanz ab. Die peripheren 
Fortsatze bedecken sich mit Asten. In dem Teile der Zellen, welcher 
der grauen Substanz entspricht, sind diese Aste mehr plattenfdrmig, 
leicht dreieckig, ungeteilt oder verastelt und liegen zwischen den Neu- 
ronen. In der der weiBen Substanz entsprechenden Gegend finden rich 
dagegen gabelfdrmige Teilungen und biischelfOrmige Verastelungen. 
Diese Aste ziehen durch die weiBe Substanz hindurch und enden unter 


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Ober die embiyonale Entatebung von Hohlen im RUckenmarke. 


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der Pia mater mit Ansch wellungen. Diese Endverastelungen treten zum 
Teile schon am 3. und 4. Tage hervor. 

Das vierte Entwicklungsstadium, die ..definitive Epen- 
dymzelle“, tritt auf bei der Verkleinerung des Zentralkanales, mit 
welcher eine Atrophie einer Anzahl der Epithelzellen, welche den Zentral- 
kanal begrenzen, verbunden ist. Wenn die Neurogliazellen im Riicken- 
marke auftreten, werden die Ependymzellen, welche bis dahin mit ihren 
peripheren Fortsatzen, wie beschrieben, das Ruckenmark durchsetzen 
und die Neurone mit ihren Anhangen voneinander trennen, uberflussig 
und kdnnen infolgedessen auch atrophieren. Diese Riickbildung des 
Epithels tritt beim Hiihnchen am 14. Tage der Bebriitung, vielleicht 
auch schon friiher, auf und nimmt mit der weiteren Entwicklung zu. 
Von diesem Zeitpunkte an vermag man nicht mehr, den peripheren 
Fortsatz der Epithelzelle, uber die periependymare Gegend hinaus zu 
verfolgen. Das Epithel der vorderen und hinteren Furche widersteht 
der Atrophie lange Zeit. So zeigt das ventrale Keilepithel bei neu- 
geborenen Tieren (Mensch, Maus, Hund, Katze, Eaninchen) noch seine 
friihere Form. Indessen haben seine peripheren Fortsatze nicht mehr 
eine so komplizierte Verastelung wie friiher. Das hintere Keilepithel 
bildet jetzt, wie wir das oben schon angegeben haben, ein sehr langes 
Biindel, das von dem Zentralkanale bis zur hinteren Medianfurche reicht. 
Alle Elemente erreichen aber nicht diese Ausdehnung. Die, welche von 
dem Zentralkanale bis zum Grunde der Furche ziehen, indem sie durch 
die Raphe verlaufen, besitzen allein diese grOQte Lange, die anderen 
zahlreicheren sind weit kiirzer. Alle haben ihre Endigungen unter der 
Pia mater, aber ihr mit dem Kerne versehener KOrper liegt in verschie- 
dener Entfemung von dem Zentralkanale, langs der Raphe. 

Es geht aus dem eben Gesagten hervor, dad wir es in unseren Fallen 
wie das Ja auch von vomherein klar war, mit Spongioblasten zu tun 
haben, resp. mit jungen Epithelzellen, die sich erst allmahlich 
zu den Gliaelementen entwickeln. Die junge Gliazelle entwickelt 
sich nach Cajal zuerst in der Gegend der motorischen Zellen, nicht weit 
vom Vorderstrange entfemt, beim Hiihnchen zwischen dem 12. und 
13. Bebriitungstage. Beim Menschen treten sie zu Beginn des 3. Monats 
auf, bei Katze und Kaninchen wenige Tage vor der Geburt. Diese 
Gliazellen entstehen aus Epithelzellen, welche aus der Umgebung des 
Zentralkanales ausgewandert sind. Cajal bezeichnet die verschiedenen 
Entwicklungsstadien dieser Zellen wieder mit besonderen Namen: 1. Die 
„primordiale Neurogliazelle" oder der „Astroblast“ (Lenhoss6k) ist 
die ausgewanderte Epithelzelle, deren peripherer Fortsatz noch mit einer 
Endanschwellung der Pia anliegt. 2. Die „junge Neurogliazelle" hat 
nur nocb zwei kurze radiare Fortsatze. 

Wir haben diese Angaben von Cajal hier zur Orientierung eingefugt, 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


werden aber sonet weiterhin ebenso wie vorher, der Einfachheit halber 
auch bei den friihen Entwicklungsstufen von Ependymzellen und Glia- 
elementen sprechen. 

Wir haben Jetzt auf einen anderen Punkt etwas naher einzugeben, 
der fur das Veratandnis der oben beschriebenen MiBbildung von Wich- 
tigkeit ist, namlich auf die zahlreichen Spaltbildungen, welche in 
dem Riickenmarke zu beobachten waren. Auch in der neuesten Arbeit, 
welche iiber die LymphgefaBe des Nervensystems erschienen ist, in der 
von Baum 88 ), wird wieder hervorgehoben, daB in den Zentral- 
organen, Gehirn und Riickenmark, LymphgefaBe bisher in 
einwandfreier Weise nicht nacbgewiesen worden sind. Nur 
mit den Einsenkungen der Pia in das Gehirn, den sog. Piatrichtem, 
setzt sich das Lympbspaltensystem der Subarachnoidealraume in das 
Innere des Gehimes fort (Interpialraume). Auch Baum ist es nicht 
gelungen, LymphgefaBe in den Zentralorganen nachzuweisen, obgleich 
er es auf die verschiedenste Weise versucht hat. Andererseits gibt 
Reich ardt 84 ) in seiner Mitteilung fiber normale und krankhafte Vor- 
gange in der Hirnsubstanz auf S. 5 und 6 das Folgende an: „Die graue 
Substanz des Gehimes ist beim Erwachsenen (abgesehen vom 
Glaskdrper) das wasserreichste Organ des Korpers und wird be- 
zfiglich seines Wassergehaltes nur annahemd erreicht von einigen sezer- 
nierenden Drfisen, ist aber spezifisch bedeutend leichter als diese und 
steht nach Wassergehalt und spezifischem Gewichte der flfissigen Milch 
am nachsten. Diese Tatsache ist wahrscheinlich sehr wichtig zur Er- 
klarung der Funktion der grauen Substanz. Der Liquor cerebrospinalis 
stammt wahrscheinlich aus Substanz und GefaBen des Gehimes selbst. 
Man braucht ihn trotzdem aber noch nicht als Lymphe im gewbhnlichen 
Sinne aufzufassen (von welcher er auch nach Wasser- und EiweiBgehalt 
auffallend verschieden ist). Bei Gehimkrankheiten kommen Sto- 
rungen der Liquorproduktion vor (gesteigerte und verminderte, 
bzw. fehlende Produktion), zum Teil schon im Leben nachweisbar 
(Lumbalpimktion). Solche Stbrungen kdnnen — auch abgesehen von 
der Agone — auftreten aus inneren Grfinden, ohne infektids-tozische 
Ursachen. Bei klinisch anscheinend den gleichen Symptomen (Krampf- 
anfallen bei Epilepsie Oder Paralyse) kann bei der gleichen Krankheit 
das Verhalten des Liquor ein grundverschiedenes sein, so daB diese 
Verschiedenheit von Bedeutung sein kann ffir die Auffassung der Je- 
weiligen Pathogenese und Eigenart solcher Symptome. Eine aus inneren 
Grfinden vermehrte Liquorproduktion ist wahrscheinlich etwas ganz 
anderes als Himddem im gewbhnlichen Sinne. Himfldemflfissigkeit hat 
wahrscheinlich auch eine andere chemische Zusammensetzung. Auch 
verbindet man mit dem Begriffe Odem eine sekundar durch auBere 


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tJber die embryonale Entatehung von Htthlen im RUckenmarke. 


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Schadlichkeiten (Infektion, Stauung, Intoxikation) hervorgerufene Sto¬ 
ning. Der Begriff dee GehiraOdems ist viel echarfer zu definieren ale 
bisfaer. Ale Schema fiir dasselbe ist das Stauungsddem der Haut an- 
zunehmen. Zur Diagnose auf Himddem braucht man ebenfalls die 
Schadelkapazitatszahl. Viele „5dematoe“ aussehende Hime sind es nicht. 
Vielmehr handelt es sich um primare Verfluseigunge- oder Quellungs- 
vorgange ganzlich anderer Art. Bei dem Himwaeser ist zu unterscheiden, 
das im Gewebe gebundene und das freie Wasser. Letzteres ist fiir ge- 
wOhnlich Liquor, doch kOnnen sich ihm durch irgendwelche patholo- 
gische Vorgange echtes Odem, Stauungstranssudat (mit anderer chemi- 
scher Zusammensetzung) beimengen. Ein Freiwerden gebundenen Ge- 
webswassers kann ein Him Odem vortauschen. Das Him ist dann aber 
gar nicht schwerer geworden, wie es bei Odem der Fall eein miifite. Die 
Frage der pericellularen und perivascularen Saftspalten gewinnt eine 
neue Bedeutung bei einem tieferen Eingehen auf die Liquor- und Fliissig- 
keitsverhaltnisse des Gehimes. „Im normalen Gehime herrscht eine 
sehr lebhafte LiquorstrOmung. Ein Ein- und Austritt von Liquor aus 
dem Gewebe und in dasselbe ist vielleicht als primarer elementarer 
Lebensvorgang im Gehime aufzufassen." Bekannt ist Ja, was auch 
Beichardt noch hervorhebt, daB der KOrper des Neugeborenen, seine 
einzelnen Organe und vor allem auch sein Gehim bedeutend wasser- 
reicher sind als beim Erwachsenen. Im Gehime ist vor allem die weiBe 
Substanz nach Beichardt viel wasserreicher als beim Erwachsenen. 
Wir werden aus dem eben Angefiihrten schlieBen kOnnen, daB das 
Buckenmark des sich entwickelnden Hiihnchens, namentlich in den 
fruhen Stadien, um welche es sich hier handelt, ebenfalls sehr wasser- 
reich sein wird, und voraussichtlich wird auch hier die weiBe Substanz 
verhaltnismaBig (im Vergleich zu dem Erwachsenen) wieder weit wasser¬ 
reicher sein als die graue. 

Im Jahre 1906 hat einer von uns in einer kleinen Mitteilung die 
„minimalen Raume“ im KOrper behandelt 40 ). Es wurde in dieser 
Mitteilung hervorgehoben, daB es wahrscheinlich im KOrper Spaltraume 
gibt, welche so fein sind, daB sie mit unseren Mikroskopen nicht erkenn- 
bar sind. Trotzdem dieselben aber so fein sind, muB man annehmen, 
daB diese Baume fiir die Emahrung bestimmter Gewebsteile von groBer 
Bedeutung sind. Diese Baume werden natiirlich sehr viel deutlicher 
hervortreten, wenn sie infolge einer Abweichung vom normalen Zustande 
starker mit Fliissigkeit erfullt sind als gewdhnlich und infolgedessen als 
mehr oder weniger deutliche helle Spaltraume unter dem Mikroskope 
ev. schon bei schwacheren VergrOBerungen sichtbar werden. Wenn nun, 
wie das aus dem bisher Gesagten als sehr wahrscheinlich hervorgeht, 
in dem Zentralnervensysteme Lymphbahnen nicht vorhanden sind und 
wenn, wie Beichardt das hervorhebt, und wie das ja auch sehr wahr- 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


scheinlich ist, im Zentralnervensysteme eine sehr lebhafte LiquorstrS- 
mung vorhanden ist, so daB ein Ein- und Austritt von Liquor in das 
Gewebe und aus demselben vielleicht als primarer elementarer Lebens- 
vorgang aufzufassen ist, so werden wir auch bier bei dem Riickenmarke 
des sich entwickelnden Huhnchens zweifellos erst recht mit solchen 
Liquorstrdmungen zu rechnen haben. Diese werden durob die Grand* 
substanz des Zentralnervensystemes, die der Glia angehOrt, zwischen den 
verschiedenen morphologischen Elementen hindurchziehen wie ein 
Wasserstrom durch das Erdreich sickert. Von diesen Flussigkeits- 
stromen abgesehen werden die Gliazellen selbst durch ihre Kbrper und 
Fortsatze in bestimmter Weise umgeanderte Eraahrungsflussigkeit von 
den BlutgefaBen her oder von anderen Emahrungsstellen aus in die ver¬ 
schiedenen Teile des Zentralnervensystemes bineinfiihren und so auch 
den nervbsen Elementen zufiihren, wie sie das im erwachsenen Zustande 
ebenfalls tun. Es ist wahrscheinlich, daO die Fliissigkeitsstrdme, die in 
den feinen Spalten verlaufen, den iiberflussigen Emahrungssaft und die 
Abscheidungsprodukte wieder abfiihren, wahrend die Gliaelemente selbst 
die Zufiihrung besorgen. Dadurch wiirde schon eine bestimmte Bezie- 
hung geschaffen werden zwischen der Tatigkeit der Gliazelle und der 
Menge der Fliissigkeit, welche sich in den Spaltraumen befindet. Unter 
normalen Verhaltnissen wird diese Beziehung sich derartig gestalten, 
daB die Fliissigkeitsmenge, welche durch die Gliazellen zugefiihrt wird, 
so gering an Menge ist, daB die feinen Spaltraume infolge der geringen 
Menge der in ihnen enthaltenen Fliissigkeit nicht sichtbar werden. Treten 
aber anormale Zustande ein, infolge bestimmter Anderangen der Glia¬ 
zellen und ihrer Tatigkeit durch Erkrankung, Reizung usw., so kann 
dieses Verhaltnis sich leicht in der Weise andem, daB nun die durch die 
Gliazellen zugefiihrte Fliissigkeitsmenge so groB wird, daB die Spalt¬ 
raume sich mehr oder weniger ausdehnen und infolgedessen mehr oder 
weniger deutlich sichtbar werden. Ein solcher Fall liegt nun unserer 
Meinung nach bei der von uns beschriebenen MiBbildimg vor. Wir 
brauchen hier fiir die Erklarang dieser erweiterten Spaltraume durch- 
aus kein AbfluBhindernis anzunehmen, durch das eine Stauung herbei- 
gefiihrt worden ist, sondem es geniigt vollkommen die Annahme einer 
veranderten Tatigkeit der Gliazellen. 

Man wird sich von der oben gegebenen Beschreibung der Schnitte 
aus der MiBbildung her erinnem, daB eine groBe Menge von mehr oder 
weniger stark erweiterten Saftspalten in den Riickenmarks- 
schnitten auftraten und zwar zunachst in der Gliawucherang im dor- 
salen Teile des Riickenmarkes, dann aber weiterhin auch in den ver- 
schiedensten Teilen der Ruckenmarksschnitte. Wir verweisen hier auf 
die Reihe der oben gegebenen Textabbildungen. Sehr charakteristisch 
ist es, daB gerade auch in dem Ependymepithel, das den Zentralkanal 


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tJber die embiyonale Entstehang yon HOhlen im Rflckeomarke. 


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zunachst umgibt, eine besondere groBe Menge von diesen Spalten auf- 
tieten, welche also zwischen den Zellen liegen. Hin und wieder 
miindete eine solche Spalte auch direkt in den Zentralkanal ein und 
auf Fig. 4 Taf. II haben wir gezeigt, wie solche Spalten mit einera 
ganzen Systeme von Spalten und Liicken zusammenhangen, die in 
dem gewucherten und ganz schwammig aussehenden Gewebe liegen. 
Die Menge der feineren und grdberen Spalten ist natiirlich nach den 
einzelnen GSegenden sehr verschieden; die auf der eben erwahnten 
Figur dargestellte Gegend stammte direkt aus der dorsalen Gliawuche- 
rung her. Wir haben auf jenen Textabbildungen, auf denen ja nur die 
grdBten dieser Spalten schematisch dargestellt sind, dann weiter ge- 
sehen, daB auch zwischen dem Epithel, das die sekundaren Zentral- 
kanale resp. Cysten umgrenzte, solche Liicken auftraten. Es ist also 
zweifellos, daB die Gegend des miBbildeten Biickenmarkes von einem 
groBen Spaltennetze durchsetzt wird, das eine Menge von starker er- 
weiterten Abechnitten erkennen laBt und mit dem Zentralkanale und 
den sonstigen neugebildeten Hbhlen in direkter Verbindung steht. Auf 
den spateren Schnitten der MiBbildung, so auf Textfig. 27, 28, 29 
lagen diese groBen Liicken namentlich dicht zusammengehauft in dem 
dorsalen Abschnitte des Biickenmarkes, wo die Gliawucherung Ja auch 
am starksten ausgesprochen war, so daB das Gewebe hier aussah, als wenn 
es von zahlreichen StrOmen und Seen durchsetzt ware. Auf Schnitt 30 
sehen wir sogar die alten dorsalen Zentralkanalreste mehr oder weniger 
in dieses Seengebiet aufgeldst. Alle diese Bilder scheinen uns 
in der Tat dafiir zu sprechen, daB dieses Spaltensystem 
des Biickenmarkes ein AbfluBgebiet naoh dem Zentral¬ 
kanale hin darstellt, wie wir das oben als Hypothese angenommen 
haben. DaB es mit ihm in direktem Zusammenhange steht, ist nach den 
Bildem zweifellos, und daB die Zufuhr der Nahrungsstoffe nach den 
verschiedenen Teilen des Buckenmarkes durch die Gliazellen selbst ge- 
schieht, ist nach unseren jetzigen Kenntnissen ja ziemlich sicher. Bei 
einem so stark vermehrten Fliissigkeitsstrome werden aber natiirlich 
die normalen engen Bahnen zwischen den Ependymepithelzellen nicht 
ausreichen und werden gerade diese, die dicht vor dem Endpunkte 
liegen, sich starker erweitem miissen. 

Dafiir, daB in der Tat im Biickenmarke ein Saftstrom vor- 
handen ist, der auoh beim Erwachsenen in den Zentralkanal 
einmiindet, spricht auch die Tatsache, daB man nach AlkoholgenuB 
Alkohol in der Spinalfliissigkeit nachweisen kann und zwar spater als 
im Blute. Wir verweisen hier auf die letzte uns bekannt gewordene 
Arbeit von Schumm und Fleischmann 41 ), in der die weitere Lite- 
ratur enthalten ist. Der Alkohol tritt bei diesem Vorgange doch zweifel¬ 
los aus den BlutgefaBen aus, geht durch die Gewebe hindurch, beein- 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


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fluBt dabei die Nervenzellen, und tritt dann erst in den Liquor cerebro- 
spinalis ein. Ob er nun den Nervenzellen, ebenso wie die iibrigen 
Nahrungsstoffe, auch durch die Gliazellen zugefiihrt wird oder neben 
diesen durch Saftspalten die Nervenzellen erreicht, laBt sich vorlaufig 
nicht feststellen, doch ist es wohl wahrscheinlich, daB er ebenfalls 
durch die Gliazellen weiter geleitet werden wird, da diese das fiir die 
6on8tigen Stoffe tun. Das gleiche gilt auch fiir das Urotropin und 
Uranin, das bekanntlich aus dem Blute in den Liquor cerebro- 
spinalis iibertritt. 

Auf Fig. 20 Taf. VII geben wir noch eine Abbildung von einer eigen- 
tiimlichen Anordnung von erweiterten Saftspalten bei einem 
12tagigen Hiihnchen bei 282facher VergrOBerung. Das Riicken- 
mark erschien sonst ganz normal, doch fand sich auf einer ganzen Reihe 
von aufeinanderfolgenden Schnitten die hier dargestellte Veranderung. 

Es ist hier, wie auf den vorhergehenden Figuren, wieder ein Teil der mitt- 
leren Partie des Riickenmarkes dargestellt worden: Ganz oben sieht man noch 
Teile der Hinterstrange, zwischen diesen herabziehend das Septum posterius, 
das zum Zentralkanale hinlauft, dann das Lumen des schon im wesentlichen 
geschlossenen Zentralkanales mit seiner Ependymumkleidung, an der ventralen 
Seite das ventrale Keilepithel und darunter noch einige Fasem der vorderen Com- 
missur. Zwischen das ventrale Keilepithel und die Commissurfasern haben sich 
hier bereits wieder Gliakerne eingeschoben. Am dorsalen Ende des Zentralkanales 
sieht man das durch Silber dunkel gef&rbte unterste Ende des dorsalen Keilepithels, 
dessen Dreiecksfigur hier etwas verwisoht ist, dann dorsalwarts einen helleren 
Streifen mit ziemlich vielen Kemen, und dorsalwarts da von sehen wir den dunkler 
gef&rbten Teil des Septum, den wir schon oft erw&hnt haben, und der bis zwischen 
der Hinterstrange hinzieht. Links neben diesem Strange zieht ein Blutgef&B in 
dem Riickenmarke herunter. Nun sieht man deutlich, daB zu beiden Seiten des 
dunkel gef&rbten Keilepitheles sich je eine Liicke aus dem Zentralkanale dorsal- 
w&rts in das Gewebe hinein eretreckt. Hier geht diese Liicke liber in einen ziem¬ 
lich breiten, helleren Streifen, der auf beiden Seiten an dem Septum posterius 
hinaufsteigt, etwa bis in die Gegend des Hinterstranges. Dieser helle Streifen auf 
jeder Seite des Septum besteht nun aus einer groBeren Anzahl von hellen Liicken, 
welche von mehr rundlicher oder mehr ovaler Form sind und direkt in der durch 
Silber gefarbten Ruckenmarkssubstanz liegen. t)berall sieht man zwischen ihnen 
mehr oder weniger breite Briicken dieser Substanz, in denen dann auch die Kerne 
der Gliazellen liegen. Ventralwarts setzen sich diese Liickenreihen noch um die 
Seitenw&nde des Zentralkanales herum fort, wenn auch in schwacherer Ausbil- 
dung, um in der Gegend der Commissur und des ventralen Keilepithels aufzuhdren. 
Hin und wieder sah man auch sonst noch auf dem Riickenmarksschnitte erweiterte 
Saftliicken, von denen eine unten rechts dargestellt ist. 

Es ist dies ein sehr interessantes Bild, aus dem wir schlieBen kOnnen, 
daB nicht nur um den Zentralkanal herum sich solche Liicken leicht 
finden, wie wir das schon mehrfach beschrieben haben, sondem daB 
auch gerade zu beiden Seiten des Septum posterius in der Rucken¬ 
markssubstanz eine Struktur vorhanden sein muB, welche das Auf- 
treten solcher erweiterten Saftliicken begiinstigt. DaB dann gerade 


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tlber die embiyonale Bntstehung von Hfihlen im Rttckenm&rke. 


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nach dieser Bichtung hin das Epithel dee Zentralkanales von Liicken 
durchbrochen wird, ist nicht mehr besonders auffallend, naohdem wir 
solche Liicken immer wieder dort auftreten gesehen haben, wo gerade 
ein Ubertreten der vermehrten Fliissigkeit in den Zentralkanal erwiinscht 
war. Wir miissen naturlich annehmen, daB auch in diesem Rucken- 
marke eine leichte Erkrankung des Gliagewebes vorhanden gewesen 
ist, infolge deren wieder dieser erhOhte Saftstrom aufgetreten ist, eine 
Erkrankung aber, welche sonst noch keine deutlicher hervortretenden 
Veranderungen bewirkt hat. Jedenfalls erlaubt aber diese Be- 
obachtung den SchluB, dafi zu beiden Seiten des Septum 
posterius und des Zentralkanales eigentumliche Struktur- 
verhaltnisse vorhanden sein miissen. 


Wir kommen nun zu der Frage, wie man sich die zahlreichen 
kleinen Kanale Oder Cysten entstanden den ken kann, welche 
an den verschiedensten Stellen des Biickenmarkes, haufig ganz weit 
entfemt von dem urspriinglichen Zentralkanale, plotzlich auftauchen, 
und spater ebenso pldtzlich wieder verschwinden. Ganz charakteristisch 
ist es, daB man vor dem Auftreten und nach dem Verschwinden der- 
selben Anhaufungen von Gliazellen findet an der entsprechenden Stelle. 
Dies spricht ja entschieden dafiir, daB es wieder Gliawucherungen sind, 
durch welche diese Kanale und Cysten entstanden sind. Die Streit- 
frage, um welche es sich hier handelt, ist ]a mm die: Kann man 
annehmen, daB in Gliawucherungen derartige Hohlraume 
sich neu bilden und dann mit einer Schicht von Zellen um- 
geben, welche dem Ependymepithel durchaus ahnlich ist, 
oder muB man annehmen, daB solche Liicken nur dann ent- 
stehen konnen, wenn durch eine Gliawucherung Teile des 
Ependymepithels des ursprunglichep Zentralkanales von 
diesem Kanale abgeschnitten oder abgedrangt worden sind? 
Eine andere MOglichkeit der Entstehung liegt wohl nicht vor, denn ein 
sogenanntes „Absprengen“ des Ependymepithels kann eben doch nur 
vor sich gehen auf dem Wege eines solchen Abschneidens oder Ab- 
drangens durch Gliawucherungen, die in den Zentralkanal mehr oder 
weniger weit hineinwachsen. DaB Zapfen von Gliagewebe in den Zentral¬ 
kanal hineinwachsen und Stiicke von demselben abschneiden kdnnen, 
haben wir hier bei der beschriebenen MiBbildung schon gesehen, wir 
werden weiter unten weitere Beispiele vorfiihren, dafiir, daB der Zentral¬ 
kanal durch ein solche* Durch wachsen in zwei Teile zerlegt werden 
kann. Wir haben aber auch noch eine weitere MiBbildung, 
auch wieder bei einem 7tagigen Hiihnchen, untersuchen 
konnen, an der sehr deutlich ein solches Abschneiden eines 
Stiickes des Zentralkanales durch einen von der ventralen 

Z. t d. g. Near. a. Psych. O. XX. 6 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


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Seite her hineingewucherten Gliazapfen zu beobachten war, 
und dieses so abgeschnittene Stuck wanderte dann durch 
ein weiteres Fortschreiten dieser Wucherung seitlich in eine 
Riickenmarkshalfte hinein. DaB also derartige Vorgange mdglich 
sind, ist zweifellos. 

Ganz ahnliche Bilder, wie wir sie bei der hier beschriebenen MiB- 
bildung gefunden haben, sind ja auch von anderen Autoren schon be- 
schrieben worden. Wir erinnem hier z. B. an die Arbeit von Amelia 
C. Smith 14 ). 

Auf den dieser Arbeit beigegebenen Figuren sieht man wiederum das ven- 
tralste Ende des eigentlichen Zentralkanales dauemd erhalten und der vorderen 
Commissur anliegend, daneben aber immer wieder neu auftretende Cysten oder 
Kan&le, die von einem Epithelkranze umgeben sind, und welche an den verschie- 
densten Stellen des Riickenmarkes, vielfaoh in den Seitenpartien desselben und 
weit entfemt von dem urspriinglichen Zentralkanale liegen. In bezug auf diese 
Arbeit mochten wir hier als auffallend hervorheben, daB auf den Abbildungen ein 
Zentralkanal gezeichnet worden ist, der durchaus die Form und GroBe eines pri- 
m&ren Zentralkanales zeigt, dabei soil das Hiihnchen aber nach der Angabe der 
Verfasserin 10 Tage alt gewesen sein. Wie auch die hier von uns gegebenen Fi¬ 
guren lehren (man vergleiche z. B. Fig. 18 auf Taf. VI), ist sonst um diese Zeit 
der groBte Teil des primaren Zentralkanales schon geschlossen und nur das ven- 
tralste Ende noch als sekundarer Zentralkanal iibrig gebheben. Da die Verfasserin 
auBerdem angibt, daB die MiBbildung in der Hohe von Herz und Lungen gelegen 
hat, dicht hinter den oberen Extremitaten, so handelt es sich auch nicht um einen 
Ruckenmarks&bschnitt, der sich besonders spat entwickelt. Es muB hier also 
entweder ein Irrtum in der Datierung vorliegen, oder die ganze Entwicklung des 
Hiihnchens ist aus irgend welchen sonstigen Griinden eine auBerordentlich ver- 
langsamte gewesen. Ganz fthnliche Abbildungen gibt auch Podmanicky 81 ), 
welcher auch einen Zentralkanal beschreibt, dessen eine Seite nur mit wirklichem 
Ependymepithel iiberzogen ist, w&hrend die andere augenscheinlich einer Glia- 
wucherung angehort. Es entspricht diese Beschreibung und Abbildung also 
durchaus dem, was wir bei unserer MiBbildung gefunden haben an jenen Stellen, 
an denen die durch die Gliawucherung gebildete Scheidewand den dorsalen Ab- 
schnitt des Zentralkanales dorso-ventral durchwachsen hatte. Auch auf den Ab¬ 
bildungen von Podmanioky sieht man wieder neugebildete Kanale oder Cysten 
regellos im Riickenmarke auftreten. 

Es sind auch sonst in der Literatur schon eine ganze Anzahl von 
Fallen beschrieben worden, in denen solche Cysten massenhaft in den er- 
krankten Teilen des Zentralnervensystemes auftraten. Auch von anderen 
Autoren ist schon hervorgehoben worden (wir verweisen hier auf die 
Literaturiibersicht), daB es auBerordentlich schwer vorstellbar sei, daB 
alle solche zahlreichen Cysten oder Kanale, die weit von dem urspriing- 
lichen Zentralkanale oder von dem betreffenden Himventrikel abliegen, 
sich durch Hereinwucherungen in den Zentralkanal oder in den Ventrikel 
von diesem abgeldst haben sollen. Auch wir miissen sagen, daB dieser 
Weg uns ziemlich ungangbar erscheint. Man miiBte sich solch ein 
Gewirr von hineinwuchemden Gliafortsatzen denken, daB die Mdglich- 


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Ober die embryonale Entstehung von Hohlen im Rtlckenmarke. 88 

keit des Vorkommens eines solchen sehr unwahrscheinlich iet. Um so 
mehr ist das der Fall, als man doch annehmen mull, daB die Bildung 
solcher Abnormitaten in recht friihe Entwicklungsstadien 
zuriickgelegt werden muB. Wenn wir die starke Entwioklung der 
MiBbildung in Betracht ziehen, wie sie bei dem hier beschriebenen 
7tagigen Hiihnchen vorhanden war, so werden wir doch sicher annehmen 
mussen, daB es langere Zeit gedauert hat, bis die Gliawucherung, bis 
der eigenartige Tumor die beobachtete GrOBe und Entwicklung erreicht 
haben konnten. Wir werden die Anfange dieser MiBbildung 
also doch wohl wenigstens bis zu dem 3tagigen, vielleicht 
sogar bis zu dem 2tagigen Hiihnchen zuriickverlegen mussen. 
Wir haben oben schon angefiihrt, daB auch die Entstehung der dor* 
salen Gliawucherung zwischen den beiden Silberdreiecken dafiir sprach, 
daB spatestens bei dem 3 tagigen Hiihnchen die Erkrankung angefangen 
haben muBte. In dieser friihen Zeit der Entwicklung sind Ja 
nun aber die Epithelzellen, die ersten Spongioblasten, noch 
so wenig differenzierte Zellen, daB hochst wahrscheinlich 
a ns ihnen noch verschiedene For men entstehen konnen, also 
sehr wahrscheinlich auch Zellen, die den Ependymzellen 
des wahren Zentralkanales durchaus entsprechen, falls die 
Gelegenheit dazu da ist. Es sind eben noch ganz primitive Zellen, die 
kaum die ersten Anfange einer Differenzierung erkennen lassen. Der 
Grund, aus dem die meisten Autoren immer wieder zu dem Schlusse 
gekommen sind, daB man fiir diese Cysten- und Kanalbildungen ein 
Absprengen oder Abschnuren des Ependymepithels von dem wahren 
Zentralkanale annehmen miisse, ist der gewesen, daB man sich dagegen 
straubte, anzunehmen, daB eine Riickbildung von schon differen- 
zierten Zellen auf eine friihere Entwicklungsstufe mOglich sei. Es scheint 
uns aber, daB man eine derartige Annahme gar nicht zu machen braucht, 
da die Zellen in diesen friihen Entwicklungsstadien eben noch gar 
nicht so weit differenziert sind. Unser Fall ist Ja gerade deshalb auch 
so interessant, weil er uns zwingt, den Beginn der MiBbildung in ein so 
fruhes Entwicklungsstadium zuruckzuverlegen. Man wird das aber 
wahrscheinlich in sehr vielen Fallen von MiBbildungen tun kdnnen; 
bei sehr vielen, vielleicht bei den meisten, wird der Beginn der Er¬ 
krankung in einem so friihen Entwicklungsstadium zu suchen sein. 
Wir haben in unserem Falle gesehen, daB die nervdsen Elemente in 
dem miBbildeten Abschnitte des Biickenmarkes in keiner Weise gelitten 
zu haben schienen, es ist also durchaus denkbar, daB das Hiihnchen 
sich auch ruhig weiter entwickelt hatte, vielleicht bis zum erwachsenen 
Zustande hin, es ist das wenigstens denkbar, wir wissen Ja nicht, wie 
weit die MiBbildung selbst sich weiter entwickelt haben wiirde. Wiirde 
niATi dann die MiBbildung erst in spaterer Zeit gefunden haben, so 

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P. Schiefferdecker und £. Leschke: 


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wiirde die Zuriickdatierung natiirlich sehr schwer gewesen sein, nament- 
lich, wenn man bei Anwendung von anderen Farbemethoden die Silber- 
dreiecke nicht gefunden hatte. Es scheint uns also, daQ es durch- 
aus mdglich ist, anzunehmen, daQ sioh solche Cysten und 
Kanale bei Erkrankungen derGlia in fruhen Stadien inmitten 
von Gliawucherungen neu bilden und mit einem Epithel- 
kranze bekleiden kbnnen, welcher durchaus dem wahren 
Ependymepithele entspricht. Es fragt sich nun, welche Ursache 
konnte man sich denken, die zur Bildung einer solchen Cyste Veran- 
lassung gibt ? Wir ha ben oben gesehen, daQ infolge der Erkrankung 
der Glia eine weit starkere Saftzirkulation eingetreten war, daQ die 
Lymphspalten oder Saftspalten sich infolgedessen stark vergrdQert 
hatten und mit den Resten des alten Zentralkanales, ebenso aber auch 
mit den neugebildeten Cysten und Kanalen in direktem Zusammen- 
hange standen. Es scheint uns, daQ diese Tatsachen doch dafiir 
sprechen, daQ sich inmitten von Gliawucherungen mit lebhafter 
Saltstromung Zentralpunkte oder Knotenpnnkte bilden konnen, zn denen 
diese Saftliicken hinfiihren. Dieselben werden radiar von alien Seiten 
nach diesen Knotenpunkten hinstreben und so ist es wohl denkbar, daB 
infolgedessen ein mehr kreisformiges oder mehr ovales Lumen entsteht, 
und daB die noch durchaus epithelartigen Zellen der Gliawueherung, 
soweit sie direkt an dieses Lumen anstoBen, sich mehr oder weniger 
genau radiar anordnen und dann ist eben ein Ependymepithel entstanden, 
welches dem des urspriinglichen Zentralkanales durchaus ahnlich ist 
Ob diese so neu entstandenen „Pseudoependymzellen“ dann auch 
wieder Flimmem tragen werden, die in das neugebildete Lumen hinein- 
ragen, und ob sie einen Saum besitzen werden, der das Lumen zunachst 
umgrenzt, ist eine zweite Frage, wir haben diese Bildungen auf unseren 
Praparaten nicht oder doch nur teilweise nachweisen konnen. Es 
ist ja aber auch nicht notig, daQ diese Pseudoependymzellen in alien 
Einzelheiten den wahren Ependymzellen entsprechen. Unserer Meinung 
nach kdnnen es also rein mechanische M'omente sein, herbeigefiihrt 
durch den krankhaften Stoffwechsel, welche bei Gliaerkrankungen in 
so friiher Entwicklungszeit die Veranlassung zur Entstehimg von solchen 
Cysten und Kanalen geben. Ist diese unsere Annahme richtig, 
so erklart sich auch eine Tatsache, die auf andere Weise 
sehr schwer zu erklaren ist, namlich die, daQ diese neugebil¬ 
deten Kanale und Cysten meist recht weit entfernt liegen 
von dem urspriinglichen Zentralkanale. In der naheren Um- 
gebung des Zentralkanales wird es zur Bildung solcher sekundaren 
Zentren nicht kommren konnen, da der Zentralkanal selbst dem AbfluQ- 
bediirfnisse geniigt, je mehr man sich aber von dem Zentralkanale 
entfernt, um so schwieriger wird der AbfluQ aus den betreffenden Gewebs- 


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Ober die embryonale Entstehung von Htthlen im Rackenm&rke. 


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partien nach dem Zentralkanale hin so in. Um so mehr wird also auch das 
Bedurfnis nach der Bildung eines neuen Reservoirs vorhanden sein, in 
das sich die umliegenden Strdme ergieBen kdnnen, d. h. es wird eben 
infolge des erschwerten Abflusses sich eine erweiterte Stelle 
in dem Stromgebiete bilden, die allmahlich zu der Cyste 
oder dem Kanale wird, alles auf rein mechanise hem Wege. Sehr 
merkwurdig ist es ja nun, daB, wie wir oben bei der Beschreibung 
in zwei Fallen hervorgehoben haben (man vgl. die Textfig. 25 und 26), 
sich hin und wieder solche Silberdreiecksfiguren, die eine ziemlich groBe 
Ahnlichkeit besaBen mit denen des dorsalen Keilepithels, auch an 
solchen sekundaren Cysten oder Kanalen fanden, und zwar merk- 
wiirdigerweise immer wieder an der dorsalen Seite. Auch traten dabei, 
so namentlich auf Fig. 25, langere ZellkOrper ziemlich deutlich hervor. 
Es wiirde diese Beobachtung dafiir sprechen, daB unter Um- 
standen auch bei diesen sekundaren Hohlen eine Differen- 
zierung des neugebildeten Epithels eintreten kann: warum 
eine solche eintritt, und warum sie auch gerade wieder an der dorsalen 
Seite eintritt, ist freilich sehr schwer zu sagen. Vorlaufig mochten wir 
die Tatsache nur festate lien, ohne eine geniigende Erklarung fiir sie 
geben zu kdnnen. 

Es kdnnte uns nun hier entgegengehalten werden, daB an den 
Stellen, wo die von der dorsalen Gliawuchenmg ausgehende Scheide- 
wand, welche den dorsalen Abschnitt des Zentralkanales in zwei Halften 
teilt, durch den Zentralkanal hindurchzieht, an den Randem dieser 
Scheidewand ein solches neues Ependymepithel sich nicht gebildet 
hat. Das wiirde aber nicht gegen unsere Annahme sprechen. In dieser 
Scheidewand selbst sieht man von solchen erweiterten Saftspalten kaum 
etwas, nur auf Textfig. 19 sind auch hier ziemlich zahlreiche Spalten 
vorhanden. Der Weg zu dem urspriinglichen Zentralkanale ist eben 
nicht weit genug, um hier besondere erweiterte Spaltensysteme ent- 
stehen zu lassen. Trotzdem ist indessen, wie wir das auch friiher schon 
hervorgehoben haben, an den Randem dieser Scheidewand deutlich 
eine Umordnung der Gliazellen zu bemerken, welche sie einem Ependym¬ 
epithel ahnlich macht, allerdings sie nicht vOllig als Ependymepithel 
erscheinen laBt. Wir haben seiner Zeit darauf hingewiesen und angegeben, 
daB wir trotzdem auf den schematischen Figuren hier keine Kem- 
reihen haben einzeichnen lassen, weil es sich hier nicht um ein wirkliches 
Ependymepithel handelte. Also der Anfang zu einer epithelahnlichen 
Anordnung der Gliazellen war selbst in diesem Falle vorhanden. 


Was nun endlich Jene sehr eigentumliche Gliafaserung anlangt, 
welche in dem kranialen Abschnitte der Mifibildung so deutlich hervor- 
trat, so ist es sehr schwer, etwas fiber die Ursache ihrer Entstehung 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


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zu sagen. Man muB annehmen, daB bei dieser dorsalen Glia- 
wucherung die hier liegenden Zellen ihren jungen, embry- 
onalen Charakter vollig verloren haben und zu Zellen ge- 
worden sind, welche in hohem Grade die Fahigkeit besaBen, 
Fasern entstehen zu lassen, eine Fahigkeit, welche in diesem 
hohen Grade selbst den erwachsenen Gliazellen unter normalen Ver- 
haltnissen nicht eigen ist. Wir finden hier also eine friihzeitige 
spezifische Entwicklung der Gliazellen zu anormal tatigen 
Elementen infolge bestimmter schadigender Verhaltnisse. 


Ebensowenig laBt sich eine Erklarung fiir die Entstehung jenes 
eigenartigen Tumors geben, der hauptsachlich in dem rechten 
Vorderseitenstrange lag, dann aber auch in das Buckenmark tief 
hineinwucherte. Auch in ihm traten ja starke Gliafasem deutlich her- 
vor. In seinem ganzen sonstigen Gefiige unterschied er sich aber von 
der iibrigen Glia wucherung sehr deutlich. Selbst die Ursprungsstelle 
dieses Tumors bleibt unklar: Er kann in den weiBen Strangen ent- 
standen sein und von dort aus in das Buckenmark hineingewuchert 
sein. Er kann aber auch umgekehrt in der durch die Gliawucherung 
entstandenen Scheidewand in dem dorsalen Abschnitte des Zentral- 
kanales entstanden sein und von hier aus durchgebrochen sein in den 
Vorderseitenstrang. Das letztere wiirde uns wahrscheinlicher sein, 
Man wird ja auch fiir diesen Tumor annehmen miissen, daB er schon 
recht friihzeitig entstanden ist, also vielleicht bei dem 4 oder 
5 tagigen Hiihnchen, denn zuerst muBte ja die Scheidewand gebildet 
sein, bevor der Tumor von hier seinen Ausgang nehmen konnte. Er 
ist dann sehr schnell, vielleicht innerhalb von zwei Tagen zu seiner 
jetzigen GrdBe ausgewachsen. An der Stelle, wo dieser Tumor seinen 
Ursprung genommen hat, miissen natiirlich Gliaelemente gelegen haben, 
durch deren Erkrankung eben seine Entstehung bedingt war. Glia¬ 
elemente finden sich nun zu dieser Zeit in der weiBen Substanz noch 
kaum vor, nur die in bekannter Weise zerteilten peripheren Fortsatze 
der Ependymzellen ziehen durch die weiBe Substanz hindurch bis zur 
Oberflache des Buckenmarkes, wo sie mit Anschwellungen endigen. Es 
wiirden hier also kaum Zellen vorhanden gewesen sein, aus denen der 
Tumor seinen Ursprung nehmen konnte, in der Scheidewand da- 
gegen waren massenhaft erkrankte Gliazellen vorhanden, 
und hier lag also die Moglichkeit vor, daB irgendwelche von 
diesen in einer spezifischen Weise erkrankt waren, durch 
welche sie befahigt wurden, einen solchen Tumor zu bilden. 
Was fiir eine Art der Erkrankung dies war, entzieht sich natiirlich 
unserer Kenntnis, weiB man doch iiberhaupt noch nichts daruber, aus 
welchen Griinden ein Tumor an einer bestimmten Stelle sich bildet. 


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X7l>er die erabrr&nslevan iliVhl«n iin Hurkmiinarke. 87 

Mau -sMit, -die. hwir'voKj turn tewebrinbfine MiCI/ildiing bietet later- 
&s«aflfi<;£ nagjb stttliT versehi,edem*« Kichtmigesi bib Hwi iat. Jitrefe 
ties OfUiict geAvenen, .weabaJb wir ate luer eing$faftKlejr fx^hritibba haben t 
Es gebt sw imsw .Etklaruijgsv^m^iieuAb.*r ,v.teb bervor. dnB bier 
noch tec,fit Viflte by]M>tketiach. ist, uiid dad «fi svabb&ihieiidKstinoeh 
mme$»r. weiten<v Uiftersuchimgbediirfen \vird, urn besscre and sicherere 
Erklfvrungen zu gebeu. 


Wir wilen jcizt 'iibergbhen «a der Besehreibung jotter zwpiteu Mifi* 
bihlang, Ton. del - wir tse-bon meUrfach gegprochen haben. Dieedbe- 
land 'awh'.in dem Huffeniarks eine* lltagiger« Huh lichens and 
belnif inn eine?* g&nz kiinsm- Altsrbmt.t diet** Hulsrnarkes. da gW tdcb 
mir ub*r 33 SehnUte erstTreble. also liber tine Enifertmng von 0,13 rum, 

;i*tt ; inmtfnm Iftswbdere inteecasant, ala sie' dutch ei/ie 
Oiiftwucbetung bedbigt bt, welnhe void vtutraien Tntle des 
Ruokan mar fees a nsgeh t uudweil de. Biltfgi- wigt, wlche cvent-unll 
hat tengeben. koiincn dazij, the durch esnen mebriachoti 

/-* .» -i " <•» . :'■* o»ir .'’V : V» .• . . j 


SchlivB der M^iuibrrinne 7ji ^rkjaTtrn, 

hfbr xunaetisf wilder i&m halii8o!icri)iv(iduli*) Tes%figa^t^’ widehe.. 
iu dor 'Aft ihrer Zcieknung den fruhcreti durohuiLs enf> precben \tm\ auch bei doer 
gaiiz abhficbeu Vei^rdGeniiig ^ezoidnjer wordesn aind, ui> die dor rr>teii MdJ 
bilcJuug* niuuiioh bei 94 facbet Yorgriilkniiu*: J5s «iutl auf die^n Figure?! aucb zu m 


Tod die linger rageu, sowed sie ebert ziOa Veraiandnim' der Vev- 

aridcmugeo Tii B#radht. k&nmi* Auf dqm noch nomtaJfcii •..•fcSeiinitte;- Trt- -flg'Sfr 
weltt man, ilaB dfe llint^hdmer mid Vunjeriubmer doroh einen starkon ^dtjicheu 
V/irsprung der w^iifen 8u b«(An^ K^haif vr>oeinandtT g<?trennt ^inch uncl dad bl deti 
ya^erhprnerii dip. Xervcnzelien in Uogetv S^Leilien der weilkm ziemiieh 

dicht anliegenu J)er bemU ziim grbbten Tell sakundare Zential- 


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gg urol E* L*schke: 

feinat xeigi cin achanea E|H*ndyme^ithd, debt- matt eine Andeulinvg! 

ii&i Raphe, veiitralwaris Beg* die voedere Commi*sun welofor\ wie gowohrdtrh, 
unttbtUbhar axt <lic vTivdere Fis&ur aastoftl. Insolent ist aueh dieser Sohnitt nicht 
gaw* r normal,. *is die • vrei'lfe *Sn batons der Vi^midiWrftngc: so stark in ilieae Fissur 
hindngTewuaheri iHt- t <lafl din* Fortsate det Fia venttulwAHe kua ikr brr^usgedr4ngf> 
avrden hi. .Aul clem hlgeudeu iSohniite (Fig. TT) ist dieses leitiere Verh&finte 
«rt*der normal gewordm, dagegen ;wir jetet, daft das Vorclerhorn m fcwi 

Ahteihingen zerhilk durcb eine OUnixmekmittg, welcbe gans weit ventralwarta* 
•^«ft)|tteihar an den wdUen Strlngeo, mtstonden ist, die KervenaeUen fcu hmefn 
grottcti Tdle ikiirsalwkrta vexdrangt, hat urui »ta#h bddjem Seiten Kin eitie Sirooke 
in dfe mudeiv Vordemitensirao^ JSpfetngewiHiheri hi. Ikr Zentralkanab welfcfoer 
sein nocpxalofc Ausaehen besitzt* iat £&mt der vorder-on Commiwmr, die ebtrnf^lk ihnp- 
Logo jMt»m Zetitrai&nrmJty vollkomweti l^halten hat> dnrr.h mese Oliawucherttng 
dors^wurte rerdrkng'f warden, oder, besaer gesagt, dar ventnUtf Tdt &** Kiicken- 
in&rke* hat amh infolge. dor l^lui'U'oiohonmg vemralwfi,m vor^!>u^:Kt^t v ilenn in 
dor Tat ist diene doraale Verso.hitdnmg der (Winrissur titid dm ZetitraJUrAnaJefi, 



fig, 1 * 7 . 


worm than die EntfmvuDgon aul beiden Bcliruttou vergleirht, mjr eine schsuibarer 
Dio 'vep trale GBa wiichOTmg liegt ventral rm der Cnmtni>wuf and hat hier die 
VdrdjerJiorner 'woWi, du? $eH^(azellen zn einetn .grolkit Tcjle 

a jina horrid ihre normals Lftge im Verh&Unisso z\j. clem ?>nt raikairak* and fSi der 
l£orximi&ur foitahalten ha ben., hat ddreb 

vSvibat^ijfz *ter Vonleraeiteri5tribfige.; •’ ybrgebucktdfe ami dabea mohr oder weptgnr.' 
veniiinht; . I>40 In dor Tut «ii)<?-'^br:buekelang <nngetiret^n iijt^ erkhnttt 'wan 
cleatlich an dent t*'o).irrigeti V*>rJaul^. dor Fanem dor Vordorneitonstrangcr. Ventral 
von dor. wrnBen fAf>mnaimir, unmitloibar du*^r ariliogomh tbno neue Lilck^ 
^tand^ru wohrlie aWr'nmbl tkni ^entraikanuitypuB zoigt, via Ihfr da. j 
opithel fcblfs fA ist daS d\*m Tbcko dacturch 

daQ die Ulm^uoiiorun^ don i.l^r^alen; Toil dor wnloron Fi^fnir seitlicb dwrch- 
waohson bat aivJ 80 sla? domain Stiirk dor Ftwsur abgeschhitienr hat. Nbchdeni 
dieses Ktiiek etmhai in die Snbstanr ^ Rhckenmarke^ aufgenorrvmen war, iM> 
es flann ndoi^o dor w»dV> n*K Wuofiornny’ init <ier vordorcn Ck»mrais«,ur and dfeni 
Zontmlkanviie ztieammon mo hr. un’d meliz vmri . detn nnueu Entie dor FL^’ajr ahg^* 




tfber die embryonale Entstehung von Hfthlen im Rtlckenmarke. 


89 


dr&ngt worden. Erseheint diese Annahme auf den ersten Blick vielleieht ziemlioh 
seltsam, so wird sie schon wahrscheinlicher, wenn man sieht, wie auf Fig. 36 die 
Vorderstrange so weit in die Fissur hineingewuchert sind, daB sie vollig zusammen- 
stoBen and in der Tat sehon das dorsalste Ende der Fissur abgetrennt haben. 
Denkt man sich nun, daB an dem Rande dieser hineingewucherten weiBen Sub* 
stanz hin die Gliawucherung entlangzieht, so wiirde es leicht zu verstehen sein, 
daB dieser jetzt schon abgeschnittene dorsale Teil der Fissur ganz von Glia umgeben 
und in die Substanz des Riickenmarkes aufgenommen wird. Wir wollen diese neu* 
gebildete Liicke der Kiirze halber von jetzt an als „Fissurenliicke“ bezeichnen. 
Man sieht auf Fig. 37, daB links von dieser Fissurenlucke ein Strang von kleinen 
Kernen ventralwarts zieht, dann bogenfdrmig umbiegt und d(inner werdend nach 
der Fissurenlucke zu aufsteigt. Diese Kerne sind hier etwas dunkler und kleiner 
gezeichnet als die iibrigen. Bei starkerer VergroBerung sieht man, daB sie in ihrer 
Beschaffenheit durchaus den Kernen des Ependymepithels entsprechen, auch auf 
Fig. 37 sind sie diesen entsprechen gezeichnet worden. Wenn sie den Kernen 
des Ependymepithels entsprechend und sich von den meisten iibrigen Kernen 
der hier bei dem lltagigen Hiihnchen vorhandenen Gliaelemente unterscheiden, 
so bedeutet das doch, daB die Zellen, welche zu den Kernen gehoren, den Typus 
der jungen Gliazellen aus den ersten Entwicklungstagen des Hiihnchens beibehal- 
ten haben. Wir finden hier also eine Anhaufung von jung gebliebenen 
Gliaelementen mitten zwischen den iibrigen alter gewordenen. Hin 
und wieder finden sich auch sonst in der Gliasubstanz einzelne solcher Gliakeme 
veretreut. Wir bemerken hier gleich, daB diese Anhaufung von jung gebliebenen 
Gliaelementen auch auf den weiteren Schnitten sich an dieser Stelle immer wieder 
findet, und daB dieselben auf manchen Schnitten eine besondere Bedeutung ge- 
winnen, auf die wir gleich noch naher einzugehen haben werden. 

Aus den weiteren Teilen dieser Mifibildung haben wir dann auf 
den Figg. 21,22,23 und 24 der Taf. VII und VIII bei 282facher Vergr6Be- 
rung genauere, naturgetreue Abbildungen gegeben. 

Auf Fig. 21, Taf. VII, sehen wir ein ahnliches Bild wie auf Textfig. 37. Der 
Zentralkanal zeigt normale Verhaltnisse, ein deutlicher Kernstreifen geht in der 
Raphe von ihm dorsalwarts, in dem oberen Abschnitte der Raphe dicht ventral 
von der weiBen Substanz der Hinterstrange sieht man wieder einen etwas 
dunkler gebraunten Streifen. Ventralwarts sieht man das schdn entwickelte 
ventrale Keilepithel des Zentralkanales, darauf folgend die vordere Commissur, 
aber zwischen beide eingeschoben eine Reihe von Gliaelementen, genau so, wie 
wir das schon auf Fig. 18, Taf. VI, gefunden haben, welche von einem lOt&gigen 
Hiihnchen herriihrte. Durch die Commissur hindurch sieht man feine, dunklere 
Streifen ziehen (namentlich in ihren unteren Teilen), welche an der n&chst ventral 
gelegenen Liicke endigen. Es sind das die peripheren Forts&tze des ventralen 
Keilepithels, welche bis zur Fissura anterior hindurchtreten, d. h. in diesem Falle 
bis zu der fissurenlucke. Wir haben diese Bildung schon friiher ofters erwahnt, 
sie ist ja von Golgi pr&paraten her auch schon zur Geniige bekannt. Die Fissuren¬ 
lucke h&ngt auf diesem Bilde nach links und unten hin mit spaltartigen Liicken 
zusammen, welche nach links und unten hinziehen. Es sind dies augenscheinlich 
nichts weiter als erweiterte Saftspalten, wie sie auch sonst auf diesem Schnitte 
mehr hervortraten, und von denen zwei kleinere auch auf dieser Abbildung in dem 
doraalen Abschnitte zu erkennen sind. DaB man hier so deutlich an dem dorsalen 
Rande der Fissurenlucke die peripheren Enden des ventralen Keilepithels erkennen 
kann, ist ein deutlicher Beweis dafiir, daB diese Liicke in der Tat nichts weiter 
als das dorsale, durch die Gliawucherung abgetrennte Stuck der Fissura anterior 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


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ist. Es scheint uns sehr interessant zu sein, daB eine derartige Abschniirung von 
der Fissur vorkommen kann. Ventral von dieser Liickenreihe sieht man auf dieser 
Abbildung wieder sehr deutlich die Anhaufung jener jugendlichen Gliaelemente, 
von denen ein lkngerer Zug bis zu dem jetzigen, also sekundaren Ende der Fissur 
herunterzieht. Zu beiden Seiten der Commissur liegen eine Anzahl von Nerven- 
zellen, welche durch die ventrale Gliawucherung dorsal w&rts verdrangt worden 
sind, gerade so wie auf Textfig. 37. 

Auf Fig. 22, Taf. VII, sieht man, daB die Fissurenliicke etwa die Form eines 
Reehteekes angenommen hat, und daB die bisher seitlich von ihr ausgehenden 
spaltartigen Liicken jetzt durch einen Gliafortsatz von ihr abgetrennt worden sind. 
Dieselben sehen wieder durchaus spaltartig aus mit ganz unregelmaBigen Begren- 
zungen. Sie unterscheiden sich dadurch wcsentlich von der Fissurenliicke. An 
der dorsalen Seite dieser sieht man wiederum deuthch die sehr feine Streifung der 
peripheren Enden der Zellen des ventralen Keilepithels. Die Fissurenliicke zeigt 
nirgends eine Umkleidung mit Zellen, sondern hegt einfach nackt in der Grund- 
substanz der Glia. Die Liicken der Saftspalten haben ihre Form zum Teile wesent- 
hch verandert: Ganz links sieht man eine Spalte, welche noch einigermaBen der 
der vorigen Abbildung entspricht, die mittlere Spalte aber ist jetzt weiter ventral 
geriickt, hat den Zusammenhang mit der Fissurenliicke und mit der anderen Saft* 
liicke verloren, hat Bich wesenthch vergroBert und dabei die Gestalt etwa eines V 
angenommen, dessen Spitze dorsalwarts liegt. Die Anhkufung jener jugendlichen 
Gliaelemente hat sich vergrdBert und umgibt bogenformig den linken Schenkel 
des V bis iiber die Mitte der ventralen Seite hinausgehend. Dieser ventrale Teil 
der Zellanh&ufung zeigt mehrfache Kernreihen und man sieht merkwiirdigerweise 
wieder eine feine Streifung bis zu dem dorsalen Ende der Fissur herunterziehen, 
ein Bild, das ganz fthnlich ist demjenigen, welches normalerweise das ventrale 
Keilepithel zeigt. Ob es sich hier wirkhch wieder um solche lang gestreckte Zell- 
korper handelt, konnte bei dieser Farbung nicht genauer nachgewiesen werden. 
Jedenfalls macht aber diese mehrreihige Anhaufung von Kernen den Eindruck, 
als ob sich hier eine Art von Ependymepithel, ein „Pseudoependymepithel", 
wie wir es oben genannt haben, auszubilden im Begriffe sei. Das ventrale Keil¬ 
epithel des richtigen Zentralkanales verhalt sich hier genau so, wie auf Fig. 21, 
doch war die durch die peripheren Fortsatze hervorgerufene Streifung etwas we- 
niger deutlich. Auf dieser wie auf der vorigen Abbildung sieht man von beiden 
Seiten her einen Zug von etwa spindelformigen Kernen, die langer, schmaler und 
dunkler aussehen als die sonstigen Kerne, von beiden Seiten her nach der Fissuren- 
liicke hinziehen. Die Form dieser Kerne erinnert sehr an die, welche in den Wan- 
dungen der BlutgefaBe liegen. Es handelt sich also wahrscheinlich nicht um 
Ghakerne; welche Bedeutung aber diesem Kernzuge zukommt, haben wir nicht 
ergriinden konnen. Zu beiden Seiten der Commissur liegen wieder Nervenzellen. 
Der Zentralkanal hat sich hier an seiner linken dorsalen Ecke etwas dorsalwarts 
ausgezogen, zeigt aber sonst normale Verhftltnisse. Die von ihm dorsalwarts zie- 
hende Raphe tritt weniger deuthch hervor als auf dem vorigen Bilde. 

Auf Fig. 23, Taf. VIII, finden wir ein ganz ahnliches Bild. Die Fissurenliicke 
liegt an derselben Stelle und zeigt auch wieder fast genau dieselbe Form. Sie hegt 
wieder nackt im Gewebe. An ihrer dorsalen Seite sieht man wieder die Streifung 
der peripheren Fortsatze des ventralen Keilepithels und die vordere Commissur. 
Die ventral von ihr liegende Liicke aber, welche auf der vorigen Abbildung etwa 
die Gestalt eines umgekehrten groBen V hatte, ist jetzt zu einem Gebilde geworden, 
das einem Zentralkanale sehr ahnlich sieht. Das Lumen hat sich vergroBert, 
ist von einem gleichm&Bigen Kontur begrenzt, und ein groBerer Teil des Umfanges 
ist umgeben von mehrfachen Kernreihen, welche lebhaft an ein Ependymepithel 


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tjber die embryonale Entetehung von IlOhlen im RUckenmarke. 


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erinnem. Namentlich die ventrale Umgrenzung aieht ganz epitbelartig aus und man 
erkennt hier eine feine Langsetrcifung, welche eineraeite nach der Liicke, anderer- 
seits nach dem Endo der Fissura anterior hinzieht und einem ventralen Keilepithel 
sehr ahnlich ist. Es ist hier also eine weitere Ausbildung der schon auf der vorigen 
Abbildung vorhandenen Verh&ltnisse eingetreten. Ganz links am Rande der Ab- 
bildung sieht man wieder die beiden Liicken, welche auch auf der vorigen 
Abbildung vorhanden waren, und von denen die ventralere der Uberrest jener 
Liicke ist, welche auf Fig. 21 mit zu dem Liickenstreifen gehorte, welcher zu der 
Fissurenliicke von links her heranzog. Man bemerkt an dieser Liicke wieder den 
Zug der langgestreckten Kerne, der auch auf den beiden vorigen Abbildungen an 
derselben Stelle lag und an der Fissurenliicke in diesem Falle ziemlich deutlich 
voriiberzieht, um auf die andere Seite iiberzugehen. Dieser Kernzug ist sehr 
geeignet zur Orientierung. W&hrend also die Fissurenliicke unver&ndert nackt 
im Gewebe liegt, hat sich um die ventral von ihr gelegene Liicke, welche als eine 
einfache spaltformige Gewebsliicke zuerst auftrat, eine Umgebung gebildet, welche 
sie ganz ahnlich einem Zentralkanale erscheinen l&Bt. Diese Umgebung ist ent- 
standen aus einer Anh&ufung von jung gebliebenen Gliaelementen, welche wir 
auf alien Schnitten verfolgen konnten. 

Diese Tatsache ist nach zwei Richtungen hin auBerst 
interessant. Einmal laBt sie deutlich den groBen Unter- 
schied hervortreten zwischen dem Verhalten der in das 
Riickenmark aufgenommenen Fissurenliicke und der Saft- 
liicke, welche sich mitten in der Gliawucherung gebildet hat 
und von erweiterten Saftspalten ihren Ursprung nahm: 
Die erstere bleibt dauernd nackt, die zweite umgibt sich, 
nacbdem sie eine gewisse GroBe und Entwicklung erreicht 
hat, mit einem Kranze von Zellen, der einem Ependym- 
epithel sehr ahnlich ist. Dieses Pseudoependymepithel ist 
hier aber zweifellos hervorgegangen aus einem Haufen von 
Jung gebliebenen Gliazellen, welche aus friiheren Entwick- 
lungsstadien her hier liegen geblieben sind. Wir haben bei 
dieser MiBbildung also eine Umbildung einer erweiterten 
Saftliicke oder Saftspalte zu einem akzessorischen Zentral¬ 
kanale oder einer Cyste, Jedenfalls zu einem Gebilde, das auf 
dem Querschnitte einem Zentralkanale ahnlich sieht, direkt 
verfolgen konnen. Der hier beobachtete Vorgang stimmt recht gut 
iiberein mit der Annahme, die wir oben gemacht haben, um die Bildung 
jener zahlreichen akzessorischen Kanale oder Cysten zu erklaren, welche 
sich in der Riickenmarkssubstanz meist weit entfemt von dem Zentral¬ 
kanale vorfanden, und welche auch sonst von anderen Autoren schon 
so vielfach beobachtet worden sind. Es geht aus dieser Beobach* 
tung mit Sicherheit hervor, daB ganz unabhangig vom Zen¬ 
tralkanale, ohne eine Abschniirung oder Absprengung voif 
Ependymepithel, mitten in einem Gewebe einer Gliawuche¬ 
rung, ein solcher Kanal oder eine solche Cyste sich bilden 
kann, einfach durch Zunahme einer Saftliicke an GroBe 


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P. Schiefferdecker and £. Leschke: 


und durch Umbildung von Jungen, in der Umgebung liegen- 
den Gliaelementen. ZweiDinge sind also zu der Entstehung 
einer solchen Bildung notig: Eine grofier gewordene Saft- 
spalte und eine in derselben Gegend gelegene Anhaufung 
von Jungen oder Jung gebliebenen Gliaelementen. Zu welcher 
Zeit diese MiBbildung hier ihren Anfang genommen hat, laBt sich 
natiirlich nicht mit Bestimmtheit sagen, Jedenfalls aber wohl zu einer 
Zeit, da die vordere Fissur schon so weit ausgebildet war, daB durch 
eine seitliche Einwucherung der Glia ein Stuck von ihr abgeschnitten 
werden konnte. Die Jungen Gliaelemente kdnnen Ja aber auch zu 
dieser Zeit schon als Rest eines friiheren Entwicklungsstadiums an 
dieser Stelle ubriggeblieben sein, der allererste Anfang der MiBbildung 
laBt sich also nicht bestimmen. 

Dabei tritt dann die Frage auf, wie man sich das Erhaltenblei- 
ben solch j unger Gliazellen in spateren Entwicklungsstadien 
den ken kann? Der GrundprozeB ist nach dem, was wir gefunden 
haben, doch wohl immer eine Erkrankung der Glia mit verandertem 
Stoffwechsel, entstanden gewohnlich wahrscheinlich durch auBere Ein- 
wirkungen (wie weit auch eine unvollkommene Anlage die Ursache sein 
kann, weiB man noch nicht), wie starke Temperaturschwankungen, 
mangelhafte Sauerstoffzufuhr und mangelhafte Abfuhr der Verbren- 
brauchsstoffe (mangelhafte Atmung durch die Schale) und Ahnliches. 
Dabei wird der normale EntwicklungsprozeB der Gliazellen gestOrt, 
die einzelnen Gliazellen entwickeln sich also nicht in normaler Weise 
weiter. Da ist es denn schon denkbar, daB auch eine Anzahl von Glia¬ 
zellen auf einem Jugendstadium beharren und sich spater, unter den ganz 
anderen Verhaltnissen, als wie sie sonst normal vorhanden sind, sich 
weiter entwickeln, wie sie gerade kOnnen; falls die Gelegenheit da ist, 
werden sie sich eben auch zu Ependymzellen entwickeln. Diese letzteren 
sind doch schlieBlich nichts weiter als Gliazellen, die einen Hohlraum 
umgeben, und daher epithelartig zusammengelagert sind. Es ist sehr 
interessant, daB in diesen friihen Entwicklungsstadien es gerade die Glia 
ist, die durch solche Emahrungsstbrungen besonders stark beeinfluBt 
wird, weit starker augenscheinlich als die iibrigen embryonalen Gewebe. 
Es spricht dies wohl dafiir, daB zu dieser Zeit in der Anlage des Zentral- 
nervensystems eine besonders lebhafte Entwicklungstatigkeit vorhanden 
ist, und man versteht dies auch, wenn man daran denkt, daB es sich hier 
um das Organ handelt, das weiterhin alles beherrschen soil. 

AuBer den beiden deutlichen, oben schon erwahnten, links liegenden 
Saftspalten finden wir noch ihnen gegeniiber auf der rechten Seite eine 
schmale solche und femer sehen wir, daB eine ebenfalls nur schwach 
hervortretende von der ventralen Liicke nach links unten abgeht. 
Auch in dem ventralen Epithel dieser Liicke findet sich eine kleine 


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tJber die embryonale Entstehung von HtShlen im ROckenm&rke. 


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Spalte. Auch an sonstigen Stellen des Schnittes, die aufierhalb der hier 
dargestellten Partie lagen, fanden sich noch erweiterte Saftspalten, 
ebenso wie auch aui den iibrigen Schnitten aus der MiBbildung. Wir 
haben also zweifellos auch bei dieser Gliawucherung wieder 
erweiterte Saftspalten in dem ganzen Gebiete anzunehmen, 
die auch wieder mit dem ventralen akzessorischen Kanale 
in Zusammenhang stehen, geradeso wie wir es bei der ersten 
MiBbildung gefunden und beschrieben haben und wie wir 
es als Grundursache fur die Entstehung solcher akzessori¬ 
schen Kanale und Cysten angenommen haben. Eine Glia- 
erkrankung mit mehr oder weniger starker Wucherung und 
mit einer erhOhten FliissigkeitsdurchstrOmung, also wohl 
einem krankhaft erhdhten Stoffwechsel, bildet also in beiden 
Fallen die Grundlage, auf welcher die Kanale resp. Cysten 
sich bilden konnten. Dorsalwarts von dem richtigen Zentralkanale 
sieht man hier wieder deutlicher eine Raphe, welche namentlich auch 
durch den dunkleren Streifen hervorgehoben wird, welcher dem alten 
Silberdreiecke entspricht. 

Selbstverstandlich waren auf den Riickenmarkschnitten, von denen 
diese drei letzten Bilder herriihren, auch wieder Veranderungen der 
Vorderhdmer vorhanden, ahnlich wie die auf Textfigur 37, doch haben 
wir von diesen Schnitten kerne halbschematischen Ubereichtabilder 
mehr gegeben, da die Abweichungen von Fig. 37 nicht wesentliche 
waren, und da wir die ohnehin schon sehr groBe Zahl von Abbildun- 
gen nicht noch vermehren wollten. 

Auf Fig. 24 der Taf. VIII haben sich die Verhaltnisse wesentlich 
verandert. 

Wir sehen hier den Zentralk&nal selbst durch eine m&chtige Gliawucherung in der 
Mitte durchschnitten und so in einen ventralen und in einen dorsalen Absohnitt zer- 
legt. Der ventrale Abschnitt ist aber jetzt zusammen mit der Commissur wieder an 
seine normale Stelle geriickt, der Kegel der peripheren Fortsatze des ventralen Keil- 
epithels ragt direkt in die vordere Fissur hinein, die jetzt wieder als die prim&re 
Fissur anzusehen ist, da kein Teil von ihr mehr abgeschniirt ist. Verschwunden 
sind hier also die Fissurenlucke und der akzessorische Kanal resp. die Cyste, welche 
sich ventral von der Fissurenlucke gebildet hatte. Die Lage der vorderen Com- 
missur erlaubte uns ja bei dieser MiBbildung, auf jedem Schnitte ganz einwand- 
frei die topographischen Verhaltnisse festzustellen. Die ventrale Wand des ventralen 
Abschnittes des Zentralkanales und auch seine Seitenwande sind von einem deut- 
lichen Ependymepithel bekleidet. Seine dorsale Wand aber wird durch das Gewebe 
der Gliawucherung gebildet, der Kontur ist hier unregelm&Big und an der rechten 
Ecke sieht man eine Lucke, die von dem Zentralkanale nur durch eine ganz 
schmale Brucke getrennt ist, in das Gewebe hineinziehen, dieselbe hangt natiirlich 
mit dem Zentralkanale zusammen. An dem dorsalen Abschnitte des Zentralkanales 
zeigt die dorsale Wand deutlich die dunkle Figur des dorsalen Keilepithels, an die 
sich dorsalw&rts Andeutungen der Raphe mit dem dunkler gef&rbten Streifen an- 
sohlieBen. Die Seitenwftnde zeigen noch mehr oder weniger deutlich eine Epen- 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


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dymbekleidung, welche indes an der linken dorsalen Ecke von einer groBen, in 
das Gewebe hineinziehenden Liicke durchbrochen wird, die ventrale Wand ist 
unregelmaBiger begrenzt, zeigt in der mittleren Partie das Gewebe der Gliawuche- 
rung und auch hier eine in das Gewebe hineinragende Liicke. Erweiterte Saftspalten 
liegen dann in groBer Zahl zu beiden Seiten in der Riickenmarkssubstanz in ibrer 
Anordnung deutlich nach den beiden Zentralkan&len hin orientiert. Auch ganz 
ventralwarts sieht man eine solche Liicke, deren Richtung ebenfalls auf den Zen- 
tralkanal hinweist. Die Ztige langgestreckter Zellkeme finden sich auch hier wie- 
der ungefahr an derselben Stelle wie auf den vorigen Abbildungen. Auf dem hier 
dargestellten Riickenmarksschnitte liegt die Gliawucherung also weiter dorsal- 
w&rts, sie ist hierhin gewandert und ist von der Seite her einfadh mitten durch den 
Zentralkanal hindurchgewachsen, ein deutliches Zeichen fur die Intensitat der 
Wucherung. Bei dieser intensiven Gliawucherung hat dann die Gewebsfliissigkeit 
wieder an Masse zugenommen, dadurch sind die erweiterten Saftspalten ent- 
standen, und dadurch sind auch jene in den Zentralkanal hineinreichenden Liicken 
und Spalten entstanden, welche ja doch nichts weiter sind als die erweiterten Ein- 
miindungsstellen von Saftspalten in den Zentralkanal, durch welche hindurch der 
AbfluB der in dem erweiterten Saftspaltennetze befindlichen, so erheblich ver- 
mehrten Fliissigkeitsmenge in den Zentralkanal stattfindet. Recht interessant ist 
es, daB man in der Gliawucherung, welche den Zentralkanal durchwachsen hat, 
wieder eine ganze Anzahl von jenen Kernen junger Gliaelemente findet. Dieselben 
liegen gerade wieder am dichtesten den beiden Zentralkanalabschnitten an, bil- 
den hier wieder mehrere Reihen und erinnem 4 so wieder an ein EpendymepitheL 
Diese jung gebliebenen Gliaelemente scheinen ein konstanter Bestandteil solcher 
Gliawucherungen zu sein, wir erinnem an jene Zellanhaufungen, welche wir immer 
wieder bei der ersten MiBbildung an ganz verschiedenen Stellen des Ruckenmarkes 
auffanden, und an welche sich auf den folgenden Schnitten dann fast immer die 
Bildung einer Cyste anschloB. Wir erinnern auch an jene mehrfachen Kernreihen, 
die sich bei der vorigen MiBbildung an den Random jener Scheidewand fanden, 
die in ganz ahnlicher Weise wie bei dieser zweiten MiBbildung infolge der Glia- 
wucherung mitten durch den Zentralkanal hindurchgewachsen war. In diesem 
Jungbleiben eines Teiles der Gliaelemente wird man vielleicht direkt die Ursache 
fur solche Wucherungen finden konnen, allerdings bleibt dann aber noch immer 
die Ursache unbekannt, welche eben veranlaBte, daB ein Teil dieser Gliaelemente 
sich nicht weiter in normaler Bahn entwickelte, sondem jung blieb. 

Diese zweite MiBbildung ist, wie wir gesehen haben, in mehr- 
facher Hinsicht sehr interessant, sehr auffallend ist bei ihr auch die 
Starke der Veranderungen, die im Verlaufe der wenigen Schnitte vor sich 
gegangen sind. Wir haben gefunden, daB gerade so wie bei der ersten 
hier beschriebenen MiBbildung von der dorsalen Seite her, so hier von 
der ventralen Seite her eine Gliaerkrankung, die mit Wuche¬ 
rung und Erweiterung der Saftspalten einhergeht, aufgetreten 
ist. An der starken Vorw6lbung der Vorderhomer, an der pl6tzlichen 
und gewaltigen Durchwucherung des Zentralkanales konnten wir er- 
kennen, mit welcher Intensitat die Gliawucherung hier aufgetreten ist. 
Diese Intensitat hat es wahrscheinlich auch erm6glicht, daB die Wuche¬ 
rung einfach einen Teil der vorderen Fissur abzutrennen vermochte, 
der dann als eine zentrale H6hle weit in das Riickenmark hineinbezogen 
wurde. Zwischen dieser ,,Fissurenliicke“ und einer weiteren, aus 


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t)ber die embryonale Entstehung von Hbhlen im Rttckenmarke. 


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erweiterten Saftspalten entstandenen Liicke zeigte sich dann ein spe- 
zifischer Unterschied, insofem ala die e rate re nackt im Gewebe liegen 
blieb, die letztere dagegen nach weiterer VergrfiBerung sich mit einem 
Kranze von Zellen umgab, welche einem Ependymepithele sehr ahnlich 
waren und von Jung gebliebenen Gliaelementen herstammten. So wurde 
uns die Bildung einer akzessorischen Hohle inmitten einer 
Gliawucherung direkt vor Augen gefiihrt. Das Netz der erwei¬ 
terten Saftspalten und Saftkanale hing wiederum sowohl 
mit dem eigentlichen Zentralkanale wie mit dem akzessori¬ 
schen durch mehr oder weniger deutlich hervortretende 
Liicken zusammen. Diese zweite MiBbildung erganzte also die erste 
in mehrfacher Hinsicht sehr gliicklich. 


Beieinem 12tagigen Hfihnchen fand sich, ebenfalls im Halsmarke 
und zwar in dem unteren Teile desselben, eine dritte MiBbildung, 
die mit der eben beschriebenen des lltagigen Hfihnchens in mancher 
Hinsicht iibereinstimmte. Es handelte sich namlich wieder um eine 
seitliche Durchwachsung des Zentralkanals durch eine Glia¬ 
wucherung, infolge deren der ganze Rfickenmarksquerschnitt eine 
in dorsoventraler Richtung verlangerte Form angenommen hatte. In 
diesem Falle war die Wucherung aber eine so breite, daB das dorsale 
und ventrale Ende des Zentralkanales ganz weit voneinander getrennt 
war, das ventrale an seiner normalen Stelle, das dorsale aber ganz 
weit dorsalwarts gerfickt. Dabei waren die beiden Zentralkanalabschnitte 
so klein geworden, daB sie nur ]e eine ganz kleine kreisfQrmige Liicke 
darstellten. Die seitliche Durchwucherung des Zentralkanales war in 
diesem Falle also noch eine weit starkere wie in dem vorigen. Eine 
Abbildung dieses an sich sehr interessanten Falles haben wir hier nicht 
weiter gegeben, um die ohnehin schon groBe Anzahl von Abbildungen 
nicht noch zu vermehren. 

Diese beiden letzten Falle regen nun natfirlich die Frage an, zu 
welcher Zeit der Entwicklung diese seitlichen Durchwach- 
sungen des Zentralkanales wohl stattgefunden haben 
konnen? Wir mfichten annehmen, daB sie wohl zweifellos zu einer 
Zeit entstanden sind, als noch der primare Zentralkanal vorhanden war. 
Sehr nahe liegt es, anzunehmen, daB diese Durchwucherungen eingetreten 
sind zu der Zeit, als der primare Zentralkanal sich schloB, um den sekun- 
daren entstehen zu lassen. Wie weit eine solche Moglichkeit aber vor- 
liegt, wird man erst entscheiden kdnnen, wenn man fiber die Vorgange 
beim Schlusse des Zentralkanales noch etwas Genaueres weiB, als es jetzt 
der Fall ist. Wir haben ja oben schon hervorgehoben, daB diese Verhalt- 
nisse nicht so gut bekannt sind, als es wfinschenswert ware. 


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P. Sehiefferdecker und E. Leschke: 


Wir sehen also, daB die hier mitgeteilten Beobachtungen 
iiber 5 MiBbildungen sich in sehr erwiinschter Weise er- 
ganzen. Wir ersehen aus dem Vorhergesagten aber auch weiter, 
daB die Strukturverhaltnisse des Riickenmarkes noch nicht so gut be- 
kannt sind, um die gemachten Beobachtungen hinreichend zu verstehen, 
und daB daher nach dieser Richtung noch weitere Untersuchungen er- 
wiinscht sind. 

Zusammenfassung der Resultate des II. Abschnittes 1 ). 

1. Wir haben in der vorliegenden Arbeit bei zwei Huhnchen von 
7 Tagen, einem von 11 Tagen und zweien von 12 Tagen eigenartige Ver- 
anderungen beschreiben konnen, welche auf Gliaerkrankungen 
zuriickzufuhren waren. Diese Veranderungen waren mehr oder weniger 
stark, teilweise sehr stark ausgepragt, jedenfalls waren vier von ihnen 
direkt als MiBbildungen anzusehen. 

2. In drei Fallen (7, 11 und 12 Tage) handelt es sich dabei um aus- 
gedehnte Durchwachsungen des Zentralkanales in verschie- 
denen Richtungen. In einem weiteren Falle (7 Tage) um eine Ver- 
groBerung des Zentralkanales, zugleich mit einer Veranderung 
seiner Form und einer Abschnurung von Teilen des Zentral¬ 
kanales an der Seitenwand, welche dann weiter abwanderten. 
In einem Falle nur um starker erweiterte Saftlucken, welche fur 
eine besondere Struktur an besonderen Stellen des Riickenmarkes 
sprachen. 

3. Die Durchwucherungen des Zentralkanales traten dabei 
in zwiefach verschiedener Weise auf: Bei dem 7tagigen Huhnchen 
handelt es sich um eine in dorsoventraler Richtung den vergrdBerten 
Zentralkanal durchwachsende Scheidewand, welche einmal von dem 
dorsalen Ende des Zentralkanales ausging, von einer dort liegenden aus- 
gedehnten Gliawucherung, und zweitens von einer Glia wucherung, 
welche in der ventralen Gegend den Zentralkanal seitlich durch- 
brochen hatte, ihn in eine dorsale und ventrale Abteilung zerlegt hatte, 
und von der aus dann ebenfalls eine Scheidewand dorsalwarts in den 
Zentralkanal hineinwuchs der anderen entgegen. Bei den 11- und 12tagi- 
gen Huhnchen handelt es sich dagegen nur um eine seitliche Durch- 
wachsung des Zentralkanales in mehr oder weniger groBer Ausdehnung. 

4. Konnten wir fur die beiden letzten Falle es als mOglich annehmen, 
daB diese seitliche Durchwachsimg bei Gelegenheit des allmahlichen 
Schlusses des primaren Zentralkanales zum sekundaren eingetreten war, 
so war das bei der seitlichen Durchwucherung bei dem 7tagigen Hiihn- 
chen nicht mdglich. Man muB also jedenfalls annehmen, daB 

*) Die Zusammenfassung der Resultate des I. Abschnittes der 
Arbeit findet sich am Schlusse desselben (S. 17 ff.). 


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t)ber die embryonale Entetehung von HOhlen im Rdckenmarke. 


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auch direkt eine Durchwucherung des primaren Zentral- 
kanales an irgendeiner Stelle stattfinden kann, ohne daB 
dabei die bei der SchlieCung tatigen Vorg&nge bereits ein- 
getreten Bind. 

5. DaB solcbe seitliche Wucherungen in der Tat mit groBer Intensitat 
einsetzen kOnnen, dafiir sprach auoh der Befund bei dem lltagigen 
Hiihnchen, daB durch eine solche seitliche Durchwucherung 
sogar das dorsalste Stiick der vorderen Fissur abgeschnitten 
und in das Biickenmark einbezogen werden konnte, ein 
jedenfalls sehr merkwiirdiger und bisher wohl noch nicht 
gemaobter Befund. 

6. In alien diesen Fallen fand sich gleichzeitig neben den sonstigen 
Veranderungen eine starke Erweiterung des Lymphs palten- 
netzes mehr oder weniger weit durch die ganzen Ruckenmarksschnitte 
hin. Es sprach dies dafiir, daB infolge der Gliaerkrankung, die Ja zweifel- 
los in alien diesen Fallen die Grundlage bildete, eine Vermehrung des 
Saftstromes eingetreten war. Die erkrankten Gliazellen sonder- 
ten mehr Saft ab als unter normalen Verhaltnissen, und 
so muBten auch die abfiihrenden Bahnen sich so stark er- 
weitern, daB sie, die fur gewohnlich unsichtbar bleiben, 
deutlich sichtbar wurden. Wahrscheinlich werden in solchen Fallen 
aufier den gewdhnlich schon vorhandenen sehr feinen Liicken sich wohl 
auch noch weitere neue in der Grundsubstanz bilden kdnnen. Man fand 
in diesen Fallen dann weiter, daB diese Lymphspaltensysteme 
sioh mehr oder weniger deutlich nach dem Zentralkanale 
hin orientierten, und endlich, daB auch zwischen den Epen- 
dymzellen des Zentralkanales deutliche Liicken auftraten, 
welche ev. direkt in das Lumen einmiindeten. Das ganze 
Bild sprach entschieden dafiir, daB die in dem erweiterten Liicken- 
systeme enthaltene Flussigkeit in den Zentralkanal abfloB, und hieraus 
konnte man wieder den SchluB ziehen, daB auch unter normalen 
Verhaltnissen ein solcher AbfluB der normalenFliissigkeits- 
menge in dem unsichtbaren Spaltensysteme in den Zentral¬ 
kanal hinein stattfindet. Hierfiir sprechen auch die Beobachtun* 
gen iiber das Auftreten von Alkohol, Urotropin und Ferrocyan in 
der Spinalfliissigkeit, einige Zeit nachdem sie in dem Blute nachweisbar 
sind. Ebenso die langere Dauer der Nachweisbarkeit des Alkohols in 
der Spinalfliissigkeit als im Blute. 

7. Ebenso wie in den normalen Zentralkanal miindete 
aber das erweiterte Liickensystem auch ein in die akzesso- 
rischen Kanale oder Cysten, welche sich in dem einen Falle 
(7tagiges Hiihnchen) in grdBerer Anzahl in dem Riickenmarke vor- 
fanden (Syringomyelie). 

Z. I. d. g. Near. a. Psych. O. XX. 7 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


8. Was die Entstehung dieser akzessorischen Kanale 
oder Cysten anlangt, so sprachen die in dieser Arbeit gemachten Be- 
obachtungen fiir das folgende: Infolge der Erweiterung des Saft- 
liickennetzes bilden sich an manchen Stellen des Riioken- 
markes besonders groBe Lucken aus. Diese liegen an sol- 
chen Stellen, an denen der AbfluB aus dem Liickensysteme 
nach dem Zentralkanale starker behindert ist, entweder da- 
durch, daB diese Stellen verhaltnismaBig weit von dem Zentralkanale 
abliegen (zahlreiche Beispiele bei der ersten MiBbildung von dem 
7tagigen Huhnchen), oder dadurch, daB sich ein Hindemis zwischeri 
den Luckenbezirk und den Zentralkanal einschiebt (11 tagiges Huhnchen, 
Einschiebung der Fissurenliicke und der vorderen Commissur Fig. 22,23, 
Taf. VII und VIII). Infolge dieser Behinderung des Abflusses 
bildet sich dann in dem Zentrum dieses Liickenbezirkes 
eine besonders groBe Lucke aus, welche als Cyste oder ak- 
zessorischer Kanal erscheint. Tritt diese Bildung schon in einem 
Entwicklungsstadium auf, in welchem die samtlichen Gliazellen noch so 
jung sind, daB sich aus ihnen ohne Schwierigkeit Zellen entwickeln k6n- 
nen, die den Eindruck eines Ependymepithels machen, so ordnen sich 
die um diese groBe Lucke liegenden Gliazellen radiar an, 
und es entsteht ein Bild, das durchaus an das Ependym- 
epithel erinnert, vielleicht ist auch die so entstandene Umgrenzung 
der Lucke als ein richtiges Ependymepithel anzusehen. Bildet sich die 
groBe Liicke in einem spateren Entwicklungsstadium aus, so wird sie von 
einem Kranze von ependymepithelahnlichen Zellen nur dann umgeben, 
wenn sie sich an einer Stelle gebildet hat, an der noch mehr oder weniger 
groBe Haufchen von jung gebliebenen Gliazellen vorhanden sind. 
Diese Zellen wachsen dann verschieden weit um die Lucke herum und 
sehen dann wieder mehr oder weniger einem Ependymepithel ahnlich. 
Solche Haufchen von jung gebliebenen Gliazellen scheinen 
aber bei Gliaerkrankungen leicht bis in spatere Entwick- 
lungsstadien hinein iibrigzubleiben. Diese jung gebliebenen 
Gliaelemente zeichnen sich durch ihre Kernbildung aus, welche auch in 
spateren Entwicklungsstadien der der Kerne der Ependymzellen ent- 
8prioht. Man kdnnte hieraus vielleicht den weiteren SchluB ziehen, 
daB auch die Zellen des Ependymepithels, wenigstens noch langere Zeit 
wahrend der Entwicklung, ein jugendliches Aussehen bewahren. Zu 
der Bildung von akzessorischen Kanalen oder Cysten, welche 
auf dem Querschnitte das Aussehen eines Zentralkanales 
haben, gehdrt also zweierlei: Die Bildung einer grdBeren 
Saftlucke und junge Gliazellen in der Umgebung der- 
selben. 

Es ware iibrigens auch denkbar, daB sich an Stellen, an denen sich 


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Uber die embryonale Entstebong von Hfthlen im Rttckenm&rke. 99 

Anhaufungen von jungen Gliazellen noch befinden, verhaltnismaBig 
leicht solch groBe Liicken bilden konnen. 

DaB bei solchen Erkrankungen der Glia, die im wesentlichen als Std- 
rungen dee Stoffwechsels erscheinen, mehr oder weniger groBe Mengen 
von jungen Gliazellen iibrig bleiben kdnnen, wild verstandlich, wenn man 
iiberlegt, daB infolge dieser Stdrung die normale Weiterentwicklvmg der 
Gliazellen gestdrt wird; unter solchen Umstanden kdnnen dann leicht 
Jugendstadien noch zu einer Zeit erhalten bleiben, in der sonst nur fort- 
geschrittene Stadien gefunden werden. Die jung gebliebenen Gliazellen 
entwickeln sich dann unter diesen abnormen Verhaltnissen spater wie sie 
eben kdnnen, unter Umstanden auch zu mehr oder weniger gut ausge- 
bildeten Ependymzellen. Sind diese doch nichts weiter als Gliazellen, 
die einen Hohlraum umgeben, und daher eine epithelartige Lagerung 
und Beschaffenheit angenommen ha ben. 

9. Wie die Beobachtungen bei dem ersten 7tagigen Hiihnchen lehr- 
ten, kann eine Erweiterung des Zentralkanales eintreten, 
ohne daB ein AbfluBhindernis vorhanden ist, dadurch, daB 
eine Gliawucherung an einer Stelle den Zentralkanal erreicht und so 
seinen Umfang vergrdBert, die Fliissigkeit flieBt dann natiirlich zu und 
fiillt den Kanal. 

10. An den Stellen, an denen eine solche Gliawucherung den Zentral¬ 
kanal erreicht, oder an den Teilen der Wucherungen, welche den Zentral¬ 
kanal direkt durchsetzen, bildet sich an den Randpartien gewOhnlich 
auch eine radiare Anordnung der Gliazellen a us, welche mehr oder weni¬ 
ger dem Ependymepithel ahnlich ist. Wir haben in solchen Fallen von 
einem „Pseudoependymepithel“ gesprochen. Als ein solches 
kdnnen ev. auch die Umgrenzungen der akzessorischen Kanale oder Cy- 
sten angesehen werden. Unserer Meinung nach besteht zwischen 
dem echten Ependymepithel und dem Pseudoependymepi- 
thel kein prinzipieller Unterschied. Es handelt sich nur darum, 
wie weit die herumgelagerten Gliaelemente die richtige Form und Be¬ 
schaffenheit des Ependymepithels anzunehmen noch fahig waren. 

11. Recht interessant ist es, daB das bei dem lltagigen Hiihnchen in 
das Riickenmark einbezogene dorsalste Stuck der vorderen Fissur, die 
,,Fissurenlucke“, ganz scharf begrenzt und nackt blieb, obgleich 
junge Gliaelemente sich in ihrer Nahe befanden, allerdings nicht in ihrer 
unmittelbaren Umgebung. Auch durch ihre eigenartige scharfe Begren- 
zung unterschied sich diese „Fis8urenlucke“ wesentlich von den er- 
weiterten Saftliicken, deren Begrenzung weit weniger scharf hervortritt, 
falls sie nicht von einem Kranze von ependymahnlichen Zellen derartig 
umgeben sind, daB diese Zellen an das Lumen angrenzen. 

12. Wir konnten an verschiedenen Entwicklungsstadien von normalen 
Hiihnchen zeigen, das das dorsale Ependymepithel der Deckplatte 

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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


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sich bei seiner allmahlichen Umbildung zu dem Epithel 
des dorsalen SchluBkeiles in einer sehr eigenartigen Weise 
differenziert, und daB die durch diese Differenzierungentstandenen, 
zarten und langen Zellenden, welche an das Lumen des Zentralkanales 
direkt anstoBen, sich bei der Cajalschen Silberfarbung starker mit Sil- 
ber farben als die sonstigen Ependymzellen, so daB auf diese Weise eine 
dunkle Dreiecksfigur entsteht, die fur diese Stelle charakteristisch 
ist. 

13. Wir konnten weiter zeigen, daB die peripheren Teile der 
Zellkorper dieses Epithels der Deckplatte und ebenso die 
des spateren aus ihm hervorgehenden dorsalen Keilepi- 
thels sich fest an die Piaanlage anfiigen, mit ziemlich breiten 
Ansatzen, daB die Kerne dieser Zellen im allgemeinen auch nach dieser 
Richtung hinriicken, teilweise sogar der Pia ziemlich dicht anliegen, 
und daB in den Stellen der Pia, an denen sich diese Zellen festsetzen, 
besonders haufig BlutgefaBe zu finden sind, welche nahe dem Rande ver* 
laufen. 

14. Diese Beobachtungen veranlaBten uns zu dem Schlusse, daB 
diese eigentiimliche Differenzierung des Deckepithels die 
Bedeutung hat, diese Zellen zu befahigen, aus der Pia 
Nahrungsstoffe aufzunehmen und dem Zentralkanale zu- 
zufiihren. Es wiirde dies besonders wichtig sein fiir diejenige Zeit 
der Entwicklung, in der noch keine oder nur erst wenige BlutgefaBe 
in dem Riickenmarke enthalten sind. DaB die Kerne dieser Zellen zu 
einem grbBeren Teile der Pia so nahe liegen, spricht ebenfalls dafiir, 
daB hier dicht an der Pia die Hauptzelltatigkeit vor sich geht, denn wir 
wissen aus sonstigen Beobachtungen, daB in Zellen, welche an einer be- 
stimmten Stelle ihres KCrpers eine besonders starke Tatigkeit zu ent- 
wickeln haben, die Kerne in der Nahe dieser Stelle zu liegen pflegen. 

15. Wir zogen hieraus den weiteren SchluB, daB die sonst den 
Zentralkanal umgrenzenden, nicht in dieser Weise diffe- 
renzierten Ependymzellen wahrscheinlich Nahrungsstoffe 
aus dem Zentralkanale aufnehmen und weithin durch das 
Ruckenmark leiten werden, woselbst ja bekanntlich in 
den zahlreichen Verastelungen ihrer peripheren Fort- 
satze die nervosen Elemente liegen, so daB sie auf diese 
Weise diesen Nahrung zufiihren wiirden. Es entspricht diese An- 
nahme den Beobachtungen iiber die Tatigkeit der Gliazellen im erwach- 
senen Zustande: Sie wiirden damach Nahrungsstoffe aufnehmen, diese 
in ihrem ZellkOrper verarbeiten und sie dann in dem passenden* Zustande 
den Nervenelementen zufiihren. 

16. Auch von den Zellen des ventralen Keilepithels konnten wir 
annehmen, daB sie Nahrung aus dem Zentralkanale auf- 


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t)ber die embryonale Entstehung von HOhlen im Rttckenm&rke. 


101 


nehmen und diese dann ganz beatimmten nervosen Ele- 
menten, namlich den Nervenfasern der vorderen Com* 
missur, zufiihren. Diese Nervenfasern treten durch das Gewin¬ 
der peripheren Fortsatze der Zellen des ventralen Keilepithels direkt 
hindurch, werden von ihnen also allseitig umgeben, es hat daher keine 
Schwierigkeit, zu verstehen, daQ sie von diesen peripheren Fortsatzen 
aus emahrt werden kdnnen. Die Kerne der Zellen des ventralen Keil¬ 
epithels grenzen in den friihen Entwicklungsstadien stets direkt an die 
dorsalsten Nervenfasern der vorderen Commissar an. Es sprioht dies 
wieder dafiir, daQ an dieser Stelle eine besonders starke Tatigkeit der 
Zellen statthat: eben die fur die Emahrung der Nervenfasern nOtige 
Tatigkeit. In spateren Entwicklungsstadien andert sich das, da allmah- 
lich mehr und mehr Gliaelemente in die zuerst vdllig von ihnen freie 
•vordere Commissur von den Seiten her einwandem. Diese Zellreihen 
schieben sich dann zunachst ein zwischen die dorsalsten Fasem der 
vorderen Commissur und die Kerne des ventralen Keilepithels. Wie 
weit auch spater noch die Zellen des ventralen Keilepithels neben den 
.jetzt eingewanderten Gliazellen der Emahrung der Nervenfasern der 
vorderen Commissur dienen werden, lieQ sich zunachst nicht feststellen. 
Dadurch mm, daQ die Kerne der Zellen des ventralen Keilepithels an 
die Fasem der vorderen Commissur dicht heranriicken, werden dieje- 
nigen Teile der Zellkdrper, welche an den Zentralkanal anstoQen, kem- 
frei, und so bieten die Zellen ein ganz eigenartiges Aussehen dar, durch 
welches sie sich sehr deutlich von den Ependymzellen der Seitenplatten 
unterscheiden. Dieses charakteristische ventrale Keilepithel geht seit- 
lich stets nur so weit wie die vordere Commissur. Es scheint ubrigens, 
daQ auch die an den Zentralkanal anstoQenden Teile der ZellkOrper 
dieses ventralen Keilepithels sich anders verhalten, chemisch oder viel- 
leicht auch physikalisch, ails die Zellen der Seitenplatten, da sie von dem 
Silber weniger stark gebraunt werden als diese. Sie treten daher, nament* 
lich bei dunkleren Farbungen, durch ihre helle Farbe deutlich hervor. 

17. Man muQ annehmen, daQ das gesamte Riickenmark, in 
dem irgendwelche Lymphbahnen noch nicht haben nach- 
gewiesen werden konnen, von zahlreichen, sehr feinen 
Saftspalten durchzogen wird, welche zu den ,,minimalen 
Raumen“ gehoren, die ihrer Feinheit wegen unter dem Mikroskope 
auch bei starken VergrOQerungen nicht sichtbar sind. Bei den Er- 
krankungen der Glia kann augenscheinlich, wie oben 
schon erwahnt, von den Gliazellen eine erheblich groQere 
Flussigkeitsmenge als normal in das Riickenmark hinein- 
gefiihrt werden, durch den Riioklauf dieser werden dann 
die Saftspalten erheblich erweitert und auf diese Weise 
sichtbar. Man kann ihre Bahnen dann verfolgen und beob- 


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102 P. Schiefferdecker and E. Leschke: 

achten, daB sie in den Zentralkanal ausmunden, viel- 
-leicht auch in die die BlutgefaBe umgebenden Lymph- 
bahnen. 

18. Bei Gliaerkrankungen kann die Anderung des Gewebes, 
wenigstens bei den jungen Entwicklungsstadien des embryonalen Hiihn- 
cbens so weit gehen, daB das Gewebe einen schwammigen Typus 
erhalt, bei dem die Liicken von dem durchstrOmenden Zellsafte erfiillt 
sind. In solchen Fallen wird die ganze Grundsubstanz von der Fliissig- 
keit hochgradig durchtrankt sein, and die in normalem Zustande vor- 
handenen feinen Saftspalten werden nur eihen kleinen Teil dieses 
Schwammwerkes bilden. 

19. Es ist infolgedessen nicht notig, ein AbfluBhindernis 
anzunehmen, das eine Stauung veranlaBt, um diese ver- 
raehrte Flussigkeitsmenge im Gewebe zu erklaren, es ge- 
niigt hierzu die infolge der Erkrankung veranderte Be- 
schaffenheit der Gliaelemente. 

20. Wie wir bei der zuerst beschriebenen MiBbildung (Hiihnchen von 
7 Tagen) zeigen konnten, kann schon in frtiher Embryonalzeit, 
beim 2tagigen oder 3tagigen Hiihnchen, in dem Ependymepithel der 
Deckplatte eine Erkrankung auftreten, infolge deren eine 
Gliawuoherung sich ausbilden kann,duroh welchedasnormaler- 
weise einfache Silberdreieck in zwei entsprechende Dreiecke zerlegt 
wird. In einem solchen Falle kann man daher genau den Ort und un- 
gefahr auch die Zeit des Beginnes der Erkrankung feststellen. 

21. Bei dem von der dorsalen Seite her eintretenden Verechlusse 
des primaren Zentralkanales bleibt bei der Aneinanderlagerung der 
Seitenwande des Zentralkanales das Silberdreieck vielleicht an seiner 
alten Stelle liegen und erscheint in den spateren Entwicklungsstadien, 
so noch bei Hiihnchen von 12 Tagen, Als ein dunkler gefarbter, 
in der Raphe gelegener Streifen. Das Genauere dieses Vorganges muB 
noch untersucht werden. Da an dem dorsalen Rande des neu entstehen- 
den sekundaren Zentralkanales sich wieder ein solches Silberdreieck 
-zeigt, so muB man annehmen, daB auch zu dieser Zeit noch die Funktion 
des dorsalen Keilepithels fortbesteht, wenn auch wahrscheinlich in ab- 
geschwachtem MaBe, da zu dieser Zeit das Riickenmark schon von zahl- 
reichen BlutgefaBen durchzogen wird. 

22. Wie lange der Zentralkanal die Funktion behalt, Nahrungsstoffe 
zuzufiihren imd Verbrauchsstoffe abzufiihren, laBt sich vorlaufig nicht 
bestimmen. 

23. Sehr merkwurdig war die Beobachtung, daB auch an den neu- 
gebildeten Cysten oder Kanalen in seltenen Fallen eine ganz 
ahnliche Differenzierung des Epithels eintreten kann, wie 
bei dem dorsalen Keilepithel. Eine Ursache hierfur laBt sich vor- 


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Ober die embryonale Entstehung von Hdhlen im Rttckemnarke. 


103 


laufig nicht angeben. Eine Differenzierung in der Art des ventralen 
Keilepithels war dagegen nicht aufzufinden. 

24. Nach den vorliegenden Beobachtungen ist es jeden- 
falls zweifellos, daQ es eine Anzahl von Fallen von Syringo¬ 
myelic gibt, bei denen eine schon in sehr friiher Zeit der 
Entwicklung eingetretene Erkrankung derEpendym- oder 
Gliazellen als die Ursache anzusehen ist. Aus den hier be- 
fechriebenen Fallen geht weiter hervor, dafi die so ent- 
standenen Erkrankungen und MiBbildungen ziemlich ver- 
schiedener Art sein konnen. Die in solchen Fallen unter 
Umstanden auftretenden akzessorischen Kanale oder Cy- 
sten konnen sowohl lokal entstehen, wie auch dttrch 
Abschniirung von dem Zentralkanale. Unter Umstanden 
kann sich eine ziemlich weit im Riickenmarke liegende 
Liicke sogar durch Abschniirung des dorsalen Endes der 
vorderen Fissur entwickelt haben. 


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Wiener med. Wochenschr. 1897> Nr. 38 und 39. 

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genese der Syringomyelie mit besonderer Beriicksichtigung ihrer Beziehung 
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Ober Neuralepithel in Neurogliomen. Zentralbl. f. Pathol, u. pathol. Anat. 
tl, 145. 1910. 


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P. Schiefferdecker und E. Leschke: 


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11. K5lpin, Hamatomyelie und Syringomyelie. Archiv f. Psych. 44 . 

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d. naturw.-med. Ver. Innsbruck 1876. 

14. Smith, Amelia, Multiple canals in the spinal cord of a chick embryo. Anat. 
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16. Voigt, Spina bifida cervicalis et lumbalis. Anat. Hefte H. 91. 1906. 

17. Cutore, Richerche istologische sul anomalia del canale midollare usw. Atti 
Aocad. Gioenia Ser. 4, Vol. 12 und 13; Anomalie del sistema nervoso central© 
usw. Anat. Anz. 18, 391. 1900. 

18. Banchi, Supra duo casi di monstruositk doppia in giovani embrioni di polio. 
Monit. Zool. Ital., Vol. 6, 126. 1895. (Mit Iiteratur.) Ancora un caso di 
monstruositA doppia usw. Ebenda Vol. 7, 231. 1896; Le anomalie della linea 
primitiva negli embrioni di polio. Ebenda Vol. 8, 147. 1897. 

19. Jakoby, M., t)ber einen Fall von Hohlenbildung im embryonalen Riicken- 
mark. Virchows Archiv 141, 391; Ein Fall von partieller Doppelbildung des 
embryonalen Riiokenmarks. Ebenda 147, 158. 

20. Kolster, t)ber Hohlenbildung im Riickenmark von Embryonen von Sterna 
hirudo und Larus canus. Anat. Anz. 15, 342. 1898. 

21. Staderini, Anomalie congenite di formazione del sistema nervoso central© 
usw. Sperimentale Anno 47, 170. 1893. 

22. Balfour, TraitA d’embryologie et d’organogAnie comparAe. Paris 1885. 

23. Chiarugi, Intomo a un uovo umano monstruoso. Sperimentale T. 45, 146. 
1891. 

24. v. Recklinghausen, Untersuchungen iiber die Spina bifida. Virchows 
Archiv 5, 417. 1881. 

26. Benecke, R., Festschr. f. Wagner 1888. 

26. Honel, Bull, et MAm. de la Soc. de Chirurgie 1887. 

27. Muscatello, Archiv f. klin. Med. 1887. 

28. Theodor, Archiv f. Kinderheilk. £4 (zit. n. Voigt (16)). 

29. Kaiser und Kiichenmeister, Untersuchungen iiber die Entstehung von 
Hohlenbildungen im Riickenmark. Archiv f. Psych. 34. 1898. 

30. Askanazy, Beziehungen zwischen MiBbildung und Geschwulstbildung. 
Arbeiten aus dem pathol. Instit. zu Tubingen 4. 1908. 

31. Podmanicky, T., Uber kongenitale Neurogliome. Frankfurter Zeitschr. f. 
Pathol. 5, 255. 1910. 

32. Muthmann und Sauerbeck, Zieglers Beitrage zur Pathol. 34. 

33. Ernst, P., MiBbildungen des Nervensystems in Ernst Sohwalbes: Die 
Morphologic der MiBbildungen des Menschen und der Tiere, Teil 3, Abt. 2, 
Jena 1909. 

34. Reichardt, M., Uber einige normal© und krankhafte Vorgange in der Him- 
substanz. Sitz.- Ber. d. physikaL-med. Ges. zu Wiirzburg 1911, Nr. 1, 
S. 1—11. 


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Ober die embryon&le Entstehung von Hbhlen im RUckenmarke. 


105 


35. Baum, H., Die LymphgefaBe dee Nervensystems dee Rindes. Zeitschr. f. 
Infektionskrankh., parasit&re Krankh. u. Hygiene der Haustiere It, H. 5, 
S. 387—396, 1 Taf. 1912. 

36. Knpffer, K. v., Die Morphogenie des Zentralnervensystems. Handbuch d. 
vergleichenden u. exper. Entwicklungslehre der Wirbeltiere, herausg. v. 
O. Hertwig *, T. 3, S. 1—272 m. 302 Abb. 1906. 

37. Lenhossik, M. v., Der feinere Bau des Nervensystems im Lichte neuester 
Forschungen, 2. Aufl., 1895, Berlin, Fischers med. Buchhandl. H. Komfeld. 

38. Retains, G., Stndien iiber Ependym und Neuroglia. Biol. Untersuchungen 
N. F., 5, 9—26, 1893. M. 8 Taf. 

39. Cajal, S. Ram6n, Histologie dn syst£me nerveux de l’homme et des vert4- 
br&. Edition fran£aise. Traduite par le Dr. I. Azoulay. T. 1, 1909, Paris, 
A. Maloine. Kapitel 21, S. 589—664. 

40. Schiefferdecker, P., Die „minimalen Raume" im Kbrper. Archiv f. mi- 
kroakop. Anat. u. Entwicklungsgeschichte $ 9 , 439—455. 1906. 

41. Schnmm, O. und Fleischmann, R., Untersuchimgen iiber den Alkohol- 
gehalt der Spinalflussigkeit bei Alkoholisten und Deliranten. Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilk. 44, H. 3, S. 275—292. 1913. 


ErkUrung der Tafeln I—Till. 

Tafel I. 

Fig. 1. Das dorsalste Ende eines Schnittes durch das miBbildete Ruckenmark 
eines Huhnchens von 7 Tagen, um die eigenartigen Gliafasem und die 
Anordnung der Zellkeme in der Gliawucherung zu zeigen. Ganz unten 
der dorsalste Abschnitt des Zentralkanales mit einem Silberdreiecke, 
das hier aber eine etwas abweichende Form hat, und der Begrenzung dieses 
Zentralkanalabschnittes durch die Gliawucherung. Die von dem Riicken- 
marke durch einen Spaltraum getrennte Piaanlage ist nur angedeutet. 
Silberimpragnation nach Cajal. VergrbBerung 225. 

Fig. 2. Schnitt durch das miBbildete Ruckenmark des 7tagigen Huhnchens 
aus dem kranialen Abschnitte der MiBbildung. Silberimpragnation nach 
Cajal. VergrbBerung 121. 

Tafel n. 

Fig. 3. Ein Teil eines Schnittes durch das Gliom. VergroBerte Wiedergabe eines 
Stuckes der auf Fig. 5 gegebenen Zeichnung. Silberimpragnation nach 
CajaL VergrbBerung 700. 

Fig. 4. Abbildung des Gewebes der Gliawucherung dorsalwarts von dem Zen- 
tralkanale mit einem Silberdreiecke und einer von dem Kanale in das 
Gewebe hineinziehenden Lucke. Silberimpragnation nach Cajal Ver- 
groBerung 540. 

Fig. 5. Ein Silberdreieck mit seinen Details. VergrbBerung 720 (Olimmersion). 

Fig. 6. Ein anderes Silberdreieck, bei welchem die Zellkorper leicht wellig ver- 
laufen und daher deutlicher hervortreten, und bei dem die Silberfarbung 
weniger stark ist. Hiihnchen von 7 Tagen, MiBbildung. VergrbBerung 
720 (Olimmersion). 

Tafel m. 

Fig. 7. Ein Schnitt von dem 7tkgigen Hiihnchen mehr nach der Mitte der MiB¬ 
bildung zu. Silberimprftgnation nach Cajal. VergrbBerung 114. An der 
einen Seite noch ein Teil des Spinalganglion. Dieser Schnitt liegt um- 
gekehrt wie die ubrigen. 


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P. Sohiefferdecker and E. Leschke: 


Fig. 8. Def dorsale Teil des Zentralkanales der Fig. 7 bei st&rkerer VergroBerung 
(030). Silberdreieck und Liicke, welche in das Gewebe hineindringt. 

Fig. 9. Ein Schnitt aus dem Anfange des normalen Riickenmarkes caudalwarts 
von der MiBbildung bei dem 7 t&gigen Hiihnchen, als Beispiel fiir das 
Aussehen des normalen Riickenmarkes. Silberimpr&gnation nach CajaL 
VergroBerung 95. 

Tafel IV. 

Fig. 10. Querschnitt durch das Riickenmark eines 3 Tage alten Hiihnchens, etwa 
aus der Gegend der mittleren Herzpartie. Silberimpr&gnation nach Cajal. 
VergroBerung 562. 

Fig. 11. Die Deckplatte und die anliegenden Teile der Textfig. 33 bei st&rkerer Ver¬ 
groBerung (562). Der Schnitt ist aus der Gegend der hinteren Extremit&t 
entnommen. Silberimpr&gnation nach Cajal. 

Fig. 12. Das ventrale Keilepithel und die anliegenden Teile von der Textfig. 33 
bei st&rkerer VergroBerung (562). 4t&giges Hiihnchen, Gegend der hin¬ 
teren Extremit&t. Silberimpr&gnation nach CajaL 

Tafel V. 

Fig. 13. Das dorsale Keilepithel und die n&chste Umgebung von der Textfig. 34 
bei st&rkerer VergroBerung (030). Schnitt durch das Riickenmark eines 
5 Tage alten Hiihnchens aus der oberen Herzgegend. Silberimpr&gnation 
nach Cajal. 

Fig. 14. Das dorsale Keilepithel und die n&chste Umgebung von einem Riicken- 
markschnitte von einem 6t&gigen Hiihnchen aus der Gegend des Beginnes 
der Trennung von Speiserohre und Luftrohre. Verengerung des dorsalen 
Teiles des Zentralkanales als Anfang des Schlusses desselben. Silberimpr&g¬ 
nation nach Cajal. VergroBerung 562. 

Fig. 15. Dieselbe Gegend von einem Riickenmarksschnitte desselben Hiihnchens 
wie Fig. 14 aus der Gegend des Anfanges der hinteren Extremit&t. Die 
Seitenw&nde des Zentralkanales liegen hier unterhalb des dorsalen Keil- 
epithels schon dicht aneinandergelagert. Silberimpr&gnation nach Cajal. 
VergroBerung 502. 

Fig. 16. Das dorsale Keilepithel und die n&chste Umgebung aus dem Riickenmarke 
eines 7t&gigen Hiihnchens nach Fixierung in Sublimat und F&rbung in 
Karmin aus der Gegend des Endes des Ursprungs der unteren Extremit&t. 
VergroBerung 420. 

Tafel VI. 

Fig. 17. Die Gegend des ventralen Keilepithels mit der n&heren Umgebung von 
einem Riickenmarksschnitte aus der Gegend des Schultergiirtels von einem 
7tagigen Hiihnchen. Die Nervenfasem der vorderen Commissur Bind 
nicht eingezeichnet worden. Silberimpr&gnation nach Cajal. VergroBe¬ 
rung 562. 

Fig. 18. Der mittlere Abechnitt eines Riickenmarkschnittes von einem lOt&gigen 
Hiihnchen aus der Lebergegend mit sekund&rem Zentralkanale. Silber¬ 
impr&gnation nach Cajal. VergroBerung 225. 

Fig. 19. Der mittlere Abschnitt eines Riickenmarksschnittes mit sekund&rem 
Zentralkanale aus dem Halsmarke eines llt&gigen Hiihnchens. Silber¬ 
impr&gnation nach Cajal. VergroBerung 225. Der Abschnitt ventral 
von dem Zentralkanale ist nicht eingezeichnet worden. 


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t)ber die embryonal© Entstehung yon Hahlen im Rttckenmarke. 

Tafel VH. 

Fig. 20. Der mittlere Abechnitt eines Ruckenmarksschnittes mit sekundarem 
Zentralkan&le aus dem unteren Halsmarke eines 12t&gigen Huhnohens. 
Silberimprfignation naeh Cajal. VergroBerung 282. Auftreten von er- 
weiterten Saftliicken zu beiden Seiten des dorsalen Keilepithels und dee 
Zentralkanales, Auftreten von Lucken im Ependymepithel zu beiden Sei¬ 
ten des dorsalen Keilepithels, welche in die erwedterten Saftluoken ein- 
miinden. 

Fig. 21. Der mittlere Abschnitt eines Riiokenmarksohnittes aus dem Halsmarke 
eines Ut&gigen Huhnohens mit MiBbildung. Silberimprftgnation naoh 
Cajal. VergroBerung 282. 

Fig. 22. Der mittlere Teil eines Riiokenmarksohnittes von demselben Hiihnchen 
wie Fig. 21. Silberimpr&gnation nach Cajal. VergroBerung 282. 

Tafel VIIL 

Fig. 23. Wie Fig. 22. 

Fig. 24. Wie Fig. 23. 




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Beitrag zur Kenntnls derFriihstadien der diffusen Hirnsklerose 
(die periyasculare Marknekrose). 

Von 

Knud Krabbe. 

(Aus dem psychiatrischen Laboratorium der Univerait&t Kopenhagen [Direktor: 

Professor Friedenreioh].) 

Mit 1 Textfigur und 1 Tafel. 

(Eingegangen am 6. September 1913./ 

In der Literatur findet sich eine Reihe von Fallen, welche unter 
dem Namen: Diffuse Hirnsklerose beschrieben sind. Einige der era ten 
Falle sind die von Kelp (1871) und Schiile (1872) beschriebenen, 
spater hat Striimpell den Begriff scharfer geformt. In der letzten 
Zeit sind u. a. die Falle von Haberfeld - Spieler und Schilder 
die am ausfiihrlichsten beschriebenen. 

Das pathologisch-anatomische Substrat dieses Leidens ist eine sehr 
groBe Harte des Gehims, eine Harte, welche friiher als Ausdruck 
einer Vermehrung des Bindegewebes, neuerdings aber als eine Ver- 
mehrung des Gliagewebee aufgefaBt wurde. Verschiedene Verfasser 
neigen zu der Meinung, daB die diffusen Himsklerosen in Wirklichkeit 
SchluBstadien einer Reihe verschiedener Krankheitsprozesse sind. 
Einige derselben sind wahrBcheinlich syphilitischer Natur; andere 
sind vielleicht auBerordentlich vorgeschrittene Falle disseminierter 
Sklerose; es bleibt aber eine Gruppe, deren Genese in vblligem Dunkel 
ruht. Es wurde deshalb von Bedeu'tung sein, die Friihstadien dieser 
Krankheit zu erforschen. Wir haben die Gelegenheit gehabt, einen Fall 
zu untersuchen, welchen wir aus Griinden, die wir spater auseinander- 
setzen werden, als ein Friihstadium der diffusen Hirnsklerose betrachten. 
Der Fall ist folgender: 

R. M., 1 Jahr alt, auf die neurologisohe Abteilung des „Kommunehospital“ in 
Kopenhagen am 14. November 1912 aufgenommen, am 19. November 1912 ge- 
storben. 

Die Eltem des Kindes waren gesund, verneinten Syphilis und Tuberkulose. 
Die Mutter hatte nie abortiert. An einem Bruder von 3 Jahren waren 1 Jahr zuvor 
ahnliche Symptome zu beobachten, er war jetzt aber gesund. 

Der Patient hatte die Mutterbrust bekommen. Friiher immer gesund. 

8 Tage ehe das Kind aufgenommen wurde, hatte es Durchf&Ue gehabt, danach 
Obstipation, zuletzt keinen Stuhl seit 3 Tagen. Zur selben Zeit wurde es unruhig 


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K. Krabbe: Beitrag zur Kenntnis der Frtihstadien der diffusen Hirnsklerose. 109 


1 Tag vor der Aufnahme in das Krankenhaus sehielte es and wurde steif im 
Genicke. Kein Erbreehen. Bei der ersten Untersuchung im Hospitals wurde 
folgendes gefunden: Die Temperatur war 36,6. Das Kind war stumpf und weiner- 
lich. Kein Schielen oder Z&hneknirschen, keine Genicksteifigkeit. Die Pupillen 
reagierten auf Licht. Das Kind hielt den Kopf rechts gedreht. Die Extremit&ten wa¬ 
xen abweohselnd stark rigid und vollig schlaff. Die Sehnenph&nomene normal. 
Die Stetoskopie ergab nichts Pathologischee. Das Kind war wohl em&hrt, etwas 
raohitisoh. 

Kurz nach der Untersuchung bekam das Kind einen Kiampfanfall mit Zuckun- 
gen in Armen und Beinen; er dauerte etwa 10 Minuten. Am folgenden Tage ofters 
kleine Zuckungen besonders des r. Armes. Ofters tonische Contraotur der r. Ober- 
und Unterextremit&t mit Flexion der Finger, bisweilen auch Contraotur dee Ge« 
nickes und der Rumpfmuskeln mit Opisthotonus und Steifigkeit der Bauchmuskula- 
tur. Das Kind schlief nur wenig. Bei der Untersuchung am folgenden Tage fand 
sich der Kopf und die Augen, besonders das iinke Auge rechts gedreht. Ein wenig 
Trismus. Kein Chvostek- oder Trousseau-Ph&nomen. Farbenwechsel des Gesichtes. 
Bei Beruhren der Ext re mi ta ten entstand tonische Contraotur. Die groBen Zehen 
waren in permanenter Babinskistellung. 

Bei Lumbalpunktion kam die Spinalfliissigkeit in einemStrahle heraus; da sie 
aber blutig war, wurde das Resultafr der Zellenuntersuchung unsicher, obgleich 
es schien, daB die mononucle&ren Zellen im Verhaltnis zu den polynucle&ren so 
zahlreich waren, daB man eine Pleocytose vermuten durfte. 

16. 11. wurde notiert: Der Patient schlief nach Chloral. Mitunter hatte er 
tonische Zuckungen des rechten Arms und Beines. Beiderseits fand sich Rigidit&t 
der Armmuskeln. Der Kopf war nach rechts gedreht — es fand sich ein wenig 
Opisthotonus und Pleurotonus mit Konkavit&t links. Femer Strabismus con- 
vergens. 

Die Ophthalmoekopie war sehr schwierig wegen der Unruhe; man sah nur blitz- 
weise die Papillen; es schien aber, als ob Stase da war, das Gewebe meistens grau- 
rdtlich, die Papillengrenzen undeutlich. Die Pupillenreaktion war schwach. Die 
Sehnenreflexe UeBen sich nicht hervorrafen, aber das Kind spannte die Muskeln 
stark. Keine Genickstarre, kein Kemig. Die groBen Zehen waren immer dorsal- 
flektiert, diese Dorsalflexion verst&rkte sich durch Beruhren der Planta. Es fand 
sich beinahe permanenter Trismus. Das Kind schluckte nur sehr wenig, erbrach das 
Gegessene; stark© Kongestion der Wangen. 

17. 11. Temp. 38,7/40. War still und stumpf. Trank nur wenig. Sohrie nicht. 
Der Kopf und die Augen waren stets rechts gedreht. 

18. 11. Temp. 40,9/40,9. Ganz still. Seufzte ab und zu. Starke Ptosis des 
r. Auges. Stets Rigidit&t der Extremit&ten. Starb um 1 Uhr naohts. 

Die Diagnose war am wahrscheinlichsten auf eine tuberkuldse Meningitis 
gestellt, doch wurde auch an eine Tetanie gedacht. 

Die Autopsie ergab eine Hyper&mie des Gehiras, im iibrigen aber keine makro- 
skopisch sichtbare Anderungen. Spezieil fand sich kein meningeales Leiden. Man 
vermutete deshalb enterogene Intoxikation. Es wurden doch aus dem Gehime einige 
Stucke Cortex und etwas von den groBen Ganglien zur Mikroskopie genommen. Es 
zeigte sich hier ein etwas iiberraschendes Bild. 

Die Stucke wurden teils in Alkohol fur NiBl - F&rbung, teils in Formol-Kali- 
bichromatlosung fiir Eisaths Gliafarbung fixiert. Als es sich zeigte, daB der Fall 
grdBeres Interesse darbot als erwartet, fiihrten wir einige Stucke aus Formol-Kali- 
bichromat durch Flemmings Fliissigkeit weiter, um Alzheimers S&urefuchsin- 
Lichtgrun-F&rbung zu machen; es ist nur zu bemerken, daB wir fiir diesen Zweck 
die Methode Alzheimers ein wenig &nderten, indem wir anstatt Xylol durch 


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110 


K. Krabbe: 


Zedemol-Ligroin (wie nach Fieandt-Farbung) eingelagerten und Paraffinoid 
(Claudius) anstatt Paraffin benutzten; hierdurch und im ganzen durch Anwen- 
dung niedriger Temperaturen (nicht liber 37°) haben wir schonere und gar nicht 
geschrumpfte Bilder bekommen. 

AuBer den genannten Methoden haben wir Fettfarbungen mit Sudan und 
Scharlach untemommen, Plasmazellenf&rbungen nach Unna - Pappenheim und 
Markscheidenfarbungen nach Weigert-Kulschitsky-Wolthers, die letzten ha¬ 
ben wir auf denselben Schnitten wie die fur Eisaths Gliafarbung (uneingebetteten) 
gemacht, wodurch erreicht wurde, daB man auf zwei benachbarten Schnitten, auf 
dem einen Markscheiden-, auf dem anderen Gliafarbung bekommt, so daB kontrol- 
lierbar war, in welchem Grade der Ausfall der Markscheiden durch Glia ersetzt wor- 
den ist. 

Die mikroskopische Untersuchung zeigte folgendes: 

Pia unbeschadigt. 

Auf den NiBlbildem (Tafel IX, Fig. 2) fanden sich keine Verande- 
rungen der GroBhimrinde und in den groBen Ganglien. Dagegen sah man, 
schon bei schwacher VergroBerung, im subcorticalen Marklager und in 
der Capsula interna um einen groBen Teil der GefaBe herum eine bedeu- 
tende Zellenanhaufung, so daB man gleich den Eindruck bekam, daB 
es sich um kleine Entziindungsfoci, um die GefaBe herum, handele. 

Durch starkere Vergr6Berung sah man indessen etwas ganz anderes; 
in den Zellenhaufen fand sich kein einziger Lymphocyt, kein Leukocyt, 
keine Plasmazelle; die groBere Menge der Zellen der peri vascularen Haufen 
waren Gliazellen. Auf den Gliapraparaten nach Eisath (Tafel IX, 
Fig. 1) und Alzheimer waren diese eben mehr distinkt. Der groBte 
Teil der Gliazellen bestand aus protoplasmareichen, teils granuherten 
Formen, welche keine Fasem gebildet hatten. Dazwischen fanden sich 
hie und da Zellen mit faserbildenden Auslaufem. Diese Anhaufungen 
von Ghazellen um die GefaBe herum waren am dichtesten nahe der 
GefaBwand; in der Peripherie waren die Zellen mehr zerstreut. Der 
Umfang der Gliahaufen war nie groB; der das GefaB umgebende Ring 
war selten dicker als der Diameter des GefaBes. 

Nicht in alien Teilen des Markes fand sich dieser ProzeB, in der 
Nahe des Cortex war er am wenigsten ausgesprochen, wurde dagegen 
starker, je tiefer man in das Mark hineindftmg; aber in dem ganzen 
Mark zeigten sich auch pathologische Verhaltnisse anderer Art. Es fand 
sich eine recht bedeutend diffuse Vermehrung der Zahl der Ghazellen 
und ihr Aussehen war auch ein anderes als wie gewohnlich in der weiBen 
Substanz des Gehims. Sie hatten im allgemeinen ein sehr groBes Proto¬ 
plasma, von welchem kurze fadenfdrmige Auslaufer ausgingen; femer 
liegt der Kem gewflhrilich am Rande des Protoplasmas. AuBer diesen 
fand sich eine weit geringere Menge von Gliazellen von dem Typus, 
welcher sich gewdhnlich im Marke findet, teils die diinnen Spinnen- 
zellen, teils die runden Gliazellen ohne Auslaufer. Femer eine Reihe 
Zwischenformen zwischen diesen und den pathologischen Formen. 


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Beitraiar /nr Kenntnia <ler Frtlhst&djoa der diffusen Himaklerose. HI 


Alle djesfe GliazeUm waxen uber das Marie aerstreut, u.nter dem Goriex 
eiii wemg dtehter «ls in den t»ef«ren Rehicbteri,. aber rtieht m Haufen wio 
die jp^tivafioulfiren Gliazeilou ges&mmelt, 

Aid<le»MarkA:hetdebil«ltrn (TcxtHg. 1) xexgte aidi gghtin das Kegativ 
dtir Gliadnlder. 1m Cxa-tex koine V^rasideftmgen. die TafigentiftifaBerR 
und »upi ! ar«dirimn Fas-em vvareit vrohi f*rhaJh<n. ebenso «ie d.io llatipt- 
menge de* 1 MaikBCibstiurz, AWr rings uni duett Ted . dor GefSJJo gJWii 
den ent»)gireeJbedd, mi mao anf den andcreti Praparaten die 


r<ibiid. pie Indian Kiuge #ih<i die M*rfc?ie4tros(»n ring*. nm die Q**(i iUe, 
tfcfim tyfctide <*on .IbruuinwHeii y<i8gdtklJt aind. 


periraeotiiSre'n CSHalittUfew bepbaehtetc, wuren die Markacheiden voifig 
ftiisgefidleii. • -<s&k ■ hetJe; .ifecht acharf begrenzte Ringe uiu die Ge- 

fiiOe. ; ini' itbfigon 'Teite .ifnr MarkeubsSiinz ,4ebeix»l oiii diffuser Auafalf 
tier Mftrkaelteiden *« beideWi. alter Yu m ieiditera Grade,. daft dieser 
Aijsftdltiur aJ* sekuodir teivertet. t\i werdwi brancht. ' ■.". ' 

Auf den Alurkaelseideripaj’itJtrui^H siebt man irjdessen atieb andre 
VerhiUtnisae* Auf den&teUett, we ^adi dor Ausiak der Markfiphpiden 
firidet, aber Audi n«i an dkseri, siebl man die Adyeniitiascbeideu dor 
GelaCe gana aussgefuUt ttiit Zdieo. wdche (in gmiies b>roige« iVoto- 



112 


K. Kr&bbe: 


plasma haben, (lessen Granula von Hamatoxylin kraftig gefarbt sind. 
Auf Praparaten, welche mit Scharlach, Sudan oder Osmium gefarbt 
sind, farben sich Granula in entsprecbenden Zellen rot bzw. schwarz. 
Auf den letzten sieht man iibrigens auch mehrere der Gliazellen in den 
perivascularen Haufen mit schwarzgefarbten Granubs gefiillt. Es ist 
wahrscheinlich, daB es sich wenigstens teilweise um Abbauprodukte 
der Markscheiden handelt, welche von den Gliazellen weggeschleppt 
sind. AuBer diesen bpoid-granulierten Zellen sieht man auf den Alz- 
heimer-Praparaten in den Gliahaufen einzelne Zellen, deren Protoplas¬ 
ma mit Saurefuchsin-Granulis dicht gefiillt sind. 

Ganz kurz kbnnen die Veranderungen folgenderweise resiimiert 
werden: Totaler Ausfall der Markscheiden, auf den Schnitten ringfdrmig 
(in der Wirklichkeit wahrscheinbch rbhrenfbrmig) um eine Menge der 
GefaBe in der Marksubstanz des Gehimes; sparlicher, diffuser Ausfall in 
dem iibrigen Teile der Marksubstanz. Starke Anbaufung von Gliazellen, 
aber keine eigentlichen Entziindungszellen um die GefaBe, dem Ausfalle 
der Markscheiden entsprechend; zahlreiche Fettkdmchenzellen in diesen 
GefaBwanden. Zerstreutes Auftreten einer groBen Menge von Glia- 
zellen mit groBem Protoplasma verstreut in der weiBen Substanz. 
Relative Integritat der Corticalsubstanz. 

Die erste Frage, die wir stellen miissen, ist diese, worin der krank- 
hafte ProzeB besteht. Eine Entzundung, in der Bedeutung daB es eine 
von den Encephalitisformen sei, welche man nicbt so selten bei Kindem 
findet, ist nicht anzunehmen; wie wir hervorgehoben haben, findet 
sich keine einzige der verschiedenen Entziindungszellen (Lymphocyten, 
Leukocyten, Plasmazellen), welche die EncephaUtiden charakterisieren. 
Aber auch nicht eine abgelaufene Encephalitis ist zu vermuten. Der 
ProzeB macht iiberall den Eindruck, in Progredienz, an einigen Stellen 
sogar in der ersten Entstehung zu sein, so daB man, wenn er als eine 
Encephalitis begonnen hatte, doch wenigstens hatte erwarten miissen, 
an einigen Stellen Spuren einer Encephahtis zu finden; aber solche 
finden sich nirgends. 

Wir haben es also mit einer reinen Gliose, mit einer Marknekrose 
kombiniert, zu tun. Die Frage ist jetzt die gewbhnliche: 1st der primare 
ProzeB eine Gliaproliferation, welche die Markscheiden zerstbrt, oder 
ist das Primare eine ZerstSrung der Markscheiden, wonach Ghazellen 
sekundar auftreten, teils um auszufiillen, teils um Abraumprodukte 
wegzuschleppen ? 

Es scheint uns, daB man mit uberwiegender Wahrscheinlichkeit 
die letzte Mbglichkeit annehmen muB. Gegen die Auffassung, daB die 
Gliaproliferation das Primare sein sollte, sprechen folgende Umstande: 
1. daB der ProzeB so ausgepragt perivascular ist, 2. daB er ausschlieB- 
lich auf das Mark begrenzt ist und 3. daB man so viele Abraumprodukte 


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Beitrag zor Kenntnis der Frtlhstadien der diftusen Hirnsklerose. 113 

findet, welch letzteres auf eine sehr starke Destruktion der Markscheiden 
deutet, starker als erwartet werden kdnnte, wenn es sich nur um eine 
Kompression durch Gliose handelte. Der Umstand, dafi der grOBte 
Teil der Gliazellen am meisten sich dem Typus der Abraumzellen nahert, 
spricht auch eher fiir eine sekundare als fiir eine primare Gliose. 

Das Wahrscheinlichste ist deshalb anzunehmen, daB der ProzeB 
eine Destruktion der Markscheiden ist, wonach dann sekundar die 
Gliazellen auftreten, teils um die nekrotischen Markscheiden fort- 
zuschaffen, teils moglicherweise um die leeren Raume auszufiillen. 
Welche Noxe diese Destruktion hervorgebracht hat, ist nicht ganz klar. 
Annehmbar ware zum Beispiel, daB irgendein Toxin durch die GefaB- 
wand diffundiert ware und dadurch der ProzeB perivascular lokali- 
siert sei. 

Nachdem wir hiermit die pathologisch-anatomische Beschreibung 
gegeben haben, stellt sich die nachste Frage so: Welche Krankheit 
reprasentiert dieser pathologisch-anatomische ProzeB? 

Da es uns nicht gelungen war, sie unter irgendeine der akuten oder 
subakuten Krankheiten des Zentralnervensystems der Kinder unter- 
zubringen, fragt es sich, ob es sich nicht um ein Friihstadium einer 
der bekannteren chronischen Krankheiten handeln diirfte. Der Pro¬ 
zeB war gar nicht so vorgeschritten, daB daraus hervorging, daB er 
tSdlich sei; im Gegenteil man sieht weit groBere Destruktionen des 
Gehirnes, ohne daB diese den Tod herbeifiihren; es ist deshalb nicht 
unwahrscheinlich, daB die eigentliche Todesursache eine Gastroenteritis 
ware oder daB wenigstens dieser Umstand, mit dem Himleiden kom- 
biniert, todlich gewirkt habe. Folglich liegt nichts Unwahrscheinliches 
darin, daB der ProzeB sich hatte fortsetzen kdnnen; und wenn man sich 
vergegenwartigt, daB das Charakteristische fiir den ProzeB folgendes 
ist: begrenzte Destruktion der weiBen Substanz mit Ersetzung durch 
Neuroglia, wahrend die graue Substanz relativ intakt ist, wiirde die 
Fortsetzung des Prozesses zu einer totalen Destruktion der weiBen 
Substanz fiihren mit Ersetzung durch Neuroglia und Integritat der 
grauen Substanz, d. h. das Bild der dfters beschriebenen diffusen Hirn¬ 
sklerose. Dieses ist fiir uns der iiberwiegende Grand, um anzunehmen, 
daB das Bild, das wir gesehen haben, ein Friihstadium der diffusen 
Hirnsklerose reprasentiert. Was wir von besonderem Interesse finden, 
ist, daB in unserem Falle sich keine eigentlichen Entziindungsphanomene 
zeigen. Dieses — und auch der Umstand, daB die Krankheit so friih 
in der Kindheit aufgetreten ist — scheint uns darauf hinzudeuten, 
daB es Formen von diffuser Hirnsklerose gibt, welche vbllig von der 
disseminierten Sklerose verschieden sind. Auch von dem pathologisch- 
histologischen Bilde bei der Westphal-Striimpellschen Pseudo- 
sklerose zeigt sich unser Krankheitsbild verschieden. DaB man viel- 

Z. f. d. g. Neui; u. Psych. O. XX. 8 


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114 


K. Krabbe: 


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leicht andere Formen von diffuser Himsklerose finden kann, welche 
nur aufierordentlich weit ausgebreitete disseminierte Sklerosen sicd, 
wollen wir nicht leugnen. Und naoh der Beschreibung in der Literatur 
scheinen auch mehrere Falle von diffuser Himsklerose Endstadien 
syphilitischer Prozesse zu sein. 

Resumes: 

Die als ,,diffuse Himsklerose“ beschriebenen Falle reprasentieren 
wahrscheinlich Endstadien mehrerer verschiedener Rranlcheiten. Eine 
Krankheit, welche wahrscheinlich ein Frithstadium der diffusen Him- 
sklerose ist, ist pathologisch-anatomisch dadurch charakterisiert, dab 
man mit Integritat der grauen Substanz eine perivasculare Verfidung 
der weifien Substanz findet, ohne eigentliche Entziindungsphanomene, 
aber mit reichlicher Anhaufung von Gliazellen anstatt der verddeten 
Marksubstanz. Wir schlagen vor, dieses Friihstadium die perivascu¬ 
lare Marknekrose zu benennen. 

Fur die Erlaubnis, diesen Fall zu veroffentlichen, bringen wir unserem 
Chef, dem Herm Direktor der psychiatrischen und neurologischen Klinik 
des „Kommunehospital“, Professor A. Friedenreich, unsem herz- 
lichsten Dank. Fiir die Anfertigung der Mikrophotographien bringen 
wir Dr. H. C. Hall unsem Dank. 


Literatarverzeichni8. 

(Die mit * versehenen Nummem Bind uns nur im Referat zuganglich gewesen.) 

1. Beneke, Ein Fall hochgradigester ausgedehnter Sklerose des Zentralnerven- 

systems. Archiv f. Kinderheilk. 41 . 1908. 

2. Berg, Zur Kasuistik der diffusen Himsklerose. Inaug.-Diss. Dorpat 1886. 

3. Bourneville, Sclerose c£r6b. h6misph. Arch, de neurol. II. S. ( 1 1897. 

4. Bullard, Diffuse oortical sclerosis of the brain in children. Joura. of nervous 

and mental Disease 15. 1890. 

5. BuB, tlber einen Fall von diffuser Himsklerose mit Erkrankung des Bucken- 

markes bei einem heredit&r syphilitischen Kinde. Berl. klin. Wochenschr. 24. 
1887. 

6. Erler, t)ber diffuse Sklerose des Gehims. Inaug.-Diss. Tubingen 1881. 

7*. Francioni, SingoL caso di soleros. Rivista di clinica pediatr. 1903. 

8. Haberfeld und Spieler, Zur diffusen Him-Biickenmarksklerose im Eindes- 

alter. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 46. 

9. Heubner, tJber diffuse Himsklerose. Charit6-Annalen 1897. 

10. Kelp, Himsklerose. Deutsches Archiv f. klin. Med. 16. 1872. 

11. Meine, Beitrag zur Lehre von der Gehirasklerose. Deutsche Zeitschr. f. Ner¬ 
venheilk. 12. 1898. 

12. Monrad, Demonstration af en Cerebrum med diffus Sclerose. Ugeskrift for 

Lager, 74 Aargang. 1912. (Kopenhagen.) 

13*. Moser, Demonstration der anatomischen Pr&parate zweier F&lle von diffuser 
Himsklerose. Mitt. d. Ges. f. inner© Medizin und Kinderheilk. in Wien. 
Sitz. 14. 3.1907. 


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Beitrag zur Kenntnis der Frtlhstadien der diffusen Himsklerose. H5 

14. Schilder, Zur KenntniB der sog. diffusen Sklerose. Zeitschr. f. ges. Neur. u. 

Psych. 10. 1912. 

15. Schmaus, Zur Kenntnis der diffusen Himsklerose. Virchows Archiv 114. 

1888. 

16. Sohiile, Him-Ruckenmarkskleroee. Deutsches Arch. f. klin. Med. 8. 1871. 

17. Strum pell, Uber die Westphalsche Pseudosklerose und uber diffuse Him- 

sklerose, insbesondere bei Kindera. Archiv. f. Psych. 1898. 

18. — Uber die diffuse Himsklerose. Arch. f. PByoh. 9. 1879. 

19*. Wei8, Uber diffuse Sklerose des Hims und Ruckenmarkes. Arbeiten aus dem 
Wiener neurol. Institut T. 1900. 


Erklfirung der Tafel IX. 

Fig. 1. Gliabild (Eisath). Die dunklen Ringe sind die Gliaanhaufungen rings 
um die Gef&Be. Hier und da kann man die groBen Gliazellen mit rand- 
st&ndigem Kerne erkennen. (Die Kerne sind hell, das Protoplasma ist 
dunkel.) 

Fig. 2. NiBlbild. Gliaanhaufungen um die GefaBe. 


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Beitrage zur Klinik der Paranoia. 

Von 

Dr. Hermann Krueger. 

(Aus der Heil- und Pflegeanstalt Konigslutter bei Braunschweig 
[Direktor: Med.-Rat Dr. Gerlach].) 

(Eingegangen am 8. September 1913.) 

I. tlber das Yorkommen yon Sinnestauschungen im Krankheitsbilde 

der Paranoia. 

In einem kasuistischen Beitrage haben wir vor einiger Zeit zwei 
Krankengeschichten von GeistesgestOrten mitgeteilt, die das Bild lang- 
sam entstandener, systematisierter Wahnvorstellungen, deren Ent- 
stehung und Verlauf von zahlreichen Trugwahmehmungen auf den ver- 
schiedensten Gebieten beherrscht wurde, boten. Inzwischen sind ahn- 
liche Fall© von Kleist und Banse mitgeteilt worden. Einige weitere 
seien hinzugefiigt: 

Fall I. Frau v. L., Witwe, friihere Schauspielerin, spater Souffleuse, geb. 
2. 2. 1839, aufgenommen 11. 5. 1907. 

Erbliche Belastung ist nicht zu erweisen. t)ber die Jugendjahre, ebenso 
liber die Schauspielerinzeit ist nichts Objektives bekannt. Im Jahre 1860 heiratete 
sie einen russischen Offizier, der nach Verlust seines Vermogens 1872 in Geistes- 
krankheit starb. Frau v. L. lebte die nachsten Jahre von einer kleinen Rente, 
die ein Schwager ihr aussetzte und die sie bis zii dessen Tode (1906) bezog. Vollig 
mittellos em&hrte sie sich das nachste Jahr als Souffleuse in Gr. und kam im Friih- 
jahr 1907 nach Helmstedt in der Hoffnung, hier eine gleiche Stellung zu finden, 
eine Hoffnung, die sich nicht erfiillte. Im Mai 1907 schrieb sie zahlreiche Briefe 
an die Stadtpolizeibehorde usw., in denen sie um Schutz vor angeblichen fort- 
wfthrenden Belastigungen bat. 

Nach ihren eigenen Angaben begannen diese Belastigungen im Jahre 1897. 
Sie fiihlte zuerst, daB sie galvanisiert wurde. Die Urheber dieser Galvanisation 
waren ihr zunachst unbekannt, spater merkte sie, daB der Frauenverein in S., 
wo sie damals wohnte, die elektrischen Strome aussandte; sie nahm zuerst an, 
daB die Elektrisation zu einem guten Zwecke geschehe, spater aber wurden durch 
schlechte Maschinen, Maschinen, „die z. Z. mit Griinspan iiberzogen sind“, giftige 
Diinste erregt und so ein schadigender EinfluB bewirkt. 

Zugleich mit dem Beginn der Galvanisation fingen die Leute an, sich ihr 
gegeniiber anders zu benehmen als vorher. Sie merkte, daB dieselben alles mog- 
liche von ihr wuBten. Um sich den unhcilvollen Einfliissen zu entziehen, wech- 
selte sie von 1897—1907 18mal den Aufenthaltsort. 

Aber auch an den neuen Wohnorten begannen die Belftstigungen bald wieder; 
es wurde ihr mit der Zeit klar, daB dieselben von einem dazu gedungenen Komplott 
in Szene gesetzt wurden. Sie kennt die Leute sehr genau; nach der Redeweise unter- 
scheidet sie 5 Dirnen und 5 Mftnner, deren Zuh&lter. Unter den Dimen ist Luise 
Ernst die grausamste; ferner ist es eine Familie Riiter, Stecher usw. 


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H. KrUger: Beitr&ge zur Klinik der Paranoia. 


117 


Die Bel&stigungen duroh Galvanisationen bestehen bis heute fort: sie fiihlt 
den Strom duroh den Korper flieBen, der Boden schwankt unter ihren FtiBen, 
ihr Bett wird in Vibration versetzt, ihr wird heiB, und sie empfindet die heftigsten 
Schmerzen. 

Sie hort auch das Arbeiten der Elektrisiermaschine; daneben oft ein Klingeln 
im Kopfe und besonders viele Gespr&che. Dieselben begannen eines Nachts vor 
vielen Jahren, als ihr Stimmen aus einer Zimmerecke Mitteilungen aus ihren 
Familienpapieren maohten. Seitdem h5rt sie Geschimpfe, Verd&chtigungen und 
Bedrohungen, besonders werden ihr auch viele unsittliche, schmutzige Geschich- 
ten erz&hlt. Seit 1904 werden ihr diese Gesprache durch unsichtbare Telephone 
zugetragen. 

Sehr lebhaft sind die Geruchst&uschungen; sie riecht iible Diinste, SchweiB, 
Branntwein, Tabak, Arsenik, Bleizucker, Giftkr&uter, Urin, Menstruationsblut, 
Chlorkalk, Schwefel, Salmiak, Essig, Kot u. a. m. Stets hat sie auch einen bitteren 
Geschmack im Munde. Gesichtstauschungen sind seltener. Sie sieht „unanst&n- 
dige Bilder, die sich bewegen“; gestohlene Sachen (Taschchen, Messer) werden 
ihr im Bilde wieder gezeigt; sie sieht eine Mitkranke morgens in schwarzen, mittags 
in roten, abends in grauen Haaren. W&hrend eines Waldspazierganges sah sie auf 
einer Bank 3 Personen von denen, die sie belastigen, sitzen. 

Sehr ausgesprochen ist der Wahn korperlicher und geistiger Beeinflussung. 
Sie h6rt: „Du einstige Hure, da wir, du Sauaas, nichts weiter von dir haben, wollen 
wir wenigstens an deinem Korper von dir lemen.“ „Willst du reden, willst du 
schreiben." Es kommt dann zu ,,Gedankenvergewaltigungen, die sie so weit 
treiben, daB sie zur Sklavin von ihnen wird." Die Leute haben sie am ganzen 
Korper gebunden, ihr Briefe anders diktiert, als sie sie zu schreiben beabsichtigte, 
sie an der Schriftstellerei gehindert, indem sie ihr die Themata fortnahmen. Sie 
alterte sehneller als normal, ihre Gesundheit wurde untergraben, der Magen zu- 
gezogen, so daB sie nicht essen konnte, Geschmack und Geruch schwanden pldtz- 
lich beim Essen, die Faeces kann sie nur unvollst&ndig entleeren, da ihr Mastdarm 
verschlossen wird; die dadurch im Korper zuriickgehaltenen Stoffe haben ihre 
Korpersafte verdorben, so daB sie Geschwiire und Ausschlag bekommt, der Speichel 
wird ihr entzogen. Oft fiihlt sie sich geschlechtlich angegriffen. 

Sie h&lt sich fur eine groBe Schriftstellerin; ein von ihr verfaBter Roman, 
der ihr von der Anstaltsleitung unterschlagen ist, h&tte ihr reichlich so viel ein- 
gebracht, wie sie zum Leben brauche. Ferner ist sie von groBem Adelsstolz beseelt. 
Warum die Leute sie verfolgen, weifl sie nicht: „das frage ich mich selbst ver- 
geblich“. 

Gegen die Belastigungen sucht sie sich so gut wie mdglich zu schiitzcn, sperrt 
gegen die ublen Diinste die Fenster auf, schiebt ihr Bett im Zimmer hin und her, 
um den Strdmen zu entgehen usw. 

Frau v. L. ist eine riistige, noch sehr bewegliche alte Dame mit stets gemes- 
senem, freundlichem Wesen, die keinen Augenblick die Herrschaft iiber sich ver- 
Hert. Ihr Ged&chtnis ist, soweit sich feststellen laBt, liickenlos, auch die Merk- 
fahigkeit zeigt keine EinbuBe. Sie zeigt lebhaftes Interesse fur alles, liest viel und 
besch&ftigt sich dauernd. Die Starke der Affekte ist beinahe gering zu nennen 
im Vergleich zu den dauemden Bel&stigungen, eine stille Resignation ist der Grund- 
zug ihres Wesens; nie sind Zeichen psychischer Dissoziation nachzuweisen geweeen. 
Man hat den Eindruck, daB die Selbstbeherrschung eine sehr groBe ist; sie spricht 
es oft aus, daB man schlechten Menschen gegenuber machtlos ist; sie bittet den 
Arzt wohl, sie vor den Stromen zu schiitzen, fiigt aber haufig hinzu, leider kdnnte 
er wohl auch nichts dagegen machen. 

Korperlich besteht eine leiohte Arteriosklerose. 


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118 


H. Krueger: 


Zusammenfassung: Eine anscheinend erblich nicht belastet© 
Schauspielerin wird, 21jahrig, von einem adligen Offizier geheiratet, 
der si©, als er nach 12jahriger Ehe in Geisteskrankheit stirbt, mittellos 
zurficklafit. Durch die Gnade von Verwandten wird si© fiber Wasser ge- 
halten, was si© bei ihrem Adelsstolz zweifellos sehr niedergedrtickt hat. 
Im 58. Lebensjahre bricht ©in© Geistesstdrung fiber si© herein, die mit 
elektrischen Belastigungen, also Trugwahrnehmungen beginnt und zu 
systematisierten Verfolgungsvorstellungen seitens eines von einem 
Frauenverein gedimgenen Komplotts ffihrt; wahrend ihrer ganzen, 
nunmehr 16jahrigen Dauer wird dieselbe von zahllosen Sinnestauschun- 
gen seitens des Gehors-, Geruchs-, Geschmacks-, seltener des Gesichts- 
sinnes, besonders aber von zahlreichen Geffihlstauschungen begleitet. 
Die wenigen und gering ausgebildeten Selbstfiberschatzungsideen treten 
ganz zurfick. Es besteht eine gewisse Ratlosigkeit in betreff der Beweg- 
grfinde dieser Verfolgungen, gegen die sich die Kranke so gut wie mfiglich 
zu schfitzen sucht. Die Intelligenz ist dabei lfickenlos, die Ordnung im 
Denken und Handeln vfillig erhalten, die Affekte sind adaquat. 

Fall II. Fr&ulein M. K., Putzmacherin, geb. 9. 12. 1829, aufgenommen 
30. 3. 1874. 

Dber erbliche Belastung ist nichts bekannt. Sie wird als „stets sehr exzen- 
trisch, schroff und unvertraglich“ geschildert und hat stets ein einsames und zu- 
riickgezogene8 Leben gefiihrt. Sie emahrte sich zuerst als Putzmacherin, ging 
dann als Kammerjungfer nach Potsdam, sp&ter als Putzmacherin nach Berlin. 

Der Beginn der Erkrankung f&Ut in das Jahr 1870. Es entwickelte sich da- 
mals ganz langsam der Wahn, daB sich ein aus den niedrigsten bis in die hdchsten 
Schichten reichendes Komplott gebildet habe, um sie moralisch und korperlich 
zu vemichten. Das Haupt dieses Komplotts sah sie im Fiirsten Bismarck. Um 
sie moralisch zu vemichten, miBbrauchte man sie nachts geschlechtlich, um sie 
korperlich zu vemichten, suchte man sie zu vergiften oder aber, falls sie die ver- 
gifteten Speisen nicht zu sich nahme, Hungers sterben zu lassen. Nur deshalb 
sei sie auch in die Irrenanstalt gebracht, wo ihr das Essen und das Trinkwasser 
vergiftet werde, wo unter der Erde Apparate aufgestellt seien, um sie zu qu&len, 
wo sie elektrisiert werde, wo ihr auch all ihr Geld und die fur sie eingehenden zahl¬ 
reichen Postsendungen unterschlagen wiirden. 

Das alles geschieht, um ihr Hab und Gut zu nehmen und ihr zu schaden. 
Sie steht namlich an Bildung weit hoher als ihre Umgebung, hat mit vielen Ffirst- 
lichkeiten in Verbindung gestanden, besonders auch mit dem Herzog Karl von 
Braunschweig, der ihr 15 Millionen geschenkt hat. Sie versteht auch allein die 
Bibel richtig zu deuten und glaubt deshalb vom Papste reich beschenkt zu werden, 
sobald sie nur erst entlassen sei. 

Diese Wahngebilde entwickelten sich im Laufe vieler Jahre unter st&ndigen, 
sehr lebhaften Sinnestauschungen. Vorhenschend sind solche des Gehors: sie 
wird durch ein unsichtbares Sprachrohr angerufen; ihr wird mitgeteilt, daB ihr 
Tausende von Mark geschenkt seien, daB Geld fur sie auf der Post lagere, daB 
Pakete mit Kaffee, Schokolade usw. mit der Bahn fur sie angekommen seien. Sie 
hort unter dem Hause Kinder wimmem, den verstorbenen Kaiser, den verstorbenen 
Herzog Karl sprechen, ebenso verschiedene andere Personen, die sie namentlich 
auffuhrt. Sie sieht die Personen z. T. auch, wenngleich Geeichtet&usohungen 


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Beitr&ge zur Kiinik der Paranoia. 


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erheblich seltener Bind. H&ufiger sind wieder Geruchs- und Geschmackshallu- 
zin&tionen: die Speisen riechen schlecht, ,,Giftdiinste“ steigen von ihnen auf; 
das Essen sehmeckt „nach gekochten Rattenfellen“ und allem moglichen anderen, 
der Kaffee nach Strychnin, Petroleum usw. SchlieBlich sind Gefiihlst&uschungen 
haufig: iiberall im Korper hat sie Schmerzen, bald hier, bald dort, die sie auf 
Elektrisation, unsichtbare, unter dem Hause montierte Maschinen, auf im Schlafe 
vollfiihrten geschlechtlichen MiBbrauch bezieht. 

Die Reaktion auf die Bel&stigungen und Verfolgungen wie auf die Intemie- 
rung in der Anstalt war Jahrzehnte hindurch eine durchaus sachgemaBe. Sie 
protestierte lebhaft gegen die Unterbringung im Irrenhause, schrieb bogenlange, 
fiuBerlich vollig korrekte Beschwerden an die GerichtsbehSrden, entwich mehr- 
mals. Sie arbeitete nicht fiir die Anstalt, da sie reich genug sei, um ohne Lohn- 
arbeit zu leben, zog keine Anstaltskleidung an, da diese zu schlecht fur sie seL 
Sie verlangte zum Schutz gegen die Vergiftungsversuche die Einrichtung einer 
eigenen Kiiche, Anschaffung eines Filtrierapparates fiir ihr Trinkwasser. Sie ging 
zur Post, um das ihr halluzinatorisch angemeldete Geld abzuholen, geht auch 
jetzt noch ab und zu zur Oberin, um angeblich fiir sie angekommene Pakete in 
Empfang zu nehmen. 

Jahrzehnte hindurch entsprachen die Aff ekt&u Berungen durchaus dem In¬ 
halt und der Intensitat der Halluzinationen und ihren WahnvorsteUungen. AI1- 
mahlich nahm aber die H&ufigkeit der Affekte ab, und, wenn sie in st&rkeren 
Affekt geriet, so ging der Zusammenhang ihrer Rede bis zu einem gewissen Grade 
yerloren. Das Wahnsystem ist unerschiittert geblieben, doch sind seit Jahren 
keine ausschmiickenden Ziige hinzugekommen. Sie erz&hlt jedoch wie fruher 
von ihren mannigfachen Sinnestauschungen, die gleich zahlreich geblieben zu 
sein soheinen, protestiert gegen ihre Einspemmg, sucht sich gegen die Bel&sti¬ 
gungen zu schiitzen. 

Intellektuell war sie stets auf m&Biger Hohe. Irgendwelche grttberen Defekte, 
die sich nicht durch ihr hohes Alter und eine ziemlich starke Arteriosklerose er- 
kl&ren lieBen, sind nicht nachzuweisen; die Merkfahigkeit zeigt einige Lucken, 
der Gesichtskreis ist sehr stark eingeschr&nkt, sie halt sich mOglichst fiir sich. 
Der Sinn fur Anstand, Sauberkeit ist immer noch stark ausgepr&gt, Haltung 
und Wesen sind gemessen. Irgendwelche Zeichen psychischen Zerfalls haben sich 
nie gezeigt. 

Zusammenfassung: Bei einer 41 jahrigen, erblich nicht belasteten, 
ledigen Putzmacherin, die stets sehr exzentrisch, schroff und unvertrag- 
lich war, dabei ein einsames und zuriickgezogenes Leben gefiihrt hat, 
Cntwickelt sich langsam ein Verfolgimgswahn mit starkem moralischen 
Grundzug, an den sich nach Jahren allmahlich GroBenideen anschlieflen. 
Begleitet wird die Wahnentwicklung von zahlreichen Trugwahrnehmun- 
gen auf dem Gebiete des Gehflrs, Geruchs, Geschmacks, Gefiihls, selte¬ 
ner des Gesichtes, die sich mit Ausnahme der GehflrstSuschungen s&mt- 
lich auf den Verfolgungswahn beziehen, wahrend diese hauptsachlich 
den GrdBenwahn unterhalten. Die Reaktion auf die Wahnideen wie 
Sinnestauschungen hielt sich in durchaus normalen Grenzen, das Be- 
nehmen der Kranken war konsequent, die Affekte entsprachen dem 
Inhalt und der Intensitat der Halluzinationen und der Starke der Wahn- 
vorstellungen. Heute, nach 43jahriger Krankheitsdauer besteht das 
Wahnsystem unerschiittert fort, wenngleich es absolut stagniert; fort 


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dauem auch die Sinnestauschungen, die indes nur noch Klagen ausl5sen, 
wahrend lebhafte Affektausbriiche, die noch vor wenigen Jahren haufig 
waren, jetzt vermifit werden. Die Intelligenz zeigt leichte Defekte, 
wie sie Alter und Arteriosklerose bedingen; die ethischen Vorstellungen 
sind v6llig intakt. 

Fall III. K. M., Maurermeister, geb. 23. 11. 1851, aufgenommen 12. 4. 1904. 

Erbliche Belastung ist nicht nachzuweisen. Die erste Entwicklung war nor- 
mal, nur hat er Zahnkrampfe gehabt. In der Elementarschule wie spater auf der 
Baugewerkschule lernte er gut. Mit 20 Jahren wurde er Soldat, kapitulierte, muBte 
aber 1878 wegen einer Augenverletzung ausscheiden. Er griindete dann ein eigenee 
Baugeschaft, verheiratete sich zweimal, zeugte 3 gesunde Kinder. November 
1901 wurde er wegen Wechselfalschung zu 2 Jahren Gef&ngnis verurteilt, August 
1903 jedoch aus der Haft entlassen, weil er nachts unruhig war, viel aufstand, 
sohreckhafte Gesichts- und Gehorshalluzinationen auBerte. Infectio, Potatorium 
nejantur. 

Nach der eigenen Angabe des Kranken begannen die geistigen Storungen 
wahrend der Strafhaft Ende 1902. Es wurden ihm zur Tages- und Nachtzeit 
in Bildem, durch Fliistem oder lautes Sprechen alle moglichen Mitteilungen 
gemacht. Die zuerst aufgetretenen Sinnestauschungen bezogen sich auf ihn und 
seine Familie; seine Tochter wurde vergewaltigt, einer Operation unterzogen; 
seine Frau wurde krank, ebenfalls operiert, indem ihr die Eingeweide aus dem Leibe 
genommen wurden, am Brunnen in einem holzemen GefaB abgespiilt, nach dieser 
Reinigung wieder in den Leib gelegt wurden; seine Frau starb, seine Kinder wuTden 
in eine Erziehungsanstalt gebracht, dort kurze Zeit spater erhangt aufgefunden, 
durch den Verlust der Eltem zum Selbstmord veranlaBt. 

Im Laufe der Jahre wandten sich die Trugwahmehmungen auch femer liegen- 
den Dingen zu: er hort von nihilistischen Verbrechen, die gegen hohe Personen 
geplant werden, besonders aber werden ihm viel geschlechtliche Vorkommnisse 
in Wort und Bild „vorgef\ihrt“, auch ekel- und schreckenerregende Ereignisse. 
Er bezeichnet seine Trugwahmehmungen, die samtlich ausgesprochen szenen- 
haften Charakter tragen und stets mit den notigen Erklarungen versehen werden, 
als ,, Photophonieren 41 und schreibt Hunderte von derartigen photophonierten 
Geschichten mit alien Einzelheiten in seinen Schreiben an das Reichsgericht usw. 
auf, entweder, um sich dariiber zu beklagen oder, um verbrecherische Anschlage 
aufzudecken. 

Dieses dauemde „Photophonieren‘‘ wird von einer Verbrecherbande „Brandes, 
Heinrichs und Konsorten“ besorgt, die sich unter falschen Namen unter den In- 
sassen der Anstalt aufhalten, um ihn zu belastigen. „Der eine hat eine Tenor-, 
der andere eine BaBstimme.“ Alle seine Verfolger gehoren der welfischen Partei 
an, die ihn verderben will. 

Die Welfen sind ihm namlich gram, weil er, selbst sehr antiwelfisch gesinnt, 
als ,,Koniglicher Regierungskommissar und Okonomierat Emmermann“ mit der 
Aufteilung und Vermessung der welfischen Giiter in Braunschweig beauftragt 
ist, „dem Dechargieren und Rezessieren“, wie er es nennt; Braunschweig ist^fiir 
ihn nur noch eine preuBische Provinz. Fiir diese T&tigkeit und als Siihne fiir 
ihm angetane Verbrechen sind ihm 1903 vom Reichsgericht 24 000 000 Mark 
zugesprochen, fortgesetzt mit 3 Prozent zu verzinsen. Diese zu erlangen ist sein 
ganzes Streben. 

Das vorstehende Wahnsystem, das sich unter auBerst lebhaften und zahl- 
reichen Sinnestauschungen entwickelt hat, besteht seit Jahren unverandert. Die 
Trugwahmehmungen selber sind seit einiger Zeit etwas weniger affektbetont, 


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Beitr&ge zur Klinik der Paranoia. 


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demgem&B ist auoh die Reaktion etwas weniger stark, w&hrend friiher oit sehr 
lebhafte Erregungen ausgelbet wurden. Der Affekt ist durohweg ein leicht ge- 
hobener, entsprechend den lebhaften GroBenideen, die jetzt im Vordergrunde 
des Wabns steben. Irgendwelche scbizopbrene Anzeicben sind nie beobacbtet; 
Spracbe und Schrift sind gedrecbselt; die Intelligenz zeigt keine wesentlioben 
Lucken. 

Zusammenfassung: Ein Sljahriger, erblich anscheinend nicht 
belasteter Maurermeister erkrankt in der Strafhaft unter einem eigen- 
artigen Krankheitsbild, das von szenenhaften Gesichtstauschungen, 
die von solchen des GehOrs erklart und vervollstandigt warden, beherrscht 
wird. Es entwickelt sich im Laufe der Jahre unter dauemden zahllosen 
Trugwahmehmungen ein Verfolgungs- und GroBenwahnsystem, das 
vollig logisch nach Verfolgem, Griinden der Verfolgung usw. aufgebaut 
ist und in sich geschlossen und unerschiitterlich fortbesteht. Die Trug¬ 
wahmehmungen betreffen ausschlieBlich den Gehors- und Gesichtssinn. 
Die Intelligenz ist dabei intakt geblieben, der Affekt durchgehend ein 
leicht gehobener, stets entsprechend der Intensitat und dem Inhalte der 
vorwiegenden GroBenwahnvorstellungen; jedoch ist die Affektivitat im 
Laufe der Jahre etwas weniger leicht ansprechbar geworden. 

Fall IV. A. H., Drechsler, geb. 14. 4. 1841, aufgenommen 15. 2. 1886. 

Erbliche Belastung ist nicbt zu erweisen. Gescblechtbcbe Infektionen (Tripper, 
Schanker, anscheinend auch Syphilis) werden zugegeben. In den Jugendjabren 
war er vollig unauff&llig, erlemte das Drecbslerbandwerk, ging dann auf Wander- 
schaft und wurde erst 1878 wieder seBhaft. Er griindete ein eigenes Gesch&ft, 
wobei ihm eine unverheiratete Scbwester das Hauswesen fiihrte. Das Gesch&ft 
soli im ersten Jahre gut gegangen sein. 

Im Fruhjahre 1879 bemerkte er selbst eine Ver&nderung an sich: es ging ihm 
oft ein Zucken durch den ganzen Korper wie unter elektriscben Einwirkungen. 
Zugleicb trat, zuerst nur anfallsweise, ein Gefiibl der Spannung und Angst auf der 
Brust auf. Anfangs war ihm der Zustand r&tselhaft, dann aber muBte er sich nach 
und nach davon liberzeugen, daB er stets giftige Substanzen in die Speisen bekam 
Er sah dieselben regelm&Big; sie sahen graugelb aus und bestanden aus imgelosch- 
tem Kalk und Quecksilber. Nach GenuB des Essens stellte sich heftiges Brennen 
in der Kehle und im Magen ein, auch schwoll das Zahnfleisch an und wurden die 
Zahne locker. Eine dritte schadliche Substanz schmeckte er heraus; sie hatte 
Zuckergeschmack. Lange Zeit konnte er nicht herausbringen, wer ihm diese Gifte 
beibrachte, bis er schlieBlich bemerken muBte, daB es die eigene Schwester war, 
die ihn schadigen wollte. Zur GewiBheit wurde ihm das, als die bel&stigenden 
Empfindungen fiir die Dauer einer Krankheit seiner Schwester, w&hrend der er 
sich das Essen selbst bereitete, aufhorten; das Unwohlsein trat sofort wieder auf, 
als seine Schwester wieder kochte, auch sah er die Giftstoffe deutlich wieder (April 
1880). Wegen der ihn qu&lenden Empfindungen konsultierte er verschiedene 
Arzte ohne Erfolg: „Wie konnte es auch besser werden, da ich immer von neuem 
Gift bekam. “ Um Weihnachten 1881 wurde ihm die absolute GewiBheit, daB 
seine Schwester ihn vergiften wollte; er horte namlich, wie sie vor sich hinmurmelte, 
daB sie ihn „unter die Deck© bringen“ wollte. Diese AuBerung wie auch andere 
waren so leise gefliistert, daB nur ein so femes Gehor Wie das seine es hdren konnte. 
Anfang 1882 gab er sein Gesch&ft und das Zusammenleben mit seiner Schwester 
auf und siedelte zu einem verheirateten Bruder iiber. Einige Tage ging es dort 


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gut, dann aber beg&nn der „Spektakel“ von neuem; Bruder und Schw&gerin 
standen im Komplott mit seiner Schwester. Aueh hier wurden ihm die Aufkla- 
rungen durch sein feines GJehor. Durch die Deck© seines Zimmers, liber dem 
sich das Schlafzimmer seines Binders befand, konnte er dessen Unterhaltung 
mit seiner Frau horen: er solle vemichtet werden, sein Bruder wolle ihn erschieBen. 
Nur durch das Dazwischenrufen eines Nachbam wurde der Mordverauch damals 
verhindert. Er wechselte nun mehrmals die Wohnung, iiberall aber stieB er auf 
eine planmaBig angelegte Schadigung seiner Person, vor der er nur durch sein 
„feines Geh6r“ geschiitzt wurde, das ihm iiber die Personen, die am neuen Orte 
ihn verfolgten, Aufklarung schaffte. Cberall bekam er auch Gift und lieB deshalb 
wiederholt seine Speisen chemisch untersuchen; die betreffenden Fachleute ant- 
worteten aber stets ausweichend. Er faBte schlieBlich einen tiefen Groll gegen alle 
Mitmenschen. Zeitweise bekam er so viel Gift, daB das Brennen im Kopfe un- 
ertraglich wurde; alle Menschen erschienen ihm dann auf der StraBe in den soheuB- 
lichsten Verfinderungen, hatten lange, unformliche Nasen, das Blut kam ihnen 
in Stromen aus Nase und Mund, andere wieder erschienen ganz kahlkopfig: „Es 
war schrecklich, ich mochte iiberhaupt keinen Menschen mehr ansehen. u Da 
er vom einzelnen Menschen keine Hilfe erlangen konnte, so wandte er sich an die 
Behorden, zuletzt an das Reichsgesundheitsamt, das ihn an die Polizei verwies. 
Er wurde kurze Zeit in einer Irrenanstalt interniert (1883/84), „aus der ich viel 
schlechter entlassen wurde, als ich mich zur Zeit der Aufnahme befand Er reiste 
dann nach Berlin. Hier kam man ihm mit groBem Respekt entgegen. Als er Arbeit 
suchte, sagte man ihm: „Sie brauchen iiberhaupt nicht mehr zu arbeiten, Sie sind 
in den hoheren Adelsstand erhoben.“ Dasselbe horte er auch im Wirtshause. 
Er wollte es zuerst selbst nicht glauben, muBte sich aber von der Wahrheit des 
Gesagten iiberzeugen, als S. M. der Kaiser ihm die gleiche Mitteilung machte 
gelegentlich einer Ausfahrt, bei der der Kaiser unmittelbar an ihm voriibergefahren 
war. Nach seiner Riickkehr nach Braunschweig begannen die Bel&stigungen 
durch Gift von neuem; er ging deshalb zur Polizei und trat dort, wie er selbst 
sagt, „sehr entschieden“ auf. Die Folge davon war seine Einlieferung in die An- 
stalt. 

In der hiesigen Anstalt befand sich der Kranke leider nur ein Jahr; der Zu- 
stand blieb vollig unverandert. Immer wieder wird in der Krankengeschichte 
die Abhangigkeit des Zustandes von den mannigfachen Sinnestauschungen er- 
wahnt. Femer schob er alles, die geringste Verdauungsstorung wie ein groBes 
Schankergeschwiir auf Giftwirkung. Zu einer Beschaftigung war er nicht zu 
bewegen: er habe das nicht notig; er wiegelte auch andere Kranke auf, ihre T&tig- 
keit fur die Anstalt einzustellen. Die Intelligenz zeigte keine Liicken, die Affekte 
entsprachen den Wahnideen; irgendwelche Anzeichen psychischen Zerfalles 
waren nicht nachweisbar. Korperlich bestand eine leichte Pupillendifferenz bei 
normaler Lichtreaktion. 

Zusammenfassung: Ein38 jahriger Drechsler erkrankt bald, nach 
dem er sich nach langjahriger Wanderschaft seBhaft gemacht hat, unter 
Vergiftungsideen, die von Gesichts-, Geschmacks-, besonders mannig¬ 
fachen Gehors- und Gefiihlstauschungen begleitet sind. In logischem 
Aufbau und langsamer Steigerung bildet sich im Laufe mehrerer Jahre 
ein allgemeiner Verfolgungswahn aus, in dem aber immer noch die Ver¬ 
giftungsideen dominieren. Erst etwa fiinf Jahre nach Beginn der Er- 
krankung stellen sich auch GrdBenideen ein, deren Entstehungsmodus 
leider nicht zu ersehen ist; aber auch bei ihrer Entstehung spielen jeden- 


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Beitrfige zur Klinik der Paranoia. 


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falls Geh6rshaUuzinationen die Hauptrolle. Die Wahnideen sind syste- 
matisch miteinander verbunden, die Intelligenz ist nach 8 Jahren nach 
dem Beginn ungestSrt, die Affekte sind adaquai^ die Reaktion ist durch- 
aus verstandlich. Dauemd wird der Wahn durch lebhaft gefuhlsbetonte 
Trugwahmehmungen unterhalten. 

Fall V. E. R., Gaatwirt, geb. 4. 12. 1875, aufgenommen 14. 2. 1906. 

tTber erbliche Belastung ist nichte bekannt. Er war Sohn eines Landwirtes, 
wurde sehr religios erzogen, beschaftigte sich auoh spater viel mit religiosen Fragen. 
Er entwickelte sich korperlich und geistig ohne Stoning, lernte gut, war nie krank. 
Er wurde zuerst Diener, geniigte dann seiner militarischen Dienstpflicht, war 
4 Jahre Muller, endlich in der vaterlichen Landwirtschaft tatig. November 1904 
bis Mai 1905 betrieb er eine Gastwirtschaft in H., die aber nicht florierte. Wahrend 
dieserZeit trank er viel alkoholische Getranke, hatte auch viel unter morgendlichem 
Erbrechen zu leiden. Spater lebte er mit seiner Wirtschafterin, die ihm mit Heirats- 
planen zusetzte, besch&ftigungslos zusammen. Geschlechtliche Infektionen werden 
negiert. 

Am 8. 8. 1905 verspiirte er, nachdem ihm schon ein Jahr vorher davon ge- 
tr&umt hatte, daft ihm schwere Kampfe mit dem Teufel bevorstanden, beim Friih- 
stiick plotzlich einen starken Luftzug, und der Teufel kam leibhaftig zu ihm. 
In seiner Angst betete er, und der Teufel entwich daraufhin aus dem Schornstein. 
Er erschien ihm von da an ofter; auch durch Ortswechsel konnte R. sich ihm 
nicht entziehen. Er sah ihn bald in der Luftschachtoffnung, bald in der Stuben- 
ecke mit groBen Homem sitzen; einmal sah er auch um die Lampe, die er eben 
angeziindet hatte, kleine gliihende Manner fliegen; als er ein Vaterunser betete, 
erlosch plotzlich die Lampe, und der Teufel fuhr in dem Qualm aus, einen deutlichen 
Schwefelgeruch hinter sich lassend. Mit dem Teufel stand, das merkte R. bald, 
seine Wirtschafterin im Bunde. 

R. wurde in die psychiatrische Klinik zu H. verbracht, wo die ersten drei 
Wochen ruhig bei einem gewissen Grade von Krankheitseinsicht verliefen; dann 
aber fiihlte er sich durch die iibrigen Kranken und das Personal verhohnt, horte, 
dafl behauptet wurde, seine friihere Wirtschafterin sei von ihm schwanger. Er 
hielt sich deshalb abseits, briitete viel vor sich hin und nahm den alten Wahn 
von der Teufelsiiberwindung wieder auf; er auBerte auch Ideen, daB er etwas 
Besonderes ware, daB er von seiner Gastwirtschaft nur durch die R&nke seiner 
Verwandten, die sein Besitztum an sich bringen wollten, vertrieben sei. Wieder 
sah er oft den Teufel in Person, daneben Satan, den er vom Teufel trennt, einen 
Engel in weiBem Gewande usw. 

Das Wahnsystem, das sich langsam entwickelte und auch heute noch besteht, 
ist folgendes: R. steht mit Gott im Bunde und hat durch sein Gebet den Teufel 
nberwunden. Dadurch hat er bewirkt, daB die Irrenh&user bald leer stehen werden 
und die ganze Welt besser wird. Auch im n&chsten Weltkriege wird er eine ent- 
scheidende Rolle, die ihm von Gott bestimmt ist, spielen, dem deutschen Kaiser 
beistehen, der dadurch Sieger der Erde wird. England wird bald im Meere ver- 
schwunden sein. 

Im Laufe der Jahre kamen neue GroBenideen hinzu: R.s Eltem seien nur seine 
Pflegeeltem, er sei eigentlich ein unehelicher Sohn des alten Herzogs und eines 
Fr&uleinfl G. Der Herzog, sein Vater, habe ihm testamentarisch eine halbe Mil- 
liarde, das Gut Salder und das Hofbrauhaus in Br. vermacht. In der Anstalt 
sei er auf Anordnung des Staatsministeriums untergebracht, weil die braunschwei- 
gischen Steuerzahler, die die halbe Milliarde aufbringen miiBten, ihr Geld behalten 
woDten. R.s Benehmen ist stets ruhig und gemessen, dabei iiberlegen und hoch- 


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miitig. Er hofft auf seine Zukunft. Seine Wahnideen hiitet er sorgsam, gibt 
auch iiber die zweifellos auch jetzt noch bestehenden Sinnest&uschungen keine 
Auskunft. Zur Arbeit ist euinicht zu bewegen: er hat das nicht notig. Er h&lt sich 
fiir vollig gesund, ist orientiert, zeigt keine Liicken der Intelligenz. 

Zusammenfassung: Bei einem 30jahrigen, nicht belasteten 
Manne, der sich stets viel mit religi6sen Fragen beschaftigt hat, ent- 
wickelt sich im AnschluB an einen etwa 1 / 2 jahrigen starken AlkoholmiB- 
brauch ein religiflser GrOBenwahn. Die Wahnbildung beginnt ganz akut 
mit einer Vision; lebhafte Sinnestausch ungen, vor allem des Gesichtes, 
aber auch des GehOrs und Geruchs begleiten den Verlauf. Ideen hoher 
Abstammung, groBen Reichtums vervollstandigen spater die megalo- 
manischenVorstellungen, daneben bestehen nur geringfugigeVexfolgungs- 
ideen. Die Intelligenz zeigt nach 8jahriger Dauer der Krankheit keine 
Liicken; die herrschende Affektrichtung ist die der Hoffnung. Dabei 
besteht das Bestreben, sich und seine Wahnideen vor den Spdttereien 
anderer Menschen zu schiitzen. Dementsprechend bis zu einem gewissen 
Grade das Bestreben, sich von den Mitkranken abzuschlieBen. 

Fall VI. J. G., katholischer Arbeiter, geb. 26.9.1874, aufgenommen 17.3.1904. 

Erbliche Belastung ist nicht zu erweisen. Als Kind iiberstand er Scharlach, 
im 19. Lebensjahre Erysipel; in der Schule lemte er sehr schwer. Damach war 
er erst Knecht, dann Arbeiter in Ziegeleien, Zementfabriken und EisengieBereien. 
Masturbation seit dem 12. Lebensjahre, zeitweise exzessiv, wird zugegeben, In- 
fektion und Potatorium dagegen negiert. 

Vom Jahre 1893 ab kam er haufig mit dem Strafgesetz in Konflikt; er erlitt 
6 Strafen wegen Diebstahls, Korperverletzung, Widerstandes, zuletzt 6 1 /* Jahre 
Zuchthaus wegen StraBenraubee. Diese Strafe trat er am 1. 1. 1900 an. Aus dem 
Zuchthause wurde er der hiesigen Anstalt iiberwiesen, „weil er an religideer Ver- 
riicktheit erkrankt sei“. 

Schon wahrend der Untersuchungshaft hat er angeblich 3—4mal an eigen- 
tiimlichem, rasch voriibergehenden, mit Angstgefiihl verbundenen Zittem des 
ganzen Korpers gelitten, das nicht mit BewuBtseinsverlust verbunden war; auch 
sp&ter in der Einzelhaft sind nach seiner Angabe die Zuf&lle ofter wiedergekehrt. 
Nach denselben habe er immer ein Schw&chegefiihl gehabt. Arztlioh sind die 
Zuf&lle nie beobachtet. 

Als er einmal disziplinarisch mit 6 Tagen Dunkelarrest bestraft war, wurde 
ihm eine gottliche Erscheinung zuteil. Eine Stimme, die des Herra Jesus Christus, 
rief ihm von oben zu: „Wie siehst du denn aus; ziehe dich aus.“ Er zog sich darauf 
aus. Eine zweite Stimme, die Gott-Vaters, sagte darauf: „Stehe auf, du bist nackt. u 
Er stand auf. Darauf die Stimme: „Kennst du mich? Ich bin der liebe Gott, 
wie sehe ich denn aus?“ Der liebe Gott hatte einen gelben langen Bart. Gott 
fiihrte ihm dann sein Leben vor Augen und vergab ihm alle seine Siinden. Dann 
sagte er zu ihm: er hatte einen guten Glauben, brauchte nun nicht mehr zur Beichte 
zu gehen, er solle nur immer beten und die Lutherischen von ihrem Glauben ab- 
bringen. Darauf ist Gott verschwunden. Einige Tage spater erschien er ihm 
von neuem und hat mit ihm bis *^12 Uhr „gearbeitet“, Gott sagte ihm dabei 
noch: in einem halben Jahr solle er nur um Entlassung bitten, dann werde sie 
ihm gewahrt werden, und gab ihm verschiedene Auftrage fiir den Papst. Sp&ter 
erschien ihm auch die Jungfrau Maria in einem Fenster und erteilte ihm gleiohe 
Auftrage, sprach spater auch noch mehrmals unsichtbar zu ihm . 


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Beitr&ge zur Klinik der Paranoia. 


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Seitdem sagen seine Gedanken ihm immer, er miisse gegen den schleehten 
Glauben, den lutherischen, k&mpfen. „Meine Gedanken sind immer bei der Saohe; 
sie gehen hin und her, als ob eine Feder vor meiner Stim hin und her flatterte. 44 
tTber seine Gehorstauschungen auBert.er: „Wenn ich was zu denken habe mit 
Gott, dann hore ich kleine feine Stimmen wie Madchenstimmen; wenn jemand 
spricht, so h5re ioh Beistimmen, die kommen aus der Luft direkt, das sind Ge¬ 
danken, die andere von oben gedacht haben und die bilden sich in der Luft.“ 
Femer horfc er noch grobe Stimmen, die meist aus den £cken kommen. £r be- 
kommt auch sonst Zeichen vom Himmel. Einmal muBte er im Garten plotzlich 
Bagen: „Sonne, komm zu mir.“ Da kamen die Sonne und die Sterne zu ihm und 
blieben 50 Schritt vor ihm stehen, um sich dann wieder zuriickzuziehen. Das 
Essen schmeckt ihm manchmal „wie verwandelt“. 

G. glaubt fest an seine ihm von Gott aufgetragene Mission, das ganze Volk 
zum romisch-katholischen Glauben bringen zu miissen. Zu seinen Aufgaben 
will er den Rat des Kaisers heranziehen; sonst seien seine Kenntnisse selbstandig 
und p&Bten besser ins Volk, da er dessen Not und Bedrangnis am eigenen Leibe 
erfahren habe. Seine Intemierung in der Irrenanstalt betrachtet er als Gottes- 
schickung; in letzter Zeit gibt er aber an, mit 40 Jahren werde er aus der Anstatt 
entlassen, um seine Mission zu erfiillen. Auch Christus sei 40 Jahre alt gewesen, 
als er gekreuzigt wurde, dann lieB es Gott geschehen, friiher nicht. Genau so 
werde es mit ihm sein. 

G. benimmt sich geordnet, zeigt stets eine seiner Rolle angemessene Haltung 
und Miene; h&ufig ist er gereizt, meist infolge von Konflikten mit seiner Umgebung; 
lebhafter wird er nur, wenn seine Halluzinationen sich haufen. Die Intelligenz 
ist intakt, Arbeit weist er zuriick, er h&lt sich von den ubrigen Kranken fern. 

Zusammenfassung: Bei einem nicht nachweisbar belasteten, 
von jeher debilen Arbeiter kommt es im 28. Lebensjahre in der Strafhaft 
wahrend einer Disziplinierung mit Einzelhaft zur raschen Entwickelung 
eines religi6sen GrOBenwahns, der durch eine Vision eingeleitet wird 
und von zahlreichen Sinnestauschungen auf dem Gebiete des Gesichts 
und Gehdrs, selten des Geschmacks, die er sehr genau auseinanderhalt 
und einwandfrei beschreibt, begleitet ist. Die Intelligenz bleibt ohne 
grObere Liicken, sein Wahnsystem wie Handeln ist logisch, seine Stim- 
mung den Halluzinationen und Wahnideen adaquat. Ob die von ihm 
beschriebenen, arztlich nicht beobachteten Zufalle wirkliche Krampf- 
anfalle waren, ist nicht zu entscheiden; jedenfalls handelt es sich sicher 
nicht um epileptische Anfalle, eher um hysterische, wenngleich er augen- 
blicklich keinerlei Stigmata zeigt, vielleicht um Zufalle, wie sie auch 
ohne ausgesprochene Hysterie bei Degenerierten gefunden werden. 

DaB die vorbeschriebenen Krankheitsfalle unter sich wie mit den 
friiher von uns verOffentlichten zusammengehoren, ist bei der Gleich- 
artigkeit der Krankheitsbilder als sicher zu betrachten. Sicher ist auch, 
daB sie in der Kraepelinschen Einteilung der Psychosen auch unter 
EinschluB seiner neuesten SchOpfungen, der Paraphrenien, keinen siche- 
ren Platz haben; Grund genug, sie genauer zu besprechen. 

Im Mittelpunkt aller Krankheitsbilder steht ein Wahnsystem. In 


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126 


H. Krueger: 


den Fallen I—IV begann der Wahn ebenso wie in den beiden friiher mit- 
geteilten Fallen mit Verfolgungsideen; an diese schlossen sich nach 
einiger Zeit mehr minder lebhafte Selbstiiberschatzungsideen cm. Die 
Falle V und VI produzierten dagegen zuerst und auch spater vorwiegend 
GroBenideen, neben denen sich im Falle V auch leichte Beeintrachtigungs- 
vorstellungen entwickelt haben. 

Die Art des Verfolgungswahnes ist eine sehr verschiedene. Im 
Falle I beherrschen die Ideen kSrperlicher Schadigung (ebenso wie im 
Falle II der friiheren Veroffentlichung) das Krankheitsbild, weniger 
treten die Vorstellungen geistiger Beeinflussung hervor (die auch in dem 
friiher mitgeteilten Falle angedeutet sind). Im Falle II begann der 
Wahn ebenfalls mit Ideen der Beeintrachtigung auf kdrperlichem Ge- 
biete (Vergiftungsideen), um dann Ideen der Schadigung an Hab und 
Gut zu weichen, neben denen allerdings auch weiterhin solche kdrper- 
licher Schadigung (geschlechtlicher MiBbrauch) bestehen. Der Ver- 
folgungswahn im Falle III ist eigenartig, weil er sich gegen den Kranken 
selbst nur indirekt richtet, direkt dagegen dessen Angehdrige betrifft; 
der Kranke selbst wird nur dadurch gequalt, daO man ihm die Nach- 
stellungen, unter denen seine Familie zu leiden hat, in Wort und Bild, 
vorfiihrt, ebenso ihm von geplanten Verbrechen Mitteilung macht, um 
ihm die Qual der Kenntnis dieser Anschlage, ohne sie hindem zu kdnnen, 
zu bereiten. Personlich wird der Kranke nur von seinen GrdBenideen 
betroffen. Ahnlich ist der Verfolgungswahn im Falle I der friiheren 
Publikation; auch dort richten sich die Verfolgungen vor allem gegen 
Familienangehdrige, aber auch gegen Fernerstehende (Mitkranke werden 
in die „Blutloge“ geschleppt), wobei allerdings die Furcht, daO ihm das 
gleiche passieren konnte, mitspielt; daneben bestehen auch Vorstellun¬ 
gen der eigenen kfirperlichen Schadigung. Im Falle IV ist es anfanglich 
ein ausgesprochener Vergiftungswahn, unter dem der Kranke steht, 
spater kommen sonstige Ideen von Anschlagen gegen das Leben hinzu. 
Fall V zeigt nur andeutungsweise persekutorische Vorstellungen, in- 
sofem der Kranke sich von Verwandten hinsichtlich seines VermOgens 
beeintrachtigt glaubt und spater annimmt, daB ihm eine ihm zustehende 
Erbschaft vorenthalten werde. Im Falle VI fehlen bisher irgendwelche 
Beeintrachtigungsideen vollstandig. 

Ebenso verschieden wie die Verfolgungp vor stellungen sind die 
GrdBenideen. Ist im Falle I neben einem starken, vielleicht aber noch 
physiologischen Adelsstolz sicher megalomanisch nur das Gefiihl er- 
heblicher geistiger Gberlegenheit zu finden, so betreffen die Uber- 
schatzungsideen im Falle II die mannigfachsten Gebiete, sowohl Ab- 
stammung und gesellschafthche Stellung wie die pekuniaren Verhalt- 
nisse, wie die geistige Persdnlichkeit. Im Falle III sind es hauptsaohlich 
die auBeren Verhaltnisse, die im Sinne des GrOBenwahns verandert sind: 


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Beitr&ge zur Klinik der Paranoia. 


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mit einem hohen Titel und einem ehrenvollen Amte ist ein Millionen- 
erwerb verbunden; im Falle IV beschranken sich die Selbstiiberschat* 
zungsideen auf die Erhebung in den hdheren Adelsstand. In den 
Fallen V und VI dominieren religiose GrdBenideen; beide Kranke eehen 
sich in der Rolle des Welterldsers, wobei im Falle V allerdings noch recht 
irdische GrdBen vorstellungen, wie hohe Abetammung, groBer Reichtum 
hinzukommen. In den beiden friiher verdffentlichten Fallen sind die 
GrdBeoideen nur wenig ausgepragt; im ersten der Falle glaubt der Kranke 
an seine hohe Abetammung, im zweiten Falle muB die von anderen Per- 
sonen gewollte Heirat mit einer hdher gestellten Persdnlichkeit die an* 
geblichen Verfolgungen erklaren. 

Die Wahnideen sind in alien Fallen auBerordentlich durchsichtig 
und detailliert. Alle Kranken sind sich iiber die Urheber der Verfol* 
gungen vollig im klaren. Ist es im Falle I ein vom Frauenverein zu X 
gedungenes Komplott, das aus 5 Dimen und 6 Mannem besteht, die 
die Kranke samtlich mit Namen zu nennen weiB, so ist es im Falle II 
ein Komplott, an dessen Spitze die Kranke den Fiirsten Bismarck ver- 
mutete. Im Falle III ist es eine Verbrecherbande, „Brandes, Heinrichs 
und Genossen“, alle zur welfischen Partei gehdrig; im Falle IV sind es 
zuerst die eigenen Verwandten, spater allgemein die Polizei, die die Nach- 
stellungen in Szene setzen. Die Verwandten sind auch im Falle V zuerst 
die Urheber der Vermdgensschadigungen. In den friiher publizierten 
Fallen endlich ist es im ersten eine Gruppe von „Elektrikem“, die den 
Kranken und die Seinen belastigt, im zweiten sind es ein ,,Dr. Oster- 
mann und Genossen“. 

Die Entstehung der Wahnvorstellungen scheint in den Fallen 
I, II und IV ebenso wie in den beiden friiher verOffentlichten Fallen 
sehr langsam vor sich gegangen zu sein, etwas schneller in den Fallen HI, 
IV und VI, wo unter zum Teil pldtzlichen, stets sehr lebhaften Sinnes- 
tauschungen die ersten Wahnideen in verhaltnismaBig kurzer Zeit ent- 
standen sind. Die Weiterentwickelung der krankhaften Voistellun- 
gen ist in alien Fallen langsam, haufig schubweise vor sich gegaDgen und 
hat stets Jahre, in einigen Fallen ein Jahrzehnt und dariiber gebraucht, 
bzw. dauert sie noch fort. 

Die GrdBenideen sind, ausgenommen die Falle V und VI, als komple- 
mentare anzusehen. Sie zeigen deshalb in einigen Fallen (I, IV sowie den 
beiden der friiheren Verdffentlichung) einen wenig ausgesprochenen, im 
Vergleich zu den Verfolgungsideen weit weniger affektbetontenCharakter. 
Sie zeigen jedenfalls ein ganz anderes Geprage als die GrdBenideen in den 
Fallen V und VI, wo sie die erst konzipierten sind, und wo die Verfol- 
gungsvorstellungen wiederum ganz fehlen oder doch sehr zuriicktreten. 

Was die die ersten Wahnideen ausldsenden Momente 
anbetrifft, so scheinen im Fall I die Belastigungen durch Elektrizitat, 


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H. Krueger: 


die die Kranke zu verspiiren meinte, durch Trugwahrnehmungen be- 
dingt gewesen zu sein; es ist deshalb sehr wohl moglich, daB tatsachlich 
Sinnestauschungen die erste Verfolgungsidee hervorgebracht haben, 
wenngleich die Prioritat der Symptome nicht absolut sicher zu erweisen 
ist. Im Falle II ist eine solche Entscheidung bei dem weit zuriick- 
begenden Beginn der Erkrankung uberhaupt nicht mehr mOglich. 
Im Falle III scheint es sicher, dafl es unter der lebhaft unlustbetonten 
Versetzung eines bis dahin angesehenen Mannes in die Strafhaft zu 
Sinnestauschungen gekommen ist, die wiederum die erste Wahnidee 
ausgeldst haben, daB jedenfalls die ersteren schon vor der letzteren vor- 
handen waren. Im Falle IV beanspruchen die Wahnvorstellungen die 
Prioritat, sofem die unbestimmten Zuckungen im Kdrper nicht hallu- 
zinatorisch bedingt aufzufassen sind, wofiir kein genugender Beweis 
vorliegt. Das Erblicken des Giftes auf den Speisen ist jedenfalls erst 
dadurch, daB infolge des durch unangenehnie korperliche Sensationen 
zur Entwicklung gebrachten Vergiftungswahns die Aufmerksamkeit 
angestrengt darauf gerichtet wurde, hervorgerufen zu denken. In den 
Fallen V und VI, wo sich die erste Wahnbildung an isolierte, lebhaft 
affektbetonte halluzinatorische Erlebnisse anschlieBt, sind diese als 
wahnauslosende Ursachen unbedingt anzusprechen. Von den friiher 
verfiffentlichten Fallen erscheint im ersten die wahnauslbsende Eigen- 
schaft der Sinnestauschungen zweifelhaft; im zweiten Falle sind die 
Vorgange bei Beginn der Erkrankung nicht mehr sicher festzustellen. 
Fassen wir zusammen, so scheint uns in 4 Fallen die erste Wahnbildung 
wahrscheinlich durch Sinnestauschungen ausgeldst, in einem Falle ist 
das zeitliche Verhaltnis beider Erscheinungen zweifelhaft, in einem 
anderen ist die erste Wahnbildung den Sinnestauschungen vorangegangen, 
in 2 Fallen laBt sich der zeitliche Zusammenhang nicht mehr mit ge¬ 
nugender Sicherheit erweisen. 

Im weiteren Verlaufe der Krankheit wird nun der Wahn unterhalten, 
werden ihm neue ausschmtickende Zuge beigemischt durch dauernde, 
sehr lebhafte Sinnestauschungen. 

Was die Art der Trugwahrnehmungen betrifft, so stehen im Falle I 
im Anfang und auch weiterhin im Vordergrunde haptische Tausohungen, 
die das Material zu dem Wahne der Belastigung durch elektrische Strome 
abgeben, zugleich bestehen vereinzelte Geruchstauschungen (,,giftige 
Diinste“); erst spater treten Gehorstauschungen auf, darunter auch 
Worthalluzinationen, die der Kranken telephonisch zugerufen werden. 
Die Geruchstauschungen nehmen spater immer mehr zu; selten sind 
Geschmacks- und Gesichtstauschungen, welch letztere meist szenen- 
haften Charakter tragen. Im Falle II sind vorherrschend Trugwahr¬ 
nehmungen des Gehorssinnes mannigfachster Art. Durch unsichtbare 
Sprachrohre werden der Kranken Mitteilungen gemacht, sie hort Kinder 


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Beitrftge zur Klinik der Paranoia. 


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wimmem, Veratorbene sprechen uaw. Zuriick treten dagegen die Ge- 
ruchs-, Geschmacks- und Geftthlatauschungen, die zum groBen Teil 
allgemeinerer Art sind; nur vereinzelt finden sich Gesichtstauschungen. 
Im Falle III werden die Sinnestauschungen dargestellt durch eine eigen- 
artige Kombination szenenhafter Gesichts- und erklarender Gehdrs- 
tauschungen, die den Kranken zur Bildung eines an sich durchaus 
aachgemaBen Auadruckea daftir („Photophonieren“) gebracht haben 
(aofem er ihn nicht in einem Artikel iiber derartige, ja im Bereich der 
Moglichkeit liegende Apparate geleaen hat). Im Falle IV stehen abge- 
sehen von den nicht sicher zu identifizierenden Kdrperzuokungen zuerat 
Gesichtstauschungen im Vordergrunde, Geschmackstauachungen kom- 
men bald hinzu, Gehdratauachungen beherrachen fernerhin das Krank- 
heitabild; auch im weiteren Verlaufe kommen aber interkurrent eigen- 
tumliche Geaichteilluaionen (acheuBliche Veranderungen aller Menachen) 
vor. Im Falle V wird die Wahnbildung eingeleitet durch eine iaoliert 
8tehende Vision, die von Zttgen haptischer Tauachungen begleitet iat. 
Spater haufen sich die Gesichtatauschungen, zum Teil zuaammen mit 
aolchen dea Gerucha; hinzu kommen schlieBlich Gehdratauachungen, 
die unterachiedlioh von den Gesichtatauschungen, die die GrdBenideen 
stutzen, nur den Verfolgungswahn zu begleiten scheinen. Im Falle VI 
beginnt das Wahnbild im AnschluB an eine Gehorstauschung, mit der 
sich eine Vision verbindet; Gehdrs- und Gesichtstauschungen, haufig 
miteinander verbunden, beherrachen weiterhin das Bild, vage Geschmacks- 
tauschungen aind selten. Im ersten der friiher publizierten Falle iiber- 
wiegen die GehOratauschungen, daneben beatehen vereinzelte haptiache 
Halluzinationen; im zweiten Falle herrechen GefUhlsillusionen vor, 
neben denen zahlreiche Geachmacka-, vereinzelte Gehdratauachungen 
und zahllose Peraonenverkennungen produziert werden. 

Bringen wir die Halluzinationen in den einzelnen Fallen zugleich 
unter Abwagung ihrer Starke und Haufigkeit auf den verachiedenen 
Sinne8gebieten in ein Schema, so ergibt sich iolgendes: 



Gesichts 

Gehors 

T&uschungen des 
| Gefiihls 

Geruchs 

| Greschmaeks 

Fall 

I 

+ 

+ + 

1 + + 4 - 1 


i + 

»» 

11 

+ 1 

-f + + 

i -f 4- 

+ + 

1 + 4 - 

»» 

III 

4* + + 1 

+ + + 

i 

| 


1 

>» 

IV 

+ + 

+ + -f 

i 


+ 

97 

V 

+ ++ 1 

+ 

, : 

4 - 

1 

77 

VI 

+ 4- | 

+ + + 

1 


4 - 

>7 

I* 1 


+ 4- + 

4- ' 



99 

II* 

+ + + ! 

+ 

+ 4 - 4 - 


’ + + 


*) der fruheren Publikation. 

Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XX. 9 


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H. Krueger: 


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Tauschungen dee Gehorssinnes wiesen samtliche Kranke auf, in 
5 Fallen sind sie dominierend (einmal verbunden mit solchen des Ge¬ 
sichtssinnes). Am nachsten kommen ihnen an Hauiigkeit die Hallu- 
zinationen des Gesichtssinnes, die in 7 Fallen nachweisbar sind, darunter 
3mal das Krankheitsbild beherrschend (davon lmal verbunden mit 
GehOrs-, ein anderes Mai mit haptischen Tauschungen). Geschmacks- 
tauschungen sind in 5 Fallen, Geruchstauschungen in 3 Fallen, hap- 
tische Tauschungen in 4 Fallen zu verzeichnen, letztere in 2 Fallen 
iiberwiegend (davon lmal verbunden mit solchen des Gesichtssinnes). 

Solche Sinnestauschungen beherrschen in alien Fallen das Krank¬ 
heitsbild vollstandig; sie sind es, die nicht nur das auBere Gebaren der 
Kranken, sondem auch ihr ganzes Denken und Handeln naturlich in 
steter Verbindung mit den Wahnvorstellungen beeinflussen. Die 
mannigfachen, die Wahniabel ausschmtickenden Ideen, die in unseren 
Fallen weit mehr als in den Fallen einfacher chronischer systematisierter 
Wahnbildung zu finden sind, verdanken den Trugwahrnehmungen ihre 
Entstehung; daB die letzteren in einzelnen Fallen auch die Konzeption 
der ersten Wahnidee verursacht zu haben scheinen, ist bereits oben 
besprochen. Die Sinnestauschungen halten sich im Rahmen der bestehen- 
den krankhaften Vorstellungen, sie begleiten in alien Fallen die Ver- 
folgungsideen, wahrend sie nur in der Halite der Falle (Fall II, IV, V, VI) 
an die GrOflenideen ankntipfen. Die Trugwahrnehmungen gehoren den 
allerverschiedensten Formen an; aui dieselben einzugehen, ist im vor- 
liegenden Zusammenhange nicht erforderlich, so interessant einzelne 
(z. B. im Falle VI) sein mogen. 

Die Sinnestauschungen zeigen in alien Fallen groBe sinnliche Leb- 
haftigkeit und haben ausgesprochenen Realitatswert fur die Kranken. 
Die auBere Reaktion aui sie wie auch auf die Wahnideen ist 
eine durchaus angemessene. Die Kranken wechseln, um den Ver- 
folgungen zu entgehen, wiederholt (im Falle I in 10 Jahren 18mal!) 
den Auienthaltsort; sie wechseln den Standort des Bettes in jeder 
Nacht, um die elektrischen Einwirkungen zu vermeiden; sie sperren 
die Fenster aui, um giitige Diinste hinauszulassen; sie lassen die Speisen, 
aui denen sie Giit sehen, chemisch darauihin untersuchen, andere ver- 
langen zum Schutze gegen das Giit, das sie schmecken und wahnen, die 
Einrichtung eigener Kuchen, Filtration des Trinkwassers usw. Die 
Kranken gehen zur Post oder zur Oberpilegerin, um halluzinatorisch 
angemeldete Geldsendungen oder Pakete abzuholen; sie machen den 
Behorden Anzeige von halluzinatorisch zu ihrer Kenntnis gelangten 
Attentatsabsichten und dergleichen mehr. Gegen ihre Intemierung 
in der Irrenanstalt protestieren die Kranken in bogenlangen, auBerlich 
vollig korrekten Beschwerden bei der Polizei, dem Staatsanwalt, dem 
Ministerium; sie suchen sich gegen ihre Verfolgungen wie gegen die 


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Beitr&ge zur Klinik der Paranoia. 


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halluzinierten Belastigungen im auBersten Falle auch durch wtistes Ge- 
schimpfe zu verteidigen, wie die Kranken selbet angeben, zum Teil mit 
dem Erfolge, daB die Verfolger und Peiniger sich zeitweiae zuruckziehen. 

Die die Sinnestauschungen und Wahnvorstellungen begleitenden 
Affekte entprechen vdllig diesen krankhaften Wahrnehmungen und 
Vorstellungen; sie zeigen in den meisten Fallen demgemaB groBe Leb- 
haftigkeit. In keinem FaUe sind jetzt unabhangige, nicht motivierte 
Affekte nachzuweisen. Im einzelnen zeigt die Affektivitat ein sehr ver- 
scliiedenes Geprage, meist herrschen Mischzustande vor; so im Falle I, 
wo der Affekt nur gering ist, und eine stille Resignation den Grundzug 
des Wesens darstellt. Im Falle III herrscht ein leicht gehobener Affekt 
entsprechend dem Vorherrschen der GroBenideen, doch werden durch 
die haufigen unlustbetonten Trugwahmehmungen voriibergehend Ver- 
stimmungszustande leicht depressiven Charakters ausgeldst. Im Falle IV 
ist ein Mischaffekt entsprechend dem etwa gleichen Anted der GrdBen- 
und Verfolgungsideen am Krankheitsbdde dominierend, der eine stete 
Gereiztheit zur Folge hat. Im Falle V scheint schon vor der Entwicklung 
von Wahnideen eine leichte Hyperthymie bestanden zu haben; gehobene 
Stimmung ist auch jetzt dauemd vorhanden. Im Falle VI besteht eben- 
falls eine iiberwiegende Lustbetonung aller Ereignisse; Mischaffekte, 
die sich vorziiglich in dauernder Gereiztheit kundgeben, herrschen in 
den beiden friiher verOffentlichten Fallen vor. Im Falle II endlich ist 
jetzt eine wesentliche Abstumpfung der Affektivitat nachweisbar, 
worauf spater noch zuruckzukommen sein wird. 

Was die Affektivitat vor Konzeption der ersten Wahnidee 
anlangt, so sind in der Mehrzahl der Falle diesem Auftreten der mar- 
kanten Krankheitszeichen Zustande vorangegangen, deren starker 
EinfluB gerade auf das Affektleben bekannt ist. Im Falle I ist es die 
materielle Not, die Sorge um den notwendigsten Lebensunterhalt, die 
auf die Zeit vor Ausbruch der Psychose ihre Schatten wirft, ebenso im 
Falle V, wo der EinfluB extremen AlkoholmiBbrauches auf die Affektivi¬ 
tat noch hinzukommt. In den Fallen III und VI ist es die Versetzung 
in die Strafhaft, deren starke Affektbetonung schon hervorgehoben ist; 
im Falle VI liegt auBerdem ein leichter angeborener Schwachsinn vor, 
von dem allerdings nicht bekannt ist, ob er das Affektleben wesentlich 
mitbetroffen hat. Im Falle II handelt es sich ebenso wie im Falle II 
der friiheren Veroffentlichung um unverheiratete weibliche Personen, 
die nach den vorliegenden Angaben von jeher erhebliche Neigimg zu 
MiBtrauen gezeigt haben, das (nach der auBeren Reaktion zu urteilen) 
augenscheinlich in beiden Fallen pathologisch unlustbetont war. Nur 
im Falle I der friiheren Publikation ist nichts iiber einen abnormen 
Zustand der Affektivitat speziell bekannt, doch ist anzunehmen, daB 
sie auch in diesem Falle bei dem ,,von jeher absonderlichen Charakter“ 

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H. Krueger: 


des Mannes von der Norm abgewichen ist. In alien anderen Fallen ist 
die Affektivitat vor Konzeption der ersten Wahnvorstellung durch die 
mannigfachsten Umstande sicher stark nach der negativen Seite beein- 
fluBt gewesen. Naher wird darauf in einem spateren Abschnitt ein- 
gegangen werden. 

Der Beginn der Psychose liegt in 5 von 8 Fallen jenseits des 40. 
Lebensjahres (58, 51, 43, 43, 41 Jahre), in je einem Falle beginnt die 
Erkrankung im 38., 30. und 28. Lebensjahre. t)ber Geisteszustand und 
Charakter vor Ausbruch der Psychose stehen uns leider nur in wenigen 
Fallen genauere Angaben zur Verfiigung. AuBer in den beiden friiher 
veroffentlichten Krankengeschichten, von denen uns die eine den 
Kranken als ,,von jeher absonderlichen Charakter“ (vielleicht infolge 
einer Himerschiitterung, an die sich eine „Gehimentztindung“ ange- 
schlossen haben soil), die andere die Kranke als ,,Einsiedlerin mit eigen- 
tiimlichen Manieren und verschrobenen Ansichten“ beschreibt, wissen 
wir, daB im Falle II die Patientin stets ,,sehr exzentrisch, schroff und 
unvertraglich gewesen ist und ein einsames und zuriiokgezogenes Leben 
gefuhrt hat“. Im Falle V ist berichtet, daB der Kranke sehr religios - 
erzogen ist und sich auch spater viel mit religiosen Fragen beschaftigt 
hat; im Falle VI liegt ein leichter angeborener Schwachsinn vor, der auch 
zu starker Masturbation gefuhrt hat. Im Falle I wirft der fruhere Beruf 
(Schauspielerin, spater Souffleuse) vielleicht ein Licht auf den vor- 
psychotischen Zustand, im Falle IV die Tatsache, daB der Kranke viele 
Jahre auf der Wanderschaft zugebracht hat und erst mit 37 Jahren 
seBhaft wurde. 

Was die Dauer der Erkrankung betrifft, so wahrt die Psychose 
im Falle I sicher 16 Jahre, im Falle II 43, im Falle III 11 Jahre; im 
IV. Falle wahrte die Beobachtung, der der Kranke nach einiger Zeit 
entzogen wurde, bis zum 7. Krankheitsjahre, im V. Falle begann die 
Erkrankung vor 8, im VI. Falle vor 13 Jahren. Von den Fallen der 
friiheren Publikation ist Fall I 17 Jahre krank; im Falle II wahrt der 
ununterbrochene Krankheitsablauf sicher 6 Jahre, doch sind schon vor 
26 Jahren psychotische Erscheinungen beobachtet, denen dann aller- 
dings eine lange Zeit relativer Ruhe folgte. 

Fassen wir zusammen, so haben wir 8 Krankheitsbilder beschrieben, 
in denen sich gegen Ende des 3. bis Ende des 6. Lebensjahrzehntes bei 
meist schon vorher eigenartigen Personlichkeiten in von starken Unlust - 
affekten beherrschten Verhaltnissen systematisierte Wahnbildungen 
unter dauemdem EinfluB stark affektbetonter, sinnlich sehr lebhafter 
Trugwahrnehmungen von absolutem Realitatswerte entwickelt haben. 
Trotz jahrzehntelangen Bestehens bleibt die Intelligenz normal, die 
Ordnung im Denken und Handeln auBerhalb des Wahnkreises verhaltnis- 
maBig ungestort, die Affektivitat durchaus adaquat. 


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Beitr&ge zur Elinik rier Paranoia. 


133 


Die Unterschiede unserer Falle gegen die Dementia paranoides, 
wie sie Kraepelin friiher entwickelt hat, glauben wir schon im Hinblick 
auf unsere frtihereArbeit nur kurz streifen zu miissen, zumal da Krae pe - 
lin neuerdings diese Diagnose bei unseren Fallen selbst nicht mehr 
stellen wurde; es handelt sich um grundverschiedene Krankheitsgebiete, 
zwischen denen es unseres Erachtens t)bergange nicht gibt. Ebenso- 
wenig wie Ba nse und andere ha ben wir typische Ubergangsfalle zwischen 
beiden Krankheiten gesehen; bei eingehender Untersuchung hat noch 
kein Fall von Dementia paranoides die schizophrenen Symptome schon 
im Anfange oder wenigstens nach kurzer Krankheitsdauer vermissen 
lassen. Es fehlen auch bei den vorbeschriebenen Fallen diese fur die 
Schizophrenic ausschlaggebenden Symptome, die intrapsychische Ataxie 
(Stransky), der Autismus (Bleuler), die Ambivalenz (Bleuler), 
es fehlen Stereotypien, Manieren und Wortneubildungen; andererseits 
ist in unseren Fallen das Wahngebaude logisch aufgerichtet und bestandig, 
alles, auch die Sinnestauschungen werden mit dem Wahne logisch ver- 
kniipft, das Affektleben ist rege, die Reaktionen sind durchaus zweck- 
entsprechend. Eine wesentliche EinbuBe der intellektuellen Fahigkeiten 
laBt sich nicht feststellen. Der kbrperliche Beeintrachtigungswahn, 
der sich in mehreren unserer Falle findet, ist nicht der Ausdruck des 
Verlustes der Herrschaft iiber den eigenen Willen; der Kranke filhlt 
sich nicht „als der unfreie Spielball unmittelbarer Einwirkungen durch 
andere“ (Kraepelin), sondem der Kranke abstrahiert den EinfluB, 
den andere auf seinen Korper wie seinen Geist haben, aus den krank- 
haften Wahmehmungen, besonders den zahlreichen haptischen Tau- 
schungen, die gerade die Falle mit kdrperlichem Beeinflussungswahn 
unter den oben beschriebenen heimsuchen. Es ist der Wahn also in 
diesen Fallen unter ganz anderen Gesichtspunkten zu betrachten als 
bei der Dementia paranoides: Die Menge der Trugwahrnehmungen im 
Sinne der Verfolgung laBt in den Kranken das Gefiihl aufkommen, 
daB sie nicht mehr Herr ihrer selbst sind; sie empfinden den Zwang 
immer als ihrer unwtirdig und wehren sich nach Moglichkeit dagegen 
(siehe auch Banse, Hermann). DaB die Urteilstriibung, die den 
Wahn (iberhaupt zulaBt, Symptom eines Schwachsinnes sei, der das 
Produkt einer abgelaufenen oder pausierenden Dementia praecox ist, 
wie Schneider es sich vorstellt, scheint uns ausgeschlossen; es ware 
unverstandlich, daB dieser Schwachsinn in fortschreitender Weise nur 
die Urteilskraft und auch in dieser oft nur eine einzige Assoziations- 
richtung ergreifen sollte. 

Mit den Paraphrenien hat Kraepelin uns eine neue Krankheits- 
gruppe beschert, die dazu bestimmt ist, sich zwischen Paranoia und 
Dementia praecox (paranoides) hineinzuschieben. Nach seiner Schilde- 
rung der Symptomatologie dieser Krankheiten mochten wir annehmen, 


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134 


H. Krueger: 


daB Kraepelin unsere Falle als Paraphrenia systematica, Fall VI 
vielleicht als Paraphrenia expansiva bezeichnen wiirde. Eine derartige 
Anerkennung der Selbstandigkeit solcher Erkrankungen durch den 
auf diesem Gebiete bahnbrechenden Autor ist an sich zu begriiBen. 
Leider steht die genauere Abgrenzung der neuen Krankheitsgruppe 
gegen die Paranoia noch aus; doch scheint nach Kraepelins bisheriger 
Schilderung wie nach dem eben erschienenen Vortrage v. Hdsslins 
das wesentliche zu sein, daB die Paranoia im neuesten Sinne Kraepe¬ 
lins eine angeborene psychische MiBbildung, die Paraphrenic dagegen 
ein fortschreitender psychischer KrankheitsprozeB ist. Nach der Sym¬ 
ptom- und Verlaufsbeschreibung der Paraphrenia systematica allein ist 
es nicht mOglich, tiefgreifende Unterschiede gegen die Paranoia heraus- 
zufinden, abgesehen davon, daB Krae peli n bei der ersteren Erkrankung 
den Krankheitsbeginn vorzugsweise in ein spateres Alter verlegt und 
das Vorkommen zahlreicherer Sinnestauschungen zulaBt. DaB es sich 
bei der Paranoia „im wesentlichen um a b nor me Entwicklungen 
handelt, die bei psychopathisch veranlagten Personen unter dem Ein- 
{lusse der gewohnlichen Lebensreize zustandekommen“ (Kraepelin), 
nehmen auch wir an (siehe den folgenden Abschnitt), finden jedoch eine 
derartige Entstehung auch in unseren Fallen. Eine „eigenartige Veran- 
lagung“ beschreibt ja auch Kraepelin bei einer Reihe seiner Para- 
phreniker. Wohl sind auch uns Falle von Paranoia bekannt, in denen 
die psychopathische Anlage sich besonders friih und besonders stark 
gezeigt hat, doch finden wir, wie auch Stransky, daB auch bei den in 
Frage stehenden Paraphrenikern schon fruhzeitig Eigentumlichkeiten des 
Charakters bestanden haben, die sich von denen, wie sie bei der Paranoia 
vorkommen, kaum unterscheiden lassen. Im Augenblick erscheint uns 
deshalb die Stellung der neuen Gruppe wahnbildender Psychosen noch 
nicht vollig geklart; nach unserer bisherigen Erfahrung mochten wir eben- 
so wie das erst vor kurzem Stransky ausgesprochen hat, an der Zu- 
sammengehorigkeit der nicht schizophrenen, wahnbildenden Psychosen, 
soweit sie nicht durch spezifische Krankheitsprozesse hervorgerufen sind, 
oder die Wahnbildungen nicht voriibergehende Erscheinungsformen sonst 
klinisch anderweitig wohl charakterisierter Krankheiten sind, festhalten. 

Vom prasenilen Beeintrachtigungswahn (Kraepelin), so- 
fern man eine derartige Psychose anerkennen will, unterscheidet unsere 
Falle das Fehlen der Abenteuerlichkeit der Beeintrachtigungsideen 
wie der hypochondrischen Ideen. Von einer Preisgabe der krankhaften 
Vorstellungen, sei es auch nur fur wenige Augenblicke, von einem raschen 
Wechsel derselben, ist bei unseren Kranken keine Rede; die allmah- 
liche Entwicklung eines hdheren Grades von Urteilsschwache 1 ) fehlt. 

*) Die Kraepelin neuerdings auch nicht melir als notwendige Folge des 
prasenilen Beeintrftchtigungswahnes betrachtet. 


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Beitr&ge zur Kiinik der Paranoia. 


135 


Chronischer Alkoholismus, der ahnliche Zustandsbilder hervor- 
rufen kann, liegt in keinem Falle (auch im Falle I der fniheren Ver- 
dffentlichung sind die Angaben zu vage) vor, es fehlen auch alle sonstigen, 
den chronischen Alkoholismus begleitenden Erscheinungen. Dagegen 
ist im Falle V kurzdauemder extremer AlkoholgenuB sicher, der aber 
gewiB nicht von ausschlaggebender Bedeutung sein kann, da die Er- 
krankung trotz absoluter Abstinenz seit 8 Jahren unverandert, eher 
progressiv besteht. 

Mit Riicksicht auf den spateren Abschnitt seien einige Worte aber 
das Verhaltnis der vorbeschriebenen Krankheitsfalle zum manisch- 
depressiven Irresein gesagt. Irgendwelche periodischen Schwan- 
kungen, wie Specht sie in alien seinen Paranoiafalien gefunden haben 
will, sind bei unseren Kranken nicht nachzuweisen. Wir sehen dabei 
natUrlich von jenen tageweisen Schwa nkungen ab, daB der Kranke heute 
relativ ruhig, morgen wieder stark gereizt, abermorgen vielleicht depres- 
siv verstimmt ist, Schwankungen, die von der Zahl der Sinnestauschun- 
gen, etwaigen Konflikten mit der Umgebung usw. hernihren. Ebenso 
linden wir, wie jeweils betont ist, in keinem Falle ausgepragte, selb- 
standige Affektstdrungen; die Affektivitat ist vielmehr abhangig von 
den krankhaften Wahrnehmungen und VorsteUungen. 

Zum Schlusse sei zur Involutionsparanoia Kleists Stellung 
genommen. Kleist wird ebenso wie die beiden ersten Falle unserer 
fniheren Verdffentlichung so auch die Mehrzahl der neubeschriebenen 
Krankheitsfalle unter die von ihm gepragte Bezeichnung einbeziehen. 
Wir stimmen geme zu, daB die von ihm verdffentlichten Krankenge- 
schichten im Grunde mit den unsrigen zusammengehdren, wenngleich 
uns in einem grOBeren Teile der Kleistschen Falle das arteriosklero- 
tische Moment recht frah und intensiv an dem Krankheitsbilde beteiligt 
zu sein scheint. Wir mdchten zu den darauf hindeutenden Symptomen 
neben den MerkstOrungen die Verbindung von Denkerschwerung gemaB 
bestimmten Denkaufgaben mit ideenflachtiger Mehrleistung, femer das 
Auftreten von wirklichkeitsfremden neben anderen durchaus verstand- 
lichen Wahnvorstellungen, schlieBlich in hdherem Grade der Einformig- 
keit des Denkens rechnen, die Kleist betont. Auch in einem Teile 
unserer Falle sind derartige Syndrome zu finden; bei alien sind deutliche 
Erscheinungen peripherer Arteriosklerose, besonders jetzt im Falle II, 
nachweisbar. Im abrigen weisen auch seine Falle samtlich Illusionen, 
zur Halfte Halluzinationen auf, letztere fast auschlieBlich auf dem 
Gebiete des Geh6rs; belastigende Korperempfindungen spielen unter den 
Illusionen die Hauptrolle. Auch Kleist betont die zusammengesetzte 
Stimmungslage seiner Kranken. 

Es fragt sich nun, ob es berechtigt ist, Kleists Falle, denen Bich die 
Banses zumTeilanschlieBen, ebenso die einschlagigen unserer Kasuistik 


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H. Krueger: 


von den gleichartigen aber in weit frliherem Lebensalter beginnenden, 
weiter von den Fallen von Paranoia uberhaupt, die vor der Involutions- 
periode einsetzen, zu trennen. Das scheint uns nicht berechtigt. Wir 
finden zwischen den Fallen, die im Riickbildungsalter und denen, 
die fruher beginnen, keine prinzipiellen Unterschiede, nur, daB in den 
ersteren sich, wie das naturlich ist, haufiger arteriosklerotische Sym- 
ptome mit denen der Paranoia verbinden; je j linger der Paranoiker, 
desto reiner tritt das Krankheitsbild hervor. Auch Kleist flihrt keine 
stichhaltigen Beweise dafiir an, daB es sich bei den in der Involutions- 
zeit beginnenden Paranoiafallen um von den ubrigen grundverschiedene 
Erkrankungen handelt; einen tiefer gehenden Unterschied nimmt er 
ja auch nicht an, sonst hatte er wohl statt der Bezeichnung Paranoia 
eine andere gewahlt. Wir halten mit anderen Autoren dafiir, daB die 
Kraepelinsche Fassung des Zeitraumes fur die erste Entwicklung 
der paranoischen Vorstellungen, die er (fruher!) in die Zeit zwischen dem 
26. und 40. Lebensjahre verlegt, zu eng ist, daB gerade das Riickbildungs- 
alter, das mit dem 40. Lebensjahre erst beginnt, wie uberhaupt fur wahn- 
bildende Psychosen, so auch besonders zur Auslosung der Paranoia 
die giinstigste Zeit ist, die bis zum 60. Lebensjahre, d. h. bis zu der^Zeit, 
wo das Gehirn der Senilitat anheimfallt, reicht. Die Involutionsparanoia 
ist also nur eine durch den spateren Krankheitsbeginn abweichende 
Unterform der Krankheit, die wir Paranoia nennen; wir miissen dem- 
gemaB die Bezeichnung „In volutionsparanoia“ ablehnen, weil sie 
den Anschein erwecken kOnnte (ja auch erwecken soli), daB es sich um 
von der gew6hnlichen, im 3. und 4. Lebensjahrzehnt beginnenden 
Paranoia abweichende Krankheitsfalle handelt, was wir bestreiten. 

Unseres Erachtens gehOren die vorbeschriebenen Falle zur Paranoia, 
der wir damit allerdings eine etwas weitere Fassung, als Kraepelin 
sie vorgeschlagen hat, geben; etwa die der Paranoia + Paraphrenia 
systematica im neuesten Kraepelinschen Sinne. Dabei kann man 
mit Riicksicht auf die vorherrschende Stellung der Sinnest&uschungen 
von einer Paranoia hallucinatoria sprechen, muB sich aber dabei bewuBt 
sein, daB es zur einfachen Verrhcktheit hin alle Ubergange gibt. Es 
handelt sich um Krankheitsfalle, dieebenso wie Kraepelin es fiir die Ver- 
rlicktheit (im frliheren Sinne) fordert, ein langsam sich herausbildendes, 
unerschiitterliches Wahnsystem zeigen, das die Ordnung im Denken und 
Handeln auBerhalb des Wahnkreises nicht stort und nicht mit intellek- 
tuellem Verfaile einhergeht. Die Besonderheit der von uns herausge- 
griffenen Falle und damit der Gegensatz zur Kraepelinschen frliheren 
Auffassung von der Paranoia liegt in der Komplikation dieses Krank- 
heitsbildes durch dasselbe beherrschende Trugwahmehmungen, die 
Kraepelin als nicht in das Bild der Paranoia gehorig ablehnt. Wir 
glauben ebenso wie v. Hoesslin, daB die paranoischen Erkrankungen 


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Beitrftge zur Klinik der Paranoia. 


137 


immer mit Trugwahmehmungen verbunden sind, die allerdings haufig 
eine untergeordnete Rolle spielen und von den Kranken, die bei intakter 
Intelligenz die Sinnestauschungen meist deutlich von den normalen 
Wahmehmungen zu unterscheiden wissen, wenngleich sie ihnen die 
gleiche Realitat zuerkennen, sehr haufig dissimuliert werden, wie wir 
uns schon mehrmals in einschlagigen Fallen tiberzeugen korinten. Von 
diesen Fallen bis zu unseren, in denen die Sinnestauschungen im Vorder- 
grunde des Krankheitsbildes stehen, gibt es alle tJbergangsstufen. 
Dabei leiten die Halluzinationen teils das Krankheitsbild ein, wie in 
einem grbBeren Teil unserer Falle, teils treten sie erst im Verlaufe der 
Krankheit auf. Die Trugwahmehmungen haben groBe sinnhche Leb- 
haftigkeit, sie ldsen in manchen Fallen die erste Wahnidee aus, be- 
gleiten den Wahn, bestatigen die Vermutungen und regen die krankhafte 
Vorstellungstatigkeit zu neuen wahnhaften Konzeptionen an. Die 
Affektivitat entspricht durchaus den pathologischen Vorstellungen, 
vor allem aber den Wahmehmungen; die Reichhaltigkeit und Leb- 
baftigkeit der Trugwahmehmungen bedingt in erster Linie die jahrelang 
andauernde Affektlabilitat, bedingt besonders die oft iiberaus starken 
Affektausbruche noch in spateren Krankheitsstadien. Die Reaktionen, 
die auf die Sinnestauschungen erfolgen, sind im iibrigen zweckent- 
sprechend und lebhaft. Jahrzehntelang besteht so der Wahn bei leid- 
licher Ordnung im Denken, Wollen und Handeln; allmahlich tritt aber 
doch eine eigenartige psychische Schwache auf, die sich in langsam zu- 
nehmender Einschrankung des Interessenkreises, egozentrischer Ein- 
engung der Gefiihlslage und damit erheblicherem NachlaB der geistigen 
Regsamkeit und Versagen der Urteilskraft kundgibt. Gegen die Sinnes¬ 
tauschungen werden die Kranken stumpfer, wenngleich sie an ihrer 
Realitat bis zum letzten Atemzug festhalten, die weitere logische Aus- 
bildung des Wahnsystems sistiert, dafiir treten femerliegende wahnhafte 
Einfalle in groBerer Zahl auf. Da die Erkrankung keine das Leben ab- 
kurzende Wirkung hat, so tritt dieser Schwachezustand erst in einem 
Alter auf, wo arteriosklerotische oder senile Erscheinungen hinzukommen, 
fiir die derartige Kranke, wie uns scheint, besonders disponiert sind. Wir 
befinden uns damit in tJbereinstimmung mit Kleist, bei dessen Kranken 
derartige Erscheinungen ausgepragter sind als in unseren Fallen. 

Wir sind uns wohl bewuBt, durch Hinzurechnung der oben beschrie- 
benen Krankheitsfalle den Kreis der Paranoia zu erweitem, glauben aber 
dadurch einer Gruppe von Fallen, die bisher vbllig in der Luft schwebten, 
den ihr zugehdrigen Platz angewiesen zu haben. 

II. Die Storang der Affektivitat in der Paranoia. 

Die Lehre Westphals, daB bei der chronischen Paranoia eine 
primare Stoning der Verstandestatigkeit das Wesentliche sei, eine An- 


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H. Krueger: 


sicht, die jahrzehntelang, abgesehen von wenigen zweifelnden Stimmen 
(Moeli) unwidersprochen bestand, ist besonders seit Spechts Ab- 
handlung aus dem Jahre 1901 verschiedentlich angegriffen worden. 
Specht Buchte zu beweisen, daB die Stoning der intellektuellen Funk- 
tionen bei der Paranoia eine sekundare sei, erwachsen auf der primaren 
StOrung der Affektivitat; er laBt dabei die Paranoia aus dem Affekte 
des „MiBtrauens“ entstehen, den er als einen Mischaffekt charakterisiert. 

Es ist Bleuler darin zuzustimmen, daB das MiBtrauen an sich gar 
kein Affekt ist, sondern ein intellektuelier Vorgang, der von den ver- 
schiedensten Affekten, besonders aber Affektmischungen begleitet sein 
kann. DaB ein starkes mehr minder begriindetes MiBtrauen die Zeit 
vor Konzeption der ersten Wahnidee bei vielen Paranoikem beherrscht, 
ist zuzugeben. Der Grad dieses MiBtrauens steigert sich meist von einem 
noch als normal anzusehenden zum pathologischen in langsamer Pro¬ 
gression. Mit ihm wachst der es stets begleitende Unlustaffekt, der im 
Anfange von maBiger Intensitat ist, entsprechend der UngewiBheit 
dessen, was noch werden mag. Man findet diese Art des Beginnes der 
Paranoia besonders haufig bei Witwen und Unverheirateten weiblichen 
Geschlechtes, letztere meist den besitzenden Standen angehdrig; eine 
durchaus erklarliche Tatsache. Der Mann fiihlt sich ungleich haufiger 
als die Frau sorglos in seinem Besitze, es kommt ihm ungleich seltener 
der Gedanke, daB man ihm und seinem Vermbgen Abbruch tun wolle; 
die verheiratete Frau fiihlt sich meist geborgen und geschutzt durch den 
Gatten; die unverheiratete und verwitwete Frau entbehrt dieses Gefiihls 
des Schutzes. Wenn nun durch angeborenen Mangel an Tatkraft, 
affektive Labilitat, seltener durch Mangel an Erziehung zur Selbstandig- 
keit die letztere nur gering entwickelt ist oder fehlt, kommt es, oft im 
AnschluB an Situationen, in denen das MiBtrauen berechtigt war, leicht 
zu allgemeinem pathelogischem MiBtrauen, aus dem heraus sich Ver- 
folgungs- und Beeintrachtigungsideen entwickeln. 

In anderen Fallen von Paranoia fehlt dieses MiBtrauen vollstandig, 
wie das schon Bleuler hervorgehoben hat. Es handelt sich in diesen 
um schrdffe, selbstbewuBte Personlichkeiten, bei denen tatsachlich eine 
Hypertrophie des Ich vorzuliegen scheint. Dieser egozentrische Cha- 
rakter birgt natiirlich eine besondere Affektbetonung aller Ereignisse, 
die jeder Mensch im Lichte seines derzeitigen Affektzustandes sieht, 
in sich. In vielen Fallen ist ein lustbetonter Trotz die Triebfeder des 
Denkens und Handelns; derartige Personen befinden sich in dauemder 
Oppositions- und Kampfesstimmung, eine zomige Reizbarkeit (Kleist) 
ist vorherrschend, der Wahn pflegt sich dementsprechend in Selbst- 
tiberschatzungsideen kundzugeben. Meist ist aber in diesen Fallen die 
Kampfesstimmung von einem Mischaffekt der Lust und Unlust begleitet, 
Falle, in denen der Kampfesmut nur die zum Teil unbewuBte Abwehr 


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Beitr&ge zur Klinik der Paranoia. 


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gegen geheime Befurchtungen bildet. In diesen Fallen kommt es wieder 
zu Verfolgungsideen, die indes von Anfang an von GroBenideen begleitet 
sind oder sich bald mit solchen verbinden. Von diesen letzteren Fallen 
fiihrt die Briicke zu denen mit anfanglichem MiBtrauen hinuber. 

Es ist begreiflich, daB die Affektbetonung aller dieser Zustande mit 
der Dauer derselben (es bandelt sich hier um Jahre oder gar Jahrzehnte) 
zunimmt. Die Ausbreitung der intellektuellen Prozesse, vor allem des 
MiBtrauens laBt auch die zugehOrigen Affekte irradieren und zwar zum 
Teil auch unabhangig von den intellektuellen Vorgangen. Es kommt so 
zu einer pathologischen Affektivitat der Qualitat und Intensitat nach. 
In welcher Zeit dieser pathologische Affekt erreicht wird, ist ebenso von 
Fall zu Fall verschieden wie die Hbhe desselben, die zur AuslOsung der 
ersten Wahnideen notwendig ist. Fttr die Richtigkeit dieser Ansicht, 
daB die Affekte einen wesentlichen EinfluB auf die Wahnbildung bei der 
Paranoia haben, spricht auch, daB die Entwicklung der ersten para- 
noischen Voratellung meist unter Verhaltnissen erfolgt, in denen auBere 
Ursachen die schon gegebenen Affekte noch verstarken, so die materielle 
Sorge und Not (siehe Fall I, V, vielleicht auch II), die Strafhaft mit ihrer 
flberaus starken Affektbetonung (Fall III und VI), kurzdauemder 
extremer MiBbrauch von Alkohol, dessen Einwirkung gerade auf die 
Affektivitat bekannt ist (Fall V), in wieder anderen Fallen Uberan- 
strengung, besonders geistige, deren EinfluB auf die Affektivitat jeder 
an sich selbst zu studieren Gelegenheit hat, das Gefiihl tatsachlicher 
oder eingebildeter Zurucksetzung (Gouvemantenwahn Ziehen), Un- 
glucksfalle, schreckenerregende Ereignisse (in Schneiders Fall K. der 
EinfluB eines Erdbebens) und dergleichen mehr. Es vermag dabei ein 
derartiges Moment unabhangig von der eigenen Affektbetonung die 
Affektivitat der werdenden Paranoiker nach beiden Richtungen, der 
positiven wie der negativen zu beeinflussen. Die Strafhaft z. B., an sich 
ein intensiv unlustbetontes Ereignis, kann ebensogut den letzten AnstoB 
zur Entwicklung eines GrbBenwahns (Fall VI) wie von Verfolgungs¬ 
ideen (Fall III) geben. 

„Wir wissen, daB eine Steigerung der Affekte eine Urteilstriibung 
beim Gesunden hervorruft. Wir beurteilen dann unsere Umgebung 
leicht falsch, zu gut oder zu schlecht, wir neigen zu Verkennungen und 
MiBdeutungen (Sch neider)“. Die Ausldsung der solchen MiBdeutungen 
entsprossenen ersten Wahnideen erscheint uns wohl immer abhangig 
von exogenen Ursachen, haufig Ereignissen des taglichen Lebens, die 
meist an sich schon lebhaft affektbetont sind, ihre krankhafte Affektivi¬ 
tat und damit ihre Uberwertigkeit aber erst durch Irradiation des durch 
die eben geschilderten Gemiitsverstimmungen auf pathologischer H6he 
stehenden allgemeinen Affektzustandes erhalten. Wir stimmen also 
mit Bleuler, der stark affektbetonte Komplexe an der Wurzel der 


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paranoischen Wahnideen findet, im wesentlichen liberein, glauben aber, 
daB es sich um eine krankhaft erhdhte Affektbetonung handelt, die 
nicht dem Ereignis an sich zukommt, sondern durch die pathologische 
Allgemeinaffektivitat weit weniger oder gar entgegengesetzt affekt- 
betonten Ereignissen iibertragen wird. Wir mochten dabei, wie auch 
Berze, den Wahrnehmungsakten der Haufigkeit nach die wesentlichste 
Rolle zuschreiben; den realen Sinneswahrnehmungen sind dabei die 
Trugwahrnehmungen gleichzusetzen. Eine besondere Gruppe bilden 
dabei die Falle, in denen sich diese die erste Wahnbildung auslbsenden 
Wahrnehmungen auf den eigenen Kdrper beziehen (Entstehung des 
Wahns kbrperlicher Beeinflussung und Schadigung). 

Ahnlich erscheint uns die Genese der von jedem Paranoiker mehr 
weniger produzierten ausschmuckenden Wahnideen. Auch hier sind 
an sich normal affektbetonte Ereignisse richtunggebend, die allein 
allerdings auch nicht genugen, um eine Wahnvorstellung hervorzu- 
bringen, die aber in dem schon bestehenden Wahn mit seiner, den patho- 
logischen Vorstellungen entsprechenden pathologischen Affektbetonung 
einen vorbereiteten Boden finden, in dem sie haften kdnnen. Sehr an- 
schaulich zeigt das der folgende Fall: 

Fall VII. M. H., Schneiderin, geb. 19. 11. 1877, aufgenommen 26. 4. 1912. 

Erbliche Belastung scheint nicht vorzuliegen. Die erste Entwicklung war 
normal. Wenige Jahre alt, erkrankte sie an schwerer Rachitis und konnte sich 
bis zum 6. Lebensjahre nur mit fremder Hilfe fortbewegen. Eine starke Kypho- 
skoliose blieb zuriick, so daB sie nur 130 cm groB ist. In der Schule lemte sie gut, 
versah dann Stellungen als Kinder- und Hausm&dchen. Mit 18 Jahren erlemte 
sie die Schneidcrei, durch die sie sich etwa bis 1910 selbstandig erhalten hat. 

Die Erkrankung begann 1909, angeblich ohne besondere Ursachen, mit reli- 
gidsen Wahnideen. Sie hielt Angehorigen und Fremden Moralpredigten und wurde 
so bald zum Gespott der Leute. 

Im Gegensatz zu ihrer jammerlichen Gestalt zeigt sie ein SuBerat selbstbewuB- 
tes Auftreten, tragt dauernd Bibel oder Gesangbuch mit sich herum, liest unab- 
l&ssig darin, singt Kirchenlieder, betet, h&lt Mitkranken, Personal, Arzten Moral¬ 
predigten; sonst zeigt sie sich vollig geordnet, ist eine fleiBige und geschickte 
Arbeiterin, dabei sehr gesprachig. 

In einera Schriftstiick an das Amtsgericht unterschreibt sie sich: „Schneiderin 
und der Welt siindentragender Heiland“. Sie glaubt, von Gott ausersehen zu 
sein, die Menschen zu bessem und dabei ebenso wie Christus Schmerzen und 
Leiden erdulden zu miissen; sie deutet in diesem Sinne ihre zweifellos bestehenden 
Brustschmerzen, Magenbeschwerden usw. DaB sie zu diesem Amte ausersehen ist, 
weifi sie aus der Bibel; alles, was sie in ihr aufschlagt, hat seit 3 Jahren eine be¬ 
sondere Bedeutung. Sie erfahrt aus der Bibel nicht nur, daB sie die Auserw&hlte 
Go ties ist, sondern auch, daB sie von Hause fort in die weite Welt miisse — die 
weite Welt ist die Heilanstalt —, sie erfahrt daraus, daB sie von anderen Menschen 
belogen wird, sie hat bcsonders auch aus der Bibel erfahren, daB der Burgermeister 
ihres Wohnortes B. sie heiraten wolle. 

Auf diese Idee ist sie in folgender Weise gekommen: Da sie nach ihrer Cber- 
siedelung von ihrem Geburtsorte nach B. (die schon aus krankhaften Motiven 
erfolgt war) sich dort nicht polizeilich angemeldet hatte, wurde sie auf das Burger- 


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meisteramt vorgeladen. Der Burgermeister war sehr freundlich zu ihr, es kam 
nicht zur Bestrafung wegen der Ubertretung. Es war schon einige Zeit danach 
verflossen, als sie in der Bibel las: Wenn sie das, was k&me, geduldig auf sich 
nahrne, solle sie noch mal die Stadt einnehmen. Daraus merkte sie, 
warum der Biirgermeister so freundlich zu ihr gewesen war; daB sie namlich seine 
Frau werden soUe. Sie hat an ihren „Geliebten“ zahlreiche Briefe geschrieben, 
ohne Antwort darauf zu erhalten, wie sie wahnt, weil bose Menschen die Briefe 
unterschlagen haben. Der Burgermeister hat sich personlich das Briefschreiben 
sehr energisch verbeten, sie hat doch wieder an ihn geschrieben, weil sie in der Bibel 
las, daB er seine harten Worte bereute; sie schreibt auch aus der Anstalt noch 
an ihn. 

W&hrend ihres Anstaltsaufenthaltes ging ihre Wahnbildung weiter. Immer 
deutlicher ging aus ihren Reden und Briefen hervor, daB sie ihren „Geliebten“ 
mit Christus identifizierte, so daB sie jetzt die Bezeichnungen fur einander braucht. 

Die Intelligenz ist vollig intakt. Die Affekte sind absolut gleichm&Big und 
den Vorstellungen adaquat. Sinnestauschungen sind nicht sicher nachzuweisen. 
Korperlich besteht ein starker Lungenkatarrh* 

Bei einer 32jahrigen Schneiderin entwickelt sich ganz langsam ein 
religi6ser Wahn, infolgedessen sie in vielem, was sie in der Bibel liest, 
zu sich Beziehungen findet. Aus einem auBeren Grunde wird sie vor 
den Burgermeister ihres kleinen Wohnortes geladen, dem sie vorher 
nur einmal auf der StraBe begegnet ist. Der Beamte macht dem kleinen, 
armseligen, verwachsenen Geschopf seine Vorhaltungen in liebens- 
wiirdiger Weise, so daB sie, die sicher mit geheimer Sorge und Angst 
auf das Burgermeisteramt gegangen war, erleichtert aufatmend das- 
selbe verlaBt. Es kommt zur Reaktion: ist sie vorher dem Beamten, 
der sie vorlud, wenig freundlich gesinnt gewesen, so verehrt sie ihn jetzt 
wegen seiner Liebenswurdigkeit. Die Affektbetonung des Ereigniss 
an sich scheint sich dabei in durchaus normalen Grenzen gehalten zu 
haben. Wahrend sie sich noch im geheimen mit der Angelegenheit be- 
schaftigt, schlagt sie wieder die Bibel auf und findet die angefiihrte 
Stelle. Ohne das vorangegangene Erlebnis hatte sie wahrscheinlich 
gerade in dieser Stelle keine Beziehungen zu sich gefunden; jetzt aber, 
wo der Gedanke an das Oberhaupt der Stadt und sein unerwartet freund- 
liches Benehmen noch in ihr wach ist, kommt es zu dem beschriebenen 
Wahn, der langere Zeit relativ getrennt von ihren religi6sen Ideen ver- 
lauft, um schlieBlieh die ihrer Logik notwendige Verkniipfung mit 
demselben zu finden. 

Wir sehen, daB es sich auch hier letzten Endes um eine Irradiation 
von pathologischen Affekten auf ein an sich physiologisch affektbe- 
tontes Ereignis handelt. Die Affekte stammen in diesem Falle von den 
GrdBenideen her, die der Kranken schon vorher eigen waren. Der 
pathologische Affekt war in diesem Falle sekundares Symptom der 
ganzen Krankheit, nichts destoweniger pathologisch seiner Intensitat 
nach. Denn daB eine GrdBenidee ebenso wie der Kleinheitswahn se k u n - 
dare Affekte ausldst, die ihrer Intensitat nach uber das MaB der Norm 


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H. Krueger: 


hinausgehen, ist unseres Erachtens selbstverstandlich. Wir halten im 
Gegensatz zu Specht die Lage der Paranoiker fur geniigend exorbitant, 
um die Nachbaltigkeit und Intensitat der Affekte auf pathologischer 
Hdhe zu erhalten. Zwischen der affektiven Erregung, die jeder Beruf 
mit sich bringt und derjenigen, die durch paranoische Vorstellungen 
ausgeldst wird, besteht eben der Unterschied, daB im ersteren Falle 
nach Qualitat und Quantitat normale Verhaltnisse, im zweiten patho- 
logisehe die Affektivitat beeinflussen; beide miteinander zu vergleichen, 
wie Specht es tut, ist unmdglich. Im vorliegenden Falle ist von einer 
primaren Stbrung der Affektivitat jedenfalls nichts zu bemerken, 
man kommt auch zur Erklarung ohne eine solche aus. 

Eine gegenteilige Ansicht ,,liber die Steigerung der hypoparanoischen 
Konstitution zur Involutionsparanoia“ vertritt Kleist. Er gibt zu, 
daB der Beginn der Erkrankung bei einigen seiner Falle (4 von 10) 
zeitlich mit besonderen affektvollen Erlebnissen zusammentrifft, er 
gibt auch zu, daB manche Kranken wahrend der Psychose auf Erleb- 
nisse, ftir die sie gemaB ihrer Gemutsverfassung besonders empfindlich 
sind, mit voriibergehendem Anschwellen der Krankheitserscheinungen 
reagieren, er glaubt aber trotzdem, daB eine psychogene Entstehung 
der Psychose auch in diesen Fallen ausgeschlossen sei. Den Beweis 
fiihrt er leider nicht, sondem stellt den Satz als bewiesen hin, daB die 
Steigerung zur vollentwickelten Psychose nur aus inneren Griinden, 
autochthon, erfolgt sein kdnne. Er nimmt als solche autochthone Ursache 
fiir seine Falle von Involutionsparanoia eine Veranderung der inner- 
sekretorischen Verhaltnisse der Sexualorgane an. Diese Moglichkeit 
ist durchaus zuzugeben, wenngleich eine ganze Anzahl von fruhzeitiger 
beginnenden Paranoiafalien, die sonst den Fallen von Involutions¬ 
paranoia durchaus gleichen, nicht erklart ware; es kann dadurch aber 
unseres Erachtens nur die Verstarkung der psychopathischen Kon¬ 
stitution zu einer H6he, die zur Konzeption von Wahnideen geniigt, 
verursacht werden, die Auslbsung gerade von Wahnvorstellungen fande 
dadurch noch keine Erklarung. Im iibrigen ist die auBerordenthch groBe 
Einwirkung von Krankheiten der Sexualorgane wie von deren normalen 
Funktionsanderungen (Pubertat wie Klimakterium) auf unser Affekt- 
leben bekannt. 

Bis hierher befinden wir uns im wesentlichen in Ubereinstimmung 
mit Specht, insofem wir an der Wurzel der Wahnideen der Paranoiker 
einen pathologischen Affekt finden. Von hier ab trennen sich allerdings 
die Wege. 

Nach Specht besteht der pathologische Affekt bei der Paranoia 
gleichwie beim manisch-depressiven Irresein wahrend der ganzen Krank- 
heitsdauer primar grundlegend fort. Das vermogen wir, wie schon andere, 
nicht anzuerkennen. Das unlustbetonte MiBtrauen spielt nur im Beginn 


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Beitr&ge zar Klinik der Paranoia. 


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der Krankheit eine Rolle (Bleuler), ebenso in anderen Fallen die allge- 
meine Reizbarkeit rind Kampfesstimmung. Die Affekte unaerer Para- 
noiker eracheinen una im weiteren Verlaufe der Krankheit, wie schon 
oben erwahnt, ala sekundare, durchaua abhangig von der Intenaitat der 
Wahnvorstellungen, der Quantitat und Intenaitat der Sinneatauachun- 
gen, von den Reibungen, die die Kranken in ihrer Umgebung finden. 
Wo bleibt nun der pathologiache Affekt, der im Anfang der Wahn- 
bildung zweifelloa vorhanden iat? 

Es aei von etwas Alltaglichem auagegangen. Unaer Zorn verraucht, 
bald momentan, bald langaamer, so wie er eine Reaktion ausgeldst hat. 
Beaondera achnell pflegt dieaer Umachwung der Gefiihle und dea aie 
begleitenden Affektea, auf den e8 una beaondera zum Vergleiche an- 
kommt, unter direkt pathologiachen Verhaltniaaen, z. B. im Alkohol- 
rauach zu erfolgen. Der phyaiologiache Trotz laBt nach, meiat erheblich 
langaamer, aobald er aich in irgendeiner Handlung demjenigen, gegen 
den er gerichtet war, dokumentiert hat, wie una beaondera Beobach- 
tungen von Kindern lehren. Unluatbetontea phyaiologisches MiBtrauen 
macht, wie jeder von aich aelber weiB, fast momentan dem Gefiihle der 
Erleichterung Platz, aobald man den Beweis findet, daB das MiBtrauen 
berechtigt war. Ebenao iat e8 mit dem Affekte bei der Paranoia zu den- 
ken. Nachdem der dauemde, den Menachen beangstigende Unluataffekt 
das krankhaft diaponierte Gehirn zur Bildungdes Verfolgungawahnea 
gebracht hat, atmet der Menach erleichtert auf, weil ea nun aeinem Triebe 
nach Erklarang der Unbehaglichkeit gelungen iat, den Grand dafur zu 
finden. Der von Luataffekten innerlich wie auBerlich Beunruhigte 
andereraeita iat froh, wenn er den Grand die8es ohne Motivierang un- 
heimlichen Gefiihles erkannt zu haben meint. In demaelben Augenblick 
beginnt der Affekt zuriickzutreten. Ea kommt mithin zu einem Ab- 
reagieren dea pathologiachen Affektea, das wahracheinlich dadurch noch 
beachleunigt wird, daB mit der Konzeption der eraten Wahnidee das 
ganze Denken intensiv von tauaend neuen Dingen in Anspruch genom- 
men wird. Intensive Tatigkeit, geiatige wie kdrperliche, vermag aber 
unter normalen wie pathologiachen Verhaltnisaen die Affektivitat im 
Sinne der Abechwachung zu beeinfluaaen, wie una in der Pathologie die 
Erfahrung mit melancholischen und maniachen Kranken taglich lehrt. 
Hinzukommt, daB die Wahnvorstellungen an aich auBerat lebhaft ge- 
fhhlabetont aind. Ein neuer Affekt aber beaiegt die Sucht, iiber einen 
vorhergehenden zu griibeln (Tiling) und laBt ihn damit zuriicktreten. 

Wann dieae8 Stadium des Abreagierens beendet iat, hangt von der 
Eigenart der Perednlichkeit wie der Beaonderheit de8 Fallea ab, zum Teil 
auch von den Lebensbedingungen und der Umgebung dea Individuums. 
In der allea nivellierenden Gleichf6rmigkeit der Irrenanatalt pflegt auch 
der Paranoiker nach kurzer Zeit rahiger und gleichmaBiger zu denken. 


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II. Krueger: 


Damit hangt zusammen auch die Tatsache, daB die mit lebhaften und 
zahlreichen Sinnestauschungen einhergehenden Paranoiafalle, wie wir sie 
oben beschrieben haben, so viel mehr zur Ausschmuckung ihres Wahn- 
gebaudes kommen als die einfach Verruckten. Die immer von neuem auf 
die Kranken einsturmenden, sie beangstigenden oder erhebenden Trug- 
wahrnehmungen lassen den Affekt eben nicht zur Ruhe und zum Ab- 
klingen kommen, sie unterhalten ihn, imd der Affekt wieder reizt zur 
Suche nach weiteren Beziehungen, die dann wieder an die Sinnes¬ 
tauschungen ankniipfen. Aus demselben Grunde sind die Affektreak- 
tionen bei diesen Kranken ungleich starker als bei den einfachen Para- 
noikem, sie sind haufig auch starker, als sich nach Art und Starke der 
Halluzinationen erwarten laBt. 

Aus der vorstehenden Betrachtung folgt schon, daB wir, obgleich 
wir die fuhrende Rolle des pathologischen Affektes bei der Bildung der 
Wahnideen in der Paranoia anerkennen, Specht durchaus nicht auf 
seinem Wege folgen konnen, als Konsequenz dieses Umstandes die 
Paranoia im manisch-depressiven Irresein aufgehen zu lassen 1 ). 

Beim manisch-depressiven Irresein ist das hervorstechendste Sym¬ 
ptom eine dauernde primare Affektstorung in positiver, negativer 
Richtung oder im Sinne des Mischaffektes. Bei der Paranoia vermissen 
wir einmal die dauernde primare Stoning der Affektlage, wie wir oben 
ausgefuhrt haben. Wir konnen aber auch nicht erkennen, daB die Std- 
rung der Affektivitat das Primarsymptom der Krankheit an 
sich sei. Primare Stellung hat die pathologische Gefuhlsbetonung 
unter den Ursachen, die die Konzeption einer Wahnidee anregen, zur 
Wahnbildung kommt es aber erst, nachdem die geistige Personlichkeit 
Jahre oder gar Jahrzehnte hindurch eine langsame Umbildung er- 
fahren hat. 

Nach Spechts spaterer Abhandlung miiBten eigentlich alle Geistes- 
krankheiten, bei denen Storungen der Affektivitat im Vordergrunde 
stehen, zur Gruppe des manisch-depressiven Irreseins geh6ren. Dieser 
Ansicht kann naturlich nicht beigepflichtet werden (siehe auch Kleist). 
Auch bei der Dementia praecox ist eine eigenartige Erkrankung der 
Affektivitat eines der hervorstechendsten Symptome, bei der Dementia 
senilis steht haufig der pathologische Affekt lange Zeit im Vordergrunde. 
Es ist bei diesen Krankheiten ebenso wie bei der Paranoia noch etwas 
mehr vorhanden neben der Affektstorung, und dieses Plus muB bei der 
Klassifizierung den Ausschlag geben. Zur Gruppe des manisch-depres¬ 
siven Irreseins fassen wir Krankheitsbilder zusammen, in denen der 
krankhafte Affekt das erste, dauemdste und hervortretendste Symptom 
ist, wahrend die ubrigen Funktionen nur interkurrent alteriert sind. 

*) Nach don neuesten Veroffentlichungen aus der Erlanger Klinik scheint 
man auch dort anderer Ansicht geworden zu sein. 


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Beitrftge zur Klinik der Paranoia. 


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Bei der Paranoia ist neben dem pathologischen Affekt, der das den 
Boden fur die Wahnideen vorbereitende Moment bildet, die Stoning der 
Verstandestatigkeit, die Verriickung des Pers6nlichkeitsbewuBtseins 
das Hervorstechende, das auch bleibt, wenn der pathologische Affekt 
schon langst abgeklungen ist, ja auch, wenn im SchluBstadium iiberhaupt 
jeder nennenswerte Affekt zu bestehen aufgehort hat. 

Als beweisend fiir seine Ansicht von der Zusammengehdrigkeit des 
manisch-depressiven Irreseins und der Paranoia gelten fiir Specht 
die t)bergangsfalle, die von der einen zur anderen Psychose hintiberzu- 
fuhren scheinen. Er denkt dabei an Falle, die nach der Auffassung des 
jeweiligen Autors als periodischer Wahnsinn, als periodische Verruckt- 
heit oder aber als atypische periodische Manie usw. beschrieben sind. 
DaB es seltene periodisch mit mehr minder groBer RegelmaBigkeit 
wiederkehrende Geistesst5rungen gibt, deren Bild absolut von dem 
Symptom der Wahnbildung beherrscht wird, in denen diese Wahn- 
bildung den Anforderungen, die an eine Paranoia im Sinne Kraepelins 
gestellt werden miissen (mit Ausnahme der Art der Entstehung und 
Dauer der Erkrankung) entspricht, ist als bewiesen anzusehen. Viel 
haufiger sind aber Mischzustande, — der grdBere Teil der als periodische 
Verriicktheit beschriebenen Krankheitsfalle geh6rt dazu, — in denen 
neben starken affektiven Storungen, manischen wie depressiven, sich 
bei jeder Attacke paranoide Ideen zeigen, oft ziemlich gut systematisiert, 
die sich in manchen Fallen mit fast photographischer Treue wiederholen. 
Unseres Erachtens gehdren die letzteren Falle dem manisch-depressiven 
Irresein an, jedenfalls nicht in das Gebiet der Paranoia im heutigen 
Sinne hinein, wie das nach Kraepelins Vorgang heute wohl allgemein 
angenommen wird. 

Aber noch eine andere Verbindung beider Krankheitsbilder kommt 
vor, wenngleich der Zahl nach nicht allzu haufig. Es gibt Falle, wie das 
auch Specht hervorhebt (siehe auch Em men, SchlOss, Golla), 
die jahrelang unter dem Bilde der typischen periodischen Manie oder 
Melancholic verlaufen, aus denen sich dann aber ein Krankheitsbild 
entwickelt, das ohne Kenntnis der Vorgeschichte als Paranoia imponiert. 

Zwei einschlagige Falle seien mitgeteilt: 

Fall Vni. C. E., geb. 12. 2. 1854, aufgenommen 8. 7. 1885. 

Erbliche Belastung liegt vor: GroBvater miitterlicherseits veriibte Suicid, 
Mutter hatte stets ein seltsamcs Wesen, machte mehrmals Selbstmordversuche, 
Vater war leichtsinnig und verschwenderisch. 

Patient selbst soil im 7. Lebensjahre an ,,Gehirnentzundung“ erkrankt sein; 
N&heres ist dariiber nicht bekannt. Wahrend er vor dieser Krankheit sehr geweckt 
war, war das Gedachtnis nachher schlechter. Schon als Kind, besonders aber 
in den Pubertatsjahren, hielt er sich isoliert, war dabei leicht aufbrausend, iiber- 
spannt und anmaBend. Es bestand eine starke Intoleranz gegen Alkohol. Er 
war dabei stets ein fleiBiger Arbeiter. 

6 Jahre vor seiner Aufnahme in die Anstalt traten die ersten Krankheitszeichon 

Z. f. d. g. Near, a Psych. O. XX. 10 


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H. Krueger: 


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auf. Nach dem Besuch einer Schwester aus England, die ihm vorredete, er konne 
es noch zu etwas weit Hoherera bringen usw., nahm seine Arbeitslust ab, er sprach 
davon, es trotz seiner mangelhaften Vorbildung noch zum Ingenieur und Fabrik- 
besitzer zu bringen, bildete sich ein, eine weit iiber ihm stehende Dame wolle ihn 
heiraten, benahm sich arrogant, wurde barsch und abweisend gegen seine Eltem. 
8 Tage vor seiner Aufnahme horte er auf zu arbeiten, zerriB mit l&chelnder 
Miene fremden Leuten die Hiite, sprach jeden jovial an, zertrummerte schlieB- 
lich alles. 

In den ersten Jahren des Anstaltsaufenthaltes traten, von freien Intervallen 
unterbrochen, periodische, meist Monate dauernde Erregungszustande schlimmster 
Art ein, in denen er riicksichtslos gegen andere und sich selbst alles zerstorte, 
ausbrach, schimpfte usw. Diesen „Wutanf alien wie er sie selbst nennt, ging ein 
Gefiihl der Beklemmung und Angst, die von den Beinen bis zum Kopfe zog, voraus. 
Wahrend der Erregungszeiten bestanden lebhafte Sinnestauschungen besonders 
des Gesichtes und Gehors. Dabei waren die Gesichtstauschungen angenehmen 
Inhaltes: er sah z. B. eine glanzende blauliche Wolke iiber sich, die ihn magnetisch 
anzog, zum Tanzen notigte usw.; die Gehorstauschungen dagegen waren meist 
unangenehm und angstvoll: so wie er sollten alle Jiinglinge eingesperrt werden 
und verhungern, damit das Menschengeschlecht ausstiirbe; er vemahm Gottes 
Stimme: er solle zwei Menschen morden, sonst werde er selbst ermordet werden. 
Gelegentlich traten auch Geschmackstauschungen auf und im AnschluB daran 
Vergiftungsvorstellungen. Korperlich fiihlte er heftiges Brennen der Haut, Kribbeln, 
Ameisenlaufen. Die Stimmung war eine sehr gehobene, er masturbierte exzessiv. 
Gelegentlich auBerte er auch schon in diesen Zeiten leichte GroBenvorstellungen. 

Je mehr im Laufe der Jahre die Erregungszustande kiirzer und leichter wurden, 
traten Wahnvorstellungen deutlicher hervor, die systematisiert wurden und seit 
Jahrzehnten im wesentlichen unverkndert bestehen. 

E. steht zu Gott in engster, direkter Beziehung. Gott und sein Geist sind eigent- 
lich dasselbe. Gott hat ihm direkte Offenbarungen zuteil werden lassen. Er ist 
berufen, die ganze Welt zu bekehren. „Die Welt ist ein Jauchenloch; die Tiere 
leben sittlicher als die Menschen; die Manner kaufen die Frauen, die einen durch 
Geld, die anderen durch Bildung.“ Aus Kummer iiber die Schlechtigkeit und Ver- 
riicktheit der Menschen ist Gott selbst gemiitskrank geworden, er (E.) aber ist 
sein Leibarzt und Leibjager, weil er das Schlechte verfolgt. Fraulein K. (s. oben) 
ist ihm von Gott bcstimmt, damit er mit ihr im Bunde die Welt bekehre. Auf eine 
Ehe will er verzichten, es braucht nur ein Seelenbund zu sein. Bei seinen refor- 
matorischen Bestrebungen hat er die ganze Welt gegen sich, von den eigenen Eltem 
bis zu den Wartem der Anstalt. In dieser wird er festgehalten, weil man ihm 
andere Gedanken beibringen wolle; das wird aber nicht gelingen, denn Gott ist 
fur seine Plane. Gott, mit dem er in dauemder Verbindung steht, den er sprechen 
h6rt, der ihm Mut einfloBt, hat ihm auch selbst den Befehl gegeben, den Anord- 
nungen der Arzte und den hiesigen Einrichtungen die heftigste Opposition ent- 
gegenzusetzen, was er „bis zu seinem letzten Atemzuge“ tun werde. 

Die Intelligenz zeigt keine wesentlichen Liicken; er ist ein geschickter Schlos- 
ser, beschaftigt sich viel mit seiner Fortbildung, besonders im Rechnen. Sein 
Benehmen ist stets gemessen, er ist wortkarg, kommt in letzter Zeit mit seinen 
krankhaften Vorstellungen wenig heraus, ist leicht beleidigt. Irgendwelche Zeichen 
psychischer Dissoziation sind nicht nachweisbar. Ab und an kommt es immer 
noch zu sehr schnell voriibergehenden Erregungszustanden, in denen er Fenster- 
scheiben einschlagt usw., meist infolge von Konflikten mit der Umgebung. 

Fall IX. F. C. gen. Fr., Opemsanger, geb. 13. 1. 1849, aufgenommen 1. 7. 1903. 

Schwere erbliche Belastung liegt vor: Mutter ist geisteskrank in der hiesigen 


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Anstalt gewesen, GroBmutter miitterlicherseits jahzomig; in der Familie des Vaters 
mehrere Fade von Potatorium. 

In der Jugend gesund, doch stets ftngstlich, besuchte er die Volksschule, 
lemte dort nur mittelmaBig. Spater kam er in die Tischlerlehre, trat dann in den 
unteren Bahndienst und ging 1869 zur Biihne. Unter groBen Entbehrungen 
brachte er sich weiter und wurde zum gefeierten Wagnersanger, dessen Beckmesser 
und Alberich auf den Bayreuther Festspielcn zu den beriihmtesten Leistungen 
gehoren. Es war stets auBerordentlich tatig, studierte viel, weil ihm das Lemen 
schwer wurde. Sein Leben lang litt er an starkem Lampenfieber, war nach dem 
Auftreten trotz lebhaftester Beifallsbezeugungen mit sich selbst unzufrieden; 
eine ganz untergeordnete abf&llige Kritik konnte ihn direkt triibsinnig machen. 

Im Jahre 1890 erkrankte er unter den Erscheinungen sehr starker Depression 
mit Schlaflo8igkeit, nervosen Bcschwerden und Verarmungs- und Versiindigungs- 
ideen: seine Familie miisse verhungem, und er sei schuld daran. Er wurde mehrere 
Jahre in Anstalten behandelt. 1895 war er anscheinend vollig wiederhergestellt, 
nahm seinen Beruf wieder auf, sang 1896 sogar wieder in Bayreuth. Er blieb ge¬ 
sund bis Sommer 1902. 

Nach geistiger Cberanstrengung und Arger in der Familie erkrankte er von 
neuem: er wurde unruhig, sehr niedergeschlagen, schlaflos, litt unter Angstanfallen 
mit Herzklopfen verbunden, wurde unfahig zur Besch&ftigung, auBerte lebhafte 
Befiirchtungen fur seine und seiner Familie Zukunft und Gesundheit. Im An- 
schluB an die Lektiire eines Artikels der „Zukunft“ entwickelte sich langsam 
die Angst, syphilitisch zu sein und seine Familie dadurch zugrunde gerichtet zu 
haben. Nach einem kurzen Aufenthalt in einer Bremer Anstalt wurde er hier auf- 
genommen. 

In der Anstalt zeigte er sich mehr weniger traurig verstimmt, klagte uber 
Unruhe und Angstgefiihl. Er brach oft in Tr&nen aus, wanderte ruhelos unter 
lebhaften Angstbewegungen der Hande umher. Daneben bestanden ausgesprochene 
hypochondrischc und Veraiindigungsideen im Sinne der Kyphilidophobie. Er 
vermutete, sich mit 17 Jahrcn infiziert zu haben. t) be rail: in friiheren Erleb- 
nissen, im Daniederliegen seiner geistigen Leistungsffthigkeit, in geringfiigigen 
korperlichen Storungen, im scharfen Geruch seines Urins, der Tragheit des Stuhl- 
ganges, einer Quaddel an der Einstichstelle der Pravazspritze sah er lichen 
der Syphilis. Er glaubte, seine Familie angesteckt und sie dadurch, wenn auoh 
unbewuBt, dem Verderben iiberliefert zu haben, machte sich deshalb die schwersten 
Vorwiirfe, jammerte uber seine ungliickliche Frau und seine Kinder, nannte sich 
einen Verbrecher, vielfachen Morder. Die Energielosigkcit seines altesten Sohnes 
sah er ebenso wie eine habituelle Obstipation seiner Tochter als Zeichen der Erb- 
syphilis an. Er klagte uber das Gefiihl, als wenn er durch die Krankheit an sitt- 
licher Beinheit eingebiiflt habe, daB sein Inneres befleckt und besudelt sei, daB 
alle, die mit ihm zusammenkamen, dasselbe Gefiihl haben miiBten. Er auBerte 
vielfach Selbstmordabsichten, machte aber nie einen Versuch zur Ausfiihrung. 
Voriibergehend war er immer von seinen Gedanken abzubringen, erorterte in 
ruhigeren Zeiten eingehend die wahren Ursachen seines Leidens: erbliche Be- 
lastung, unstetes berufliches Leben, Gberanstrengung. 

Im Laufe der Zeit nahmen unter Morphiumbehandlung Angst und Depression 
wesentlich ab, die krankhaften Ideen traten zuruck. Er sang wieder auf Anstalts- 
festlichkeiten, beteiligte sich an Unterhaltung, Spiel usw. Am 25. 8. 1903 wurde 
er gebessert entlassen. 

Schon am 9. 9. 1903 erfolgte auf seinen eigenen Wunsch die Wiederaufnahme. 
Die Depression war zuerst gering, die Wahnideen traten zuruck. Dann aber kam 
es zu einer Steigerung der Symptome: er glaubte, durch seine Syphilis alle Welt 

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infiziert zu haben: „Fiirsten und Bettler, Arm und Reich sind durch mich an- 
gesteckt.“ Seit dem Sommer 1903 horte er auch anklagendc Stimmen, daneben 
Klange und Gerausche. Nach einigen Monaten lieBen die Erscheinungen wieder 
nach. Am 12. 2. 1904 wurde er wiederum gebessert entlassen. 

Am 15. 4. 1904 erfolgte die dritte Aufnahme. Patient hatte sich in der Zwi- 
schenzeit von mehreren Spezialarzten auf Syphilis untersuchen lassen; alle ver- 
sicherten ihm, daB er nicht krank sei. Er ging kurz vor seiner Aufnahme zu einem 
Polizeibeamten mit der Aufforderung, ihn zu verhaften, da er der groBte Ver- 
brecher sei. 

Hier gab er an, zu Unrecht in eine Irrenanstalt gekommen zu sein; geistig 
sei er ganz gesund, nur das Syphilisgift stecke noch in seinem Korper. Er auBerte, 
er fiihle sich schuldig daran, daB sein Vater und seine Mutter bereits unter der 
Erde seien, er bezog jede Hautabschilferung, jeden Furunkel auf Syphilis. Er 
glaubte, alle Menschen wiiBten um sein Leiden, schrieb an alle moglichen Leute, 
sic mochten fiir sein Seelenheil beten, damit er erlost werde. Dabei litt er unter 
sehr lebhaften Sinnestauschungen, „furchterlichen“ Gesichts- und Gehorstau- 
schungen, letztere meist drohenden und verspottenden, seltener auch befehlenden 
Inhaltes. 

Allmahlich anderte sich das Krankheitsbild, anscheinend unter dem Ein- 
flusse massenhafter Visionen. Er horte Gott zu sich sprechen, hatte szenenhafte 
Visionen aus der Heiligengeschichte, z. B. die Vision des heiligen Andreas. Er 
bezog alles, was er geschrieben fand, auf sich, las sehr viel, alles hatte fur ihn 
cine besondere Bedeutung, er verkanntc zahlreiche Personen, begann die Men¬ 
schen, mit denen er friiher zusammengelebt hatte ebenso wie friihere Ereignisse, 
illusionar zu verfalschen und bildcte allmahlich folgenden Wahn, der jetzt be- 
standig ist: 

Geister, gute wie bose, inspirieren ihn. Er selbst ist auch Geist, er kann des- 
halb trotz seiner zahlreichen Siinden nicht sterben. Er muB Ungeheuerliches 
erdulden, er hort besonders „soviel und so Entsetzliches“. Er weiB vieles, was 
andere Leute nicht wissen, er kann mehr als andere Menschen, er muB alles iiber- 
denken. Nur ein Geist, wie er es ist, kann das alles aushalten, ein gewohnlichcr 
Mensch nicht. 

Intellektuell ist er ohne Defekte. Sein Gedachtnis ist iiberaus gut; er weiB 
interessant und detailliert ohne Storung des normalen Assoziationsablaufes aus 
seiner Kiinstlerzeit zu erzahlen, nur daB er ofter seine Beziehungsideen mit ein- 
flicht. Auch an den jiingsten Ereignissen nimmt er lebhaften Anted, z. B. an der 
Parsifalfrage, derentwegen er auch an Frau Cosima Wagner schrieb. Herrschender 
Affekt ist eine leichte, nicht ganz reine Depression, die jedoch nicht dem Bilde 
entspricht, das man bei chronischen Melancholikem findet. Korperlich besteht 
cine maBige Arteriosklerose. 

Es handelt sich im ersten Falle um einen erblich belasteten Schlosser, 
der zweifellos seit seinem 25. Lebensjahre eine groBe Reihe von typischen 
manischen Anfallen durchgemacht hat, von denen besonders die letzten 
stark mit depressiven Affekten durchsetzt gewesen zu sein scheinen. 
Alle verliefen mit zahlreichen Halluzinationen und langsam sich mehren- 
den Wahnvorstellungen. Nach und nach wurden die Affektzustande 
ktirzer und leichter und daflir trat ein systematisierter GroBen- und 
Verfolgungswahn hervor, der seit Jahren unerschiittert besteht, dabei 
die Ordnung im Denken und Handeln vollig intakt laBt, kurz alien An- 
forderungen an eine Kraepelinsche Paranoia entspricht. Die gelegent- 


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Beitrilge zur Klinik der Paranoia. 


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lichen Erregungszustande, die auch jetzt noch auftreten, wurden sich 
zwanglos als Reaktion auf die krankhaften Vorstellungen und deren 
Gegensatz zur Umgebung erklaren lassen. 

Der zweite Fall bildet das Gegenstiick. Ein schwer erblich belasteter 
Opemsanger erkrankte in seinem 41. Lebensjahre an einer typischen 
Melancholie mit maBig hervortretenden Verarmungs- und Versundigungs- 
ideen, die in 5 Jahren vdllig abklang, so daB er seinen anstrengenden 
Beruf in alter Frische wieder aufnehmen konnte. Nach 7 Jahren erfolgte 
der zweite melancholische Anfall, bei dem hypochondrische und Ver- 
sundigungsideen schon sehr stark hervortraten. Unter mehrfachen 
Remissionen, unter starkem Schwanken der Depression nahm die Zahl 
der Wahnvorstellungen bei sehr lebhaften Sinnestauschungen im Laufe 
der Zeit standig zu, zu den Versiindigungsideen traten Vorstellungen der 
Selbstuberschatzung, die allerdings ein etwas eigenartiges Geprage 
haben, die sich aber leicht erklaren lassen, wenn man bedenkt, daB es 
sich um einen Mann handelt, der in der Mystik Wagnerscher Sch6p- 
fungen lebt, den besonders die Parsifalsage ergriffen hat, und der nun 
aus seiner Meisterrolle als Alberich wie aus den Leiden des Amfortas 
vieles in seinen Wahn hinubergenommen hat. Da die fruhere reine 
Depression einem Mischaffekt allerdings mit melancholischer Grund- 
stimmung Platz gemacht hat, wie man ihn auch manchmal bei chro- 
nischen Paranoikern findet, so k6nnte man auch in diesem Falle ohne 
Kenntnis der Vorgeschichte zu der Diagnose einer Paranoia kommen. 

Man kann unseres Erachtens in diesen Fallen wirkliche Ubergangs- 
falle zwischen manisch-depressivem Irresein und Paranoia annehmen, 
wenngleich auch wahrend des Stadiums der Wahnbildung die Affektivi- 
tat in diesen Fallen uns erheblich labiler erscheint als in den Fallen, die 
von Anfang an sich als Paranoia entwickeln; auch die Wahnvorstellungen 
weichen von den bei chronisch Verruckten zu findenden bis zu einem 
gewissen Grade ab, besonders das Vorkommen ausgesprochener hypo- 
chondrischer Vorstellungen im Vordergrunde des Wahns wird stutzig 
machen. Die Anerkennung des Vorkommens solcher Ubergangsfalle 
berechtigt jedoch nicht dazu, beide Krankheitsformen ohne weiteres 
zusammenzuwerfen. Es ware als eigenartig zu betrachten, wenn der- 
artige Falle fehlten, gerade so eigenartig, als wenn wir die Taboparalyse 
vermissen muBten. Beide Krankheitsgruppen, Paranoia wie manisch- 
depressives Irresein teilen mit anderen die absolute degenerative Grund- 
lage. Welche Ursachen diese endogen vorgebildeten degenerativen Psy¬ 
chosen iiberhaupt haben, welche pathologischen Vorgange sie unter- 
halten, welche Vorgange das eine Mai diese, das andere Mai jene Psychose 
ausldsen, wissen wir nicht, wir kennen nur eine Reihe psychischer 
Degenerationszeichen, die wir bei alien mehr minder gehauft wieder- 
finden. Es handelt sich, um im Stranskyschen Bilde zu sprechen, 


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um zwei in ihren Verzweigungen sonst auseinanderstrebende Starame 
degenerativen Irreseins: warum sollten sie nicht einmal ineinander- 
greifende Aste produzieren, -warum sollte es nicht einmal zu einer Kom* 
bination beider Krankheitsformen kommen, zu deren Aufstellung die 
beschriebenen Krankheitsfalle vielleicht die Berechtigung geben? 

Aus demselben Grande ist es auch schwer verstandlich, wenn Specht 
als weiteren Beweis der Zusammengehdrigkeit beider Psychosen den 
Umstand anftihrt, daB in der Anamnese von Paranoikern sich ab und an 
(nicht einmal haufig, siehe Vorster, Sioli) Falle von manisch-depres- 
sivem Irresein finden. Auch hier heiBt es, einen Schritt ruckwarts zu 
gehen und der gemeinsamen Anlage das zuzuschreiben, was gemein- 
sames vorhanden ist und nicht die divergierenden Aste durch solche 
Griinde vereinigen zu wollen. 

Damit kommen wir zu den letzten Ursachen der Paranoia, die wir 
bisher nur von dem Augenblicke an betrachtet haben, wo sich auffallige, 
meist auch dem Laien greifbare AuBerangen der Krankheit finden 
lassen, die dann bald zur ereten Wahnbildung ftthren. Bei zureichender 
Anamnese ist es meist mdglich, bis weit in die Jugend, ja bis in die Kind- 
heit eine bestimmte Eigenart der Persdnlichkeit zu verfolgen. Man hat 
diese Anlage als „paranoische“ (hypoparanoische, Kleist) bezeichnet 
und beschrieben. Es bandelt sich dabei um Peraonlichkeiten, die zur 
groBen Grappe der degenerativen Psychopathen gehbren, deren Grandzug 
eine Labilitat der Affektsphare bildet, die schon bei geringen Anlassen 
extreme physiologische oder gar pathologische Schwankungen erkennen 
laBt. Dabei pflegt sich die Affektivitat bereits friih vorzugsweise in 
einer bestimmten Bichtung zu entwickeln und mit ihr der Vorstellungs- 
ablauf bestimmte Bahnen einzuschlagen. Zur Paranoia Scheinen dabei 
besonders diejenigen Psychopathen pradestiniert, ,,deren seelische Ver- 
fassung durch eine konstitutionell bedingte, standig gesteigerte Affek- 
tuositat das charakteristische Geprage erhalt“ (Birnbaum). Dabei 
betrifft die extreme Gefiihlsbetonung am meisten die mit dem eigenen 
Ich zusammenhangenden Vorstellungen. Es muB bestritten werden, 
daB die ,,paranoische Konstitution“ sich von der allgemeinen „degenera- 
tiven psychopathischen Konstitution“ unterscheiden lieBe; wir mochten 
deshalb den ersteren Ausdruck durch den allgemeineren ersetzen, schon 
um damit auszudriicken, daB ihm eine prinzipielle Eigenart nicht zu- 
kommt. Wir konnen Kleist nicht darin folgen, daB ,,es auf Grand der 
tatsachlichen Verhaltnisse wohl moglich sei, gewisse Grenzen zwischen 
den abnormen Konstitutionen abzustecken und grOBere Grappen zu 
bilden, deren Glieder durch eine grdBere Zahl jeweils gemeinsamer 
Merkmale zusammengehalten werden“. Wir halten mit anderen dafttr, 
daB die groBe Grappe der psychischen Degenerationen eine Einheit 
bildet („allgemein degeneratives Grandmycel“, Alzheimer), deren 


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Beitr&ge zur Klinik der Paranoia. 


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Einzelglieder selbstverstandlich in der Quantitat und Intensitat der 
Erscheinungen ihre persOnliche Note erhalten, dabei aber zu Anfang 
noch nicht erkennen lassen, wohin die krankhafte Anlage steuert. Sehr 
haufig ist es exogenen, natiirlich auch inneren Ursachen vorbehalten, 
zusammen mit der verschiedenen Starke der pathologiBchen Veran- 
lagung zu bestimmen, ob es bei der psychopathischen Konstitution 
bleibt, oder ob es zur Entwicklung einer auSgepragten Geistesstbrung 
kommt, schlieBlich, in welcher Richtung diese Weiterentwicklung er- 
folgt. Unterschiede lassen sich erst auffinden, wenn eben eine derartige 
Weiterentwicklung, die zu der verschiedensten Zeit einsetzen kann, 
schon erfolgt ist, wenn spezilische Symptome aus der allgemeinen Grund- 
lage hervorgegangen sind. Bleuler bemangelt die Unklarheit des Be- 
griffes „Degeneration“. Die Degeneration, wie wir sie bei der Paranoia 
finden, sei etwas ganz anderes wie die Degeneration, die die Grundlage 
der Imbezillitat oder Idiotie bildet. Dem ist natiirlich bis zu einem ge- 
wisscn Grade zuzuBtimmen; doch glauben wir eben nicht, daO es sich 
um etwas prinzipiell Verschiedenes handelt, sondern nur um einen 
Unterschied der Quantitat und Intensitat der Erscheinungen. Bleuler 
selbst fuhrt Falle an, in denen er schwankte, ob er die Diagnose Imbe¬ 
zillitat oder Paranoia stellen sollte; auch uns sind solche Falle bekannt 
(siehe Fall VI), wo sich auf dem Boden eines leichten angeborenen 
Schwachsinnes eine typische Paranoia entwickelte. Es beweist uns das 
die Richtigkeit unserer Ansicht, daO der Degeneration bei beiden Krank- 
heiten dem Grunde nach kein Unterschied innewohnt, sondern daB nur 
die Starke der pathologischen Veranlagung und die Weiterentwicklung 
divergierende Zweige hervorbringen. 

Durch die Feststellungen der Beteiligung einer pathologischen Affek- 
tivitat an der Auslosung der krankhaften Vorstellungen bei der Paranoia 
ist fur das Verstandnis dieser Erkrankung viel gewonnen, auch ohne daQ 
man wie Bresler optimistisch ware und sich wesentliche therapeutische 
Folgen da von versprache; es ist damit die Verkntipfung mit den ubrigen 
Psychosen, die vorher fehlte, hergestellt und die Paranoia ihrer isolierten 
Stellung enthoben. 


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Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 0 . 

Ziehen, Psychiatrie. 4. Auflage. 


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Psyebiatrische Familienforschungen. 

Von 

Dr. Ernst Wittermann. 

(Aus der oberels&ssisohen Heil- and Pflegeanstalt Rufach [Direktor 

Dr. Grofi].) 

(Eingegangen am 15. August 1913.) 

Wir leben in einer Zeit der Renaissance der Erblichkeitsforschung. 
An die Stelle von Anschauungen, die sich auf die Basis wenig frucht- 
barer statistischer Zahlenzusammenstellungen stiitzten und die keinen 
Zusp-mmenhang mit den tiefen und groBen Problemen der Regeneration 
und Rassenhygiene hatten, treten jetzt die weittragenden Lehren und 
Ergebnisse aus biologischen Untersuchungen iiber die Vererbungsvor- 
gange. Von der Erfiillung der Hoffnung, die bis jetzt unerklarte Macht, 
welche die Anlagen schafft, dem menschlichen Geiste gefiigig und dienst- 
bar zu machen, sind wir nicht mehr sehr weit entfemt; ee wird freilioh 
noch der Beibringung vielen exakt beobachteten Materials bediirfen, 
bis dieses Ziel, das sich zunachst nur die Vermeidung von offensicht 
lichen Schaden zur Aufgabe zu stellen hat, erreicht ist. Die standige Zu- 
nahme von Geisteskrankheit und Anstaltspflegebediirftigkeit zusaramen 
mit den unverhaltnismaBig groBen Lasten, die der Unterhalt von Men- 
schen mit minderwertigen Anlagen dem Staate und der Gesellschaft auf- 
erlegt, wird das Erreichen dieses Zieles f6rdem; aber erst durch die Er- 
kenntnis, welche Bedingungen zum Entstehen von Anlagen fiihren, die 
im spateren Lebensalter Geisteskrankheit im Gefolge haben, werden uns 
die wdrksamsten Waffen in die Hand gegeben, um der weiteren Vermeh- 
rung derartiger krankhafter Dispositionen ent-gegenzutreten. Zu diesem 
Fragenkomplex soli die vorUegende Arbeit einen Beitrag bedeuten. 

Es hat nicht an Kritiken der Erblichkeitsuntersuchungen gefehlt, wie 
sie vor der im Beginn dieses Jahrhunderts erfolgten Wiederentdeckung 
der Mendelschen Regeln getrieben wurden. So hat GraBmann an 
die Spitze seiner Arbeit eine Zusammenfassung der Erblichkeitsdefini- 
tionen aus der Literatur gestellt und sich gegen die oft ganz kritiklosen 
statistischen Zahlenzusammenstellungen mit der Bemerkung gewendet, 
,,daB Zahlenangaben, welche an nicht ganz sorgfaltig gepriiften Fallen 
gewonnen werden, keinen Anspruch auf wissenschaftlichen Wert haben 
k6nnen“. Und wer heute noch auch aus gut angelegten Kranken- 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XX. 1 \ 


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E. Wittormann : 


geschichten sich ein Bild von den Verhaltnissen der erblichen Belastung 
bei Geisteskrankeii machen will, der wird rait dieser AuBerung GraB- 
manns ganz einverstanden sein. Die weiterhin folgende Zusammenstel- 
lung von Hereditatsgesetzen beschaftigt sich mit der Frage gleichartiger 
und ungleichartiger Vererbung, mit der Frage, ob der vaterliche oder 
miitterliche EinfluB bei der Vererbung groBer sei, mit Morels Schema der 
fortschreitenden Entartung, Fragen, die zum Teil heute noch gelten, die 
aber ihre wahre Bedeutung erst im Zusammenhange mit Mendelschen 
Regeln und den ubrigen Kenntnissen aus biologischen Forschungen ge- 
winnen. Es ist jedenfalls ein Verdienst GraBmanns, einen guten 
Uberblick iiber die Erblichkeitslehren bis 1896 gegeben zu haben, und 
manche rein statistische Arbeit ware ungedruckt geblieben, wenn der 
Verfasser die kritischen Ratschlage GraBmanns beachtet und beher- 
zigt hatte. 

Dem Unbehagen iiber die Ergebnisse statistischer Forschungen ver- 
danken die Arbeiten W. Strohmayers und Otto Diems ihren Ur- 
sprung. Diem suchte annahemd festzustellen, in welchem MaBe die 
Geistesgesunden durch psychische Anomalien in der Aszendenz be- 
lastet sind, und damit die Frage zu klaren, „wie groB die Wahrschein- 
lichkeit, geistig zu erkranken, fiir ein bestimmtes Individuum sei“. Es 
zeigte sich dabei, daB die erbliche Belastung mit Psychoneurosen viel 
grdBer ist, als man bisher gemeinhin angenommen hat, und daB die 
Gesamtbelastung, die in den gewohnlichen statistischen Tabellen der 
Irrenanstalten zum Ausdruck kam, nichts zu bedeuten habe. Nur die 
detaillierte Darstellung der Belastung durch die einzelnen Momente 
(welche Familienmitglieder erkrankt sind, an welchen Formen von 
Geistesstdrung sie leiden usw.) kann von groBerem Werte sein. 

Auf ahnliche Wege hatte W. Strohmayer schon einige Jahre vor- 
her hingewiesen; auch er zog gegen den „statistischen Schlendrian" 
zu Felde, der erbliche Belastung notierte, so bald ein Mitglied der Fa- 
milie einmal psychisch krank war, und er setzte als Endzweck der 
medizinischen Vererbungsforschungen fest, ob und welche schadlichen 
Artabweichungen vererbbar seien. Da er fiir die ,,Individualstatistik“ 
eintrat, und so als einer der ersten in Deutschland den allein moglichen 
Weg der Familienforschung fiir die Losung der Vererbungsprobleme 
propagierte, so wird hier auf seine Ausfiihrungen naher einzugehen sein. 
Aus dem ihm zur Verfiigung stehenden Materiale traf er eine Auswahl 
von 66 Familien, in denen Geistes- und Nervenkrankheiten gehauft vor- 
kamen, und die insgesamt 1338 Mitglieder hatten. Von diesen waren 
30% geistes- oder nervenkrank, 18,6% neuro- bzw. psychopathisch, 
44,5% gesund, 3% nicht lebensfahige Kinder, 4% starben an Selbst- 
morden. Strohmayer konstatierte eine starkere Vererbungstendenz 
bei Erkrankung beider Eltem und stellt als Vererbungsmodus den Poly- 


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Psychiatrische Familienforsrhtingen. 


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morphismus feet; ,,auf derBasis der neuro- bzw. psychopathischen Dis¬ 
position tauchen die verschiedensten Krankheitsbilder auf, urn so bunter 
und regelloser, je schwerer die erbliche Belastung ist“. Dabei war ihm 
nur eines auffallig, daB in geradezu frappanter Weise ,,die intellektuellen 
nnd affektiven Psychosen sich gegenseitig auszuschlieBen schienen". 
Durch kumulative Vererbung von Vater- und Mutterseite erhalte die 
Vererbung einen degenerativen Charakter, als deren SchluBakt das Auf- 
treten von Paranoia, degenerativer Hysterie, Hystero-Epilepsie, perio- 
dische und zirkulare Formen, Schwachsinn, MiBbi Id ungen, Lebensun- 
fahigkeit anzusehen sei; aus dem Vorhandensein derartiger Erkrankungen 
kOnne man mit ziemlicher Sicherheit auf einen hohen Grad erblicher Be¬ 
lastung im Sinne einer bereits stattfindenden Degeneration schlieBen. 
Man ersieht daraus eine gewisse Analogic mit Anschauungen, wie sie 
Morel, den ja auch Strohmayer nicht bedingungslos ablehnt, schon 
vor langer Zeit vorgebracht hat. Als hauptsachlichsten degenerativen 
Faktor sieht Strohmayer den Alkoholismus an. Verwandtenehen sind 
verhangnisvoll, wenn zwei belastete Familien zusammentreffen. 

In seinem Lehrbuch der Psychiatrie weist Ziehen auf einige Tat- 
sachen hin, die meines Erachtens doch noch zu wenig beachtet wurden, 
und auf die nach Darlegung meines Materials noch wird eingegangen 
werden miissen; nach Ziehen ist es nicht etwa zufalliges Zusammen¬ 
treffen, wenn an Enkeln der EinfluB des Alkoholismus des GroBvaters 
zu erkennen ist, wahrend die Eltem vollstandig normal geblieben waren. 
Allerdings erbhckt Ziehen als Ursache hierfiir giinstige kompensierende 
Umstande (z. B. eine verstandige Erziehung), die die Belastung latent 
bleiben lieBen, wahrend sie beim Enkel infolge ungiinstiger Umstande 
wieder zur Wirksamkeit gelangt ist. Ich kann hier auf den Streit, was 
schwerwiegender sei, Milieu oder Anlage, nicht eingehen, es scheint mir 
aber doch gerade bei der von Ziehen erwahnten Tatsache eine Uber- 
schatzung des Milieus vorzuliegen. Die Unsicherheit unseres Wissens 
von den Beziehungen zwischen Anlage und den die Psychose ausldsenden 
auBeren Ursachen scheint ja auch Ziehen selbst empfunden zu haben; 
wenigstens veraagt auch ihm die Erklarung, daB bei zwei gleich belasteten 
Individuen die auBeren Ursachen bei dem einen eine Erkrankung 
auslosen, wahrend das andere beim Fortfall dieser Ursachen gesund 
bleibt, und er sieht sich zur Annahme genotigt, daB die verschiedenen 
Keimzellen der Erzeuger in ungleichem MaBe von der Erkrankung der 
Erzeuger in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Von dieser Anschau- 
ung ist aber bis zur Anwendung der Mendelschen Regeln nur ein 
Schritt. 

Zunachst aber fesselten noch mehr die Probleme der Entartung im 
weiteren Sinne des Wortes, da ja auch erst ganz allmahlich Material 
iiber die Geltung der Mendelschen Regeln fur pathologisehe Verande- 

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E. Wittermann: 


rungen gesammelt wurde. Der Reichtum der Erscheinungen, die Y r er- 
schiedenheit des Materials und nicht zum mindesten die optimistische 
oder pessimistische Anschauung der einzelnen Autoren fuhrten zu recht 
divergenten Ansichten. Insbesondere wurde das wohl mehr joumali- 
stisch ausgebeutete Vorurteil der weitgehenden und standig zunehmenden 
Entartung der gegenwartigen Bevolkerung bekampft. His wies darauf 
hin, daB, ,,ware die nervose Belastung unbedingt wirksam, wie manche 
Belastungsmonomanen uns glauben machen wollen, innert weniger 
Generationen, da exogene Neurosen ja immer haufiger auftreten, die 
ganze Kulturmenschheit endogen disponiert zur Welt kommen muBte“. 
Und er brachte dabei die Erfahrungen Sommers in Erinnerung, der 
aus durchgehends psychopathischen Familien schlieBlich eine gesunde 
Generation resultieren sah, die Ergebnisse Diems, der bei Geistes- 
kranken die psychopathische Aszendenz an Zahl nicht groBer fand als 
bei Geistesgeeunden, und suchte sich dies durch die Annahme abso- 
luter Veranlagungen, die unter alien Umstanden, und bedingter, 
die nur unter der Forderung durch bestimmte Bedingungen 
die Krankheit zum Ausbruch kommen lassen, zu erklaren. 

Gegen die weitverbreitete Annahme einer stets zunehmenden Ent¬ 
artung wendete sich besonders Bumke; sie ist nach ihm fiir die Gegen- 
wart nicht beweisbar, die Steigerung der Frequenz der Selbstmorde 
und der Kriminalitat fiihrt er auf die groBere Reibung im Leben, auf 
die groBere ,,Reizsamkeit“ zuriick; auch die nervose Degeneration ist 
ihm eine soziale Erscheinung, und deshalb ihre Bekampfung nicht aus- 
sichtlos. Das Vorhandensein einer progredienten pathologischen Here- 
ditat ist auszuschlieBen; aus der Tatsache, daB die normalen Vererbungs- 
gesetze auch in der Psychopathologie gelten, miisse eher eine Regenera¬ 
tion gefolgert werden. Wichtig erscheint mir auch der Hinweis Bumkes 
auf die bis jetzt in der Psychiatric noch viel zu wenig beachtete Tatsache, 
daB die Psyche des Menschen ein Konglomerat von Merkmalen darstelle, 
von denen jedes fiir sich vererbt werden konne; eine Analyse dieser ein¬ 
zelnen Merkmale ist freilich noch nie gegeben worden und wird uns 
vielleicht als wertvolles Nebenprodukt psychiatrischer Familienforschung 
erwachsen. 

Die primare Entstehung pathologischet Anlagen und deren weitere 
t)bertragung auf folgende Generationen muBte natiirhch auch die patho- 
logische Anatomic beschaftigen. Dabei drehte sich der Streit haupt- 
sachlich urn die Moglichkeit der Vererbung erworbener Eigenschaften, 
der heute noch unentschieden ist, wiewohl gerade durch die Beibringung 
von Material aus exakter FamiHenforschung immerhin ein KompromiB, 
wenn nicht eine endgiiltige Entscheidung zu erwarten ist. DaB es sich 
bei der Geisteskrankheit von Naehkommen eines aus gesunder Familie 
8tammenden, selbst aber geisteskrank gewordenen Saufers nicht um Ver- 


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Psychiatrische Familienforschungen. 


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erbung einer erworbenen Eigenschaft, sondern um die Vergiftung von 
Keimzellen handle, zeigt Lubarsch. „Erst wenn dann in der Nach- 
komraenschaft des Individunms, das aus den geschadigten Keimzellen 
entstand und spater geisteskrank wurde, wiederum Geisteskrankheiten 
gehauft auftreten, wird man von einer Vererbung der urspriinglich durch 
Keimzellen vergiftung erworbenen Anlage sprechen miissen; niemals 
werde es sich um Obertragung bestimmter Krankheiten, sondern 
nur um Vererbung von Krankheitsanlagen handeln, die auBerdem 
durchaus nicht immer auf ein Organ beschrankt zu sein brauchen.“ 
Auch Ribbert steht auf dem Standpunkt, daB die Keimzellen den krank- 
haften Zustand zuerst aufgewiesen haben miissen, der auf sie durch 
einen abnormen chemischen Stoffwechsel, durch giftige Substanzen 
endlich aber auch durch Storungen in der Vereinigung der beiden Keime 
iibertragen wurde. 

Fur die verschiedenen hereditar-familiaren Erkrankungen des 
Nervensystems hielt Merzbacher die Stabilitat, die der Ver¬ 
erbung innewohnt und die in derselben Familie die namlichen 
Symptome schafft (Gleichheit des Vererbungstypus, Ahnlichkeit der 
Krankheitsbilder in derselben Familie und Beginn der Krankheit in 
gleichem Lebensalter), als ein wesentliches Charakteristikum. Fur die 
Geisteskrankheiten diirfte diese Erscheinung freilich nur sehr beschrankte 
Geltung haben; dafiir spricht u. a. die Erscheinung der Antizipation, 
auf die besonders Mott hinweist; er versteht darunter die Neigung 
familiar auftretender Krankheiten, bei den Deszendenten in einem friihe- 
ren Alter einzusetzen als bei den Aszendenten und hat sie bei seinem 
groBen Materials von 2246 Fallen aus 1043 verschiedenen Familien haufig 
beobachtet. Wahrend die erste Erkrankung der Eltem zum weitaus 
groBten Teile in die Involutionszeit fallt, erkranken 62% der Kinder 
schon vor dem 30. Lebensjahre. Die Tendenz zur Antizipation sei nur 
bei indirekter Vererbung geringer als bei direkter; und gr6Ber, wenn 
direkte und indirekte Vererbung vorliegen, als wenn bloB direkte Ver¬ 
erbung vorhanden sei. In dieser Erscheinung der Antizipation ist, darin 
kann man Mott ohne wei teres zustimmen, ein wichtiges natiirliches 
Schutzmittel gegen weiterschreitende Degeneration, geradezu ein Mittel 
zur Vemichtung degenerierter Stamme zu sehen. Allerdings ist der 
Wirkungskreis wohl nur ein ziemlich beschrankter. 

Mit der standig wachsenden Verwendung der exakten Erblichkeits- 
gesetze in der menschlichen Pathologic mehrten sich auch die Stimmen, 
welche eine Anwendung dieser Gesetze in der psychiatrisehen Erblich- 
keitsforschung forderten. Als Grundlage wurde die Annahme der Ahnen- 
tafel (Binswanger) oder der Crzellitzerschen Sippschaftstafel emp- 
fohlen (VoB); einerseits bilden die gesund gebliebenen, aber belasteten 
Individuen den Ausgangspunkt lebensfahiger und lebensfrischer Genera- 


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E. Witterniann: 


tionen, andererseits miiese man, wie Binswanger sagt, ein richtiges 
Urteil gewinnen fiber den angeblich verheerenden EinfluB, welcher durch 
ein krankes Familienmitglied auf die ganze Nachkommenschaft aus- 
gefibt wird. Als besonders sinnfallige Erfahrungen aue der Anwendung 
von Familientafeln bei der Erblichkeitsforschungffihrt Binswangeran: 

1. Sind in einer Ahnenreihe bestimmte Schadlichkeiten, z. B. chroni- 
scher Alkoholismus in mehreren Generationen wirksam, so ist der de¬ 
generative EinfluB in den spateren Geschlechtern und der klinischen 
Eigenart der einzelnen psychischen Krankheitsfalle um so unverkenn- 
barer. 

2. Das gleiche ist der Fall, wenn psychische Erkrankungen sowohl in 
der mannlichen als auch in der weiblichen Aszendenz sich mehrfach 
wiederholt ha ben. 

3. Selbst in schwer belasteten Familien bleibt ein erheblicher Pro- 
zentsatz der Familienmitglieder von jeglicher Krankheit verschont. 

Dabei weist Binswanger aber auch auf unaufgeklarte Ersoheinun- 
gen hin, wie das Auf- und Abschwellen der Zahl der Krankheitsfalle in 
verschiedenen Generationen, das plbtzliche Auftreten einer schweren 
Psychose mit degenerativen Merkmalen usw. 

Erst durch die Arbeiten Weinbergs wurde die Anwendung der 
biologischen Erbhchkeitsregeln auf die psychiatrische Familienforschung 
ermoglicht. Nach ihm handelt es sich dabei in der Psychiatrie haupt- 
sachlich um zwei Probleme, namlich 1. die Feststellung dee MaBes der 
Wirkung erblicher Belastung und 2. die Feststellung bestimmter Ver- 
erbungsgesetze. Bei der ersten Frage, die eine vorwiegend sozialstati- 
stische Bearbeitung erfahren wird, ist man von der allgemeinen Bevol- 
kerungsstatistik in erster Linie abhangig und wird sie erst Ibsen konnen, 
wenn groBere Bevolkerungskreise auf die von Weinberg gegebenen 
Voraussetzungen hin beobachtet und untersucht sind. Die zweite Frage 
kann, wenigstens um den dringendsten Bedfirfnissen zu genfigen, durch 
eingehende Familienuntersuchungen zur Klarung kommen; die bis- 
herigen in dieser Richtung gemachten Versuche sieht Weinberg als 
nicht genfigend an, und er weist besonders noch darauf hin, daB die von 
Strohmayer beffirwortete AuBerachtlassung der Seitenlinien sich nicht 
empfehle, da sie fiber Anlagen Auskunft geben konnen, die bei den Eltem 
als im Mendelschen Sinne rezessive latent gebheben seien. Ffir den 
Komplex hierher gehoriger Fragen bedeuten Weinbergs Arbeiten eine 
unentbehrliche Grundlage; als sein besonderes Verdienst ist die mathe- 
matische Bearbeitung und Grundlegung der Mendelschen Gesetze an- 
zusehen, die uns erlaubt, auch an einem nicht sehr ausgedehnten Ma¬ 
terial die Mendelschen Regeln festzustellen. 

Ein eingehendes Programm der Ziele und Wege der Familienforschung 
in der Psychiatrie hat Rfidin gegeben. An die Spitze seiner Arbeit 


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Psychiatrische Fauiiiienforschungen. 


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stellt Riidin eine eingehende Beaprechung der Mendelachen Regain 
und spricht da n n die Vermutung aus, daB gewiase Formen der Dementia 
praecox in gewissen Familien dem rezessiven Vererbungatypus folgen 
diirften, wahrend bei maniach-depreaaiven Storangen der Gedanke einer 
dominanten Vererbnng naheliegend aei. Fiir die Entacheidung dieeer 
Fragen aowohl wie nabezu aller anderen, die aua der Erblichkeitaforaohung 
aich ergeben, und die Riidin zuaammenstellt, iat die Sammlung auf 
Grand von Familientafeln nOtig; ich glaube allerdinga, daB Riidin 
dabei zu hochgeapannte Forderangen atellt, die manchen, der interes- 
santea und brauchbare8 Material mitzuteilen hatte, von der VerOffent- 
lichung abhalten konnen. Riidin hat aber durch seine Arbeit doeh eine 
grandlegende Zusammenatellung aller einschlagigen Fragen gegeben, und 
auf sie werde ich auch bei der Bearbeitung meinea Materials immer 
zuriickgreifen miiaaen. Als die Aufgabe der Familienforachung in der 
Psychiatric stellt Riidin hin: 1. Die Aufdeckung von Schaden, welche 
krankhafte Anlagen manifest werden lassen; 2. die Feetstellung der Erb- 
folge von Defekten und Krankheitaanlagen. 

Uber die Giiltigkeit der Mendelachen Regeln in der Vererbung 
paychischer Rrankheiten liegen nur aehr wenig Arbeiten vor. In einem 
vorlaufigen Bericht stellen Camon und Rosanoff ganz allgemein Tat- 
sachen feat, welche dafiir sprechen, daB Mendels Regeln in der Neuro- 
pathie giiltig seien. Rosanoff und Orr bearbeiteten dann definitiv 
daa Material aus 72 Familien; dabei fiihren sie keine Trennung nach 
Psycho8en durch, sondern sehen die verschiedensten Krankheiten wie 
Imbezillitat, Epilepsie, maniach-depreaaivea Irreaein, paranoide Zu- 
stande, Psychosen des Riickbildungsalters als atiologisch verwandt an 
und stellen allerdings fiir diese gemeinsame Grappe ,,rezessives Men¬ 
del n“ fest; heilbare Paychoaen wieder seien zwar rezessiv gegeniiber 
dem normalen Zustand, aber dominant gegeniiber der Epilepsie. Auf 
die Mangelhaftigkeit der in dieser Arbeit zum Ausdracke gebrachten 
klinischen Anschauungen hat Alters in seinem Referate dariiber mit 
Recht hingewiesen; jedenfalls kann man vom klinischen deutschen 
Standpunkte aua, der ja derartige beinahe an die Annahme einer „Ein- 
heitspsychoae“ grenzenden Anschauungen meist ablehnt, sich mit dieser 
Arbeit nicht ohne weiteres einveratanden erklaren. 

In aehr interesaanter Weise hat Strohmayor die Einwande zusam- 
mengestellt, die man gegen die Geltung der Mendelachen Regeln bei 
der Vererbung paychischer Krankheiten erheben kdnne. Er faBt diese 
Einwande folgendermaBen zusammen: 

1. Menschliche Paarangen und die Bastardierangaexperimente Men¬ 
dels sind nicht identisch; 

2. Keimschadigungen und intrauterine Schadlichkeiten miissen die 
klaren Vererbungsbilder triiben; 


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160 E. Wittermann: 

3. die Festetellung der Mendelschen Proportionen beim Menschen, 
wo die Generationsprozesse und die natiirliche Vollendung der Kinder- 
produktion den mannigfachsten Beschrankungen unterliegen, erscheint 
geradezu Willkiir; 

4. bei den normalen oder krankhaften psychischen Eigenschaften 
handelt es sich nicht um eindeutige fertige Merkmale; es gibt flieflende 
tJbergange von einer Krankheitsform zur anderen und von der Norm 
zum Krankhaften. Vererbt wird nur die Disposition zur psychischen Er- 
krankung und es hangt von den mannigfachsten Umstanden ab, ob die 
l&tente Disposition zur Krankheit wird oder nicht. ,,Wie soil man fiir 
die Mendelschen Proportionen die Individuen taxieren, die im Kindes- 
alter oder in der Jugend starben, wo doch die meisten psychischen Krank- 
heiten erst spater auftreten?“ 

Hierzu sei angesichts der Tatsache, daB Strohmayer jetzt eine 
andere Stellung zur Frage der Giiltigkeit der Mendelschen Regeln ein- 
nimmt, bemerkt, daB fiir eine Reihe von Krankheiten trotz aller Schwie- 
rigkeiten doch die Giiltigkeit des Mendelschen Vererbungstypus, sei 
er nun rezessiv oder sei er dominant, festgestellt wurde. Und insbeson- 
dere die Arbeiten Weinbergs, der die Hilfe der Mathematik zu diesem 
Nachweis beniitzte, geben wichtige, ja unentbehrliche Fingerzeige, wie 
man verschiedene Schwierigkeiten umgehen konne. Man darf aber an- 
dererseits auch nicht vergessen, daB, wie insbesonders Haecker zeigte, 
wir in den meisten Fallen iiber die kausalen Faktoren so gut wie gar 
nicht unterrichtet sind, und daB man deshalb nur von den Mendelschen 
,,Regeln“ nicht aber Mendelschen „Gesetzen“ sprechen diirfe; bis 
zur Aufstellung einfacher biologischer Gesetze werde es noch der Bei- 
bringung ausgedelmten und umfassenden Materials bediirfen. Aus der 
klinisch-psychiatrischen Erfahrung ist aber z. B. doch die x4ufstellung 
von gewissen Verwandtschaftskreisen von Psychosen zu erwarten, wozu 
in der Literatur immerhin Ansatze zu bemorken sind; die Annahme des 
regellosenPolymorphisms wiirdedadurch immerhin etwaseingeschrankt. 
Gleichwohl muB zugegeben werden, daB die Mendelsche Vererbung bei 
Psychosen nur schwierig und unter Beriicksichtigung von allerlei Um¬ 
standen nachzuweisen sein wird; die von Davenport angegebenen 
Zahlenverhaltnisse (s. bei Haec ker, AUgemeineVererbungslehre, 2. Aufl., 
Braunschweig, Verlag Vieweg & Sohn, S. 250) zeigen sich in ihrer Rein- 
heit entrweder nur an einem ganz groBen Material oder bei Anwendung 
der von Weinberg angegebenen rechnerischen Methoden. 

Wie fruchtbar letztere sind, ersieht man aus der Arbeit von H. L u n d - 
borg, weitaus der eingehendsten und griindlichsten Familienunter- 
suchung, die bisher vorliegt. Als fiir meine Arbeit beriicksichtigungswer- 
teetes Ergebnis ist der Nachweis der mendelnden rezessiven Vererbung 
der progressiven Myoklonusepilepsie anzusehen; fiir die Vererbung der 


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Psyehiatri8che Fainilienforechungen. 


1(31 


Dementia praecox hat Lundborg den rezessiven Typus nach Mendel 
als sehr wahrscheinlich erwiesen. Und Strohmayer hat an einigen 
Fallen seines offenbar ungemein reichhaltigen Materials, indem er den 
friiher eingenommenen Standpunkt der „Ahnentafelbetrachtung“, zu 
dem er durch Galtons Lehre vom Ahnenerbe gedrangt worden, verlieB, 
die Mendelschen Regeln anwenden k6nnen. Dabei erhielt er natiirlich 
auch eine andere Anschauung vom Werte der Kollateralen in der Fami- 
lienforschung; er laBt sie jetzt gelten, da sie unentbehrliche Fingerzeige 
fur die Herkunft eines belastenden Momentes sind. 

Die Analyse der Vererbungserscheinungen hat zur Erorterung einiger 
Detailfragen gefiihrt, die hier noch wenigstens kurze Erwahnung finden 
miissen. Herfeldt fand bei Zwillingspaaren, die an periodisch-mani- 
schen Exaltationen und an Melancholien erkrankten, eine ganz auffal- 
lende Ahnlichkeit des Krankheitsbildes, die sich auf Beginn im gleichen 
Lebensalter, kurze Dauer, Neigung zu Rezidiven und klinische Sym- 
ptome erstreckte, wahrend nur eine Verschiedenheit des Sinnesgebietes 
der Halluzinationen zu beobachten war. Er fand aber auch Falle, in 
welchen nur der eine Zwilling erkrankte und der andere geistig gesund 
blieb. Mit der Frage der Geschwisterpsychosen beschaftigten sich be- 
sonders Schlub und Frankhauser. Keiner von beiden Autoren zog 
in den Kreis seiner Untersuchungen die Beriicksiclitigung der gesund 
gebhebenen Geschwister; Schlub findet in 75% seiner Falle gleieh- 
artige Erkrankung der Geschwister, unter den ungleichartigen Gruppen 
kommt manisch-depressives Irresein neben Dementia praecox vor; ich 
kann mich aber freilich nicht des Eindrucks erwehren, daB die mit- 
geteilten klinischen Beobachtungen dabei wenig beweisend sind, zumal 
sie nicht aus eigener Erfahrung, sondem aus der Literatur geschopft 
sind. Aus den Untersuchungen Frankhausers ergibt sich eine groBere 
Empfanglichkeit des weiblichen Geschlechts fur die Ubertragung von 
Krankheitsanlagen, femer eine groBere Gefahrdung der Tochter bei Er¬ 
krankung des Vaters, eine groBere Gefahrdung der Sohne bei Erkrankung 
der Mutter; dabei scheint der EinfluB des Vaters bei der Vererbung im 
allgemeinen machtiger zu wirken, als der der Mutter; erkranken zwei 
Briider oder zwei Schwestern, so ist die Wahrscheinlichkeit grdBer, 
daB eines der gleichgeschlechtigen Geschwister erkrankt; und endlich: 
die Schwere der Belastung ist abhangig vom Alter der Eltem, die jiin- 
geren Geschwister sollen zweimal so oft erkranken als die alteren. Da 
Frankhauser sein Material nicht sehr eingehend durcharbeitete und 
an den wichtigsten Problemen der modemen Vererbungslehre vorbei- 
ging, so kdnnen nur allgemeine Eindriicke das Ergebnis seiner Arbeit sein. 
Nur so kann man sich die merkwiirdige Anschauung Frankhausers 
erklaren, daB bei der psychischen Erkrankung beider Linien der Aszen- 
denz die eine derselben den krankmachenden EinfluB der anderen eli- 


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E. Witteruiann: 


miniert, wobei sie sich auch gegenseitig unschadlich machen konnen. 
Alle rassenhygienischen Bestrebungen wiirden bei der Richtigkeit dieses 
,,Gesetzee“ in nichts zerfallen. 

Von den Psychosen bei Geschwistem ging auch Schuppius au6. 
Auf Grund seiner Ergebnisse kommt er zur Ablehnung des Begriffes 
der gleichartigen Vererbung und laBt hochstens eine „scheinbare“ Gleich- 
artigkeit gelten in dem Sinne, ,,daB auf eine bestimmte Psychose der 
Aszendenz bei der Deszendenz haufiger dieselbe als eine andere Psychose 
folgt, ebenso wie bei geisteskranken Geschwistem ofter dieselbe Krank- 
heitsform sich findet als zwei oder mehr verschiedene.“ So sind von 
40 Familien mit Dementia praecox 22 Familien auf Dementia praecox 
beschrankt, wahrend in 18 Familien alle moglichen anderen Psychosen 
sich finden. Dabei ist die Verwandtschaft von Dementia-praecox-Kran- 
ken entschieden polymorpher als die der Manisch-depressiven. Die 
Ahnlichkeit der Verlaufsform, auf die Herfeldt bei seinen Zwillings- 
psychosen besonders hinwies, konnte Schuppius nicht bestatigen, 
sondem alle Variationen der Psychose stehen unvermittelt nebenein 
ander; fiir die Annahme, daB in der Deszendenz eines Kranken das Lei¬ 
den zunehmend schwerer auftritt, und so zum Erloschen der Familie 
fiihrt, konnte Schuppius keine Bestatigung bringen. Nur kurz wird 
leider die Frage nach der Nachkommenschaft schwerst belasteter Fa¬ 
milien gestreift; das Resultat, daB auch in diesen Familien ganz gesunde 
Kinder angetroffen werden konnen, ,,weil zur Disposition noch die aus- 
losende Ursache kommen muB“, ist ohne genaue Angabe iiber das 
,,Aussehen“ der Eltem nicht verwertbar, wie iiberhaupt alle diese Fra- 
gen eine Klarung nur durch genaue Familienforschung erfahren konnen. 
Fiir die theoretiBche Anschauung, daB bei Krankheit des einen der Eltem 
und Gesundheit des anderen die Kinder eine bei alien gleichwertige Dis¬ 
position erben, lassen sich aus der Biologie wohl keine Beweise erbringen, 
es hat im Gegenteil den Anschein, als ob diese ,,Theorie“ in direktem 
Gegensatz zu den Ergebnissen der iibrigen Vererbungswissenschaften 
stands. Die Frage nach dem Aussehen der Deszendenz beim Zusammen- 
treffen verschiedener Anlagen in der Aszendenz wird auch von Schup¬ 
pius gestreift; er ist der Meinung, daB dann jedes der Kinder entweder 
die vaterliche oder die miitterliche Disposition erben kdnne, daB aber 
auch m&glicherweise eine neue Disposition entstehe, die der Summe der 
beiden elterlichen entspreche; daraus folge die Wahrscheinlichkeit des 
Nebeneinanderbestehens verschiedenartigster Krankheitsformen. Allen 
Formen geistiger Erkrankung liegt nach Schuppius eine gemeinsame 
und einheithche Disposition zugmnde und das Men del ache Gesetz 
scheint in irgend einer seiner Variationen unbedingt Geltung zu haben. 

Albrecht ist im Gegensatz zu Schuppius der Anschauung, daB 
gleichartige Vererbung vorherrsche, die sich sogar auf das Vorkommen 


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Psychiatrische Farailienforschungcn. 


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gleicher Unterformen der Dementia praecox erstrecke und 90% aus- 
mache, wenn die Psychosen des Ruckbildungsalters der Dementia prae¬ 
cox zugerechnet werden; das Bild werde allerdings getrubt durch ge- 
haufte Belastung mit differenten Krankheitsanlagen beider Eltem, durch 
akzidentelle Keimschadigungen, durch Alkoholismus usw. 

Auch die Erblichkeitsverhaltnisse einzelner Psychosen haben ge- 
sonderte Bearbeitung gefunden. Ragnar Vogt untersuchte in dieser 
Richtung das manisch-depressive Irresein und fand, daB die iiberwiegende 
Anzahl der Psychosen bei den naheren Verwandten der manisch-depres- 
siven Patienten ebenfalls derselben Gruppe angehdrt; bei der Deszendenz 
verursacht das manisch-depressive Irresein weder Idiotie, Epilepsie, Al¬ 
koholismus, noch Paranoia und wahrscheinlich auch keine Dementia 
praecox oder Dementia paranoides; es ist nioht als dominierendes Kenn- 
zeichen im Sinne Mendelscher Vererbungsregeln anzusehen, eher als 
rezessive Eigenschaft, obwohl dafiir keine exakten Beweise zu erbringen 
Sind. In einigem Widerspruch hierzu fand Mac-Gaff in ineiner manisch- 
depressiven Familie bei der Nachkommenschaft einer mit dieser Krank- 
heit behafteten Mutter epileptiforme Zustande, eine paranoide Psy- 
chose, Schwachsinn und in der Mehrzahl allerdings hypomanische Zu¬ 
stande. 

Die hereditaren Beziehungen der Dementia praecox untersuchte 
Berze. Er erweitert den Begriff der Dementia praecox um die sog. 
,,Praecoxanlage“, wozu er abnorme Charaktere, viele Falle von chroni- 
schem Alkoholismus und von Alkoholpsychosen zahlt; auch Falle von 
prasenilem Beeintrachtigungswahn, Presbyophrenie und Melancholic 
des Ruckbildungsalters gehSren dazu, ebenso Degenerationspsychosen 
auf dem Boden der Praecoxanlage. Dem Prinzip der gleichartigen Here- 
ditat wird da eine Fiille von klinischen Anschauungen geopfert, eine MaB- 
regel, zu der auch andere Autoren, wenn auch nicht so weitgehend wie 
Berze, gegriffen haben. Dabei muB freilich zugegeben werden, daB 
manche anfanglich typische Alkoholpsychose sich im weiteren Verlaufe 
doch als eine der Dementia praecox angehdrige Erkrankung entpuppt; 
ich habe aber schon an anderer Stelle hingewiesen, wie stark die Macht 
des alkoholischen Milieus ist, der auch anfanglich gesunde Personen 
zum Opfer fallen und es miiBte bei der ungeheuren Verbreitung des Alko¬ 
holismus, die Giiltigkeit der von Berze vorgetragenen Anschauungen 
vorausgesetzt, die Praecoxanlage eine ungemein verbreitete sein. Auf- 
fallend haufig findet Berze in der Aszendenz seiner Dementia-praecox- 
Kranken Paralysen, und er erklart sich so seine Anschauung, „daB 
zwischen der Veranlagung zur Paralyse und der zur Dementia praecox 
sicher kein Antagonismus bestehe.“ Derartige Befunde hangen natiir- 
lich sehr vom Material ab, das ja in einer GroBstadt ganz anders ist als 
bei einer vorwiegend landlichen Bevolkerung. Den Polymorphisnius der 


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E. Wittermann: 


Vererbung gibt aber auch Berze trotz der Erweiterung des Begriffes 
der Praecoxanlage zu, weil ©ben die Disposition und nicht die Krankheit 
selbst vererbt werde. Beim Entwicklungsgange der Vererbung bestehen 
da drei Mdglichkeiten, entweder fortschreitende Entartung oder Re¬ 
gression infolge Entlastung oder Kombination von Anlagen infolge kon- 
vergierender Hereditat, Moglichkeiten, die bei Anwendung der Mendel- 
schen Regeln ihre klarste Beleuchtung erhalten. 

Uberblickt man den Entwicklungsgang des Vererbungsproblems, wie 
er in der vorstehenden Literaturiibersicht, die natiirlich auf Vollstandig- 
keit keinerlei Anspruch erheben kann, skizziert ist, so drangt sich einem 
die t)berzeugung auf, daB weitaus die groBte Forderung durch die Wieder- 
entdeckung der Mendelschen Regeln gekommen ist. Die rein statisti- 
schen Methoden haben in der Hand des nicht mathematisch ausgebilde- 
ten Mediziners keine Bedeutung, insbesondere aber dann, wemi sie auf 
ein Durchschn it ts material angewendet werden, wie es die landlaufigen 
Krankengeschichten darstellen; es bestehen dabei so viele Fehlerquellen, 
daB man den gewonnenen Zahlen beinahe keinerlei Beweiskraft zuspre- 
chen kann. Nur aus der Untersuchung von ganzen Familien sind Resul- 
tate zu erwarten, lehren genauere Kenner des Problems, wie Stroh- 
mayer, Weinberg, Riidin u. a. 

Bei der Sammlung meines Materials waren folgende Erwagungen 
gel tend: 

Ich suchte mir durch Befragen moglichst vieler Familienangehorigen 
hauptsachlich von Kranken meiner Abteilungen eine moglichst genaue 
Familientafel aufzustellen; dabei suchte ich auch Angaben fiber den 
Geisteszustand und die Kinderzahl der Geschwister der Eltem zu ge- 
wiimen, da aus diesen Ruckschlussen fiber das Vorhandensein erblicher 
Anlagen gezogen werden konnen, wie Weinberg und Strohmaver 
gezeigt haben. Soweit als notig wurde das Aktenmaterial zu Hilfe ge- 
nommen; leider stoBt die Untersuchung weiter zuriickliegender Genera- 
tionen auf die groBten Schwierigkeiten; iiber die GroBeltem konnten 
oft intelligente Geschwister der Kranken keine Angaben machen, und 
ich beschrankte daher im weiteren Verlaufe meine Untersuchungen auf 
Fall©, in deneii die Eltem der Kranken mir brauchbare Angaben machen 
konnten. Nur in ganz seltenen Fallen waren gut gefuhrte Familienchro- 
niken vorhanden, die aber auch teilweise keinerlei Angaben iiber das 
Vorhandensein von Geisteskrankheiten innerhalb der Familien ent- 
hielten. 

Die Gehauftheit des Vorkommens geistiger Storungen war bei der 
Auswahl meiner Familienuntersuchungen kein entscheidendes Motiv; 
ganz unwllkurlich wird aber das Auge des Beobachters auf derartige Falle 
gelenkt, zumal da die Angehdrigen derartiger Familien bei den Besuchen 


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Psychiatrische Painilienforschunsren. 


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in der Anstalt selbst anf die Frage der Entartung zu reden kamen und 
so das geweckte Interesse leicht im Dienste dieser Untersuchungen ver- 
wertet werden konnte. Den idealen Forderungen Riidins kann ein 
Arzt einer am Lande gelegenen Heil- und Pflegeanstalt nicht leicht ent- 
sprechen; ihm fehlen ja die Mittel fiir derartige umfassende Schreib- 
arbeiten imd das Prinzip der Sparsamkeit wiirde die Anstellung genealo- 
gischer Hilfsarbeiter, die sich die Miinchener psychiatrische Klinik ge- 
atatten kann, verweigem. Ich glaube aber, daB das auf diese Art ge- 
sammelte Material zur Entscheidung der wichtigsten Fragen ausreicht; 
erst in weiterer Feme, wenn die von R6 mer gemachten Vorechlage uber 
die Fiihrung von Stammlisten Geisteskranker in die Tat umgesetzt sein 
werden, wird man in der Lage sein, genaue Angaben iiber das Vorhan- 
densein Geisteskranker in der einzelnen Familie zu besitzen. 


Auszug ans den Krankengeschichten. 

Gruppe I. 

Familien mit nur einmaligem Vorkommen von Dementia praecox. 

Familie Schil. 


Eduard Scho. o 
Grandbeaitser, 
wsrgesund, wurde alt 


Mathtlde 

oo, 

lebt noch 


Eduard 

frtth 

gestorben 


1 9 


Theodor Die. oo Margarete Die. 
hatte eine Wirtschaft, 
trank 


Hermlne 

frtth 

gestorben 


Robert SchO. 

* 1889 f 1901 
an tbk. Pleuritis 
war Steuer- 
rendant, hat 
nicbt getrunken 


oo Christine Die. 
* 1828 f 100G 
an Alters- 
schwftche 


Katharine 
wurde 70 Jahre 
alt, war 2mal 
verheiratet, 
hatte 12 Kinder, 
von denen nur 
eins lebt: die 
weitern gans 
kleln f 


Josef 

starb mit 34 Jah- 
ren, war lustig, 
leichtsinnlg 


1. N. <3 2 . N. & 

ZwilUnge 1866 
starben bald an den 
Folgen der Geburt 


3. Otto 

* 1867, in ange- 
sehener Stellung, 
nicht verheiratet, 
gesund 


4. Mathilde 6. Marie 
* 1868 * 17. 5.1872 

oo UtinRufach 



Familie Scho. 

Marie Scho ... 

Aufgenommen am 22. 5. 09. 

Mit 14 Jahren litt Pat. an Weinkrampfen. Anfang August 1890 erkrankte 
Pat. an einer melancholischen Verstimmung mit vorwiegend religiosen Wahn- 
ideen, war damaJs vom 19. 8. bis 8. 9. 1890 in der StraBburger psychiatrischen 
Klinik. Ala genesen entlassen. Im Januar zeigte die Kranke eine ausgesprochene 
maniakalische Erregung, kam am 28. 1. 1891 \vieder in die Klinik, stand den 
ganzen Tag umher, beschaftigte sich nicht, sprach sehr wenig, lachte blode vor 
sich hin, w'urde unrein, onanierte schamlos. Am 10. 11. 1891 in die Anstalt Stephans- 
feld aufgenommen. Indifferente Gemutsstimmung. Zeigte ein albernes lappisohes 
Wesen, grimassierte, nahm alle moglichen verschrobenen Stellungen ein, blieb 
keinen Augenblick ruhig. Hie und da war sie mutwilhg, zeigte im ganzen ein 
ungeniertes haltloses Wesen, kam oft mit beschmierten Handen und Kieidem 
vom Abort. Sprach spontan sehr wenig, zeigte eine kindliche Anhanglichkeit 
an die Krankenschwester, konnte nach und nach zu allerlei kleinen Hausarbeiten 


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herangezogen werden, schrieb Aufsatze 
ganz lappischen und albemen Inhaltes. 
Konnte am 15. 6. 1899 beurlaubt werden. 

Anfangs ging es zu Hause mit ihr leid- 
lich gut, doch blieb sie reizbar und empfind- 
lich, konnte keinen Widerspruch vertragen, 
sagte von ihrer Mutter, daB diesel be sie 
nur argem und qu&len woUe. Nahm oft 
ganz eigentiimliche Stellungen ein. Manch- 
mal verstimmt, unglucklicb, auBerte 
LebensiiberdruB, dann wieder ganz schlaff 
und energielos, kindlich, unselbstandig, 
ohne Ausdauer. Wurde am 19. 1. 1901 
wieder naeh Stephansfeld gebracht. Machte 
einen ziemlich kindischen Eindruck, zeigte 
bei der Erzahlung von der schweren Krank- 
heit ihres Vaters keinerlei Affekt, lachte 
albern, war still und vertraumt. Arbeitete, 
zeigte aber noch eine Neigung zu im- 
pulsiven Erregungszustanden besonders 
bei Nichterfiillung eines Wunsches. Ge- 
legentiich gewalttatig gegen die Schwes* 
tern, zeitweise miirrisch und abweisend. 
Diese Zustande wurden immer seltener und 
weniger intensiv. Pat. wurde ganz still 
und einsilbig, beschaftigte sich fleiBig in 
der Nahstube, zeigte aber keinerlei spon- 
tane AuBerungen. 

Bleibt nach der Gberfiihrung nach 
Rufach in diesem Zustande von stumpfer 
Gleichgultigkeit, ist wenig zuganglich, seheu 
und geziert. 


Familie Heb. 

Marie Bru. . .. geb. Heb. .. . 

1. Aufenthalt vom 9. 9. 1909 bis 30. 
3. 1910. 2. Aufnahme am 1.6. 1912. 

Soil in der Schule gut gelernt haben. 
Als Kind gesund. Heiratete 1896. Ergab 
sich immer mehr und mehr dem Trunkc, 
trank Wein, Bier und Schnaps reichlich 
und zu jeder Tageszeit. Storte wnederholt 
in der Kirche den Gottesdienst durch lau- 
tes Lachen und Sprechen und auffalliges 
Benehmen, so daB sie durch den Kirchen- 
diener herausgebracht werden muBte. Lief 
2 Tage vor der Aufnahme davon, wurde in 
der Stadt Rufach wegen ihres auff&lligen 
Benehmens von einigen Leuten angehalten 
und in die hiesige Anstalt gebracht. 

Bei der Aufnahme ziemlich erregt, 
Btarker Gerueh naeh Alkohol, Tremor 


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Psychiatrische F&milienforschungen. 


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der Hande und der Zunge, wedcr zeitlich noch 
ortlich orientiert, lacht ganz ohne Ursache, 
macht einen ganz verwirrten Eindruck, scheint 
Stimmen zu horen. 

Orientiert sich im Laufe der nachsten Tage 
ganz allm&hlich, ist noch motorisch erregt, 
geht viel aus dem Bett, wird dann ablehnend, 
gibt keine Auskunft, sagt hochstens, daB sie 
manchmal Leute sprechen hore, die h&Bliches 
und gemeines iiber sie sagen. Wird zusehends 
stumpfer, teilnahmloser, beschaftigt sich. Auf 
Wunsch der Angehorigen beurlaubt. 

Kommt bei der 2. Aufnahme selbst in die 
Anstalt, ist ortlich und zeitlich orientiert, riecht 
nach Alkohol, zeigt ein lappisches Verhalten, 
zeigt ge8teigerten Rededrang, ist ideenfliichtig 
und gehobener Stimmung. Geht auf die an sie 
gerichteten Fragen gar nicht ein, gibt be- 
ziehungslose Antworten, zeigt ein auBerordent- 
lich lappisches und geziertes Wesen, heitere, 
ausgelassene Stimmung. 

Fa mi lie Kar. 

Kar .... Anna. 

Aufgenommen am 22. 9. 1911. 

Lernte in der Schule mittelm&Big, kam mit 
14 Jahren in ein Kloster, wurde dort zur 
Lehrerin fiir Kleinkinderschulen ausgebildet. 
Kam 1910 in eine Stelle, fiir welche sie nicht 
vorgebildet, soli infolgedessen immer mit Angst 
in die Schule gegangen sein. Mitte August 1911 
aus dem Kloster entlassen wegen Zeichen 
geistiger Stdrung. Die Kranke wurde scheu, 
wollte nicht mehr unter die Leute, glaubte sich 
verhext, furchtete sich sehr viel, schien stiller 
zu werden. Gelegentlich gegen ihre Schwester 
gewalttatig. Wurde nachts sehr erregt. Zeichen 
von Angst. 

In der Anstalt ortlich orientiert, zeitlich 
ungenau, macht einen sehr kngstlichen Ein¬ 
druck, sprach davon, daB sie verhext hatte 
werden sollen. SchlieBt dies daraus, daB sie ein 
Gefiihl der Warme im Kopf gehabt habe. Wird 
wahrend der Untersuchung immer angstlicher, 
jammert fortwahrend, so daB die Kranke nur 
sehr schwer zu fixieren ist. MuB mit der Sonde 
gefiittert werden. Zeigt dauernd kngstliche rat- 
lose Stimmung, gebundenes Wesen, abstiniert 
eine Zeitlang. Wird immer zerfahrener. Spricht 
in Briefen davon, daB sie durch Elektrizitat 
behandelt werde, daB man ihr einen Blech- 
stecken durch das Gehirn treibe. Sie atme ihre 
Lunge aus und werde bald sterben. 


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E. Wittermann: 


Familie La. 


Cber El tern keine Angaben 
zu erhalien 


Josef La. x Acker 
wurde alt wtirde fiber 

70Jahre alt 


MarlaAgathe Mathias Josef Georg La. oo Katharine 
* 1888 * 1883, f 1908 wurde • 1832, + 1906 geb. La. 

gesund, von 7 Kindern 66 Jahre an Blutver- * 1887 f 1879 
lebt noch, 2 gestorben, alt, starb giftung, im Klndbett, 

nicbt verhei- 1 ^ an Tbk. ledlg in war TagelOhner, war geistig 
ratet Paris trank nicht gesund 


Franz Josef Marianne 

* 1868 mlt 

gesund 66 Jahren 
1 gestorben, 

nicht ver- 
8 <3 heiratet 


1. Marie Agathe 2. Josef 

* 7. 4. 1874 * 1876 

ist in Rufach gesund, war 
beim Milit&r 


a Mathias 
41 1878, Landwirt, 
vom Milit&r durch 
Reklamation frei 


Michael 

gestorben 



2 0 leben gesund 
1 3 frtih gestorben 


Familie La. 

La .. Marie. 

Aufgenommen am 4. 3. 1909. 

Geistig und korperlich normale Entwicklung, lernte in der Schule gut, hatte 
ein gutes Gedachtnis. Erkrankte ganz akut Ende Februar 1909. Sprach viel von 
religiosen Dingen wirr durcheinander, gab keine geordnete Antwort mehr, meinte, 
es werde init ihr Zauberei und Hexerei getrieben, sprach bestandig vor sich hin, 
schlief nicht mehr, verweigerte die Nahrung mit der Begriindung, dafi Gift darin 
s.L Wurde immer erregter, drang mit einem Messer auf ihre Umgebung ein, 
machte einen sehr angst lichen Eindruck. Nach einer anderen Angabe soli Pat. 
schon langere Zeit durch ein iiberspanntes religioses Wesen aufgefallen sein. 

In der Anstalt sehr widerst rebend, macht einen angst lichen, ratlosen, verworre- 
nen Eindruck, gab widersinnige Antworten, meinte, sie werde hier umgebracht, 
erwies sich als zeitlich gar nicht orientiert, erkanntc aber bald, daB sie in Rufach 
sei. Vcrfiel bald auf mehrere Wochen in einen ausgesprochenen Stupor, muBte 
mit der Sonde gefiittert werden, war dabei widerstrebend. Plotzlich Wieder- 
auftreten eincs angst lichen Erregungszustandes, schrie bekreuzigte sich, sagte, 
der Teufel sei da, um sie umzubringen. Beruhigte sich nach und nach, nahm 
wieder spontan Xahrung zu sich, zeigte ein sehr ablehnendes Wesen, beschaftigte 
sich weiterhin, wurde aber gelegentlich plotzlich sehr erregt und aggressiv. Diese 
impulsiven Erregungszustande bei vorwiegcnd gcreizter, unzuganglicher Stimmung 
traten noch ofters auf. Pat. wurde meist isoliert und kam am 6. 2. 1912 nach 
Hordt. 


Familie Wer. 


Eltern sollen gesund 
gewesen sein 


Eltern sollen gesund 
gewesen sein 


1 Bruder 
frilh gestor¬ 
ben sonst 
keine Ge- 
schwister 

Leo Wer. oo Anna Hal Josef 

* 1843 1871 * 1840 m. 60 Jahren 

gesund, kein gesund in Frank- 

Trinker relch 4- 

it 

Joseflne 
* 1860 
gesund 

2 3 

2 L 

i. 3 

2. Leo 

8. Josef 

4. Albert 

5. Josefine 

mit einem 

* 1874 

♦ 11. 8. 1876 

* 1877 

♦ 1879 

halben Jahr 

gesund, war 

1st in Ru¬ 

war nicht beim 

gesund 

gestorben 

nicht beim 

fach 

Milit&r wegen 

i 


Milit&r wegen 


eines Ohrleidens 

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Fehlen eines 



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Fingers 



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2 0} gesund 



1 £ 

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Marie 
* 1846 


It 

(2 3 gest.) 


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frtth ge¬ 
storben 


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Psychiatrische Famiiienforschungen. 


169 


Fa mi lie Wer. 

Josef Wer. 

Eingetreten am 4. 5. 1910. 

In der Schule gnt gelernt. Seit der Kommunion 
Horte damals die Leute iiber sich reden, ver- 
nahm offers ein Flustern, war mit seinen Ge- 
danken nie bei der Sache. Sp&ter Besserung, so 
daB Pat. seinen Militkrdienst leisten konnte. Fiihrte 
sich beim Militar gut, erhielt nie Strafen. Seit 
der Entlassung zu Hause, arbeitete sehr viel. 
Horte unter dem Einflusse alkoholischer Getr&nke 
vide Stimmen, glaubte, dafi die Leute ihn be- 
schimpften und bedrohten. Gelegentlich in ge- 
reizter Stimmung, aber nie gcwalttatig. Wenige 
Tage vor der Aufnahme Verschlimmerung, glaubte, 
daB die Leute iiber ihn schimpften und sagten, er 
solle ins Zuchthaus abgefuhrt werden. Wurde 
angstlich, unruhig. In der Anstalt ortlich orien- 
tiert, zeitlich ungenau. Gibt Stimmen zu, an 
denen er schon seit Jahren leide und die st&rker 
auftreten, wenn er sich aus irgend cinem Grunde 
errege. Horte Vorwiirfe, er habe Unzucht ge- 
trieben, glaubte, daB er bei der Arbeit in den 
Reben duroh einen Scheinwerfer beobachtet 
worden sei, ebenso sei auf der Fahrt hierher ein 
Apparat auf ihn gerichtet gewesen. Sieht auf 
einem Tisch im Saal drei schwarze Teufel. Macht 
einen angstlich gespannten Eindruck, ist deutlich 
unter dem EinfluB von Sinnest&uschungen, faBt 
die Fragen ziemlich schwer auf. 

Im Verlaufe voriibergehende Besserung, dann 
wieder langer dauerndc depressive Stimmung, 
wird ziemlich stumpf und teilnahmslos, spricht 
spontan fast gar nichts mehr. Starrer Gesichts- 
ausdruck. Hie und da voriibergehend gereizter 
Stimmung mit Neigung zu Impulsivitaten, ver- 
weigert unter dem EinfluB von Vergiftungsideen 
die Nahrungsaufnahine. Scheues gedriicktes 
Wesen, ohne lebhafteren Affekt, reagiert auf 
keine Anrede. 

Familie Bra. 

Adolf Bra .... 

Eingetreten am 4.12.1911. Entlassen am 
22. 12. 1911. 

Hat in der Schule nicht viel gelernt, mufite 
daheim die Kinder hiiten. Nach der Schul- 
entlassung Fabrikarbeiter. Erkrankte wenige 
Tage vor der Aufnahme mit ziemlich lebhaften 
Sinnestauschungen, glaubte sich verfolgt, hatte 
heimliche Angst. MuBte deshalb in die Anstalt 
gebracht werden. Gibt bei der Aufnahme in die 
Anstalt Sinnestauschungen zu, halluziniert noch 


angeblich geistig nicht normal. 


Z. f. d. g. Neur. n. Psych. O. XX. 



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E. Wittermann: 


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einige Tage, beruhigt sich dann aber bald, wird auf dringenden Wunsch seiner 
Familie mit mangelhafter Krankheitseinsicht entlassen. 


Familie Scha. 

Anton Soh. oo Anna Sir. 6 Gesohw. Georg Baa. oo Salome Schm. 

* 1818 * 1808 warden sehr * 1818 * 1820 



t 1896 t 1886 

belde gesund 


alt 

t 1888 t 1898 

belde gesund 

4 Geschwi- 
ster jung 
gestorben 

Anton 
wurde 62 
Jahre alt, 
starb an 
Unfall 

1 

i01 

Jean 
* 1862 
in Paris 

! 

Ludw. Sch. oo Caroline Bau. Xaver 

♦ 1844 1876 * 1846 * 1862 

Fieber, gesund f 1892 

macht etwas war Helzer, starb 

beschrftnkt. an Lungenent- 

Elndruck ztlndung 

August 
* 1864 
G&rtner 

1 

i Idr 

1. Georg 

2. Ludwig 8.Caroline 4. Josef 

6. Marie 

6. August 7. Xaver 

8. Jean Bapt. 

* 1876 

* 1877 

* 2R10.1879 * 1882 

* 1888 

* 1886 * 1886 

♦ 1888 

gesund, 

f 1908 

oo8ch. 

gesund 

gesund 

gesund gesund 

f 1898 

war beim 

war Lehrer, 

ist in 




an Influenza 

Mill tAr 

starb an 

Rufaeh 





1 

einer Ope- 






j 

ration 






2 5 

8 t 







(15, t) 










Familie Scha. 



Scha. 

.... Karoline. 






Aufgenommen am 12. 9. 1911. 

War als Kind gesund, lernte in der Schule mittelmaBig, war nach der Schnle 
in verschiedenen Stellungen als Kochin. Seit 1907 verheiratet. Seit ca. 1908 oft 
anfgeregt. In der letzten Zeit mehr, so dafi die Aufnahme in die Anstalt notig wird. 

In der Anstalt zeitlich und ortlich orientiert, gibt zu Stimmen gehort zu 
haben, die sie bedrohten. Sie habe auch das. was auf der StraBe gesprochen worden 
sei, auf sich bezogen. Sie sei dann gezwungen worden zu reden. Ein Apparat 
sei am Fenster gewesen, man habe sie mit einem Fernrohr beschaut, damit man 
von ihr Portrats machen konne. Alles habe iiber sie gesprochen. Es sei auch mit 
Apparaten iiber sie geredet worden. Zum Streiten mit ihrem Mann sei sie oft 
gezwungen worden. Sie gerat bei Erzahlung ihrer Halluzinationen in einen ge- 
wissen Affekt, wird dabei verworren in ihrer Rede. In ihrer Rede finden sich 
andeutungsweise Wortneubildungen. Im weiteren Verlaufe anfanglich scheu und 
Angstlich, gibt ausweichende Antworten, hort Stimmen in ihren Gedanken. Ge- 
legentlich sehr erregt, offenbar infolgo von Halluzinationen, schimpft und schreit, 
verlangt stiirmisch nach Hause. Erregungszustande besonders stark bei der 
Menstruation. Neigung zu impulsiven Gewalttatigkeiten. 


Familie Ohn. 


3 oo Frau Eltern 

ist jung wurde 1860 

gestorben 78 Jahre alt gestorben 


Marie 
* 1844 
lebt noch, 
kinderlos 


Matthias Josef 

wurde wurde 

94 Jahre alt 92 Jahre alt 


ig 



Franz Ohn. 

* iasi 

f 1909 

war geistes- 
gesund, 
trank nioht 


oo 

1865 


Marie Fi. 
* 1840 
gesund 


Babette Ursula 
* 1844 starb mit 
lebt, gesund, 28 Jahr^n 
ledig 


1. Robert 2. Marie 3. Robert 4. Marie 5. Albert 6. Emil 
* 1866 * 1867 * 1868 * 1870 * 1871 * 1872 

f 1806 1 18^7 gesund, ' " . gesund 

wurde ganz jung intelligent 
wenige Tage gestorben gestorben 

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7. Louis 8. Eugenie 
* 1874 * 1R a 1880 

nerv6s, 1st In 
naote lang Rufaeh 

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UNIVERSITY OF MICHIGAN 




Psychiatrische Familienforsehungen. 


171 


Familie Ohn. 

Eugenie Ohn. 

1. Anstaltsaufenthalt 1. 10. 1910 bis 
5. 11. 1910. 

2. Anstaltsaufenthalt 6. 2. 1911 bis 
11.4. 1913. 

Nonnale Entwicklung. Mittelm&Bige 
Sehulerin. Nach der Schule Xaherin. Wech- 
selte h&ufig die Stellen. Von Charakter immer 
eigensinnig, hatte wenig Umgang mit Freun- 
dinnen, war im Verkehr heiter und freund- 
lich, etwas reizbar. Beginn der Erkrankung 
im Friihjahr 1910 mit Verfolgungsideen, 
glaubte, daB sie und ihr Bruder von Polizisten 
oder Soldaten geholt wiirden. Bezeichnete 
einen Herrn aus der Nachbarschaft, mit 
welchem sie nie ein Wort gewechselt hatte, 
als ihren Brautigam. Horte Leute iiber sich 
sprechen, die sie besehimpften und sagte, 
daB sie sterben miisse. AuBerte, ein Engel 
sei bei ihr gewesen. 

In der Anstalt ziemlich affektlos bei 
mangelhafter zeitlioher Orientierung, gibt an, 
sie hore Stiinmen, sie babe Angst ausge- o 
standen, weil man Schlechtes iiber sie ge- £ 
sprochen habe. Sie habe einen Schein vor ^ 
Augen gehabt, Totengeruch im Munde. Wird 
bald ziemlich stumpf und a pathisch, istauBer- g 
ordentlich zuriickhaltend. Von den Ange ^ 
horigen gegen arztlichen Rat geholt. 

Kommt dann wieder in die Anstalt, weil 
sich die friiheren Krankheitserscheinungen 
wieder bemerkbar machten. Halt an der 
Idee fest, daB ein Herr mit dem sie gar nicht 
gesprochen habe, ihr Brautigam sei, die Heirat 
werde aber von allerlei Leuten hintertrieben. 
Sie habe vieles iiber sich sprechen gehort, so 
daB sie gelegentlich sehr aufgeregt wurde und 
schrie. Im weiteren Anstaltsaufenthalte bis- 
weilen unruhig. Sehr ablehnendes gereiztee 
Verhalten, zeitweise Verweigerung der Nah- 
rungsaufnahme, wird sprachverwirrt. Hat 
keinerlei Kritik. fiir ihren Zustand. Ein 
Urlaub nach Hause endet sehr raech, da die 
Kranke zu Hause gleich sehr erregt wird. 
Stirbt an Lungentuberkulose. 

Familie Stro. 

Stro.. Luise. 

Aufgenommen zum erstenmal 3. 3. 1909 
bis 1. 6. 1909. 

Aufgenommen zum zweitenmal 9.11.1909 
bis 15. 12. 1909. 



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172 


E. Wittermann: 


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Aufgenommen zum dritten mal 29. 8. 1910. 

Etwas langsame Entwicklung, iiberstand Rotoln und Scharlach, erkrankte zuin 
erstenmal 1906 ganz plotzlich, wurde bekiimmert, triibsinnig, verweigerte die 
Nahrungsaufnahme, war deshalb vom 23. 7.—10. 11. 1906 in der psychiatrischen 
Klinik StraBburgs. War dort sehr ablehnend, muBte wiederholt mit der Sonde 
gefiittert werden. AuBerte Heimweh. Ihrem Verlangen nach Entlassung wurde 
gegen artzlichen Rat entsprochen. War in der Klinik depressiv erregt mit mono- 
tonem lappischen Affekt, zeigte Angst, Selbstanklagen, fliichtige Wahnideen. 
Beruhigte sich im Danerbad. Zu Hause trat allm&hliche Besserung ein, bis Mitte 
M&rz 1909 plotzlich Veretimmung eintrat. Sie weinte viel, fiihlte sich ungliicklich, 
nahm keine Nahrung zu sich, wurde dann sehr erregt, sah den Teufel, sagte, der 
bose Geist treibe sie an. 

In der Anstalt sehr unruhiges widerstrebendes angstlich gespanntes Verhalten, 
verhielt sich sehr ablehnend, weinte manchmal vor sich hin. Gebundenes Weeen. 
Ratloser Gesichtsausdruck. Mehrere Versuche der Entlassung scheiterten durch 
immer wieder auftretende Erregungazustande. Horte viele Stimmen, wurde ge- 
waltt&tig, sah Geister. Machte in der Anstalt einen dauemd geepannten Eindruck, 
oft sehr gereizter Stimmung, murrisch, auBerte Beeintr&chtigungsideen. Ofters 
impulsive Erregungszustande mit Neigung zu Gewalttaten. 

Familie Sit. 

Lorenz Sit. oo Marie Ha. Michael Wo. c« Katharine Ko. 



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war Rebmann, 
soil nlcht ge- 
trunken haben, 
wurde gegen 

70 Jahre alt 

wurde 60 Jahre 
alt 

Fritz 

Marie Friedenke Katharine Lorenz Sit. 

| ! * 1886, f 1888 

1 £ gesund 8 ^ 3 r? war ein gesun- 

1 Q soli 1 g 1 C der Bauer 

gelstes- 
krank sein 

<x> Barbara W6. 

* 11.6.1886 
lebt noch, ge¬ 
sund 

von 9 Oeschwi- 
stern4ganzjung 
gestorben; es 
leben 4 £>, 1 
alle geistes- 
gesund 

1. Barbara 

2. 8alome 

8. Amalie 

4. Luise 5. Lorenz 6. Karl 

7.—12. (2^, 4 S) 

* 1861 oo 

* 1868, f 1907 

* 1868 

* 29.9.1869 * 24. a 1873 * 15.6.1877 wurden als 

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an Herzleiden 

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ist in Rufach 

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kleine Kinder 

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in KoBt ge- 

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6 Kinder, 1 da- 

5 gesundc 

4 Kinder, 2 da- 

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geben, starben 

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von an Tbc. 

Kinder 

von frtth ge¬ 

gesund 

mit einigen 

gesund 

gestorben 


storben 


Monaten 




Familie Sit. 




Hil.... Luise geb. Sit. . . 

Aufgenommen am 18. 6. 1909. 

Vber Entwicklung in der Jugend nichts zu crfahren. Nach dem vierten Wo- 
ehenbett im Jahre 1903 Erregungszustand mit Verfolgungsideen, Angstzust&nden, 
Halluzinationen, Geschmackstauschungen, Schlaflosigkcit. Deshalb Klinik in 
StraBburg. Von dort nach Stephansfeld iiberfiihrt . Zeigt ein angstlich, gespanntes, 
gebundenes, scliwer besinnliches Wesen. Hort Stimmen der Angehorigen, verkennt 
die Umgebung, wird gew'alttatig, glaubt sich durch elektrische Drahte beeinfluBt. 
Ende 1903 beurlaubt, hielt sich bis September 1904, wmrde aber dann wieder erregt, 
drang in ein fremdes Haus ein und kam deshalb Mitte Dezember 1904 wieder nach 
Stephansfeld, wo sie im allgemeinen dasselbe Verhalten zeigte wie bei ihrer ersten 
Aufnahme. Wurde nach und nach stumpf, brachte vage Beeintrachtigungsideen 
vor, zeigte Neigung zuUnreinlichkeit. Wurde nachRufach ubergefuhrt. Hier ruhiges 
stumpfes Wesen, lacht albern vor sich hin, gibt ausweichende Antworten, grimas- 
siert, gelegentlich erregt, schimpft, droht gegen die Wand. Neigung zu impulsiven 
Gew f alttatigkeiten. Scheint dauemd viel Stimmen zu horen. 


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Psychiatrisehe Familienforschunpen. 


173 


Familie Wir. 


Michael Wir. oo Anna HiL 
* 1814 4* 1892 ist frUh gestor- 
hat getrun- ben, aua ihrer 
ken, war ein Familie soil 
bdser Mann das S tot tern 
stammen 


Josef Des. oc Elisabeth Nap. 
• 1818, t 1896 • 1820, 4 1898 

gesund, hat gesund 
nicht getrunken 


*k Anna 2. Conrad 1. Josef 4. Wendelin Wir. ■» 1. Josefine Des. 2. Louise 

ledig gestorben in den 20er Jah- infolge eines Un- • 1860, t 1894 1876 *1868 • 1866 

ren gestorben falles gestorben, an eingeklemm- leidet an oo, gesund, hat 

war sehr tem Bruch, Gelenk- eine Tochter 

kr&ftig TagelOhuer, rheumatism us 

trank nicht, 
ttottertc 


1. Josef 

2. Louis 

8. Anna 

4. Lucie 6. Jules 

6. Wendelin 

7. Albert 

8. Josefine 

•1875 

•1876 

•1877 

• 1879 • 1884 

•1886 

• 18.1.1887 

•1890 

Tagel&hner, war 

11876 

ist gesund. 

ist gesund, war beim 

11888 

ist in 

11802 

nicht helm 

wurde ein 

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OO, itotteri, Milit&r, jetzt 

an Him- 

Rufach 

an Lungen- 

Milit&r wegen 

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kinderlos bei der 

entziln- 

stottert 

entziln dung 

einer Unfalls- 

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Elsenbahn 

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verletzung. 

starb an 






trinkt 

1 

Kr&mpfen 






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Familie Wir. 

Albert Wir... 

Aufgenoramen am 27. 10. 1909. 

Normale Entwicklung. In der Schule mittelmaBig. War nach der Schulc 
Arbeiter in verschiedenen Fabriken. 1907 Beginn der Erkrankung. Redete dumm, 
lachte viel vor sich hin, saB stimdenlang mit der Zeitung da, ohne darin zu lesen, 
arbeitete nicht mehr, lief viel herum. War vom 8. 7. 1908 bis 19. 10. 1909 in Ste- 
phansfeld. 

Bei der Aufnahme ortlich und zeitlich orientiert. Indifferenter Gesichtsaus- 
druck. Dauernd stnmpf, still, wunsch- und interesselos, bleibt ruhig zu Bett; ohne 
Erregungszustande. Sagt spfiter, er habe Stimmen gehdrt und zwar Theaterstimmen 
aus dem Genieinderat von Miilhausen. Begann dann zu arbeiten. Auf Verlangen 
der Angehorigen entlassen. 

Bei der Aufnahme ruhig, indifferent. Andeutung von Schnauzkrampf. Sagte, 
er sei in Stephansfeld gewesen, das sei eine Anstalt fiir Chrysanthemumgruppen. 
Macht einen ziemlich dementen Eindruck, bleibt dauernd stumpf und indifferent, 
ohne Spontanau Berungen. Beschfiftigt sich unter Anleitung bei landwirtschaft- 
lichen Arbeiten. 


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174 


E. Wittermann : 


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Fa mi Lie Jam. 

Schmi.Therese, geb. Jam . • 

Aufgenommen 18. 5. 1909. 

Normale Entwickiong. Intelli- 
gente Schulerin. Gutmiitig, sehr reli- 
gioses Wesen. Tod des Mannes 1904. 
Damals Erregungszustand. Bald Ent- 
wicklung von Verfolgungsideen, 
glaubte sich allerseits benachteiligt, 
beschimpfte die Behorden und den 
Pfarrer, sagte sie sei eineSchlafseherin. 
Am 26. 2. 1906 in Stephansfeld auf- 
genominen. Verfolgungsideen, dabei 
sehr selbstbewuBtes Wesen. Hbrte 
den Herrgott in sich, gab Halluzina- 
tionen zu. Voriibergehender Stupor- 
zustand. Dann wieder Erregung, 
mit sexuellen Beeintrachtigungsideen. 
Glaubte fest an ihre Mission, Gottes 
Wort zu verkiinden. Fiihrte die 
Wettererscheinungen auf ihren per- 
sonlichen EinfluB zuriick. Xach Ru- 
faoh ubergefiihrt. 

In der Anstalt sehr lebhaft, ge- 
hobener Stimraung, salbungsvoller 
Tonfall. Oft sehr erregt, predigfc mit 
gellender Stimme, sie miisse die ewige 
Wahrheit verkiinden, sie habe den 
Himmcl, die Holle, Engel und Teufel 
gesehen, glaubt sich von Schwestem 
und Pflegerinnen verfolgt, besondere 
in sexueller Hinsicht, hort viele Stim- 
men. Zahllose Beeintr&chtigungsideen. 
Macht ganz verechrobene Hand- 
arbeiten. 


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Psychiatrische Familienf orsch ungen. 


175 


Familie Dop. 

Mis. .., Antoinette geb. Dop. 

Aufgenommen am 23.3.1909. 

War schon vor ihrer Verheira- 
tung zweimal geisteskrank in Basel. 
Heirat nach der ersten Erkrankung. 
Seit Oktober 1905 wieder krank, 
sprach tagelang nichts, wurde un- 
ruhig, sprang aus dem Fenster, 
aB sehr wenig, schmierte mit Kot 
undUrin, sahSchlangen undTiere. 
Oktober 1905 psychiatrische Klinik 
StraBburg, von dort Ende Mai 
1906 nach Stephansfeld. Daucrnd 
ablehnendes unruhiges Wesen, stets 
mit sich selbst beschaftigt, zeigte 
Echopraxie, Befehlsautomatie, 
Flexibilitas cerea, Grimassieren, 
Xeigung zu impulsiven Hand- 
lungen. Halluzinierte lebhaft. Wur¬ 
de Mitte 1908 stumpf, zeigte ein 
ganz katatones Verhalten. Von 
Stephansfeld hierher iibergefiihrt. 

Hier dauemd stumpf, ge- 
spannt, reaktionslos, affektloser 
Gesichtsausdruck. Ganz dementes 
Verhalten. Neigung zu Unreinlich- 
keit. Sehr selten plotzlich auf- 
tretende Erregungszustande mit 
sinnlosem Rededrang oder lautem 
Singen. 


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Fa mi lie Fey. 

Augustin Fey. 

Aufgenommen 3. 8. 1909. 

Normal© Entwicklung, lernte gut in der 
Schule, war dann zwei Jahre Zimmerlehrling. 
Wollte dann Missionar werden, trat in eine 
Missionsschule ein, wurde wenige Tage nach 
dem Eintritt erregt, so daB er am 25. 11. 1908 
in die psychiatrische Klinik StraBburg gebracht 
werden muBte. Blieb dort bis 24. 3. 1909. War 
in der Klinik sinnlos gewalttatig, wiederholte 
monoton immer dieselben Worte vor sich hin, 
muBte voriibergehend mit der Sonde gefiittort 
werden. Wird dann im Dezember stuporos, 
ablehnend negativistisch, grimassiert, keine 
kataleptischen Erscheinungen. Gegen &rzt- 
lichen Rat entlassen. 

Drei Wochen vor der Aufnahme in die An- 
stalt Verschlimmerung des Zustandes, auBerte 
Furcht, verweigerte dann die Nahrungsauf- 
nahme und muBte in die Anstalt gebracht 
werden. 

Bei der Aufnahme scheues Wesen, ver- 
kriecht sich unter die Bettdecke, f&llt durch 
stereotype Bewegungen auf, lacht sinnlos vor 
sich hin. Geziertes lappisches Wesen. Sprach- 
liche AuBerungen zerfahren, bietet dann das 
Bild eines schweren Stupors, muB gefiittert 
werden. Negativistisch und mutazistisch. 
Ofters impulsiv erregt, gelegentlich ganz 
freimdliche Stimmung, zuganglich, verf&llt 
dann wieder in Stupor, der zeitweise durch 
Erregungszustande imterbrochen wird. Wird 
zusehends stumpfer. 


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Psychiatrische Familienforschungen. 


177 


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Fain i lie Xcu. 

Anton Neu. 

Erster Aufenthalt 21. 7. 1911—8. 9. 1911. 

Zwciter Aufenthalt 5. 12. 1911—30. 12. 1912. 

Ala Kind gesund, lernte in der Schule gut, war 
sehr begabt. Arbeitete dann zu Hause in den 
Reben. Seit Friihjahr 1911 geiatig ver&ndert, 
wurde wunderlich, widerapenstig, bekam viele 
Handel, arbeitete nicht mehr, war aehr leicht er- 
regbar. In der Anstalt ortlich orientiert, zeitlich 
nicht genau, etwas fingatlicher Stimmung, nicht 
traurig. Gibt Gehors- und Gesichtatauschungen 
zu, sah Fastnachtaziige, horte Stimmen. 1st miB- 
trauiach und fcngatlich, bittet, man moge ihm nicht8 
tun. Wird bald auBerst zuriickhaltend, gehemmt, 
lacht gelegentlich lappiach vor aich hin. Auffallend 
affektloa. Gebeaaert entlasaen. 

Hielt 8ich eine Zeitlang zu Hause ganz gut. Ver- 
schlimmerung im Oktober 1911. Lief viel herum, 
kiimmerte aich um nichta mehr, vemachlasaigte 
sich, wurde gelegentlich gewaltt&tig. Iat bei der 
zweiten Aufnahme ortlich und zeitlich orientiert, 
hat kein Krankheitsgefiihl, gibt zu, Stimmen zu 
horen, fiihlt sich bedroht und verfolgt, raacht einen 
angstlichen Eindruck. In maBiger motorischer 
Unruhe. 

Verhalt sich weiterhin sehr zuriickhaltend, 
acheint ganz unter dem EinfluB von Sinnest&uschun- 
gen zu stehen, bessert aich aehr langaam, gibt zu, daB 
nach und nach das Stimmenhoren nachlaase, arbei- 
tet in der Landwirtachaft. Wird gebesaert ent* 
lasaen. 


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178 


E. Wittermann: 


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Familie We. 


Jakob We. 
wurde 54 Jahre alt, 
war Aokerer, 
trank nicht 

oo Anna Bek. 

mit 68 Jahren an 
Lungenentzlln- 
dung gestorben 

Jakob Schm. oo Katharine Ber. 
wurde gegen starb 80 Jahre alt 

80 Jahre alt, war 
leicht erregt. 

4 Brilder 

1 Schweater 
alle gesund 

Franz We. 

• 12.8.1864 
gesund, Ackerer 

oo Marie Sch. 

*2.11.1866 
gesund 

Emil 
• 1861 

leidet an Aus- 
zehrung 

Madeleine 
• 1868, f 1872 

1. Maria 
•1889 
gesund 

2. C&cilie 
• 1. a 1891 
ist in Rufach 

a Emma 
• 81.10.1894 
gesund 

4. Rosalie 
•17.9.1897 
gesund 

6. Xavier 
wurde 9 Monat alt, 
starb anDfphtherie 

We. 

, Cacilie. 

Familie We. 




Aufgenommen 9. 3. 1912. 

Soli die begabteste unter ihren Geschwistem gewesen sein. Entwickelte sich 
normal, lernte in der Schule gut. Psychisch ver&ndert seit Ende Februar 1912 im 
AnschluB an eine Mission. Sprach sehr wenig, staunte viel vor sich hin, trug sioh 
mit dem Gedanken Missionsschwester zu werden. 

Wenige Tage vor der Aufnahme plotzlicher Erregungszqstand, glaubte, sie 
miis8e sterben, sprach von Hexen, die sie gesehen habe. Sang, lachte und pfiff. 
In der Anstalt in starker lappischer Erregung, stampfte mit den FiiBen auf den Bo- 
den, lachte fortwahrend, spricht vorbei, gibt an, sie wisse nicht mehr wie sie heiBe. 
Gibt an, Stimmen gehort zu haben. In den ersten Tagen ganz verwirrtes Wesen, 
sagt, sie sei selbst der Teufel gewesen, sie habe die Welt retten wollen, sie habe 
immer Angst gehabt. Gibt Beeinflussungsideen zu. Ein Arbeiter habe gemacht, 
daB sie viel schaffen miisse, dann sei sie zomig geworden. Bis Juni in ziemlich 
st arker motorischer Erregung, springt viel urn her, schreit und singt, beruhigt sich 
dann, hat aber noch eine Xeigung zu impulsiven Erregungszustanden, die immer 
seltener werden. Kann iiber ihre Erregungszustande keine Auskunft geben. Wird 
ohne eigentliche Krankheitseinsicht am 16. 8. 1912 entlassen. 

Zusammenfassung: Die Erklarung des Entstehens von geistiger 
Erkrankung, in dieser Gruppe der Dementia praecox bietet bei den 
vorstehend geschilderten 16 Familien besondere Schwierigkeiten. In 
der Mehrzahl der Fall© handelt es sich dabei um ziemlich gesunde 
Familien, bei der Familie Bru. sind besonders langlebige Individuen 
relativ sehr haufig; allerdings macht sich unter den Geschwistem der 
Kranken Marie Bru. eine Neigung zu Gichtern bemerkbar, die immer- 
hin auf eine starke Anfalligkeit zu nervosen Erkrankungen schlieBen 
laBt und vielleicht doch in einem nicht angegebenen Alkoholismus der 
Voreltem ihre Ursache hat. Anlage zu Gichtern und Krampfen spielt 
auch bei der Familie Wir. mit, nur mit dem Unterschiede, daB in 
diesem Falle der Alkoholismus des GroBvaters vaterlicherseits nachzu- 
weisen ist; eine ausgesprochene nervose Disposition findet sich also 
hier ebenfalls unter den Geschwistem des Kranken; sie fiihrte neben 
der Erscheinung von Krampfen zum Stottem unter den alter werden- 
den Geschwistem, das sich beim sonst geistesgesunden Vater und bei 
mehreren seiner Kinder nachweisen laBt. Bei zwei Familien, namlich 
bei Neu. und Dop., treten in Seitenlinien Geisteskranke auf, die 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 





Psychiatrische Familienforschungen. 


179 


aber in beiden Fallen zu Vatem schwere Trinker 
haben. Ich halt© es nicht fiir wahrscheinlich, 
daB dabei noch dieselbe Familienanlage wirk- 
sam geweeen ist, da der gemeinsam© Stamm 
immerhin einige Generationen weiter zuriickliegt 
und es sich um ein isoliertes Auftreten von 
Krankheiten, nicht um ein gehauftes handelt. 
Warum es in alien iibrigen Fallen zur Ent- 
Btehung von Geisteskrankheit kommt, laBt sich 
gar nicht sagen; vielleicht konnte bei weiterer 
Ausdehnung derFamilientafel noch eine Ursache 
gefunden werden; vorlaufig miissen wir uns mit 
der Tatsache begniigen, daB in anscheinend ge- 
sunden Familien Geisteskrankheit auftreten 
kann. 

Gruppe II. 

Familien mit gehauftem Yorkommen von 
Dementia praecox oder von Kombination der 
Dementia praecox mit Psychopathien. 

Familie Spi. 

Rosette Spi. 

Aufgenommen 27. 11. 1911. 

Als Kind gesund. Lemte in der Schule gut. Sent 
dein 16. oder 17. Jahre nicht mehr normal. War des- 
halb wiederholt in der Anstalt Friedmatt. War zu 
Hause leicht erregt, hatte eine ausgesprochene Neigung 
sich zu vemachlassigen, verweigerte zeitweise die 
Nahrungsaufnahmc. Zerschlug Geschirr, wurde gegen 
Personen ihrer Umgebung aggressiv. In der Anstalt 
ruhig, gleichgiiltig, starrer Gesichtsausdruok. Wird 
dann sehr rasch auBerordentlich widerstrebend, 
dauernd mutazistisch, wendet den Kopf ab, wenn sie 
angesprochen wird. Leichte Neigung zu impulsiven 
Handlungen. Sprachliche AuBcrungen sind von ihr 
nicht zu erhalten. Neigung sich zu vemachlassigen, die 
aber unter dauemder Aufsicht nach und nach sich 
bessert. Voriibergehend wird Pat. etwas freier und 
kann sich mit kleinen Handarbeiten beschaftigen. Bald 
\vieder unzuganglicher und dementer. Macht einen 
ausgesprochen stumpfen Eindruck, ohne ausgesprochene 
negativistische Erscheinungen. 

Zusammenfassung. Der relativ sehr 
gesunden Familie der Mutter steht die krank- 
liche Familie des Vaters gegeniiber; von den 
Geschwistern des Vaters leiden drei an ,,Ner- 


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180 


E. Wittermann: 


vositat“. Die Geburt der Patientin Rosette erfolgte in kurzer Pause 
nach der uninittelbar vorhergehenden. 


Familie Fri. 


Franz Anton Fri. oc Marie Bos 
ou 1802, t 1866 war scbwAcbllch, 
war sehr kr&ftig, starb mit 84 Jab- 
diente als Ktlraasler, ren an Schwind- 
leichtsinnig, trank sucht 

viel 


Theobald Bri. oo Maria Anna Ram 
wurde 70Jahre wurde 80 Jahre 
alt, war gesund, alt 

trank viel 


2. Marie 1. Theobald 
1887, f 1879 * 1888 

an Blntstnrz lebt noch, 

I gesund 


1 ^ 4 dT 


8. Anton Fri. oo Anna Maria Bri. Magdalene 


29. 7. 1888 
sehr rilstig, 
kaum ergraut, 
Bauer, trinkt 
viel 


24.4. 
1866 


8. 8. 1886 
f 1886 an 
fleberhafter 
Krankheit 


starb mit 56 
Jahren, war 
2 Jahre in 
Stephansfeld 


I 


£ 

3 


Alois 

mit 70 Jah¬ 
ren f 


8 Q 
1 <5 


Thereto 
mit 72 Jah¬ 
ren f 

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L Marie 1. Adele 
* 29. 1. 1867 * 17. 7. 1868 

1st in Eu- oo, gesund 
f aeh 


1 L 


8. Franz Anton 
* 1870, + 1899 
an Herzachlag; 
war nicht beim 
Milit&r wegen 
Herzleldcns 


4. Josefine 
* 1872 
oo, gesund 

I 

2 

sehr kr&ftig 


5. Ludwig 
♦ 26. 8. 1874 
gesund, oo 


6. Moritz 
* 10. a 1876 
gesund, diente 
bei der Qarde 


7. Alois 

* 29. 7. 1879 
gesund bis auf 
Schwerhdrigkeit 
infolge Schar- 
lach 


Familie Fri. 

Marie Fri. 

Aufgenommen am 15. 4. 1912. 

War als Kind gesund, die Beste in der Schule. Arbeitete dann 2 Jahre in der 
Fabrik. Hatte mit 19 Jahren Typhus. Immer sehr erregbar, jahzornig. Fiihrte 
ihren Geschwistern den Haushalt, begann immer mehr und mehr zu trinken. Seit 
etwa 1 Jahr ver&ndert, glaubte anfangs, dafl die Leute gegen sie seien, wurde immer 
erregter, streitsiichtiger, glaubte sich verfolgt, horte Stimmen, schimpfte oft, hatte 
Erscheinungen, sah den Teufel. Verweigerte manchmal die Nahrungsaufnahme, 
weil sie glaubte, daB man ihr etwas ins Essen tue. 

Bei der Aufnahme ruhig, ortlich orientiert, zeitlich iiber das Datum nicht 
ganz genau. Gibt selbst an, daB seit 1 Jahre Anstiftungen von Leuten vorgekommen 
seien. Alles sei anfangs nur eine vage Vermutung gewesen, bis sie spater merkte, 
daB man iiber sie gelacht und daB allerlei gegen sie unternommen worden sei. Sie 
sei dadurch ganz schwach geworden und habe den Kopf verloren. Man habe mit ihr 
allerlei Physik gemacht, Hexereien; man habe sie getrieben, so daB sie schreien 
muBte. Alle Leute haben gegen sie iusammengehalten, so daB sie zu keinem Men- 
schen mehr Vertrauen habe. Schwarze Pollen habe man ihr ins Zimmer hineinge- 
worfen, iiberall wohin sie kam, habe sie gemeint, iniisse sie ganzeKlumpen da von 
nachreiBen. Man habe ihr allerlei Dampfe angelegt. Sie sei gepeinigt und traktiert 
worden. Man habe ihr Stimmen in die Scheune gclegt, und sie habe gemeint, ein 
Erh&ngter komme heraus. Xachts habe sie sich sehr gefiirchtet; man habe ihr 
Theater vorgespielt, Hunde, Katzen und Hiihner habe sie nachts gesehen. Ihre Ge- 
danken habe sie ganz verloren. Der Herr Pfarrer habe ihr sie aber im MeBopfer 
zuruckgegeben. Sie habe den Teufel gesehen, der wie ein schwarzer Molch war, 
so daB sie sich hatte erbrechen konnen. Als einmal einer sich erschossen habe, 
habe man ihn ihr vor das Bett gestellt und sie habe ihn gesehen. Man habe es ihr 
vorgestellt, wie wenn er eine Liebste hatte und mit ihr in der Holle ware. — Aus 
dem korperlichen Befunde: starker Tremor der Zunge, Dmckempfindlichkeit der 
Wadenmuskulatur. 

Im weiteren Verlauf anfangs ruhig, klagt iiber heftige Schmerzen in den Waden, 
hort dann Stimmen, wird immer gereizter, schimpft gelegentlich, macht einen 
ganz abgelenkten Eindruck, spricht sich jedoeh wenig aus. 


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Psychiatrische Fainilienforschungen. 


181 


Zusammenfassung. In einem sonst sehr kraftigen Geschlecht 
erkrankt das erste von sieben Geschwistem an Dementia praecox; alle 
iibrigen Geschwister bleiben geeund. Der Vater ist Potator — nach 
den sonstigen Erfahrungen ware mit dem dauemden Alkoholismus 
eine fortechreitende Blastophthorie und damit eine Schadigung der 
spater geborenen Kinder zu erwarten. Die Moglichkeit ist nicht aus- 
zuschlieBen, daft hier eine „Zeugung zu Rausch“ vorliegt, wofiir die 
Daten (Hochzeit und Geburtsdatum des spater erkrankten Kindee) 
sprechen wiirden und daB der Alkoholismus des Pat. selbst eine 
wesentliche Ursache bei der Ausldsung der Krankheit spielt. 


Familie Sttt. 


Josef Stfl. 

* 1844 
lebt noch, 
triokt viel 


Marie 

1876 


Katharine Rte. 
* 1848 
f 1888 

an Auszehrung 


Emil 8ttt. 
* 1867 


Francois Br. oo Regina Stab. 

* 1842 * 1846 

lebt nocb, Tage- gesund 

l&hner, ateht im 
Trinken keinem 
zurttck 

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2. Louise Brau. Von welteren 17 Geschwi- 


Fabrikarbeiterln trinkt nlcht,Tagel6hner, 
ledlg, gesund gesund,war helm Militilr 


1892 * I860 

Jetztgesund, wirvor 
einigen Jahren 
nervds, hatte das 
Geftthl, wie wenn 
einKn&ueltmHal- 
se sltze. 


2. Karollne 
*289.1896 
war in 
Rufach 


4. Joseflne 
* 1906 


stern sind 10 im frilhen 
Alter an Glchtern ge- 
storben ; die tlbrigen Ge¬ 
schwister : 

1. Josef, * 1867, oo, hat 4 
Kinder, Stf 1 Q. 

8. Francois, *1871, oo, 1 J 
im Alter von 5 Jahren. 

4. Regina, * 1878, oo, 1 fc 
gesund. 

6. Katharine, * 1875, f 1902 
an Tbk., war schwach, 
war nie menstruiert. 

6. Magdalene, * 1876, oo, 
von 6 Kindern sind 8 
gleich nach der Geburt 
gestorben. 

7. Marie, * 1888, ledig, ge¬ 
sund. 

8. Karl, * 1887, oo, gesund, 
kinderlos. 

Anmerkung: Die Mutter Luise Br. hat selbst die Enipfindung, aus einer „schwachen M 
Familie zu stammen; sie gab als Ursache das Fehlen von „HerrenkOBt“ an. 


1. Luise 
*26.4.1892 
vorehelich 
geboren, war 
in Rufach 


a Mathflde 
* 1902 
gesund, 
zahnte 
schlecht 


Familie Stii. 

Luise Stii. 

Vom 28. 10. 1911 bis 20. 5. 1912 in der Anstalt. 

Litt als Kind nicht an Gichtern, war immer lustig, heiter, leicht erregbar, hat 
gern dreingeschlagen, war unfolgsam. Machte in der Schule keine besonderen Fort- 
schritte. Arbeitete naeh der Schule in der Fabrik. Stets etwas eitel, trug gem schone 
Kleider. Erkrankte plotzlioh am 26. 10. 1911. Kam aus dem Schlafzimmer herun- 
ter und erzfthlte, daB sie in der Nacht das Auge Gottes gesehen habe, dreimal, das 
drittemal sei das Auge Gottes schbn gewesen wie ein Diamant. Sie habe dann ge- 
fragt, was sie tun miisse, um das Auge Gottes noch schoner zu sehen. Eine innere 
Stimme habe ihr geantwortet, sie miisse mit Einwilligung ihrer Eltem in ein Kloster 
gehen, sonst werde sie krank. Arbeitete an diesem Tage noch in der Fabrik. Am 
Abend wollte sie zu ihrem Beichtvater gehen und ihm sagen, daB sic ins Kloster 
eintreten wolle. Sagte, daB der Heiland sie morgen in der Kommunion empfangen 
wolle. Lachte und weinte viel. Wollte in der Nacht in die Kirche gehen. Sang mit 
heller Stimme Kirchenlieder. Wollte morgens die Kirche nicht verlassen, fing an zu 


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182 


E. Wittermann: 


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schreien, mu Bte gewaltsani aus der Kirche entfernt werden. Redete bestandig, 
wurde aber nicht gewalttatig. 

Bei der Aufnahme in lebhafter Erregung, spontaner Rededrang, faBt die Fragen 
gut auf, ist nicht schwer zu fixieren. Neigung zu Verbigeration. Rasche Steigerung 
der Unruhe, lachte, scbrie. Kein ausgesprochener heiterer Affekt. Sprachliche 
AuBerungen zusammenhanglos. Grimassieren. Reagiert auf Anrede nicht. Bleibt 
dann in dieser Unruhe, zeigt Neigung zu Wortneubildungen, muB zeitweise mit 
der Sonde gefiittert werden. Spricht unverstandliches inkoharentes Zeug. Dabei 
keinerlei Affekt. Im November maniriert, nimmt pathetische Stellungen ein. Die- 
ser Zustand dauert bis Januar 1912. Wird dann allmahlich ruhiger, macht einen sehr 
stumpfen Eindruck, faBt anscheinend Fragen schwer auf, gibt kaum eine geordnete 
Antwort. Eine Verlegung auf eine andere Abteilung im April 1912 hat eine betracht- 
liche Besserung zur Folge. Die Kranke beschaftigt sich mit allerlei Naharbeiten, 
ist viel freier und zuganglicher, macht aber noch einen stumpfen Eindruck. AuBert 
spontan den Wunsch nach Besch&ftigung im Nahsaal. Auf Wunsch der Eltern 
betrachtlich gebessert entlassen. 

Karoline Stii. 

Vom 22. 11. 1910 bis 29. 1. 1911 in der Anstalt. 

Diagnose: Hysterie. Normale Entwicklung. Keine Gichter. In der Schule 
mittlere Begabung. Gutmiitiger heiterer Charakter. Nach der Schule als Weberin 
in einer Fabrik. MuBte sich in letzter Zeit vor der Aufnahme bei der Arbeit sehr 
anstrengen. Seit 4—5 Wochen Klagen liber Schwindel, fiber Kopfschinerzen. In 
der Nacht vom 16-/17. 11. 1910 plotzliches Aufschreien: ich erstickc! Klagt iiber 
Leibschmerzen. Wurde dann sehr unruhig, wollte nicht ins Bett, drangte fort- 
Bedrohte zeitweise eine sie pflegende Nach bar in, weil diese ihr die Haare wegge- 
nommen habe und ihr dafiir falsche gegeben habe. AuBerte Vergiftungsideen, 
sprach insbesondere viel von einem Gipser K., der einige Zeit vorher auf sie ein 
geschlechtliches Attentat begangen habe. AuBerte die Befiirchtung ein Kind zu 
bekommen, das aber nicht katholisch getauft werden diirfe. 

Bei der Aufnahme kindliches Verhalten, lacht. Keinerlei Orientierung. Sagt, 
sie habe schlechte Stimmen gehort, die sagten: Der K. sei nicht nett und sie auch 
nicht. Der K. habe sie im Keller und auf dem Kabinett gesehen. War unrein mit 
Urin. Gibt weiterhin an, sie habe Stimmen gehort und Gestalten gesehen, ohne sich 
jedoch dariiber genauer auszusprcchen. Sie habe Angst, es sei el was im Halse auf- 
gestiegen, als ob sie ersticken sollte. Macht sich Vorwiirfe wegen ihrer Siinden, 
fiirchtet, daB sie nicht zur Kommunion gehen konne. Weiterhin macht sie prazise 
Angaben iiber den Geschlechtsverkehr mit K. Keine paraphatischen Erscheinun- 
gen. Druckempfindlichkeit der Ovarialgegend. An Unterschenkeln und Vorder- 
armen ausgebreitete Zonen von Schmerzunempfindlichkeit. War voriibergehend 
stuporos, gab keine Antwort, machte einen ganz depressiven Eindruck, aB nicht, 
sprach dann wieder spontan von K. Wurde mit kurzen Unterbrechungen von Mitte 
Januar ab freier und heiterer, war gelegentlich noch launisch und eigensinnig, 
kurze Zeit scheu und unfrei, konnte aber gebessert entlassen werden. 

Zusammenfassung. Beide GroBvater waren Potatoren; bei der 
Mutter zeigte sich eine hysterische Veranlagung, in der dritten Gene¬ 
ration traten ausgesprochene Geistesstorungen auf. Es laBt sich hier also 
eine deutliche Steigerung der minderwertigen nerv5sen Disposition im 
Sinne Morels nachweisen. Das klinische Bild ist bei der einen Schwester 
das sichere einer Dementia praecox, bei der anderen Schwester waren 
psychogene Zustande im Vordergrunde des Krankheitsbildes. 


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188 


Psyrhiatrische Familienforachuniren. 


Fa mi lie Ker. 


Mutter wurde 80 Jahre alt 


N. Ker. oo N. N. 
starb mit 46 Jahren • 1886, f 1887 

an UnfaU, bat hat viel ge- 
gerne getrunken trunken 


Maria Hor. <3 

• 1827, + 1888 • 1829, + 1877 

an Waasenucbt lebte gam f ilr 
• ieh allein, er- 
h&ngte sich 


4 Brttder Mathiaa Ker. oo Marie Hor. 

gesund • 1857, f 1808 1880 • 1857 

an Lungen-Tbc., auOerebelich 

war Tageldhner, geboren 

hat getrunken 


in Frankreicli 
▼emchollen 


1. Joseftne 2. Karoline 

• 1881 • 11.10.1888 

ooRot. lit in Rafach 

1 Kind kam totauf 
die Welt, hatte 
Wasserkopf 


8. Marie 4. Josef 

• 1885, f 1887 • 1889 

an Scharlach nichtkriftig, leidet 

an Tbc., war nicht 
beim Milit&r 


Familie Ker. 

Karoline Ker.. 

Eingetreten 15. o. 1909. 

Normal© Entwicklung. Lernte in der Sehule schlecht. Nach der Schule ale 
Fabrikarbeiterin in einer Spinnerei. War stets still und verschlossen, verkehrt© 
wenig mit anderen Madchen. 1906 von der Fabrikleitung als unbrauchbar ent- 
lassen. Habe schon damals Zustftnde gehabt, in denen sic ihrc Arbeit aufgab und 
unentwegt auf einen Gegenstand starrte. Nach der Entlassung aus der Fabrik 
von der Mutter in ein Kloster in Miilhausen gebraeht, wo sie 10 Monate verblieb, 
bis sie eines Tages plot zl ieh verschwand und erst spater von einein Landgendarmen 
in klaglichem Zustande aufgegriffen wurde. Gelegentlich impulsive Erregungszu- 
stande, warf nach der Mutter mit einein Kochtopf. In der letzten Zeit vor der Auf- 
nahme machte die Kranke gar nichts inchr spontan, man muBte sie ankleiden und 
ihr zu essen geben. Wurde immer negativistischer, abveisender und dementer. 

In der Anstalt auBerst stumpf, starke Hemmung, kann weder Jahreszahl noch 
Datum angeben. Setzt passiven Bewegungen erheblichen Widerstand entgegen. 
1st echopraktisch. Bleibt dauernd stumpf, gleichgultig, zeigt hie und da ein lappi- 
sches Verhalten, lacht manchmal ohne auBere Ursache auf. Kann nach und nach 
zu Arbeiten herangezogen werden, bleibt aber im ganzen stumpf und interesselos, 
gibt keinerlei Auskunft, bringt nie spontane AuBerungen hervor. Gelegentlich 
impulsive Erregungszustande. 

Zusammenfassung. In der vaterlichen Familie spielt der Alko- 
holismus eine groBe Rolle; zu ihm gesellt sich eine gew isse pathologiselie 
Veranlagung seitens der Mutter. 


Familie Hei. 

Julie Rey geb. Hei. . 

Aufgenommen am 24. 3. 1909. 

Nach normaler Entwicklung heiratete Pat. im Alter von 26 Jahren. Erkrankt© 
ganz plotzlich anfangs Oktober 1908, angeblich infolge Aufregung iiber einen Not- 
zuchtsversuch an ihrer altesten Tochter durch einen Nachbarn, welcher aber in 
den gcrichtlichen Terminen die Handlung geleugnet haben soil. Pat. sprach seither 
nur nooh von diesem Ereignis, von falschen Eiden, Gericht6terminen usw., wurde 
immer erregter, so daB sie am 7. 10. 1908 in das Biirgerspital Miilhausen gebraeht 
werden muBte, wo sie bis zu ihrer Dberfuhrung nach Stephansfeld am 10. 10. 1908 
verblieb. War sehr unruhig, schrie, meinte sie habe falsch geschworen, rief fort- 
w^hrend nach ihrem Mann und nach ihren Kindem. Hatte keinerlei Krankheits- 


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184 


E. Wittennann: 


Familie Hei. 


Joaef Hei. oo Elisabeth Boh. 
* 1811, t ? * 1818 t 1894 

war 8attler, 
hat vlel ge- 
trunken 


Josef K. Ursula Dam. 

11862 

war Bauer, hat 
nicht getrunken 


4 Brtider und Josef Hei. oo Lulse Ker. Emma Louis 

2 Schwestern * 1848, f 1900 1872 * 1848 oo , kinder- ging mit 17 Jah- 

geaund an Starrkrampf, iat gesund los ren sumliilit&r, 
Eisenbahn- starb in Mexiko 

angestellter, 
war mit 20 
Jahren 8 Mo* 
nate in 
Stephansfeld 


Josef 
oo, in die 
Schweiz ausge- 
wandert 



Charles 

wurde 67 Jahre 
alt 

5 is 


Julie 

*24.7.1878 
oo Bey. 

1st In Bufaoh 


1. Julie 2. Josef 8. Helene 4. Margaret he 
♦ 1896 * 1899 * 1902 * 1906 


gefiihl und blieb auch nach ihrer t)berfiihrung naoh Stephansfeld noch in auBer- 
ordentlich lebhafter Erregung. Gegen Ende Oktober wurde die Kranke einsichtiger, 
klarer, nahm wieder feste Nahrung zu sich, sprach aber aus eigenem Antrieb kein 
Wort. Anfanga November setzte neuerdings ein Erregungszuatand ein, die Kranke 
sang Gassenhauer der ordinaraten Sorte, zeigte ausgesproohenen Bewegung8drang, 
fiel wiederholt iiber ihre Nachbarinnen und Pflegerinnen her, riB aie an den H&aren. 
Sie wiederholte in sinnloser Weiae lange Zeit dieselben Satze und Strophen, zeigte 
eine Neigung zu impulaiven Handlungen, zu plotzlichem Aufschreien und Larmen, 
nachdem sie eine Weile ruhig dagesessen hatte. Wurde am 22. 3. 1909 von ihrem 
Mann gegen Rat der Arzte aus der Anatalt geholt, der mit ihr einen Verauch zu 
Hause machen wollte. Schon nach 24 Stunden begann die Kranke neuerdings iiber 
alten Geschichten vom Notzuchtsversuch zu sprechen, wurde erregter, ao daB sie 
in die hiesige Anatalt gebracht werden muBte. In der Anatalt iat die Kranke in 
dauernder, starker motorischer Erregung : gar nicht zu fixieren, sic spricht und lacht 
fortwahrend vor aich ihn, verkennt den Arzt, den aie zeitweiae fur ihren Mann halt. 
Gelegentlich ausgesprochene Verbigeration. Stereotype Handbewegungen. In 
dieaem Verhalten bleibt Pat. die ganze Zeit; sie iat vollig unberechenbar. Einige 
Stunden liegt Pat. mit geachloasenen Augen da, ohne auf Ansprache oder Beriihrung 
zu reagieren, Bpringt plotzlich auf, schreit und singt, tanzt im Saale umher. Be- 
sonders bci den Visiten stark erotisch, aehr zudringlich. Singt mit Vorliebe obszone 
Lieder. Macht gelegentlich Entweichungsversuche. Ubersteht im Mai 1911 eine 
achwere Phlegmone am linken Oberarm, die auf einige Zeit die Kranke in eine 
ruhigere Stimmung bringt. Nach Ausheilung wieder das alte Zustandsbild starker 
motorischer Erregung. 

Joaef Hei. 

Vom 5. 1. bis 13. 4. 1866 in Stephansfeld. 

Von geringer Intelligenz. Wenig sorgfaltige Erziehung. Erkrankte 8 Tage 
vor der Aufnahme im Anschlusse an religiose tjbungen bei einer Mission. Hielt 
sich fiir den Sohn Gottes, lief viel herum, warf die Grabmaler auf dem Friedhof 
um, wurde aehr gewalttatig. Besserte sich in der Anstalt bald, beruhigte sich und 
konnte auf Wunsch seiner Familie enthissen werden. Damalige Diagnoee: Mono- 
raanie. 

Zusammenfassung: Auch in dieser Familie laBt sich eine fort- 


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Psychiatrische Familienforechungen. 


185 


schreitende Entartung im Laufe der Generationen feststellen. Wir 
haben von der Seite des Vaters: 

• I. Generation: Alkoholismus. 

II. Generation: relativ leichte Geiateakrankheit von knrzer Dauer. 


III. Generation: schwere Geiateakrankheit bei dem einzigen Kinde. 
Vater und Tochter erkranken 


an Dementia praecox, ersterer an 
einer aehr leichten, letztere an einer 
sehr achweren Form. 


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Familie Cro. 

Marie Cro... 

Aufgenommen am 28. 7. 1911. 

Pat. entwickelte sich normal, hatte 
ein uneheliches Kind, war durch vielo 
Jahre bei derselben Herrschaft in 
Dienst. Die Erkrankung begann ganz 
plotzlich in der Nacht vom 20. zum 27. 
Juli 1911. Sie wurde erregt, schrie laut, 
sang, schlug sich auf die H&nde, 
schimpfte, muBte in die Anstalt ge- 
bracht werden. Bei der Aufnahme 
motorisch sehr erregt, lauft hin und 
her, hat auf alle Fra gen diesclbe stere¬ 
otype AuBerung: „Ich kenne den Herra 
und sehe den Herron. “ Macht einen 
ganz ausgesprochen verwirrten Ein- 
druck. Zeitweise steigerte sich die Un- 
ruhe auBerordentlich. Nach wenigen 
Tagen etwas zug&nglicher, erweist sich 
ais orientiert, wird aber bei lagerer 
Unterhaltung bald wieder verwirrt, 
sagt, sie habe Stimmen gehort, von 
denen sie nicht gewuBt habe, woher sie 
kommen. Spricht ungemein weitschwei- 
fig, erkl&rt immer, daB sie alleserzahlen 
wolle, hofft, daB sie die Spur selbst 
finden werde, kommt aber nie auf den 
Kernpunkt der Frage. Befindet sichda- 
bei dauerod in einer motorischen Er- 
regung, die einen durchaus rhyth- 
mischen Charakter tr&gt. Bleibt in 
dieser dauernden Erregung, die auch 
durch eine Phlegmone am rechten Arm 
keineriei Beeintrachtigung erf&hrt bis 
September 1911. In dieser Zeit etwas 
ruhiger, ausgesprochen negativistisch, 
nimmt keine Nahrung zu sich, muB 
mit der Sonde gefiittert werden. Dann 
tritt wieder eine l&ppisch heitere Er- 
Z. f. d. g. Neur. a. PBych. O. XX. 


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186 


E. Wittermann : 


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regung auf, gibt gezierte, niohtssagende Antworten, 
macht stereotype Bewegungen; sinnlose Reimereien, 
spricht wie ein Kind. Nach und nach wird Pat. 
ruhiger. Im Januar 1912 ganz zerfahrene sprachhche 
AuBerungen, kann aber zu leichten Naharbeiten ver- 
wendet werden. Wird immer ruhiger und freundlicher, 
klagt gelegentlich dariiber, daB sie so vie] wiiste 
Sachen reden hore. 1st in ihren sprachlichen AuBe¬ 
rungen auBerordentlich ungeniert und schamlos, wird 
in ihrem Benehmen immer geordneter. 

Zusammenfassung: Auffallendes t)ber- 
wiegen an Individuen weiblichen Geschlechts 
in dieser Familie. Keine Verschlimmerung des 
Kxankheitsbildes bei der Ubertragung von 
Mutter auf Tochter. 

Familie Buh. 

Melanie Buh.. 

Aufgenommen am 18. 3. 1912. 

Zur Zeit dee Zahnens hatte Pat. Gichter. Litt als 
Kind viel an Durohfall. Lernte erst nach dem zweiten 
Lebensjahre gehen. In der Schule soil sie gut gelemt 
haben. Im Alter von 8 Jahren traten bei Pat. zum 
erstenraale Anf&lle auf, 10—12 jeden Tag. War da- 
mals 2 Monate in der StraBburger Klinik, wo sie voll- 
standig wieder hergestellt wurde. Nach der Schul- 
entlaesung arbeitete Pat. zuerst zu Hause, ging dann 
in eine Stellung, wo sie einen heftigon Schreck in- 
folge eines Einbruchdiebstahls erlitt. Etwa 6—7 
Wochen vor der Aufnahme traten neuerdings Anfalle 
auf, angeblich infolge von schwerer Arbeit und 
Uberanstrengung; sie fiel zu Boden, verhielt sich 
zunachst ruhig, dann kamen Gliederzuckungen und 
Verzerrungen des Gesichtes. Eine BewuBtlosigkeit 
soli etwa 5 Minuten gedauert haben. Nach den An- 
fallen etwas verwirrt. Keine Zungenbisse. Pat. soil in 
der letzten Zeit vcrgeBlicher geworden sein. — Bei 
der Aufnahme ruhig, orientiert, durchaus geordnetes 
Benehmen. Gibt gut Auskunft iiber ihre Anfalle, sagt 
dariiber, daB sie das Gefiihl des Einschlafens dabei 
habe. Manchmal merke sie es vorher, es driiok,e ihr 
inwendig alles zusammen am Herzen. Fiir die Anfalle 
Amnesie. In den Zwischenzeiten haufig Kopfschmerzen 
auf beiden Seiten des Kopfes. Sehe manchmal 
,,zuckende“Farben vor den Augen. Korperlich nichts 
Besonderes, auBer blasser Gesichtsfarbe und lebhafter 
Reflexe. 

Vereinzelt konnten bei Pat. kurze Anfalle be- 
obachtet werden. In Gegenwart des Arztes lieB sie 
mitten im Gespraeh im Stehen den Kopf sinken, be- 
wegte denselben einigemale hin und her. Nach 


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Psychiatrische Familienfprschungen. 187 

hochstens 30 Sekunden wieder vollst&ndig klar. Dauemd freundlich, zugknglich, 
beschaftigt sich. 

Zusammenfassung: Starker Alkoholismus in der Familie des 
Vaters; von der miitterlichen Seite eine gewisse Steigerung: 

I. Generation: Alkoholismus. 

II. Generation: Nervositat. 

III. Generation: Geisteskrankheit. 

Familie Gri. 

Josef Gri oo Katharine Heg 
• 1809, f 1894 * 1818, f 1897 

war Zollbeamter, an Alters- 

gesund, hatnicht schwAche, war 
getrunken gesund 

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2. Jean Baptiste 1. Ludwig Gri. oo 2. Therese Ver. 1. Lukas 8. Magdalene 4. Albert 

* 1840, f 1878 an Gehirn- • 22. 9. 1841 I860 • 1840, f 1886 * 1887, lebt * 1842 • 1846 

erwelchung, war nieht in Tageldhner.ein- an innerlicher noch,gesund lebt noch, oo f 1877 
Anstalt; die Krankbeit fAltig, trinkt Krankbelt I kinderlos war ntabt 

dauerte 8 Monate, Pat. nlcbt Terhelratet 

dellrierte, bat getrunken 

I --- I 

4 c f 1* Katharine 2. Josef a Arthur 4. Louis 4 Kinder 

alle gesund, waren • 10. 4. 1872 * 1876, ge- * 1878 • 1880, war 

beim MilltAr 1st in Ru- sund, war gesund, beimMiUtAr, 
facb beim MilltAr Gravear Tapeslerer, 
oo, Graveur oo 

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nate alt: ge- 2 v 

sund gesund 

Familie Gri. 

Katharina Gri... 

Aufgenommen am 7. 10. 1909. 

Normale Entwicklung. Lernte in der Schule gut. Sehr wenig krank. Nach der 
Schule fiihrte sie zeitweise den Haushalt des Vaters, war zwischendurch auoh Dienst- 
m&dchen. Erkrankte 6 Wochen vor der Aufnahme an Rheumatismus mit iiberaus 
heftigen Schmerzen, so daB man sie gar nicht anriihren durfte. Wurde vollstAndig 
hergestellt, so daB sie wieder aushilfsweise eine Stelle als Dienstmadchen annehmen 
konnte. Kam wenigeTage vor der Aufnahme plotzlich in einerDroschke nachHause, 
sprach ganz verwirrt, betete Tag und Nacht. Schlief sehr wenig, nahm wenig 
Nahrung zu sich. MuBte am 0.10. in ein Spital gebracht werden, von wo die Kranke 
hierher uberfiihrt wurde. 

Bei der Aufnahme in auBerordentlicher heftiger Erregung, ruft bestkndig: 

„0 mein Vater, mein Vater!“, macht dabei einen manirierten Eindruck. Zeitlieh 
und ortlich orientiert. Nach 14 Tagen eine Zeit von ausgesprochenem Mutazismus, 
der gelegentlich durch impulsive Erregungszustande unterbrochen wird. Wird 
dann etwas freier und zuganglicher, klagt in manirierter und gezierter Form iiber 
Stimmenhoren, halt die anderen Kranken fiir Hexen. Orientierung ist dabei dau- 
emd vorhanden. Bleibt lange Zeit in diesem Zustande von motorischer Hemmung, 
mit Unterbrechung durch ausgesprochene Triebhandlungen. Pat. wirft zuweilen 
das Essen in den Saal. Hie und da Klagen iiber Stimmen iin Sinne der Beeintrach- 
tigung. Wird Mitte Juni 1910 wesentlich erregter, halluziniert dauemd, wird ge- 
waltt&tig, ist auBerordentlich reizbar. Schreit und schimpft zeitweise ganz sinnlos 
heraus. 

Zusammenfassung: Zum Alkoholismus des GroBvaters miitter- 
licherseits gesellt sich eine Anlage zu Geisteskrankheit von der Seite 

13* 


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Josef Ver. oo Magdalene Kn6. 
wurde 60 Jahre wurde 78 Jahre 
alt, bat vlel alt, war burner 
getrunken gesund 


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E. Wittermann: 


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der vaterlichen Familie, 
deren Charakter allerdings 
nicht festgestellt werden 
kann. 


Familie Hen. 

Lina Hen.... 

Aufgenommen am 28. 11. 
1910. 

Norma le Entwicklung. 
Lemte rechtzeitig gehen und 
sprechen, war als Kind schwHch- 
lich und blutarm. Wurde mit 
3 1 /, Jahren von einem Wagen 
iiberfahren, erlitt Verletzungen 
an Brust und Armen, klagte 
nooh einigeMonate iiberKopf- 
schmerzen. In der Schule mit- 
telraaBig begabt, lemte leidlieb 
sohreiben und lesen, dagegen 
ging es nicht mit dem Rechnen. 
War immer gutmiitig, nicht 
eigensinnig. Auftreten der 
ersten Period© mit 18 Jahren. 
Erkrankt© in dieser Zeit, sagte 
viele Bibelspriiche her, machte 
Predigerbewegungen, weinte 
und lachte durcheinander. Zeig- 
te einen starken Wechsel in 
der AffektauBerung, dabei nicht 
beeinfluBbar. War dabei moto- 
risch unruhig, so daB sie am 15. 
12. 1906 in die psychiatrische 
Klinik nach StraBburg kam, 
von wo sie am 26.1.1907 nach 
Stephansfeld iiberfiihrt wurde. 
War in der Klinik sehr gebun- 
den, welcher Zustand durch un- 
vermittelte Affektausbriiche 
unterbrochen wurde. Zeigte 
ein sehr monotones und lap- 
pisches Wesen. Beantwortete 
die Fragen nicht, zeigte Cyanose 
der Hande und der FiiBe, war 
gelegentlich unrein. In Ste- 
phan8fcld in starker motori- 
scher Unruhe, weinerlieher 
Stimmung, horchte zeitweise 
auf Gerausche, zeigte leichtes 
Grimassieren, gebardet sich wie 
ein ungezogenes Kind. Eines 


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Psychiatrische Familienforechungen. 


189 


Abends plotzlich ganz geordnet, gibt klare Auskunft. In den n&chsten Tagen 
wieder der alte Zustand. Wird dann ruhiger, besch&ftigt sich, zeigt nooh ein 
scheues, schiichtemes Wesen, bessert sich aber doch so weit, daB sie am 23. 3.1907 
gebessert nach Hause entlassen werden konnte. 

Zu Hause bedeutende Besserung, in ihrem Befinden, besch&ftigt sich fleiBig, 
wmrde heiterer und zug&nglicher. Eine Abnahme der Intelligenz konnte bei ihr 
nicht festgestellt werden. 1 Woche vor der Aufnahme in die hiesige Anstalt er- 
krankte Pat. infolge einer Erkaltung an Katarrh, wnirde dabei sehr niedergeschlagen 
und traurig und auBerte die Befiirchtung, daB sie wieder geisteskrank werden konne. 
Sie nahm deshalb ihre Ohrringe ab, damit sie dieselben nicht wieder wrie bei ihrer 
ersten Erkrankung losreiBen konne. 2 Tage vor der Aufnahme wurde Pat. nachts 
unruhig, blieb nicht ira Bett, sprach sehr viel vor sich hin, schrie, sang und fluchte. 
Sprach zeitweise ganz unverstandlich und zusammenhanglos, war dabei vorwiegend 
heiterer Stimmung, aber auch zommiitig erregt. Machte viele unnotige Bewegun- 
gen. Verkannte die Personen und muBte wegen zunehmender Erregung in die An¬ 
stalt gebracht werden. 

Bei der Aufnahme in lebhafter motorischer Erregung, spricht fortwahrend 
in unzusammenh&ngender Weise vor rich ihn, reibt sich im Gesicht, spreizt die Fin¬ 
ger. Der Gerichtsausdruck zeigt keinerlei ausgesprochenen Affekt. Aufforderungen 
kommt Pat. nicht nach. In den sprachlichen AuBerungen viele Klangassoziationen, 
wie z. B. Grille — Brille, Gallen — Krallen. Dabei Xeigung zu Gewalttatigkeiten. 
Bleibt in diesem Erregungszustand bis Mitte Januar, beruhigt sich in dieser Zeit 
voriibergehend, klagt iiber Kopfweh, versucht Handarbeiten zu machen, ohne sie 
jedoch fertigzubringen. Hort Stimmen. Es tritt dann neuerdings ein stiirmischer 
Erregungszustand, vorwiegend auf motorischem Gebiete auf, ist besonders nachts 
sehr storend, wird dann im Laufe des Sommers 1911 ganz stumpf und apathisoh, 
gibt keine Auskunft, macht einen miinischen Eindruck, dabei bestehen vollig 
impulsive Erregungszust&nde. 

Michael Hen... . 

Aufgenommen am 6. 11. 1911. 

NormaleEntwicklung. Lernte geniigend schreiben und lesen. War dann Knecht. 
Kam 1868 zum Militar, hat 3 Jahre in Cayenne gedient. Verheiratete rich 1876. 
10 Kinder. Erkrankte Ende August 1900 plotzlich, wurde reizbarer, arbeitete nicht, 
8chimpfte iiber alles mogliche, glaubte sich verfolgt, zeigte groBo Unruhe, wurde 
zeretorungssuchtig, aggressiv. Soli schon vorher seit etwa 1873 wiederholt in Inter- 
vallen geisteskrank gewesen sein, wurde dabei sehr aufgeregt und ganz verwirrt, 
was jedesmal 2—3 Wochen dauerte. Bei der Aufnahme in die Anstalt sehr unruhig, 
blickt gespannt nach alien Richtungen, gestikuliert, spricht unverst&ndlich vor 
rich hin, kann zu keiner geordneten Antwort veranlaBt werden, macht den Ein¬ 
druck eines auf Grund von Halluzinationen hochgradig verwirrten Menschen. 
Wurde dann sehr ablehnend, gab keinerlei Antwort, war meist mit seinen Hallu¬ 
zinationen besch&ftigt. Ende Oktober 1900 ruhiger, sagte, er sei gesund, hore keine 
Stimmen mehr, verlangte seine Entlassung, die ihm am 26. 10. gew&hrt wird. Zu 
Hause ging es eine Zeitlang sehr gut. Nur zeigte Pat. eine starke Neigung zu alko- 
holischen Getr&nken, insbesonders zu Schnaps. Seit 1910 wurde Pat. neuerdings 
erregter, lief viel umher, spielte wie ein Kind, sprach viel vor sich hin. Wurde zornig 
streitsiichtig, zerschlug Teller, Schiisseln, Dampen, warf Gegenstande auf die StraBe 
und wurde wegen zunehmender Erregung in die Anstalt gebracht. 

Bei der Aufnahme ganz ruhig, geordnet, halt sich fur gesund, verlangt seine so- 
fortige Entlassung, stellt alles, w r as ihm als krankhaft vorgehalten wird, in Abrede. 
Ist leicht gehobener Stimmung, zeigt gesteigerten Rededrang, beschaftigt rich bald. 
Dauemd vollkommen orientiert. WeiB in Pflegeschafts- und Entmiindigungs- 


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E. Witterraann: 


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sachen durchaus Bescheid. 1st vertr&glich, gutmiitig. Gibt Schnapspotus zu. 
Stelit Sinnest&uschungen ganz in Abrede und am 29.1.1912 nach Hause entlassen. 

Zusammenfassung: DerGroB vatermiitterlicherseitswar Schnaps- 
trinker; seine Nachkommenschaft zeigt nerv6se Erscheinungen und zum 
Teil Geisteskrankheit. In der 3. Generation iiberwiegt die weibliche 
Nachkommenschaft. Wir haben also wieder: 

I. Generation: Alkoholismus. 

II. Generation: Nervositat. 

III. Generation: Geisteskranke neben gesunden Individuen. 

Hierzu in der vaterlichen Linie allerdings Neigung zu Aufgeregtheit; 
Inzucht! 


Familie NUg. 


Josef N&g. oo Walburga Ber. 
starb mit 60 wurde 83 Jahre 
Jahren an alt 

Lungenent- 
xilndung 


Silverlui Mich, oo Adele Walt. 

* 1886 * 1840 

t 1901 + 1876 

liat nicht ge- an Waaaeraucht, 

trunken war eine brave 

Frau 


6 Kinder, vier Silverius Nig. oo Melanie Mich. Alois Karoline 

davon in Frank- * 1860 1888 • 16.9.1862 * 1870 oo Rum 

reich, keine + 1895 geistig geaund, war nicht beim j 

Auskunft dar- Tbc.pulm., Schreiner, herzleidend Militir, Fabrik- 
Ober zu erhalten hatte als Kind arbeiter, trlnkt 

Gehirnentziin- 
dung, hat ge- 
trunken, 2 Wo* 
chen vor selnem 
Tode geistes- 

krank I 

1 rj geaund 

1. Karoline Albertine & Mathilde 4. Paul Pierre 6. Emllie 

* 26.6. 1889 * 1890 * 1891 f 1891 * 1894 + 1894 * 1896 f 1895 

1st in Rufach gelatig geaund, litt an Gichtern, wurde 6 Monate alt atarb im 6. Mo 
Dienatmagd warimmerkrinklich atarb an Gichtern nate an Di- 

phtherie 


Familie Nag. 

Karoline Nag. . . . 

Aufgenommen am 29. 11. 1911. 

Erkranktc einige Wochen vor der Aufnahme, sprach viel ungereimtes Zeug, 
erzahlte, daB ihre Mutter sie ins Wasser treiben wolle, sah Tiere, Geister, Flammen 
usw., schrieb viel, besonders religiose Lieder, sprach iiber alles in einer lappischen 
lachenden Art. Suchte selbst das Spital auf, wurde rasch sehr erregt und schrie 
ganze Nachte hindurch. Bei der Aufnahme in lappischer Erregung und heiterer 
Stimmung Zeitlich orientiert, meint, daB sie hier in einem SchloB in der Schweiz 
sei. Spricht allerlei ganz faseliges Zeug, halt sich nicht fiir verriickt, macht Angaben 
iiber Geistersehen und iiber Italiener, die nachts gemacht h&tten, wie wenn die 
Seer&uber da waren. Der Gedankengang wird dabei bald vollkommen fluchtig, ganz 
zerfahren. Pat. grimassiert, macht allerlei Faxen, gibt vollig beziehungslose Ant- 
worten. Im weiteren Verlaufe lacht und weint Pat. durcbeinander, ohne daB 
weder fiir das eine noch das andere eine besondere Ursache vorhanden wfi-re, spricht 
wiederholt vom heiligcn Geist, von Hexen, von Seeraubern, verf&llt oft in kurz 
dauernde lappische Erregung. Voriibergehend starker Bewegungsdrang. Dauernd 
orientiert; ohne jegliche Einsicht. Grimassiert stark. 

Zusammenfassung: Schwerer Potus des Vaters mit Tuber- 
kulose; zunehmende Verschlechterung der Nachkommenschaft. 


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Psychiatrische Farailienforschungen. 


191 


Familie Mess. 

1. Theobald Mess. 

Aufgenommen am 2. 9. 1911. 

Hat in der Schule gut gelernt, 

trat danach als Lehrling in ein Ge- 
sch&ft ein Begann mit 24 Jahren eine 
Spezereihandlung. Kam in den folgen- 
den Jahren immer mehr und mehr 
herunter, beging Urkundenf&lschung, 
seine Frau liefi sich mit einem 
Falscbmunzer ein und wurde mit 
Zuchthaus bestraft Pat. selbst ergab 
sich dem Trunke. 

Bei der Aufnahme orientiert, 
ruhig, stellt Geisteskrankheit in Ab- 
rede, bringt aber dann eine Reihe von 
Beeintraehtigungsideen vor, „verschie- 
dene Formfehler 4 * triigen die Schuld 
an seinem Herunterkommen. Er 
habe von seinen Briidern noch eine 
Reihe von Sachen zu fordem. Sinnes- 
tauschungen sind nicht nachweisbar. 
H&lt im weiteren Verlaufe an den 
Beeintr&chtigungsideen fest, ist sehr 
monoton in seinen AuBerungen, ab- 
solut einsichtslos, norglerisch. 

2. Julius Mess.,. 

Aufgenommen am 20. 5. 1910. 

Normale Entwicklung, zeigt friih 

schon Aufregungszustande, besonders 
in der Naeht, war stets sehr reizbar. 
Lernte in der Schule schlecht. Soil 
nie an Anf&llen gelitten haben. Konn- 
te nie zum Schaffen gebracht werden. 
Hatte gar keine moralischen Gefiihle, 
wollte alles verfressen und versaufen 
und dann ein paar totschlagen. 

Wenige Tage vor der Aufnahme 
aus dem Gefangnis entlassen, war 
wegen eines Fahrraddiebstahls ver- 
haftet worden. Soil im Gefangnis ganz 
verwirrt gewesen sein, sah Katzen, 
den Teufel. Vor 1 / 1 Jahre soil Pat. mit 
einem Revolver nach einem Kind ge* 
schossen haben. 

Bei der Aufnahme ortlich orien¬ 
tiert, zeitlich ungenau, sagte, er habe 
aus Angst gebrullt, weil ihm Sachen 
vom Teufel eingefalien seien. Erhabe 
den Teufel selbst gesehen. Machfc einen 
ziemlich apathischen und indifferenten 
Eindruck. AuBerlich degeneriertes 
Aussehen. 




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E. Wittermann: 


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Im weiteren Verlaufe, Neigung zu triebartigen Handlungen, wird ganz teil- 
nahmslos, stuporos, bringt keinerlei spontane AuBerungen vor. Voriibergehend 
Kat&lepsie angedeutet. Verhalt sich dauemd sehr ablehnend, bringt gelegentlich 
ohne jeden Affekt verworrene Wahnideen vor, masturbiert triebartig. 

3. Lucian Mess.. 

Aufgenommen am 23. 1. 1912. 

Lemte in der Schule schlecht, kam in Zwangserziehung, weil er vemachlassigt 
wurde, bettelte und stahl. Kam im Alter von 12 Jahren nach Hagenau, wo er ein 
heimtuckisches Wesen zeigte, manchmal sehr aufgeregt war und ohne Ursache 
weinte. Er habe geglaubt, daB die anderen Zoglinge ihn nicht leiden konnten und 
ihm aufsassig seien. 

Bei der Aufnahme ruhig, zeitlich und ortlich orientiert, weint. Er wisse nicht, 
warum er hierher gekommen sei. Zeigt ein schwer degeneriertes Aussehen. Im 
weiteren Verlaufe lappisches Verhalten, ohne Anhaltspunkte fiir Sinnest&uschungen 
und Wahnideen. In der Stimmungslage sehr labil. Gelegentlich rasch voriiber- 
gehende Verstimmungszust&nde. 

Zusammenfassung: Schwerst entartete Familie. Potus in der 
vaterlichen Familie, dann durch Kreuzung mit einer moralisch minder- 
wertigen Person Haufung von Geisteskrankheit und moralische Minder- 
wertigkeit in der letzten Generation. Vermengung des Einflusses von 
Milieu und Anlage. 


Familie Mai. 


David Mai oo 
war 8chullehrer, 
wurde 70 Jahre alt, 
trank, war sehr 
jlhzornig 


Heinrich Schle. *oo Marie Fisch. 

* 1792, f 1872 wurde 00 Jahre alt, 
Zylinderfabrikant, starb an 

korrekter, braver Lungenentzilndung 
Mann 


8 Brtlder 
8 Schwestem 
leben, Bind gesund; 
haben 5 Kinder, 

3 davon m&nnlich 


Robert Mai 
* 1834, f 1909 an 
Altersschw&che; 

war Organist, 
litt an Migrftne 


oo 2. Marie Schle. 
1867 * 1844 

lebt noch, 
ist etwas nervds 


1. Julie 

* 1837, t 1888 an 
Krebs 


1. Eduard, mit 
86 Jahren f, 

2. Oscar, * 1869, lebt, 
gesund, hat 6 SOhne 


1. Marie 
* 1868, f 1868 

wurde etwa 
2 Wochen alt 


2. Johanna 
* 1870 

Lehrerin, gesund 


3. Heinrich 
* 1871, f 1872 
wurde 9 Monate 
alt, starb an 
Halsentzlindung 


4. Alice 
* a 11. 1878 
1st in Rufach 


Familie Mai. 

Alice Mai... 

Aufgenommen am 20. 4. 1909. 

Normale Entwicklung. Als Kind immer eigenartig, hartkopfig, zankte sich 
sehr viel, dabei verschlossen, aber nicht ungesellig. Bestand das Lehrerinnenexamen, 
gab nur zeitweise Nachhilfestunden, beschaftigte sich im iibrigen im Haushalt. 
Seit 1902 bildet sich Pat. ein, daB ein bekannter Herr Absichten auf sie habe und 
sie heiraten wolle, wofiir keinerlei objektive Anhaltspunkte bestehen. Im Jahre 1900 
traten Verfolgimgsideen auf. Pat. verkannte ihre Angehorigen, glaubte, daB ihre 


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Psychiat rische Familienf orechungen. 


193 


Sch wester ein verkleideter Mann sei. Sie hielt sich fur verlobt. Pat. fiihrte Buch 
iiber ihreVerfolgungsideen, sagte, sie werde geschlagen, horte Leute reden, glaubte, 
sie werde von einer Bande verfolgt. Sie wurde immer erregtcr, schimpfte zeitweise, 
griff wiederholt ihrer Schwester gegen die Augen, um zu konstatieren, ob die- 
selben aus Glas seien. Sie hielt alle Leute ihrer Umgebung fur verandert. Vom 
22. 11. 1907 bis 6. 7. 1908 in einer privaten Anstalt fiir Geisteskranke in der 
Nahe von Basel. AuBerte dort Vergiftungsfurcht, verweigerte die Xahrungs- 
aufnahme, weil angeblich z. B. in der Bouillon Xaphthalin enthalten sei. Sie 
glaubte, daB die Pflegerinnen sich gegeneinander austauschten, daB z. B. bald 
die Schwester A. das Gesicht der Sch wester B. triige. Verkannte die Personen, 
wollte auch selbst mit anderen Xamen angesprochen sein, zeigte ein sehr affektier- 
tes Benehmen, hochmiitigen Gesichtsausdruck, wurde kindisch und lappisch. Zeit- 
weise ganz liebenswiirdig, beschaftigte sich zeitweise unter der Anleitung von ihr 
sympathischen Pflegerinnen, wurde dann ruhig und am 6. 7. 1908 nach Stephansfeld 
uberfiihrt. Dort anfanglich sehr aufgeregt, muBte wegen konstanter Xahrungs- 
verweigerung mit der Sonde gefiittcrt werden. Wurde nach wenigen Tagen freund- 
licher. Zeigte ein ausgesprochen manieriertes Wesen, das gelegentlich duroh im¬ 
pulsive Erregungszustande unterbrochen wurde. Blieb viel fiir sich, antwortete 
auf Stimmen, abstinierte zeitweise. Theatralisches Benehmen. 

In der hiesigen Anstalt keine wesentliche Veranderung. Dauemd dasselbe 
affektiertee Verhalten, spricht eigentiimlioh skandierend mit sinnloser Betonung, 
gibt nicht die Hand. Hier und da sehr ablehnend, sucht keinerlei AnschluB, lebt 
ganz fur sich, besch&ftigt sich nicht, steht oft stundenlang regungslos im Saal oder 
auf der Terrasse, zeigt passiven Bewegungsversuchen gegeniiber erheblichen Wider- 
stand. 

Wenn Pat. einmal zuganglich ist, dann auBert sie eine Reihe von GroBenideen, 
sie sei Sarah Bernhard, habe Bilder gemalt, die im Salon von Paris ausgestellt wur- 
den, sie sei dieKaiserin von Frankreich und die schonste Person, die existiere. Dabei 
nimmt ihr Gesicht einen ganz verziickten Ausdruck an, sie spricht leise unverst&nd- 
liche Worte vor sich hin, lachelt unausgesetzt, macht ungemein gezierte Handbe- 
wegungen. Meist wenig zug&nglich. 

Zusammenfassung: Zunehmende Degeneration in der vater- 
lichen Familie: 

I. Generation: Alkoholismus. 

II. Generation: Nervdse Erscheinungen (Migrane). 

III. Generation: Geisteskrankheit. 

Familie Tri. 

Anna Tri. . . 

Aufgenommen am 18. 10. 1909. 

War als Kind stets gesund. Mit dem Eintritt der Menstruation im 16. Lebens- 
jahre etwa zum erstenmal Auftreten von Anfallen, die in den n&chsten 3—4 Jahren 
wochentlich 4—6 mal wiederkamen. Keine Zungenbisse, kein Bettnassen. MuBte 
die Arbeit in der Fabrik aufgeben. Von 1889 in Stellungen als Dienstmadchen, hielt 
es aber nirgends lange aus, wechselte alle paarWochen bis Monate. Kam 1906 in 
das Spital in Gebweiler, wo sie ein sehr wechselndes Befinden zeigte. Eine Zeitlang 
zeigte sie ein ganz leidliches Benehmen, dann wieder begann sie allerlei H&ndel, 
machte Skandal wegen der Schwestern, die ihr alles zum Possen taten, ihr angeblich 
in das Bett naBten usw. Wurde religios iiberspannt, brachte vage Verfolgungs- 
ideen vor, man wolle sie umbringen, ermorden, ihr denKopf dumm machen. Brachte 


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auch in der Anstalt dieselben 
vagen Verfolgungsideen vor, es 
hat ten ihr verschiedene Leute zu- 
leide gelebt, wahnt sich auch in 
Vermogensangelegenheiten beein- 
trftchtigt. Sinnestauschungen les¬ 
sen sich bei ihr nicht sicher nach- 
weisen, gibt wenig prazise Aus- 
kunft. Zeigt keinen deutlich aus- 
gesprochenen Affekt. Oft miir- 
rische Stimmung. Beginnt bald 
ich zu beschaftigen. Hat sehr leicht 
o, Konflikte mit ihrer Umgebung, 
•§ ist sehr eigensinnig, laBt sich 
| wenig beeinflussen, droht gelegent- 
co 00 £ Jich mit Gewalttatigkeiten, manch • 
mal voriibergehend auf einige 
- Tage verstimmt. 

Zusammenfassung: 
Starker Alkoholismus in bei- 
den Familien. Fortschreiten- 
de Degeneration in der miit- 
terlichen Familie: 

I. Generation: Alkoho- 


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lismus. 

II. Generation: Psychos© 
im Klimakterium. 

III. Generation: Geistes- 
krankheit. 

Familie Fri. 

Karl Fri. 

1. Aufenthalt in Stephansfeld vom 
25. 2.—5. 8. 1910. 2. Aufnahme: 

Am 4. 1. 1912 in Stephansfeld 
aufgenommen. 

Soli von jeher ein Krakehler 
gewesen sein und sich mit seinen 
Angehorigen viel herumgeschimpft 
haben. Seit einiger Zeit so unflatig 
in seinen Redensarten, daB es nie- 
mand mehr anhoren konne. Seit 
lfi-ngerem Eifersuchtsideen, auf- 
geregtes Wesen. Trieb sich als 
Hausierer herum. 

Bei der Aufnahme vollig 
orientiert, gerat sofort in lebhaf- 
ten Wortschwall, erzahlt in unge- 
reimter Weise alles mogliche, pro¬ 
test iert gegen seine Verbringung 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 




Psychiatrische Familienforechungen. 


195 


in die Anstalt, queruliert viel, macht 
pathetische Gestikulationen. Sehr einfor- 
miger Ideenverlauf. 

Im weiteren Verlauf ungemein ge- 
schwatzig, enger Gedankenkreis, sehr leb- 
haft. Schimpft viel Tiber seine Angehorigen, 
erklart alles, was man gegen ihn vorgebracht 
habe, sei erlogen. Konstantes Querulieren, 
gerat haufig in Konflikte, be schimpft und 
denunziert Pfleger. Bleibt ungemein ge- 
schwatzig, ohne besondere Ideenflucht. 

Wird beurlaubt. 

Hat seit seiner Entlassung nichts 
Rechtes geschafft und nur seiner Frau das 
Leben sehr sauer gemacht. Schimpft bei 
der Aufnahme in sehr aufgeregtem Tone, 
er sei an allem vollig schuldlos. Redet un- 
zusammenhangendes Zeug, ist kaum in 
seiner Redeflucht zu unterbrechen. Sehr 
norgelndes VVesen. Bisweilen weinerliche 
Stimmung, meist aber geschwatzig, queru- 
Kerend. Schimpft auf seine Angehorigen, 
gebraucht auch in der Anstalt iviiste Aus- 
driicke, beschimpft voriibergehende Frauen. 

Karoline Fri. 

Aufgenommen am 11. 4. 1911. 

Normale Entwicklung. Soli in der 
Schule gut gelernt haben. Nahm sich die 
Erkrankungen in ihrer Famiiie sehr zu 
Herzen. Arbeitete von morgens bis zur 
Nacht als Dienstmagd. Hat nie viel ge- 
trunken, vertrug es nicht, bekam leicht 
Kopfweh. Erkrankte in der Nacht vor der 
Aufnahme ganz plotzlich, wurde unruhig, 
fiirchtete sich, hatte Angst, glaubte, sie 
habe alles schlecht gemacht, horte reden, 
daB sie ein schlechtes Mensch sei, bezog 
alles mogliche auf sich. 

Bei der Aufnahme ruhig, zeigt einen 
depressiven Gesichtsausdruck, jammert 
leise vor sich hin, beantwortet die an sie 
gerichteten Fragen sinngemaB. Zeitlich 
und ortlich orientiert. Halt sich nicht fur 
krank, habe nur kalte Hande und kalte 
FiiBe. Sie habe geschrieen, weil sie geglaubt 
habe, sterben zu miissen. Habe alles raog- 
liche liber sich reden horen; daB sie eine 
Drecksau sei, daB sie sich hatte waschen 
aollen usw. Alles habe nach Schwefcl ge- 
achmeckt. iiberall sei ein iibler Geruch ge- 
wesen. Nach wenigen Tagen gleichmiitige 
Stimmung, sagt selbst, sie sei nicht mehr 


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196 


E. Witterm&nn; 


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traurig, wurde dann haupts&chlich 
nachts sehr unruhig, glaubt, sie habe 
ganz Westhalten umgebracht, jam- 
mert viel, zeigt dabei ein Behr starrea 
gebundenes Verhalten, angstlicher 
Gesichtsausdruck, der bisweilen 
durch Lachen unterbrochen wird. 
Antwortet auf Fragen nur sehr lang- 
sara. Zeigt im weiteren Verlaufe 
neben mafiiger motorisoher Unruhe 
immer ein auBerordentlich starrea, 
gebundenes Wesen, wird im Laufe 
von wenigen Monaten ganz gleich- 
giiltig, stumpf und apathisch, sehr 
ablehnend, gibt keine Antworten auf 
die Fragen inehr, macht impulsive 
Entweichungsversuche, wirftWasche 
ins Klosett, dann etwas freier, so daft 
sie mit leichter Arbeit beschaftigt 
werden kann. Pat. bleibt aber dabei 
auBerordentlich ablehnend und hat 
noch immer eine Neigung zu im- 
pulsiven Erregungszust&nden. 

Zusammenfassung: Ver- 
derblicher EinfluB des Alkoho- 
lismus der GroBmutter vater- 
licherseits. Die gesunde miitter- 
liche Familie konnte keinerlei 
Ausgleich schaffen: von den 
Geschwistem in der III. Gene¬ 
ration zeigen alle Zeichen von 
Geisteskrankheit oder Nervo- 
sitat und Aufgeregtheit. Die 
Krankheitsbilder gehOren ver- 
schiedenen Typen an, fallen 
aber doch wohl insgesamt in 
die Gruppe der Dementia prae- 
cox. 


Familie Run. 

Katharina Gre.. . geb. Run. . . 

Aufgenommen am 8. 5. 1909. 

Normale Entwicklung. Er- 
krankte 1902 mit Verfolgungsideen, 
die sich im April 1906 plotzlich ver- 
schlimmerten. Glaubte sich verhext. 
War ofters erregt, gewalttatig, zer- 
storungssuchtig, vernachlassigte den 
Haushalt. Wurde deshalb in das 


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Psychiatrische Familienforachungen. 


1!>7 


Grabenspital Miiihausen gebracht, war dort ziemlioh erregt, widerstrebend, vcr- 
weigerte die Nahrungsaufnahme. Kam am 19. 7. 1906 nach Stephansfeld. 

Dort sehr murrisch, abweisend, mutazistiseh, pagodenhaftes Benehmen. 
Hier in der Anstalt ortlich und zeitlich orientiert, affektloses Benehmen, grimassiert, 
dauernd gehemmt, stumpf mit Neigung zu impulsiven Handlungen. Voriibergehend 
negativistisch und stupords. Selten sprachliche AuBerung, daB sie Stimmen h6re, 
daB man sie bestrahle. Sie spiire in den Gedanken das Gezanke unter den Leuten 
und wenn jemand etwas gegen sie habe. 

Anton Run.... 

Aufgenommen am 4. 11. 1911. 

Normale Entwicklung. Als Kind gesund. Schlechter Schuler. Nach der Sohule 
Landwirt. Diente beim Mil itar. Keine Strafen. Erste Zeichen geistiger Verftnde- 
rung 1909. Im AnschluB an ein Liebesverhaltnis — das M&dchen heiratete einen 
anderen. Lief viel in die Kirche, sprach von religiosen Dingen, zeigte keinen Eifer 
mehr zur Arbeit. Horte den verstorbenen Vater schreien, soli auch Erscheinungen 
gehabt haben. Bei der Aufnahme sehr gespanntes Wesen, gibt ausweichende Ant- 
worten. Wird plotzlich aggressiv, liegt dann mit sehr gespanntem Gesichtsausdruck 
im Bett, die Arrae iiber die Brust gekreuzt, reagiert auf keine Frage, verweigert aus 
Vergiftungsfurcht die Nahrungsaufnahme, muB gefiittert werden. Gibt spater sehr 
lebhafte Halluzinationen zu, hdrt Stimmen von alien Seiten, hat auch Erscheinun¬ 
gen, iiber die er sich aber nicht naher ausspricht. Setzt passiven Bewegungen er- 
heblichen Widerstand entgegen, bleibt noch lange Zeit in einem Zustande starker 
Spannung. Voriibergehende Futterungen sind noch dfters notig. Wird im Sommer 
1912 stumpf er, etwas zuganglicher. Die Neigung zu Gewalttfttigkeiten nimmt ab. 

Zusammenfassung: Pathologische Anlagen in der Familie des 
Vaters und der Mutter. 


Familie Scha. 


Johannes Scha. oo Elise Gan. 

* 1806, f 1867 * 1808 

an Auszehrung, + 1883 an Krebs 
war Hammer- 
schmied, hat 
getranken 


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7. Wilhelm Scha. oo 
* 11. 6. 1848 1879 
Schlosser, ist 
magenleidend, 
hat frtiher 
viel 

getrunken 


Christine Ber. 


uneheliches / 
Kind 


Louise Ber. 


wurde 65 Jahre alt, 
war kr&nklich, 
hatte hohen 
Ktlcken, 

1 Jahr 
in Illenau 


* 1868 
t 1906 

an Pneumonic 


1. Wilhelm 
• 1880 

war wegen zu 
geringen Brust- 
umfanges nicht 
beim Milit&r 


2. Elise 8. Heinrich 4. Gustav 

* 18. 1. 1882 * 1884 * 1887 

ist in war beim Milit&r, war beim Mi- 
Rufach gesund, Sattler lit&r,gesund, 
| Schlosser 

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6. Marga- 
rethe 
♦ 1892 


Familie Scha. 

Elisabeth Sch ... 

1. Anstaltsaufenthalt vom 25. 7. 1910 bis 31. 8. 1910. 

2. Anstaltsaufenthalt 14. 12. 1911 bis 16. 6. 1912. 

3. Anstaltsaufenthalt 25. 9. 1912. 


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198 


E. Wittermann: 


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Als Kind schwachlich. Litt viel an Gichtem. Lernt sp&t laufen und sprechen. 
MittelmaBige Begabung, lemte aber in der Schule ziemlich gut. Nach der Entlas- 
sung aus der Schule Naherin. Litt an Bleichsucht, war stets sehr eigensinnig, leicht 
zomig. Starke religiose Neigungen. Wurde nach dem Tode der Mutter im Jahre 
1908 sehr verschlossen, sprach fast mit niemanden mehr. Beginn der geistigen 
Erkrankung am 21. 7. 1910. Begann nachts plotzlich laut zu schreien, erzahlte, sie 
habe 2 Gesichter gesehen, die aie hatten umbringen wollen, lief halb bekleidet zum 
Hause hinaus. Beruhigte sich dann aber nach und nach. Wurde in den darauffol- 
genden Nachten sehr erregt, auBerte viel Furcht, glaubte, man wolle sie und ihren 
Vater umbringen. Meinte bei Spazierg&ngen Verfolger lauem auf sie. 

In der Anstalt klares geordnetes Verhalten mit einer gewissen Neigung zu 
l&ppischen Bemerkungen. Ziemlich gleichgiiltiges Verhalten, blieb ganz indifferent, 
wenn sie iiber ihre Stimmen und Gestalten Auskunft gibt. Nachts plotzlich sehr 
erregt, mit heftigem Angstaffekt. Wird immer zerfahrener. 

Auf Wunsch der Angehorigen entlassen. 

War nach der Entlassung zu Haus vollkommen normal. Erkrankte Ende No¬ 
vember 1911 neuerdings mit Angstzustanden, hatte Gesichtstauschungen, sah 
Schutzleute, die sie abholen wollten. Verweigerte die Nahrungsaufnahme, weil sie 
Gift im Essen vermutete. 

Gibt in der Anstalt sehr gut Auskunft iiber ihre Krankheitserscheinungen, daft 
sie den Tod, Teufel und Sarge gesehen habe, glaubt, sie sei von ihrer Tante verhext 
worden. Im weiteren Verlaufe treten bei der Kranken Wiirgerscheinungen auf, 
die einen stark psychogenen Eindruck machen, sich aber weder durch Wickel noch 
durch Faradisieren beeinflussen lassen. Wird in ihrem auBeren Verhalten sehr 
unordentlich, lost sich immer die Haare auf. Im Mai 1912 betr&chtliche Besserung, 
wird verstandig, zuganglich, zeigt eine gleichmaBige Stimmung. Bei der letzten 
Aufnahme ziemlich erregt ohne besonderen Affekt, glaubt, daB man sie vergiftet 
habe, macht nunmehr einen neuen schwachsinnigen Eindruck, klagt in sehr mono- 
tiner Weise, wird nach und nach ganzlich zerfahren bei ausgesprochenem Rede- 
drang, spricht vollig verworrenes unzusammenhangendes Zeug. MuB ivegen Nah- 
r lings venveigerung voriibergehend gefiittert werden. 

Zusammenfassung: Fortgeeetzter Alkoholismus in der vater- 
lichen Familie; dazu eine Anlage zu Geisteskrankheit in der miitter- 
lichen Familie. 


Familie Wag. 


eine Nlchte Marie Wag. Stefan Wag. 00 Marie Rom. 
war lange in Stephans- 
feld, starb in Neu- 
breisach 


4. 1 Q 3. Salome 

jung gestorben * 1880, + 1909 
ledig 


1. Karoline 2. Xavier Wag. 

* 1826 * 1830, f 1911 

lebt noch, Schuhmacher 
geeand gesund, kr&ftig 
hat getr unken 


I. Joeefine Raub, * 1836, 
f 1870, war geietig ge¬ 
sund, starb an Tbc., Kin¬ 
der 1—5, 

n. Josefine Lin., 2 Schwe- 
stern und 1 Bruder ge¬ 
sund, * 1832 geist gesund. 


1. Josefine 2. Marie Theresia 8. Karoline 4. Elise 6. Xavier 6. Eugen 

♦ 1859 ♦ 15.6.1862 * 1864 * 1867, f 1889 * 1870, f 18&4 * 9.1.1874 

11909inAmerika ist in in H5rdt starb mit 22 starb mit 14 warinRufach 

Rufach geBtorben Jahren an Jahren an Tbc. 

Lungenent- 

zUndung 

2 o\ 2 ± 
gesund 

1—5 aus der 1. Ehe, 6 aus der II. Ehe. 


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Psychiatrische Familienforech ungen. 199 

Familie Wag. 

Eugen Wa ... 

Eintritt: 10. 9. 1910. Austritt: 12. 9. 1910. 

Normale Entwicklung. Guter Schulbesuch, wurde Bankbeamter. 1892 nerven- 
krank, durch geistige Anstrengung deprimiert, zog sich von jedem Verkehr zuriick. 
aB nicht mehr, blieb im Bett. Nach einem Aufenthalt in einem Luftkurort wieder 
genesen. Diente 1896 beim Militar, wurde im 2. Dienstjahre sehr menschenscheu, 
zog aich von alien Leuten zuriick. Wurde dann auf ein Gesuch der Eltem zu deren 
Unterstiitzung nach Hause entlassen. Lebte vollig zuriickgezogen, ging nicht mehr 
aus, muBte neuerdings zum Militar einriicken, von wo er 1899 entlassen wurde. Ar- 
beitete zu Hause nicht mehr, ging auf 1 Jahr in die Anstalt Stephansfeld, was auf ihn 
einen sehr giinstigen EinfluB gehabt habe. Er habe immer gemeint, daB die Leute, 
die auf der StraBe voriibergingen, sich rfcusperten und husten, bezog das auf sich, 
man wolle ihn damit argern und in Aufregung bringen. Auch das, daB verschiedene 
Leute nach den Ohren griffen, habe er als eine Anspielung auf seinen Zustand ge- 
halten. Er glaube, daB man ihm seine geistige Verfassung an den Augen ansehen 
konne; es sei auch moglich, daB man hinter seinem Riicken iiber ihn gesprochen 
habe. Kam selbst in die Anstalt, weil er fiihlte, daB er das alte Leben nicht mehr so 
weiter fuhren konne. Verlangt aber nach 2 Tagen seine Entlassung. 

Marie Therese Fech .. . geb. Wa. 

Eintritt 23. 3. 1909. 

Normale Entwicklung. Bestand das Lehrerinnenexamen. Ging mit 20 Jahren 
nach Nordamerika, war dort Hauslehrerin. Mit 26 Jahren Heirat. 1 Kind nach 
7 Wochen gcstorbcn. Machte bereits 1899 den Eindruck geistiger Abnormit&t. 
War in Amerika kurze Zeit in einer Anstalt, gesundete dort vollig. Kam Dezember 
1902 zu ihren Eltern nach Colmar, auBerte Verfolgungsideen, meinte man vergifte 
8ie, sie werde bestohlen, vertrug sich mit niemanden, machte alien Leuten Vorwurfe. 
wurde erregt und kam deshalb auch am 28. 7. 1903 nach Stephansfeld. Dort 
anfangs sehr miBtrauisch, widerst rebend, ohne Krankheitseinsicht, fiihlte sich gott- 
begnadet, fiihlte auch Geister um sich herum, halluzinierte sehr lebhaft. auBerte 
Vergiftungsideen, betete sehr in auffallenden Stellungen, hatte allerlei sonderbare 
Manieren. Gelegentlich gewalttatig. Mitunter mutazitisch. 

Nach Rufach iiberfiihrt. 

Stets eigentiiraliches, verschrobenes Verhalten, hat immer Gebetbuch und 
Rosenkranz in der Hand, schreit manchmal ganz sinnlos auf. Hie und da leichter 
Erregungszustand. L&Bt sich nur ungem in ein Gespr&ch ein, schlagt mit den FiiBen 
aus oder versucht den Arzt anzuspucken. 

Zusammenfassung: Die Anlage zu Geisteskrankheit aus der 
vaterlichen Familie; ein Beweis dafxir, dalJ die Verbindung mit einer 
zweiten Frau auch noch Anlage zur Geisteskrankheit bei den Kindern 
ubermittelt. 

Familie Hei. 

Mathilde Hei. 

Aufgenommen 25. 1. 1911. 

Entwickelte sich normal. Lernte in der Schule schwer, besonders Rechnen, 
von Charakter gutmiitig, zuriickgezogen. Mit 17 Jahren Fabrikarbeiterin. t)ber- 
.stand in dieser Zeit Typhus. Soil seither psychich ver&ndert sein. Klagte viel iiber 


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UNIVERSITY OF MICHIGAN 





200 


E. Wittermann: 


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Familie Hei. 


Theobald Hei. oo 
• 1812, f 1878 
an Unfall, war 
Bauer, hat nicht 
getrunken 


Katharine Vel. 

starb mit 
66 J&hren an 
Wassersucht 


Gottfried Mill, oo Antoinette Att. 
wurde 77 Jabre wurde gegen 

alt, hat gerne 80 Jabre alt 

getrunken 


hatte 

18 Geschwister, 
1 ($ starb an 
Hirnentzllndung 
von den 12 g 
1 tuberkulds, 

1 schw&chlioh, 
nlemand geistes- 
krank 


Theobald Hei. oo 
• 1847 1877 

Schmied, 

1st nervos, 
war nieren- 
leidend 


Henriette Mill. 8 Brilder und 
* 1860 8 Soh western, 

gesund s&mtlich gesund 


1. Caecilie 

2. Rosalie 

8. Mathllde 

4. Albert 

6. Charles 

6. d 

7. ^ 

• 1878 

• 1880 

•22.6. 1886 

• 1886 

• 1888 

kam tot auf 

starb mit 

wurde 6 Monate 

gesund 

1st in 

war wegen 

f 1891 

die Welt, 

2 Jahren an 

alt, starb an 
Hersschlag 

i 

l 3 

11 Jahre alt, 
gesund 

Rufach 

eines Bruches 
nicht beim 
MiliUr 

an Croup 

hatte die Lungen- 

Nabelschnur entziindung 
verwickelt 


Kopfschmerzen. Allmahlich trat eine Verschlimmerung ein. Pat. sprach verwirrt, 
starrte viel vor sich hin, schrie manchmal nachts laut auf, meint© es sei jemand auf 
dem benachbarten Dach. Eine weiBe Hand habe sie beriibrt und sie konne nicht 
mehr leben. Versuchte zweimal ins Wasser zu gehen. 

In der Anstalt gleichgiiltig, teilnahmlos, leerer Gesichtsausdruck, lachelt zeit- 
weise vor sich hin. Weder zeitlich noch ortlich orientiert. Gibt allerlei zerfahrene 
Auskunfte. 

Im weiteren Verlaufe kurze Zeit depressiv mit Klagen iiber Kopfschmerzen, 
lftchelt oft vor sich hin. Gelegentlich impulsive Erregungszust&nde. Wird spaterhin 
immer l&ppischer mit ausgesprochenen Stimmungsschwankungen und ablehnendem 
Verhalten. 

Zusammenfassung: Grofi vater mutterlicherseits Potator; Vater 
nervos. 


Familie Ba. 

Severine Ba. 

Aufgenommen am 2. 4. 1912. 

Normal© Entwicklung. Soil schon 2 Jahrc vor der Aufnahme krank gewesen 
sein. Jetzt kurze Zeit vor der Aufnahme krank, hauptsachlich mit der Idee, sie 
sei die Mutter Gottes. 

Gibt bei der Aufnahme allerlei Wahnideen an; sie stamme aus 1161, sie sei die 
Mutter Gottes und wisse das durch die Berichte. Es habe alles so geschehen miissen, 
wie es geschehen sei. Sie sei immer bei Gott und werde fur ihr irdisches Dasein 
reich belohnt. Gott sei immer bei ihr geblieben. 

Wird etwa 14 Tage nach der Aufnahme erregt, zeigt starken Rededrang und ein 
vollig verkehrtes Verhalten. Andere Patientinnen halt sie fur Heilige. Bei l&ngerer 
Unterredung wird sie vollig verwirrt. Bleibt dann lange Zeit in einem sehr lebhaften 
Erregungszustande, meint, ihr Vater sei der Kaiser, eine Mitpatientin sei dessen 
Frau. Wird dann ganzlich ablehnend, verfallt in schweren Stupor mit flexibilitas 
cerea und Katalepsie, dem sich spater bei sehr gereizter Stimmung und ablehnendem 
Verhalten Erregungszustande beigesellen. 


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Psychiatrische Familienforech tinge n. 


201 


Josef Ba. 

Aufgenommen 11. 2. 1909. 
Entlassen 13. 6. 1909. 

War gesund bi8 zum 11. Jahre. 
Erkrankte dann an kariosen Kno- 
chenerkrankungen. Im AnschluB 
an die Vorbereitungen zur ersten 
Kommunion im Jahre 1880Zweifel 
uber seine Wiirdigkeit. Horte eine 
innere Stimme, machte sich viele 
Gewissensbisse bis zu Suicidgedan- 
ken. Dabei Zwangsvorstellungen: 
er miisse das Kind seiner Schwes¬ 
ter erschlagen, Jitt viel an trieb- 
artigen SelbstmordanwandJ ungen. 
Oft Streitigkeiten und Familien- 
zwiste, kam aus der Erregung 
nicht mehr heraus, war 1908 in 
der Friedmatt bei Basel, wo sein 
Zuetand einige Besserung erfuhr. 
In der letzten Zeit vor der Auf- 
nahme neuerdings viele Sorgen 
und Skrupel. Gibt auf Befragen 
eingehende weitschweifige Schil- 
derungen seines Krankheitszustan- 
dee, zeigt ein geordnetes orientier- 
tes Yerhalten, macht oft einen 
ganz affektlosen Eindruok, be- 
soh&ftigt sich eingehend mit sich 
selbst, Eeobachtet sich peinlich 
genau. Wird ungebessert ent- 
lassen. 

Zusammenfassung: 
Sch were Belastung seitens der 
vaterlichen und miitterlichen 
Familie; in den ersteren mehr 
Geisteskrankheit, in der zwei- 
ten dagegen Neigung zu Auf- 
geregtheit und Nervositat. 

Familie Mer. 

Elisabeth Mer. 

Aufgenommen 18. 5. 1909 bis 
4. 5. 1913. 

Lernte erst mit 13 Jahren 
laufen, zahnte spat. War gute 
Schiilerin. Dann Fabrikarbeiterin. 
Las sehr viel. Erkrankte Februar 
1905 mit Depression, weinte oft, 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XX. 



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202 


E. Wittermann: 


Farailie Mer. 


Philipp Mer. oo 
Schuhmacher 
wurde alt, hat 
nlcht getrunken 


Kaspar H. oo Cressentia G. 
Geschirrmacher * 1820, f 1861 
wurde alt atarb an 

Herzleiden 


Wilhelm Philipp 

gesund bei der 
I Elaenbahn 

Ig ;'g 

1. Katharine 2. August 
* 1876, f 1878 * 1877 

mlt Gle&er, 

20 Monaten gesund, oo 
am Zahnen I 

2 9 


Elise Jakob Mer. °° Anna Marla H. Georg Anton Sebastian 

* 1844, f 1904 1877 * 1860 * 1846 in an Tbc. f 

Schuhmacher, macht aehr gesund Amerika 

atarb an Leber- einf&ltigen | 

leiden, hat ge- u. beschrfink- 2 cT 

1 9 trunken ten Eindruck 1 9 


8. Marie 4. Eugenie 6. Bertha RElisabeth 7. Augustine 8. Henriette 
*1879 * 20.4,1881 *1888 * 4.7.1884 * 1886 *1892 

gesund, oo 1st in gesund 1st In f 1889 Verk&ulerin 

| Rufach Rufach gesund 

1 9 


machte sich Vorwiirfe, wurde spater einsilbig, aO nicht mehr, kam am 21. 7. 1905 
nach Stephansfeld. Dort ruhig, stumpf, gehemmt, mit Neigung zu Impulsivitaten. 
RiB einen Spiegel von der Wand. Zeigte triebartiges Davonlaufen. Gelegentlich 
abweisend, negativistisch. Verblodete merklich. Nach und nach traten Erregungs- 
zustande bei vorwiegend l&ppischem Verhalten auf. Von Stephansfeld hierher 
iibergefiihrt. 

Zeigt dauernd stumpfes ablehnendes Verhalten, gibt ausweichende Antworten, 
starrt viel vor sich hin, hie und da impulsive Erregungszust&nde, schl&gt Scheiben 
ein. Dabei auch Neigung zu anderem Gewalttatigkeiten. Geistig sehr stumpf mit 
ausgesprochen negativistischen Erscheinungen. Auf dringenden Wunsch der Mutter 
nach einiger Zeit mit Zeichen von Apathie und Indifferenz entlassen. 

Eugenie Mer. 

Aufgenommen am 8. 5. 1909 bis 31. 4. 1912. 

Mangelhafter Schulbesuch. Erkrankte 1903 ganz plotzlich mit Erregungs- 
zustand, zerrifl alles, wurde gewalttatig, verweigerte die Nahrung und kam am 
13. 8. 1903 nach Stephansfeld. Gibt Stimmenhoren zu; es werde ihr allerlei Schande 
nachgesagt: sie sei Judas, sie habe auch einmal drei tote Jungfrauen gesehen. Angst- 
lich gespanntes Wesen, Beeinflussungsideen, man nehme ihr das Blut aus den Adern. 
AuBerte Furcht vor den Geistem. Sah nachts den lieben Gott. Man gebe ihr Heil- 
wasser zu trinken, auch schlechtes Fleisch. Von Stephansfeld nach Rufach iiber- 
gefiihrt. 

Dauernd ruhiges Verhalten, aber sehr miirrisch und ablehnend, gibt auf Be- 
fragen keine Antwort, spricht spontan gar nichts. Meist recht stumpf, stets unzu- 
ganglich \md abweisend, grinst manchmal vergniigt vor sich hin. Menstruelle Er- 
regungszustande mit Neigung zumEntweichen und zu impulsiven Gewalttatigkeiten. 
Wird sehr dement, zeigt lappisches Verhalten. Auf dringenden Wunsch der Mutter 
nach Hause entlassen. 


Familie Vor. 


Geschwister Paul Vor. oo Helene Rie. 

gesund, ebenso * 1886 * 1840 

deren Kinder lebt noch, Reb- t 1896 

mann, trinkt 
viel 


1. Alfred 
* 1868 
verschollen 
in Frank- 
reich 


2. Paul 

8. Marie 4. Therese 6. Ernestine 

6. Ernest 

7. Augustine 8. August 

* 1866 

* 1868 * 1870 

* 1872 

* 1875 

* 11.«. 1878 

* 1881 

Rebmann 

t 1907 war in der 

OO 

trinkt 

ist in 

Schlosser 

trinkt 

warinder Anstalt 


oo 

Rufach 



Klinik in Hbrdt, 
StraBburg treibt jetzt 

I 

kinderlos 




I ein Schnaps- 

, 





1 geschftft 






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auBerehelich 

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gestorben 





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Erkra dI&y •'. IjiOtf in Parity mi*. Mv 
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Wurde rmeb SU'filiari^foldfaWrfiihri. ih^n. 
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mit MaUeisrous upd K^gat;ii?&nnk« Ah* 
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don moist oiv %rhr vibftilirinn<fe. : Vbr 
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Ht-p. Von Ifonit a it\ 1. 7. IU0K hv'dsV 
In rfatittrsidem Er> 
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ftae)* ^u^<:h ‘wbergcfuhrt. 

Hie* giilteronfantlicb. negatirintiMi^if 
gibt keinerjej AcL<fcnttft, kratei unmer in 
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Hf^ren hcruiiv rmieln rhythmiseli# *to- 
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dement and umii%ixri0efa', 

i^&rnilie LujJ. 

MatUiWe L ad.. . .. _ . 

. Awi^flcifntTOO 3(k. i . i£I h ' • 

Erijdi/sr Jitigpiblibb i mntm geismid. Trug 
tfici vial fiiit Hdr^t^edai&en. '£twa 
1 Jahr vor der Aufnnbuio jpfiryx^Jii^^b ;W^ 
knvnkt. Zog vicl aiif den>'t raiiem IieTWg, 
^ihijnpfUr in waiter Weia*\ tub]to stef* 
beetnlrachugt» s<:hlu«£ die ^rhdben 
Oemebuldiausas exit, ureinle. d/ifJ ihr *>&■ 
Mann ShifemuU 10ij OOUAH *ojh afctty 
dbsaen SbFm babe thr die Ete» ver^prodvep;, 
In dot ■Ali&ttH iieathoh ungertipd^ 
I^ppiwrintir Yitflutitea* Ifcicbt *geo>ktc.r 
Stiimmuig y hit]r an ihrvn Remits- ♦inti 
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f^hr imrobiges .g«rdzh\* Yerhttiteru *b 
lebri^mb linnet rfadernd ab^jfiei Jfo^u/ 
(raehtigun^ktwi' vm\ hanpmehh’filv &pf. 

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Aa^unrrirnfjii i, iO. HUS. 

In icier Anhalt: zeitlicb u«rt tirtlich 
unenti&t: fbv Afiitvnge ^*ehr ^bletinciidif^ 
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204 


E. Wittermann: 


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sei angestellt worden, um ihn zu vergiften, 
man habe ihm Glassplitter in das Essen 
gemacht, will gegen den Arzt, welcher ihn 
behandelte, einen ProzeB austrengen, weil er 
nicht mit Rontgenstrahlen untersucht worden 
sei. 1st in seinen sprachlichen AuBerungen 
sehr zerfahren, gibt aber Stimmenhoren zu, 
die liber ihn, seine Vergangenheit, seine Zu- 
kunft sprechen und ihn auch gelegentlich 
beschimpfen, Ungemein weitschweifig, ohne 
besonderen Affekt. Grimassiert sehr stark. 
Wird im weiteren Verlaufe immer gereizter, 
drohender, mit Neigung zu impulsiven Ge- 
waltt&tigkeiten, Queruliert sehr viel, bringt 
hypochondriBche Ideen vor, sein Blut sei ganz 
anders, als das Blut von anderen. Wird zu- 
sehendes dementer. 

Zusammenfassung: Fortschrei- 
tende Entartung in der vaterlichen 
Linie. 


Familie Doll. 

Franziska Sey..., geb. Doll. 

Aufgenommen 18. 6. 1909. 

Soil mit 16 Jahren geistig erkrankt sein, 
sagte sie habe eine Schlange im Him, die 
durch die Nase heraufgekommen sei. Zeigte 
sehr starken Geschlechtstrieb. Von 1870 bis 
1890 4 mal in Stephansfeld. Jedesmal Starke 
Erregungszustknde mit Rededrang, Sohlaf- 
losigkeit und Unruhe. Zeigte ein ganz kin- 
disches Verhalten. Allerlei verkehrte Hand- 
lungen. Hie und da GroBonideen, halluzi- 
nierte massenhaft. Seit 1890 unausgesetzt 
in An8talten mit periodischen Erregungs- 
zust&nden bei dauemd lappischem Verhalten. 
In ihren Erregungszustanden sehr verschro- 
ben, grimassiert, gibt Stimmenhoren zu, 
zerreiBt viel, verkennt die Personen, kommt 
schlieBlich in einen Zustand von dauernder 
Unzuganglichkeit. 

Michael Doll. 

Vom 18. 2. 1874 bis 11. 5. 1876 in 
Stephansfeld. 

Normale Entwicklung. Lebhafter gut- 
miitiger Charakter. Lernte in der Schule gut. 
Gutes Gedachtnis. Keine auffallenden 
Charaktereigenschaften. Erkrankt© einige 
Monate vor der Aufnahme mit hypochon- 
drischen Ideen, wurde dann im AnsehluB 
an den Tod seiner Mutter sehr aufgeregt, lief 
immer davon, ging halb angekleidet auf den 


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Psychiatrische Familienforschungen. 


205 


Kirchhof, um seine Mutter zu suchen. Wurde immer aufgeregter, konnte nioht 
raehr im Bett gehalten werden. Sehr starker Bewegungsdrang. Horte nachts 
Stimmen. Zeigte in der Anstalt ziemlich unruhiges Wesen mit hypochondri- 
sehen Vorstellungen, klagte iiber Mattigkeit. Es seien auch Anfalle bei ihm aufge- 
treten. Beruhigte sich dann bald, horte noch einige Zeit Stimmen, konnte aber zur 
Arbeit verwendet werden. Besserte sich, ohne daB sein schlaffes hypochondrisohes 
Wesen eine besondere Anderung erfahren h&tte, hatte keine EntschluBf&higkeit 
mehr und wurde auf Wunsch seiner Angehorigen entlassen. 


Familie Wet. 

Armand Schm. oc CAcilie Str. 

El tern Jung gestorben • 1809, f t878 * 1819 

war eln tttch- 11894 

tiger Mann 

2 BrUder Brigitta Leodegar Wet. oo Celestine Schm. 4 BrUder, die alle 

2 Schwestern wurde 60 Jahre alt, *1846, f 1884 1871 *1860, nervfts, gern tranken 

schwAchlich war geisteskrank, an Lungenleiden, hat ein 2 Schwestern 

wards gam teil- war Wirt, hat ge- sonderbares 

nahmslos und glexeh- trunken Benehmen 

gUltig 


1. Anna 

2. Armand 

8. Marie 

4. Emilie 

5. Bertha 

6. Charles 

7. Josefine 

8. Madeleine 

* 1872 

*1878 

• 1874 

* 1876 

* 1876 

* 1878 

•1880 

• 1884 

t 1878 

ist Lehrer 

gesund 

i b t in 

+ 1876 

f 1902 

f 1880 

gesund 

an Ruhr 

1 

2 3 

8 U 

Rufach 

mit 

6 Wochen 

an UnfaU 

an Gichtern 



gesund 

2 i 


an Gichtern 







F a m i 1 

ie Wet. 




Emilie Wet.... 

m 







Aufgenommen 20. 2. 1912. 

Immer sehr nervos, eigensinnig, lernte in der Schule gut. Mit 21 Jahren schwere 
Bleiehsucht, kam dann wiederholt nach Stephansfeld. War dort sehr erregt, 
sagte, sie habe die Mutter im Totenbaum gesehen. Sah allerlei Heilige, schwarze 
Gestalten, schwarze Katzen, den Teufel, meinte pie sei der Kaiser, der Herrgott. 
Sehr lebhafte Erregungszustande mit stereotypen rhythmischen Bewegungen. Sehr 
erotisch. Bisweilen ganz ekstatische Zustande. Dann wieder Verfall in Stupor, ist 
ganz unzuganglich, liegt bewegungslos im Bett. Bessert sich nach und nach, zeigt 
beschrankte Krankheitseinsicht. Die einzelnen Erregungszustande gleichen sich 
immer, nur werden sie immer langer und die freien Zwischenzeiten immer kiirzer. 

In Rufach au Beret geziertes sprunghaftes Verhalten, sehr zerfahrene AuBe- 
rungen, gibt an, sie sei hier im Himmel. Ungemein erotisch und zudringlich. In 
ruhigen Zeiten ganz verschroben und zerfahren. Manchmal leicht gereizte Zust&nde. 

Zusammenfassung: Potus und Anlage zu Geisteekrankheit in 
der vaterlichen Familie; groBe Kindersterblichkeit in der Reihe der 
Geechwister von Patientin Emilie Wet. 


Familie Mar. 

Emilie Mar... 

Aufgenommen am 27. 4. 1911. 

War in der Kindheit immer kranklich mit vielen Ausschlagen, machte aber in 
der Schule gute Fortschritte. Dann als Fabrikarbeiterin. Von Charakter immer 


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206 


E. Wittermann: 


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Familie Mar. 


Michael Ken. oo Mel&nie Fon. 


• 1828, f 1882 
hat nicht 
getrunken, an 
Unfall f 


* 1826 
lebt noch 


eine Schwester 
war 

epileptisch, 

wurde 

dement 


Emil Mar. 

• 1866, f 1876 
hat gern ge¬ 
trunken 


Sophie Ken. 

• 20. 2. 1866 
i81 zur Zelt ganz 
gelstesgestort, 
klagt ilber 
Pfelfeu in den 
Ohren, schelnt 
Stimmen zu 
hdren 

Emilie 
• 3. 6.1875 
ist in Rufach 


Emil 
• 1867 
in Paris 


1 ? 

2 C 


Michel 
* 1849 
Chauffeur, 
gesund 


12 


(S 

mit 

15 Jahren 
gestorben 


s 

mit 

20 Jahren 
gestorben 


etwa8 eigensinnig. Besuchte viel die Kirche. Erkrankte psychisch Mitte 1910, 
glaubte sich verfolgt, von den Nachbam beschimpft, wurde deshalb aufgeregt. 
Vom 26.11. bis 5.12.1910 in der psychiatrischen Klinik zu StraBburg. Dort audauernd 
Halluzinationen und Illusioncn, sieht allerlei Menschen und Tiere, hort viele Stim¬ 
men, kuBerte Beziehungs- und Verfolgungswahn, ist leicht kngstlicher Stimmung. 
Wird als invalide bezeichnet. Machte dann zu Hause allerlei Schwierigkeiten, die 
ihre Aufnahme in die hiesigc Anstalt bedingten. 

Hier leicht angstlicher Stimmung oder indifferent, glaubt den lieben Gott in 
sich zu haben, horte in sich meist franzosisch sprechen. Manchmal sei sie wie durch- 
sichtig. Sie habe viele Erscheinimgen, habe die Kommunion gesehcn, Engel, noble 
Personlichkeiten, auch Verstorbene. Halt sich fur ein hoheres Wesen. 

Im weiteren Verlaufe dauernd unter dem Einflusse zahlreicher Sinnestau- 
schungen, ohne jegliche Krankheitseinsicht, voll von Beeintrachtigungsideen, 
gelegentlich sehr gereizter Stimmung. Wird in ihren sprachlichen AuBerungen zu- 
sehends zerfahrener. 

Zusammenfassung: Zur sicher vorhandenen psychopathischen 
Anlage in der Familie der Mutter gesellt sich starker Potus von seiten 
des Vaters. t)ber die Psychose der Mutter sind keine naheren Anhalts- 
punkte zu gewinnen, es scheint sich bei ihr um zahlreiche Halluzinationen 
zu handeln, die auch im Vordergrunde des Krankheitsbildes der Tochter 
stehen. 


Familie Scho. 

Marie Scho. 

Vom 16. 1. 1912. bis 8. 3. 1912. 

Als Kind immer schwiichlich. Lerntc in der Schule schwer. Immer bleich- 
siiohtig imd nervos. Klagt e schon seit langerer Zeit vor der Aufnahme viel iiber 
Herzklopfen, machte allerlei Sachen verkehrt, wurde aber erst zu Neujahr 1912 
deutlich psychisch krank. Glaubte allerlei Sachen gehort zu haben: sie wurde um- 
gebracht wcrden, wurde zcitweise erregt, glaubte sich verfolgt. 


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Psychiatrist*he Familienforschungen. 


207 


Familie Scho. 


Martin Scho. oo Barbara Wer. 

* 1827, f 1900 * 1828, f 1905 

an Unfall an Altersschwftche 


Johann Jae. 

* 1828, f 1878 
an Unfall 

oo Barbara K. 

* 1827, f 1891 
an Influenza 


Barbara 

* 1862 
gesund 

hatte lj Kinder, 
9 leben, 

4 d, alle beim 
Militir 

Martin Scho. oo 
* 1866 
gesund, 
HolzhAndler, 
trlnkt nicht 

Salome Jae. 

* 1864 
hat viel 
getrnnken, 
machte eine 
Art Delir 
durch 

Barbara 
* 1848, f 1874 
im Kindbett 

Marie 
* 1861 

! 

2 » 

Katharine 
* 1867 

1 

8 

2 Q 

(1 (2 Tebfc, 
die andern an 
Gichtern f) 

Bmllie 
* 1867 

2 cJ 

1. Marie 2. Martin 8. Johann Martin 

* 18. 7. 1886 • 1888, f 1888 * 1892 

war in Bnfach wurde SMonate gesund 

alt, starb an 

Brechduxchfall 





Gibt in der Anstalt allerlei Beeinflussungsideen zu; sie habe viele Gerausche 
gehort und sehr schwer getraumt. Verhalt sich im weiteren Verlaufe gelegentlich 
unruhig, klagt liber Angstgefiihl, glaubt gelegentlich Glocken zu h6ren und ver- 
einzelte Stimmen, welche ihr Befehle zurufen. Bessert sich dann bald und wird 
nach Hause entlassen. 


Familie Schr. 


1 Bruder 
2 Sc h western, 
der Bruder hatte 
8 Kinder, 2 (5> 
beide kinderlos 


Mathias Schr. oo Barbara Ld. 


* 1817, t 1870 
an den Pocken, 
war sehr gesund 
und stark 


* 1817, f 1898 
war sehr stark 
und gesund 


1. Mathias 
* 1841, f 1911 
war immer ge¬ 
sund u. kr&ftlg, 
heiratete seine 
Cousine 


2. Jakob Schr. 

*8.6.1848 
Wagner, trlnkt 
etwas, war 
Soldat 


<*. sehr jung gestorben, 
i deren uneheliches 
I Kind: 

oo Marie Hoh. 

1878 * 1848, f 1887 

an Frauenleiden. Nach 
einem Klndbett gel&hmt, 

18 Jahre lang, wurde 
dann geistes- 
gestdrt, war im 
Spltal 


1. Sophie 2. Emil 8. Paul 
* 1870 * 1872 *1884 

alle kinderlos 


1. Marie 2. 

* 12.6.1874 ganz jung an 
ist in Halsbr&une 
Bufach gestorben 


Familie Schr. 

Marie Schre. 

Aufgenommen am 22. 6. 1909. 

Als Madchen geistig gesund. Erkrankte 1901 mit Erregungszustanden, wurde 
tatlich, drohte anderen Personen, glaubte sich verfolgt, haUuzinierte, sprach mit 
sich selbst. Deshalb voriibergehend in der StraBburger Klinik. 17. 6. 1902 nach 
Stephansfeld. Gab wenig Auskunft, nahm gezwungene Haltungen ein, war erregt, 
grimassierte, verweigerte die Nahrungsaufnahme, zeigte stereotype Bewegungen. 
Gelegentlich plotzlich Gewalttatigkeiten, speichelte. Obstipation. Nach Rufach 
iiberfuhrt. AuBerlich ruhig, spricht nicht, antwortet nicht, zeigt negativistische 
Erscheinungen, starker SpeichelfluB. Gelegentlich leicht erregt, mitunter unrein, 
unbeschaftigt, antwortet nie auf Fragen, auch spontane AuBerungen fluBerst selten. 


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208 


E. Wittermann: 


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Fa mi lie For. 

Karoline For. 

Aufgenommen am 5. 4. 1911. 

Soli friiher immer gesund gewesen sein 
und in der Schule gut gelemt haben. Arbei- 
tete nach der Schule in einer Fabrik. Er- 
krankte ganz plotzlich am Tage vor der 
Aufnahme, lief in die Kirche, betete an den 
Webstiihlen in der Fabrik, ging zur Polizei 
und bat, man solle sie verhaften, weil aie 
Gott beleidigt habe; sie habe Sachen ge- 
trftumt, welche verboten seien. Gibt hier 
Halluzinationen zu: ee seien ihr allerlei Ge- 
danken eingekommen, man habe ihr durch 
das Telephon zugerufen, erkl&rt dann plotz- 
lioh, eineStimme habe ihr verboten, weiter zu 
spreohen, sie wcrde sonst best raft. Ant- 
wortet nur sehr widerstrebend. 

Im weiteren Verlaufe vollig stereotypes 
Verhalten. Hort immer sehr viele Stimmen, 
bittet jedesmal urn Verzeihung, bringt zahl- 
reiche Selbstbeschuldigungen vor, macht 
dabei aber einen ziemlich leeren Eindruck. 
Wird vollig monoton, bleibt ganz still fur 
sich, halluziniert sehr reichlich. Bald ganz 
zerfahren. Erkrankt an Tuberkulose, der 
sie im Juni 1913 erliegt. 

Zusammenfassung: Anlage zu 
Kretinismus und Mongolismus aus der 
miitterlichen Familie. Auch die Patien- 
tin Karoline For. zeigt© kretinistischen 
Habitus. 


Familie Wal. 

Hortense Wa. 

1. Anstaltsaufenthalt 28. 4. 1909 bis 
3. 7. 1909. 

2. Anstaltsaufenthalt 18. 10. 1909 bis 
9. 7. 1910. 

3. Anstaltsaufenthalt 21. 7. 1910 bis 
17. 11. 1912. 

Erkrankt im April 1909. Machte nor- 
maleEntwicklung durch. Lernte in der Schule 
sehr gut, begabt. Arbeitete nach der Schule 
in einer Spinnerei, muBte aber die Arbeit 
wegen korperlichcr Schwache aufgeben. Seit- 
her stets zu Hause. Wurde im Friihjahr 
1909 erregt, vorwiegend heiterer Stimmung, 
lachte, sang und sprach sehr viel, hatte 


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Psychiatrische Familienforseh ungen. 


209 


starken Bewegungsdrang. Wenige Tage 
vor der 1. Aufnahme Nahrungs verwei- 
gerung und Urinverlialtung. 

Bei der Aufnahme in lebhafter Er- 
regung, kokette Bewegungen, spricht 
vor 8ich hin, singt ab und zu, gibt 
schnippische Antworten. Zeitlich und 
ortlich orientiert, gibt widersinnige Ant¬ 
worten. Beruhigt sich dann Ende Mai, 
zeigt sich aber noch lange einsichtslos, 
wird ablehnend, macht einen zerfahre- 
nen haltlosen Eindruck. Auf dringen- 
den Wunsch der Angehorigen ent- 
lassen. 

MuB wegen neuerlioher Erregung 
wieder in die Anstalt gebracht werden; 
war uber die ganze Zeit ihrer Beurlau- 
bung nicht frei von Krankheitserschei- 
nungen. In der Anstalt stumpfes, ab- 
lehnendes Benehmen, miirrischer Ge- 
sichtsausdruck, l&ppisches Verhalten, 
gelegentlich unsauber, gebunden, gibt 
auf Fragen lange Zeit keine Antwort. 
Auf dringenden Wunsch der Ange¬ 
horigen neuerdings beurlaubt. 

Bei ihren Angehorigen am 13. 7. 
1910 plotzlich Erregungszustand, mit 
sinnlosem Schreien. Wird dann stupo- 
ros und negativistisch, muB zur Pflege 
in die Anstalt gebracht werden. 

1st in volligem Stupor mit starker 
Muskelspannung, steht steif und be- 
wegungslos da, negativistisch, weicht 
Xadelstichen aus. Beginnt dann zu 
speichel n. Kein ausgesprochener Affekt. 
Keine impulsiven Erregungszust&nde. 
Losen des Stupors im weiteren Verlaufe, 
aber dauemd sehr gespanntes Verhal¬ 
ten. Voriibergehend erregt, mit* star- 
kem Rededrang, in welchem die Kranke 
ganz unzusammenhangendes Zeug da- 
herredet. Hie und da sehr geringe Nah- 
rungsaufnahme, so daB die Fiitterung 
bei sehr starkem Widerstreben der 
Kranken sich als notig erweist. Geht 
korperlich sehr zuriick. Durchf&lle 
unter Erscheinungen der Darmtuber- 
kulose. Gestorben. 



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Von 14 Geschwistern 
6 frtlh gestorben; die 
anderen: 

1. Jean, * 1856 + 1909 an 
Lungenddem. 

3. Albert, * 1861, 2 
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4. August, * 1868, f 1878 
an Typhus. 

5. Karl, * 1864, 2 1 £ 

gesund. 

6. Marie, * 1866, 3 tf. 

7. Philomene, * 1868,3 (?. 
a Elise, * 1871, 1 £. 


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Farailie Pet. 

Therese Pet. 

Aufgenommen 21. 9. 1911. 

Entwickelte sich normal, lernte gut, 
war intelligent. Trat in eine Stellung 
ak Gouvernante ein, wechselte haufig 
ihre Platze und hatte so in einem Jahr 
7 verschiedene Stellungen. Der Grund 
hierfiir liegt darin, daB Pat. sich hyp- 
notisiert meinte und glaubte, man tue 
ihr Gift ins Essen. Wurde dabei sehr auf- 
geregt, wollte immer von zu Hause fort, 
um den Stimmen zu entgehen, beschimpfte 
manchmal die Nachbarn und ging auf 
die Angehorigen los. AB infolge von 
Vergiftungsideen zeitweise nichts. 

In der Anstalt werden zahlreiche 
Sinnestauschungen auf alien Gebieten 
zugegeben, sie sei beeinfluBt worden, die 
Gedanken seien ihr weggenommen worden, 
sie habe oft Dinge geredet, die sie eigent- 
lich nicht sprechen wollte. Gibt dann 
allerlei ganz phantastische Sinnestau¬ 
schungen: sie sei photographiert worden, 
in alle Kinematographen und Zirkusse 
sei sie gefiihrt worden. Von einem Bilde 
war sie ganz geblendet. Man habe 
Komplottc gegen sie gesclimiedet. 

Im weiteren Verlaufe gelegentlich 
sehr erregt infolge der Sinnestauschungen, 
die sie ganz verwirren, leidet gelegentlich 
selbst sehr darunter, weint infolge der 
Qualereien, denen sie ausgesetzt sei. So 
hort sie, sie solle gehangt werden. Hat 
allerlei ganz phantastische Erscheinungen. 
Wird immer zerfahrener und unzu- 
ganglicher. 

Zusammenfassung: Der 
GroBvater miitterlicherseits war ein 
arger Trinker, seine spatere Nach- 
kommenschaft zeigt eine relativ 
groBe Sterblichkeit. Die Familie 
des Vaters ist im allgemeinen ziem- 
lich schwachlich. Ein Bruder des 
Vaters machte bei der Blutvergif- 
tung ein Delir durch, der Vater 
selbst soil zur Zeit der Konzeption 
der Kranken ziemlich viel getrunken 
haben. Relativ rascheGeburtenfolge. 


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Psychiatrische Familienforachungen. 


211 


Familie Gil. 


Jacques OIL oo Margarethe Hor. 
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Anna May 
* 1818 
t 1896 


oo Jacques Josephine Marie Anton GIL oo 

* 1800, f 1862 | ? ♦ 1818, + 1900 

an elner Ope- Josephine | war Rebmann, 

ration, war oo Ulm, war 8rf soli nicht ge- 
Rebmann in Hdrdt 6 Q trunken haben 


Xavier Qill. oo 1 . Celestine Gil. 

• 1840 1870 * a 8. 1840 

macht einen gut erhalten, 

sckwacheinnigen rttstlg 

Eindruck 


1. Melanie 2. C&sar 
* 1. 9. 1874 * 1878, + 1878 

ist in Rufach mit 15 Tagen 
an Glchtern 


2. Anton 8. Seraphine 4. Martin 


* 1856 

♦ 1868 

* 1866 

f 1898 

f 1901 

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Therese Wen. 
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6. Adele 6. Robert 7. C&sar 

* 1867 --- 

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an Lungen- . .. 

entztindung *^ ar ‘ >e £ r m J* 
einigen Wochen 
an Glchtern 


Familie Gil. 

Melanie Gil. 

Aufgenommen 19. 2. 1909. 

Als Kind still und gutmiitig. Schlechtes Gedachtnis. Erste Zeichen einer 
Geistesstorung Ende 1905. Glaubte, daB man ihr etwae in den Kaffee getan 
habe, auBerte allerlei Heiratsideen, brachte allerlei sexuelle Beschuldigungen 
gegen die Mutter vor und meinte, die Eltern wollten sich ibrer entledigen. Wurde 
immer erregter und muB deshalb am 15. 5. 1906 nach Stephansfeld gebracht 
werden. War damals ziemlich aufgeregt, zeigte ein geziertes Wesen, abstinierte 
gelegentlich einige Tage, wurde aber schon am 3. 8. 1906 auf flehentliches Drangen 
der Mutter entlassen. Zu Hause keine weeentliche Besserung; war sehr erregt, 
schlug die Eltern, zerschlug alles Geschirr, glaubte reich zu sein, wollte heiraten. 
MuBte wegen zunchmender Erregung am 21. 1. 1907 neuerdings nach Stephans¬ 
feld gebracht werden, von wo sie hierher iiberfuhrt wurde. Wurde bald sehr ver- 
schroben, brachte allerlei vage GroBenideen vor, sagte, sie sei Kaiser von Stephans¬ 
feld, beschaftigte sich nur wenig. 

In der hiesigen Anstalt unzuganglichesVerhalten, ablehnendes Wesen. Gelegent¬ 
lich AuBerungen, sie wolle hohe Offiziere heiraten. Vemachlassigte sich auCer- 
lich sehr, wird immer verschrobener, gelegentlich infolge sexueller Beeintrach- 
tigungsideen heftig erregt. Geziertes manieriertes Wesen, nur voriibergehend 
besch&ftigt. 

Zusammenfassung: Es handelt sich hier um einen der bei una 
ziemlich seltenen Falle, in denen die Blutsverwandtschaft eine Rolle 
spielt. Der Vater macht einen ziemlich schwachsinnigen Eindruck. 
Eine Verwandte litt an Geisteskrankheit und war in H6rdt. Zu be- 
merken ist, daB die Kranke Melanie Gil.... ein auBerordentlich stark 
degeneriertes Aussehen zeigt und an ihr nahezu alleDegenerationszeichen 
gefunden werden konnen. 


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Familie Stei. 

Emma Stei. 

Vom 6. 11. 1911 bis 26. 12. 1911. 

Soil schon als Kind immer angstlich 
gewesen sein. Lemte in der Schule gut. 
Nach der Sehule in einer Fabrik. In den 
letzten Jahren oft Klagen iiber Vber- 
anstrengung. War sehr empfindlich, 
glaubte sich sexuell beeintr&chtigt. Wird 
wegen betr&chtlicher Erregung in die 
Anstalt gebracht. 

Gibt in der Anstalt allerlei Sinnes- 
tauschungen zu: sie habe Klopfen gehort, 
am Fenster sei jomand vorbeigelaufen, 
das Licht sei ausgeloscht und sie habe 
gemeint, ihre Eltern sterben. Beruhigt 
sich in der Anstalt sehr bald, wird erheb- 
lich freier und zug&nglicher, besch&ftigt 
sich und kann betrachtlich gebessert 
entlassen werden. 

Zusammenfassung: Die 
GroGmutter miitterlicherseit8 soli 
in Stephansfeld gestorben sein, wo¬ 
rd ber sich leider keine naheren 
Aufzeichnungen finden lassen. Der 
Vater war ein arger Trinker, machte 
ein Delir durch und kam sozial sehr 
herunter. Geburtenfolge in 2jahri- 
gen Intervallen. Eine Schwester 
soil nervos sein. 

Familie Rio. 

Maria Anna Hum . . . geb. Rio . . 

Aufgenommen am 9. 2. 1909. 

Normale Entwicklung. 1891 verhei- 
ratet. 9 Schwangerschaften. Stillte selbst 
bisweilen 2 Jahre lang. 1907 Abortus. 
April 1907 psyehische Veranderung: sprach 
viel von religiosen Dingen, machte sich 
viele Gewissensbisse, fiirchtete umge- 
bracht zu werden, horte zahlreiche Stim- 
men. Vom 4. 5.—12. 8. 1907 in Stephans¬ 
feld. Dort sehr gequalt, gespannt, horte 
Befehle, durch Stimmen, zeitweise ganz 
ablehnendcs Wesen, muBte mit der Sonde 
gefiittert werden. Spater lappisch, albeme 
Heiterkeit mit Befehlsautomatie und 
starker Verbigeration. 


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Psychiatrische Familienforschungen. 


213 


Wurde gebessert entlassen. Hielt 
sich zu Haase gat bis 1009. Began n um 
diese Zeit schlecht zu schlafen, lief viel 
fort, 8prach von Teufeln, glaubte sich 
verhext. Drohte das Haus anzuzlinden, 
wollte die Kinder vergiften and die ganze 
Welt vemichten. Deshalb in die hiesige 
Anstalt. 

Hier lappischer Erregungszustand, 
ganz l&ppisohes Wesen, gibt keinerlei 
verst&ndige Auskunft, rhythmische Be- 
wegongen. Schnauzkrampf. Beziehungs- 
lose Antworten. Kataleptische Erschei- 
nungen. Oft sehr gereizt, schreit ganz 
unmotiviert, schlagt in sehr derber Weise 
zu. 

Marie Luise Boss. . . . geb. Rio . . 

Aufgenommen am 19. 2. 1909. 

Soil immer sehr iiberspannt ge- 
weeen und den Mannern nachgelaufen 
sein. Heiratete mit 38 Jahren. 4 Schwan- 
gerschaften. Letzter Partus November 
1907. Seither verandert, ftuBerte vage 
Beeintrachtigungsideen und zeigte ganz 
unmotivierten HaB gegen allerlei Per- 
sonen. Wurde immer erregter, brachte 
Verfolgungsideen vor und muBte am 7. 
7. 1908 nach Stephansfeld gebracht wer- 
den, wo sie bis 4. 9. 1908 verblieb. 
Rasonierte anf&nglich, schimpfte viel, 
beruhigte sich aber bald, war gelegent- 
lich erregt. Wurde genesen entlassen. 

Schon am 7. 10. 1908 erfolgte neu- 
erdings die Aufnahme in Stephansfeld. 
Sie war sehr erregt geworden, hatte 
einen Nachbarn miBhandelt und groBen 
Larm verursacht. Zeigte eine lappische 
Erregung, verbigerierte, oft sehr gereizt 
und unzuganglich. 

In der hiesigen Anstalt dauernd ziem- 
lich aufgeregt, in lappisch-heiterer Weise. 
Bekommt mit alien Kranken Konflikte, 
neigt zu Gewalttatigkeiten. Gelegent- 
lich sehr aufgeregt, verschrobenes Wesen, 
oft gereizter Stimmung. 

Zusammenfassung: Kom- 

bination von Anlagen zu Geistes- 
krankheit aus der vaterlichen und 
miitterlichen Familie. GroBe Hau- 
fung von Geisteskrankheiten in der 
III. Generation. 


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II 


Familie Fre. 

Joseph Fre. 

Aufgenommen 26. 3. 1909. Aus- 
getreten 26. 9. 1912. 

Erkrankte 1904 beim Milit&r, 
von wo er entlassen wurde. Im 
Spital Miilhausen 8 Tage, dann 27. 
10. 1904 nach Stephansfeld. Ortlich 
und zeitlich nicht orientiert. Ab- 
weisendes Verhalten, stuporos, 
manchmal aggressiv. Wurde Mai 
1905 zuganglicher. Plotzliche Ver- 
schlimmerung.' mit Neigung zu Ge- 
walttatigkeitcn. Ende 1905 sehr 
erregt, schreit sehr laut, grimassiert. 
Wird Ende 1905 wieder sehr ab- 
lehnend, mutazitisch. Reagiert in 
der hiesigen Anstalt auf keine Frage, 
zeigt deutliche negativistische Nei- 
gungen, nimmt spontan Nahrung 
zu sich. Neigung zu Unreinlichkeit. 
Dauernd das Bild leichten Stupors 
mit Mutazismus und zeitweiliger 
Katalepsie. Stirbt nach heftigen 
Durchfallen. 

Adele Fre. 

Aufgenommen 26. 4. 1912. 

Normale Entwicklung. AlsKind 
gesund. In der Schule mittelm&Big. 
Charakter gutmiitig. Arbeitete nach 
der Schule in der Fabrik. Beginn 
der Erkrankung 1909. Wurde bos- 
artig, beschimpfte die Eltem, schrie 
viel zum Fenster hinaus, sagte, sie 
habe eine Singmaschine im Kopf, 
glaubte, daB man sie bestchlen wolle. 
Meinte auch unter dem Einflusse 
von Elektri8ierma8chinen zu stehen. 

In der Anstalt zeitlich und 
ortlich orientiert. Ruhig, geordnet, 
ohne besonderen Affekt. Gibt an, 
sie habe iiberall und wohin sie auch 
gehc, Elektrizitat an sich, sie habe 
eine Singmaschine in den Ohren, die 
sie hindere, nachts zu sehlafen. Man 
ziehe ihr die Gedanken aus dem 
Kopf. Sie sei sehr geplagt. Bezieht 
allerlei Ereignisse, die sich in der 
StraBc, in der sic wohnte, abspielten, 
auf sich, bringt in ihren AuBerun- 
gen allerlei sonderbare Wortneu- 
bildungen vur, meint, daB die 


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Psychiatrische Familienforschungen. 


215 


Leute, mit denen sie zu tun hatte, Masken vor ihren Gesichtern getragen h&tten. 
Beechwert aich in Briefen iiber die Beeintr&chtigungen, denen aie ausgesetzt sei, 
beschaftigt sich ein wenig, zeigt keinen besonderen Affekt. Wird Friihjahr 1913 
vie] stumpier und apathischer, spricht spontan von ihren Halluzinationen. 

Anna Fre. 

Aufgenommen 21. 1. 1913. 

Normale Entwicklung. Gemiitsart lebhaft. Arbeitete naeh der Schule als 
N&herin. Seit 1908 zeitweise aufgeregt, bleibt tagelang im Bett liegen. Allmahlich 
sich entwickelnder Schwachsinn. Zerschlug im Haushalt in der letzten Zeit alles, 
bedrohte ihre Umgebung mit dem Messer. 

In der Anstalt ortlich nicht orientiert, zeitiiche Orientierung erhalten, moti- 
viert den Erregungszustand zu Hause mit Zorn, stellt Sinnestauschungen in Ab- 
rede, macht einen mifitrauischen, miirrischen Eindruck, lacht ofters l&ppisch 
vor sich hin, zeigt im Verlaufe ein gebundenes, indifferentes Verhalten, ohne spon- 
tane sprachliche AuBerung. Antwortet auch auf Fragen nicht. Dazwiachen 
plotzlich auftretende Erregungszustande mit starker Gereiztheit und Drohungen. 

Zusammenfassung: AuBerordentliche Haufung von Goistes- 
krankheiten in dieser Familie. Kombination von Anlagen ans beiden 
Linien, die dazu fiihrt, daB von 7 Kindem nur eines gesund bleibt. 


Familie Kara. 

(3* cf Q <- 2 Schwestern 

infolge Unfallea wurde fiber infolgeUnfalles f starb mit46 Jah- sollen geistes- 

in den 60er Jah- SO J&hre alt fiber 70 Jahre alt ren an Frauen- krank gewe- 

ren gestorben leiden sen sein 

von9Geschwistern sindo Johann Peter Kam. oo Barbara Mic. OGeschwister; 1 klein 
klein an Gichtem gestor- • 1847 • 1847 f 1911 gestorben, lrait23J., 

ben, 1 c? beim Militftr an tit wegen allg. Sckwdche anLungenentzflnd. 2 fiber 60 Jahre altge- 
Tbk.t,diefibrIgenSleben Involute, trinlet war beschr&nkt worden,4 lebennoch 

1. Marti 2. Anna 8. Jeanne 4. Joseph 5. Leonie 6. Eugenie 7. Paul 8.—12. 

• 4.4. 1879 • 16.a 1882 • 2.2.1887 • 1889 f 1908 starb mit starb mit starb mit 2 8 Q 

Uidet an Hasten, war in 1st in an bds- 22 Jahre n 24 Jahren 22 Jahren starben mit 
tit nervenkranh, Eufach Rufach artiger Ge- in Hordt an Lungen- an Lungen- einigen Mo- 
macht einen etwas schwulst leiden leiden naten an 

eorutirbaren Bin - Gichtern 

druck 

Familie Kam. 

Anna Kam. ... 

Eintritt 7. 4. 1910 bis 27. 2. 1911. 

Normale Entwicklung. Lemte gut. Nach der Schule in der Fabrik, dann 
Dienstmadchen. Erkrankte 1906, war verwirrt im Kopf, konnte nicht arbeitem 
Nach 3monatl. Sanatoriumsaufenthalt Besserung, so daB sie die Arbeit wieder 
aufnehmen konnte. Im Sommer 1909 wieder Gefiihl der Schwache mit Kopf- 
schmerzen, nervoser Unruhe, unregelmaBigem Schlaf. Suchte das Biirgerspital 
Miilha^sen auf. Von dort polizeilich hierher eingewiesen. In der Anstalt ortlich 
und zeitlich mangelhaft orientiert, glaubte in einem Zuchthaus zu sein, machte 
sich Vorwxirfe wegen schlechten Lebenswandels. Glaubte den Teufel zu sehen. 

Meint, daB die Kranken hier in den Betten verwechselt wiirden und daB die 
Leute iiber sie reden. Stark gebundenes, angstlich-ratloses Wesen, gibt zogemd 
Auskunft. Verlangsamter Gedankenablauf. Sieht weiterhin viel Gestalten. MuB 
mit der Sonde gefiittert werden. Wird stark negativistisch. 

Im Oktober 1910 Besserung. Beginnt sich zu beschaftigen, nimmt spontan 
Nahrung zu sich, bekiimmert sich um die Schwester. Wird gebessert entlassen. 

Bei wiederholten Besuchen macht die Kranke einen eigentiimlich verschrobe- 
nen, verschlossenen Eindruck. 1st dauemd indifferent. 


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216 


E. Wittermann: 


Johanna Kam. 

1. Anstaltsaufenthalt vom 10. 8. 1910 bis 15. 4. 1911. 

2. Anstaltsaufenthalt vom 28. 0. 1911. 

7 Monatkind. Normale Entwicklung, lemte gut. Immer stolz, gutmiitig, 
fleiBig als Naherin. 1m AneohluB an Liebesgeschichte Entwicklung der Krank- 
heit. Wurde schwermiitig, arbeitete nicht mehr, schlief schlocht, sprach sehr 
wenig, gab an, den Teufel gesehen zu haben. In der Anstalt stuporos, starr und 
unbeweglioh, maskenartiges Gesicht, gibt keine Antwort, kommt Aufforderungen 
nicht nach. Erschwerte Nahrungsaufnahme, starkes Widerstreben gegen passive 
Bewegungen. Im Dezember 1910 Besserung, wird besch&ftigt, gibt aber noch 
schlecht Auskunft. 

Wurde ungebessert auf Wunsch der Angehorigen entlassen. 

Neuerliche Aufnahme n5tig wegen stuporosen Zustandsbilds. 1st wieder ganz 
negativistisch, affektlos, gibt keinerlei Antwort, lacht manchmal in lappischer 
Weise vor sich hin. Im weiteren Verlaufe tretcn nach leichter Besserung wieder 
impulsive Erregungszustande ein, schlagt Fensterscheiben, schlagt nach einer 
anderen Kranken, gibt nie eine verst&ndige Antwort. 

Zusammenfassung: Kombination von Anlage zu Geisteskrank- 
heit aus der miitterlichen Familie mit Potus des Vaters; groBe Haufung 
bei auffallend ahnlichen Krankheitsbildem in der folgenden Generation. 


Familie Bra. 


Jakob Bra. oo ? Utzm. c? 

soli in den 
50er Jahren in 
Stephansfeld 
gestorben 
sein 


Jakob Scha. oo Margarethe Fla. 
* ? f 1851 * 1821, f 1881 

hat game ge- an Bmst- 
trunken lelden 


Georg Christian 
I «car nicht ge- 

schcit 


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Magdalene Salome 

1st in 8te- * 1848, war im 
phansfeld ge- Wochenbett 
storben gelstes- 

krank, soil 
in einer An¬ 
stalt in der 
Schweiz ge- 
wesen sein 


Marie Jakob Bra. oo Lina Scha. Jakob 

* 1846 * 1888, f 1901 * 9. 9. 1847 * 1819 

ist zuzei- anLungenleiden, sehr einfdUig f 1910 
ten nicht trank gem , oft kinder- 

normal betrunken, tear los 

sehr base, halts 
Zeiten , in dsnen 
er mehr als sonst 
trank 


1. Albert 2. Jules 
* 10. 9. 1877 * 1879, f 1881 

ist in Rufaoh an Lungen- 
entzttndung 


Familie Bra. 


Magdalena Bra. 

Aufgenommen am 0. 1. 1900. Gestorben am 12. 11. 1908 in Stephansfeld. 

Soli schon seit vielen Jahren krank sein, allerlei wertloses Zeug gesammelt 
haben und planlos hin und her gelaufen sein. Im AnschluB an den Tod von An¬ 
gehorigen in der letzten Zeit Verschlimmerung, behauptete, ihre Mutter sei um- 
gebracht worden. 

Bei der Aufnahme ziemlich unruhig, schwatzt allerlei sinnloses Zeug, l&Bt sich 
schwer und nur fur kurze Zeit fixieren. Vollkommen desorientiert, verkennt ihre 
Umgebung, verschenkt bedeutende Summen. Sehr widerst rebend. Sonst Stimmung 
indifferent. Hockt standig an der Erde, betet fortwahrend leise vor sich hin, 
zeigt eine zerfahrene Unruhe, vernachlassigt sich sehr in der Kleidung. Ein Bruder 
sei wieder lebendig ge worden, sie habe ihn aus dem Sarge geholt. Wenig zugang- 
lich, fiihrt halblaute Selbstgesprache, fixiert nicht beirn Sprechen, zeigt allerlei 


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Psychiatrische Familienforsehungen. 


217 


sonclerbare Minieren. Scheint viel© Stimmen zii horen. lm Juni 1908 Hemi- 
plegie mit leichten aphatischen Storungen und Hemiparese. Stirbt an Pneumonie. 

Albert Bra. 

Aufgenommen 21. 11. 1910. 

Xormale Entwicklung. Lernte in der Schule gut. Krank seit 1900. Glaubte 
sich auf allerlei Weise beeinfluBt, auch durch Elektrizitat; er sei mit Elektrizitftt 
im SpaB auseinandergezogen worden. Er sei duroh viele Leute verfolgt worden, 
hatte auch allerlei Veranderungen an seinem Korper bemerkt. Gab sich dem Ge- 
nusse alkoholischer Getranke hin, wurde daduroh sehr erregt, gab in einem Er- 
regungszustande einen SchuB auf die Mutter ab. Januar 1909 nach Stephana - 
feld. Von dort hierher uberfiihrt. Dort ziemlich stumpf und abweisend, gibt 
allerlei Verfolgungsideen an, wird zunehmend konfuser. Hier im wesentlichen 
derselbe Befund, Beeintrachtigungs- und Verfolgungsideen in groBer Menge. 
Dauernd durchaus zerfahren, verworren, ohne besonderen Affekt, lehnt jede Be- 
schaftigung ab. Gclegentlich hypoohondrische Vorstellungen absonderliehen In¬ 
halts. 

Zusammenfassung: Von miitterlicher Seite her fortschreitende 
Belastung insofem, als der GroBvater geme trank, die Mutter des 
Patienten eine ziemlich einfaltige Person ist und schlieBlich bei unserem 
Patient die schwere Geisteskrankheit sich zeigte. Die miitterliche 
Familie ist im Aussterben begriffen. Die vaterliche Seite zeigt einen 
groBen Reichtum an Psychosen, von denen allerdings nur eine die 
Anstaltsbehandlung benotigte. Diese Tante vaterlicherseits zeigt eine 
ebenfalls sicher dem Bilde der Dementia praecox angehOrende Psychose. 
tfber die GroBeltem vaterlicherseits fehlen leider sichere Angaben. 
Allein es besteht immerhin die Moglichkeit, daB die Anlage zu Geistes¬ 
krankheit schon aus fruheren Generationen stammt. 


Familie Je. 

Theresia Ob. ... geb. Je.. . . 

Aufgenommen am 31. 3. 1909. 

Normal© Entwicklung. Verheiratete sich 1898. Seit Juli 1908 verandert. 
Anfanglich depressiv gestimmt, weinte viel, teilweise erregt, warf Gegenstande 
im Zimmer durcheinander, horte viel Stimmen und sah Gestalten, Teufel xmd 
Engel. Bekam Konflikte mit den Nachbam, bekam Konflikte mit dem Mann, 
warf gelegentlich das Essen fort. 

Bei der Aufnahme in die Anstalt ruhig, gibt auf Fragen keine Ant wort, 
fliistert leise vor sich hin, scheint zu halluzinieren. Stimmung labil, bisweilen 
weinerlich, dann wieder erregt, tanzt im Saale umher. Gibt gelegentlich zu, Gestalten 
zu sehen. Schimpft und schreit manchmal. Wird allmahlich zerfahrener, gibt 
l>eziehung8lose Antworten. Weiterhin vollig rautazistisch, lacht nur gelegentlioh 
lappisch vor sich hin. Scheint viele Stimmen zu horen. Grimassiert. Dement. 

Franz Anton Je. 

Aufgenommen am 25. 7. 1911. 

Normale Entwicklung. Lernte rechtzeitig gehen und sprechen. Schlechter 
Schuler, besonders im Rechnen. Wurde vom Militar entlassen wegen Geistes- 
krankheit. Er habe ofters Dummheiten gemacht, sei nachts viel umhergelaufen, 

Z. f. d. g. Near. a. Psych. O. XX. 15 


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218 


E. Wittermann: 


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habe viel dummes Zeug ge- 
schwatzt und gesungen. Manoh- 
mal habe er geauBert, daB er 
Angst im Bauch h&tte. Soil gorne 
getrunken haben. In der letzten 
Zeit vor der Aufnahme sehr anf- 
geregt, konnte nicht mehr allein 
gelassen werden. 

Bei der Aufnahme in m&Biger 
inotorischer Unruhe, manieriertes 
Benehmen, redet vorbei. Andeu- 
tung von Katalepsie. Ziemlich 
stumpf. Grimasaiert. 

Im weiteren Verlaufe sehr 
impulsiv, triebartiges Schreien, 
neigt zu Gewalttatigkeiten. Vor- 
iibergehend schlechte Xahrungs- 
aufnahme. Wird dann auBer- 
ordentlich orregt, sehr zerstorungs- 
siichtig, aggre8siv, unrein, vollig 
triebartiges Benehmen. Beruhigt 
sich allmahlich. Wird dann ganz 
stuporos, leerer Gesichtsausdruck. 
Aus dem stuporosen Zustand 
heraus gelegentlich plotzlich ag- 
gressiv. Ganz voriibergehend 
freundlicher Stimmung, dann wie- 
der sehr erregt, grimassiert, nimmt 
kataleptische Stellungen ein, die 
er lange bei be halt. 


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Zusammenfassung: 
Uber die miitterliche Familie 
waren leider keine detaillier- 
ten Angaben zu erhalten, so 
daB also hier die wichtige 
Frage iiber die Verhaltnisse 
der Vererbung bei Stiefge- 
schwistem leider nicht gepriift werden kann. Aus der ersten Ehe 
stammen zwei sicher geisteskranke Kinder, aus der zweiten Ehe neben 
vier bisher gesund gebliebenen Geschwistem der obenerwahnte Sohn 
Anton. Der Vater ist ein arger Trinker, dessen Mutter wieder an 
Greistesstdrung gelitten hat. An der Diagnose Dementia praecox kann 
kein Zweifel sein. 


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Psychiatrische Familienforschungen. 


219 


Fa mi lie Wey. 

Josephine Wey. 

Aufgenommen am 18. 7. 1910. 

Normale Entwicklung, zeigte seit jeher un- 
vertrftglichen bissigen und rechthaberischen 
Charakter, soli aber intelligent gewesen sein. Stets 
sehr reizbar, zeigte die ersten Zeichen geistiger 
Krankheit gegen Ende der 90er Jahre, glaubte, 
man sage von ihr, sie sei schwanger. In der letz- 
ten Zeit vor der Aufnahme zunehmende Reizbar- 
keit, horte in der Nacht Gerausche, glaubte, sie 
werde vergiftet, bedroht, schimpft auf harm lose 
Leute. Plotzlich auftretende Erregungszust&nde. 
warf das Essen weg. 

Gibt in der Anstalt Ger&usche und Stimmen 
zu, will aber iiber deren Inhalt sich nicht nfther 
kuBern. 1st sehr gereizter Stimmung, bringt auch 
hier bald zahlreiche Vergiftungsideen vor, verwei* 
gerte infolgedessen voriibergehend die Nahrungs- 
aufnahme, hat einen N brenzligen Geschmack ini 
Munde, meint, die Erde habe sich unter ihr ge- 
bogen. Man gebe ihr Schwefel ins Essen. Zeit- 
weise sehr laut und storend. Schimpft, offenbar 
unter dem Einflusse von Halluzinationen. Dau- 
ernd sehr gereizter Stimmung. 

Zusammenfassung: Auffallende 
Minderwertigkeit in der Geschwisterreihe 
der Patientin. Neben sicherer Geisteskrank- 
heit findet sich leichte Nervositat oder 
tTberspanntheit und groBe Kindersterb- 
lichkeit in den friihesten Jahren. Von ins- 
gesamt 13 Kindem sind nur 2 gesund und 
intelligent. Der Vater zeigt ein stilles und 
gedriicktes Wesen, die Mutter leidet an 
melancholischen Zustanden mit Gereizt- 
heit und VerdrieBlichkeit. Eine Schwester 
von ihr litt an Wahnvorstellungen. Der 
GroBvater rniitterlicherseits wurde kin- 
disch. Man kdnnte also auch hier von 
einem gewissen Fortschreiten der Entartung 
sprechen. 


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220 


E. Wittermann: 


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Fainilic Schm. 



Beide Eltern 
sehr alt geworden, 
waren 
Bauersleute 


Nicolas Lac. ^ 

ntarb mit 69 Jahren 
an Henschlag 

Anna Maria Ja. 
stammte aus ganz 
gesunder Bauerti- 
familie, st&rb mit 

72 Jahren an 
Lungenentziinduog 

klein 

*•- 

storben 

Agatha 
• 1840,11898 
war eine zeit- 
long geixtez- 
krank in dor 

Cfayi fthtinuir 

August 
* 1886 
Bebmaun 
gesund 
und rdstig 

Fran* X. Schm. oo 
* 10. 12. 1846 
f 1. 8. 1969 
an bosartiger 
Geschwulst 

4. Maria Lac. 

* 9. 8 1861 
gesund 

1. Julie 

* 1841 
gesund 

1 

2. Eduard a Rosalie 
♦ 16. 3. 1846 * 1847 

t 1. a 1909 4 1873 

an 

Herzschlag 

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OfrwpKrWjpPf 

Klinik 


1. Bichard 
* 8. 4. 1879 
ist In Rufaoh 

2. Ferdinand 
* 26. 9. 1884 
gesund 

4 £, 1 ? 

leben, 

2 3, 1 k 
gestorben 

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Familie Schin. 

Richard Schm. 

Aufgenommen am 29. 11. 1909. 

Als Kind eigensinnig und jahzomig. Wanderte nach Frankreich aus, urn 
sioh der Militarpflicht zu entziehen. Der Beginn der Erkrankung f&llt in die Zeit 
seines Aufenthaltes in Frankreich und kann nicht genauer festgestellt werden. 
Kam im Jahre 1909 in die psychiatrische Klinik nach Freiburg, nachdem er von 
seiner Mutter aus Paris wegen Geistesstorung abgeholt worden war. Zeigte in 
Freiburg ein ganz stumpfes apathisches Wesen, sprach fast gar nicht; dazwischen 
impulsive Erregungen, in denen er von Stimmcnhoren sprach. War oft sehr drohend 
und widerstrebend. Spater verfiel er in Stupor mit Flexibility cerea, wurde auf 
Dr&ngen seiner Mutter entlassen, muBte aber schon nach 8 Tagen der hieeigen 
Anstalt zugefiihrt werden. 

Hier indifferenter Gesichtsausdruck, liegt unbeweglich da, zeigt Befehls- 
automatic. Hie und da impulsive Erregungszustande, ist dauemd sehr wenig 
zug&nglich, mutazistisch, mit voriibergehenden impulsiven Erregungszust&nden. 

Zu8ammenfassung: Beide GroGeltempaare waren gesunde 

Baueraleute, die recht alt wurden. In der vaterlichen Familie zeigt 
sich ein Fall von Geisteskrankheit bei der Tante des Patienten. 

Familie Y ui. 

Jean Pierre Vui. oo Marie Die. 

2. Jean Baptist 3. Gustav 4. Marie 1. Albert Vui. oo Henriette Ber. siehe 

* 1846 * 1847 * 1850 * 1848 * 1846, t 1906 Familie 

gesuud Ber. 

1. Henri 2. Paul a Eugenie 4. Ferdinand 6. Clara 6. Arthur 
* 1874 * 1876 • 1876 * 24. 11. 1877 * 1879 * 1882 

getitig btschrdnki gesund 1st in Rufaoh 

Familie Ber. 

Martha Ber. 

Aufgenommen am 26. 4. 1910. 

Seit jeher anormal. War sehr eigensinnig. Lernte erst mit 127a Jahren 
sprechen. Wechselte oft die Schule, gebrauchte unflatige Schimpfworte, spuckte 
und trat, wenn sie nicht ihrcn Willen durchsetzcn konnto. Verschlimmerung 
um das Jahr 1902. MuBte am 10. 12. 1903 in die Klinik zu StraBburg aufgenommen 
werden, von wo sie nach Saargemiind iiberfiihrt wurde. Seither indifferentes, 
gelegentlich querulierendes Wesen, mit Neigung zu allerlei l&ppischen Streichen 
und zynisohen AuBerungen. Impulsive Erregungszustande. Von da an sehr 


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Psychiatrische Fainilicnforschungen. 
Fainilie Her 


221 


Vater war Reb- 
roann, starker 
Trinker 


Martin Ber. oo Antoinette Mon. 
• 1817, f 1887 • 1817, f 1886 

geistesgesund an Magenleiden 


Joseph Stei. ,x Madeleine Gro. 

• 1886, t 1902 • 1886, i 1900 

kluger Kopf, hatte merkwtlrdige 
litt an Diabetes Ideen, 1111 an re- 
ligidsemWahnsinn 


1. Henriette 2. Camille Ber. oo 2. Melanie Stei. 8. Maria l. Madeleine 

• 1846, f 1906 • 8. 4.1848 • 1860 • 1871 • I860 

an Schlaganfall gesund, trinkt war in der Klinik in gesund war in der Jugend 

siehe | 1 cJ in gelegentUoh 8trafiburg, nerven* geisteskrank, 

Familie 4 Rufach leidend, hat Zeiten jetzt „caraet4re 

Vui. 2 V grofler Traurigkeit special" 


1. $ 2. Laden 8. Marthe 4. Marcel 5. Marguerite 6. Camille 

Totgeburt * 1886 *21.11.1887 * 1891 * 1894 • 1900 

nervfa 1st in Rufach list nach Angabe nchwdchlich gesund gesund 

des Vaters im Rausch gezeugt) ter nig intelligent 


wechselndes Verhalten. Oft erregt, gebraucht gemeine Ausdriicke, dann wieder 
sehr gereizt und ablehnend. Wurde von Saargemiind 1904 entlassen. Hielt sich 
zu Hause leidiich, wurde spaterhin tiefsinnig, kuBerte LebensiiberdruB, drohte 
mil Selbstmord und war gelegentlich sehr erregt, so daB sie in die hiesige Anstalt 
gebracht werden rauBte. 

Hier sehr lappisches zerfahrenes Wesen, schreibt ganz monotone und inhalt- 
lose Briefe nach Hause, queruliert viel, verweigert zeitweise die Nahrungsaufnahne 
und muB voriibergehend mit der Sonde gefiittert werden. Dabei auBerordentlich 
widerstrebend. In den Erregungszustanden Neigung zu Verbigeration, wieder- 
holt tagelang einen Vera desselben Liedes. Wird dann ganz stumpf und ablehnend, 
gibt auf Fragen keinerlei Antwort. 

Ferdinand Vui.... 

Aufgenommen am 30. 6. 1911. 

t)ber die Entwicklung der Krankheit keine naheren Angaben. Kam 1906 
in die StraBburger Klinik, von dort 1907 nach Stephansfeld. Zeigte stets ein 
ziemlich ablehnendes Wesen, sprach gelegentlich von hypnotischen Beeinflussungen, 
horte Stimmen, gab beziehungslose Antworten. Dazwischen plotzlich erregt, 
drangte fort, trat nach dem Arzt. Dann wieder ablehnendes und abweisendes 
Verhalten. 

In der hiesigen Anstalt keine wesentliche Veranderung, oft impulsiv erregt. 
Keine spontanen sprachlichen AuBerungen. Ungemein zuriickhaltendes Wesen. 
Wird nach und nach immer lappischer. Geordnete Antworten sind immer sel- 
tener zu erhalten. 

Zusammenfassung: Die beiden erwahnten Kranken sind Ge- 
schwisterkinder von vaterlicher Seite her. Was die Kranke Martha 
Ber... betrifft, so zeigt sich in ihrer Ascendenz ein ziemlicher Reichtum 
an Psychosen. Ihre Mutter war wiederholt in Kliniken und macht zur- 
zeit einen ziemlich stumpfen und teilnahmslosen Eindruck. Deren 
Schwester litt in der Jugend an Geisteskrankheit und zahlt zu den 
jetzigen Originalen der Stadt, in der sie jetzt wohnt. Sie zeigt ein 
verschrobenes Wesen. Die GroBmutter miitterlicherseits ist ebenfalls 
eine merkwiirdige Person gewesen und hat an religiSsem Wahnsinn 
gelitten. Ihr Vater war starker Trinker. Die vaterliche Familie ist 
ziemlich gesund. Interessant ist, daB der Vater des Vaters unserer 


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222 


E. Witfcerinann: 


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Kranken aus zweiter Ehe ein© Tochter hatte; deren Sohn tdtete in 
einem Anfall von Geisteskrankheit seinen GroBvater und wurde in 
dieselbe Irrenanstalt gebracht, wie sein eigener Vat©r, der ein sehr eigen- 
artiger Mensch und Trunkenbold gewesen ist. 

Eb ist nicht leicht zu sagen, ob die krankhafte Veranlagung des 
Ferdinand Vui... und seines geistig beschrankten Bruders Paul auf 
das Konto der Familie Ber... zu setzen ist. Jedenfalls sind in der 
Familie seines Vaters weitere Geisteskrankheiten nicht vorgekommen. 


Familie Sell we. 


3 Briider 
1 Sch wester 
gesund, wurden 
alle sehr alt 


Karoline Schw. 

* 1880, f 1901 
war gesund, dieote 
al8 Magd, schaffte 
immer schwer 

Joseph Sektte. 

* 16.8.1847 
kiein, schw&cMich, 
ein/dUig , 

uneheliches Kind 


Maria Kur. 
*1866 

achafft in einer 
Spinnerei, hldde im 
Kopf, sehr vergefilich 


2 Briider 1 A 
2 Schwestern / 8 


1. Joseph 2. Anna 3. Marie 

♦ 4.4.1881 * 1886, f 1894 * 18.2.1887 

fl6.4.1888 an Soharlach, ist in Rufach 
lernte weder war immer sehr 
reden noch schwftchlioh 
laufen 


Familie Schwe. 

Marie Schwe. 

Aafgenommen am 30. 4. 1909. 

Lernte erst mit 3 Jahren gehen, mit 6 Jahren litt sie an Konvnlsionen. Lernte 
in der Schule schlecht. War stets sehr still und in sich gekehrt. 1904 traten reli¬ 
giose Wahnideen auf, die Kranke wurde aufgeregt und erlitt seither eine merkliche 
EinbuBe an der Intelligenz. 

1905 nach Stephansfeld. Zeigt dort ein lappisches kindisehes Verhalten 
mit sinnJosem Rededrang ohne besonderen Affekt. Zeitweise aufgeregt, spater 
ruhiger, aber unzuganglich und abweisend. 1907 entlassen. Zu Hause gelegentlich 
aufgeregt, spater bosartig, so daB sie in die hiesige Anstalt gebracht werden muBte. 

Zeigt betrachtlichen Sehwachsinn, verbigeriert, grimassiert beim Sprechen, 
lacht unmotiviert. L&ppisches kindisehes Verhalten. Meist ruhig und harmlos, 
manchmal verstimmt, murrisch und gereizt. Kindisehes ungezogenes Benehmen. 
Weitgehende Demenz. 


Familie Schn. 

Paul Schn. . . . 

Aufgenommen am 23. 1. 1911. 

Normale Entwicklung. Lernte leidlich, kam im Gymnasium bis zur Obor- 
sekunda. MuBte wegen eines Ohrenleidens die Schule verlassen. War von da 
an eigentlich zu geordneter Arbeit nicht mehr recht brauchbar. Es kam zur Ent- 
wicldung unsinniger GroBenideen; er meinte, er sei mit (’hristus verbunden und 
Paulus sei der Vermittler. Mit 22 Jahren in der psychiatrischen Klinik in Frei¬ 
burg. Brachte dort allerlei w r irre religiose Ideen vor. War lange Zeit deprimiert, 
hatte hypochondrische Wahnideen. Xach der Entlassung aus der Klinik keine 
wesentliehe .Besserung. AuBerte gelegentlich, er niiisse seinen Vater aus der Welt 


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Psychiatri8che Familienforechungen. 


223 


schaffen, damit dieser nicht mehr 
leide. Wurde immer aufgeregter, hatte 
allerlei Heiratsideen, meinte es gehe 
ein gottlicher elektrischer Geist durch 
ihn. Wird deshalb in die Anstalt 
gebraoht. 

Gibt in der Anstalt die in der 
Anamnese erwahnten Wahnideen ohne 
weiteree zu; er sei allerlei Anfechtun- 
gen ausgesetzt gewesen. Beeinflussun- 
gen direkt durch Gott. Feindliche 
M&chtc hatten auf ihn eingewirkt; er 
habe rebellische Stimmen gehort, die 
ihn zu unterdriicken versucht haben. 
I)a8 seien die Diener des Teufels ge¬ 
wesen. Gibt dann noch allerlei an- 
dere Stimmen gehort zu haben zu. 

Im weiteren Verlaufe zunachst 
kurze Zeit in maBiger motorischer 
Unruhe unter allerlei Beeinflussungs- 
ideen. Zeigt gelegentlich ein sonder- 
bar manieriertes Benehmen, macht 
allerlei sonderbare Bewegungen. Wird 
spaterhin immer stumpfer und gleich- 
giiltiger, gelegentlich unruhig, lauft 
viel umher, spricht vor sich hin, 
zeigt ein ablehnendes Verhalten und 
gibt auf Fragen nur ungeniigend Aus- 
kunft. 

Daniel Bo. . . 

Aufgenommen am 21. 1. 1911. 

( iestorben am 19. 2. 1913. 

Erkrankte mit 12 1 /, Jahren in 
nicht unmittelbarem AnschluB an 
schwei-en Unfall an petit-mal-Anf&Jlen. 
Bald danach richtige Krampfanfalle 
mit nach folgenden Vervvirrtheitszu - 
standen. Seit 1906 in der Anstalt 
in Kork. Von da wegen betracht- 
hcher Verschlimmenmg und Er* 
regungszustanden in die hiesige An¬ 
stalt gebracht. 

Hier typisch epileptische Demenz 
mit weitschweifiger Ausdrucksweise 
und sehr frommelndem Einschlag. 
Tjrpische Anfalle, ziemlich haufig. 
Nach den Anfallen manchmal 1—2 
Tage verwirrt, miirrisch und reizbar. 
Bisweilen paroxysmale Tachykardie, 
die auch den Tod des Pat. verursacht. 

Zu8amraenfas8ung: Paul 
Schn_ist der 6. und letzte von 



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E. Witterinann: 


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seinen Geschwistern, die im iibrigen 
keine psychische Anomalien bieten. 
Von vaterlicher Seite her scheint 
eine Belastung durch Geisteskrank- 
heiten nicht zu bestehen. Dagegen 
werden die Mutter und deren Ge- 
schwister als recht nervose und leb- 
hafte Leute geschildert. 2 Nach- 
kommen von Geschwistern der 
Mutter begingen Suicid, der eine 
davon war sicher geisteskrank. Der 
Cousin miitterlicherseits von Paul 

Schn.... ist Daniel Bo_, dessen 

Krankengeschichte oben mitgeteilt 
wurde. Es handelt sioh bei ihm um 
eine sichere Epilepsie; ob einKausal- 
zusammenhang rait dem Scharlach 
tatsachlich besteht, ist nicht unbe- 
dingt anzunehmen. 

Familie Je. 

Philipp Je. . .. 

Aufgenommen am 12. 1. 1912; bis 
2. 2. 1912 in der Anstalt. 

Normale Entwicklung. Lemte sehr 
gut. War musikalisch begabt. Organist. 
1887 Aufregungszustande mit gestorter 
Nachtruhe. Besserung nach einer Waaser- 
kur. Neuerliche Erkrankung Neujahr 1912. 
Horte viele Stinunen, wurde sehr auf- 
geregt, bcsondcrs nachts, fiihlte sich 
©lend und schwach, wollte zum Fenster 
hinaus. Gibt in der Anstalt ohne wei- 
teres starkes Stimmenhoren zu; man sagt 
ihm, dafi die Leute es satt mit den Wahl* 
manovern hatten. Er hore auch andere 
Gerausche und Tone. An der Wand habe 
er manchmal Flecken mit Schatten- 
rissen wie im Kinomatographen gesehen, 
auch Menschen und Fledermause. Er 
fiihlt sich vielfach beeinfluBt. Siit dem 
Beginn seines Aufenthaltes Starke mo- 
tori sche Unruhe. bleibt nicht im Bett, 
lauft viel umher, spricht vor sich hin, ant- 
wortet anscheinend auf Stimmen. Zeit- 
weise ziemlich angstlich. Glaubt sich auch 
elektrisiert und auf die verechiedensten 
Arten beeinfluBt. Beruhigt sich sehr bald. 


Gck igle 


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Psychiatrische Familienforschungen. 22f> 

zeigt ausgesprochene Krankheitseinsicht, halluziniert aber dauernd waiter. Wird 
auf dringenden Wunsch seiner Schwester entlassen. Bei wiederholten Besuchen 
in der Anstalt gibt Patient an, daB er noch immer Stimmen hore, daB er sich aber 
gar nichts draus mache, da er wisse, daB das Halluzinationen seien. Geht im 
ubrigen seinem Berufe nach. 

Philippinne Je. 

Aufgenommen 27. 11. 1908. 

Als Kind gesund. Gute Schulbildung. Immer eigensinnig und halsstarrig. 
Wurde Lehrerin. Erkrankte mit 27 Jahren im AnschluB an einen Unfall ihres 
Vaters. AuBerte allerlei abnorme Empfindungen, furchtete Gift und Schwefel in 
Speisen und Getranken zu bekommen, wurde heftig und aufgeregt, schlug ibre An- 
gehorigen, auBerte allerlei Verfolgungsideen und muBte am 18. 3. 1878 nach Ste- 
phansfeld gebracht werden. wo sie bis 10. 3. 1879 blieb. Dort sehr unzuganglich. 
Zeigte ein hochmiitiges abstoBendes Wesen, auBerte VerfolgungB- und Beein- 
trachtigungsideen, besonders gegen die Krankenpflegerinnen. Verkannte die Per- 
sonen, machte sich einen eigenen Kalender. Beruhigte sich aber nach und nach 
und konnte erheblich gebessert entlassen werden. 

Verhielt sich dann eine Zeitlang ruhig, wurde am 28. 3. 1905 neuerdings nach 
Stephansfeld gebracht, wo sie bis zu ihrer Verbringung in die hiesige Anstalt ver- 
blieb. Brachte wieder eine Menge von Verfolgungs- und Beeintrachtigungsideen 
vor, hatte Furcht vor Vergiftung, war oft sehr gereizt infolge von Halluzinationen. 
Zeitweise sehr heftig. — In der hiesigen Anstalt ein ganzes System von GroBen- 
und Verfolgungsideen. Gibt an, sie stamme aus dem Geschlechte der Castig- 
lione, verkennt alle Personen ihrer Uingebung im Sinne dieser GroBenideen, glaubt 
ee mit lauter Baronen und Grafen zu tun zu haben. 1st besonders Verfolgungen 
durch Geistliche ausgesetzt, die das ihr gehorige SchloB Isenburg ihr vorenthalten. 
Zeitweise sehr aufgeregt, mit allerlei Manieren, spricht z. B. franzosische Worte 
genau nach der Schrift aus, obwohl sie die franzosische Sprache tadellos beherrscht. 

Zusammenfassung: Auffallend ist eine gewisse Ahnlichkeit 
zwischen den Krankheitsbildern der beiden Geschwister insofem, als 
in beiden Fallen massenhaft Halluzinationen beetehen, die aber nur bei 
der Schwester zur Ausbildung eines Systems gefiihrt haben. Die ganze 
iibrige Familie ist gesund, der GroBvater miitterlicherseits scheint 
neben der musikalischen Begabung eine sehr stark© Neigung zu alko- 
holischen Getranken besessen zu haben. 

Familie Ilem. 

Simon Hem. oo Regina Vol. ? ? 

? wurde 80 Jahre 

alt 


Simon 

hinterlieB 

5 Kinder 

Josephine 

V 

I 

1 3 

gesund 

Leodegar Hem. 

* 1841, f 1881 
an Auszehrung 

1. Veronika Bi. 1. Theobald 3. Franziska 

* 1842, f 1878 * 1886, lebt * 1846 

an Auszehrung noch, gesund 

1 1 

5 Kinder ge- 1 £ toll 

. sund yetiteskrank *ein 


1. Hortensia 2. Julie 

a Louis 

4. Amalie 


* 1867 

oo Sei. 

* 1871 

* 1876 


i 

* IK 1. I860 

t 1888 

schw&chllch 


1 

ist in Rufach 

an Aus¬ 



* 3 


zehrung 

1 


1 t 



9 Kinder leben 



Familie Hem. 



Julie Sei.. geb. Hern... 

Aufgenommen 7. 7. 1909. Gestorben 6. 3. 1912. 


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226 


E. Wittermann: 



NormaleEntwicklung. Erkrankte alsDienst- 
madchen im Alter von 23 Jahren. War damals 
sehr aufgeregt, beantwortete die Fragen nicht, 
horte Stimmen, verweigerte zeitweise die Nah- 
rung. MuBte am 22. 8. 1892 nach Stephansfeld 
iiberfuhrt werden, wo sie bis 29.12.1892 verblieb. 
Dort vollig verwirrt, in lebhafter motorischer 
Unruhe, sehr ablehnend, grimassiert, schimpft 
in gemeinster Weise. Beruhigte sich allmkhlich, 
konnte gebessert entlassen werden. 

War dann in den Jahren 1895, 1896 neuer 
dings in Stephansfeld, in lebhafter Erregung. 
Verheiratete sich 1898 und erkrankte 1902 zum 
drittenmal, wieder mit sehr lebhafter Erregung. 
War nicht zu fixieren, grimassierte, beruhigte 
sich weiterhin voriibergehend, zeigte aber doch 
meist ein sehr aufgeregtes Wesen mit Neigung 
zu Verbigeration. Kam in die Bezirkssieohen- 
anstalt nach Colmar, von wo sie nach Rufach 
iiberfuhrt wurde. 

Hier dauernd sehr aufgeregt, Neigung zu 
Unreinlichkeit, schreit und singt, schimpft in 
der wustesten Weise, masturbierte schamlos. 
Neigung zu sinnlosen Reimereien. Wird allm&h- 
lich stumpf, zeitweise ganz kataleptisch. Er- 
krankt an Tuberkulose, der sie ziemlich bald 
erliegt. 

Zusammenfassung: InderFamilie 
besteht eine starke Neigung zu tuberku- 
losen Erkrankungen, denen u. a. beide 
Eltern der Kranken erlegen sind. Von 
Geisteskrankheit ist nur eine solche bei 
einer Cousine miitterlicherseits nachzu- 
weisen. 

Familie Mau. 

Elisa Mau.... 

Aufgenommen am 22. 4. 1911 bis 30.8. 1911. 

2. Aufnahme 30. 11. 1911 

Normale Entwicklung. Lemte in der Scbule 
schlecht. Von Charakter immer eigensinnig, 
bosartig, leicht zomig. Schlug gerne zu. Psy- 
chische Veranderung seit 1910. Sprach zeitweise 
verwirrt, lief oft davon, sah besonders nachts 
allerlei Gestalten und horte Stimmen. Lief viel 
jungen Arbeitem nach, sprach von Heiraten, 
muBte wegen zunehmender Erregung in die 
Anstalt gebracht werden. 

In der hiesigtm Anstalt anfanglich sehr ge- 
bundenes Wesen, zeitweise ganz abgelenkt, vor- 
iibergehend angstlioh und ratios. Macht einen sehr 


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Psychiatrische F&milienforschungen. 


227 


lappischen Eindruck. Wird bald sehr zerf&hrcn. 
Kami voriibergehend beach aft igt werden, wird 
aber wegen Zunahme der Zerfahrenheit immer 
unsozialer. Auf dringenden Wunsch der Ange- 
horigen entlassen. 

Wurde zu Hauee bald wieder unruhig, be* 
drohte die Angehorigen und entfernte rich oft fur 
mehrere Stunden aus der Wohnung. RiB in der 
Kirche auf dem Altar ein Bild herunter. Hier in 
lappisch heiterer Stiinmung, kindisches Verhalten, 
ganz zerfahrene Ant wort en. Macht all er hand ver- 
kehrte und unmotivierte Bewegungen. Gelegent- 
lich motorisch unruhig, hat oft Konflikte mit an- 
deren Kranken. Keinerlei Xeigung zu geordneter 
Besch&ftigung. 

Zusammenfassung: Im Gegensatze 
zur miitterlichen Familie, die von Geistes- 
krankheiten ziemlich frei geblieben ist, zeigt 
die vaterliche Familie ausgesprochene Geis- 
teskrankheiten, die vielleicht zum Teile 
auf den betrachtlichen Alkoholismus dee 
Groflvatera vaterlicheraeits zuriickzufiihren 
Bind. Bemerken8wert ist, dafl bei der 
hiesigen Patientin zum sicher vorhandenen 
Krankheitebilde der Dementia praecox 
sich tvpisehe epileptische Anfalle hinzuge- 
sellen, an denen eine altere Schwester der 
Patientin gleichfalls leidet, die zurzeit ganz 
verblodet. 

Familie Schn. 

Angelika »Schn.geb. Mu. 

Vom 31. 3. 1911 bis 28. 12. 1913. 

Normal© Entwicklung. War friiher nie krank. 
Ehe sehr ungliicklich. Hatte viele Sorgen. Beginn 
der Erkrankung 1909 in der Menopause mit korper- 
licher Unruhe und Zittem. Wurde dann gelegent- 
lich erregt, auBerte Verfolgungrideen; stark© Ab* 
nahme des Gedachtnisses. 

In der Anstalt in lebhafter motorischer Un¬ 
ruhe, choreatische Bewegungen, auBerordentlich 
plump und ausfahrend. Stimme sehr rauh, iiber- 
schlagt rich oft. Starkes Grimasrieren, goreizte 
Stimmung. Gang schwankend und breitspurig. 
Gelegentlich auBerordentlich erregt, zu Gewalt- 
tatigkeiten geneigt, vollig unorientiert, glaubt, 
man wolle ihre Kinder umbringen. Weitgehender 
Schwachsinn, vermag auch Geldstiicke nicht zu un- 
terscheiden. Starke artikulatorischeSprachstorung. 




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228 


E. WiHermann : 


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Im weiteren Verlaufe allmahlicher Riickgang der Korperkrafte; die Kranke 
wird ganz stumpf. Kann sich wegen ihrer Sprachstorung gar nicht mehr verstand- 
lich machen. Es treten Schluckstorungen auf. Zunehmcnder Marasmus. Exitus. 

Diagnose: Huntingtonsche Chorea. 

Johann *Schn. 

Vom 8. 9. 1910 bis 8. 8. 1912. 

Normale korperliche Entwicklung. MittelmaOiger Schuler. War Soldat. Ver- 
lor 1909 durch voriibergehende Krankheit seine Stelle, arbeitete nicht mehr, lief 
herum, bekam wegen Einbruchsdiebstahls 8 Monate Gefangnis. Schrieb aus dem 
Gefangnis 2 ganz verwirrte Briefe an seine Angehorigen. Schwatzte bei einom Be- 
such ganz unsinniges Zeug, redete von Sinnestauschungen und Verfolgungsideen. 
Arbeitete nach der Entlassung aus dem Gefangnis nur voriibergehend, benahm 
sich nicht wie ein Normaler, wurde bei einem neuerlichen Einbruchsdiebstahle er- 
tappt und wegen offensichtlicher Geisteskrankheit in die hiesige Anstalt iiberfiihrt. 

Benimmt sich auffallig, begriifit die Arzte als Bekannte, redet sie mit Du an, 
gibt dann allerlei Sinnestauschungen zu. Wird dann bald ziemlich stumpf und 
affektios, kommt mit aHerlei absonderUchen Bitten, klagt iiber standiges Stimmen- 
horen. Zeitweise ganz ablehnend, geht intellektuell sichtlich sehr zuriick, wird immer 
zerfahrener, macht gelegentlich einen Entweichungsversuch. Erkrankt an schwerer 
Enteritis, der er erliegt. 

Zusammenfassung: Der Vater des Patienten Johann Schne.... 
war arger Trinker. Die Mutter ist an Huntingtonscher Chorea in 
der hiesigen Anstalt gestorben. Die Geschwister des Patienten sowie 
die iibrige Farailie zeigen keinerlei Anzeichen von Geisteskrankheit. 


Marie 


i 

li 

gesund 


Familie Mil. 


5 Ignaz Hen. ^ Marie llau. 

? ? starb mit 66 Jah- wurde 72 Jahre 

ren, sehr leb- alt, war gesund . 
halter, arbeits- 
samer Architekt 


Alois 

war Pfarrer. 
hat eehr riel ge- 
trunken, ttarb 
im Delir 


August 
starb mit 65 
Jahren an 
Kehlkopfleiden 

I 

1 3 lebt 
8 <*. an 
Tbk. t 


Blaise MU. 

* 1847, + 1884 
an Tuberkulose , 
war ein arger 
Abeinthlrinker 


Magdalene Hen. Joseph 
• 1852 * 1860 

lebt noch, nervot + 1862 
an Kinder* 
krankheit 


1. Magdalene 
♦ 7. 10. 1877 
ettcae nervos 



ganz klein f 


2. Albert 3. Alice 

• 1. 11. 1881 * 25. 4. 1883 

ist in Rufach 


bald gestorben 


Emil 
* 1866 
* 1877 
beim 
Milit&r 


Familie Mii. 

Alice Gra.. .. geb. Mii. 

Aufgenommen 28. 9. 1910. 

Normale Entwicklung. Von Charakter seit jeher eigensinnig, jedoch gut- 
miitig. Lemte mittelmaBig. War nach der Schule in verschiedenen Stellungen. 
Heiratete 1906. Der Mann war sehr leichtsinnig. Bald nach der im Jahre 1907 
erfolgten Geburt eines Kindos trennte sich Pat. von ihrem Mann, ging in ver- 
schiedene Stellungen. Nach imd nach entwickelte sich bei ihr Angstlichkeit; sie 
meinte, daB Gift im Essen sein konnte. Kam zunachst in die Frankfurter Irren- 
anstalt und von dort hierher. 


Go 'gle 


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Psychiatrische Fauiilienforechungen. 


229 


Ziemlich affektlos, sagt, sie leide an Angst und Bangigkeit, regt sich iiber jedes 
Ger&usch auf. Sieht manchmal schwarze Gem&lde mit Gesichtcrn. Gibt Vergiftungs- 
ideen zu. 

Zeigt hier ein stets sehr geziertes Wesen, sehr reizbar, tanzt und singt gelegent- 
lich sehr viel, lauft im Zimmer umher, lacht unmotiviert, wird dann immer l&p- 
piseher. Die Sinnestauschungen treten recht in den Hintergrund und es bietet 
die Pat. zurzeit ein Krankheitsbild, in dem groBe Zerfahrenheit bei l&ppischen 
Erregungen im Vordergrund stehen. 

Zu8ammenfas8ung: Der Vater der Patientin war ein arger 
Abeinthtrinker und starb an Tuberkulose. Ein Bruder von ihm hat sich 
direkt zu Tode getrunken. Von seiten der Mutter ist nur leichte Nervositat 
nachzuweisen. 

Fa mi lie Ka. 

Jonas Ka. --x- Sara Ma. 

• 1818, + 1908 * 1828, + 1891 

an Altersschw&che an BruetkrankMeit, 
nervfie, tehr scheue 
Frau, die rich viols 
So rgen macht 

Vater • 1862 2. Henrietta Ka. 1. Ernestine & Julie 

lebt noch, be- • 1864 • 1862 *1867 

kllmmert sich einfditig, bekam alls + 1876 lebt noch, 

nicht um seine Kinder unehelich ! I gesnnd 

Kinder, ist nicht | 

Jude 1 3 2 rf 

gestorben 2 Q 


1. Rosalie 

2. Fanny 

& Sarah 

4. Julien 

6. Helene 

•1878 

• 1880 

• 26. 12.18 S 

• 1886 

• 1891 

gesund 

gesund 

1st in Rufach 

gesund 

gesund 


Fa mi lie Ka. 

Sarah Ka.... 

Aufgenommen 12. 8. 1909. 

Normale Entwicklung. Lebte seit 1898 in Paris alfl Kdchin. Eine Verfcnderung 
trat mit ihr November 1908 ein; sie huBerte Furcht vor dem Sterben, machte zeit- 
weise heftige Auftritte, drohte, schlief nicht mehr. Wurde deshalb in die Anstalt 
Maison blanche gebracht. Zeigte dort einen Erregungszustand mit Verwirrtheit 
und Angstlichkeit, gelegentlich heiter, erotisch, zudringlich. 

Nach Rufach iiberfiihrt. 

Geringe lntelligenz. Weitgehende gemiitliche Stumpfheit. Nur voriibergehend 
miirrisch, gereizt und ablehnend. Einmal impulsiver Erregungszustand, meist 
sehr geziertes lappisches Wesen. Wird zusehends stumpfer und unzuganglicher, 
gibt g&nz beziehungslose Antworten. Macht einen ratios zerfahrenen Eindruck, 
steht planlos umher, zeigt ein leeres Lacheln. 

Zusammenfassung: Die GroBmutter miitterlicherseits ist ©in© 
abnorm© Frau gewesen, die einen nerv&sen Eindruck macht© und stets 
sehr scheu war. Die Mutter ist sehr einfaltig, macht geradezu einen 
beschrankten Eindruck; fiir ihre weitgehende Beschranktheit spricht 
noch insbesondere der Umstand, daB sie 5 Kinder unehelich bekam, 
was, wie mir mehrere Rabbiner versicherten, bei den Juden der hiesigen 
Gegend zu den allergroBten Seltenheiten gehort und sicher fiir die 
Annahme einer psychischen Anomalie verwertet werden kann. 


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bv Google 


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230 


E. Witterm&nn: 


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% 

sollen ganx normale Leute 
gewesen sein 


Familie Gru. 


Max Le. 

* 1800, f 1872 


Johanna 


1 3 gesund, 
t Q echwer 
nervenleidend, 
kann meht gehen, 


Marie 
lebt noch, 
nahe an 80 

2 <3 geeund, 
1 Q tckwer 
nervenlridend. 
Hysteric! 


leal Gru. 

* 1848, f 1900 
hat geme 
getrunken, war 
zeitweise psychiech 
abnorm 


oo 1. Marie Le. 
• 1886 
schwache 
Frau 


2. Fanny 
• 1887 


12 


oo Dina Le. 

* 1812, f 1848 
an Cholera 


8. Karoline 4. 3 
* 1841 * 1843 

I + 1856 


1 3 geaund 
1 O hatu 
Hvmluee 


1. C 2. £ 8. HenridU 4. Q 6. Johanna 

* 1868 * 1809 • 1871, t 1901 * 1878 • 29. 4. 1875 

+ 1868 f 1809 war yeimg meht ala Kind iat in Kofach 
normal , halts geatorben 
immer Angst 


Familie Gru. 

Johanna Gru.... 

Vom 30. 8. 1911 bis 30. 0. 1912. 

2. Aufnahme 7. 7. 1912. 

Normale Entwicklung. Lemte in der Schule sehr gut, von Charakter immer 
gutmiitig, nicht leicht erregbar. Hat eine ganz gute Stellung, die sie aber 4 Jahre 
vor der Aufnahme in die hiesige Anstalt aufgab, weil sie sich krank fiihlte. Sie 
sagte, das Essen tue ihr weh, sie aB 3—4 Tage nicht, nahm dann wieder auf einmal 
sehr viel Nahrung zu sich. Duldete in der Zeit der Erregung keinen Widerspruch, 
wurde gelegentlich gewalttatig. 

In der hiesigen Anstalt ziemlich manieriertes Benehmen, klagt iiber allerlei 
hypochondrische Schmerzen, sie kbnne das Essen nicht verdauen, ihr Stuhlgang 
sei nicht in Ordnung. Das Essen bringe sie in Zustande von Zorn und Abgeschlagen- 
heit. Hort allerlei Worte, die gar nicht existieren, wie z. B. Schnieferschnolte. 
Sie leidet darunter sehr. 

Zeigt dauernd sehr schlechte Nahrungsaufnahme, muB lange Zeit gefiittert 
werden, schreit manchmal ganz sinnlos. Wird von ihren Angehorigen nach Hause 
genommen, aber schon nach 8 Tagen wieder gebracht. Biotet seither ziemlich un- 
verandert dasselbe ZustandBbild mit hypochondrischen Wahnideen, verweigert 
konsequent die Nahrungsaufnahme und muB dauernd gefiittert werden. 

Zusammenfassung: Der Vater hat gem getrunken, war zeit¬ 
weise psychisch abnorm. Eine Cousine vaterlicherseits ist schwer 
nervenleidend (Hysterie?). Eine Cousine mutterlicherseits hatte Him- 
lues, von der sie geheilt wurde. 


Familie Lip. 

David Lip. Pauline La. 

wurde 88 Jahre starb mit etwa 
alt, war gesund 40 Jahren, 

und rttstig war immer 

schwfichlich 


(3 impel Der. oo Pauline Dre. 
soil frtih wurde 

geatorben 91 Jahre 

sein alt 


t. Fleurette 4. Gabriel 8. Isidor 2. Molse 1. Leo Lip. oo Mathilde Ber. Gabriel 

’ 1859 * 1867 * 1847 * 1848 * 1841, lebt noch, * 1862, + 1886 * 1864 

oo gesund ! war eine Zeitlang war 1896 in der an Tuberkulose f 1876 *n 

geistf shrank, jetzt tfervenklinik in Strafi - Tuberkulose 

| abnorm burg , damals tehr 

1 Q aufgeregt , jetzt noch 

gesund wundsrlich 

2 3 1 Q t 2 o' 4 £ __ 

1. Sarah 2. Sophie 8. 3 £"$ 6. AchilU 6. Q 

* 1876 * 80. a 1878 * 1880 * 1881 * 27. 8. 1888 * 1884 

ist korperlich ist inKufach f 1882 f 1883 etwas absonder - f 1886 
tchwaeh, 7 eirtig lieh 

idiot inch 


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Psych iatrische Familienf orach ungen. 231 

Fa mi lie Lip. 

Sophie Lip. 

Aufgenommen 17. 3. 1909. 

Erkrankte 1903 ganz plotzlich. All und arbeitete nicht mehr, lief triebartig 
umher, wurde tobeiichtig und gewaltt&tig. 1903/4 in Stephansfeld. Zeigte ein sehr 
zerfahrenee albernes Wesen, Negativismus, zerriB zeitweise ihre Kleider, war 
dauernd unordentlich, wurde voriibergehend in ein Spital gebracht, wo sie aber nicht 
verblieb, da sie neuerdings aufgeregt wurde. Blieb dann in Stephansfeld, zeigte 
voriibergehend Bess©rung, die aber nicht anhielt. Von Sommer 1906 an Verblodung. 
Wurde hierher uberfiihrt. 

Sehr degeneriertes Aussehen, bidder Gesichtsausdruck, unsauber, Neigung 
zu Vernachlassigung, spricht ganz unverst&ndliches Zeug, stoBt unart ikulierte 
Laute aus, zeigt triebartige Erregungszust&nde. 

Zu8ammenfas8ung: Bei den Geschwistem der Kranken findet 
sich neben Sterblichkeit in den friiheeten Altem, ausgesprochene 
psychische Degeneration. Ein Bruder macht einen absonderlichen 
Eindruck. Eine Schwester ist kdrperlich ganz schwach, geistig idiotisch. 
Der Vater machte 1896 eine Geisteskrankheit durch, die vermutlich 
dem Krankheitsbilde der Dementia praecox angehdrt und einen ge- • 
wissen Defektzustand hinterlassen hat. Er ist ein wunderlicher Mensch. 
Etwas Ahnliches machte sein Bruder durch. In der Familie der Mutter 
findet sich Tuberkulose. 


Familie Lev. 


Is&i&s Lev. ^ Karoline Haa. (Couaine von Luiae Haa., Louis Schw. x Luiae Haa. 

starb mit etwa starb in den OOer Frau des Louis Schw.) * 1838, + 190V) • 1836, + 1896 

40 Jahren an Jahren an Lun- gesunder, ge- an Herxleiden 

Auazehrung genentziindung aehelter Mann 

2Schweatern Samuel Leon Lev. no 1. Fanny Schw. 2. Abraham 3. Adolf 4. Karl 5. Edmond 

an Tuber- • 1869 • 1864 1887 * 21.3. 1869 * 1861 * 1867 • 1868 • 1870 

kulose + nicht ver- gesund, kann gesund, hat ein I ist geistcstrank im 41886 

helratet keinen Alkohol entartetes Aus- I Ansehlup an Qe- 

vertragen sehen fdngnis , sehrcit oft 

4 rj ztcongsmdfiig , 

6 £> arbeiUt nicht 

1. Johanna 2. Karoline 3. Lucie 4. Karl 5. Armand 
• 1889 * 11. 1.1892 * 1896 * 1897 • 1900 

ist iu Rufach 


Familie Lev. 

Karoline Lev. 

Aufgenommen am 24. 1. 1912 bis 31. 3. 1912. 

Normale Entwicklung. Lemte in der Schnle gut. War ala Dienstmadchen 
in verechiedenen Stellungen tatig. Erkrankte 14 Tage vor der Aufnahme, horte 
viele Stimmen, sprach davon, daB sie ein Telephon im Leib habe, sie erfahre da- 
durch alles, was die Leute sprechen. Gibt hier starkes Stimmenhoren zu, durch die 
Betten werde geredet. Die Fedem sprechen. Es gehe ihr iinmer so durch den Kopf 
und sie habe ein Telephon im Leibe. Sie habe auch gelegentlich Erscheinungen ge- 
sehen; sehr lappisch und zerfahren, macht alles verkehrt. Nichtssagende sprachliche 
AuBerungen. Bisweilen deutliche Sprachverwirrtheit. Wird auf dringenden Wunsch 
der Angehorigen entlassen. 

Zusammenfassung: In der Familie des Vaters reichlich Tuber¬ 
kulose. Die Mutter hat ein entartetevS Aussehen, ein Bruder von ihr 


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2:52 


E. Wittenuann: 


wurde im AnschluB an eine Gefangnisstrafe geisteskrank, ist zurzeit 
arbeitsunfahig, schreit manchmal sinnlos. 


Bruder Xaver 1st 
der Vftter von 
Therese Mann, 
der GroBmutter 
der Prob. 


2. Heinrich 1. 

Charles Ma. 

<x) 8. Therese Bu. 

1. Joseph 

2. Xaver 

4. Ludwig 

• 1864, + 1880 

• 9. 12. 1862 

• 9. 2.1868 

* 1861 

• 1862, 11892 

•1868 

an Aussehrung, 

gesund 

gesund 

machte eine 

an 

Officer in 

tear sehr schwach 



Geisteskrankheit 

Blutvergiftung 

Frankreich 

begabt 



dutch , trank geme 

1 

It 

1 

It 

1. Mathilde 

2. Jeanne 

8. Henri 

4. Louis 




* 18. 1. 1889 * 18. 2. 1890 * 10. 8. 1891 • 4. 6. 1898 

1st in Rufach gesund hat nicht gut soil sehr begabt 

gelernt spin 


Familie M 

<_ Carl Ma. x Marie Ad. 
wurde starb mit 

55 Jahre alt, 56 Jabren 
hat gem an Hers- 
getrunken leiden 


Joseph Bu. oo Theme Ma. 

wurde 78 Jahre tcurde 75 Jahre alt , war lange 
alt, lustiger geisteskrank; lag immer zu 

Mensch, mifilger Rett, tvolUe niemand bei tick 
Trinker haben , erkrankte ettca 1868 


Familie Man. 

Mathilde Man... 

Aufgenommen 7. 3. 1913. 

Normale Entvvicklung. Immer klein und schwachlich. Als Kind sehr lebhaft 
mid heiter. In der Schule mittelmaBig. Besch&ftigte sich danach in der Haushaltung 
und im Bureau ihres Vaters. Unterhielt mehrere Jahre lang ein Liebesverhaltnis 
ohne daB die Eltern davon wuBten. Wurde kurzc Zeit vor der Aufnahme sehr auf- 
geregt, meinte, sie sei ganz verriickt und beschuldigte verschiedene Frauen ihrer 
Bekanntschaft, ihren Zustand herbeigefuhrt zu haben. Lag dann mit ganz steifen 
Gliedern da, jammerte zeitweise, war sehr angstlich. 

In der Anstalt ziemlich unruhiges Verhalten mit triebartigem Davondrangen, 
gibt nur sehr widerstrebend Auskunft, in ihren sprachlichen AuBerungen zerfahren. 
Halluziniert spater sehr viel, hort immer die Stimmen ihrer Eltern. Zeitweise 
ganz stuporos. Lacht dazwischen laut auf, offenbar unter dem Einflusse von 
Stimmen. Kann sich nur voriibergehend beschaftigen. 

Zusammenfassung: Zwei gesunde Eltern, die beide aus be- 
lasteten Familien stammen, haben unter ihren 4 Kindem ein geistes- 
krankes und ein sehr schwach begabtes. Wieder gesellt sich zum Alkoho- 
lismus des GroB vaters vaterlicherseits Anlage zu Geisteskrankheit in 
der miitterlichen Linie. 


Gruppe III. 

Familien mit manisch-depressivem Irresein. 

Familie Fr. 

Fr.. Marie. 

Aufgenommen 19. 9. bis 29. 10. 1911. 

Lernte in der Schule mittelmaBig. Von Charakter gut rniitig, et was aufbrausend. 
War nach der Schulentlaesung in einer Reihe von Stellungen. Erkrankte 1906 
erstmals psychisch im AnschluB an eine Verlobungsgeschichte. War damals schwer- 
miitig, wurde einige Zeit in der psychiatrischen Klinik in StraBburg behandelt, kam 
dann in ein Sanatorium, wo sie spaterhin eine Stellung als Hausdame bekam. 
Soil sehr tiiohtig gewesen sein. Verlobte sich einige Tage vor der Aufnahme 


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Psy v li i at ri sch e Fainilien fo rsch u u ire n. 
Faniilie Fr. 


233 


Andreas Schra. no Salome Fu. Q 

* 1806, 4 1881 * 1806, t 1884 war geistes- 

gesund, kr&ftig, mar na<A dam krank 

Bauer Tode der Sehsce- 

sler gam ver- 
st&rt, machU 
sich Vorwdrfe 



4 Brlider 

2 Schwestern 
gesund 

Michael Fr. 

♦ 1832, f 1874 
war ein gesun 
der Bauer 

°° 8. Katharine Schra. 
* 1888, f 1886 
gelegentlick sshr 
aufgeregt noth dufie- 
ren Ursachen 

2. Matthias 
* 1888 

lebt noch, ge¬ 
sund 

1. Salome 
* 1829 
t 1908 

1. Marie 

2. Louise 

8. Emma 

4. Albert 6. Anna 

6. Marie 

4 ^ 

* 1862 

* 1866 * 

1867, t 1869 * 3 

1869, t 1870 * 1871 

* 4. 1. 1878 

2 ? 

4* 1867 

etwas nervds , Leh 

an Kinder- 

starb an | i 

st in Bufach 

leben. 

an Erk&l- 

rerin, kann month - 

krankheit 

Krftmpfen 3 


1 ? 

tung 

mal nieht gut 

beim Zahnen 1 Q bald 


2 i 


nchlaftn 


gestorben 


gestorben 


rait einem Patienten des Sanatoriums, war aber sohon ansch emend vorher pey- 
ohi8oh etwas verandert, schlief schlecht, konnte angeblioh sehr viel arbeiten, 
oline mude zu werden. 

In der Anstalt in deutlioh gehobener Stimmung. Sie sei der gliickliohste 
Mensch der Welt, es werde sich erst in einigen Monaten zeigen. Ideenfliichtig, 
&uBerst iiberschwenglich, lebhaftea Cebardenspiel. Ziemlich unruhig, singt viel. 
Wird dann ruhiger, voriibergehend depressiver Stimmung, daun wieder gehobener 
Stimmung, wird betr&chtlich gebessert entlassen. 

Zusammenfassung: In der Fainilie der Mutter besteht eine 
Neigung zu Aufregungszustanden, so bei der Mutter selbst und bei der 
GroBmutter mutterlicherseits. Bei beiden waren aber immer auflere 
Bedingungen fiir die Erregungszustande vorhanden. 


Farn ilie Bell. 


GroBeltern solien 
gesund gewesen seln 


Apollinaire Ga, 
wurde 58 Jahre 
alt, starb an 
Herz&chlag, hat 
getrunken 


Marie Os. 
wurde 74 Jahre 
alt, war gesund 


Klara Monica 
wurde ledig 

Ordens- f 
sch wester 

t 


Jakob 
1st alt ge- 
worden, 

2 1 U 

leben, sind 
gesund 


Franz Beh. 

* 1826, 1st pen- 
slonierter Grenz- 
aufseher, hat 
gerne 
getrunken 


co 2. Adele Ga. 1. Franz Ga. 8. Eugenie 
* 1842, f 1892 starb mit mit 
an Herz- 28 Jahren an 82 Jahren an 
klappenfehler, Lungen- Tuberkulose 
war geistig entztlndung gestorben 
gesund 


1. Eugenie 

2. Anna 

3. Marie 4. Adele 

5. Elise 

6. Eduard 

* 18. 12. 1872 

* 1874 

♦ 1878 * 1880, oo Kle. 

* 1884 

* 1888 

1910 oo Ber. 
war inRufach 
kinderlos 

gesund 

oo Dubs, warinderpsy- 
chlatr. Klinik 
StraBburg 

i it i $! 11 

gesund 

Familie Beh. 

gesund 

war beim Militfr, 
hat eln Lungen- 
leideu (Tbc.) 


Vom 4. 5. bi<* 18. 5. 1912 in der Anstalt. 

Eugenie Ber, geb. Beh.... War immer vollstandig gesund. Nie erregt, 
litt nie an Krampfen. Verheiratete sich vor 2 Jahren. Zur Zeit der Menstruation 
erregter, weinerlich. Vor l 1 /* Jahren zum ersten Male Erregungszustande ini 
AnschluB an einen ProzeB. War angstlich, fiirchtete sich, schrieb dabei viele 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XX. 16 


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234 


E. Wittermann: 


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Brief©. Seit einigen Tagen Veranderung, nachdem die Kranke mit der Beendigung 
dee Prozesses sich wieder vollst&ndig beruhigt hatte. Wurde jetzt vielgesch&ftig, 
lief viel umher, ging in die Kirche, storte dort durch Schreien. Sagte einem herbei- 
gezogenen Arzte, sie sei ein Kind Gottes, Gott fiihre sie. 

Bei der Aufnahme ungemein euphorisch, angeregt; glaubt in allem, was sie 
in den letzten Tagen getan habe, unter Gottes Fiihrung gestanden zu haben. 
Spricht in iiberschwenglichen Ausdriicken, die Fahrt hierher sei ihr wie eine Braut- 
fahrt vorgekommen. Gibt dann genau Auskunft iiber ihre Vorgeschichte, sagt, 
daB sie sich im AnschluB an den ProzeB vieJe Gedanken gemacht habe, daB sie 
alle Menschen fiir schlecht gehalten habe, bis ihr vor wenigen Tagen die Erkenntnis 
gekommen sei, daB sie unter der Fuhrung Got tea stiinde. Alle Menschen seien 
ihr jetzt gut vorgekommen und sie sei jetzt eine ganz gliickliche Person. Beruhigt 
sich rasch im Laufe der n&chsten Tage, zeigt nur noch eine gewisse Unruhe, be- 
sch&ftigt sich mit allerlei Planen, wie sie nach ihrer Heimkehr das Haus umgestalten 
wolle, mochte sich auch hier beschaftigen. Zeigt dann vorwiegend in den Morgen- 
stunden eine ausgesprochene depressive Stimmung, hat Tranen in den Augen, 
f urchtet schwer krank zu werden. Nach wenigen Tagen wird Pat. ganz gleichmaBig 
heiterer, ruhiger Stimmung. Auf Wunsch des Mannes entlassen. 

Diagnose: Manisch-depressives Irresein. 

Adele Kl.... geb. Beh.... Vom 31. 1. bis 15. 3. 1907 in der psychiatrischen 
Klinik zu StraBburg. Auszug aus der Krankengeschichte. 

Hatte seit jeher Angst vor Krankheiten, soli immer schwarzscherisch gewesen 
seid. 1902 in der Neujahrsnacht ein Nervenanfall, bekam plotzlich in der Unter- 
haltung ein Angstgefiihl, regte sich immer weiter auf, dachte, sie iniisse sterbcn. 
Wurde dann im Verlauf ernes Tages ruhiger, litt aber ofters noch an Angst, daB ein 
derartiger Anfall wiederkommen konnte, kam erst nach 3 Monaten wieder ins Gleich- 
gewicht. Heirat 1903. 1904 erst© Entbindung (Zangengeburt); normales Wochen- 
bett. 1906 zweite Entbindung. Schon in der Schwangerschaft Angst vor der Ge- 
burt, meinte, etwas so Schweres konne sie nicht uberstehen. Besorgte aber den 
Haushalt dabei noch ganz gut. Gegen fSchluB der Schwangerschaft psychische 
Besserung. W&hrend der Stillperiode im Marz 1906 neuerlicher Nervenanfall. 
Plotzliche Angst, es passiere etwas w&hrend des Stillens, sprang auf, lief herum. 
Solche Angstanfalh* wiederholten sich in den niichsten Tagen noch ofters. Die 
Kranke hatte dabei Furcht, sie werde verriickt, konnte sich nicht klar werden. 
Meinte, sie rnusse sich umbringen; Selbstmordideen traten st&rker auf, wenn sie 
allein war, wenn sie ein Messer, eine Schnur, Wasser oder einen Eisenbahnzug sah. 
In der Klinik auf entsprechende Behandlung bald Besserung. 

Zusammenfassung: Sowohl beim Vater als beim GroBvater 
mutterlicherseite findet sich ziemlich betrachtlicher Alkoholismus. 
Sonstige Geisteskrankheiten lassen sich nicht nachweisen. Auffallend 
ist in dieser Familie, das t)berwiegen der Tochter. 

Familie L. 

Katharine He... geb. Kes. 

Vom 19. 1. bis 26. 12. 1851 in Stephansfeld. 

Immer ziemlich lebhaft und nervos, aber gute Arbeiterin. Tiichtige Hausfrau. 
Normale Intelligenz. Lebte immer in guten Beziehungcn zu ihrer ganzen Familie. 

Erkrankte 1850 an einem Erysipel mit sehr starkem Fieber und lebhaftem 
Delir. Schlug und schrie, so daB man sie an das Bett anbinden muBte. Eine 
energische Ableitungskur (saignee general©, purgatifs salins, synapismes aux 


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Psychi&trisehe Familienforschungen. 


235 


jambes) braohte Beaserung des 
korperlichea Zustandes; der 
psychische Zustand blieb un- 
ver&ndert. Die Kranke blieb 
sehr erregt, verweigerte die 
Nahrangsauf nahme, wurde 
dann sehr traurig und nieder- 
geeehlagen, zeigte nur voriiber- 
gehende Klarheit, war gelegent- 
lich immer wieder erregt. Uber 
den Verlauf der Krankheit in 
Stephansfeld selbet existieren 
keine Aufzeiehnungen. 

Johann L. 

Anfgenommen 22. 7. 1910 
bis 26. 3. 1913. 

Litt als Kind an Giohtern. 
Machte in der Jugend eine Lues 
durch. Viel geschlechtliohe 
Ausschweifungen vor der Ehe. 
Trank auch viel. Heirat 1877. 
Seit 1892 Ver&nderung. Wird 
sehr eitel, hochmiitig, kokett, 
prahlerisch. Soil in letzter Zeit 
ein deutliches Nachlassen sei¬ 
ner geistigen Fahigkeiten und 
seiner Arbeitskraft gezeigt ha- 
ben. Wurde sehr bestimmbar. 
Wurde zu allerlei Spekulationen 
verlockt, die seine Mittel weit 
iiberstiegen, so daB er frem- 
des, ihm anvertrautes Geld in 
Anspruch nehmen muBte. 

Zeigt in der Anstalt ein 
stumpfes, kritikloses, einsichts- 
loses Wesen. Hat seiner ganzen 
Situation gegeniiber gar kein 
Verstandnis. Der Verdacht, 
den man zu Beginn seines hie- 
sigen Anstaltsaufenthaltee 
batte, daB es sich bei Pat. um 
eine progressive Paralyse hand¬ 
le, muBte im Verlaufe der wei- 
teren Beobachtung aufgegeben 
werden, da eine Anderung im 
Wesen des Pat. eintrat. Er 
wurde ungemein riihrig, schrieb 
unz&hlige Briefe, zeigte ein sehr 
gesteigertes Wesen, riihmte 
stets seine eisenfeste Gesund- 
heit und seine hervorragenden 
Geisteskrafte. Es sei moglich 


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236 


E. Witterraann: 


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gewesen, in kurzer Zeit sieben Sprachen zu lemen; er sei iiberhaupt ungemein 
leistungsfahig. Dazu kommt, daB die Untersuchung der Lumbalfliissigkeit auf 
Wassermannsche Reaktion ein negatives Resultat ergab. Auf sein Drangen 
wurde Pat. wesentlich gebessert zu Verwandten entlassen. 

Johann L... (Sohn). 

Erste Aufnahme 29. 6. 1909 bis 21. 12. 1909. 

Zweite Aufnahme 13.6. 1910. 

Normale Entwicklung. Lernte bald laufen und reden. In der Schule sehr 
gut gelernt, war fast durchweg unter den Ersten. Soli seit seinem 18. Lebensjahr 
nioht mehr ganz normal sein. War erregbar, ermiidete bei der Arbeit schnell, 
sei stets sehr eigentiimlich gewesen, bisweilen habe er sich verfolgt geglaubt und 
gemeint, Gift im Essen zu bekommen. War 1904 in der Klinik in StraBburg. Bis 
1908 gesund. 1908 Stephansfeld. Nach 3 Monaten Besserung. Seither wieder zu 
Hause. Verschlimmerung wieder seit Ostern 1909. Er soil neuerdings Verfolgungs- 
und Vergiftungsideen geauBert haben. Gibt in der Anstalt sehr gut Auskunft, ist 
zeitlich und ortlich orientiert, in leichtgehobener Stimmung. Rededrang. Gibt 
einige Verfolgungsideen zu, die er aber immer zu motivieron versucht. Steigert 
sich bald, schreibt viele Briefe, macht Gedichte, ist sehr ablenkbar. Gehobenes 
Selbstgefiihl, spricht viel von Leistungen in seinem Beruf. Wird dann ideenfliichtig, 
springt und tanzt im Saal herum, mischt sich in alles, belastigt die andem Kranken. 
Beruhigt sich voriibcrgehend im Juli. Macht im August neuerdings eine zweite 
Erregung mit Rededrang und Ideenflucht durch, verfallt dann in einen Zustand 
der Hemmung, beruhigt sich. Wird im September 1909 tief deprimiert, beschuldigt 
sich, beim Militar Patronen gestohlen zu haben. Bietet ein eigenartiges Bild tiefster 
Depression mit ausgesprochener Ideenflucht und lebhaftem Rededrang. Ende 
November wird seine Stimmung gleichmaBiger, er wird auf Verlangen seiner An- 
gehorigen entlassen. 

Kommt bei der zweiten Aufnahme spontan in die Anstalt, weil es ihm nicht 
mehr gut gehe. Er habe sich in Paris aufgehalten, um eine Stellung zu suchen, 
habe aber nichts Passendes gefunden, sei deshalb aufgeregt geworden und habe 
sich deshalb hierher begeben. 

Macht zur Zeit der Aufnahme einen ideenfliichtigen Eindruck. Wird in der 
Abteilung bald sehr lebhaft, springt umher, wird vollig verwirrt, kann gar keine 
Auskunft geben. Sehr aggressiv gegen Pfleger und Kranke, bisweilen ungemein 
gereizter Stimmung. Von da an sehr wechselndes Zustandsbild. Voriibergehend 
vollkommen ruhig und geordnet mit Krankheitseinsicht und Erinnerung an seinen 
Aufregungszustand. Hat in der Erregung ganz phantastische Beeinflussungen 
durchgeraacht, iiber die er sehr gut Auskunft gibt. Schlagt dann plotzlich wieder 
um, wird depressiv, weint viel, macht sich zahlreiche Selbstvorwiirfe, schreibt 
reumutige Selbstbekenntnisse, in denen er sich aller moglichen Dinge beschuldigt, 
bittet seine Angehorigen um Verzeihung, beruhigt sich dann wieder, wird plotzlich 
wieder erregt. Ungemein gewalttatig. Macht einen ganz gespannten Eindruck. 
Gestikuliert. Gibt gar keine sinngemaBen Antworten. Grimassiert, fuchtelt mit 
den Armen in der Luft herum, wird sehr unrein, zerreiBt. In diesen Zustanden 
konnen plotzlich schwerste Depressionsanfalle auftreten. 

Marius L. 

Vom 1. 8. bis 28. 10. 1910. 

Von Kindheit an nervos, lernte in der Schule mittelm&Big, wurde dann Lehr- 
ling in einer Apotheke, soil dort sehr tiichtig gewesen sein. Beim Milit&r als Ein- 
jahriger. Wenig Geschick, machte alles verkehrt. Erkrankte 2 Tage vor der Auf¬ 
nahme mit motorischer Unruhe, auBerte GroBenideen, irrte umher, sprach ver- 
wirrt. 


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Psychiatrisdie Familienforschungen. 


237 


In der Anstalt orientiert, glaubt wissenschaftliche Entdeckungen gemacht zu 
ha be n, wie z. B., daB die starke erbliche Belastung eine Folge von Blutzersetzung 
sei. Er habe groBen Schaffensdrang in aich verspiirt und in seiner ganzen Welt¬ 
anschauung wenige Tage vor seiner Aufnahine eine Wandlung erfahren. Er habe 
gemeint, daB ihm AuBerordentliches passieren werde. In einer Sennhiitte glaubte 
er Morder zu entdecken. Auf dem Wege hierher inachte er zahlreiche Entdeckungen, 
wie z. B., daB Rufach die Hauptstadt eines vorkeltischen Reiches gowesen sei. 
Hier macht er psychologische Studien, die Leute konunen ihm alle so sonderbar 
vor, i8t gehobener Stimmung, beruhigt sich ziemlich rasch und'wird genesen ent- 
lassen. Dabei ist noch zu bemerken, daB seit seiner Entlassung Pat. un^er schwie- 
ligen Verhaltnissen im Auslande sich gut gehalten hat. 

Zusammenfassung: Die hier geschilderten Krankheitsbilder 
stellen durchaus atypische Formen dar. In den friiheren Generationen 
finden sich Geistesstorungen, die mit Leichtigkeit dem Bilde des manisch- 
depressiven Irreseins eingereiht werden konnen. Eine Triibung haben 
diese Krankheitsbilder entschieden dadurch erfahren, daB schon der 
Vater des Patienten Johann L... (Vater) eine sichere Lues durchge- 
macht hatte. Seine Nachkommenschaft zeigte typische Reihenfolge. 
Auch in der zweiten Generation beim Patient Johann L... konnte Lues 
auf Grand der Wassermannschen Reaktion im Blut nachgewiesen 
werden. Sein Krankheitsbild muBte lange Zeit fiir eine progressive 
Paralyse gehalten werden, bis erst im weiteren Verlaufe eine Klarang 
insofem erfolgte, als sich ausgesprochen manische Ziige bemerkbar 
machten. Bei seinen beiden Sohnen muB die Krankheit des Marius L... 
wohl als eine kurze manische Episode angesehen werden, bei Johann L... 
(Sohn) handelt es sich aber um ein ganz atypisches Zustandbil 1, in dem 
sich wohl reichlich manische und depressive Ziige vorfinden, das aber 
nach seiner Verlaufsform viel Ungewohnliches bietet. 


J. Marie 
* 1886 
gesund 


Fami 1 ie Bey. 


Anton Bey. 00 Agathe Bau. 
gesunde Leute gewesen 


Xavier Arm. <x> Agues Schr. 7 Schwestern, 
war ein fleifiiger 1 Bruder 

Mann gesund 


8 Schwestern, Margarethe Sebastian Bey. 00 1. Rosa Arm. 2. Marie 
8 Briider ist 1888 in * 1807, f 1881 * 1826, f 1890 * 1827, t 1&*4 

gesund Stephans- war Rcbmann, ist in Ste- starb an Aus- 
| feld ge- soli aber nieht phansfeld zehrung 

2 y storben, viel getrunken gestorben 

2 £ * 1820, f 1888 haben 


1. Rosa 2. Sebastian 

* 1848 00 1888 * 1866 in Belgien, 

Wei. Priester 8. J. 

ist in Rufach toll ein ganz abnormer, 
tehr reizbarer Mensch sein 


2. c? an & Henri 4. Eugen 
Kr Ample a * 1888 * 1889, f 1910 

mit 21/, Mo- gesund, kam krank 

nat gestor- war beim vom Milit&r 

ben Milit&r helm (Tbc) 


8. Marie 
* 1866 

leicht aufgeregt 



(4 k an Tuber- 
kulose gestorben) 


4. Louise 
* 1862 

leicht aufgeregt 


(3 j> bald gestorben) 


6. Ilenri 
* 18G6 

mit 22 Jahren an 
einem Unfall ge¬ 
storben 


Familie Bey. 

Margarete Rot.geb. Bey_ 

Vom 22. 8. 1882 bis 12. 12. 1888 in Stephansfeld. 

Soli immer gesund gewesen sein. Stets muntere umsichtigc Frau. Im Friih- 


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238 


E. Wittermann: 


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jahr 1882 Vemichtung der Weinerate und Diebstahl ihres baren Geldes. Seither 
deprimierte Stimmung, raacht sich Vorwiirfe, sie sei immer eine liederliche Person 
gewesen, habe alles verwirtschaftet, sei arm, habe nichts zu essen. Etwa 3 Woohen 
vor der Aufnahme aus Verzweiflung einen Erhangungsversuch. Kam korperlich 
st*hr herunter. 

Zeigte in der Anstalt ein unruhiges, kngstliohes, abweisendes Wesen mit deut- 
lichen Selbstvorwiirfen, macht sich viele Sorgen wegen des Bezahlens, will auch 
nicht mehr essen. Bittet, sie in eine niedere Klasse zu versetzen, es koste zu viel. 
Dauernd sehr gequ&lt. Diese Angstlichkeit steigert sich zuweilen zu deliranten 
Zustanden und vollstandiger Verwirrtheit. 

Stirbt an linksseitiger Pneumonie. 

Maria Rosa Bey... geb. Arm... 

Vom 8. 5. 1885 bis 18. 1. 1890 in Stephansfeld. 

Normale Entwicklung. 1883/84 in eine Erbschaftsangelegenheit verwickelt, 
die zu ihren Ungunsten entschieden wurde. Seither sehr gedankenvoll und triib- 
sinnig. BrachteBeeintr&chtigungsideen vor, man verfolge sie, wolle sie berauben und 
trachte nach ihrem Leben. Wurde dann angstlich, miBtrauisch, ging nicht mehr aus 
dem Hause. Zeitweise erregt, zerriB ihre Kleider. Manchmal vollstandig verwirrt. 

Kommt in die Anstalt in sehr reduziertem Emahrungszustand, ist ziemlich 
erregt, singt und schreit fortwahrend in obszonster und gemeinster Weise. Ist fast 
gar nicht zu fixieren. Motorisch sehr unruhig, beruhigt sich dann allmahlich. 
Kann zeitweise in den Garten gehen, ist sehr gesprachig, antwortet auf Fragen 
richtig mit Aufgebot eines groBen Wortschwalls, springt dabei immer vom Thema 
ah, mengt Deutsch und Franzosisch durcheinander. Wird dann wieder lebhafter. 
Zeigt dieselbe Unruhe wie friiher, ist gar nicht zu fixieren. 

Stirbt an Pneumonie. 

Rosa Wei.... geb. Bey.... 

Aufgenommen 24. 7. 1909. 

Normale Entwicklung. Heirat mit 35 Jahren. Erkranktc 1904 mit Eintritt 
des Klimakteriums zum erstenmal. Wurde zeitweise sehr aufgercgt, meinte, sie 
miisse nochmals heiraten, beruhigte sich aber immer bald wieder. Zeitweise De- 
pressionszustande, in denen sie ins Kloster gehen wollte. Wurde wegen ihrer Er- 
regungszustande im Jahre 1908 nach Stephansfeld gebracht, von wo sie im Mai 
1909 entlassen wurde. War dort sehr aufgeregt, zeigte einen motorischen Bewe- 
gungsdrang, sprach viel in einem fort. Stark gerotetes Gesicht, lebhafte Bewe- 
gungen. Beruhigte sich bald, blieb euphorisch, zeitweise sehr erregt, hatte Rrank- 
heitseinsicht, sie miisse jauchzen, konne nichts dafiir. Nach der Entlassung von 
Stephansfeld bald wieder Beginn einer Erregung, warf Stiihle zum Fenster hinaus, 
lief viel herum und wird deshalb wieder in die Anstalt gebracht. 

Hier starke motorische Unruhe, schreit laut und schimpft, macht einen groBen 
Larm, ganz ideenfliichtig und ablenkbar, zeitweise verwirrt. Beruhigt sich all¬ 
mahlich, beginnt sich zu beschaftigen, bittet um Entschuldigung wegen ihres 
h-Blichen Benehmens in der Zeit der Erregung. 

Wird dann im Juni 1911 ganz stuporos, depressiv angstlich. Erholt sich nach 
und nach, wird aber im Oktober 1911 neuerdings erregt. Zeigt das friihere Krank- 
heitsbild der Erregung, beruhigt sich voriibergehend, macht dann einen Zustand 
schwerster angstlicher Verwirrtheit durch, kann kaum reden, leidet an schreck- 
haften Halluzinationen, ist ganz gehemrat. Wird nach und nach freier, wiinscht 
selbst, daB sie immer so ruhig sein konne, wie sie jetzt ist. Bietet noch immer das 
Bild leichter Hemmung. 

Zusammenfassung: Es handelt sich um Belastung von beiden 
Seiten her. Die Mutter der Patientiji lilt an einem schweren Depressions- 


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Psychiatrische Familieiiforechungen. 


239 


zu8tande, der allerdings erst 
im 60. Lebensjahre auf- 
trat, der aber in seinem 
Verlaufe viel Ahnlichkeit 
mit dem Krankheitsbilde 
der Patientin Rosa Wei... 
hat. Auch von vaterlicher 
Seite scheinen Depressions- 
zustande nachzuweisen zu 
sein. Die Schweeter des 
Vaters machte wenigstens 
auch in hohem Alter einen 
Zustand von schwerer 
Angstlichkeit durch. 

Gruppe IV. 

Familien mit atypischem 
Erbgange und atypischen 
Krankheitsbildern. 

Familie Mey. 

Ernst Mey. 

Anfgenommen am 29. 1. 

1909. Entlassen am 30. 8. 1909. 
Zweite Aufnahme: 27. 1. 

1910. 

Pat. erkrankte im Jahre 
1907, wurde wegen eines Tob- 
suchtsanfalls in das Biirger- 
spital Miilhausen gebracht, von 
dort am 5. 12. 1907 nach Ste- 
phansfeld uberfiihrt. Dort bei 
der Aufnahme ortlich und zeit- 
lich orientiert, zeigte unsichere 
Aussprache, schlechte Pupillen- 
reaktion, rechts FuBklonus. 
Patellarsehnenreflex reehte leb- 
hafter als links. Euphorisch. 
Wurde dann im Februar 1908 
etwas erregter, erzahlte, sein 
GroBvater sei Gott im Himmel 
gewesen; er habe vom Kaiser 
6000 M. erhalten usw. Wurde 
ruhiger, freundlich, zeigte Stim- 
ninngsschwankungen. 

Bei der Aufnahme gibt er 
das Jahr als 1809 an, rechnet 
sehr schlecht. Keinerlei Ein- 
sicht; l&Bt sich leicht beruhigen. 


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240 


E. Witterinann: 


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Wird im weiteren Verlaufe apathisch, bringt allerlei unsinnige Plane beziiglich 
seines Fortkommens nach der Entlassung vor. Das Gedachtnis laBt mehr und niehr 
nach. Sprache wird immer schwerf&lliger. 1st voriibergehend verstimmt. Auf 
Verlangen der Frau, nachdem er sich hier langere Zeit mit Feldarbeit beschaftigt 
hatte, nach Hause entlassen. 

Wird wiedergebracht, nachdem es ihm eine Zeitlang ganz gut gegangen war, 
hatte Teufelserscheinungen gehabt und war deshalb erregt worden. Psychisch 
nicht wesentlich verfcndert, schwachsinnig, zufrieden, euphorisch. Organische 
Storungen unverandert. (Diagnose: progr. Paralyse.) 

Karl Mey.... 

Aufgenommen am 13. 7. 1911. 

Al8 Kind gesund, lemte in der Schule gut, wurde Friseur. Immer nervos und 
aufgeregt, eigensinnig und jahzornig. Vor 8 Jahren Gelenkrheumatismus. Seit 
Neujahr 1911 psychisch verandert. Arbeitete unregelmaBig, wurde leicht aufgeregt, 
hatte immer zu Hause Zank. Bildete sich ein, daB eine Kartenschlagerin, die im 
Hause wohne, es auf ihn abgesehen habe. Er habe einmal, als sich die Schwester 
aus den Karten die Zukunft sagen IieB, drauBen gehorcht und gehort, daB es in 
der Familie n&chstens einen Todeafall geben werde und daB er der Mutter den 
Hals mit einem Rasiermesser abschneiden werde. Wurde deshalb auBerordentlich 
orregt, kam auf ein paar Tage in das Biirgerspital, wo er nach wenigen Tagen ent¬ 
lassen wurde. Aus einer Stelle in der Schweiz kam er bald wieder nach Hause 
zuriiok, drohte die Kartenschlagerin mit einem Revolver zu erschieBen. 

Bei der Aufnahme ruhig, geordnet, durchaus oricntiert. Erz&hlt selbst die 
Geechichte von der Kartenschlagerin, sagte, daB er im AnschiuB daran von den 
Leuten uberall irregefiihrt wurde, bringt allerlei Beziehungsideen vor: Leute haben 
ihn ausgelacht, er habe auch wiederholt geh6rt, wie Leute von ihm sprachen. 
Keinerlei Krankhcitseinsicht. Macht im weiteren Verlaufe mit einem Messer einen 
Angriff auf einen Pfleger. Zieht alles in einen Kreis seiner Ideen, halt sich immer 
noch beeinfluBt durch die Kartenschlagerin. Spricht sich nur sehr reserviert aus, 
dissimuliert offensichtlich. W T ird weiterhin sehr erregt, gereizt, h&lt sich fur be¬ 
einfluBt, er fiihle sich unter der Wirkung einer fremden Macht, er habe das Geftihl, 
als ob man ihm die Gedanken wegnehme. 

Josef Mey. 

Aufgenommen 14. 5. 1907 in Stephansfeld. 

Soli in der Schule schwer gelemt haben, bis zuni 16. Lebensjahr unreinlich 
mit Urin. Begann schon in der Jugend zu trinkcn. Arbeitete nichts mehr, ver- 
kaufte alles, was er hatte. Wurde gelegentlich erregt, sang, tobte, zerschlug, was 
ihm in die Hande kam und auBerte hie und da LebensiiberdruB. In der Anstalt 
tagstlich-ratloser Gesichtsausdruck, gibt Potus zu, hort Stimmen, ohne aber sich 
naher dariiber auszusprechen. Zeigt dauemd leicht bekiim inert on Gesichtsausdruck, 
ohne besondere Angst. Klagt hie und da iiber Kopfsclunerzen, zeigt stereotype 
Bewegungen, wird zusehends stumpf und intercsselos. Zeigt ein ablehnendes Wesen. 
Keinerlei Initiative. Beschaftigt sich nicht, liegt viol umher, macht einen ganz 
gleichgiiltigen, indifferenten Eindruck. 

Familie Au. 

Moritz Au. 

Vom 30. 11. 1900 bis 18. 4. 1901 in Stephansfeld. 

Normale Entwicklung. Infizierte sich beim Mi] i tar mit Syphilis. Seit Friih - 
jahr 1900 Abnahme des Gediichtnisses, zog sich vom Verkehr zuriick, sprach sehr 
wenig. 3 Wochen vor der Aufnahme sehr aufgeregt, trinkt viel, behauptete. er 


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Psychiatrische Farailienforschungen. 


241 


sei Million&r, verfolgt Frauen mit sexu- 
elien Antr&gen, rcnnt einem vorbeifah- 
renden Schnellzug 5 Minuten lang nach. 

Bei der Aufnahme sehr euphorisch, 
er sei der gliickliohste Mensch, konne 
sofort 100000 M. bringen, singe aUe 
Stimmen, er werde als groBer Sanger 
geeucht in alien Blattem. Sei vorziig- 
licher Soldat gewesen, er konne stun- 
denlang auf einem Bein stehen. 

Pupillenstorungen, Facialisparese, 
Tremor der Zunge und der Handc. 
Beben der Gesichtsmuskulatur, Rom¬ 
berg, Sprachstorung. 

Dauemd sebr lebhaft, in hoch- 
gradiger motorischer Erregung mit sinn- 
loeen GroBenideen und gehobener 
Stimmung. 

Bald unrein mit Urin. Geht kor- 
perlich rasch zuriick. Wird sehr elend 
und hinf&llig, raagert ab, stirbt an 
Broncho-Pneumonie. 

Josefine Bre... geb. Selim.... 

Erste Aufnahme 21. 3. 1911 bis 
26. 1. 1912. 

Zweite Aufnahme 24. 5. 1912 bis 
12. 6. 1912. 

Dritte Aufnahme 8. 12. 1912 bis 
15. 12. 1912. 

Vierte Aufnahme 24. 2. 1913 bis 
30. 3. 1913. 

Fiinfte Aufnahme 18. 6. 1913. 

In der Schule gut gelemt. Immer 
gesund. Leicht erregbarer Charakter, 
nahra alles sehr schwer. Heiratete mit 
21 Jahren. 1908 erste Depression ohne 
auBere Veranlassung, die jedoch bald 
voriiberging. Friihjahr 1909 ebenfalls 
leichte Depression. Ende Februar 1911 
neuerliche Erkrankung, wurde aufge- 
regt, sprach und sang sehr viel, sehr 
labiler, meist gehobener Stimmung, 
kam in Konflikte mit ihrer Umgebung. 
MuBte hierhergebracht werden. Sehr 
gehobener Stimmung, starker Rede- 
drang, maBige Ideenflucht, Personen- 
verkennung. Fiihlt sich iibergliicklich, 
habe Himmelsfreuden genossen. Bleibt 
znnachst in gehobener Stimmung mit 
starker motorischer Erregung, auBert 
ab und zu GroBenideen, muB eine Zeit- 
lang wegen geringer Nahrungsaufnahme 


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E. Wittermann: 


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kiinstlich ernahrt werden, sagt dabei, das sei siiBer als Milch und Honig. Be- 
ruhigt sich allm&hlich, eine Zeitlang erotisch. Wird erheblich gebessert nach 
Hause entiassen. 

Bei alien spkteren Aufnahmen handelt es sich um Depreesionen, einigemal 
kommt Pat. von selbst in die Anstalt, weil sie sich schwere Gedanken mache. Sie 
habe auch oft daran gedacht, sich das Leben zn nehmen. Bringt einmal eine 
Flasche Lysol mit. 

Diagnose: Manisch-depressives Irresein. 

Mathilde Au... 

Aufgenommen 18. 5. 1909. 

Lemte erst mit 2 Jahren gehen. Lerate in der Schule nicht gut, hatte schlechtes 
Gedkchtnis. Im 16. Lebensjahre Charakterver&nderung, lachte und weinte ohne 
kuBeren AnlaB, wurde im Sommer 1909 aufgeregt, aggressiv gegen Mutter und 
Geschwister, schimpfte viel, dann Gieder angstlich, melancholisch und verstimmt. 
MuBte am 23. 9. 1908 in Stephansfeld aufgenommen werden, von wo sie hierher 
iiberfuhrt wurde. 

Machte dort einen sehr stumpfen, unintelligenten Eindruck, drkngt blindlings 
fort, wurde unsauber, speichelte stark. In der hiesigen Anstalt voriibergehend er- 
regt, lachte viel, sang, tunzte umher, kletterte liber Bknke und Tische, benahm 
sich ziemlich albern. Weitgehender Schwachsinn. 

Im weiteren Verlaufe geziertee Benehmen, Neigimg zu Unsauberkeit, ver- 
blodet rapid, wird sehr dick, ganz stumpf und teilnahmslos, apathisch und indiffe¬ 
rent. Impulsive Erregungszustande. 

Familie Run. 

Eugenie Unter geb. Run... 

Vom 22. 8. 1903 an in Stephansfeld. 

Erkrankte schon vor 1902. Zog viel herum, arbeitete nichts, war zeitweise 
deprimiert und lebensiiberdriissig, dann wieder sehr erregt und aggressiv. 

Bei der Aufnahme sehr unwillig, bringt vage Verfolgungsideen vor, man habe 
gegen sie gestupft, iiber ihre Eltern geschimpft. Sie habe oft auf dem Felde iiber- 
nachtet. Stimmenhoren wird in Abrede gestellt. 

Im weiteren Verlaufe zeitweise erregt, drkngt sinnlos fort, wird immer ge- 
reizter und unzufriedener, arbeitet nicht mehr, zeigt dabei ziemlich ausdruckslose 
Gesichtszuge. Zeitweise sehr storend und unruhig, in gereizter Stimmung, schimpft 
sinnlos. Dauemd in sturmischer Erregung mit Neigung zu Gewalttatigkeiten. 
Dabei vollig abweisend und unzugknglich. 

Josef Run.... 

Vom 7. 3. bis 29. 6. 1909 in Rufach. 

Uber die Jugend nichts Sicheres bekannt. Erste Anzeichen geistiger Erkran- 
kung im Jahre 1899 im AnschluB an den Tod seiner Frau. Wurde verwirrt, begann 
zu zerstoren, trank sehr viel im Gegonsatz zu seiner friiheren Gew^hnheit. Kam 
im Jahre 1899 nach Stephansfeld, zeigte dort motorische Unruhe, gehobene Stim- 
mung. Im weiteren Anstaltsaufenthalt jahes Schwanken zwischen Heiterkeit und 
Depression. Im Marz 1900 entiassen, fand sich 1902 zur Aufhebung seiner Ent- 
imindigung freiw-illig ein, war ganz klar und orientiert. Von 1904 bis 1907 neuer- 
dings in Stephansfeld wegen Eriegung. Hatte unsinnige Einkiiufe gemacht. Machte 
in der Anstalt einen stumpfsinnigen, einsichtslosen Eindruck. Wurde entiassen, 
hielt sich anfangs gut. 1909 neuerdings in die Anstalt. Gehobener Stimmung, trug 
sich mit Heiratsplanen, lief im Hcmd auf der StraBe umher. 

In der hiesigen Anstalt gleiehgiiltig, dement, reagiert nur auf eindringliche 
Fragen. Gcsichtsausdruck miide und matt. Aus dem korperlichen Befunde sind 


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Psychiatrische Familienforschungen. 


243 


schlaffe Geeichtsinnervation und lichtstarre 
Pupillen sowie FehJen der Patellarreflexe 
zu erwahnen. 

Im weiteren Anstalteverlaufe stark ge- 
hemmt, Mangel an Initiative, dumpfe 
Niedergeschlagenheit. Sp&terhin leicht ge- 
hobene Stimmung. Die somatisehen Er- 
scheinungen versohwanden. Wurde ent- 
lassen. Hielt sioh drauBen ganz gut. 

Josef Run.... 

Aufgenommen 9.12.1908 bis 26.10.1909. 

Zweite Aufnahme am 23. 11. 1910. 

tTber Entwicklung niohts N&heres 
bekannt. War bei einem Landwirt in 
Dienst, wurde plotzlich erregt aus Arger 
iiber Hanseleien durch andere Arbeiter. 
MuBte deshalb am 24. 11. 1908 nach 
Stephansfeld gebracht werden, von wo er 
hierher ubcrfiihrt wurde. 

MurrischerGesiohtsausdruck. Schlech- 
te Schulkenntnisse. In der Anstalt ruhig 
und geordnet. Ganz ruhiges und geord- 
netee Verhalten in der hiesigen Anstalt bis 
Ende 1908. Wurde um diese Zeit unruhig, 
lief viel umher, lachte grundlos, gab aber 
auch dazwischen sinngemaBe Antworten. 
Scheint Stimmen gehort zu haben. In der 
n&chsten Zeit Zunahme der Erregung, be- 
ruhigt sioh dann im Januar 1909 allm&hlich, 
zeigte noch ein scherzhaftes Benehmen, 
konnte wieder besohaftigt werden und 
wurde gebessert beurlaubt. 

Zweite Aufnahme veranlaBt durch 
neuerliche Erregung und Verwirrtheit des 
Pat. Motorische Erregung, l&Bt sich nicht 
fixieren. Sehr storend, gibt an, Gestalten 
gesehen und Stimmen gehort zu haben. 
Gezwungene eckige Bewegungen, Negati- 
vismus angedeutet. Zeigt dann ein sehr 
verschrobenes Benehmen. Voriibergehend 
mutazistisch, manieriert. Zeitweise besch&f- 
tigt. Dann plotzlich wieder aufgeregt, un- 
zug&nglich. Zeitweise ganz depressiv, ver- 
weigert die Nahrungsaufnahme. Trauriger 
Gesichtsausdruck. Wird dann wieder l&p- 
pisch heiter. Gchobene Stimmung, freund- 
lich zuganglich. Arbeitet zur Zeit. Negiert 
Sinnestauschungen und Wahnideen. 

Leo Run.... 

Aufgenommen 30. 7. bis 22. 12. 1912. 

Ober Entwicklung niohts N&heres be¬ 
kannt. Bis zum 14. Lebensjahre im Wai- 


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244 


E. Wittennann: 


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senhaus. Arbeitete dann bei Bauem, soil tiichtiger Arbeiter gewesen sein. War 
ziemlich verschlossen. Erkrankte plotzlich im Juli 1912. Warf sich nackt viel 
im Bett umher, sang und betete viel, glaubte den Teufel zu sehen, hatte Angst, 
war der Meinung, er w&re verloren. Gibt in der Anstalt zunachst Sinnestauschungen 
zu, macht einen stuporosen Eindruck, sagt, er begroife nichts mehr, er habe alles 
verlernt. Bald heiter, bald depressiv, faflt leidlich auf, antwortet langsam raonoton. 
Bleibt zun&chst sehr angstlich, liegt im Bett, jammert fortwahrend, er habe nichts 
gemacht, man solle ihn in Ruhe lassen. Wird dann auffallend stumpf und affekt- 
los, antwortet auf Anrede murrisch und grimassierend, in murmelnden Lauten. 
Motorisch erregt, bleibt nicht im Bett. Ximmt dann stark an Gewicht zu, wird 
psychisch bedeutend freier, ohne Einsicht in den durchgemaohten Erregungs- 
zustand, sagt, er sei aufgeregt W’orden durch andere Kranke. Bleibt dann ruhig, 
freundlich, geordnet, arbeitet fleiBig, ohne rechte Krankheitseinsieht. Auf Wunseh 
des Vaters entlessen. 


Fa mi lie Bro. 

Barbara Mau... 

Aufgenomir.cn am 29. 3. 1909, am 14. 7. 1909 gestorben. 

Die Kranke war kdrperlich und geistig gesund, arbeitsam und riistig bis vor 
etwa 3 Jahren. Erlitt im Januar 1906 einen Schlaganfall, im Herbst desselbcn 
Jahres einen zweiten, im Sommer 1907 einen dritten. Die Lahmungen betrafen 
nur Gesicht und Sprache, nicht die Extreinitaten. Seither langsarne Abnahine des 
Gedachtnisscs und der Merkfahigkeit, zunehmende Zerstreutheit und Zerfahren- 
heit, planloses Herumgehen und Davonlaufen. In den letzten Monaten vor der 
Aufnahme betrachtliche Verschlimmerung; die Kranke redete viel vor sich bin, 
schlief wenig, verkannte die Personcn ihrer Umgebung, sail in noeh lebenden 
Personen langst verstorbene Bekamite aus ihren Kinder- und Made hen jahren, 
wurde immer unrubiger, gereizt, rechthaberisch, lieB sich keinerlei Vorschriften 
inachen. Wurde unsauber. 

Bei der Aufnahme sehr dement, leicht verwirrt, gibt keine sinngemaBe Ant wort, 
komrat den an sie gerichteten Aufforderungen in ganz verkehrter Weise nach. 
Stimmung indifferent, mit einem leicht euphorischen Einschlag. Monotone Sprache, 
die sich auf einige Silben beschrankt, schwer fixierbar, motorische Unruhe. Un¬ 
sauber. Korperliche Greisenerscheinungen, Emphysem der Lunge, Arteriosklerose. 
Dauernd hinfallig. Stirbt unter Erscheinungen von zunebmender Schwache. 

Diagnose: Senile Demenz (arteriosklerotische Form). 

Barbara Bro_geb. Mau... 

Aufgcnommen am 22. 5. 09. 

Normale Entwicklung. Lernte in der Schule gut. Von Charakter immer bos- 
artig und widerspenstig. Starker Geschlechtstrieb. Wurde nach ihrer neunten 
Entbindung im Mai 1900 plotzlich geisteskrank, sprang aus dem Bett, spraeh 
verworren, tanztc im ‘Zimmer umher, verlieB das Haus, wanderte in den Bergen 
herum, machte sich Vorwiirfe, brachte Andeutungen von I^ebensulH^rdruB hervor. 
Einige Male bei Selbstmordversuchen ertappt. Dann erregt, spraeh viel unzu- 
sammenhangendes Zeug, zeitweise depressiv, reizbar, kummerte sich nicht urn 
ihre Kinder. Wurde am 26. 9. 1901 in Stephansfeld aufgenommcn. AuBerlich ruhig 
und geordnet, vollkommen orientiert, sagt, daB der Bose sie getrieben habe, von 
zu Hause fortzugehen, weint dabei, jammert, sagt, sie babe sich Vorwiirfe gemacht, 
sie sei traurig gewesen, cine innere Unruhe hatte sie getrieben, sie hatte immer 
laufen und laufen miissen, hatte nachts in den Feldern geschlafen, weil sie meinte, 
sie diirfe nicht mehr heim, ihr Leben sei ihr verleidet gewesen, weil sie den Eltern 
nicht gefolgt babe. Urn ihre Kinder habe sie sich nicht mehr bekiimmert. 


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Psychiatrische Kainilienforsch ungen. 


245 


Aus Angst habe sie ins Wasser sprin- 
gen wollen. Zeigt deprimierte Stim- 
mung, die noch langere Zeit bestehen 
bleibt. Verlangte wiederholt, daB 
man sie totschlage, wollte in den 
Kanal springen, um sich das Leben 
zu nehmen. Spater wird die Stimmung 
sehr labil und steht haufig in Wider- 
spruch zu den AuBerungen der Kran- 
ken. Beschaftigt sich, bekommt aber 
dabei sehr leicht Handel, ist sehr 
wenig vertraglich. 

Bei der Aufnahme hier in ge- 
hobener Stimmung, spricht viel und 
lebhaft, beschaftigt sich gleich, sucht- 
sich standig zu schmiicken mit Blu* 
men und Bandern. Dauernd freund- 
lich, zuganglich, heiter, in ihrem 
Wesen burschikos, redselig, singt 
viel. Zeitweise deutliche Ideenflucht, 
hier und da motorisch erregt. In 
letzter Zeit dauernd gehobener Stim- 
mung, betont, daB sie aus einer sehr 
guten Familie sei, will deshalb in 
die Pensionarabteilung, verspricht 
dem Arzte ein reiches Trinkgeld. 

Diagnose: Manisch-depressives 

Irresein auf imbeziller Grundlage ( ?). 

Johann Martin Bro. 

Aufgenommen am 20. 4. 1912. 

War als Kind nicht krank, lernte 
in der Schule nicht beeonders. Diente 
10 Wochen beim Militar, wurde auf 
Reklamation entlassen. Arbeitete 
dann zu Hause. Hat nie ii berm a Big 
getrunken. Bek am vom Trinken leicht 
Kopfscliraerzen und Schwindel. Im 
AnschluB an einen Schreck im Vor- 
jahre Auftreten von Anfallen, wobei 
er zu Boden fiel und sich in die Zunge 
biB. Wurde deshalb in eine franzo- 
sische Irrenanstalt aufgenommen und 
von dort hierher iiberfiihrt. 

Bei der Aufnahme ruhig, sehr 
sehwachsinnig, in der Ausdrucksweise 
ungemein umstandlich und weitschwei- 
fig. Sehr schlechte Auffassung. Gibt 
selbst geniigende Auskunft iiber seine 
Anfalle, die spater in der Anstalt beob- 
achtet werden; sie haben typischen 
epileptischen Charakter, treten ziem- 
lich haufig auf. 


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Familie Kon. 

Marie K6n.... 

Vom 22. 4. 1887 bis 26. 6. 1888 
in Stephansfeld. 

Seit 15 Jahren geistesgestort, und 
zwar soil die Krankheit anfallsweise 
aufgetreten sein und jedesmal etwa 
5—6 Wochen gedauert h&ben. In den 
Zwiachenzeiten konnte sich die Pat. 
beschaftigen. In der letzten Zeit vor 
der Aufnahme erregt, redete verkehr- 
tes Zeug, schlief schlecht, schien 
Stimmen zu horen. Zertriimmerte 
das Mobiliar. 

Bei der Aufnahme ziemlich ab- 
lehnend, zeigt ein soheues zuriiok- 
gezogenes Wesen, verweigerte bald 
die Nahrungsaufnahme und muBte 
kiinstlich gefiittert werden. Sehr ab- 
lehnendes Wesen, gibt keinerlei Aus- 
kunft. MuB lange Zeit gefiittert wer¬ 
den, geht sehr zuriiek und stirbt an 
Herzschw&ohe. 

Katharina Kon... 

Aufgenommen 30. 8. 1911. 

Normale Entwicklung. Geistig 
gesund bis etwa 1910. Wurde schwach- 
sinnig, nachts oft unruhig, spektakel- 
te viel, schrie zum Fenster hinaus, 
wurde immer erregt und verwirrter. 
In der Anstalt m&Bige motorische 
Unruhe, angstlicher Gesichtsausdruck, 
Schiitteltremor des Kopfes, Verlust 
der ortlichen und zeitlichen Orien- 
tierung. Ohne besonderen Affekt. 
Neigt jedoch zur Angstlichkeit. Weit- 
gehender Schwachsinn, zeitweise ganz 
ablehnend, dann wieder l&ppisch 
euphorisch, korperlich sehr hinf&llig. 
Typische senile Demenz. 

Luise Kon.... 

Erste Aufnahme 23. 5. 1911 bis 
18. 9. 1911. 

Zweite Aufnahme 2. 10. 1912. 

Als Kind viel kr&nklich. In der 
Schule gut gelernt, war immer unter 
den Ersten. Wechselte dann oft die 
Stelle als Dienstmadchen, teilswegen 
tlberarbeitcns und Schwache, teila 
wegen triebartiger Unruhe. Erkrankte 
1893 im AnschluB an den Tod ihres 
Brantigams zum ersten Male, wurde 


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Psychiatrische Familieiiforschungen. 


247 


aufgeregt. Nach 3 Monaten Aufenthalt im Spital genesen. Wurde dann Fabrik- 
arbeiterin, lief oft von der Arbeit fort, wurde mehrfach in Waldern aufgegriffen. 
AuBerte mehrmals LebensiiberdruB. War mit 25 Jahren 3 Monate lang in der 
Friedmatt, dort vollig verwirrt, sang und lachte viel, besserte sich rasch, wurde 
genesen entlassen. 

Im Mai 1911 neuerlicher Erregungszustand. Lief wieder von zu Hause fort, 
iibernachtete auf einem Friedhof, muBte wegen Erregung hierher gebracht werden. 

Hier anfangs ruhig, fiihlt sich schwach, will sich ausruhen, nicht eigentlioh 
krank. Zeigt leichte motorische Unruhe, heiteren Gesichtsausdruck. Bei der Unter- 
suchung ohne besonderen Affekt, ziemlich indifferent. Gibt Stimmenhdren zu. 
Zeigt ein ziemlich fahriges Wesen, schimpft bisweilen, lacht und weint unmotiviert. 
Beruhigt sich allmahlich, arbeitet. Kami gebessert entlassen werden. 

Nach der Entlassung bald wieder erregt. Es gab zu Hause allerlei H&ndel, 
Pat. argerte sich viel, lief wieder davon und wurde ins Spital gebracht. Gibt ihre 
fruheren Sinnestauschungen zu, zeigt ein ziemlich zerfahrenes und scheues Wesen, 
ohne ausgesprochenen Affekt. In der Ausdrucksweise gelegentlich etwas ver- 
schroben. 

Im weiteren Verlaufe mehrmals lebhafte motorische Erregung, sprachliche 
AuBerungen vollig verwirrt bis zum Wortsalat. Spricht von allerlei Geheimnissen, 
beruhigt sich dann immer wieder, besch&ftigt sich, zeigt aber meist ein ziemlich 
verschrobenes Wesen. 


Familie Go. 

Johann G6. oo Marie Madeleine Jean GeorgeB Ben. oo Marguerite Ben. 

von Neustadt Bei. * 6. 1. 1788 * 20. 8. 1796 

a. d. H. ein- f 7. 6. 1886 t 27. a 1846 

gewandert 


4 Brtlder Daniel GO. 

1 Schwester * 11. 11. 1819 

gesund t 7. 6. 1889 

war Gastwlrt, hat 
getrunken, erwarb 
sich in Amerika 
ein Vermogen 


1. Wilhelm Daniel 2. Johann Georg 8. (f 4. £ 

* a 1. 1863 * 2. a 1861 * 1862 * 1864 

1st in Bufach gesund, t 1862 f 1864 

1 5 gesund wurde eine bald ge- 
* 1890 Stunde alt storben 
1 U * 1900 
t 1907 

Familien Ben und Go. 

Katharine Georgette Wal.geb. Ben.... 

Aufgenommen am 25. 5. 1904; gestorben 26. 7. 1907 (in Stephansfeld). 

Norm ale Entwicklung. Machte in den letzten Jahren vor der Aufnahme 
allerlei Unannehmlichkeiten mit Prozessen und Geldverlusten durch. Vier Woohen 
vor der Aufnahme Ausbruch der Verzweiflung mit Angst, sie sei vollig verarmt, 
werde auf die StraBe gestellt, man werde sie zerschneiden, auBerte Suicidideen. 
Bei der Aufnahme in angstlicher Unruhe, bringt das Bett durcheinander, zeigt 
ein ablehnendes unzugangliches Verhalten. Tief bekiimmerter Gesichtsausdruck. 

Bleibt noch lftngere Zeit in dieser deprimierten Stimmung. Verschiedene 
Operationen, schlieBlich Amputation des rechten Beines. Weitgehende Infek- 
tionen, endlich Exitus. 

Marie Ben... 

Aufgenommen 19. 3. 1911. 

Korperlich immer schwachlich. Lernte in der Schule gut. Litt viel in den 


Julie Adele Ben. Geschwister, slehe 
* 21. 8. 1818 Familientafel Ben. 

t 21. 4. 1898 
schwAchlich, arbeltete 
liber ihre Kr&fte, starb 
an Schlaganfall 


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Psychiatrische Familienforschungen. 


249 


ietzten 10 Jahren an nervoeen Beechwerden, hatte unangenehme Sensationen im 
ganzen Korper, war ganz deprimiert, schlief schlecht. Zeitweis© innerlioh wieder 
auBerordentlich erregt. trug aich mit Selbstmordgedanken, wurde ganz erschdpft 
hierher gebracht. 

In der hiesigen Anstalt korperlich starke Arterioakleroee. Psychisoh: dauemd 
geordnet, klagt iiber Miidigkeitsgefiihl, iiber Schmerzen in verschiedenen Organen. 
1st zeitweis© recht unvert r&glich, beklagt sich iiber Vernachl&ssigung duroh da a 
Pflegepersonal. Oft sehr gereizt and empfindlich. Queraliert. 

Wilhelm GO... 

Von 1909 bis 1912 sechsmal in der hiesigen Anstalt. 

Lemte gat. Fiihlt sich seit 1878 krank, miide and matt. Nahm aus Zeitungs- 
reklamen all© moglichen Geheimmittel, mit denen er sich zu behandeln suchte. 
Seit 1901 Nachlassen der Arbeitskraft, gibt fur die Beschaffung von Geheim- 
mitteln, for die Behandlung dnrch Magnetiseure and Hvpnotiseare ein Vermdgen 
aus. 

In der hiesigen Anstalt zeitweis© gedriickt und verdrossen, klagt iiber Angst 
vor Geisteakrankheit, er miisse immer zwangsmkflig daran denken, stets auBer¬ 
ordentlich hypochondrisch, kommt immer mit einer Reihe von korperlichen Be- 
schwerden. Beschaftigt sich im Bureau, legt sich aber bei seiner Arbeit ziemlich 
.Schonung aaf. 


Kami lie Ro. 


Michael Ro. ~ Barbara Se. 

• 1829, f 1901 • 1896, f 1908 

Holzhindler, ge- gesund 

sand, hat nicht 
getruakeu 


Louis Bfa. 

• 1825, f 1898 
starb an Hirnent- 
zttndung,hat 
vlelgetrunken 


Katharine Ml. 
* 1882, 1 1808 
war gesund 


2. Virgil 
• 1870 

Landwlrt, ge¬ 
sund 


1. Karl Ro. Mathilde Ma. 2. Bugen 8. Anna 

• 1862 1*92 • 1868 • 1809 • 1870 

gesund. riistlg, gesund Geschftftsmann, hatte 4 Kinder, 2 

Grundbeaitzer ledlg,leicht auf- 2 £, 1C? im Alter von 

geregt,bisslg wenigen Monaten f 


Michel Karl 1. Maria 2. Georgette 3. Jeanne 

* 1901 * 1909 • 1896, f 1906 • 1894 * 1907 

an Typhus 1st in Rufach gesund 


Familie Ro. 

Georgette Ro. 

Aufgenommen am 3. 5. 1912. 

Normale Entwicklung. Lemte zur rechten Zeit Gehen und Sprechen. War in der 
Schule unter den Ersten. Erkrankte im Sp&tjahr 1910 in einem M&dchenpensionat 
in Nancy, wurde sehr erregt, kam in die Klinik nach StraBburg, von wo sie nach 
2 Monaten wieder entlassen wurde. Hielt sich zu Hause ganz ruhig, bis sie im 
AnsohluB an eine starke Menstruation zu Neujahr 1912 wieder sehr erregt wurde, 
viel sprach und in die Klinik gebracht werden muBte, wo sich aber in ihrem Be- 
finden keine weaentliche Besserung einstellte. 

Bei der Aufnahme ortlich orientiert, zeitlich mangelhaft, zeigt ein sehr ein- 
faltiges Benehmen, kommt immer damit, daB sie schon tot sein mochte, damit 
sie nicht zu leiden brauche, sie komme ja doch nicht mehr heim, es sprachen hier 
alle Leute da von. Man sprache immer von Totengrabem und Totenbeinen. Redet 
in einem weinerlichen, jammemden Ton. 

Korperlich: Sensibilitatsstorungeu, deutliche Ovarie, motorische Unruhe der 
Finger, fibrillares Zittem der Zunge. Macht in den ersten Tagen einen typiscb 
psychogenen ErregungSzustand durch, zeigt dann dauemd ein sehr schlaffes und 
mtides Benehmen, hat bei der Beechaftigung keinerlei Ausdauer. 

Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XX. 17 


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Familie Ber. 

Luise Ber... 

Erste Aufnahme 15. 2. 1911 
bis 30. 9. 1911. 

Zweite Aufnahme 25. 5. 1912. 

Gesund. Sehr begabt, lernte 
in der Schule gut. Still, gutmiitig, 
ehrgeizig. Hatte in den zwanziger 
Jahren ein Verhaltnis, soli in die- 
ser Zeit lange an Heiserkeit ge- 
litten haben. Seit 1908 sehr ner- 
vos, schlaflos, groBt^ Ermiidbar- 
keit. 1910 Verschlimmerung. Wur- 
de heftig, schlug die Kinder in 
der Schule, an der sie Lehrerin 
war, fing an, sich zu vernach- 
lassigen, wurde immer stumpfer 
und apathischer. Merkliche Ab- 
nahme der Intelligenz. 

In der hiesigen Anstalt kor- 
perlich typischer paralytischer Be- 
fund. Starke Gedachtnisstorung, 
Sprachstorung, Neigimg zu Un- 
reinlichkeit. Wird immer stumpfer, 
bekommt dann eine kurzdauemde 
Remission. 

Bei der zweiten Aufnahme 
stdir unruhig, GroBcnideen, zeit- 
weise erotisch. Wird immer zer- 
fahrener, vcrfallt, Exitus an Ma¬ 
rasmus paralyticus. 


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Psychiatrische Familienforschungeii. 


251 


Das gesamte auf den vorigen vSeiten dargestellte Material umfaBt 
81 Familien mit 2660Individuen. Die GroBe der einzelnen Familie, in dem 
von mir gebrauchten weiteren Sinne des Wortes, der aber auch dem 
landlaufigen Gebrauche entspricht, da das Individuura, von dem ich 
ausgehe, den Begriff der Verwandtschaft anf die Seite beider Eltem 
ausdehnt, schwankt zwischen 11 und 71 Individuen und betragt im 
Durchschnitt 32 Angehorige. Unter diesen 2660 Individuen befanden 
sich 169 = 6,3% Geisteskranke, darunter 106 aus eigener Beobach- 
tung, 96 = 4,2% psychopathische Individuen und 87 = 3,2% Trinker. 
Dabei nahm ich den Begriff der Geisteskrankheit aus auBeren Griinden 
— ich war ja von den Angaben der FamilienangehCrigen abhangig — 
nur so weit, als durch die Krankheit Aufnahme in eine Anstalt oder 
Klinik nOtig gemacht wurde; unter die psychopathischen Individuen 
zahlte ich Schwachsinnsformen bis zum Kretinismus, abnorme Charak- 
fcere, entweder „Nerv6se“ oder zu Aufregungszustanden geneigte In¬ 
dividuen, SelbstmOrder, endlich je einen Fall von Himlues und Delir 
bei Sepsis; die von mir gezahlten Trinker endlich gehoren sicherlich 
zu den schwereren Formen von Alkoholismus chronicus. Die Toleranz 
fiir den Begriff des Trinkers ist ja in einem Weinlande, wie dem Ober- 
elsaB, aus dem alle meine Familien stammen, eine ziemlich groBe, 
und ich habe mich bei der Sammlung des Materials wohl davor gehiitet, 
durch Suggestivfragen zu einer allzu weiten Ausdehnung des Begriffes 
des Potators zu komrnen. Nur pragnante anamnestische Angaben, 
wie ,,bei ihm gab es mehr Priigel, als anderes, weil er immer betrunken 
war“, ,,das war ein Volltrinker“ usw. konnten mich bewegen, ein 
Individuum als Trinker zu zahlen. Unter diesen Umstanden mag sich 
mancher abnorme Charakter, ja manche Psychose, bei der der Alkoholis¬ 
mus nur ein Symptom war, in der Zahl dieser Trinker befinden. 

Es liegt nahe, mein Material mit dem von Strohmeyer gesam- 
melten zu vergleichen. Unter seinen 56 Familien mit insgesaint 1338 
feststellbaren Mitgliedem war ein weit groBerer Prozentsatz, namlich 
30%, geisteskrank und 18,6% neuro- bzw. psychopathisch; dies erklart 
sich daraus, daB Strohmeyer seine Auswahl unter den „schwerst 
durchseuchten Familien 4 * traf. Um Vergleichsmaterial aus den 
verschiedenen Gegenden Deutschlands zu gewiimen, halte ich aber 
eine derartige Auswahl nicht fiir zweckmaBig; die Aufstellung von 
Vererbungsregeln wird uns erst mOglich, werin man das Material ohne 
Riicksicht auf derartige Gesichtspunkte sammelt. 

Die Gruppierung der von mir beobachteten Familien erfolgt am 
besten nach klinischen Gesichtspunkten; unter die Gruppe der Dementia 
praecox, bei deren Auffassung ich durchaus den Anschauungen Krae- 
pelins gefolgt bin, fallen jene Familien, in denen nur oder iiber- 
wiegend Dementia praecox vorkam. Dabei erscheint mir zweck- 

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252 


E. Wittermann: 


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mafiig, eine Unterteilung zu treffen, indem ich die Familien, in denen 
sich nur ein Fall von Dementia praecox ereignete und die von psycho- 
pathischen Individuen frei blieben, von denen trennte, die entweder 
ein gehauftes Vorkommen der Dementia praecox zeigten oder in denen 
neben einem Falle von Dementia praecox Schwachsinnsformen, psycho- 
pathische Individuen usw. auftraten. Dieee beiden Gruppen umfassen 
die iiberwiegende Mehrzahl meines Materials; in den Anstalten ist der 
Prozentsatz der Dementia praecox ja auch ein weit groBerer, als der 
aller anderen Krankheiten. Die dritte Gruppe umfaBt die Kranken 
mit sicherem manisch-depressivem Irreeein; unter die 4. Gruppe end- 
lich reihte ich Familien ein, die ein ganz abweichendes Bild der Ver- 
erbung und daher besonderes Intereese boten, und einige wenige Familien 
mit nur einmaligem Vorkommen von Psychosen, so daB sich die Bil- 
dung einer eigenen Gruppe nicht empfohlen hatte. Uber die Gruppen 
gibt folgende Tabelle einen tTberblick: 

Tabelle I. 


I Zahl \ Zahl der FamUienmitglleder 

1 j__ __ __ 



uer r a- 
milien 

1 Uberhaupt 

Geifttes- 

kraoke 

| psycho- 
| pathisch 

| Trinker 

Gruppe T. 






(Dementia praecox, unge- 


1 




httuft). 

16 

606 

16 

— 

6 

Gruppe II. 



i (2,64%) 


(0,99 %> 

(gehauftes Vorkommen von 



1 



Dementia praecox oder 






Kombination mit psycho- 






pathischen Individuen) . . 

53 

1664 

I 119 

81 

64 

Gruppe EH. 

1 


1 (7,15%) 

j (4,8%) 

(3,84 %) 

(Manisch-depressi v. Irresein) 

4 1 

12° 

12 

9 

4 

Gruppe IV. 



(10%) 

(7,5%) 

(3,3%) 

(Besondere Falle).... 

8 

270 

22 

6 

13 

i 

i 



(8,1 % 

(2,2%) 

(4,8%) 

Sum me 

81 

2660 | 

169 = 6,3% 

96=3,6% 

87=8,2% 


Der Prozentsatz, in welchem Geisteskrankheiten in den von mir 
untersuchten Familien auftreten, ist also ein ziemlich hoher, und es 
wiirde daraus allein schon, da ja eine Auswahl der Familien auf das 
gehaufte Vorkommen von Geisteskrankheiten hin nicht stattfand, der 
SchluB gerechtfertigt erscheinen, daB die Anlage zu Geisteskrankheiten 
vorzugsweise in bestimmten Familien auftritt. 

Dadurch, daB der groBere Teil der von mir untersuchten Familien 
das Vorkommen von Dementia praecox zeigt, bin ich genbtigt, nur auf 


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Fsychiatrische Kamilienforschungen. 


253 


diese Gruppe detailliertere Untereuchungen anzuwenden; ich kann hier 
nicht dem Beispiele von Rosanoff und Orr folgen, die alle Psychosen 
zusammenwerfen und gewissermaBen eine gemeinsame Anlage zu 
Geisteskrankheiten annahmen. Gegen diese Auffaasung, daQ alle 
Psychosen einer gemeinsamen Anlage entspringen und ihre besondere 
klinische Farbung erst dureh hinzutretende auOere Ursachen erhalten, 
habe ich mich schon in der Literaturiibersicht gewendet. Es ist im 
Gegenteile wohl als sicher anzunehmen, daQ es gesonderte Anlagen zu 
einzelnen Krankheitsformen gibt. Die Durchsicht meines Materials 
bestatigt dies; die Geechwister, die in einer Familie geisteskrank wurden, 
zeigen meist ganz diesel ben Geisteskrankheiten, ja sogar Ahnlichkeit 
der einzelnen Symptome. Es ware allerdings raoglich, die Ahnlichkeit 
des Milieus und der einzelnen Schicksale als Ursache dafiir heranzu- 
ziehen; das wiirde aber nicht geniigen, um zu erklaren, warum z. B. 
neben einera Bruder mit Dementia praeoox sioh niemals eine Schwester 
mit manisch-depressivem Irresein findet. Fiir die Verschiedenheit 
der Anlage spricht auBerdem die Seltenheit der Mischformen, wenn- 
gleich man dureh die Kombination von verschiedenen Erbgiitem immer- 
hin getriibte und schwer zu deutende klinische Bilder erhalten kann. 
Davon wird spater noch die Rede sein. 

Mein Dementia-praecox Material umfaBt also 69 Familien mit 
136 Fallen von Geisteskrankheit, davon 85 Falle eigener Beobachtung; 
oin Fall von choreatischer Seelenstorung, die Mutter eines an Dementia 
praecox erkrankten Mannes scheidet dabei aus dem Kreise der Be- 
trachtung. In 16 Familien waren mehrere Geschwister von der Psychose 
betroffen, woraus man sieht, daQ die Geschwisterpsychosen gar nicht 
so selten sind. In 8 Familien trat die Psychose bei 2 Geschwistem auf. 
viermal bei je 3, zweimal bei je 4 und einmal bei 6 Geschwistem. Leider 
spielten sich die letzteren gehauften Geschwisterpsychosen nicht alle 
unter eigener Beobachtung ab. 10 Bruder stehen dabei 31 Schwestem 
gegeniiber, woraus ich aber fur die starkere Anfalligkeit des weiblichen 
Geschlechts keinen SchluQ ziehen mochte, da ich als Arzt von Frauen- 
abteilungen hauptsachlich von meinen Patientinnen ausgegangen bin. 
Zu bemerken ist dabei noch, daQ es sich in weitaus den meisten Fallen 
um ganz klare Bilder von Dementia praecox handelt. Nur in 2 Familien 
handelt es sich bei den Geschwistem um 2 verechiedene Psychosen: 
bei der Familie Stii. ist die eine Schwester an sicherer Dementia praecox 
erkrankt, die andere an einem hysterischen Zustandsbilde, im An- 
schluQ an ein lebhaftes sexuelles Trauma; es ist aber dabei die Mog- 
lichkeit des Vorliegens einer Dementia praecox nicht auszuschlieBen; 
und in der Familie Mess, steht neben einem schwer katatonischen Bruder 
ein Fall von Imbezilhtat und psychopathischer Haltlosigkeit; es unter- 
liegt keinem Zweifel, daQ dieser Kranke in bezug auf Dementia praecox 


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254 


E. Wit tor man n : 


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auch sehr gefahrdet ist und daB z. B. durch eine langer dauemde Ge- 
fangnisstrafe wohl der Ausbruch dieser Krankheit herbeigefiihrt wiirde. 

Unter den 81 ,,psychopathischen Personlichkeiten“ fanden sich 
16 Imbezille oder „geistig Beschrankte“, 20 als ,,nervos“ geschilderte 
Personlichkeiten, 31 abnorme Charaktere und 6 Selbstmorder; ich bin 
iiberzeugt da von, dad unter diesen Familienangehorigen es sich in 
den weitaus meisten Fallen um Psychopathien handelte, die den Psycho¬ 
sen sehr nahestehen; unter den ,,geistig Beschrankten“ kann sich aucli 
mancher Fall von Dementia praecox befinden, der unter dein Bilde 
einer ganz allmahlichen schleichenden Verblodung verlief. Derartige 
Fehler lassen sich vorlaufig eben nicht vermeiden. Ferner gehorten zu 
dieser Gruppe noch je ein Fall von Migrane, Delir bei Sepsis, Hirnlues, 
Blodsinn, Kretinismus, Mongolismus und Idiotic, sowie von Kriminali- 
tat. Auffallend ist dabei besonders die Seltenheit von schwerer Krimi- 
nalitat; unter den abnormen Charakteren ist manches Individuum 
gezahlt, das seiner Familie verschollen ist und irgendwo als Land- 
streicher sich herumtreibt; aber schwerere Falle von Kriminalitat sind 
doch sehr selten, was einen bei der Haufigkeit der,,abnormen Charaktere “ 
eigentlich nur wundem kann; die Falle von Kretinismus und Mongolis¬ 
mus gehOren einer Familie an; auch die in der Anstalt untergebrachte 
Patient in aus dieser Familie zeigt einen ausgesprochenen kretinistischen 
Habitus. 

In alien Familien, in denen Geschwister an Psychosen erkrankten, 
war eine erhebhche Belastung nachzuweisen; in 4 Fallen beschrankte 
sic sich auf Trunksucht des Vaters; in alien iibrigen lieBen sich Psychosen, 
zum Teil in einer Seitenlinie feststellen, wozu in mehreren Fallen die 
Trunksucht des Vaters sich hinzugesellte. Eine GesetzmaBigkeit, wie 
Frankhauser sie gefunden hatte, daB namlich bei Erkrankung des 
Vaters eine groBere Gefahrdung der Tochter, bei Erkrankung der 
Mutter eine solche der Sohne vorhanden sei, laBt sich nicht bestatigen; 
wenn ich die Falle heraussuche, in denen nur Schwestern oder nur 
Briider erkrankten, so ergibt sich folgendes Verhaltnis: 

Tabelle II. 


Fiimilic 

erkrankt 

Belastung 

Stil. 

2 Schwestern 

(irofiviiter Trinker, Mutter nervtts. 

Mess. 

2 Briider 

UroBvat-cr vaterlicherseits Trinker, Yater 
geisteskrank, Mutter ethisch minder- 
wertig. 

Mcr. 

2 Schwestern 

Mutter besehrankt. 

V«»r. 

2 ,, 

Yater Trinker. 


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Psychiatrische F&milienforschungen. 


255 


Famllle 

erkrankt 

Belastuag 

Rio. 

4 Schwostern 

Mutter psychisch abnorm, Tante vater- 
licherseits abnormer Charakter, Cousine 
vaterlicherseits geisteskrank. 

Kam. 

3 Sell western 

Vater Trinker, Mutter geistig beschrankt, 
in der mtttterlichen Linie Geistes- 
krankheit. 

Wey. 

2 Schwestorn 

Vater und Mutter abnomie Charaktere, 
eine Tante mtltterlieherseits geistos- 
krank. 


Ich mochte im Zusammenhang damit auf die merkwiirdige Tat- 
sache hinweisen, daB in den von mir untersuchten Dementia-praecox- 
Familien in den Geschwisterreihen der Kranken die Anzahl der iiber- 
haupt geborenen Madchen weit die der iiberhaupt geborenen Knaben 
iibertraf, indem auf 192 Knaben 250 Madchen entfielen, eine Proportion, 
die dem sonst gefundenen KnabeniiberschuB bei den Neugeborenen 
gar nicht entspricht. Ob darin eine Erscheinung der Entartung zum 
Ausdrucke kommt, wage ich nicht zu entscheiden. Freilich stehen dabei 
auch in meinem Krankenmaterial 13 mannlichen Kranken 58 weib- 
liche Kranke gegeniiber. Immerhin steht aber diese Beobachtung mit 
denen von Pontus Fahlbeck an aussterbenden schwedischen Adels- 
geschlechtern in Einklang, bei denen gleichfalls im Fortschreiten durch 
die Generationen ein bedeutender tTberschuB an Madchengeburten zu 
konstatieren war. 

Von allgemeinen Fragen, die Riidin als Ziele der psychiatrischen 
Familienforschung bezeichnet, kann ich nur die eine nach dem Ein- 
fluB der Geburtenziffer auf die Entstehung der Geisteskrankl eiten, 
speziell der Dementia praecox zu beantworten suchen. Die Frage nach 
der Fruchtbarkeit der Geisteskranken oder der geistesgesund Gebliebe- 
nen aus belasteten Familien werden an groBerem Material und bei aus- 
gedehnteren Familienuntersuchungen entschieden werden konnen. 

Die Berechnung des Einflusses der Geburtenziffer hat durch Wein¬ 
berg eine eingehende Bearbeitung erfahren. Die Resultate nach der 
gewohnlichen Methode prozentualer Berechnung sind aus nachstehen- 
der Tabelle III ersichtlich. 

Man ersieht daraus die starke Anfalligkeit der Erstgeborenen, femer 
wie sich die Anfalligkeit auf ziemlich gleicher Hohe erhalt, mit dem 
Sechstgeborenen abnimmt, bei dem Siebentgeborenen eine neue Steige- 
rung erfahrt und dann ganzlich aufhort. Es liegt nahe, diese letzte 
Tatsache mit dem Umstande in Einklang zu bringen, daB Kinder mit 
hoher Geburtenziffer eine sehr groBe Sterblichkeit haben; aus der 


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256 


K. Wittennann: 


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Tabelle III. 


Kinderzahl 

n. 

Kinder liber- 
haupt mit 
nebenstehend. 

I Ordnungssiffer 

davon 

geisteskrank 

Prozentaatz 

i 

1 

71 

: 23 

32,3 

2 

68 

1 12 

17,6 

3 

62 

15 

24,1 

4 

58 

13 

22,5 

5 

51 

9 

17,6 

6 

38 

3 

7,8 

7 

30 

6 

20,0 

8 

24 

2 

8,3 

9 

13 

1 

7,6 

10 

9 

— 

1 

11 

8 


— 

12 

6 


— 

13 

1 

— 

— 


nachstehenden Tabelle IV geht hervor, daB Kin der mit der Geburten- 
ziffer 12 und 13 auB meinen Famiiien das 15. Lebensjahr nicht erreichen, 
also uberhaupt nicht ins psychosefahige Alter kommen. Berechnet man 
die Sterblichkeit der Kinder mit der Geburtenziffer 10—13, so ergibt 
sioh eine Sterblichkeit von durchschnittlich 75%. Diese hohe Sterb- 
liohkeit hat zum Teil ihre Ursache in der VerBchlechterung des Keim- 
raaterials, zum Teil wird sie wohl auch auf soziale Ursachen wie die 
Unmoglichkeit der Pflege vieler Kinder in einer Famihe zuruckzufuhren 
sein. Jedenfalls kann man da mit Recht von einer Luxusproduktion 
reden. 


TabeUe IV. 


Kinderzahl 

n. 

Kinder flber- 
1 hanpt mit 

1 nebensteh. 
Ordnungs- 
ziffer 

davon vor 
i d. 15. Jahre 
; gestorben 

Prozentaatz 
der Ge- 
storbenen 

j ! 

es bleiben 

i i 

Keisteskrenk Pro * ent *» t * 

1 i 

■I 

i 

71 

i 

13 

18,3 

58 

23 

! 34,4 

2 

68 

15 

23,5 

53 

12 

22,6 

3 

62 

8 

12,8 1 

54 

15 

i 27.7 

4 

58 

10 

17,2 

48 

13 

i 27,0 

5 1 

51 

9 

17,6 

42 

9 

! 21,4 

6 

38 

6 

15,7 

32 

3 

9,0 

7 

30 

6 

20,0 j 

24 

6 

25,0 

8 

24 

7 

29,0 I 

17 

2 

j 11,7 

9 

13 

5 

38,4 

8 

1 

12,5 

10 

9 

6 

66,6 

3 

— 

— 

11 

8 

5 

62,5 

3 

— 

— 

12 

6 

6 

100,0 

— 

— 

— 

13 

1 

1 

100,0 

— 

— 

— 


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Psychiatrische Familienforschungen. 


257 


Auf die Fehler, die a us dieeen Berechnungen folgen kOnnen, hat 
Weinberg hingewieeen. „Sie beriicksichtigen nicht die Mdglichkeit, 
daB eine Ersoheinung mit der Kinderzahl einer Familie erheblieh an 
Haufigkeit variieren kann, und daB demzufolge die Individuen mit einer 
bestimmten Geburtenfolgenummer, die aus versehieden groBen Familien 
stammen, sehr groBe Unterschiede in der Haufigkeit einer Ersoheinung 
aufweisen kOnnen, und zwar auch dann, wenn innerhalb der Familien 
von gleicher GrOfie die Geburtenfolge gar keinen EinfluB hat.“ Und er 
gibt dann folgende Methode an: ,,Man berechnet, wie bei jeder Familien- 
groBe fiir eine beliebige Geburtenfolge sich die absolute Haufigkeit der 
untersuchtan Erscheinungen gestalten miiBte, wenn die Geburtenfolge 
keinen EinfluB hat. Dies geschieht, indem man die Summe m H der Er¬ 
scheinungen in der FamiliengrdBe durch die Zahl n der Kinder dividiert. 

Indem man bei der maximalen FamiliengrdBe anfangend die sukzes- 

sive addiert, erhalt man die erwartungsmaBige absolute Haufigkeit der 
Ersoheinung fiir die Gesamtheit der Individuen jeder Geburtenfolge¬ 
nummer, die sich bei Mangel eines Einflusses der Geburtenhdhe ergibt. 
Mit dieeen erwartungsmaBigen Zahlen laBt sich dann die tatsachliche 
Verteilung der Erscheinungen nach der Geburtenfolge vergleichen, wo* 
bei man die Erfahrung in Prozent der Erwartung ausdriiokt. Je starker 
mit der Geburtenfolge die Abweichungen vom Werte 100% variieren, 
um so grdBer wird man dann den reinen EinfluB der Geburtenfolge ein- 
schatzen.*' Das Resultat dieser Berechnungen ist auf Tabelle V er- 
sichtlich. 


Tabelle V. 


Kindenahl 

n. 

Geisteskrank 
geworciea m* 
aus Familien mit 
nebenstehender 
Kinderzahl 

Brwartungs- 
m&Bige Geistes- 1 
krankheiten pro 
Geburtenfolge¬ 
nummer m n 

n 

Summe der 
erwartungs* 
m&Bigen Geistes- 
krankheiten 

Bingetroffene 

Geistes- 

krankheiten 

i 

j In Prozent der 
| Erwartung 

1 1 

3 

3,00 

18,11 

23 

127 

2 

6 

3,00 

15,11 

12 

1 79 

3 

4 

1,33 

12,11 

15 

; 123 

4 

8 

2,00 

10,78 

13 

120 

5 

13 

2,60 

8,78 

9 

; 102 

6 

9 

1,50 

6,18 

3 

48 

7 

8 

1,14 

4,68 

6 

127 

8 

14 

1,75 

3,54 

2 

56 

9 

7 

0,77 

1,79 

1 

55 

10 

1 

0,10 

1,02 

— 

' — 

11 

3 

0,27 

0,92 

— 

_ 

1 

12 

6 

0,50 

0,65 

— 

1 _ 

13 

2 

0,15 

0,15 



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258 


E. Wittermanri: 


Auch aus dieser Berechnung ist zu entnehmen, daB bei den Erst- und 
Siebentgeborenen die Gefahr der Erkrankung am groBten ist. Dabei 
hat es aber nicht den Anschein, als ob zu hohes Zeugungsalter bei den 
Eltem der Erstgeborenen die Ursache fiir die groBe Anfalligkeit der 
Erstgeborenen ware; das Alter des Vaters zur Zeit der Geburt der krank- 
gewordenen Erstgeborenen betrug 29 Jahre, das der Mutter 26 1 / 2 Jahre. 
Von einem EinfluB zu hohen Zeugungsalters kann da also wohl nicht 
die Rede sein. 

Die groBte Bedeutung nimmt aber fur sich die Frage in Anspruch, 
ob die Mendelschen Regeln bei der Vererbung der Anlage zu Psychosen 
giiltig sind. Um das Verstandnis der nachfolgenden Ausfiihrungen zu 
erleichtern, will ich hier eine ganz kurze Darstellung der Mendelschen 
Regeln geben, verweise aber ausdriicklich auf die eingehenden Bespre- 
chungen dieser Regeln, wie sie in den Lehrbiichem der Vererbungslehre 
von Hacker, Goldschmidt und Baur, sowie in der Arbeit von 
Riidin enthalten sind. 

Der Kempimkt der Mendelschen Entdeckung liegt in ,,der selb- 
standigen gesetzmaBigen Wertigkeit der einzelnen Merkmale, die unab- 
hangig sind von der Auspragung an den Eltem und Voreltem und weit 
entfemt, sich in einem bestimmten Verhaltnis zu mischen, miteinander 
paarweise in Konkurrenz zu treten.“ (Strohmayer.) Das besagt also, 
daB bei Kreuzung zweier Individuen mit zwei Merkmalen in der nach- 
sten Generation das eine Merkmal in einem ganz bestimmten Verhalt¬ 
nis iiber das andere iiberwiegt, daB also das eine dominiert gegeniiber 
dem anderen, das sich rezessiv verhalt. Die Anlagen sind in den Ge- 
8chlechtszellen (Gameten) enthalten; aus dem Zusammentritte zweier 
Gameten entsteht der befruchtete Keim (Zygote), der je nach der Be- 
schaffenheit der Gameten ein homozygot-dominanter, homozygot-rezes- 
siver oder ein heterozygoter mit dem auBerlichen Hervortreten der do- 
minanten Eigenschaft sein kann. Aus der Vermengung der einzelnen 
Zygoten, die sich dabei wieder in ihre einzelnen Gameten aufspalten, 
ergeben sich folgende Kombinationsmoglichkeiten: 

1. Zwei Individuen mit reiner Dominanz (homozygot-dominant) ver- 

mengen sich: _____ 

DD x DD . 

Die Nachkommenschaft zeigt wieder nur homozygote dominante 
Individuen: DD + DD + DD + DD . 

2. Ein dominanter Homozygoter vereinigt sich mit einem Hetero- 

zygoten: - - ■ 

D D x D R, 

DD -t- DR -f DR + I)D . 

Es sind also je zwei Individuen homozygot-dominant und heterozygot. 


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Psychiatrische Familienforschungen. 


259 


3. Ein dominant Homozygoter vereinigt sich mit einem rezessiven 
Homozygoten: 

D P X R R, 

DR + DR + DR + DR . 

Samtliche Individuen sind heterozygot. 

4. D R X D R, 

DD + DR -f DR + RR . 

Je ein Viertel der Individuen ist homozygot-dominant und homo¬ 
zygot-rezessiv, die Halfte ist heterozygot. 

5. DR x RR 

DR -j- DR -f- RR -f- RR . 

Je die Halfte der Individuen ist heterozygot und homozygot-rezessiv. 

6. R R x R R, 

RR -f- RR -f- RR -f- RR . 

Samtliche Individuen sind homozygot-rezessiv. 

Nun wirft sich die Frage auf, ob eine Anlage zu pathologischen Er- 
scheinungen dominant oder rezessiv ist; als leitender Satz ist dabei fest- 
zuhalten: damit eine Eigenschaft als dominant angesehen werden kann, 
muB vorausgesetzt werden, daB sie nur von affizierten Individuen iiber- 
tragen wird. Dagegen liegt der Verdacht, daB ein bestimmtes Merkmal 
rezessiv ist, dann vor (ich folge hier Haecker), ,,wenn es innerhalb 
einerFamiliemehrereMale zum Vorschein kommt, und zwar in derWeise, 
daB es bei den Kindem von nicht affizierten Eltern auftritt. Die vier 
entscheidenden Kriterien fur den rezessiven Cliarakter eines Merkmals 
sind im iibrigen nach Davenport folgende: 

1. Zwei rezessive Eltern (RR x RR) diirfen nur rezessive Nach- 
kommen geben. 

2. Ein rezessiver und ein heterozygoter (auBerlich dominierender) 
Elter (RR x DR) geben 50 Prozent rezessive Nachkommen. 

3. Zwei heterozygote Eltern DR x DR) geben 25 Prozent rezessive 
Nachkommen. 

4. Ein rezessiver und ein dominanter Elter (RR X DD) liefem nur 
heterozygote (auBerlich dominierende) Individuen.“ 

Pruft man nun auch nur fliichtig das in den Famihentafeln darge- 
stellte Material, so ergibt sich daraus zunachst, daB die Dominanz der 
Anlage zur Dementia praecox ausgeschlossen, daB aber die Wahrschein- 
Uchkeit der Rezessivitat sehr groB ist. 


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260 


E. Witterinann: 


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Psychiatri8che Familienforechungen. 


261 



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Sunime 









262 


E. Wittermann : 


Um aber einen sicheren Beweis daffir zu haben, miissen rechnerische 
Methoden angewendet werden. Denn es ist ja ohne weiteres einzusehen, 
daB die von Davenport aufgestellten Proportionen sich beim Menschen 
nicht ohne Schwierigkeiten nachweisen lassen. Die sehr oft gehandhabte 
willkiirliche Beschrankung der Nachkommenschaft, die Kindersterb- 
Iichkeit u. a. m. miissen eine Triibung der reinen Verhaltnisse, die, wie 
Weinberg gezeigt hat, nur an einem unendlich groBen Material nach- 
gewiesen werden konnen, herbeifiihren. Die Beobachtungen an einzelnen 
Familien, bei denen der eine Elter geisteskrank war oder bei denen 
beide Eltem an Geisteskrankheit litten, ergeben immerhin Proportionen, 
die sich den von Davenport geforderten sehr stark nahem; insbesondere 
die relativ seltenen Falle, in denen der eine Elter an Geisteskrankheit 
litt und der andere aus stark belasteter Familie stammte, also wohl zum 
mindesten als DR-Typus anzusehen ist, kfinnen bei der starken Steige- 
rung der Geisteskrankheit unter der Nachkommenschaft als beweisend 
gelten. Weinberg hat nun eine Methode angegeben, welche die Zahl 
der Erfahrungen uber Geschwister iiberhaupt und die Zahl der Erfah- 
rungen fiber rezessive Geschwister verwertet, und welche auch bei nacli- 
stehenden Tabellen angewendet wurde. Dabei ist selbstverstandliche 
Voraussetzung, daB Kinder, welche vor Erreichen des gewissermaBen 
psychosefahigen Alters gestorben sind, ausgeschieden werden; ich habe 
dieses Alter mit 15 Jahren angenommen. Es bedeuten nun die Rubriken 
der nachstehenden Tabellen der Reihe nach: 

GrfiBe = Gesamtzahl der Geschwister; 

gestorben = vor Erreichung des 15. Lebensjahres gestorben; 

p = Gesamtzahl der Geschwister minus Gestorbene; 

;r = Probanden, d. h. Geisteskranke, die in Rufach zur Beobachtung 
kamen; 

gk = Geschwister der Probanden, welche ebenfalls geisteskrank 
wurden; 

psychopathisch = Geschwister der Probanden, welche an einer son- 
stigen geistigen Abnormitat litten. 

In den folgenden Rubriken bezeichne ich mit x x die Zahl der Proban¬ 
den, mit x 2 die Zahl der Probanden plus geisteskrank gewordene Indi- 
viduen, also die Gesamtzahl der Geisteskranken innerhalb einer Ge- 
schwisterreihe, mit x 3 endlich die Gesamtzahl der Geisteskranken plus 
psychopathische Individuen, also x x plus gk plus Psychopathen. Die 
Art der Berechnung ergibt sich aus der t)berschrift; sie bedeutet nichts 
anderes als die Zahl der Erfahrungen in den einzelnen Familien. 

DieTabelle VI enthalt alle diejenigen Familien, in denen die Eltem 
frei von Geisteskrankheit geblieben waren, wahrend in der Tabelle VII 
diejenigen Familien zusammengestellt sind, in denen der eine Elter 
geisteskrank wurde. 


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Psychiatrisclio Kamilienforschuiuren. 263 


Tabelle VII. 





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Mutter 

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Nag.. . . 

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11 

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0 | 0 

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Mutter 

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1 

1 

7 1 

14 

21 

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Vater 

ii 

8 1 7 

1 1 4 

2 

6 

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Ba. . . . | 

Vater 

ii 

1 ! - 1 

i — 


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0 

0 

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Ber. . . . 

M utter 

ii 

6 j 1 5 

i - 

2 

4 

4 

12 

1 0 

0,6 

Lip. . . . 

Vater 

ii 

6 H 3 

1 1 2 

— 

2 1 

6 

6 

i 0 

6 6 

Schr. . . 

Mutter 

ii 

2 1 1 1 1 

1 — 

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i 0 

1 

! o o 

i . i 

Summe . 



55 17 38 

ill 7 

8 133 

68 

no 

1 2 

! 30 1 80 


Aus den friiheren Ausfiihrungen iiber die Zahlenverhaltnisse, die 
beim Gelfcen dee Mendelschen Gesetzes bei der Rezessivitat der Anlage 
zur Dementia praecox auftreten miissen, geht hervor, daB wir bei der 
Berechnong der Summen aus Tabelle 6 ein Verhaltnis von 26 Prozent, 
bei der Berechnung der Summen aus Tabelle 7 ein Verhaltnis von 60 Pro¬ 
zent erwarten konnen. Die Verhaltniszahlen aus Tabelle VI sind nun: 

Ix l _ 70 _ 24 , , 

If ~ 186 ~ 100 " 

2x 2 _ 89 _ 31 ( ( 

If “ 286 ~ 100" 

2x 3 _ KH 
If ~ 286 

2’x 1 (x 1 — 1) 24 

2x^p~- 1) = 293 

Ix 2 (x 2 - 1) 106 26 , 

Ix 2 (f - 1) ~ 402 ~ 100 1 

- 1) _ 160 
Ix s (f - 1) 460' 

Und aus TabeUe VII: 

« Ix L 11 29 

” p~ 38 100 


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264 


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E. 

Wittermann: 

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= 47 . 

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100 ' 

Ix a 

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68 

Ip 

= 38 

- 100 * 


Ix t (x t — 1) 2 6 

Ix^—l) = 33 = 100 

Ix 3 (x % - 1) _ 30 44 n 

Ix a (p - 1) ~ 68 “ 100 ' 

Ix i {x 3 - 1 ) 80 72 

Ix 3 (p - 1) _ 110 — 100 ’ 

Man ereieht daraus, daB die Ziffero aus diesen Berechnungen den 
hypothetisch geforderten sich sehr stark nahem und kann also wohl an- 
nehraen, daB die Anlage zur Dementia praecox eine rezessive 
Eigenschaft im Sinne der Mendelschen Regeln ist. DaB die 
Zahlen nicht vollig identisch sind mit den zu fordemden, erklart sich 
aus dem vielleicht zu kleinen Material; Strohmayer hat, wie bereits 
erwahnt, auf die Schwierigkeiten hingewiesen, denen der Versuch des 
Nachweises der Mendelschen Regeln bei der Vererbung der Anlage 
zur Geisteskrankheit begegnen wiirde. Die verschieden groBe Frucht- 
barkeit der einzelnen Famihen, Umstande des Individuallebens, die die 
Anlage zur Geisteskrankheit zur Entwicklung bringen oder aber die 
Entwicklung hemmen konnen, die Ubergangsformen — alles dieses sind 
bedeutende Schwierigkeiten. Ijnmerhin ist aber doch anzunehmen, daB 
auch groBeres Material an dem Resultate nichts andem wird; die ver¬ 
schieden groBe Fruchtbarkeit der einzelnen Familien als Fehlerquelle 
laBt sich durch die Anwendung der Weinbergschen Berechnungs- 
methoden ausschalten, und fiir die beiden iibrigen erwahnten Hinder- 
nisse hilft nur die Kenntnis der Familien. DaB man sich in dieser Hin- 
sicht auf das Urteil mehrerer gesunder Familienglieder sowie auf das 
eigene Urteil einigermaBen verlassen kann, lehrte mich das Beispiel; 
im Laufe der Untersuchungen waren mehrere Geschwister von Kranken 
mir selbst als geisteskrank aufgefalien oder als auffallig geschildert 
worden, so daB sie auch als geisteskrank gezahlt wurden. Noch vor 
AbschluB dieser Untersuchungen war die Intemierung dieser Personen 
in unserer Anstalt notig geworden. Allerdings muB man mit diesem 
Urteil sehr vorsichtig sein; die Ausdehnung des Begriffs Geisteskrank¬ 
heit auch auf ,,psychopathische“ Individuen wiirde zu viel zu groBen 
Zahlen fiihren, wie aus den Verhaltnissen der Zahl x 3 in obigen Be¬ 
rechnungen hervorgeht. 

Eine Beeinflussung der Erblichkeitsverhaltnisse in den einzelnen 


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Psychiatrische Familienforechungen. 


265 


Familien durch ausgesprochene Trunksucht geht auch a as meinen 
Familientafeln hervor; auf eine besonders auffallende Erscheinung sei 
dabei hingewiesen. Ioh habe eine Gruppierung der Familien mit De¬ 
mentia praecox vorgenommen, indem ich Familien, in denen sich nur 
ein Fall von Dementia praecox vorfand, und in denen keine psycho- 
pathische Minderwertigkeit im weitesten Sinne des Wortee vorhanden 
war, von denen getrennt, in denen im Laufe der 3 Generationen die 
Geisteskrankheit gehauft auftrat oder von peychopathischer Minder¬ 
wertigkeit begleitet war. Es zeigt sich dabei, daB die Zahl der Alko- 
holiker im ersten Falle 0,99% betrug, wahrend sie bei der zweiten Gruppe 
3,84% ausmachte. Doch auffalliger wird dies Resultat, berechnet man, 
in wie vielen Familien schwerer Alkoholismus — nur um diesen kann 
es sich in unseren Fallen handeln — in der direkten Aszendenz der 
Geisteekranken nachgewiesen werden kann. Es ergibt sich dabei in 
der 1. Gruppe ein Prozentsatz von 18, in der 2. Gruppe dagegen ein 
solcher von 83. Welche Bedeutung dem Alkoholismus dabei im be- 
sonderen zukommt, laBt sich heute noch nicht ganz eindeutig sagen; 
ich habe den Eindrack,. als ob er ein Faktor ware, der pathologische 
Familienanlagen eher zum Ausbruche kommen laBt, sei es nun, daB 
diese Anlage in grbBerer Anzahl auftritt, sei es, daB die Widerstands- 
fahigkeit der einzelnen Individuen durch den Alkoholismus der direkten 
Aszendenz geschadigt wird, und daB deshalb die Krankheit in einem 
friiheren Alter ausbricht. Auch noch dem Alkoholismus der GroB- 
eltem wird dabei eine entscheidende Rolle zugewiesen werden miissen. 
In einer ganzen Anzahl von Familien kann man als Beweis fur diese 
Anschauung beobachten, wie zum Alkoholismus des GroBvaters sich 
eine Belastung mit Geisteskrankheit in der Familie der Mutter hinzu- 
gesellt und wie dann als Produkt das gehaufte Auftreten von Geistes¬ 
krankheit bei den Nachkommen sich findet. Ob der Alkoholismus 
allein zur Entstehung der Geisteskrankheit fiihrt, laBt sich auf Grand 
meines Materials nicht mit unbedingter Sicherheit sagen; es ist zwar 
eine Anzahl von Familien vorhanden, in welchen auBer dem Alkoholis¬ 
mus bei einem direkten Aszendenten nichts zur Erklarang der Ent¬ 
stehung der krankhaften Anlage herangezogen werden kann. Wir 
dfirfen aber nicht vergessen, daB die Anlage zur Geisteskrankheit auf 
dem Wege der DR-Typen (also der Heterozygoten mit gesundem 
AuBeren) sich sehr wohl durch mehrere Generationen latent erhalten 
kann; nun wurde bei meinen Untersuchungen aus schon erwahnten 
Grfinden die Familientafel meist nicht fiber die GroBeltem meiner 
Kranken ausgedehnt, so daB die Krankheit, falls sie vor der 3. Genera¬ 
tion in der Aszendenz auftrat, nicht zur Beobachtung kommen konnte. 
Neben dem Alkoholismus spielen als Ursache der Entstehung von An- 
lagen zu Geisteekranken sicher noch eine Reihe anderer Momente eine 
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XX. 18 


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266 


E. Wittermann: 


Rolle, iiber die wir heute noch gar kein klaree Bild uns mac hen konnen. 
Ich erwahne hier, daB schwere Tuberkulosen relativ haufig in meinen 
Familien unter den Eltem der Geisteskranken sich finden; es ist sehr 
wohl denkbar, daB diese Krankheit mit ihrer schweren Erschopfung 
eine weitgehende Keimschadigung im Gefolge hat. Die groBe Haufig- 
keit der Syphilis in der Aszendenz der Dementia-praecox-Kranken, 
wie sie Berze gefunden hat, kann ich bei meinem vorwiegend aus 
landlichen Kreisen stammenden Material nicht bestatigen. Als er- 
schopfende Ursache, die zur Blastophthorie fiihrt, ist sie natiirlich nicht 
auszuschalten. 

Uber die Beziehungen der Mendelschen Regeln zur Anlage der 
Geisteskrankheit miissen noch einige Bemerkungen gemacht werden. 
Es ist den obigen Ausfiihrungen zu entnehmen, daB in den Familien 
3 verschiedene Typen vom Mendelschen Gesichtspunkte aus auf- 
treten miissen: 

1. Typen mit reiner Dominanz = DD, die also weder selbst krank 

sind, noch auch die Anlage iibertragen konnen. 

• ** 

2. Heterozygote = DR, Individuen von gesundem AuBem, die aber 
bei Kreuzung mit ebenfalls DR-Individuen kranke Nachkommen haben 
kdnnen. 

3. Rein rezessive Individuen = RR, welche selbst krank wurden 
und natiirlich die Krankheit iibertragen konnen. Es wirft sich nun 
zunachst die Frage auf, wie sich diese Individuen unterscheiden; man 
hat vorlaufig kein anderes Kriterium als die Tatsache, ob diese In¬ 
dividuen gesund geblieben oder krank geworden sind. Strohmeyer 
hat aber mit Recht darauf hingewiesen, daB gerade die Zahl der Heterozy- 
goten eine unverhaltnismaBig groBe sein miisse, und daB es daher be- 
sonders wichtig sein miisse, diese Typen, die die Anlage iibertragen kon¬ 
nen, ohne selbst krank zu sein, zu erkennen. Riidin glaubt diesem Ziele 
nahezukommen, durch Beriicksichtigung aller moglichen korperlichen 
Eigenschaften. DaB korperliche Eigenschaften wie Degenerations- 
zeichen usw. in einer gewissen Korrelation zur geistigen Erkrankung 
stehen, ist ja schon lange bekannt. Ich glaube aber, daB die Korrelatio- 
nen auch auf Gebieten liegen konnen, die uns bis jetzt weniger zugang- 
lich sind; die Resultate der Fauserschen Untersuchungen, welche Be¬ 
ziehungen der Geisteskrankheiten zu innersekretorischen Vorgangen 
immerhin als wahrscheinlich hinstellen, geben uns da Fingerzeige. Viel- 
leicht riickt man dem Ziele auch naher, wenn man die geistigen und 
nervbsen Erkrankungen beriicksichtigt, die sich neben den Fallen von 
Dementia praecox in den Familien vorfinden. Das, was man als Psycho¬ 
pathic im weitesten Sinne des Wortes bezeichnen kann, zeigt doch 
einen recht verschiedenen Anblick, je nachdem es aus Familien mit 


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Psychiatrische Familienforschungen. 267 

Dementia praecox oder aus Familien mit manisch-depressivem Irresein 
stammt. 

Noch in mehrfacher Hinsicht ist das Erkennen der 3 Typen, welche 
in den Familien mit Anlage zu Geisteskrankheit auftreten, von grdBter 
Wichtigkeit. Wir diirfen nicht vergessen, daB die Mdglichkeit der Uber- 
tragung der Anlage ganz verschieden ist, je nachdem es sich um domi- 
nante horaozygote Individuen oder um heterozygote oder um rezessive 
Homozygote handelt. Wahrend man nach dem alteren Standpunkte 
ein jedes Individuum, in dessen Verwandtschaft — der Kreis wurde 
da verschieden weit gezogen — Geisteskrankheit vorkam, als „belastet“ 
bezeichnete und daraus die bedenklichsten Konsequenzen zog, wird man 
mit diesem wertenden Urteile vorsichtiger werden; als „belastet“ wird 
man auch die homozygoten dominanten Individuen bezeichnen, von 
denen keinerlei Obertragung der Anlage auf die nachsten Generationen 
zu fiirchten ist, und damit wird man diesem Urteile selbst den Wert 
nehmen, d. h. der Begriff der Belastung muB eine wesentliche Ein- 
schrankung und eine andere Wertung erfahren. Derartigen Individuen, 
die ja immerhin in einem betrachtlichen Prozentsatze in den mit An¬ 
lage zur Geisteskrankheit heimgesuchten Familien auftreten, ist es zu 
verdanken, daB auch aus „schwer durchseuchten“ Familien wieder ge- 
sunde Stamme hervorgehen und so eine gewisse Regeneration zustande 
kommt; sie m6gen auch den Eindruck der „Immunitat“ machen, wie 
Wagner v. Jauregg das wohl mehr dem Analogieschlusse entsprin- 
gende Schlagwort gepragt hat. Von einer Immunitat im Sinne der 
Pathologic kann dabei natiirlich keine Rede sein, derartige Individuen 
sind eben von der Anlage freigeblieben. 

Aus den bisher dargelegten Anschauungen ergibt sich auch die An- 
wendung auf die Frage nach der Erlaubnis zum Abschlusse einer Heirat. 
Zunachst wird man aus dem Gesamtbilde einer Familie sich einen Ein- 
blick verschaffen konnen, wie der Erbgang einer ev. vorhandenen An¬ 
lage zur Geisteskrankheit ist. Dabei wird man als besonders bedenk- 
lich die Falle ansehen miissen, in denen von der Seite beider Eltem 
her krankhafte Anlagen kommen, oder aber, wo bereits beide Eltem 
an derselben Krankheit gelitten haben; wir wissen ja auf Grand der 
obigen Darstellungen, daB aus solchen Ehen nur rezessive homozygote 
Individuen resultieren, die selbst auf das auBerste gefahrdet sind und 
auch in starkerem MaBe die Anlage ubertragen konnen. Auf jeden 
Fall wird man die Ehe nur dann gestatten konnen, wenn der Partner 
aus einer durchaus gesunden Familie stammt und wombglich ein sog. 
dominant homozygotes Individuum ist. 

In welchen Beziehungen stehen nun die Vererbungsvorgange zur 
Entartung ? 

Dabei wird es zuvor notig sein, ein paar Worte iiber das, was als 

18 * 


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268 


E. Wittermann: 


Entartung bezeiohnet wird, zu sagen. Nach Bumke, der den Entartungs- 
begriff beeonders eingehend analysiert hat, „bedeutet Entarfcung die 
von Generation zu Generation zunehmende Verschlechterung der Art, 
die sich in unzweckmaBigen Abweichungen vom Typus auBert“. In 
medizinischem Sinne beeteht sie natiirlich in einer Verschlechterung 
dee Gesundheitszustandes. Kraepelin bezeichnet dagegen „mit dem 
Namen der Entartung das Auftreten vererbbarer Eigenschaften, welche 
die Erreichung der allgemeinen Lebensziele erschweren und unmoglich 
machen“. Der Unterschied zwischen beiden Anschauungen liegt im 
wesentlichen darin, daB Bumke zum Begriffe der Entartung die zu¬ 
nehmende Verschlechterung der Art fordert und sich damit Morel 
nahert. Nun kann es keinem Zweifel unterliegen, daO ein groBer Teil 
der Familien, die im vorstehenden geschildert wurden, ala entartet 
anzusehen sind; sie sind ja Trager krankhafter Anlagen, die vererbt 
werden kdnnen, ohne dabei jedoch im weiteren Fortschreiten durch 
die Generationen eine wesentliche qualitative Veranderung zu er- 
fahren. Eine Veranderung tritt bei der Vererbung aus nicht feststell- 
baren Ursachen — vielleicht spielt dabei der Alkoholismus der Aszen- 
denten eine Rolle? — insofem ein, als in den aufeinanderfolgenden 
Generationen die Krankheit die Individuen in immer friiherem Lebens- 
alter befallt und beim Zusammenkommen der Anlage aus verschiedenen 
Linien natiirlich eine Haufung der kranken Individuen auftritt, was 
ja den Mendelschen Regeln durchaus entspricht. Die zunehmende 
Verschlechterung der Art laCt sich also direkt nicht nachweisen und 
infolgedessen wird man wohl eher Kraepelins Definition annehmen 
miissen. Trotzdem kann man nicht in Abrede stellen, daB auch eine 
gewisse fortschreitende Entartung nachgewiesen werden kann, wofiir 
im folgenden noch einige Beispiele aus Gruppe 4 besprochen werden sollen. 

Man wird also vererbbare Krankheiten trennen miissen von denen, 
die rein auf Entartung beruhen; es ist dabei mit Sicherheit ein Mittel- 
glied als Ubergang nachweisbar: namlich Anlagen zu Erkrankungen, 
die primar auf einem Entartungsvorgange durch allgemein blasto- 
phthorische Ursachen entstehen, und eine ausgesprochene Neigung 
haben, sich weiterhin zu vererben. Kraepelin nimmt dabei 3 Gruppen 
an, die durch die erbliche Veranlagung in sehr verechiedenem Grade 
beeinfluBt werden; zur ersten Gruppe des starksten Einflusses zahlt 
er das manisch-depressive Irresein, die epileptischen und hysterischen 
Geistesstorungen, femer die Nervositat, das Zwangsirresein, die ge- 
schlechtlichen Verirrungen, die verschiedenartigen Formen krankhafter 
Pereonlichkeiten, endlich wohl auch die Verriicktheit. Man sieht schon 
aus dieser Zusammenstellung, daB diese Gruppe im wesentlichen Krank¬ 
heiten umfaBt, die man auch sonst als ,,degenerative" bezeichnet, 
wobei an die Vererbung der Anlage gar nicht gedacht wurde. Die 


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Psychiatrische Familienforechungen. 


269 


von Bumke erwahnte Zusammenwerfung von klinischen Kriterien mit 
biologischen hat bei der Aufstellung dieser Gruppe mitgespielt; und 
so unberechtigt ist dieses anscheinend unlogisohe Verhalten auoh gar 
nicht. Es unterliegt ja keinem Zweifel, daB Kranke aus dieser Gruppe 
als entartet anzusehen sind, wenn wir auch von den VererbungsmOglich- 
keiten mit Ausnahme des manisch-depressiven Irreseins noch gar nichts 
wissen; es ist gut mdglich, daB genauere Famiiienuntersuchungen zu 
einer Unterteilung dieser Gruppe fiihren: die Ergebnisse der Unter- 
suchungen auf das Bestehen hereditar-luetischer Erkrankungen mit 
Hilfe der Wassermannschen Beaktion an Fiirsorgezbglingen, die ja 
spaterhin einen grofien Teil der Kranken aus dieser Gruppe liefera, 
lassen es als wahrscheinlich erscheinen, daB die Krankheit auf direkten 
Keimschadigungen beruht, die sich beziiglich der Vererbung ganz anders 
verhalten, als z. B. die Anlage zu Dementia praecox. 

Zur 2. Gruppe, die beziiglich ihres Verhaltens zur erblichen Veran- 
lagung eine Art Mittelstellung einnehmen soli, rechnet Kraepelin die 
Dementia praecox, die Idiotie und chronischen Vergiftungen. Aus den 
friiheren Ausfiihrungen geht hervor, daB dabei die Dementia praecox 
als eine in ihrer Anlage exquisit vererbbare Krankheit von ihnen zu 
trennen ist; hinsichtlich der Idiotie wird wohl auch die direkte Keim- 
schadigung eine grdBere Rolle spielen, was schon aus der Erwagung 
hervorgeht, daB Idioten nur in auBerst seltenen Fallen zur Fortpflan- 
zung und damit zur tlbertragung ihrer krankhaften Anlage gelangen. 
Bei den chronischen Vergiftungen wird auch eine Trennung in mehrere 
Gruppen durchzufiihren sein; es ist hier schon bfters erwahnt worden, 
daB viele Trinker z. B. zur Trunksucht auf Grand ihrer krankhaften 
Anlage gelangten und so die Trager einer anderen krankhaften Anlage 
sind; andererseits wird in vielen Fallen wenigstens bei Alkoholismus 
die Milieuwirkung nicht zu iibersehen sein, bei der Vererbungsvorgange 
keine Rolle spielen kdnnen; und endlich sind widerstandslose Personen, 
also Angehorige der ersten Gruppe besonders, hinsichtlich des Unter- 
liegens unter die verfiihrerischen Sitten sehr gefahrdet. 

Die 3. Gruppe, die verhaltnismaBig am wenigsten durch die Erb- 
lichkeitswirkungen beeinfluBt wird, umfaBt Krankheiten, die wesent- 
lich durch auBere Sohadigungen verursacht werden; wie die Infektions- 
psychosen, die progressive Paralyse, den senilen und arteriosklerotischen 
Schwachsinn usw. Mit Ausnahme der progressiven Paralyse sind das 
Zustande, die in einem gewissen Grade als unvermeidliche Erscheinungen 
anzusehen sind, da auch der gesundeste Mensch'bei langerem Fieber 
deliriert und in hohem Alter Schwachsinnserscheinungen zeigt. Hin¬ 
sichtlich der progressiven Paralyse sind Famiiienuntersuchungen drin- 
gend ndtig, da bei ihrem Entstehen doch auch eine gewisse Anlage 
mitzusprechen scheint. 


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270 


E. Wittermann: 


Aus dieser Zusammenstellung und Besprechung wird man wohl er- 
sehen, welches Licht und welche Anregung die Familienforschung fur 
unsere Auffassung der einzelnen Krankheitsbilder bringen kann. 

Die Entartung, wie Kraepelin sie definiert, ist durch eine Reihe 
klinischer Erscheinungen charakterisiert. Er sagt dariiber: ,,Bei den 
einzelnen psychischen Erkrankungen bedingt die erhebliehe Entartung 
Sprunghaftigkeit und Fliichtigkeit der Erscheinungen, starkes Hervor- 
treten von psychogenen Ziigen, MiBverhaltnisse in der Entwicklung 
der verschiedenen Krankheitszeichen. Auch das Auftreten gewisser auf- 
fallender Krankheitserscheinungen, rascher Verlust der Scham- und 
Ekelgefiihle bei erhaltener Besonnenheit, Triebartigkeit und Verschro- 
benheit im Benehmen und Handeln, Neigung zu Heimtiicke und Roheit 
pflegen mit mehr oder minder Recht als Zeichen der erblichen Ent¬ 
artung betrachtet zu werden.“ Es liegt nun nahe, zu untersuchen, ob 
derartige Symptome sich bei den Demen tia-praecox-Fallen, die eine 
starkere Belastung aufzuweisen haben, bemerkbar machen, oder ob 
andere klinische Anzeichen fiir das Vorhandensein starkerer Belastung 
sprechen. Eine Durchsicht meiner Krankengeschichten ergibt dabei, 
daB Kraepelins Anschauung bis zu einem gewissen Grade auch bei 
der Dementia praecox gilt; noch starker tritt aber etwas anderes in 
Erscheinung: die Tatsache namlich, daB schwerer Belastung bei meinen 
Fallen auch immer ein schwerer Verlauf entspricht. Insbesondere das 
Zusammentreffen von Alkoholismus in der einen Linie mit der Anlage 
zur Geisteskrankheit in der anderen Linie fiihrt nahezu stets zu sehr 
schweren Krankheitsbildem; was man dabei unter Schwere des Krank- 
heitsbildes zu verstehen hat, ist ja klar: sehr rascher Verlauf, schwere 
Stuporen, Neigung zu impulsiven rohen Handlungen, schneller Verlust 
sozialen Empfindens. In gewissem Grade decken sich diese Erscheinun¬ 
gen schweren Verlaufs mit den Kraepelinschen Anzeichen der Ent¬ 
artung ; es fehlt ihnen aber zum groBten Teil die psychogene Beimengung, 
die meines Erachtens sich starker bei schwer belasteten Fallen von 
manisch-depressivem Irresein nachweisen laBt. Aufmerksame Beobach- 
tung der in die Anstalt neu eintretenden Falle hat zusammen mit 
dieser aus der Familienforschung geschopften Erkenntnis uns oft dahin 
gefiihrt, erbliche Belastung gewissermaBen hypothetisch zu fordem und 
dann diese Forderung nach Untersuchung der Familie realisiert zu seheu. 
Detailliertere Untersuchungen, die hier zu weit fiihren, werden iiber 
diese Beziehungen zwischen Belastung und klinischem Verlaufe ander- 
weit veroffentlicht werden. 1 ) 

1 ) Anmerkung bei der Korrektur. Im letzterschienenen III. Bande 
von Kraepelins Psychiatric finde ich einen Hinweis auf die Ergebnisse der 
Riidinschen Famiiienuntersuchungen, iiber die allerdings eingehcnde Mitteilungen 
noch nicht vorliegen, die aber, wie sich aus Kraepelins Bericht schlieBen laBt, 
mit den meinen ziemlich ubereinstimmende Result ate zu ergeben scheinen. 


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Psychiatrische Familienforschungen. 


271 


Leider bin ich nun nicht in der Lage, ein ahnlich groBes Material 
iiber andere Forrnen des Irreseins vorzulegen wie iiber die Dementia 
praecox; speziell beim manisch-depressiven Irresein, das ja zur Diffe- 
rentialdiagnose immer herangezogen wird, 1st dies bedauerlich, aber 
bei der Seltenheit der Falle in unserer Anstalt immerhin begreiflich. 
Ich muB mich daher begnugen, ganz kurz die wenigen Falle zu be- 
sprechen. 

In den 4 Familien mit insgesamt 110 Mitgliedem fanden sich 
12 = 10% geisteskranke und 9 = 7,5% psychopathische Individuen; 
diese Zahlen sind denen der schwer belasteten Dementia-praecox- 
Familien aus Gruppe 2 iiberlegen, dagegen bleibt der Prozentsatz der 
schweren Alkoholiker mit 3,3% gegeniiber den zum Vergleiche heran- 
gezogenen Dementia-praecox-Fallen zuriick. Es spielt also, so kann 
man die Eindriicke zusammenfassen, der Alkoholismus eine geringere 
Rolle, dagegen scheint die Familiendisposition noch haufiger. Auf diese 
Weise ist es ja auch erklarlich, daB der Vererbungsmodus des manisch- 
depressiven Irreseins den Eindruck der Dominanz machen konnte. Ich 
bin natiirlich nicht in der Lage, mich dariiber naher auszusprechen; 
in alien Fallen, iiber die ich verfiige, war der eine der beiden Eltem 
entweder selbst geisteskrank oder psychopat hisch, oder aber es bestand, 
wie im Falle Beh., durch mehrere Generationen vorher schwere Trank- 
sucht. Das diirfen wir ja nicht vergessen, und es gilt dies auch fur 
die Familien mit Dementia praecox: bei der Aufstellung der Familien- 
tafeln miissen wir verschiedene Querschnitte durch den Weg des Erb- 
gangs bekommen, sei es nun, daB wir die ersten Anfange der erblichen 
Ubertragung, die Entstehung der pathologischen Anlage vor uns haben, 
sei es, daB wir auf die letzten Auslaufe in der Manifestation alten Erb- 
guts stoBen. Es ware nun wohl denkbar, daB in der Familie Beh. ein 
Fall von primarer Entstehung der manisch-depressiven Anlage uns vor- 
liegt; wie es aber kommt, daB wir in einem Falle eine manisch-depressive 
Anlage sich entwickeln sehen, im anderen Falle eine zur Dementia 
praecox, dariiber kOnnen wir heute noch gar kein Urteil abgeben. 

Ich habe bei der Besprechung der Dementia-praecox-Familien darauf 
hingewiesen, daB unter den Angehorigen auch relativ haufig andere 
Formen der Geistess toning sich zeigen, wie Imbezillitat, Idiotie, Mongolis- 
mus usw. Wenn man nun die Angehorigen der Manisch-Depressiven 
damit vergleicht, so ergibt sich hierbei, wenigstens auf Grand meines 
nicht sehr groBen Materials ein ganz anderer Eindruck; die Stdran- 
gen wie Imbezillitat und Idiotie fehlen ganzlich, dagegen finden wir in der 
Regel stark reizbare Individuen, wie ja iiberhaupt die Angehorigen 
der manisch-depressiven Kranken, dies wird mir jeder Irrenarzt be- 
statigen, auf einer ganz anderen Stufe stehen als die der Dementia- 
praecox-Falle. 


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272 


E. Wittermann: 


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Eine beeondere Beachtung verdient die Familie L.; durch 4 Genera- 
tionen lassen sich in ihr geistige Storungen nachweisen, die alle im 
wesentlichen in das Bild dee manisch-depressiven Irreseins fallen. Dabei 
wurde das Bild — ob infolge der Beimengung von Lues ist fraglich — 
immer schwerer und insbesondere der Sohn Johann L. zeigt ein Zu- 
standsbild, das zwar reichlich manisch-depressive Ziige aufweist, das 
uns aber schon oft an dieser Diagnose zweifeln lieB. Nicht minder 
schwierig ist die klinische Beurteilung seines Vaters, der ein der Paralyse 
ahnliches Krankheitsbild durchmachte, das aber erst im weiteren Ver- 
laufe durch immer starker auftretende manisch-depressive Ziige eine 
Klarung im Sinne des manisch-depressiven Irreseins erfuhr. Bei der 
Stellung der Diagnosen mufite die Familienanamnese einen bedeutenden, 
wenn auch nicht entscheidenden EinfluB ausiiben. Ich halte es nicht 
fur wahrscheinlich, daB die zunehmende Degeneration im Sinne Morels 
das schwere Krankheitsbild des Sohnes Johann L. zu erklaren im- 
stande ist, sondem meine eher, daB die blastophthorische Schadigung 
durch Lues eine entscheidende Rolle spielt; eine Stiitze erfahrt diese 
Anschauung, daB der spater geborene Sohn Marius eine reine Manie 
durchmachte, die ziemlich kurz dauerte und vdllig heilte. 

In der 4. Gruppe habe ich nun endlich Familien vereinigt, die in 
ihrem Erbgange gewissermaBen als ,,atypische“ anzusehen sind oder 
die sonst ein besonderes Interesse zu bieten scheinen. Eine allgemeine 
Zusammenstellung verbietet sich hier, da es sich um ganz divergentes 
Material handelt. 

Schwere Schaden sind bei der Familie Mey. auf den Alkoholismus 
des Vaters und des GroBvaters mutterlicherseits zu beziehen; es scheint 
mir dabei wichtig, auf das Vorkommen von progressiver Paralyse neben 
schweren Dementia-praecox-Formen innerhalb derselben Generation 
hinzuweisen; die Sparlichkeit der Beobachtungen und der Mangel von 
brauchbaren Hypothesen gestattet in keiner Weise die Klarung der 
Frage, ob Paralyse und Dementia praecox, wenn sie bei verschiedenen 
Geschwistem auftreten, derselben gemeinsamen Anlage entspringen, 
der sich eine individuell verschiedene Gelegenheitsursache hinzugesellt, 
oder ob Beziehungen hereditarer Natur zwischen beiden Krankheits- 
formen auszuschlieBen sind. 

Die Frage der Beziehungen zwischen progressiver Paralyse und 
Dementia praecox spielt auch bei der Familie Au. eine gewisse Rolle. 
Der Vater, der einer mit Anlagen zu Psychosen belasteten Familie 
entstammt, starb an progressiver Paralyse; die Mutter geh&rt einer 
Familie an, in der sich die Anlage zum manisch-depressiven Irresein 
und zu StQrungen auf dem Gebiete des Affektlebens im weiteren Sinne 
vorfindet. Die 2 altesten Kinder, die allerdings auch erst knapp das 
„psychosefahige Alter' 1 erreicht haben, leiden an Dementia praecox. 


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Psychiatrische Familienforechungen. 


273 


Die 2 folgenden Geschwister zahlen erst 16 und 17 Jahre und sind zur- 
zeit noch geeund; die 4 letzten Kinder endlich starben an Krampfen 
und Gichtem im zartesten Alter. Mir scheint dabei sehr intereasant 
einerseits, daB die Anlage zum manisch-depressiven Irresein der mutter- 
lichen Familie — eine Schwester der Mutter war wegen schwerer De- 
pressionen und einer ausgesprochenen Manie wiederholt in unserer An- 
stalt — in der nachsten Generation gar keine Rolle mehr spielt, und 
daB andererseits offenbar auf blastophthorischem Wege die der Paralyse 
vorangegangene Lues zu einer Dementia praecox fiihrt. In dieser 
Familie Au. ist allerdings eine Anlage zur Dementia praecox nicht ohne 
weiteres auszuschlieBen. 

Durchweg atypische Bilder, die aber unter sich gewisse Ahnlichkeit 
zeigen, sind in der Familie Run. zu beobachten. Die Krankheitsbilder 
halten sich an der Grenze zwischen dem manisch-depressiven Irresein 
und der Dementia praecox. Ob der schwerere Verlauf bei den Kindern 
durch die doppelte Belastung von miitterlicher wie von vaterlicher 
Seite her zu erklaren sei, wage ich nicht zu entscheiden, halte es aber 
nicht fur wahrscheinlich, da ja auch beim Vater ein vbllig atypisches 
Krankheitsbild zur Entwicklung kam. Ebensogut kann zur Erklarung 
der Verschlimmerung des Krankheitsbildes der durch Generationen zu 
beobachtende Alkoholismus herangezogen werden, der ja, wie oben er- 
wahnt, bei der Entstehung der Dementia praecox oft als die einzige 
plausible Ursache herangezogen werden muB. 

Wie sehr die Krankheitsbilder durch das Vermengen verschiedener 
Krankheitsanlagen und durch begleitenden Alkoholismus getriibt wer¬ 
den, zeigt die Familie Bro. Drei aufeinanderfolgende Generationen 
konnten aus dieser Familie in der hiesigen Anstalt beobachtet werden, 
namlich: 

1. Barbara Man. erkrankte mit 75 Jahren an seniler Demenz (arterio- 
sklerotische Form). 

2. Deren Tochter Barbara Bro. erkrankte an manisch-depressivem 
Irresein (?) mit 42 Jahren. 

3. Deren altester Sohn Johann Bro. erkrankte mit 17 Jahren an 
epileptischer Demenz. 

Sehr beachtenswert ist dabei, wie die Krankheiten in immer friiherem 
Lebensalter auftreten; es ist allerdings nicht auBer acht zu lassen, daB 
die vaterliche Seite des Johann Bro. durch Generationen starken Alko¬ 
holismus zeigt, und daB in der miitterlichen Familie sich neben der senilen 
Demenz auch Anlage zu Schwermut und anderen GeistesstOrungen vor- 
findet. 

In der Familie Kdn. stammt die Anlage zur Geisteskrankheit ganz 
aus der vaterlichen Linie; wieder kann als alleinige Ursache der Alkoholis¬ 
mus des GroBvaters aufgedeokt werden, von dessen Kindern 2 psycho- 


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274 


E. Wittermann: 


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tisch wurden: die eine Tochter erkrankte an einer senilen Demenz, 
eine andere bot ein Krankheitsbild, das bei ausgesprochen periodischem 
Verlaufe doch der Gruppe der Dementia praecox zuzurechnen ist. Der 
geistig gesund gebliebene Vater iibertrug die Anlage auf seine Kinder, 
von denen nur eines, ein Sohn gesund blieb, wahrend die ubrigen Kinder 
Zeichen von Seelenstorung bieten. Dabei erscheint mir sehr interessant, 
daB auch unsere Patientin Luise Kon. ein ganz ahnliches atypisches 
Krankheitsbild wie ihre Tante bietet; auch diese Erkrankung ist der 
Gruppe der Dementia praecox zuzurechnen, zeigt aber ebenfalls einen 
deutlichen periodischen Verlauf, so daB man lange an der Diagnose 
zweifeln muBte, bis endlich auch in den relativ freien Zwischenzeiten 
ein gewisser geistiger Defekt mit Zerfahrenheit und Verschrobenheit 
nachgewiesen werden konnte. Schwere affektive Storungen bis zum 
Suicid lassen sich bei anderen Geschwistem dieser Kranken nachweisen. 

Auffallende Ahnhchkeit des Krankheitsbildes, das diesmal der 
Gruppe der Psychopathie angehort, findet sich bei den Geschwister- 
kindem Wilhelm Go. und Marie Ben. Die Familie dieser Kranken 
Marie Ben. besitzt ein ungemein genau gefiihrtes Familienbuch, das 
jahrhunderteweit zuriickreicht, das aber leider in seinen Angaben iiber 
psychische und korperliche Anomalien sehr mangelhaft ist; eine Schwe- 
ster der Kranken Marie Ben. litt an einem schweren Depressionszu- 
stande, eine Erscheinung, die einen bei der inneren Verwandtschaft 
zwischen Psychopathie und depressiven Erscheinungen nicht wundem 
kann. In der Familie der beiden Kranken kam mehrfach Inzucht vor, 
was aber die Entstehung der psychopathischen Anlage nicht aus- 
reichend erklaren kann. 

Zum Schlusse sei noch die Familie Ber. erwahnt, aus der die Luise 
Ber. in der Anstalt an progressiver Paralyse starb. Die miitterliche 
Linie ist reich an Trinkem, wie auch der Vater der Luise Ber., aber 
wohl aus auBeren Ursachen, ein Trinker wurde. Auch diese Familie 
verfiigt iiber eineChronik, die aber, weniger reich an rein genealogischem 
Material, mehr eine Schilderung des sozialen Niedergangs enthalt. Und 
ergreifend lesen sich in ihr die Klagen des Ludwig Ber. iiber das Un- 
gliick, das seiner Familie gebracht wurde durch die Verbindung mit 
der Familie seiner Frau; als hatte der offenbar intelligent^ Mann das 
weitere Ungliick seiner Familie geahnt und als hatte er schon im voraus 
eine Ursache in der Minderwertigkeit der Familie seiner Frau gesucht! 

Im vorstehenden habe ich gezeigt, welch wertvolle Aufschliisse in 
klinischer und biologischer Hinsicht die psychiatrische Familienfor- 
schimg uns verschaffen kann. An Problemen ist da freilich kein Mangel, 
aber es bedeutet zumal in einer jungen Wissenschaft allein schon einen 
Fortschritt, die Fragestellung erkannt zu haben. Und es bedarf nur 
weitercn Materials, uni Klarung zu bringen in diesen Problemen. Des- 


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Psychiatrische Familienforschunpen. 


275 


lialb seien die Forderungen Alzheimers, Romers und Riidins nach 
der Schaffung von Instituten fiir Familienforschung und nach der Auf- 
stellung von Stammlisten der Geisteskranken und psychisch Abnormen 
in den einzelnen Landem nachdriicklichst unteretutzt. Das zeigt jeden- 
falls auch eine nur fliichtige Durchsicht meines Materials: daB in der 
tiberwiegenden Mehrzahl der Fiille von Geisteskrankheit auch psychische 
Anomalien in der Familie bestehen, und daB daher bei der ausgespro- 
chenen Vererbbarkeit der psychopathischen Anlage nur aus gesunden 
Familien gesunde Nachkommenschaft erwartet werden kann. 

Fortschreitende endogene Degeneration und Entartung braucht 
keineswegs eine Begleiterscheinung kulturellen Fortschritts zu sein; 
aber da nun einmal der Weg der natiirlichen Auslese verlassen ist, muB 
JbewuBte Wahl und tlberlegung an die Stelle des Trieblebens treten. 
Mit aller Macht ist der Kampf gegen die Keimschadiger Syphilis und 
Alkohol zu fordem, ebenso muB aber auch die Erkenntnis der Not- 
wendigkeit der Pfhcht gesund zu sein und der Notwendigkeit der Ge- 
sundheit der einzelnen Familien in unserem Volke feste Wurzel fassen. 
Nur auf diesem Wege der Selbstkultur werden wir eine Einschrankung 
der spezifischen Kulturkrankheiten, der Geistesstorungen, erleben. 

Zusammenfassung. 

1. In iiberwiegendem MaBe tritt die Anlage zu Geisteskrankheiten, 
insbesondere zur Dementia praecox und zum manisch-depressiven Irre- 
sein familiar auf. 

2. Die Anlage zur Dementia praecox ist eine im Sinne Mendels 
rezessiv sich vererbende Eigenschaft. 

3. Die an Dementia praecox erkrankten Geschwister zeigen eine 
weitgehende Ahnlichkeit der Krankheitsbilder. 

4. Gehauftes Auftreten von Dementia praecox innerhalb einer Ge- 
schwisterreihe entspricht durchaus erheblicher Belastung. 

5. Die Erst- und Spatgeborenen innerhalb einer Geschwisterreihe 
erkranken haufiger an Dementia praecox; die Sterblichkeit der Kinder 
von der Geburtenfolgeziffer 10 an ist eine auBerordentlich groBe. 

6. Unter den Ursachen der Entstehung der Anlage zur Dementia 
praecox spielen Alkoholismus und Syphilis eine wichtige Rolle; ebenso 
scheint schwere Tuberkulose in der Aszendenz Anlage zur Dementia 
praecox zur Folge zu haben. 

7. Fortschreitende endogene Entartung ist auBerordentlich selten; 
ahnlicheErscheinungenkonnen vielleicht entstehen durchdasZusammen- 
treffen verschiedener Anlagen oder aber durch Mitspielen von Lues. 

8. Die klinischen Erscheinungen der Entartung spielen auch beim 
gehauften Auftreten von Psychosen innerhalb einer Familie keine be- 
deutende Rolle. 


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276 


E. Wittermann: 


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9. Die Kombination von Anlage zur Psychose aus der einen Lime 
mit luetischer Infektion in der anderen Linie ergibt sehr schwere Krank- 
heitsbilder von atypischem Verlaufe. 

10. Die Familienuntersuchung vermag in vielen Fallen von atypi- 
schen Krankheitsformen eine gewisse Erklarung derselben zu bringen. 

11. Es vererben sich haufig Krankheitsanlagen, die eine auffallende 
Ahnlichkeit des Krankheitsbildes herbeifiihren. 

12. In klinischer und biologischer Hinsicht sind von der psychiatri- 
schen Familienforschung wertvolle Aufschliisse zu erwarten; deshalb 
sind weitere ausgedehnte Untersuchungen auf diesem Gebiete durch- 
aus zu wiinschen und weitgehends auch vom Staate durch Emchtung 
von Instituten usw. zu fordern. 

Zum SchluB spreche ich meinem Chef, Herm Direktor Dr. Gross, 
fur die mannigfache Forderung dieser Arbeit den besten Dank aus; 
auch Herm Sanitatsrat Dr. Weinberg in Stuttgart danke ich fur 
seine in liebenswurdiger Weise erteilten Ratschlage. 


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278 E. Wittermann: Psyehiatrische Familienforachungen. 

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Ziehen, Th., Psychiatrie. 3. Aufl. Leipzig 1908. 


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Eigentiimliche Veranderungen im Ruckenmarke eines 
Neugeborenen (kongenitale Syringomyelic). 

Von 

Christen Lundsgaard, 

I. Assistenten am pathologiach-anatomlschen Iostitot der UniversitAt Eopenhagen 
(Direktor: Prof. Dr. J. Fibiger). 

Mit 5 Textfiguren und 4 Tafeln. 

(Eingegangen am 9. September 1913.) 

Die Frage von der Pathogenese der Syringomyelie ist bei weitem 
noch nicht gelost. Es besteht noch immer eine Diskussion, inwieweit die 
charakteristischen Hohlraume im Riickenmarke auf kongenitale Bildungs- 
anomalien zuriickzufuhren sind, oder von entziindlichen Prozessen 
herruhren. 

Im pathologisch-anatomischen Institut der Universitat Kopenbagen 
ist ein Fall seziert worden, der in dieser Hinsicht von groBem Interesse 
sein durfte. Der Patient war ein neugeborenes weibliches Kind, das 
2 Monate nach der Geburt gestorben. 

Die Eltem sind gesund, kein Syphilis oder Abusus spirit. Keine Deformi- 
taten in der Familie. Die Mutter hat friiher eine normale Schwangerschaft durch- 
gemacht. Das gesunde Kind starb an Enteritis 14 Tage nach der Geburt. Letzte 
Menstruation Anfang Mai 1911. Einen Monat spater hatte sie eine Blutung, die 
— obgleich nicht sehr stark — bis zum 18. Juli dauerte. Die Schwangerschaft 
verlief danach vollig normal. Sie erwartete die Niederkunft im Marz 1912. 

Am 15. 1. 1912 gebar sie im Verlaufe von anderthalb Stunden, und ehe die 
Hebamme ankam, ein Miidchen. Das Kind wurde in Sitzlage geboren. Vom 
Verhaltnis des Geburtswassers liegen keine Aufschliisse vor. Die Nachgeburt 
wurde von der Hebamme als normal bezeichnet und ausgeworfen. Das Kind befand 
rich wohl, wurde aber wegen der unten beschriebenen Deformitaten in die Geburts- 
abteilung A des „Rigshospitals“ aufgonommen (Chefarat: Prof. Dr. Leop. Meyer). 
Hier wurden folgende Erscheinungen beobachtet 1 ) (sieho Textfig. 1): 

Die Lange betrug 25 cm vom Scheitel bis zu Tubera ischii (gewohnliches 
MaB: 32—35 cm). Die Form und GroBe des Kopfes normal. Schulterbreite 7 cm 
und HiiftenmaB 6 cm. An der Nase und Unterlippe findet sich ein Angiom. Co- 
lumna ist der Sitz einer dextro-konvexen Totalskoliose. Os coccygis prominiert 
etwas mehr als gewohnlioh. In der Mittellinie des Ruckens — dem Obergang 
zwisohen dem lumbalen und sakralen Teil ungefahr entsprechend — findet rich 
eine kleine nabelartige Vertiefung in der Haut. Kein Zeichen von Spina bifida. 

*) Die Mitteilung iiber die Anamnese und Status praesens verdanke ioh dem 
Herm Dr. Guildal, welcher die kuBeren MiBbildungen des Kindes einer naheren 
Unterauchung unterworfen hat (Hospitalstidende Kebenhavn 1913). 


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Cliur, Lujuls^aard : Ve^ndemiigeii. 


Ufa Extrtvmttaten:; !>m %hultcrgurtel normal. linker Arm fehlt. es 
la&t sich let&e Foasu gienotdea and in der aborts vm derselbeu betmdl&hcK 
Haul- cine meht cicatwjeile Vmief tmg paipferen, die duroh Mfjak^Iteatmktioii 
2 ftt vergro&em iat, 3 vor d**v Akroxnion finifai Aicb eine tfrbw*ngro£k\ 

afctbt vmchiebbim% wars^xnarHge PiTtminenz, viedeioht der Rest do? linJcen 
Anm**. itedit^r Arm M 12 mivian^ It4>5senanig amgebildet und laflt sich im Scfttal- 
pjygeUmk uur gariz. aehwaeh bem*geu* Htimerua naroittl- Toiale Ankylosis* dea 
EUmlxjgeuk Radiua ist dber die i^hr d^kt^ tnna $fccrk bach -inuen gebogen* 
Totaie ••S^afiJaktjlje tei vorhaD?|eiu Die M*tak*r^ defeki. ©ie Knochen 

l^ger nonrmL Die normal Vo& dm V p^rextreroitaten iat 

tfritie %w Tr>rhHndep4 y * * * ’ 1 . V ;* ' , . vV.l^r : .. : ~ 

Dua Kind vetmle 'Q 'Wochm ali u«$• mblielv.ijfe &*it -"m Deb 

Zustaml wird folgendermaBeri be^cfiriebon: Die Panktkmen nnd die Teinperatur 


tSvjiugr.'b&Xitefi dtv Kdjiks in vejschied*Hieti .$t.t:llmj$6<i. 



im RUckenmarke eines Neugeborenen (kongenitale Syringomyelic). 281 

Das Zentralnervensystem: Gehim und Riickenmark werden auf einmal 
herausgenommen. Beid© biet©n nichts Besonderes dar, speziell keine Deformitat 
der motorischen Zone am Cortex cerebri. Die Medulla spinalis reicht bis zur Mitfce 
des Lumbalteils der Columns. Intumescentia cervicalis und lumbalis sind nicht 
deutlich nachweisbar. Beim Abgang der Nervenwurzeln von der Medulla laBt 
sich nichts Pathologisches entdecken (es gelang nicht, dieselben zu zahlen). Beim 
Aufschneiden des Gehims zeigt sich die Kavitat desselben sehr schlecht konser- 
viert, mit Ausnahme der auBeren Schale ist das Gewebe in starkem Zerfall; es 
laBt sich jedoch die Moglichkeit eines Hydrocephalus mit Sicherheit ausschlieBen. 
Die Kavitat war von normaler GroBe. Die Menge der Fliissigkeit nicht vermehrt. 
Die Himrinde nicht verdiinnt und erweitert. Das Riickenmark wird in toto fixiert, 
und zwar zuerst in Orths, spater in Miillers Fliissigkeit bis zum 18. September 
1912. 

Mikroskopische Untersuchung. 

1. Lungen, Leber, Pankreas, Nieren, Nebennieren, Milz: nichts Pathologi¬ 
sches, speziell kein Zeichen von Syphilis. Die Spirochatenfarbung nach der Leva- 
dittischen Method© gab negatives Resultat. 

2. Riickenmark: Das Organ wird in 7 Stiickchen geteilt und jeder Teil 
in Celloidin eingebettet. 

F&rbetechnik: Ftir die Markscheidenfarbung wird zuerst die Weigert- 
Palsche Methode versucht, da aber die Differenzierung immer miBlingt, geht man 
zur Kultschitzkyschen Methode iiber. 

Die Weigertsche Gliafarbung miBlingt (wegen der Chromhartung). 

Die Mallorysche und besonders die v. Giesonsche Farbung geben aber 
hinreichend schone Bilder. 

AuBerdem wird die Weigertsche Elastinfarbung angewendet. 

A. Die Form der Medulla an Schnitten in verschiedener H6he> 

In dem oberen Halsteil ist die 1. Halfte mehr abgeplattet und zugleich etwas 
kleiner als die rechte, indem beim sagittalen Schnitt durch Fissura ant. ein groBeres 
Areal an der rechten Seite als an der linken zum Vorscheine kommt. Dieses Ver- 
haltnis nimmt abwarts wieder schnell ab und schon im unteren Halsteil ist das 
Umgekehrte der Fall. 

In den verschiedenen Gebieten des Dorsalteils ist die linke Seite als Regel 
wieder etwas kleiner als die rechte, jedoch nicht abgeplattet wie im Halsteil. 
Der Unterschied zwischen den beiden Half ten laBt sich nicht auf bestimmte Teile 
des Querschnittes (Strangsystem) hinftihren. Im unteren Teil ist die auBere Form 
normal und an beiden Seiten gleich. 

B. Der Zentralkanal. 

An Schnitten vom oberen Teil des Halsmarkes ist die Weite und Lage des 
Zentralkanals normal. Die Form einigermaBen zirkular, seine Ependymbekleidung 
normal und unbeschadigt. Es werden keine Auslaufer (Spombildung) vom Ependym 
beobachtet. 

Im unteren Halsteil ist der Kanal geschlangelt und zackig. Im oberen Dorsal- 
teil liegt der Zentralkanal an der Grenze zwischen den vorderen zwei Dritteln 
und dem hinteren Drittel des sagittalen Diameters. Er hat die Form einer kleinen 
runden Offnung. Es findet sich hier nicht die gewohnliche scharfe einreihige 
Epithelbekleidung (Ependym). An der Vorderseite wird die Grenze des Kanals 
durch ein Haufchen von Gliazellen mit rundem oder ovalem Kem gebildet. Die¬ 
selben gehen in das umgebende Gliagewebe glatt iiber. An den Seiten des Lumens 
iiegen ganz wenige zerstreute Gliazellen, die hinter dem Kanal dichter gelagert 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XX. 19 


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282 


Chr. Lundsgaard: Eigentttmliche Ver&nderungen 


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sind und sich als eine Reihe oder einen Strahl von Gliazellen fortsetzen, um gegen 
den hinteren Teil der Medulla zu verschwinden. In diesem Glia&trahl wird kein 
Lumen beobachtet. 

Im mittleren Dorsalteil liegt der Zentralkanal bedeutend naher an dem 
hinteren als an dem vorderen Umfang dee Riickenmarkes. 

Wegen groBer Variation der Schnitte wird daa Ruckenmark in einer Lange 
von ca. lVgCm in Sericnschnitte zerlegt. (Das Celloidin wird entfemt und das 
Stiickchen in Paraffin eingebettet.) Dicke der Schnitte* 10 /*. Mehrere Schnitte 
gingen verloren. In den ersten Schnitten dieser Partie iat die Weite des Zentral- 
kanais nur wenig erweitert, die Form iet dreieckig mit abgestumpften Winkeln, 
die Innenflache glatt und die einschichtige kubische Ependymbekleidung vollstan- 
dig. Schon 50 fi weiter nach unten (Taf. X, Fig. 1) iet das Lumen um das doppelte 
erweitert, und der vordere Winkel mehr zugespitzt, ohne jedoch ganz bis zur 
vorderen Fissur hinauszureichon. 20 ft tiefer ist die Weite des Kanals noch mehr 
zugenommen, so daB der sagittale Diameter desselben der Halfte desjenigen der 
Medulla entspricht, wahrend sein frontaler Diameter etwa drei Vierteln seines 
sagittalen entspricht. Die Form ist am ehesten elliptisch, und von dem vorderen 
Teil entspringt eine spitze Verlangerung, die beinahe an die Oberflache der vor¬ 
deren Fissur hinausreicht. Die Ependymbekleidung dieses Auslaufers ist ebenso 
wie diejenige des iibrigen Lumens vollstandig und einschichtig kubisch. Ca. 250 fi 
weiter nach unten (einige Schnitte gingen hier verloren) ist das Vorhandensein eines 
Zentralkanals sehr schwierig festzustellen (Taf. X, Fig. 2). Es scheint jedoch der- 
selbe durch ein kleines Lumen dicht hinter der vorderen Fissur vertreten zu sein. 
Er ist nur von einzelnen zerstreuten, rundartigen, besonders vor und hinter dem 
vermuteten Kanal gelagerten Gliazellen begrenzt. Dieses Bild laBt sich durch die 
folgenden 200 /< verfolgen, nur an einem einzelnen Schnitt tritt der Kanal deut- 
licher hervor als an der Abbildung. (Soweit es sich iiberhaupt entscheiden laBt, 
scheint der Zentralkanal also in dieser Partie ununterbrochen.) Plotzlich zeigt sich 
die Weite des Kanals wieder etwas vergroBert, von ungefahr zylindrischer Form, 
mit einschichtiger, normaler Ependymbekleidung und ganz ohne Auslaufer. Im 
Lumen sind hier feine fadenformige Bildungen nachzuweisen, die bei starker 
VergroBerung aus der Innenseite der Ependymzellen zu entspringen scheinen 
und, sich gegenseitig kreuzend, in das Lumen hineinreichen, wo sie ein Gefleoht 
bilden. Oft sind sie mit scharfen Knicken versehen. Sie farben sich mit Pikrinsaure- 
Saurefuchsin braungelb und sind am ehesten Gliafaden ahnlich. 

Dieses Verhaltnis wiederholt sich durch eine Lange von 100 /*. Dann ist der 
Kanal plotzlich vollstandig verschwunden, auch nicht die schwachsten Zellenzuge 
verraten seinen Platz. Erst 400 fi tiefer kommt er wieder zum Vorschein und zwar 
mit vergroBerten Dimensioned Er nimmt hier ungefahr die Halfte des sagittalen 
Diameters der Medulla ein, ist von elliptischer Form mit leicht unebenen Randem 
und ist jetzt mit einem deutlichen ependymbekleideten Auslaufer versehen, der 
beinahe bis zur hinteren Oberflache der Medulla hinaufreicht. Das Lumen ist mit 
kdmigen amorphen Massen ausgefiillt, die sich mit Pikrinsaure-Saurefuchsin 
nicht farben. 80 /i weiter nach unten ist sein sagittaler Diameter zwei Drittel 
von der Medulla, seine Form oval (der groBte Diameter wie friihcr sagittal). Die 
hintere spornformige Verlangerung des Lumens ist hier durch mehrere kleinere 
Zacken ersetzt. Das Lumen enthalt auBer den friiher erwahnten amorphen Massen 
eine Menge abgestoBener Ependymzellen; es werden aber ebensowenig hier wie 
irgendwo anders im Kanal weiBe oder rote Blutkorperchen vorgefunden. Die 
Weite des Kanals nimmt jetzt immer zu und 200—300 tiefer hat seine GroBe 
ihr Maximum erreicht, fiinf Sechstel des sagittalen Diameters der Medulla (Taf. XII, 
Fig. 1). Die Form ist noch immer elliptisch und sein frontaler Diameter nimmt etwa 


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im Rttckenmarke eines Neugeborenen (kongenitale Syringomyelic). 283 


ein Viertel der Breite der Medulla ein. Seine Wand ist leicht uneben, speziell 
nach vome und nach hinten finden sich kleine Pochen, die im hinteren Toil fast 
ganz bis zur Pia mater hinausreichen. Die Ependymbekleidung ist einschiehtig 
und vollstandig. Im Lumen wird nichts beobachtet. Dieses Verhaltnis wieder- 
holt sioh ca. 500 in caudaler Richtung. Plotzlich zeigt sich an einem Schnitt 
der Kanal nur als eine schmale sagittale Spalte, die mehr in der linken als in der 
rechten Seite verlauft. Die Ependymbekleidung ist vollstandig, aber deutlich 
von 2—3 Schichten aufgebaut. Der Kanal erweitert sich aber bald wieder und 
seine Form und GroBe durchmacht an den folgenden Schnitten eine Reihe von 
Metamorphosen, die den neulich besohriebenen vollig entspricht. Er erreicht aber 
nicht mehr den enormen Umfang wie vorher (Taf. XI, Fig. 2). Bald schwindet er 
plotzlich ohne irgendwelchen glatten Obergang. Bald nimmt er allmahlich ab und 
man bemerkt, daB an Stellen, wo er im Schwinden (bzw. Zunehmen) begiffen ist, 
eine aus mehreren (bis 3—4) deutiichen Zellenschichten bestehende Ependym¬ 
bekleidung vorhanden ist. Diese Zellen sind nicht so scharf begrenzt wie an Stellen, 
wo nur eine Reihe kubischer Zellen sich vorfindet; sie haben eher das Geprage 
gewohnlioher Gliazellen, was mit ihrem stellenweise ganz glatten t)hergang in 
das umgebende Gliagewebe vollig iibereinstimmt. 

Der Lumbalteil: Verschiedene Schnitte aus dieeem Gebiete weisen im 
weeentlichen ein gleiches Bild auf: Ein etwas vergroBerter Zentralkanal mit un- 
ebener Begrenzung, oft mit einer spaltenformigen Verlangerung nach dem vorderen 
Fissur versehen. Die Ependymbekleidung ist vollstandig und besteht aus einem 
einschichtigen kubischen Epithel, das iiberall von dem eigentlichen Gliagewebe 
deutlich abgegrenzt ist. Im alleruntersten Teil wird keine Andeutung von einem 
Zentralkanal beobachtet. 

C. Die Beziehung zwischen der weiBen und grauen Substanz. 

(Siehe Textfig. 2—5.) 

Schon bei makroskopischer Betrachtung vermiBt man die typische Verteilung 
der weiBen und grauen Substanz, die man sonst, selbst bei neugeborenen Kindem, 
beobachten kann. An den verschiedenen Schnitten (makroskopisch und mit 
LupenvergroBerung) ist nur eine unregelmaBige Verteilung von helleren und 
dunkleren Gebieten festzustellen. 

Oberer Halsteil: Die Markscheidenfarbung ist im ganzen nicht sehr aus- 
gesprochen, und das Farben muB lange getrieben werden, um einigermaBen deut- 
liche Bilder zu geben. Wie in alien ubrigen Partien des Riickenmarks treten die 
Hinterstrange hier am deutlichsten hervor und sind am scharfsten abgegrenzt. 
Die Vorder- und Seitenstrange sind nur sehr schwach gefarbt und gehen in die 
umgebenden grauen Massen diffus iiber. Es findet sich (auf der H5he der Pyra- 
midenkreuzung) sonst nichts Besonderes, speziell kein Unterschied zwischen den 
beiden Seitenhalften. 

Im unteren Halsteil wird eine deutlichere Markscheidenfarbung erreicht, 
die Verhaltnisse sind aber iibrigens dieselben wie im oberen Teil. 

Der dorsale Teil (Textfig. 2—5): Auch hier sind die Hinterstrange weit 
deutlicher gefarbt als die Vorder- und Seitenstrange, die in die graue Substanz 
diffus hiniibergehen. 

Im lumbalen Teil (Textfig. 4) ist der Kontrast zwischen der grauen und 
weiBen Substanz etwas starker, indem die Vorderstrange einigermaBen scharf 
abgegrenzt sind. Die Seitenstrange gehen auch hier in die graue Substanz 
diffus iiber. 

Im alleruntersten Teil des Riickenmarkes enthalt die Schnittflache vorwiegend 
weiBe Substanz, die (mit Markscheiden versehen) iiber den ganzen Querschnitt 

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Die WeigorHehn Frirbung iinOlin^K din v, Uinson:rohe gibf• duLregeri **ibr 
braaebbart! Bildttv 

fibnrer T»mL dr< Hnte : n.nko-: Hior mi*tet -i. i• vim «ten ZenunUnria) 
tin ringfonniger Gilo moo tnl f *ter in dvr mil rirrvn barite weltma^clng. m 'dm 
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286 


Chr. Lundsgaard: Eigen tllmliche Verfcnderungen 


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sammenlotungsstellen zwischen den oft apitzwinklig gebogenen Gliafaden findet 
rich hier und da eine Gliazelle, die einen runden oder ovalen Kern enthalt. Alles 
in allem wird keine Vermehrung der Gliazellen beobachtet, besonders nicht auf 
dem hinter dem Zentralkanal befindlichen Gebiete. Die Ependymbekleidung 
des Zentralkanals hebt sich gegen den Gliamantel scharf ab, welcher stellenweise 
feine Faden nach der AuBenseite der Ependymzellen abgibt. An mehreren Gebieten 
stellen sich dieee Faden als wirkliche Auslaufer der Ependymzellen deutlich heraus. 

Im unteren Teil des Hals mar kes hat der Gliamantel eine groBere Breite 
erreicht, sonst findet man aber ein mit dem oberen Teil vollig iibereinstimmendes 
Bild. 

Im oberen dorsalen Teil findet sich eine nicht besonders starke Anhaufung 
von Gliazellen vor und hinter dem fast vdllig verwischten ZentralkanaL Von der 
Hinterseite desselben reicht ein Strahl von Gliazellen mit rundem oder ovalem 
Kern fast ganz bis zur Pia hinaus. Der in den friiheren Schnitten beobachtete 
Gliamantel ist hier weniger deutlich* 

Im unteren dorsalen Teil finden sich hauptsachlich dieselben Verh&lt- 
nisse wie im HalsteiL Die Gliazellen weichen weder in qualitativer noch in quanti- 
tativer Hinsicht besonders von dem Normalen ab. Nur an Gebieten, wo sich das 
Lumen des Zentralkanals ganz plotzlich andert, um vollig zu schwinden (oder 
sehr klein zu werden) findet sich als Regel eine Zellenanhaufung (s. unter „Zentral- 
kanal u ). Wie bereits erwahnt, schwindet die regelmaflige Zellenbekleidung des 
Zentralkanals in diesen Schnitten 1 ). 

An einigen Schnitten (s. Taf. X, Fig. 2, nebst Beschreibung S. 287) wird in 
den dem Zentralkanal femliegenden Gebieten eine leichte Vermehrung der Glia¬ 
zellen und der Gliafaden beobachtet. 

E. Das Bindegewebe und die Gef&Be. 

Oberer Hals teil: In der Medulla selbst ist die Zahl der GefaBe etwas ver- 
mehrt. Die GefaBwande sind etwas verdickt und far ben sich starker als normal 
mit Saurefuchsin. In der Pia sind die GefaBe mehr verandert. Die Wande sind 
hyalin verdickt und zwar besonders deutlich in der Art. spinalis anterior. Medulla 
Ist auBerordentlich reich an Bindegewebe und von hellroter Farbe, Adventitia 
ist von schweren, dichten, ziemlich kernarmen, hyalinen Bindegewebsmassen 
aufgebaut. Auoh die Wande der Venen scheinen hyalin verandert. Ab und zu 
lassen sich die Arterien sehr schwierig von den Venen unterscheiden. Die Intima 
der GefaBe ist nicht verandert. 

Pia mater ist von normaler Dicke, kemarm und am ehesten hyalin verandert. 
Weder in Pia noch in den GefaBwanden werden Spuren von akuter Entziindung 
oder Zelleninfiltration von irgendwelcher Art vorgefunden. 

Die Schnittflache der Medulla enthalt keine abnorme Bindegewebszuge. 

Der untere Teil des Halsmarkes auch nicht. 

Im oberen dorsalen Teil verhalten sich die pialen GefaBe auf gleicher 
Weise wie im Halsteile. Die von Pia in die Fissura ant. hineinragende Verlangerung 
ist verdickt, hyalin verandert und besteht aus einer mittleren Partie von etwa 
langsverlaufenden dicken, hyalinen Fasem, die zahlreiche GefaBe enthalten. Die 
Wande der GefaBe sind hyalin verdickt, und die Adventitia derselben geht in das 
umgebende Bindegewebe direkt iiber, letzteres ist wieder mit den um die Art. 
long. ant. gelagerten hyalinen Bindegewebsmassen verbunden. AuBerdem besteht 
die Verlangerung aus 2 lateral gelagerten Bindegewebszuge, welche die Grenze 
zwischen dem mittleren Bezirk und den Randem der Fissura bilden und wink el- 
recht an die Langsrichtung der Medulla verlaufen. Ein feiner hyaliner Binde- 

x ) In den unteren Partien der Medulla wird nichts Besonderes beobachtet. 


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im Rttckenmarke eines Neugeborenen (kongenitale Syringomyelia). 287 


gewebsstrang reicht aus der Tiefe der Fissura horizontalwarts in die Medulla hinein. 
An einer Strecke enthalt diese Verlangerung ein feinee Gefafi. Die Verlaufsrich- 
tung entspricht gewissermaBen derjenigen der Art. commisuralis ant. AuBerdem 
findet sich im Grunde der Fissura eine von hyalinen Bindegewebsziigen vollig ab- 
gegrenzte ovale Partie der weiBen Substanz. Dieser Bezirk enthalt iibrigens nichts 
Pathologisches. In der vorderen Halfte des Querschnittes der Medulla sind kleine 
GefaBe von einer schweren, dichten, hyalinen Bindegewebsschicht umgeben, die 
an einigen Gebieten gegen die Umgebungen scharf abgegrenzt ist, wahrend an ande- 
ren feine Auslaufer in das Nervengewebe hineinreichen. AuBerhalb der Fissura ant. 
sendet die Pia keine abnormen Verlangerangen in die Medulla hinein. 

Unterer dorsaler Teil: Auch hier ist Pia hyalin verandert und mehr ver- 
dickt ala in den oben gelagerten Gebieten. 

Namentlioh sind die GefaBwande sklerotisch verdickt. Ihre Adventitia geht 
in machtige hyaline, recht kemarme Bindegewebsziige direkt iiber, welche die 
Zwischenraume zwischen den GefaBen ausfiillen. An der Schnittflache der Medulla 
findet sich iibrigens eine sehr starke Variation der Veranderungen, je nach den 
verschiedenen Hohen. (Wie oben bereits erwahnt bietet auch der Zentralkanal hier 
sehr lebhaft wechselnde Bilder.) Eine kurze Beschreibung einer Schnittserie von 
1 1 / 2 cm (8. auch oben) illustriert dieses am besten. 

(S. Taf. X, Fig. 1.) Ein feiner Bindegewebsstrang reicht von der Fissura bis in 
die Medulla hinein, wo er dann nach und nach wieder schwindet. Die Richtung ent¬ 
spricht dem Verlaufe der Art. commissuralis ant. Mehrere kleine GefaBe mit hyalinen 
Wanden sind — besonders nach vome — so wo hi in der weiBen als auch in der grauen 
Substanz 1 ) zerstreut gelagert. In einigen GefaBen beriihren die hyalinen Massen 
iiberhaupt nicht die nervoee Substanz, sondem sind durch eine kleine, hclle Zone 
yon denselben getrennt (eventuell durch Zusammenschrumpfung bei der Hartung 
verureacht). Der Zentralkanal maBig erweitert. Einige Hunderte ^ weiter nach 
unten (mehrere Schnitte gingen hier verloren) findet sich in der linken Halfte des 
Querschnittes ein Hohlraum, ein groBeres und einige kleinere GefaBe enthaltend, 
deren kolossal hyalin verdickte Wande in die hyalinen Bindegewebsmassen, die den 
Rest des Hohlraumes eimiehmen, direkt iibergehen. 

Die Bindegewebemasse nimmt mehr distal in Umfang zu (Taf. X, Fig. 2), ihre 
Form ist oval, und sie entspricht jetztetwa l / 3 des sagittalen Diameters der Medulla. 
Die hyalin veranderten, gefaBfiihrenden Bindegewebsmassen fiillen jetzt nicht mehr 
den ganzen Hohlraum, in dem sie gelagert sind. Von der AuBenseite strahlen feine, 
hyaline, kemarme Bindegewebsziige nach alien Richtungen aus (mit Saurefuchsin 
stark rot gefarbt), oft gekreuzt, so daB das ganze Bild das Gewebe einer Spinne 
gleicht, das Tier im Zentrum gelagert. In der Peripherie reichen die Faden in die 
nervoee Substanz hinein, jedoch sehr verschieden je nach den verschiedenen Par- 
tien. An der Vorder- und Hinterseite, sowie lateralwarts findet sich hier und da ein 
einzelner feiner Auslaufer, der immer mehr zugespitzt wird, je nachdem er in das 
Gewebe tiefer hineindringt. Zwischen 2 benachbarten Auslaufem bildet das Ge- 
flecht gleichsam einen Bogen (eine Arkade). Das Nervengewebe selbst ist gegen den 
in der grauen Substanz gelagerten Hohlraum sehr scharf abgegrenzt, und hat ein 
vollig norm ales Aussehen ganz bis zum Rande hinaus. 

An der medialen Seite des Hohhaumes laBt sich dahingegen keine scharfe 
Grenze zwischen dem Bindegewebsbiindel und dem nervosen Gewebe nachweisen. 
Der t)bergang ist ganz glatt, indem die Maschen des Bindegewebes anfangs nur 
ganz schwach durch die nervose Substanz durchschimmern, und dann nach und 
nach immer deutlicher hervortreten. Die Zwischenraume enthalten zuerst normal 
aussehendes Nervengewebe, in dem die Gliazellen sehr wenig, aber deutlich ver- 

l ) Es findet sich jedoch keine distinkte Abgrenzung der beiden Substanzen 


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288 


Chr. Lundsgaard: EigentUmliche VerUnderungen 


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mehrt sind. Allmahlich schwindet das Nervengewebe und nur zerstreute Glia- 
keme von normalem Aussehen kommen hier und da im Maschengewebe vor, bis 
das Gliagewebe vollig schwindet und das Gefiecht deutlich hervortritt, einige 
— koaguiiertem EiweiB ahnliche — Massen umschlieBend. Rechts von der Mittel- 
linie sind einige kleine GefaBe gelagert, von dilatierten LymphgefaBen anscheinend 
umgeben. Dieses Bild bleibt im wesentlichen unverandert durch 600—700in 
distaler Richtung. Dann umschlieBt das Nervengewebe recht plotzlich das binde- 
gewebige GefaBbiindel, das nach und nach eine dreieckige Form erhalt und nur 
ganz wenige Auslaufer in die nervose Substanz hineinsendet. Es werden hier 
keine Spuren von Zerfall (Maceration) der nervosen Substanz und keine Ver- 
mehrung der Gliakeme an der medialen Seite beobachtet. Das histologische Bild 
entspricht jetzt der Taf. XII, Fig. 1, die einen 1—l 1 ^ mm distal von der Taf. X, 
Fig. 2 gelagerten Schnitt darstellt. Wie man sieht, ist der Defekt der Medulla sowie 
das bindegewebige GefaBbiindel, das den Hohlraum fast vollig ausfiillt, von drei- 
eckiger Form. Nur einzelne Auslaufer reichen in die vollstandig normale nervose 
Substanz ein. An dem abgebildeten Schnitt wird eine feine Verbindung zwischen 
dem groflten der GefaBe im Bindegewebsbiindel und den pialen GefaBen beobachtet. 
Die Pia setzt sich in die jetzt entstandene Spalte im Querschnitte der Medulla 
fort. Sonst wird auch in dem an die Spalte angrenzendem Gebiet nichts Patho- 
logisches in der Nervensubstanz vorgefunden, speziell keine Vermehrung der 
Gliazellen und kein Zerfall. Rechts von dem dreieckigen Hohlraum findet sich 
ein spaltenformiger Zentralkanal mit einschichtiger, normaler Ependymbekleidung. 
Die Fissura med. ant. enthiilt eine von hyalinem Bindegewebe begrenzte, ab- 
gesprengte Partie von weiBer Substanz. Diese Partie bietet sonst nichts Patho- 
logisches, speziell keine Degenerationserscheinungen. 

Die folgenden Schnitte (ca. 500 p in distaler Richtung) weisen dieselbe drei¬ 
eckige Masse von BindegewebegefaBen auf, die jedoch immer kleiner wird, um 
schlieBlioh ganz zu schwinden. (Einer dieser Schnitte findet sich in der Taf. XI, 
Fig. 2.) Die Schnitte der folgenden 400—500 n geben ein ziemlich gleichartiges Bild 
(die Erweiterung des Zentralkanals ist hier maximal; zwei dieser Schnitte sind in 
Taf. XII, Fig. 1 u. 2 wiedergegeben). Von der vorderen Commissur aus dringt ein 
machtiger Zug von gefaBfuhrendem, hyalinem Bindegewebe mit gekrauselten Fi- 
brillon in die Medulla hinein. Es umgibt bogenformig die eine oder beide Seiten des 
Zentralkanals und endet hinter der Mitte der Medulla in einem feinen hyalinen, 
spitzen Auslaufer. An der rechten Seite des Zentralkanals findet sich eine langliche 
Bindegowebsmasse mit langsverlaufenden Faden und einzelnen feinen GefaBen, 
deren Adventitia in das Bindegewebe ubergeht. Diese Bindegewebeziige sind gegen 
die umgebende Nervensubstanz, die keine Zeichen von pathologischen Prozessen 
aufweist, scharf abgegrcnzt. Ab und zu zicht ein feiner Auslaufer in die Medulla 
hinein. Zwischen den Bindegewebsmassen und dem Zentralkanal liegt tiberall 
eine Zone von grauer Substanz mit mehr oder weniger groBmaschigem Gliagewebe. 

Wird die Untersuchung in distaler Richtung fortgesetzt, kommen Schnitte zum 
Vorschein, in denen das Bindegewebe von der vorderen Fissur an beiden Seiten 
des Zentralkanals (Taf. XIII, Fig. 1) hinabzieht. Auflerdem wird in der linken 
vorderen Halfte des Querschnittes beobachtet, daB mehrere Auslaufer von der Pia 
in die Nervensubstanz hineinziehen. An mehreren Schnitten findet sich in dem 
entsprechenden Gebiet der Medulla ein langlicher, nach vorne konkaver Hohlraum 
im Nervengewebe. Es ist derselbe teils von hyalinem gefaBfuhrendem Binde¬ 
gewebe (vertikale Richtung der GefaBe), teils von groBen Hohlraumen mit komigen 
amorphen Massen (Lymphraume) ausgefiillt. Aus dem Bindegewebsbiindel, das 
sich von der Fissura ant. an der linken Seite des Zentralkanals hineindrangt, 
wird ein kurzer Auslaufer bemerkt, der die Richtung des Auslaufers von der Pia 


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im Rttckenmarke eines Neugeborenen (kongenitale Syringomyelie). 289 

an der AuBenseite verfolgt, und etwas tiefer im Schnitte vereinigen sich diese 
zwei Bindegewebsstrange, wodurch der ganze vordere linke Quadrant der Medulla 
abgesprengt wird. (Dieser Schnitt ist zum Teil miBlungen und laflt sich nicht 
abbilden.) 

Noch mehr in distaler Richtung gestaltet sich das Bild wie auf der Taf. XIII, 
Fig. 2. 

An den folgenden Schnitten kommt noch immer das abgebildete (Taf. XIII, 
Fig. 2) Hineindrangen des Bindegewebes zum Vorschein. Plotzlich schwindet es und 
die folgenden Schnitte der Serie enthalten nichts Besonderes. Im unteren Teil der 
Medulla sind die Veranderungen weniger ausgesprochen: Die Pia ist verdickt und 
sklerotisch. Die GefaBe derselben verdickt, mit hyalinen Wanden, die Zahl der 
medullaren GefaBe vermehrt. Stellenweise finden sich an den Querschnitten 
ziemlich dicke, zum Teil gefaBfiihrende Bindegewebsziige, die von der Fissura ant. 
oder anderswoher in die Peripherie hineindringen. 

Die Nervenstamme in Cauda equina und an der Medulla entlang besitzen 
Epineurium von normalem Aussehen. Ein Teil der Nervenstrange enthalt mehrere 
GefaBchen, deren Wande hyalin verandert sind. Medulla ist in ihrer ganzen Lange 
der Sitz eines maBigen, aber deutlichen Odems. An mehreren Stellen finden sich, 
wie erwahnt, unzweifelhaft dilatierte, perivasculare Lymphraume, wahrend an 
anderen Stellen diesel ben kontrahiert scheinen. Cberall sieht man zwischen den 
Gliafaden feine klare Partien, die nur als odematos gedeutet werden konnen. 

Die Nervenzellen: Den beschriebenen Dislokationen der grauen und weiBen 
Substanz entsprechend ist die regelmaBige Gruppierung der Nervenzellen nicht 
eingehalten. Sie finden sich im Querschnitte zerstreut gelagert, jedoch als Regel 
einigermaBen in der dem Cbergang zwischen grauer und weiBer Substanz ent- 
sprechenden Zone. Das quantitative Verhaltnis der Nervenzellen laflt sich dem- 
nach schwieriger bestimmen; die Zahl ist aber sicher vermindert, wahrend da- 
gegen zwischen der Menge der Nervenzellen und den auBeren MiBbildungen 
des Kindes kein Zusammenhang festzustellen ist. Die Verminderung der 
An zahl der Zellen scheint uber die ganze Lange des Riickenmarks einigermaBen 
gleichmaBig verteilt. Auch die GroBe der einzelnen Zellen ist vermindert. 

Arachnoidea und Dura: Es werden keine Verwachsungen der Haute 
beobachtet. Dura ist etwas verdickt und besteht aus hyalinem, kemarmem Binde- 
gewebe. Zellenanhaufungen und Haemorrhagien werden nirgends vorgefunden. 

Resiimee: 

Eine gesunde II. para bekommt im Anfang ihrer Schwangerschaft 
eine schwache Uterinblutung, die einen Monat dauert. Die Schwanger¬ 
schaft verlauft dann normal. Die Geburt tritt 2 Monate zu fruh ein, 
ist sonst leicht und normal. Das Kind ist mit groBen auBeren MiBbil¬ 
dungen behaftet, indem beide Unterextremitaten und die linke Ober- 
extremitat fehlen, wahrend die rechte Oberextremitat flossenartig um- 
gebildet ist. Nachdem das Kind 2 Monate hindurch wohl gediehen 
ist, stirbt sie recht plotzlich. Die Sektion weist keine visceralen MiB¬ 
bildungen und keine Zeichen von Syphilis auf. Dagegen ist das Riicken- 
mark der Sitz folgender Abnormitaten: 

1. Erweiterung des Zentralkanals, 2. betrachtliche Entwickelung 
von gefaBfuhrenden hyalinen Bindegewebezugen, die von Pia in die 
-Medulla hineinstrahlen (als Regel winkelrecht an der Langenachse 


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290 


Chr. Lundsgaard: Eigenttlmliche Veranderungen 


derselben), 3. langsverlaufende Hohlraume (Defekte) in der Medulla, 
zum Teil von GefaB- und Bindegewebemassen ausgefullt, 4. leichte 
Verdickung und Sklerosis der Pia, 5. Sklerosis und Verdickung der 
Adventitia der pialen und medullaren GefaBe, 6. Dilatation von einigen 
der perivascularen Lymphraume, Obliteration von anderen. Deutliche 
Lymphostasis in der Medulla. 

Alle genannten Veranderungen sind im unteren dorsalen Teil am 
starksten ausgesprochen. 


Welcher Platz innerhalb der pathoiogischen Anatomie gebuhrt 
denn den in diesem Fall vorgefundenen Veranderungen des Rucken- 
marks? 

Was die Dilatation des Zentralkanals betrifft, muB sie als eine echte 
Hydromyelie betrachtet werden, die zugleich kongenital ist, weil sie 
dem anatomischen Bilde gemaB nicht wahrend der 2 Monate, in denen 
das Kind gelebt hat, entstanden sein kann. Die wichtigste Frage ge- 
staltet sich aber folgendermaBen: Handelt es sich in diesem Fall um 
eine Bildungsanomalie oder um eine sekundare Dilatation 
des Zentralkanals? Es wird nun von gewissen Seiten m6glicherweise 
behauptet werden, daB der Hydromyelie stets eine MiBbildung zugrunde 
liegt, und daB eine Diskussion dieser Frage daher uberfliissig bleibt. 
Es sei hier gern zugegeben, daB die verschiedenen veroffentlichten 
Falle von erworbener, sekundarer Hydromyelie — die experimentellen 
inklusiv — keineswegs iiberzeugend sind, — die Theorie wird aber 
anderseits kaum ohne weiteres abzulehnen sein. 

In diesem Fall laBt sich eine sekundare Hydromyelie mit Sicherheit 
ausschlieBen. Eine solche muB entweder durch einen von innen erzeugten 
Druck entstanden sein wie z. B. bei Lymphostasis (Langhans und 
Kronthal) durch Sekretion der Ependymzellen (Straub) oder sekundar 
bei Hydrocephalie, oder sie kann von einem von auBen ausgeiibten 
Zug (Chiari, Redlich) hervorgerufen sein. 

Von der ersteren Entstehungsweise muB sicher hier sofort abgesehen 
werden, weil dieselbe mit der kolossalen Variation in der Weite des 
Zentralkanals an benachbarten Schnitten unvereinbar ist, und wegen 
der schdnen wohlerhalten hohen Ependymzellen, die uberall — und 
zwar besonders in den am meisten dilatierten Partien vorgefunden 
werden. Es laBt sich an diesen Stellen auch nicht die geringste Andeutung 
von Zersprengung der Zellenbekleidung des Zentralkanals nachweisen. 
Auch wurde kein Zeichen von Hydrocephalus vorgefunden. 

Dahingegen laBt sich die Moglichkeit einer durch einen von auBen 
ausgeiibten Zug entstandenen Dilatation nicht ohne weiteres ablehnen, 
weil an Querschnitten der Medulla so groBe und verbreitete Binde- 


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im Rtlckenmaxke eines Neugeborenen (kongenitale Syringomyelic). 291 


gewebezOge vorgefunden werden, von denen einige sogar den Zentral- 
kanal bogenformig umschlieBen. 

Verachiedene Umstande widersprechen aberauch dieser Entstehungs- 
weiae: Era tens beateht abaolut kein proportionalea Verhaltnia zwischen 
der Entwickelung dea Bindegewebea und der Dilatation, zweitens 
findet aich in der Form der Hydromyelie (an Querschnitten der Medulla 
gesehen) nichts, was auf einen von auBen ausgeubten Zug deuten 
konnte. Und achlieBlich seheint mir die Annahme ganz unberechtigt, 
daB uberhaupt schrumpfende narbenartige Prozeaae in den intra- 
medullaren Bindegewebeztigen vorliegen eollten (a. unten). 

Es unterliegt keinem Zweifel, daB es aich um eine durch 
(kongenite) Bildungsanomalie hervorgerufene Hydro¬ 
myelie in dieaem Fall handeln muB. 

Die Hydromyelie besitzt tlbrigens — wie achon erwahnt — die Eigen- 
tumlichkeit, daB die Weite dea Zentralkanala so auBerordentlich achnell 
wechselt, atellenweiae beinahe von einem Scbnitte zum anderen. Ein 
ahnlichea Verhaltnia ist friiher von Virchow bei einem Erwachsenen 
beobachtet worden (sogenannte rosenkranzartige Erweiterung dea 
Zentralkanala). Femer kommt ea aelten vor, daB die Ependymbeklei- 
dung so wohlerhalten ist wie in dieaem Fall 1 ). Ea werden ala Regel 
— und zwar besondere bei Erwachsenen — groBe Strecken vorgefunden, 
wo nicht nur die Zellenbekleidung verOdet ist, sondern auch groBe 
Teile der medullaren Substanz in dem Grade zerfallen sind, daB man tat- 
sachlich von der Weite dea Zentralkanala in derartigen Gebieten nichts 
wissen kann. 

Eine zweite Eigentiimlichkeit beim Riickenmarke aind die beschrie- 
benen Zfige von mehr oder weniger hyalinem, kemarmem, gefaBhaltigem 
Bindegewebe, die aich von Pia in die Medulla hineindringen. 

Wie aus der Beachreibung hervorgeht, wurden im Riickenmarke 
nirgends Reste von entziindlichen Prozessen vorgefunden 2 ), und ea 
muB sicher ala ganz ausgeachloasen betrachtet werden, daB eine even- 
tuell f<5tale Entziindung an einer aolchen Altersatufe vollstandig ab- 
gelaufen aein sollte; um so mehr ala man bei den gewohnlichen fdtalen 
Entziindungen (Flintateinleber uaw.) ateta reichliche Menge von Granu- 
lationsgewebe u. dgl. nach der Geburt nachweiat. 

Die Topographie des Bindegewebea und die Form der 
Rhokenmarkspalten, in denen sie gelagert sind, sprechen femer 
entschieden wider die Annahme einer fotalen abgelaufenen Entztin- 
dung. Es wird deshalb berechtigt aein, die gefaBfiihrenden Binde- 

x ) Es fan den aich uberhaupt nirgends im Riickenmarke kadaverose Ver- 
knderungen. 

*) Auch nicht in der Pia wurden Zeichen von entziindlioher Zelleninfiltra- 
tion beobachtet. 


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292 


Chr. Lundsgaard: Eigen ttlmliche Veranderungen 


gewebszuge und bindegewebigen Massen als eine kongenitale MiBbildung 
aufzufassen, die auf zwei verschiedenen Prozessen beruht: erstens auf der 
Vermehrung des Bindegewebes in Gebieten, wo sonst nur feine Binde- 
gewebestrange in der Medulla vorhanden sind, zwei tens auf 6inem 
genuinen heterotopen Wachstum des Mesenchyms in die 
Medulla hinein. 

Die GefaBvermehrung an Querschnitten der Medulla ist teils schein- 
bar, teils wirklich. Die umgebenden hyalinen Massen, die mit Adventitia 
verbunden sind, heben selbstredend die GefaBe auf Kosten des umge¬ 
benden Gewebes hervor, wahrend aber an verschiedenen Schnitten 
auch GefaBe nachzuweisen sind, die jedenfalls in bezug auf die GroBe 
und Topographie als pathologische Erscheinungen gedeutet werden 
mussen. Die Vermehrung der GefaBe laBt sich am ehesten als ein Aus- 
druck derselben MiBbildung, die sich als eine Proliferation des Binde¬ 
gewebes der Medulla zeigt, auffassen. 

Die hyaline Umwandlung des Bindegewebes (und der GefaBwande) 
laBt sich ebensowenig in diesem Falle wie in anderen Fallen erklaren. 
Es scheint mir nicht berechtigt, dieses Verhaltnis in (direkte) Verbin- 
dung mit der MiBbildung zu setzen. Vielleicht muB die Ursache in 
Storungen des Stoffwechsels gesucht werden. Es dtirfen aber dieselben 
dann nur das Bindegewebe des Rtickenmarks beeinfluBt haben, weil 
in den ubrigen Organen nichts Pathologisches im Bindegewebe vorzu- 
finden war. 


AuBer der Hydromyelie und der Proliferation des Bindegewebes 
fanden sich in der Medulla Hohlungen oder Defekte in der nervSsen 
Substanz. Ein Teil derselben zeigt sich an den Schnitten als Spalten, 
in denen die GefaB- und Bindegewebsmasse gelagert ist (s. Taf. X, 
Fig. 1; Taf. XI, Fig. 1 u. 2; Taf. XII, Fig. 1 u. 2; Taf. XIII, Fig. 1 u. 2). 
Diese Spalten sind scharf abgegrenzt und es findet sich nicht Patholo¬ 
gisches in dem an dieselben angrenzenden Teil der nervdsen Substanz, 
speziell kein Zerfall und keine Proliferation des Gliagewebes. Sowohl 
dieses Verhaltnis als auch — und zwar besonders — die Form der Spalten 
macht die Annahme vorwiegend wahrscheinlich, daB es sich um einige — 
wahrend der Entwickelung der Medulla — entstandene Defekte handelt. 
Besonders deutlich geht dies aus den Taf. XI, Fig. 1 u. 2, Taf. XIII, Fig. 2 
hervor. An anderen Schnitten handelt es sich im wesentlichen um eine 
Verdickung und Vermehrung der normal im Riickenmarke vorhandenen 
Bindegewebesepten, dem gewohnlichen Verlauf der GefaBe entsprechend 
(Taf. X, Fig. 1; Taf. XII, Fig. 2). Wie schon erwahnt besteht zwischen 
dem Zentraikanal und den Spalten in der Medulla keine Verbindung. 
Es liegt daher nahe anzunehmen, daB die MiBbildung erst nach dem 


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im Rtlckenmarke eines Neugeborenen (kongenitale Syringomyelie). 293 


ZuschlieBen der Medullarrander entstanden sei. Anderseits muB sie 
angefangen sein, ehe die zentrale graue Substanz ihre nattirliche Form 
erhalten hat, denn die Spalten (und Bindegewebesepten) zersprengen 
nicht nur die weiBe Substanz, sondem reichen zugleich in die graue 
Masse hinein. 

AuBer diesen — ausschlieBlich durch die MiBbildung entstandenen — 
Spalten und Hdhlungen geht durch einen Teil der Medulla (s. Taf. X, 
Fig. 2) eine zum Teil durch den Zerfall des Gewebes bedingte Hohle 
(8. Seite 286 und 288), die in der grauen Substanz und hinter dem 
Zentralkanal gelagert ist. 

Es handelt sich also in diesem Fall — in aller Kiirze zusammen- 
gefaBt — um ein Ruckenmark, in dem folgende Erscheinungen be- 
obachtet wurden: 

1. Eine kongenitale Hydromyelie, 2. Zuge von hyalinem, kernarmen 
Bindegewebe, stellenweise mit der verdickten Pia deutlich verbunden, 
3. Spalten und Hohlungen, teils direkt durch die MiBbildung, teils 
durch beginnenden Zerfall des Gewebes bedingt, 4. Verdickung und 
Sklerosis der GefaBwande, 5. maBiges Odem der Medulla. 

Es fragt sich jetzt, inwieweit dicser Fall sich unter irgendwelche 
der iiblichen Kategorien von Riickenmarksleiden rubrizieren laBt, 
oder ob er als ein vereinzelter zufalliger Befund stehen muB. Meiner 
Meinung nach ist man absolut berechtigt, dieses Leiden als einen Fall 
von Syringomyelie zu betrachten. 

In der Tat entspricht der Fall der einzigen Forderung einer 
Syringomyelie, indem in der Medulla langliche H6hlungen auBerhalb 
des Zentralkanals nachgewiesen werden. DaB dieselben in quanti- 
tativer Beziehung sehr wenig hervortreten, gilt bei der Entscheidung 
nicht8. Auch kann der Umstand, daB die Affektionen auf den lum- 
balen Teil lokalisiert sind, die Diagnose nicht hindem. Es ist aller- 
dings die Regel, daB die syringomyelischen Affektionen im oberen 
Teil ihren Hauptsitz haben, doch gibt es auch Falle, wo der untere Teil 
am starksten angegriffen gewesen ist. Es handelt sich zwar gewohnlich 
um erwachsene Individuen und nicht — wie in diesem Fall — um ein 
neugeborenes Kind. Die von Gerlach aufgestellte Hypothese mag 
vielleicht richtig sein, infolge welcher ,,eine Ausbildung der Syringo¬ 
myelie an anderen Stellen (als im unteren Halsmarke) z. B. im Lenden- 
marke eben zu wichtige Zentren unausgebildet lassen wiirde, als daB 
ein Weiterleben des Foetus moglich ware“. 

SchlieBlich ist in den tibrigen Veranderungen des Rtickenmarkes 
nichts vorgefunden worden, was wider die Diagnose Syringomyelie 
streiten konnte. Im Gegenteil. Denn in zahlreichen^ Fallen werden 
eben bei Hydromyelie, GefaBveranderungen und abnorme Binde- 
gewebeziige in der Medulla beschrieb3n. 


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294 


Chr. Lundsgaard: Eigenttlmliche Ver&nderungen 


Ea herracht bekanntllch groBe Unklarheit hinaichtlich der Atiologie 
und Pathogeneae der Syringomyelie. Die Literatur enthalt jetzt so viele 
Falle von die8em Leiden, daQ Muller und Meder aich dazu veranlaBt 
fflhlen, eine kasuistiache Mitteilung mit einer Entachuldigung fiir das 
Eracheinen deraelben einzuleiten. Die Theorie von dem Uraprunge 
und der Entatehungaweiae dea Leidena hat immer gewechaelt, ohne daB 
die Frage ihrer Ldsung naher gerilckt iat. Meiner Meinung nach muB 
eine der Haupturaachen zu der achwierigen Featatellung der Patho¬ 
geneae der Syringomyelie darin geaucht werden, daB dieae Erkrankung 
erst an einem aehr vorgeriickten Zeitpunkte den Tod herbeiftihrt, und 
da keine ayatematiache Unterauchung der Medulla am Sektionatische 
atattfindet, wird man das Anfangsstadium nicht leicht zufalbg finden 
kOnnen. Auch gaben Verauche, die Frage auf experimentellem Wege 
zu Ibsen (Langhana, Kronthal) nur aehr sparsame und wenig brauch- 
bare Reaultate. 

Ea bleibt deahalb fast auaachbeBbch der Auaweg offen, aus dem 
vorgeriickten Stadium dea Leidena am Sektionatiach liber das von keinem 
beobachtete Anfangsstadium Schllisse zu ziehen. 

Wird nun der Begriff Syringomyebe in aeinem weitaten (wdrtbchen) 
Sinn genommen, laBt ea aich nicht leugnen, daB gewisse pathogenetische 
Faktoren schon festgeatellt sind: Die Blutung von traumatiachem oder 
anderem Uraprung, die Abazedierung, der Zerfall der Tumoren — sind 
Eracheinungen, die ala Erreger der Syringomyebe allgemein anerkannt 
worden sind. Nur eine aehr kleine Zahl der Falle laBt aich aber auf diese 
Weise erklaren. Die groBe Mehrzahl wird je nach der Art und dem Grad 
der Veranderungen bald von diesem, bald von jenem Gesichtspunkte 
aus klassifiziert. Einige Hauptbetrachtungen aind jedoch allgemein 
anerkannt worden, und zwar vor allem die Schultze - Hoffmann- 
ache Auffassung von der Syringomyebe ala eine — durch sekundaren 
Zerfab nach einer primaren Gboae — bedingte Erkrankung. Ea herracht 
jedoch diese Auslegung schon langat nicht mehr ala die einzige Erklarung, 
denn mehrere Falle laasen aich (iberhaupt nicht hierunter rubrizieren, 
da keine Gboae, sondern nur ein Zerfall vorgefunden worden iat. Schon 
Schleainger hat deahalb anderen pathogenetischen Faktoren Platz 
eingeraumt, und zwar vor allem den GefaBveranderungen. Nach zahl- 
reichen aorgfaltigen und aehr wertvollen Unterauchungen dieser Art 
(Schleainger, Saxer, Muller und Meder, Rotter usw.) unterbegt 
es jetzt keinem Zweifel, daB die Syringomyebe von primaren GefaB¬ 
veranderungen bedingt sein kann. 

Durch die Featatellung von der Bedeutung der primaren GefaB¬ 
veranderungen iat die Auffassung der Pathogeneae der Syringomyebe 
auch auf einem anderen und aehr wichtigen Punkt geandert worden. 
Nach der Schultze - Hoff mannschen Theorie muBte die Syringo* 


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im RQckenmarke einee Neugeborenen (kongenitale Syringomyelic). 295 

myelie in der Tat als kongenit aufgefaBt werden, weil diese Forscher (und 
zwar besonders Hoffmann) die zugrundeliegende Gliose als kongenit 
betrachten muBten (am ehesten als eine kongenite Bildungsanomalie). 

Die Anhanger der Theorie von den GefaBveranderungen als das 
primare konnten selbstredend die Theorie von der Bildungsanomalie 
(der kongeniten Gliose) keine Bedeutung beimessen, jedenfalls nicht 
in Fallen, wo die vaskularen Veranderungen in den Vordergrund traten. 

Diese Auffassungen sind deshalb tatsachlich prinzipiell verschieden. 

Hierzu kommt noch, daft die Falle von Syringomyelie, die einer 
dieser Gruppen zugerechnet werden miissen, keineswegs leicht zu unter- 
scheidende Kategorien bilden. Oft ist der morphologische Befund so 
beschaffen, daB die Gruppierung des Falles einfach eine Geschmack- 
sache wird. Soweit ich sehen kann, laBt es sich nicht leugnen, daB die 
Schultze - Hoff mannsche Auffassung nach und nach Terrain ver- 
loren hat. 

In Fallen, wo die Syringomyelie auf GefaBveranderungen beruht 
(oder wo dieselben eine groBere Rolle spielen) wird oft zugleich das 
Vorhandensein grdflerer oder kleinerer Bindegewebemassen in der Me¬ 
dulla beschrieben. Ja, es wird sogar eine besondere bindegewebige- 
vasculare Form von Syringomyelie aufgestellt. (Neoplasie conjunctivo- 
vasculaire, Haenel im Handbuch d. Neurologic 1911). Mitunter findet 
sich das Bindegewebe in Gebieten der Medulla, wo sonst nichts Patho- 
logisches vorhanden ist. In anderen Fallen bekleiden die bindegewebigen 
Zuge oder die Membranen syringomyelitische Hdhlungen, oder durch- 
laufen dieselben. Oft stehen die Bindegewebezlige mit der Externa 
der GefaBe in direkter Verbindung. Als Regel werden sie als kemarme, 
hyaline und unregelmaBig verlaufende Erscheinungen beschrieben 1 ). 

Falle dieser Art sind von Vetlesen und Harbitz verdffentlicht, 
die jedoch die GefaBveranderungen als ausschlieBlich sekundare Pha- 
nomene betrachten, ohne iibrigens den Fall naher zu beschreiben. 
Thomas und Hauser schildemZuge von hyalinem kemarmem Binde¬ 
gewebe, aus der stark verdickten Adventitia der GefaBe entspringend 
und wellenfdrmig in Hdhlungen in der Medulla hineinreichend. An 
einzelnen Stellen sind diese Bindegewebezlige mit Pia verbunden, eine 
Erscheinung, die von den Verfassem als akzidentell aufgefaBt wird. 
Thomas und Hauser sind der Meinung, daB das primare Symptom 
des Leidens die GefaBveranderung ist, und daB die Proliferation des 
Bindegewebes sekundar von der Adventitia der GefaBe ausgegangen 
sei. Die Hdhlungen und Schluchten in der Medulla werden auf sekun- 
daren Zerfall zuriickgefiihrt, durch das GefaBleiden verursacht. Eine 
ahnliche Anschauung wird von Enders vertreten: „Wir haben also 

*) Soweit mir bekannt ist, liegt kein Fall vor, wo das Bindegewebe als 
grannlierend aufznfassen war. 


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296 


Chr. Lundsgaard: Eigentlimliche Veranderungen 


hier eine pathologische Bildung vor uns, die sich von der zuerst geschil- 
derten (der auf primarer Gliose beruhenden) dadurch unterscheidet, 
daB die primare Erkrankung eine vasculos-bindegewebige ist und daB 
das spezifisch nervose oder Gliagewebe nur sekundar in Mitleidenschaft 
gezogen wird.“ 

Oft hat die Affektion zugleich die Pia getroffen, ein Phanomen, das 
mehrere Verfasser veranlaBt hat (Chiari, Raymond, Joffroy et 
Achard u. a.) die Syringomyelie (oder jedenfalis gewisse Falle der- 
selben) als eine Meningomyelitis aufzufassen. 

Unter den Fallen von Syringomyelie, wo bindegewebige Zuge in der 
Medulla im pathologischen Bilde eine Rolle gespielt ha ben, soli besonders 
der von Gerlach im Jahre 1884 mitgeteilte hervorgehoben sein. 
Gerlach beschreibt den Riickenmarksbefund bei einem 36jahrigen 
Manne, unter dem Bild einer Syringomyelie gestorben. Medulla enthielt 
in etwa ihrer ganzen Lange eine unregelmaBige Hohlung, fast tiberall 
mit einer bindegewebigen ,,derbfaserigen fct Membran bekleidet, die gegen 
die Hfchlung eine ziemlich glatte Oberflache besaB: ,,Endlich kommt als 
Hdhlenbegrenzung eine einfache Lage von Epithelzellen des in das 
syringomyelitische Lumen aufgegangenen Zentralkanals vor, und zwar 
namenthch abweehselnd mit der derbfaserigen Membran/' Zahlreiche 
saulenformige Vorspriinge reichten von der auBeren Oberflache der binde¬ 
gewebigen Membran in peripherer Richtung gegen das umgebende Ge- 
webe hinaus. Auf diese Weise entstanden zwischen der Membran und 
der nervosen Substanz arkadenartige Bilder. Hie und da zogen feine 
Gliafaden nach der bindegewebigen Membran zu, auf deren AuBenseite 
sie sich anscheinend anhefteten. Hierdurch entstand ein Bild, das dem 
Verhaltnis zwischen Pia und der AuBenflache des Riickenmarks sehr 
ahnlich war. Die erwahnte ,,derbfaserige“ Membran war durch den 
groBten Teil der Medulla von Pia getrennt, ging aber auch an mehreren 
Stellen mit mehreren ihrer Faser direkt in Pia uber. Diese Verbindung 
fand sich sowohl im Gebiete der Hinterhorner wie in Fissura ant. medialis. 
Die Membran bestand vorwiegend aus zirkular um das Lumen verlaufen- 
den Fasern, es wurden aber auch stellen weise Zuge vorgef unden, deren 
Verlauf longitudinell gegen das Lumen gerichtet war. Das Binde- 
gewebe enthielt nur wenige Kerne und einzelne Capillare, und stimmte 
im wesentlichen mit Pia uberein. Nach oben und unten endete das 
erwahnte bindegewebige Sackchen in einem soliden Strang, dessen 
Zusammensetzung aus 2 Blattern deutlich zu unterscheiden ist. Im 
oberen cervicalen Teil fand sich ein 3 cm langes Teratom in der Medulla 
eingeschaltet. In dem groBten Teil der Lange, am starksten aber im 
unteren Teil, fand sich eine betrachtliche Vermehrung des Gliagewebes 
(und der Zellen), nirgends aber Zerfall desselben. Auf einigen Gebieten 
war die Gliahyperplasic knotenformig oder wirbelformig, solche Kn6t- 


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im Rtlckenraarke eines Neugeborenen (kongenitale Syringomyelie). 297 

chen waren aber mit Auslaufem versehen. Gerlach meint jedoch das 
Vorhandensein einer echten Tumorbildung ausschlieBen zu kdnnen. 
Er beschreibt auBerdem, wie die weiBe Subatanz hie und da (besonders 
im dorsalen Teil) als runde oder ovale Strange in der Peripherie der 
Medulla um die graue Substanz angeordnet ist. Jedes Btindel ent- 
spricht einem bestimmten Stranggebiet (z. B. den Gollschen oder 
Burdachschen Strangen). Die Grenze zwischen diesen Strangen wird 
von „8klerotischen“ Teilen der grauen Substanz gebildet. An einigen 
Stellen finden sich Bindegewebeziige, die Pia mit der um die syringo- 
myelitischen Hdhlen gelagerten Bindegewebemasse verbindet. Das Ver- 
haltnis der GefaBe wird nicht naher besprochen. Wahrend der Dis- 
kussion dieses Falles teilt Gerlach seine Auffassung von der Patho- 
genese der Syringomyelie mit und gibt mehrere Umstande an, die er 
als Hindernisse der Annahme der Hoffmannschen Theorie im all- 
gemeinen betrachtet. Vor allem muB er hervorheben, daB der von ihm 
mitgeteilte Fall unmdglich auf diese Weise zu deuten ist. Von der 
Bindegewebemembran sagt Gerlach folgendes: „Ich habe fur sie nun 
meiner Meinung nach eine bessere Deutung gefunden: der bindegewebige 
arkadenbildende Saum ist namlich nichts anderes als die ins patho- 
logische Ruckenmarkslumen im Laufe der foetalen Entwicklungs- 
periode hineingewucherte Pia mater spinalis". Aber auch den iibrigen 
Befund deutet er auf ahnliche Weise: „t)brigens ist auch das bereits 
Erwahnte genugend, um die Uberzeugung zu gewinnen, daB der von 
mir beschriebene Fall nicht Folge des Zerfalles einer zentralen gliosen 
Tumorbildung sein kann. Doch nicht nur die Geschwulsttheorie ist 
ungentigend um alle Befunde hier ungezwungen zu erklaren: mit Aus- 
nahme derjenigen Hypothesen, welche die Syringomyelie auf kon- 
genitaler Grundlage entstanden sein lassen wollen, sind auch alle die 
anderen nicht imstande, Klarheit in diese Frage zu bringen 1 ). So bin 
ich denn gezwungen, die Virchow - Leydensche Anschauung in fol- 
gender Weise auszubauen: die von mir beschriebene Syringomyelie 
muB Folge einer aplastischen Ausbildung des Medullarrohres sein, 
welche sich zu einer Zeit bemerkbar machte, als noch keine weiBe Sub¬ 
stanz bemerkbar war. Da jedoch meine Syringomyelie eine durchaus 
typische ist und ihre Hdhlung von den Arkadenbildungen eingefaBt 
ist, so dehne ich diese Behauptung auch auf alle anderen Syringomyelien 
aus, welche einen inneren bindegewebigen, wie ich gezeigt habe, pialen 
Saum aufweisen, also unter anderen auch auf solche, welche zu Gunsten 
der Geschwulsthypothese angefuhrt worden sind. Ich schlieBe mich 
also Hoffmann nicht an, welcher die angeborenen Anomalien bloB 

l ) G. Bcheint zu vergeesen, daB die Hoffmann-SchultZesche Auffassung 
von der Pathogeneee der Syringomyelie auch auf eine kongenitale Grundlago 
zuruckgeht. 

Z. f. d. g. Neur. u. P»ych. O. XX. 20 


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298 


Ohr. Lundsgaard: Eigenttlmliche Ver&nderungen 


ala AnstoB zu einer Gliombildung betrachtet. Meiner Meinung nach 
iat die Hohlung aelbat angeboren.“ 

Die Hauptpunkte der Gerlachachen Hypothese aind also, daB 
80 wohl die syringomyelitische Hohlung als auch die bindegewebige 
Membranauf einer kongeniten MiBbildung beruht. Was den era ten Teil 
betrifft, ist diese Anschauung keine neue, denn scbon Leyden hat eine 
ahnliche Betrachtung geltend gemacht, indem er behauptet, die Mehrzahl 
der Syringomyelien seien urspriinglich kongenite Hydromyelien. Der 
letzte Teil der Gerlachschen Hypothese ist dahingegen neu und zwar 
von der groBten Bedeutung fur die Pathogenese der Syringomyelie, 
denn eben die mit abnormen Bindegewebezugen in der Medulla (ofters 
zugleich mit GefaBveranderungen) kombinierten Falle bilden Basis 
fur die Auffassung, daB die Syringomyelie ein durch Entziindung 
und GefaBveranderungen erworbener Zustand des Ruckenmarkes sei. 
Die Gerlachsche Anschauung bedeutet daher eine Riickkehr zu der 
Theorie, infolge welcher kongenite Bildungsanomalien eine Hauptrolle 
in der Pathogenese der Syringomyelie spielen, obwohl allerdings in 
anderer Weise als die von Hoffmann und Schultze vertretene 
(Gliose-Theorie). 

Die Gerlachsche Theorie hat im groBen und ganzen keine allge- 
meine Anerkennung gewonnen, und wird von den verschiedenen Ver- 
fassern sehr verschieden beurteilt. In einem kritischen tlbersichtsartikel 
iiber die Syringomyelie („Lubarsch - Ostertag“ III. Abt. S. 766, 
1896) fuhrt Schmaus den Gerlachschen Nachweis von den mit Binde- 
gewebe bekleideten Hohlungen als einen betrachtlichen Vorschritt an. 
Die Theorie von der (kongeniten) Einwucherung dieses Bindegewebes 
wahrend der Entwicklung der Medulla, behandelt Schmaus mit 
groBer Reserve. In einem spateren Ubersichtsartikel (,,Lubarsch- 
Ostertag 11 I. Abt., 9. Jahrgang 1903, S. 491) scheint Schmaus aber 
die Anschauung Gerlachs vbllig akzeptiert zu haben, jedenfalls 
was den Gerlachschen Fall betrifft. Dieses hangt vermutlich da- 
mit zusammen, daB S. selbst eine ahnliche Beobachtung gemacht 
hat. (1. c. 1903.) 

Eine ganz andere Auffassung wird von Saxer vertreten, der in einer 
t)bersicht iiber die Frage (Centralblatt f. allgemeine Pathologie u. path. 
Anatomie Bd. IX. 1898) die Gerlachsche Theorie in folgenden Worten 
sehr scharf kritisiert (S. 64): ,,Auf die iibrigen Zustimmungen zu der 
Annahme embryonaler Eigentiimlichkeiten als Ursachen der Syringo¬ 
myelie mochte ich nicht waiter eingehen, nur auf eine ganz originelle 
aber wie mir scheint, auch ganz besonders ungliickliche Idee mochte ich 
zuruckkommen — daB die Auskleidung der syringomyelitischen Hohle 
in sehr vielen, ja vielleicht den meisten Fallen stellenweise eine binde¬ 
gewebige ist, das ist, wie man sich namentlich mit der v. Gieson-Far- 


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im RUckenmarke eines Neugeborenen (kongenitale Syringomyelic). 299 

bung tiberzeugen kann, aufier jedem Zweifel (in den neueren Arbeiten 
namentlich von Muller und Meder betont, auch von mir verschiedent- 
lich erwahnt). Da Bindegewebe stets in Begleitung der GefaBe im 
Riickenmarke vorkommt, da es femer sehr haufig bei Syringomyelie 
stark vermehrt ist, so ist es ja eigentlich selbstverstandlich, daB dies 
das resistenteste aller hier vorkommenden Gewebe auch gelegentlich in 
grOBerer Ausdehnung die Wand der Hdhle bildet. Da schlieBlich nir- 
gends die Andeutung eines Beweises erbracht ist, daB sich die in der 
Tat eigentumlich ,,arkadenf6rmige“ Anordnung nicht im Verlaule 
patbologischer Prozesse im intramedullaren Bindegewebe ebenso gut 
ausbilden kann, wie an der Pia, so ist gar kein Grand fur eine so sttitz- 
lose Annahme wie die Gerlachsche von dem Hereinwachsen der Pia 
mater in die Hdhlung in friiheren Embryonalzeit vorhanden. Fur die 
Konstruktion der dazu notigen anormalen Wachstumsvorgange ist man 
auBerdem wie Qbrigens aus den Gerlachschen Ausfuhrangen leicht er- 
sehen werden kann, vollkommen auf eine ungewohnlich leistungsfahige 
Phantasie angewiesen, da ein konkreter Befund bei Embryo, auf den 
sich diese Annahme stutzen konnte, vollstandig fehlt.“ „Nach dem 
Vorausgesagten halte ich mich ftir berechtigt, auch den Gerlachschen 
Versuch des Nachweises des Zusammenhanges kongenitaler Anomalien 
mit der Syringomyelie fur miBgliickt zu erklaren.“ Die Mdglichkeit 
einer Annaherung zu der Gerlachschen Anschauung 6ffnet sich jedoch 
Saxer mit folgender Bemerkung: 

,,Um MiBverstandnisse zu vermeiden, mochte ich hier anfiigen, 
daB ich keineswegs leugnen will, daB Abnormitaten der Entwicklung 
Ursache spaterer Syringomyelie bestimmter Form oder wenigstens 
von EinfluB auf die Beschaffenheit der Hbhle sein kdnnen; ich glaube 
nur, daB bisher keineswegs klargestellt ist, um welche Abweichungen 
resp. Stdrangen es sich dabei handelt und in welchem Zusammenhang 
dieselben mit der spateren Syiingomyelitis stehen.“ 

In der mir zuganglichen neueren Literatim uber die Syringomyehe 
wird der Gerlachsche Fall gar nicht erwahnt, und seine Theorie vom 
Ursprunge des Bindegewebes wird ganz unbeachtet gelassen, trotzdem 
die vasculo-bindegewebige Form mehr und mehr in den Vordergrand 
der Diskussion getreten ist. Es unterliegt entschieden keinem Zweifel, 
daB diejenigen Verfasser, die ilberhaupt diese Form von Syringomyelie 
als eine besondere Gruppe anerkennen, die Veranderangen des Binde¬ 
gewebes als Folge eines entziindlichen (oder degenerativen) Prozesses 
auffassen. Die oft gleichzeitig vorkommenden GefaBveranderangen 
werden von den meisten Verfassern als das primare des Prozesses an- 
gesehen. 

In alien (mir bekannten) beschriebenen Fallen hat es sich um altere 
Individuen gehandelt. Im „Handbuch der Neurologie“ findet sich 

20 * 


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MO 


Chr. Lundsgaard: Eigentttraliche Verandertingen 

folgende AuBerung von Haenel fiber die vasculo-bindegewebige Form 
der Syringomyelie: ,,Von Bildungsanomalien, die auf die Embryonalzeit 
hinweisen, speziell Veranderungen des Zentralkanal „Spornbildungen“ 
an der hinteren Commisur u. a. war in diesem Fall nichts nachzu- 
weisen. 44 

Werden wir jetzt die im Augenblicke herrschende Auffassung der 
Pathogenese der Syringomyelie restimieren, dann gestaltet sich die 
tTbersicht folgendermaBen: 

Unter dem Begriffe: Syringomyelie wird verstanden (pathologisch- 
anatomisch) ein von vielen verschiedenen Ursachen bedingter Zustand 
des Rfickenmarks. Nur in einer kleineren Anzahl der Falle ist die Patho¬ 
genese (und Atiologie) klar und einfach. Die groBe Mehrzahl der bis 
jetzt veroffentlichten Falle wird entweder unter die Gruppe: Primare 
Gliose mit sekundarem Zerfall, oder unter die Kathegorie: die binde- 
gewebige-vasculare Form, welcher eine (chronische) — nach den meisten 
Verfas8ern — primar in den GefaBen oder in den Meninges entstandene 
Entzfindung zugrunde liegt, hingeffihrt werden. Die beiden Gruppen 
sind nicht scharf abgegrenzt. In der ersteren Gruppe wird das Leiden 
als eine kongenite Bildungsanomalie aufgefaBt, wahrend dasselbe in 
der letzteren als erworben gedeutet wird, indem die Verfasser (Saxer, 
Haenel u. a.) behaupten, keinen entscheidenden Beweis fur die Kon- 
genitat der Veranderungen vorgefunden zu haben. Auf diesem Hinter- 
grund scheint mir mein Fall von groBem Interesse. 

Wenn es berechtigt ist, denselben als einen Fall von (beginnender) 
Syringomyelie zu betrachten (was — meiner Meinung nach — nicht in 
Zweifel gezogen werden kann), liegt also hier ein der bindegewebigen, 
vascularen Gruppe angehoriger Fall vor, in dem das Vorkommen des 
Bindegewebes in der Medulla von einer (kongeniten) MiBbildung ver- 
ursacht ist. In dieser Beziehung wird die Gerlachsche Theorie 
ganz und gar durch meinen Fall gerechtfertigt. Ferner wfirde ich es 
fur mfiglich halten, daB der hier beschriebene Fall zur Aufklarung des 
Ursprunges der syringomyelitischen H6hlen in gewissen t Formen von 
Syringomyelie einen Beitrag leisten k6nnte. 

Wie schon erwahnt, meint Gerlach, daB auch die in seinem Fall 
beobachteten Hohlungen auf eine kongenitale Bindungsanomalie zu- 
nickzufuhren sein solltcn. 

Diese Anschauung ist aber entschieden nicht richtig. Die Beschrei- 
bung des Falles Gerlach spricht dafiir, daB die syringomyelitischen 
Hohlungen t-eils auf einer kongeniten MiBbildung, teils auf einem spate- 
t /ren sekundaren Zerfall des Gewebes beruhen. Es laBt sich namlioh in 
dcin grdfiten Teil der Medulla kein Zentralkanal naehweisen, und zwar 
nicht einnial Re-t? eincs solchen als Gliafaden (Epemlynifaden). Da- 


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im RUckenmarke eines Neugeborenen (kongenitale Syringomyelic). SOI 

gegen fand sich an mehreren Stellen eine Ependyma uskleidung der 
bindegewebigen Membran, die die syringomyelitische Hdhle begrenzte. 
Am wahrscheinlichsten diinkt mir aber die Annahme, daB das kongenite 
Moment in dem Gerlachschen Fall eine Hydromyelie gewesen ist. 
Nach nnd nach sind Teile des nervosen Gewebes um den erweiterten 
Zentralkanal verddet (vielleicht wegen Stdrungen in der Emahrung). 
An den meisten Stellen hat sich dieser Zerfall bis zur Membran des 
Bindegewebes fortgesetzt, die wohl urspriinglich durch eine Schicht 
von grauer Substanz von dem Ependym des Zentralkanals getrennt 
war. Die meisten Stellen, sowohl die Ependymbekleidung als auch letz- 
tere Schicht, werden zugrunde gegangen sein, wahrend aber an einigen 
Stellen die Ependymzellen nach der Peripherie hinausgezogen sind 
und auf diese Weise hie und da eine innere Bekleidung der Membran 
bilden. 

Wurde man sich nun hier in meinem Falle eine Fortsetzung des in 
einer Partie des dorsalen Marks entstandenen Zerfalles denken (und es 
darf wohl dies ebenso berechtigt sein, als sich den Prozess in umgekehrter 
Richtung vorzustellen, was friihere Verfasser schon in groBem Umfange 
gemacht haben), dann wird es sich heraussteUen, daB nur verhaltnismaBig 
wenig Gewebe um den Zentralkanal (s. Abb. 4) zu zerfallen braucht, um 
eine Hdhlung hervorzuruien, die grdBtenteils von 2 bindegewebigen —- 
divergierend von der vorderen Commissur ausgehenden — Membranen 
begrenzt ist. Ich bin deshalb geneigt anzunehmen, daB durch den von 
mir mitgeteilten Fall von (beginnender) Syringomyelie der Beweis er- 
bracht worden ist, daB die vasculobindegewebige Form der Syringo¬ 
myelie auf kongeniter Grundlage entstanden sein kann, an die Zerfalls- 
prozesse sekundar hinzugetreten sind, — oder naher bestimmt so: 
daB das Bindegewebe auf einer kongeniten Heteroplasie des 
mesenchymalen Gewebes wahrend der Entwicklung der 
Medulla beruht. Die Hdhlung laBt sich aber auf die folgenden 
Prozesse zuriickfuhren: 1. kongenite Spaltenbildung um 
das Bindegewebe (Taf. XI, Fig. 1 und Fig. 2; Taf. XII, Fig. 2; 
Taf. XIII, Fig. 1 und Fig. 2), 2. kongenite Hydromyelie (Taf. XII, 
Fig. 1 und Fig. 2), 3. sekundarer Zerfall wegen Stdrungen in 
der Ernahrung (Taf. X, Fig. 2). 

DaB die GerlachscheTheorie ein so ungliicklichesSchicksal betroffen 
hat, ist etwas schwierig zu verstehen. Bei einer unmittelbaren Beurtei* 
lung seines Falles muB zugegeben werden, daB die Theorie von dem 
Ursprung des Bindegewebes keineswegsgrundlosist. Hierzukommt 
noch, daB die Gerlachsche Auffassung entschieden mehrere Analogien 
besitzt. Ein abnormes Hineinwachsen des mesenchymalen Gewebes in 
die Medulla wahrend der Entwickelung derselben ist ja kein neuerGe- 
danke. Ebendieses Verhaltnis ist in der Tat bei der Diastemato- 


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302 


Chr. Londaga&rd: EigentUmliche Verftnderungen 


myelie: der Verdoppelung des Riickenmarkes (Reoklinghausens 
Gewebetransposition), behauptet und anerkannt worden. Kein Mensch 
wird wohl jetzt behaupten, daB die abgrenzenden Bindegewebesepten 
bei Diastematomyelie auf Entzftndungsgewebe (reaktive Gewebe- 
proliferation) beruhen, wie es z. B. Beneke und Sibelius friiher ge- 
meint haben. Es ist nicht ohne Interesse, daB eine der Ursachen, die 
Henneberg und Westenhoefer zur Verwerfung der Annahme von 
der aktiven Proliferation des Gewebes in einem solohen Falle bewegt, 
eben der Mangel an Zeichen von Entziindungsphanomenenist. Henne¬ 
berg und Westenhoefer sind der Meinung, daB eine Zerlegung des 
schon fertig gebildeten Ruckenmarkes, d. h. bereits geschlossenen 
Neuralrohres, durch einwachsendes Bindegewebe wohl iiberhaupt nicht 
vorkommt. 

Es sei hier hervorgehoben, daB bei meinem Patienten eine eigen- 
tiimliche Vertiefung oder Einziehung in der Haut vorgefunden wurde, 
der Grenze zwischen Os sacrum und den Lumbalwirbeln ungefahr ent- 
sprechend. Keine Defekte wurden in den abwarts von letzteren ge- 
lagerten Knochen, sowie auch keine pathologischen Veranderungen in 
der Medulla oder deren Hauten nachgewiesen. Diese Einziehung be- 
trachte ich als Reste des im friihesten Fdtalleben anwesendenUrmundes: 
Ductus neurentericus. Es kann dasselbe in seltenen Fallen ganz oder 
teilweise halten, und als Regel ist eine Persistierung desselben mit 
Spina bifida verbunden. 

Es HeBe sich jetzt vielleicht behaupten, daB mein Fall keine Syringo¬ 
myelic, sondem eine schwach entwickelte Diastematomyelie sei. Dies 
ist nicht richtig, denn es sind, wie aus den Abbildungen hervorgeht, die 
Abschniirungen von anderer Art als die bei Diastematomyelie vor- 
kommenden. Auch findet sich nirgends Verdoppelung des Zentral- 
kanals oder Spina bifida. 

Man wird nun fragen, inwieweit zwischen den iibrigen MiBbildungen 
des Kindes und dem pathologischen Zustand des Riickenmarks ein 
Zusammenhang bestehen sollte? Diese Mbglichkeit ist a priori nicht 
abzulehnen, und zwar um so weniger, als P. Bar zwei Falle von MiB- 
bildung der Extremitaten mit gleichzeitigen Abnormitaten in der 
Medulla beschrieben hat. Ein Zusammenhang in der Beziehung, daB 
die ExtremitatsmiBbildungen auf die Anomalie des Riickenmarks zu- 
riickzufiihren seien (oder umgekehrt), muB aber in meinem (undP. Bars 
Fall) schon aus dem Grunde abgewiesen werden, weil zwischen der 
Lokalisation der MiBbildung des Riickenmarks und dem Ursprung 
der Extremitatsnerven nicht hinlanglich Kongruenz besteht. Sieht man 
nioht die MiBbildung der Extremitaten als eine Folge auBerer Wir- 
kungen (Amnionstrange, Druck der Gebarmutter usf.) an, dann laBt sich 


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im Rttckenm&rke eines Neugeborenen (kongenitale Syringomyelic). 303 

vielleieht die Vermutung aufstellen, daB die Mifibildung durch eine 
gleiche kausale Genese bedingt sei. Dies ist selbstredend auBerordent- 
lich wahrscheinlich. 

DaB ein Zusammentreffen der genannten 2 Formen von MiBbildung 
nicht notwendig ist, ergibt sich u. a. daraus, daB das Ruckenmark 
in einem anderen Fall von Amelie, den ich in dieser Verbindung unter- 
suchte, vollstandig normale Verhaltnisse aufwies. 

Es handele sich um einen Fall von Veranderuugen des Riicken- 
marks bei einem (neugeborenen) Amelos. Dieselben lassen sich durch 
folgende Erscheinungen charakterisieren: 

1 . Hydromyelie, 2. abnorme (hyaline) Bindegewebeziige undGe- 
faBe in der Medulla, 3. Spalten und Hohlungen in der Medulla, den Ge- 
faBen und dem Bindegewebe entsprechend, 4. beginnender Zerfall des 
Medullargewebes mit Bildung von sekundaren Hohlen, 5. Odem des 
Ruckenmarks, 6. Verdickung und Hyalinisierung der Pia. 

Das Bindegewebe und gewissermaBen auch die GefaBe der Me¬ 
dulla werden einer kongeniten Heterotopie des mesenchymalen Gewebes 
zugeschrieben. Die Hdhlungen sind teils durch das Hineinwachsen des 
Bindegewebes, teils durch Zerfall der nervosen Substanz bedingt, wahr¬ 
scheinlich wegen Obliteration der perivascularen Lymphraume und des 
auf diese Weise entstandenen Odems. 

Das morphologische Bild der Veranderungen des Ruckenmarks 
berechtigt, den Fall als eine beginnende Syringomyelie zu deuten. 

Also ist durch diesen Fall der von Saxer und anderen Verfassern 
so sehr gesuchte Beweis fur die Gerlachsche Hypothese vom Auftreten 
des Bindegewebes bei gewissen Formen von Syringomyelie unbestreit- 
bar erbracht worden, und das kongenitale Moment bei der Patho- 
genese der Syringomyelie demnach wieder in den Vordergrund getreten. 


Lileraturverzeichnis. 

P. Bar, Expose des litres et travaux scientifiques. 

Gerlach, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 5, 271. 1894. 

Haenel, tTber Syringomyelie im Handbuch der Neurol, (nebst Literatur). 
Henneberg und Westenhbfer, Monatsschr. f. Psych, u. NeuroL 33, Heft 3. 
1913. 

Hoffmann, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 3. 1893. 

Kronthal, NeuroL Centralbl. 1883. 

Langhans, Virchows Archiv 85. 

Leyden, Virchows Archiv 68. 

Muller und Me der, Deutsche Zeitschr. f. klin. Med. 28. 1895. 

Rotter, Zeitschr. f. Heilk. 19 . 1898. 


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Qrigiral from 

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304 Lundsgaard: Eigenttiml. Veranderungen im RQckenmarke ein, Neugeborenen. 

Rosenthal, Zieglers Beitrage z. allg. Path. u. pathoL Anat. X3, 1898. 
Saxer, CentralbL f. Path. u. allg. path. Anatomie 9 . J898. (Literatur.) 
Schmaus, Lubarech-Osterfcags Ergebnisse. IIL Abt., S. 766. 1896. 

— Lubarsch-Ostertags Ergebnisse. I. Abt., S. 491. 1903. (Literatur.) 

Thomas und Hauser, Nouvelle Ioonographie de la Salpetri&re 1904. Nr. 17. 


Erkl&rung der Tafeln X—XIII. 

Die Tafeln X—XIII enthalten Mikrophotogramme eines Teils der Schnitit¬ 
ans der Serie im dorsalen Teil. Sftmtliohe Sehnitte sind von der oberen Schnitt - 
fl&che gesehen. Paraffinschnitte. Dicke der Sehnitte ca. 10 /*. Haematoxylin- 
v. Gieson. (Siehe hbrigens den Text.) VergroBerung 20—30 mal. 


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Tier Stoffwechselversuche bei Epileptikem. 

Von 

Rudolf Allers und Jos6 M. Sacrist&n (Madrid). 

(Eingegangen am 20. September 1913.) 

Die hier mitzuteilenden Versuche wurden in der Absicht angestellt, 
etwaige Unterschiede der Umsetzungen bei genuiner und nichtgenuiner 
Epilepsie aufzudecken. Sie erstrecken sich auf zwei Falle der ersteren 
Art, einen Fall von Alkoholepilepsie und einen von traumatischer 
Epilepsie. 

Bevor wir an die Darlegung und Diskussion unserer Versuchsresultate 
gehen, miissen wir einleitend zwei Arbeiten berlicksichtigen, die in letzter 
Zeit erschienen sind. Eine Ubersicht liber die altere Literatur zu geben, 
i8t nicht erforderlich, da dieselbe in dem Sammelreferat des einen von 
uns 1 ) kritisch gesichtet wurde. 

Tintemann 2 ) hat ebenfalls bei einigen Fallen von genuiner und 
nichtgenuiner Epilepsie Stoffwechseluntersuchungen vorgenommen. Er 
hat den Gesamtstickstoff des Harnes, das Ammoniak, die Harn- und 
Phosphorsaure bestimmt, ferner die Gesamtaciditat des Harnes durch 
Titration gegen Phenolphthalein als Indikator. Fur die Bewertung dieser 
Untersuchungen miissen die gleichen Gesichtspunkte geltend gemacht 
werden, die in dem genannten Sammelberichte liber den Stoffwechsel 
bei der Epilepsie betont wurden. Wenn auch zugegeben werden muB, 
daB die Forderung nach der regelmaBigen Stickstoffbestimmung in den 
Faeces zu weit geht und daB man mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit 
auch beim Epileptiker normale Resorptions- und Verdauungsverhalt- 
nisse annehmen darf, so ist es andererseits unbedingt notwendig, die 
Purinbasen neben der Harnsaure zu bestimmen, wenn man liber den 
Nucleinstoffwechsel irgend sichere Angaben machen will. Denn der SchluB 
z. B., daB eine Vermehrung der Harnsaure einen erhOhten Zerfall nuclein- 
haltiger Korperbestandteile anzeige, ist durchaus ungerechtfertigt, wenn 
man nicht die quantitativen Verhaltnisse der Basenausscheidung genau 
kennt; denn diese Stoffe sind Vorstufen der Harnsaure, und eine Ver¬ 
mehrung dieser, die auf Verminderung der Basen beruht, ist eben nur 

*) Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Ref. 4 , 737. 1912. 

2 ) Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 3t, 1. 1912. 

Z. t d. g. Near. u. Psych. 0. XX. 21 


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306 


R. Allen und J. Sacristan: 


Ausdruck einer Intensitatsschwankung dee Nucleinatoffwechaela und 
nicht einea Mehrzerfallea nucleinhaltiger EiweiBk&rper. 

Aua dieaem Grunde Bind die Verauche von Ti nte man n flir die Frage 
nach dem Purinstoffwechsel bei der Epilepsie eigentlich nicht zu ver- 
werten. 

Die Ergebniaae der Verauche Tintemanna waren bei den verachie- 
denen genuin-epileptiachen Verauchapersonen ziemlich divergent. In 
gleichmaBiger Weiae traten eigentlich nur die den Anfall begleitenden 
Stdrungen dea Chemiamua zutage. Darunter ateht an erater Stelle die 
Zunahme der Geaamtaciditat. Rohde hatte aeinerzeit gezeigt, daB eine 
Steigerung der Aciditat, vornehralich aber der atherldalichen Sauren 
auch achon praparoxyamal einaetzen kann. Tintemann hat den aauren 
Atherextrakt nicht unteraucht. Wenn er daher bemerkt, daB die Zu- 
nahme der Harnaciditat bei manchen Fallen erat langere Zeit nach dem 
Anfall einaetzen kann, ao iat damit gegen die Mdglichkeit einer Zunahme 
der atherldalichen Sauren nichta auageaagt; auch eine Verminderung der 
Geaamtaciditat konnte noch immer mit einer Vermehrung der ather¬ 
ldalichen Sauren einhergehen. 

Faat regelmaBig tritt eine Vermehrung der Harnaaure nach oder mit 
dem Krampfanfall ein. Gelegentlich hat Tintemann auch eine pra- 
paroxyamale Erhebung der Harnaaurekurve beobachten kdnnen. Au8 
den oben angefuhrten Grunden iat eine Interpretation dieaea Befundea 
nicht mdglich. 

In gewi88em MaBe geht die Phoaphoreaureauaacheidung der der 
Harnaaure parallel, und Tintemann kann die Befunde von Rhode 
hier be8tatigen. 

Vereinzelte Anfalle erzeugen manchmal, gehaufte wohl immer eine 
Steigerung der Stickatoffauafuhr. Die8 aind die Befunde, die Tinte¬ 
mann tlber den Chemiamua der poatparoxyamalen Periode erheben 
konnte. 

Er hat nun an zwei Kranken mit Krampfanfallen, die nicht auf dem 
Boden der genuinen Epilepaie erwachaen waren, ganz ahnliche Reaultate 
fiir die poatparoxyamale Periode erhalten. Der eine Kranke war ein 
Fall von atheroaklerotiacher Schrumpfniere mit Krampfanfallen, der 
zweite litt an epileptiformen Krampfen auf Grund einer juvenilen 
Paralyae. 

Bei dem eraten Kranken wurden nach dem Krampfanfalle die gleichen 
Veranderungen wie nach dem klaaaiBchen epileptiachen Paroxyamu8 
gefunden: die Geaamtaciditat, die Ammoniakmenge, Harnaaure und der 
Geaamtatickatoff nahmen erheblich zu. 

Unklarer geataltete aich daa Bild bei dem Falle von juveniler Para¬ 
lyae, da durch die gehauften Anfalle und durch Temperaturateigerung 
die Durchaichtigkeit behindert wurde. 


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Vier Stoffwechselversuche bei Epileptikern. 


307 


Immerhin kommt Tintemann zu dera Schlusse, daB auch nicht- 
genuine Epileptiker nach Krampfanfallen Veranderungen des Chemismus 
aufweiaen kdnnen, die ganz den bei der genuinen Epilepsie in der post- 
paroxysmalen Periode beobachteten entsprechen. 

Wir werden Tintemann in diesem Schlusse ohne weiteres bei- 
stimmen diirfen. Denn es bestehen ja, wie A llers ausgefiihrt hat, 
gewichtige Grlinde dafiir, daB fast aUe postparoxysmalen Veranderungen 
des Chemismus Folgen der Muskelarbeit und der durch den Sauerstoff- 
mangel gesetzten Acidosis sind. Es ist demnach verstandlich, daB der 
postparoxysmale Stoffwechsel bei der genuinen und der symptomatischen 
Epilepsie, bei Krampfanfallen infolge von irgendwelchen Herderkran- 
kungen, bei der Paralyse in groBen Ziigen der gleiche ist. 

Darum eben hat Allers auf die Notwendigkeit hingewiesen, dem 
anfallsfreien Intervall grOBere Beachtung zu schenken. Denn hier und 
vielleicht in den praparoxysmalen Phasen mussen sich charakteristische 
Stdrungen kundgeben, wenn anders solche iiberhaupt bestehen. Dies gilt 
fur das Studium der Epilepsie geradeso wie mutatis mutandis etwa fur 
das der progressiven Paralyse oder der Dementia praecox. Auch Krae- 
peli n 1 ) hat neuerdings die prinzipielle Bedeutung dieser Untersuchungen 
betont. 

Selbstverstandlich laBt sich aus der Identitat des postparoxysmalen 
Stoffwechsels bei den verschiedenen Krankheiten mit Krampfanfallen 
kein Argument gegen die MOglichkeit charakteristischer oder sogar spe- 
zifischer St-offwechselstSrungen gewinnen. 

Betrachten wir daraufhin die Tabellen von Tintemann, so ist 
zunachst die Stickstoffausscheidung zu beachten. Dabei ist selbstver¬ 
standlich von den Anfallstagen und Anfallsperioden abzusehen. 

Der erste Kranke scheint Stdrungen der Stickstoffbilanz nicht ge- 
zeigt zu haben; der zweite Kranke wurde nur wahrend einer Anfalls- 
periode (insgesamt 6 Tage) untersucht. Der dritte retinierte der stick- 
stoffreichen Kost entsprechend Stickstoff. Zuweilen treten bei kon- 
stanter Emahrung Schwankungen der Stickstoffausfuhr auf, die Tinte¬ 
mann nicht besonders beachtet zu haben scheint, die aber immerhin 
auffallig sind. So verzeichnet die Tabelle V dieses Autors (1. c. S.' 12) 
folgende Reihe von Gesamtstickstoffwerten: 13,06, 14,26, 14,04, 12,87, 
11,43, 12,89, 11,96, 13,62, 13,34, 13,66, in der also Unterschiede von 2 g 
vorkommen; die gr6Bte Differenz von einem Tag zum anderen betragt 
1,67 g, eine recht betrachtliche Menge. Dabei scheint das klinische Bild 
keinerlei Besonderheiten gezeigt zu haben, da nur von dem Tage, der 
der hier zitierten Reihe vorangeht, bemerkt wird, der Kranke sei etwas 
unruhig gewesen. Auch der vierte Kranke zeigt in einer anfallsfreien 


») Lehrbuch * (II.). 1913. 

21 * 


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308 


R. Aliers und J. Sacristan: 


Periode ahnliche Schwankungen. Entsprechende Bewegungen der Harn- 
menge fehlen bei beiden Kranken. 

Verwirrtheitszustande, Unruhe u. dgl. erzeugen einen Wechselnden 
Einflufi auf den EiweiBumsatz, der wohl heute noch nicht beurteilt 
werden kann. 

Ftir die Frage nach dem Stoffwechsel der interparoxysmalen Periode 
scheint sich aus den Versuchen Tintemanns nur zu ergeben, daB 
spontane Schwankungen der Stickstoffausscheidung vorkommen kdnnen, 
deren Natur nicht naher bekannt ist. 

Die zweite, umfanglichere Untersuchung hat Pighini 1 ) 1913 mit- 
geteilt; diese Verdffentlichung bildet den ersten Teil einer groB angelegten 
Reihe von Stoffwechsel versuchen und behandelt den Stickstoffumsatz, 
den Purinstoffwechsel und die Frage nach der Acidose. 

Die Erfahrungen Pighinis iiber die postparoxysraale Periode decken 
sich mit denen anderer Autoren. Er findet eine Steigerung der Stick - 
stoffausfuhr, eine absolute und relative Vermehrung des Ammoniaks, 
eine starkere Kreatinurie, eine Mehrausscheidung an atherldslichen 
Sauren. Auch die postparoxysmaleZunahme des formoltitrierbaren Stick- 
stoffes, die Kempner beschrieben hat, konnte Pighini bestatigen. 

Pighini erortert ausfiihrhch die biochemischen Prozesse, die diesen 
Erscheinungen zugrunde Uegen kdnnen. Wir wollen nicht naher auf 
diese Frage eingehen, weil uns die postparoxysmalen S toff wee hsel ver- 
anderungen weiterhin nicht beschaftigen werden. 

Von groBem Interesse ist es, daB Pighini bei seinen Kranken eben- 
falls in intervallaren, anfallsfreien Perioden erhebhche Schwankungen 
der Stickstoffausfuhr konstatieren konnte, ein Unvermogen also, sich 
in das Stickstoffgleichgewicht zu setzen. Diese Schwankungen sind 
manchmal betrachtlich hdher, als die von Tintemann beobachteten 
Ausschlage. Bei dem ersten Falle Pighinis sank z. B. die Stickstoff¬ 
ausscheidung nach dem Anfallstage auf 12 g und stieg den folgenden 
Tag auf 18 g, um 24 Stunden spater wiederum auf 12,4 g zuriickzugehen. 
Auch die anderen Versuchspersonen zeigten ahnliche, wenn auch nicht 
so bedeutende Schwankungen der Stickstoffausscheidung. Die Kurve 
der Hammenge macht zuweilen, aber nicht regelmaBig und nicht in 
dem gleichen AusmaBe, die Bewegung der Stickstoffkurve mit. Wir 
glauben nicht, daB die Ursache der UngleichmaBigkeit der Werte fur 
den Harnstickstoff in dem Verhalten der Hammenge gesehen werden kann. 

Pighini hat sowohl den endogenen als den exogenen Purinstoff¬ 
wechsel sorgfaltig unter Bestimmung von Basen und Harnsaure unter- 
sucht. Abgesehen von der postparoxysmalen Zunahme der Harnsaure, 
die die Basen stets, wenn auch in wechselnder Starke mitmachen, sind 
einige bemerkenswerte Tatsachen zu verzeichnen. 

l ) Riv. sperimentale di Freniatria 39. 1913. 


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Vier Stoffwechselversuche bei Epileptikern. 


309 


Es kommt gelegentlich vor, daB die Basen relativ vermehrt 
sind, ja die Harnsaure an Menge iibertreffen, wie denn auch sonst 
das Verhaltnis von Basen-Stickstoff zu Harnsaure-Stickstoff ein 
recht inkonstantes ist. Praparoxysmale Steigerungen der Hamsaure- 
ausscheidung, wie sie Tintemann beschreibt, hat Pighini offenbar 
nicht beobachtet. 

Der exogene Nucleinstoffwechsel ist bei den genuinen Epileptikern 
entschieden gestort. Hierin stimmt Pighini mit Rohde vollkommen 
iiberein, wenn er auch andererseits einen anfallsbefordemden EinfluB 
der exogenen Purinzufuhr nicht feststellen konnte. Freihch hat auch 
Rohde sich in diesem Punkte nur mit groBer Vorsicht geauBert. Die 
Stoning des exogenen Purinstoffwechsels besteht nach Pighini in einer 
Verzogerung und qualitativen Unvollkommenheit, indem relativ mehr 
Basen ausgeschieden werden. (Uber die Stufen des Purinstoffwechsels 
vgl. den zitierten Sammelbericht oder die Untersuchungen fiber die 
Paralyse 1 ) von Allers.) 

Pighini vermochte auch darzutun, daB die Spaltung von Nuclein- 
saure durch Serum, die durch die „optische Methode“, die Verfolgung 
der Drehungsanderung des polarisierten Lichtes, kontrolliert werden 
kann, bei genuinen Epileptikern anders ablauft, als bei normalen Ver- 
suchspersonen und anderen Kranken. 

Es liegen vorderhand von Pighini noch keine Versuche an Kranken 
mit Krampfanfallen auf anderer Basis als der der genuinen Epilepsie 
vor. Daher wissen wir auch nicht, ob dieser Forscher die von ihm be- 
schriebenen Stfirungen auf dem Gebiete des Stoffwechsels ffir charak- 
teristisch oder spezifisch ansieht, und wie er sich den Zusammenhang 
mit der cerebralen Erkrankung denkt. 

Zusammenfassend laBt sich, wie wir glauben, auf Grund dieser 
Arbeiten fiber den uns hauptsachlich interessierenden intervallaren Stoff- 
wechsel des genuinen Epileptikers sagen, daB auf dem Gebiete des 
EiweiBumsatzes sowohl als auf dem des Nucleinstoffwechsels Storungen 
zweifellos bestehen, von deren intimer Natur wir noch nichts wisien, 
deren Stellung im Krankheitsbilde, deren Rolle in der Pathogenese und 
deren Spezifitat oder Nichtspezifitat wir vorderhand nicht beurteilen 
kdnnen. 

Insbesondere zur Klarung des letzteren Punktes sind die von uns 
mitzuteilenden Versuche angestellt worden. Wenn ihre Zahl auch zu 
gering ist, um bindende Schlfisse zuzulassen, so glauben wir doch, einiges 
aus ihnen entnehmen zu konnen, indem sie einerseits die Erfahrungen 
anderer Autoren zu bestatigen, andererseits eine gewisse Erweiterung 
zu bringen imstande sein dfirften. 


*) Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 18, 1. 1913. 


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310 


R. Allers und J. Sacristan: 


Vers uchs proto kolle. 

t)ber die Methodik ist nichts zu sagen. Die verschiedenen im Labo- 
ratorium der Miinchner Klinik iiblichen Verfahren sind bereits mehr- 
fach beschrieben worden (s. die Arbeiten von Allers, Kempner, 
Se re j 8 k y). Wir gehen daher sofort an die Darstellung unserer Versuchs- 
resultate. 

Fall I. 

Krankengeschichte 1 ). Der 27j&hrige Bankbeamte F. G. wurde eines 
Erregung8zustandes wegen zur Klinik aufgenommen. Aus dem korperlichen 
Status ist hervorzuheben: Fehlen von Narben an der Zunge, hingegen eine Narbe 
liber der rechten Augenbraue; die Sehnenreflexe sind leicht gesteigert; die rechte 
Pupille scheint etwas weiter als die linke, beide reagieren prompt und ausgiebig. 

Der zeitlich und ortlich vollig orientiorte Kranke gibt an, nach Absolvierung 
des Gymnasiums, wo er bis auf Mathematik gut gelernt hatte, Bankbuchhalter 
geworden zu sein. Er hat Diphtheric und Masern, wahrscheinlich auch Fraisen 
gehabt. Vor 3 Jahren traten zum ersten Male nach Anstrengungen Krampfanfalle 
mit BewuBtseinsverlust ein; dies geschah meist nachts, doch kam es auch auf der 
StraBe vor. Fiir die Krampfe besteht Amnesie; bei vorsichtigem Leben und voll- 
kommener Alkoholabstinenz traten die Anfftlle seltener auf. In letzter Zeit geschah 
es mehrfach, daO der Kranke sich, ohne es zu wissen, ins Bureau begab, wo er 
pldtzlich erwachte. Es kommen auch grandiose Erregungen und Verstimmungen 
vor. Die letzte Verstimmung am Vortage der Aufnahme habe zu einem heftigen 
Aufregungszustand gefiihrt, der seine Verbringung in die Klinik veranlaBte. 

In der Klinik springt der Kranke anscheinend unter dem Eindruck angst- 
erregender Gesichtstauschungen aus dem Bett, gebardet sich sehr aufgeregt, 
schreit laut; er drangt fort, &uBert Beeintr&chtigungsideen. Sp&ter gibt er an, 
Visionen gehabt, Stimmen gehort zu haben. Er ist umst&ndlich und schwerf&llig 
in seiner Ausdracksweise. 

Er wird nach viertagigem Aufenthalte entlassen. Ein Jahr darauf wird der 
Kranke nach einem Anfalle zum zweiten Male der Klinik zugefiihrt. Aus dem soma- 
tischen Befunde ist auBer einer Steigerang der Sehnenreflexe und einem ersohopf- 
baren FuBklonus nichts zu bemerken. 

Der Kranke schildert in umstandlicher, abschweifender Art, wie er von dem 
Sanit&tsautomobil zur Klinik gebracht wurde; sp&ter erst gibt er an, er habe 
geglaubt, seine Frau wolle mit dem Automobil durchbrennen, es sei alles von seiner 
Tante inszeniert worden, um ihm Angst zu machen, die Leute h&tten ihn eigen- 
artig beobachtet. Er habe im Automobil ein Fenster eingeschlagen, weil er sich nicht 
ausgekannt habe. 

Er habe einen Nebel im Kopf, der bei energischem Sprechen weiche. 

Der Kranke rechnet gut, ist ortlich vollkommen, zeitlich ann&hernd orien- 
tiert. Das Gedachtnis und die Merkf&higkeit scheinen intakt. 

2 Tage nach der Aufnahme ist der Kranke, nachdem sich eine Phase st&rkerer 
Benommenheit und Unruhe eingeschoben hatte, vollkommen klar und geordnet, 
zuganglich. 


*) Es scheint uns geboten, hier, wo os sich um die Gegeniiberstellung verschie- 
dener Krampfkrankheiten handelt, die Krankengeschichten ziemlich ausfiihrlich 
mitzuteilen; verfiigen wir doch nicht iiber objektive Kritericn der Epilepsiediagnose, 
wie sie uns etwa bei der Paralyse in der serologischen Untereuchung zu Gebote 
stehen. Es ist daher die jeweilige Diagnose auch dem Leser verstandlich zu machen. 


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Vier Stoffwechselversuche bei Epileptikern. 


311 


Tags darauf trat neuerlich ein angstlicher Erregungszustand ein, in dem der 
Kranke meinte, es wiirden „ihm T&uschungen vorgemacht"; er dr&ngte fort, 
glaubte sich verfolgt, daB er getotet werden solle, schlug um sich, biB nach dem 
Pfleger. 

In der Folge bliet} der Kranke ruhig zu Bett, war sehr schwerf&llig, umst&nd- 
lich, zeigte einen etwas leeren Gerichtsausdruck. 

Anamnestisch lieB sich erheben, daB der erste feststellbare Krampfanfall 
vor 0 Jahren eingetreten war, doch bestanden schon vorher SchwindelzustAnde 
u. dgl. Der Anfall wird von der Frau des Kranken in typischer Weise geschildert 
(ZungenbiB, Hamabgang). . Die Anf&lle traten in Zwischenraumen von etwa 
7 Wochen auf. 

Ein vom Kranken selbst verfaBter Bericht iiber die letzten Tage vor und 
in der Klinik tragt deutlich das Gepr&ge seiner umstandlichen und schwerf&lligen 
Ausdrucksweise; er schildert einen Zustand zwischen Traum und Wachen, der 
rich zwischen den Krampfanfall und den Anfall von Erregung einschob. 

Die klinische Diagnose lautete, wie wohl ohne weiteres verstftndlich, auf 
Epileprie. 

Potus war negiert. Lues bestand nicht. 

An diesem Kranken wurde ein lltagiger Stoffwechselversuch vor- 
genommen. Sein Gewicht betrug zu Beginn des Versuches 65,5 kg. 

Der Kranke erhielt eine konstante, relativ eiweifireiche, purinfreie 
Kost, die 13,2 g Stickstoff enthielt. 


Tabelle I. 


Ver- 

sucha- 

Tag 

K6rper- 

gewicht 

Haro- 

menge 

Aufgen. 

Flttaatg- 

keit 

Geaamt- 

N 

Ham¬ 

stoff* 

N 

100. U.-N. 

Am- 

moniak- 

N 

100-NHg-N 

Amino- 

N 

100. Am.-N 

Ges.-N 

Ges.-N 

Ge«.-N 

i. 

65,5 

1600 

750 

12,6780 

10,8270 

85,4 

0,1521 

1,20 

0,2662 

2,1 

2. 

65,4 

1450 

750 

12,0056 

10,3248 

86,0 

0,1213 

1,01 

0,2641 

2,2 

3. 

65,5 

1500 

600 

10,4562 

8,9523 

86,0 

0,1265 

1,21 

0,1987 

1,9 

4. 

65,3 

1650 

600 

13,7005 

11,2344 

82,0 

0,1486 

1,05 

0,3562 

2,5 

5. 

65,8 

1230 

500 

12,8863 

10,9791 

85,2 

0,1546 

1,20 

0,2577 

2,0 

6. 

66,0 

1100 

500 

11,9222 

10,0862 

84,6 

0,1898 

1,60 

0,2265 

1,9 

7. 

66,0 

1590 

750 

10,8436 

9,0978 

83,9 

0,1975 

1,82 

0,2169 

2,0 

8. 

65,8 

1350 

750 

10,9500 

9,1542 

83,6 

0,1916 

1,75 

0,2519 

2,3 

9. 

65,7 

1200 

600 

13,5728 

11,5912 

85,4 

0,1764 

1,30 

0,2443 

1,8 

10. 

65,5 

1200 

600 

14,6484 

11,9824 

81,8 

0,2549 

1,74 

0,4395 

3,0 

11. 

65,5 

1250 

600 

10,9336 

9,2936 

85,0 

0,1367 

1,25 

0,2187 

2,0 


In der Tabelle I sind verzeichnet: Hammenge und die auBer der 
vorgeschriebenen Kost aufgenommenen Flussigkeitsmengen, der Ge- 
samtstickstoff des Hames und die absoluten und prozentualen Werte 
fiir Hamstoff, Ammoniak und Aminostickstoff. 

Der Stickstoff der Faeces wurde nicht regelraaBig bestimmt; eine 
Erhdhung iiber die auch bei Gesunden zu beobaehtenden Werte wurde 
nicht gefunden. Auch nach der am 8. Versuchstage erfolgten Dar- 


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312 R. Aliera urnl J. Sacristan: 

reichung von 20g nucleinsaurem Natrium (Merck) trat eine Zunahme 
des Kotstickfitoffes — bestimmt aus dem Mittel der zwei folgenden 
Tage — nicht ein. Pighini hat wohl eine solche bei Zufuhr nuclein- 
haltigen Materials beobachtet; doch hat dieser Autor zumeist nicht das 
leicht losliche Natriumnucleinat, sondem Milz oder Thymus verfuttert. 

Dem eigentlichen Versuche ging eine dreitagige Vorperiode voran, 
in der die Versuchsperson sich an die Kost anpassen sollte. 

Der Harn des Kranken reagierte stets deutlich sauer; er enthielt 
weder EiweiB noch Zucker. Ebensowenig gelang es selbst mit den 
empfindlichsten Reaktionen, Aceton in merklicher Menge nachzuweisen. 

Betrachtet man die Tabelle I, so lehrt dieselbe, daB erstens der 
Kranke nicht imstande war, sich vollkommen in das Stickstoffgleich- 
gewicht zu setzen, sondern daB nicht unbetrachtliche Schwankungen 
von Tag zu Tag vorkommen; zweitens, daB von einer absoluten oder 
relativen Vermehrung des Ammoniaks nicht gesprochen werden kann. 
Dementsprechend bewegen sich auch die Harnstoffwerte in durchaus 
normalen Grenzen. 

Bemerkenswert scheint es, daB auch die Tage, die eine negative 
Stickstoffbilanz aufweisen, keinerlei erhebliche Depressionen der pro- 
zentualen Harnstoffwerte erkennen lassen. Zwar sind dieselben etwas 
niedriger, als an den Tagen mit Retention oder annahemdem Gleich- 
gewicht, keineswegs aber unterhalb der physiologischen Breite. Am 
9. Versuchstage sieht man sogar bei negativer Stickstoffbilanz einen 
hohen prozentualen Wert fur den Harnstoff. Dieses Verhalten des Harn- 
stoffes konnte dahin ausgelegt werden, daB es sich bei der Mehrausfuhr 
an Stickstoff in diesem Falle nicht um den Zerfall von KorpereiweiB 
handeln m6chte, sondern um die Abgabe retinierten exogenen stick- 
stoffhaltigen Materiales. Denn der endogene EiweiBabbau ist (vgl. Al- 
lers uber den Stoffwechsel bei Paralyse III) durcb niedrige relative 
Harnstoffwerte ausgezeichnet. Man miiBte also bei Beteiligung des 
endogenen EiweiBumsatzes relativ niedrige Harnstoffwerte an den 
Tagen mit Stickstoffmehrabfuhr bei nicht starker, aber immerhin merk¬ 
licher Ammoniakvermehiung erwarten. 

Eine Stiitze erfahrt diese Auffassung durch die Resultate der Schwe- 
felbestimmungen. Der endogene EiweiBabbau bedingt eine Erhohung 
der relativen Werte fur die Neutralschwefelfraktion, wahrend der exogene 
Umsatz gemeinhin nur die Sulfatfraktionen vergroBert. Eine Ver¬ 
mehrung des Neutralschwefels wurde nicht gefunden 1 ). 

Wir sehen davon ab, die Werte der Schwefelbestimmungen hier ab- 
zudrucken, da denselben weiterhin kein Interesse zukommt, auBer dem 

x ) Allers hat schon friiher (Joum. f. Psychol, u. Neurol. IS. 1910) auf die 
fehlende Neutralschwefel vermehrung bei den Epileptikem im Gegensatz zu 
Kauffmann hingewiesen. 


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Vier Stoffwechselversuche bei Epileptikern. 


313 


Umstande, daB der Quotient Stickstoff zu Schwefel an alien Tagen 
annahemd dem der Nahrung gleicht. Daraus geht ebenfalls hervor, 
daB wahrscheinlich exogenes EiweiBmaterial gelegentlich in irgendeiner 
Form retiniert werden kann und unter uns noch unbekannten Bedin- 
gungen spater erst dem vollkommenen Abbau oder zumindest der Aus- 
scheidung zuganglich wird. 

Auffallend ist es, daB die relativen Werte ftir den formoltitrierbaren 
Stickstoffanteil des Hames an den Tagen mit gesteigerter Stickstoff- 
ausscheidung erh6ht sind. Wir wissen zu wenig von den in dieser Frak- 
tion enthaltenen Verbindungen, um daraus irgendwelche Schllisse ziehen 
zu konnen. t)berdies sind die Ausschlage nicht erheblich. Man kdnnte 
nur die Vermutung auBern, daB es sich um die Ausfuhr irgendwelcher 
komplexerer EiweiBspaltlinge gehandelt habe. 

In der Tabelle II berichten wir uber die Untersuchung des endogenen 
Purinumsatzes und uber Kreatininbestimmungen mittels der colori- 
metrischen Methode. 

Was die letzteren betrifft, so konnen die hier verzeichneten Werte 
als durchaus normal angesehen werden. Da dieselben an den Tagen mit 
erhohter Stickstoffausfuhr keine Steigerung erfahren, erscheint die An- 
nahme, daB diese Vermehrung des Harnstickstoffes in der Tat mit einem 
Zerfall von KorpereiweiB nicht zusammenhangt, weiterhin gestiitzt. 
Denn wir wissen aus den Versuchen von Folin, daB der endogene 
EiweiBumsatz mit einer relativen Kreatininvermehrung einhergeht. 


Tabelle II. 


Ver- 

BUChB- 

Ug 

Harn- 

menge 

Haro- 

N 

Harn- 

»4ure- 

N 

Purin- 

basen- 

N 

Geiamt' 

Purin- 

N 

100-U-N 

Oes.-N 

100-Basen-N 

Pu-N 

Kxea- 

tinin 

100-Kr-N 

Ge8.-N 

1 . 

1600 

12,6780 

0,1045 

0,0230 

0,1275 

1,00 

22,0 

0,6320 

4,9 

2. 

1450 

12,0056 

0,0781 

0,0100 

0,0881 

0,73 

12,8 

0,6065 

5,0 

3. 

1500 

10,4562 

0,0936 

0,0126 

0,1056 

1,00 

13,4 

0,6000 

5,7 

4. 

1650 

13,7005 

0,1108 

0,0120 

0,1228 

0,89 

10,8 

0,6114 

4,4 

5. 

1230 

12,8863 

0,0871 

0,0104 

0,0975 

0,75 

11,9 

0,5886 

4,5 

6. 

1100 

11,9222 

0,0819 

verloren 

— 

— 

— 

0,5682 

4,8 

7. 

1590 

10,8436 

0,0800 

0,0095 

0,0895 

0,84 

11,8 

0,6020 

5,5 

8. 

1350 

10,9500 

0,0798 

0,0074 

0,0872 

0,79 

9,2 

0,5491 

5,0 

9. 

1200 

13,5728 

0,0903 

0,0086 

0,0989 

0,72 

9,5 

0,6400 

4, 7 

10. 

1200 

14,6484 

0,0924 

0,0093 

0,1017 

0,68 

10,6 

0,6338 

4,3 

11. 

1250 

10,9336 

0,0845 

0,0088 

0,0933 

0,84 | 

10,4 

0,5200 j 

4,7 


Die Gresamtpurinausscheidung ist sowohl absolut als relativ ziemlich 
niedrig. Eine Vermehrung der Purinbasen kommt gelegentlich vor, ohne 
daB jedoch erhebliche Anteile des Purinstickstoffes in dieser Fraktion 


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314 


R. Allere und J. Sacristan: 


erscheinen wiirden. Am eraten Tage mag die Zahl fur den Basenstick- 
atoff als relativ zu hoch angeaehen werden; an den anderen Tagen 
aber bewegt er sich annahernd in normalen Werten, wenn er sich auch 
meist hart an der oberen Grenze halt. 

Hervorgehoben darf werden, daB die Steigerungen der Stickatoff- 
ausfuhr nicht von einer ebensolchen der Purinausscheidung begleitet 
wird; denn gerade an den Tagen mit hoheren Werten ftir den Harnstick- 
atoff aahen wir die prozentualen Werte fur den Purinstickstoff absinken. 
Auch darin konnte man, in Anbetracht der Purinfreiheit der Nahrung, 
einen Hinweis auf die exogene Herkunft des mehrausgeschiedenen Harn- 
stickstoffs erblicken, wiewohl eine Beweiskraft dieaem Argument nicht 
zuerkannt werden darf. Das gegenteilige Verhalten aber, eine gleich- 
sinnige Bewegung der Harnatickstoff- und der Purinkurve wtirde aehr 
zugunsten einea endogenen Ureprungs der Steigerungen der Stickatoff- 
ausfuhr aprechen. / 

Wir wollen hier eine Tabelle einachalten, die au8 einem zweiten, 
kurzdauemden Verauche an dem Kranken herrtihrt und una fiber den 
exogenen Purinatoffwechael AufachluB geben aoll. Es wurden nur Harn- 
atickatoff und Purinkfirper bestimmt. Der Stickatoffgehalt der Nahrung 
war deraelbe wie oben. 


Tabelle III. 


Ver- 

suchs- 

tag 

Harn- 

menge 

Gegam t- 
N 

HarDS&ore- 

N 

Basen-N 

Gesamt- 

Purln-N 

100. Pu.-N 

100. Basen-N 

Berner- 

kungen 

Gesamt-N 

Pu.-N 

i. 

1320 

12,3560 

0,0860 

0,0094 

0,0954 

0,77 

10,9 


2. 

1400 

13,5734 

0,2485 

0,0210 

0,2695 

1,98 

8,4 

20 g Na- 

3. 

1460 

13,9688 

0,3061 

0,0544 

0,3605 

2,58 

17,8 

Nucleinat 

4. 

1280 

12,1145 

0,3108 

0,0520 

0,3628 

2,99 

16,7 



Eine anfallaausloaende Wirkung, wie aie Rohde sah, hat die Dar- 
reichung von 20 g nucleinsaurem Natrium nicht entfaltet. Auch Pig- 
hini hat nichts dergleichen beobachtet. Ea iat aber nicht ausgeachlos- 
sen, daB verachiedene Kranke ganz verachieden reagieren. Ea aei auch 
bemerkt, daB eine Steigerung der Stickatoffauafuhr nach der Verffitte- 
rung der Nucleinsaure, wie aie bei Paralytikern vorkommen kann, nicht 
eingetreten iat. 

20 g nucleinaaurea Natrium enthalten nach der von Allers 1 ) mit- 
geteilten Analyse 2,696 g Stickstoff. Aus dem Verhalten der Stickatoff- 
auaacheidung am 2. und 3. Versuchatage geht hervor, daB die gereichte 
Menge reatlos resorbiert und ausgeschieden wurde. An Purinstickstoff 
sind in 20 g Natrium nucleinicum etwa 0,7 g enthalten. Die Mehr- 

H Zeitechr. f. d. ges. Neur. u. Psyoh. Orig. 18 , 71. 1913. 


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Vier Stoffwechselversuche bei Epileptikern. 


315 


ausscheidung betragt in der Tat, wenn man von der Summe der Werte 
des 2. bis 4. Tages den Wert des ersten subtrahiert, 0,7068 g Purinstick- 
stoff, welches Resultat mit dem Verhalten des Harnstickstoffs voll- 
kommen in Einklang steht. 

Die Ausscheidung des exogenen Purinstickstoffs ist erst am 3. Tage 
nach der Darreichung beendet, also einigermaBen verzogert. Ferner ist 
zu bemerken, -daB die relativen Werte ftir die Purinbasen ansteigen, 
wenn auch ohne allzu hoch zu werden. Demnach wird ein Teil der 
exogenen Purinkdrper nicht vollkommen in Harnsaure umgewandelt. 
Die Zunahme des Basenstickstoffs betragt insgesamt 0,118 g; es sind 
also von dem exogenen Purinstickstoff rund 17% in Gestalt von Basen 
ausgeschieden worden. Dieser Wert liegt schon soweit auBerhalb der 
physiologischen Breit^, daB er als abnorm zu bezeichnen ist. 

Zusammenfassend laBt sich liber diesen Versuch sagen, daB bei 
einem genuinen Epileptiker spontane Schwankungen der Stickstoff- 
ausscheidung beobachtet wurden, die nach dem Verhalten des Harn- 
stoffs, des Schwefels, des Kreatinins und der Purinkdrper auf Reten- 
tionen und Ausscheidungen exogenen stickstoffhaltigen Materials be- 
zogen werden dtirfen. Die endogene Purinausscheidung ist niedrig, die 
exogene verlangsamt und insofeme gestdrt, als relativ mehr Basen aus¬ 
geschieden werden. 

Fall II. 

Auch bei diesem Kranken handelt es sich um einen Fall von genuiner 
Epilepsie. Die Krankengeschichte ist die folgende: 

Von der Familiengeechichte des 18j&hrigen G. A. ist niohts bekannt. Der 
Kranke war ein schw&chliches Kind, entwiokelte sich aber kdrpcrlich normal; 
er lernte schwer sprechen. Im Alter von 4—5 Jahren wurde ein nachtliches Zungen- 
schnalzen an ihm bemerkt. Er entwiokelte sich geistig nur langsam und wurde 
erst 1 Jahr epater als iiblich zur Schule geschickt, wo er schwer lernte. Nach der 
Schule girtg er in Lehre. Mit 15 Jahren traten die ersten Anf&Ue in Zwischenraumen 
von 4—5 Wochen auf; die Frequenz derselben nahm zu, und sie treten jetzt fast 
aUwochentlich ein. 

Die Krampfanf&lle werden in typischer Weise beschrieben, doch soli weder 
ZungenbiB noch Hamabgang vorgekommen sein. Es besteht eine Aura. Ver- 
wirrtheitszust&nde wurden nicht bemerkt, wohl aber kurz dauemde Verstim- 
mungen. 

An sonstigen Krankheiten ist nur eine Pneumonie im 2. Jahre zu nennen. 

Das Aussehen des Kranken ist ein vollkommen infantiles. Der korperliche 
Befund bietet keinerlei Besonderheiten. Die Wassermannsche Reaktion ist im 
Blutserum negativ. (Auch anamnestisch fehlt jeder Anhaltspunkt fiir Lues der 
Eltern.) 

Der Kranke ist geordnet, orientiert. Der erste Anfall sei vor 3 Jahren auf- 
getreten. Die Angaben des Kranken decken sich mit den oben wiedergegebenen 
aus der vom Vater gelieferten Ananmese. 

IntellektueU ist der Kranke bedeutend zuriiokgeblieben. 

Am 7. Tage des klinischen Aufenthaltes tritt ein Petit-mal-Anfall auf, indem 


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316 


R. A llers und J. Sacristan: 


der Kranke aus dem Bett sprang, umherlief, nachher nur schwerfallig Antwort 
gab. Es besteht dafiir Amnesie. Ein ausgebildeter Krampfanfall wurde wahrend 
des Aufenthaltes in der Klinik nicht beobachtet. 

Auch bei diesem Kranken kann angesichts der Anamnese und des 
Verlaufes an der Diagnose nicht gezweifelt werden. 

Der Stoffwechselversuch begann am 14. I. 1913 und dauerte bis 
zum 4. II; er umfaBt also 25 Tage mit einer dreitagigen Pause voin 
14. bis 16. Versuchstage. 

Der Kranke erhielt vom 7. Versuchstage an purinfreie Kost mit 
einem Stickstoffgehalte von etwa 15,5 g; das Korpergewicht betrug zu 
Beginn des Versuchs 37,5, zu Ende desselben 38,5 kg. Der hohe Stick- 
stoffwert war notwendig, weil der Kranke sich weigerte, eine andere 
Kost zu nehmen. 

Die Versuchsresultate sind in der Tabelle IV verzeichnet. 


Tabelle IV. 


r 

S Sf 

B " 

> 

Kdrper- 

Gewicbt 

Harn- 

meoge 

Harn- 

N 

Am* 

moniak- 

N 

Amino- 
! N 

1 

O' 0/ 

O -0 

NH,-N NH.-X 

1 

Ham- 

B&ure- 

5 

Basen- 

N 

Purin- 

N 

O' 

/o 

Basen- 

N 

0/ 

/o 

Ptirln- 

N 

Bemer- 

knngen 

1. 

37,5 

1100 

14,3790 

_ 

_ 

_ 

_ 

0,3517 

0,3440 

0,6957 

47,1 

4,8 


2. 

37,5 

1100 

14,3220 

— 

— 

— 

— 

0,3522 

0,3484 

0,6956 

50,0 

4,8 


3. 

37,5 

960 

12,4920 

— 

_ 

— 

— 

0,3107 

0,2989 

0,6096 

49,0 

4,8 


4. 

37,7 

1250 

16,2570 

— 

— 

— 

— 

0,3545 

0,3880 

0,7425 

52,2 

4,5 


5. 

37,8 

1510 

17,5333 

1,9158 

0,0634 

10,9 

0,4 

0,4853 

0,4710 

0,9563 

47,1 

5,4 


6. 

38,2 

1400 

18,0408 

1,8109 

0,0686 

10,0 

0,3 

0,4469 

0,4341 

0,8810 

49,2 

4,5 


7." 

38,0 

1090 

14,0849 

— 

— 

— 

— 

0,0702 

0,0175 

0,0877 

19,9 

0,6 


8. 

38,0 

1200 

14,9232 

1,6094 

0,0504 

10,7 

0,3 

0,0823 

0,0239 

0,1062 

22,6 

0,6 


9. 

37,8 

1350 

17,4069; 1,8383 

0,0756 

10,0 

0,4 

0,0794 

0,0369 0,1163 

34,0 

0,6 


10. 

37,8 

1230 

15,9285 

1,6787 

0,0516 

10,5 

0,3 

0,2698 

0,0518 

0,3216 

16,1 

2,0 1 

11. 

37,8 

1250 

16,1877 

1,6975 

0,0525! 

10,4 

0,3 

0,0984 

0,0132 

0,1116 

11,8 

0,6 1 

12. 

37,8 

1100 

14,2604 

1,3530 

0,0462 

9,4 

0,3 

0,0771 

0,0924 

0,1695 

54,5 

1,1 1' 

13. 

37,9 

1200 

14,7238 

1,7727 

0,0546 

12,0 

0,3 

0,1027 

0,0182 

0,1209 

15,0 

0,8 


17. 

38,2 

1260 

15,0284! 1,6185 

0,0529 

10,4 

0,3 [ 

0,7067 j 

0,0121 

0,7088 

1,7 

4,7 


18. 

38,4 

1200 

13,4736 

1,6238 

0,0504 

12,1 

0,3 

0,1086' 

0,0155 

0,1241 

12,4 

0,8 


19. 

38,5 

1680 

19,0982 

1,5553 

0,0722 ! 

8,1 

0,3 

0,0942 

0,0104 

0,1046 

9,9 ; 

0,5 


20. 

38,7 

760 

8,6397 

— 

— i 

— 

— ! 

0,0655 

0,0101 

0,0756 

13,3 i 

0,8 


21. 

38,5 ! 

1400 

11,4072 

1,9051 

0,0588 

16,7 j 

0,5 ! 

0,0888 

0,0166 

0,1054 

15,7 

0,9 


22. 

38,5 

1220 

11,6677 

1,6705 

0,0512 

14,3 

0,4 j 

0,0810 

0,0094 

0,0904 

10,3 

0,7 ' 

23. 

38,5 

1200 

10,1136 

1,9064 

0.3352' 

18,7 

3,3 

0,0709 1 

0,0127 

0,0836 

15,1 

0,8 

10 g Na- 
Nuki. 

24. 

38,5 

1100 

19,6042 , 

0,8437 

0,1931 

4,3 

0,9 ! 

0,2242 ' 

0,0134 1 

0.2376 

5,6 

1,2 


25. 

38,5 | 

1200, 

12,4488 

0,3410 

0,1857 

2,7 

1,5 j 

0,1139 

0,1387 

0,2486 

55,7 

1,9 



Aus der Tabelle IV lassen sich einige nicht uninteressante Eigen- 
heiten des Stoffwechsels bei dieser Versuchsperson herauslesen. Zu- 


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Vier Stoffwecheelversuche bei Epileptikem. 


317 


nachst begegnen wir wiederum den von den Autoren beschriebenen 
und auch bei unserem ersten Falle beobachteten ungleichmaBigen 
Gange der Stickstoffausscheidung. £s ist ohne weiteres aus den Zahlen 
eraichtlich, daB die Schwankungen der Hamstickstoff werte von der 
Harnmenge unabhangig erfolgen, daB es sich daher bei der Mehraus- 
scheidung nicht um eine Anschwemmung handeln kann. 

Welchen Ursachen diese oft bedeutenden Schwankungen entspringen, 
vermogen wir derzeit nicht abzusehen. 

Einen Anhaltspunkt fiir die Zuruckfiihrung derselben auf exogenes 
stickstoffhaltiges Material gibt das Verhalten des Ammoniaks. Zunachst 
ist dariiber zu sagen, daB die Ammoniakwerte absolut, vor allem aber 
relativ recht hohe sind. Da die Reaktion des Hames stets deutlich Bauer 
war, wurde diese Ammoniakvermehrung das Bestehen einer gering- 
fligigen Acidosis nahelegen. Ein Blick auf die Kolonne der prozentualen 
Werte laBt eine auffallende Konstanz derselben erkennen; die Bewegung 
der Ammoniakkurve geht also der des Harnstickstoffes nahezu voll- 
kommen parallel. Da aber im endogenen EiweiBumsatz die Relation 
Ammoniak- zu Gesamtstickstoff zugunsten des ersteren verschoben ist, 
so muBte eine Mehrausscheidung an Stickstoff, die auf einer Steige- 
rung des endogenen Abbaues beruhen wurde, eine relativ bedeuten- 
dere Steigerung des Ammoniaks herbeif iihren; die beiden Kurven miiB- 
ten nicht parallel gehen, sondem an den Gipfeln konvergieren. (Nur 
wenn man annehmen muB, daB der endogene Umsatz, wie bei der 
Paralyse, nicht zu den normalen Endprodukten ablauft, trifft dies nicht 
zu. Dafiir fehlen hier die Anhaltspunkte.) 

Eine weitere Uberlegung fiihrt zu der gleichen Folgerung. Be- 
rechnet man namlich die mittlere Stickstoffausscheidung der nuclein - 
freien Versuchsperiode (7.—22. Versuchstag), so erhalt man einen 
Durchschnittswert von 14,2946 g; da der Stickstoffgehalt der Faeces 
mit etwa 1—l,5g zu veranschlagen ist, so betragt die durchschnittliche 
tagliche Stickstoffabgabe etwa 15,3—15,8 g; d. h. sie ist kleiner oder 
gleich der Zufuhr. Ein Versuch von 15tagiger Dauer erlaubt wohl auch 
bei Berucksichtigung der bei den Epileptikem zu beobachtenden Schwan¬ 
kungen einige Schliisse auf die Stickstoffbilanz. Wir diirfen also an¬ 
nehmen, daB der Kranke schlieBlich sich im Stickstoffgleichgewicht be- 
funden habe, d. h. daB Retention und Mehrausfuhr einander aufgehoben. 
Daher ist es kaum nioglich, daB das Korpergewebe in irgend nennenswer- 
tem AusmaBe einem gesteigerten Abbaue anheim gefalien sei. 

Auffallend niedrig sind die Werte fiir den Aminostickstoff des Harnes, 
ohne daB wir zu sagen vermochten warum. Da alle Bestimmungen dop- 
pelt ausgefuhrt werden, ist an Versuchsfehler wohl nicht zu denken; 
auBerdem .spricht gegen eine solche Annahme die auBerordentliche 
Konstanz der prozentualen Werte. Es bestatigt sich, wie wir in paren- 


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318 


R. Alien und J. Sacristan : 


thesi bemerken wollen, an diesem Falle die Behauptung Kempners 
von der Konstanz der prozentualen Werte, wahrend Frey dieselbe 
bestritten und eine Konstanz der absoluten Ausscbeidung angenommen 
hatte. Wir wissen nicht, aus welchen Substanzen der formoltitrierbare 
Stickstoffanteil des Harnes besteht; es sei hier auf die Ausfilhrungen 
von Kempner verwiesen. Wir mussen uns begniigen, die Tatsache 
der abnorm niedrigen Ausscheidung bei diesem unseren Kranken zu 
registrieren. Ob dem Umstande, daB die einzige Erhohung der absoluten 
und relativen Werte in die Periode der Nucleindarreichung fiillt, irgend- 
eine Bedeutung zukommt, ist nicht zu entscheiden. 

Besonderes Interesse darf die Purinausscheidung beanspruchen. 
Es sei daran erinnert, daB die ersten 6 Versuchstage hindurch eine purin- 
haltige Kost verabfolgt wurde und erst am 7. die purinfreie Ernahrung 
begann. 

Ein Blick auf die Tabelle zeigt, daB die relative Menge der Purinbasen 
wahrend der Zeit der exogenen Purinzufuhr eine pathologisch hohe ist, 
indem die prozentualen Werte sich zwischen 47 und 52% bewegen. 
Also annahernd die Halfte des Gesamtpurinstickstoffes erscheint in 
Gestalt der Basen, wahrend normalerweise vielleicht 12% die auBerste 
Grenze darstellt. 

Die absolute H6he der Purinausscheidung ist in dieser Phase des 
Versuches natiirlich nicht zu beurteilen, weil der Puringehalt der Nah- 
rung nicht bekannt ist. 

Mit dem Einsetzen der purinfreien Ernahrung sinken die prozentualen 
Werte fiir den in den Basen enthaltenen Purinstickstoff. Sie bleiben 
zwar noch immer nicht unbetrachtlich uber der Norm und weisen am 
12. Versuchstage wiederum ein Maximum von 64,5% auf. Man kdnnte ver- 
sucht sein, an eine exogene Zufuhr zu denken; dennauch bei sorgfaltiger 
Kontrolle ist man nie ganz sicher, daB die Vorschriften exakt eingehalten 
werden. Man kdnnte namlich die Erhohung der Relation Purinstick¬ 
stoff zu Gesamtstickstoff gerade an diesem Tage ebenfalls in diesem 
Sinne verwerten. Dagegen spricht aber, daB die noch bedeutendere 
Zunahme dieses Wertes am 10. Versuchstage (2,0%) von einer gleich- 
sinnigen Bewegung der Basenkurve nicht begleitet ist. Wir mussen 
also die Genese dieser Basenvermehrung dahingestellt sein lassen. 

Nicht uninteressant scheint es, daB die prozentualen Werte des 
Basenstickstoffes desto mehr sinken, je langer die purinfreie Kost ge- 
reicht wird. Die ersten 5 Tage der purinfreien Periode weisen einen 
Durchschnittswert von 21 auf, die letzten 5 einen von 12,3 (dabei wurde 
von den UngleichmaBigkeiten am 12. und am 14. Versuchstage abge- 
sehen). Es k6nnte demnach wohl sein, daB die Ausscheidung exogenen 
Purinstickstoffes noch mehrere Tage nach Beginn der purinfreien Er¬ 
nahrung angedauert habe. 


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Vier Stoffwechselversuche bei Epileptikem. 


319 


Mit dieser Annahme stimmt das Verhalten der Purinausscheidung 
nach Nucleindarreichung iiherein. Denn hier sehen wir eine Steigerung 
des prozentualen Basenwertes erst am 3. Tage auftreten, an dem er 
allerdings sofort die betrachtliche H6he von 66,7% erreicht. 

Die mittlere Stickstoffausscheidung dieser 3 Tage betragt 14,0666 g, 
bleibt also hinter der Zufuhr zuriick. Daher ist es nicht moglich, zu 
berechnen, wieviel von dem miti dem Nueleinat zugefuhrten Stickstoffe 
resorbiert und ausgeschieden wurde. Es ist aber dnrchaus moglich, daB 
dies quantitativ erfolgt sei; denn die Nucleindarreichung fallt in eine 
Phase der Stickstoffretention, was man aus den Werten der Versuchstage 
20—22 entnehmen kann. 

Zur Berechnung der Purinausscheidung wollen wir uns des Mittel- 
wertes aus den Tagen 18—22 bedienen, weil, wie wir sahen, die vorher- 
gehenden einer Beteiligung exogener Ausscheidung verdachtig sind; die¬ 
ser Mittelwert betragt 0,1000 g. Die endogene Purinausscheidung ist 
also niedrig. Am Tage der Nucleindarreichung selbst hat eine Zunahme 
der Purinausscheidung nicht stattgefunden; an den beiden folgenden 
Tagen sind zusammen 0,4862 g, also um 0,2862 g mehr ausgeschieden 
worden. Demnach sind von den 0,36 g Purinstickstoff, die in 10 g 
Nueleinat enthalten sind, rund 80% ausgeschieden worden. Die Re¬ 
sorption muB also wohl ziemlich vollstandig erfolgt sein. 

Am ersten Tage der Mehrausscheidung erscheint der exogene Purin¬ 
stickstoff fast ganz in Gestalt von Harnsaure, wahrend am 2. Tage mehr 
als die Halfte als Basen ausgeschieden werden. 

Ganz analoge Verhaltnisse zeigt die Periode des Uberganges von 
purinhaltiger zu purinfreier Kost. Die Purinausscheidung fallt sofort ab, 
wahrend die Basen relativ hoch bleiben: d. h. die exogene Harnsaure wird 
sofort ausgeschieden, wahrend die exogenen Basen retiniert und erst 
allmahlich eliminiert werden. 

Aus diesen Versuchen geht hervor, wie eminent wichtig die Bestim- 
mung der Purinbasen bei der Untersuchung des Nucleinstoffwechsels 
der Epileptiker ist, und wie wenig sich aus isolierten Harnsaure werten 
entnehmen laBt. 

Ohne im einzelnen darauf eingehen zu wollen, mochten wir darauf 
hinweisen, daB anscheinend auch aus Pighinis Protokollen ahnliche 
Verhaltnisse sich ergeben. 

Wir kdnnen zusammenfassend sagen, daB bei diesem genuinen 
Epileptiker eine Unfahigkeit bestand, sich ins Stickstoffgleichgewicht 
zu setzen; daB diese Unfahigkeit hochstwahrscheinlich sich wesentlich 
auf den exogenen EiweiBumsatz bezog; daB eine absolut und relativ 
vermehrte Ammoniakausscheidung unbekannter Ursache beobachtet 
wurde; daB die endogene Purinausscheidung niedrig war und die Basen 
eine Tendenz zeigten, sich iiber der physiologischen Norm zu halten, 


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320 


R. Allers und J. Sacristan: 


daB endlich die exogene Purinausscheidung verzogert war, diese Ver- 
zogerung aber nur die Basen betraf, die in auBerordentlich vermehrter 
Menge auftraten. 

Von der Steigerung der Ammoniakausscheidung abgesehen, finden 
wir bei diesem Kranken die gleichen Verhaltnisse, wie bei dem ersten, 
nur viel starker ausgepragt. 

Bevor wir an die Darstellung unserer Versuche an zwei nicht genuinen 
Epileptikern gehen, wollen wir einiger vereinzelter Bestimmungen ge- 
denken, die vielleicht nicht ohne Interesse fur die Stoffwechselpathologie 
der genuinen Epilepsie sein konnten. 

Zunachst sind Versuche liber den sauren Ather- bzw. Essigather- 
extrakt des Harnes anzuflihren. 

Allers hat gelegentlich 1 ) darauf aufmerksam gemacht, daB im 
praparoxysmalen Hame bei Epileptikern der Stickstoffgehalt des sauren 
Essigatherextraktes vermehrt sein kann, ohne daB sich eine Zunahme der 
Hippursaure konstatieren laBt. Die Menge der atherldslichen Sauren 
tiberhaupt ist vor dem Anfalle vermehrt, wie Rohde zuerst gezeigt hat. 
Milchsaure nimmt offenbar an dieser Steigerung der atherldslichen Sau¬ 
ren nicht teil; wenigstens ist es weder Rohde noch Allers gelungen, 
aus dem praparoxysmalen Harne milchsaure Salze darzustellen. 

Aus Pighini8 Kurven ergibt sich keine absolute praparoxysmale 
Vermehrung dieser Substanzen, sondern nur eine relative, sowohl in 
bezug auf die Harnmenge als auch auf den Gesamtstickstoff. 

An dem 2. Kranken konnten wir feststellen, daB nach einem nacht- 
lichen petit-mal Anfalle Milchsaure nicht auftrat; wir diirfen darin 
einen neuerlichen Hinweis auf die Abhangigkeit dieser Erscheinung von 
der Muskeltatigkeit erblicken, wie denn auch bei jenen seltenen Fallen 
von Status epilepticus ohne Krampfe Milchsaure zu fehlen scheint 
[Allers 2 )]. Auch im praparoxysmalen Hame fand sich dabei weder 
eine Vermehrung der Sauren noch des Stickstoffgehaltes im essigatheri- 
schen Auszuge. 

Hingegen wurde von Serejsky 8 ) beobachtet, daB gelegentlich auch 
intervallar eine erhebliche Vermehrung des essigatherldslichen Stick- 
stoffes auftreten kann. Wir verweisen auf die Tabelle VIII (S. 526) 
dieses Autors. Die Hippursaure ist dabei nicht vermehrt. Ohne unsere 
Befunde zahlenmaBig anfuhren zu wollen, bemerken wir, daB wir den 
Befund einer postparoxysmalen Kreatininvermehrung, die verschiedene 
Autoren erhoben haben, in mehreren Fallen bestatigen konnten. 

Bei einer groBeren Anzahl von Fallen haben wir nach der von Ka uf f - 
mann mehrfach beschriebenen Ketonurie gefahndet, jedoch ohne Erfolg. 

*) Journ. f. Psychol, u. Neurol. 16. 1910. 

2 ) Diese Zeitschr. 8. 1912. 

3 ) Diese Zeitschr. 18 , 491. 1913. 


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Vier Stoffwechselvprsuche bei Epileptikern. 321 

Ebensowenig wurde jemals bleischwarzender Schwefel beobachtet, 
wenn die Harne eiweiBfrei waren. 

Wir gehen nunmehr daran, liber unsere weiteren Stoffwechsel- 
versuche zu berichten. 

Fall in. 

Krankengeschichte. Die 33j&hrigeK. W. wurde am23. XII. 1912 zur Klinik 
aufgenommen. Die Familienanamnese ergibt, dad ein Bruder der Patientin an 
alkoholischen Psychosen mehrfach erkrankt und deswegen interniert gewesen 
ist; eine Sch wester soil erregt sein, ohne zu trinken. 

Nach Angabe des Ehemannes habe Patientin bald nach der Entlassung 
aus der Schule begonnen zu trinken; mit 16 Jahren und mit 22 Jahren je eine 
auBereheliche Geburt; beide Kinder starben in friihem Alter, das zweite angeb- 
lich an Gehimentziindung und Fraisen. In der im 23. Jahro gesehlossenen Ehe 
gebar Patientin 3 Kinder, von denen 2 leben. 

Pat. trank anfangs taglich l l / t —2 1 Bier, wenig Schnaps, spater immer mehr; 
seit 7 Jahren sei sie Tag fur Tag betrunken, habo Sachen versetzt, urn Schnaps 
zu kaufen, alles vemachl&ssigt. 

1910 erkrankte sie an einer kurz dauemden halluzinatorischen Psychose, 
die als Delir erkennbar ist. 

Im Marz 1912 trat nachts ein Krampfanfall vom Charakter eines epilep- 
tischen Insultes auf. Infolge einer Pneumonic und anderer Krankheiten konnte. 
die Kranke im Sommer 1912 wenig trinken; die Anfalle traten daher selten auf 
und nahmen erst im September 1912 an Zahl und Sch were zu. Seit Novembj 
treten t&glich 3—4 Attacken auf. Es besteht fiir dieselben Amnesie. 

Die Kranke f&llt durch ihr gedunsenes Gesieht auf. Die Muskelmassen und 
Nervenst&mme sind stark druckempfindlich, an den Pupillen und Himnerven 
besteht kein pathologischer Befund. Die Patellarsehnenreflexe sind sehr lebhaft: 
Klonus besteht nicht, auch kein Babinski. Die inneren Organe sind normal, 
Blutdruck 120—140. Im Ham Spuren von EiweiB. YVassermannsche Reaktion 
im Serum negativ. Pat. sehwankt beim Stehen auch mit offenen Augen. Die 
Kranke ist apathisch, antwortet nur auf mehrfaches Dr&ngen, gibt ihren Vor- 
namen, ihr Alter unrichtig an, ist zeitlich nicht orientiert, weifi ihre Hausnummer 
nicht, halt den Arzt fiir einen Herm K., verkennt verschiedene Gegenstande 
oder bezeichnet sie mit verkehrten Worten (Korkzieher = Schliisselzieher). 

Sie ist Suggestionen zuganglich, sieht Hunde, M&use, liest aber nicht vom 
leeren Blatt. Kein Zeichen von „BeschfLftigungsdelir“. Keine Gehorstauschungen. 

Pat. ist weiterhin raumlich und zeitlich desorientiert, sie zeigt Erinnerungs- 
falschungen und Konfabulationen. Es besteht eine hochgradige Merkstorung. 
Die Auffassung ist sehr erschwert, die Stimraung euphorisch. 

Zuweilen ist sie unruhig; es treten auch Gehorstauschungen auf, Beschimp- 
fungen, auf die die Kranke erregt reagiert. VergeBlichkeit, Denkerschwerung, Per- 
sonenverkennung und Desorientierung sind ausgepragt. 

Eine interkurrente Bronchitis erzeugt vorubergehendeTemperatursteigerungen. 

Das klinische Bild stellt sich wohl ohne weiteres als eine alkoholische, 
polyneuritische Psychose vom Korssakoffschen Typus dar; die epilep- 
tischen Anfalle sind bekanntlich bei dieser Erkrankung keineswegs un- 
gewOhnlich. 

Wahrend des klinischen Aufenthaltes kam kein Anfall vor, offenbar 
infolge der Alkoholabstinenz. 

Z. f• d. g. Near. u. Psych. O. XX. 22 


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R. Allers and J* Sacristan: 


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ein lOtagiger Stoffwechselver- 
such vorgenommen, bei dem 
die Sticks toffausscheidung, der 
Hamstoff, das Ammoniak, der 
Aminostickstoff, die Purinstoffe 
und manchmal auch der Schwe- 
fel bestimmt wurden. Es kann 
schon hier vorweggenommen 
werden, dafi irgendwelche er- 
hebliche Storungen des Stoff- 
wechsels nicht angetroffen wur¬ 
den. Die Resultate sind in der 
nebenstehenden Tabelle V ver- 
einigt. Die Kranke erhielt purin- 
freie Kost mit einem Stickstoff- 
gehalt von 12,5 g; am 7. Ver- 
suchstage wurden 20 g nuclein- 
saures Natrium zugelegt. 

Im Vergleich mit den Ver- 
suchsergebnissen bei genuinen 
Epileptikem fallt vor allem die 
Konstanz der Stickstoffaus- 
scheidung auf. Das Mittel der 
ersten 6 Tage betragt 11,1242 g 
und entspricht daher der Ein- 
fuhr von 12,5 g vollkommen, 
da die Differenz den normalen 
Stickstoffgehalt der Faeces dar- 
stellt. Die Kranke vermochte 
sich demnach ins Stickstoff- 
gleichgewicht zu setzen. Die 
Steigerung der Ausfuhr am 7. 
und 8. Versuchstage ist durch 
die Zulage von 20 g nuclein- 
saurem Natrium bedingt und 
wird weiter unten zu be- 
sprechen sein. 

Die prozentualen Harnstoff- 
werte sind vollig normal. 

Das Ammoniak ist absolute 
nicht, relativ vielleicht etwas 
vermehrt. Ebenso zeigt der 


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Vier Stoffwechselversuche bei Epileptikern. 


323 


fonnoltitrierbare Stickstoff des Hams eine leichte relative Vermehrung. 
Die prozentualen Werte liegen zumindest an der oberen Grenze der 
physiologischen Breite. Wir glauben, die Vermutung aussprechen zu 
dtirfen, daB beide Erscheinungen mit der den chronischen Alkoholismus 
ja hOchst wahrscheinlich begleitenden Funktionssttirung der Leber 
zusammenhangen diirften. Sowohl Ammonurie als eine Steigerung der 
Aminostickstoffausscheidung 1 ) sind bei Leberlasionen beschrieben. 

Wenden wir uns nun dem Nucleinstoffwechsel zu, so sehen wir eine 
ziemlich niedrige endogene Purinausscheidung, die aber hinsichtlich der 
Verteilung des Purinstickstoffes auf Harnsaure und Purinbasen durch- 
aus normal ist. Sie ist ferner sehr gleichmaBig, wie die prozentualen 
Werte fiir den Purinstickstoff zeigen. 

Von dem exogenen Purinumsatz hingegen ist zu sagen, daB die Aus- 
scheidung einigermaBen verschleppt ist; denn noch am 4. Tage nach der 
Darreichung von 20 g nucleinsaurem Natrium finden wir eine Er- 
hohung sowohl der Harnsaure wie auch der Basen. 

Die verabfolgten 20 g Nucleinat enthalten 2,696 g Stickstoff; das 
Mittel der Gesamtstickstoffwerte der ersten 6 Tage betragt 11,1242 g, 
die Mehrausscheidung am 7. und 8. Versuchstage zusammen rund 3,0 g. 
Els ist demnach das gesamte Nucleinat resorbiert und der in ihm ent- 
haltene Stickstoff in 2 mal 24 Stunden zum groBten Teil ausgeschieden 
worden; dabei erfolgte die Ausscheidung tiberwiegend in Gestalt von 
Harnstoff, wie die prozentualen Werte fiir diesen Stickstoffanteil be- 
weisen. 

An Purinstickstoff sind in der verabfolgten Menge etwa 0,7 g ent¬ 
halten. Die endogene Purinausscheidung betragt durchschnittlich 
0,1673 g, die Mehrausscheidung 0,6681 g. Demnach ist auch der ge¬ 
samte exogene Purinstickstoff ausgeschieden worden, und zwar in nor- 
maler Verteilung auf Basen und Harnsaure. Pathologisch ist nur die 
lange Dauer der exogenen Purinausscheidung. Man wird das auf den 
chronischen Alkoholismus beziehen dtirfen, bei welchem Poliak ein 
derartiges Verhalten beobachten konnte. 

Wir finden also bei einer Kranken mit alkoholepileptischen Anfallen 
und Korssakoffscher Psychose eigentlich keinerlei Stoffwechsel- 
storungen in einer alkohol- und anfallsfreien Periode. Insonderheit ist 
die Fahigkeit, sich ins Stickstoffgleichgewicht zu setzen, erhalten. Der 
exogene Nucleinstoffwechsel ist verzogert, aber qualitativ normal. 

Fall IV. 

SchlieBlich berichten wir tiber einen kurzdauernden Stoffwechsel- 
versuch bei einem Falle von traumatischer Epilepsie wahrend einer 
anfallsfreien Periode. 

») S. Frey, Zeitschr. f. klin. M«l. 1*. 1911. 

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R. Allers und J. Sacristan: 


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Der 19j&hrige H. L., Maurer, wurde am 18. 1. 
1913 zur Klinik aufgenommen. 

Der Rranke war ateta gesund; von Hereditat 
ist nichts bekannt; Potua nur in geringem Mafie 
zugegeben. 

Am 7. 7.1912 wurde er in den Kopf gestochen, 
war bewuBtloa, kam in die chirurgisohe Klinik, wo 
er verbunden und nach Hause entlassen wurde. 
Nach dem Verbandwechsel am 8. 7. traten Anf&lle 
auf, vorher Kopfachmerzen und Schwindelgefuhl. 
Die Anfalle werden ala epileptiache geachildert und 
treten fast taglich auf. 

Ein heftiger Erregungszustand veranlaBte die 
Aufnahme. Am Sch&del dea Kranken findet aich 
links 3 Querfinger von der Mittellinie am hin- 
teren Ende dea Oa frontale ein Knochendefekt, 
dariiber eine 2 em lange lineare Narbe; man aieht 
und fiihlt an dieser Stelle das Gehirn pulaieren. 
Der Defekt iat von einer handtellergroBen, kreis- 
fdrmigen Narbe umzogen (Deckung durch Trans¬ 
plantation); diese Narbe iat druckempfindlich. 

Die rechte Lidapalte ist weiter ala die linke. 
Pupillen ohne Befund. Der rechte Facialis etwas 
paretiach. Sonst keine Innervationaatorungen. 

Die Kranke iat geordnet, orientiert, klar und 
zug&nglich. 

Es ist wohl, ohne dall man auf die Einzel- 
heiten einzugehen brauchte, klar, daB es sich 
hier um einen Fall wahrer traumatischer 
Rindenepilepsie handelt. 

Der Stoffwechselversuch konnte infolge 
der Abneigung der Kranken gegen die ein- 
formige Kost nach einer dreitagigen Vor- 
periode nur 5 Tage hindurch fortgesetzt 
werden. Die Ergebnisse sind in der 
Tabelle VI dargestellt. 

Die Stickstoffzufuhr betrug etwa 12,5 g ; 
eine purinfreie Ernahrung war nicht durch- 
fuhrbar, weil der Kranke dieselbe verweigerte. 

Die ersten vier Tage sehen wir die Stick- 
stoffausscheidung annahemd konstant blei- 
ben; die Verringerung am 2. Tage diirfte wohl 
mit dem Absinken der Harnmenge zusammen- 
hangen. Die Ausschlage, die zu beobaehten 
sind, k5nnten aber auch auf das unruhige Ver- 
halten des Kranken zuriickzufuhren sein, da 
eine vollstandige Bettruhe nicht zu erzielen 
war. 


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Vier Stoffwechselvereuche bei Epileptikem. 


325 


Die gewaltige Mehrausfiihr am 5. Verauchstage glauben wir auf einen 
heftigen Affektausbruch beziehen zu diirfen; der Kranke war erregt und 
unruhig. Der Versuch mufite abgebrochen werden. 

Die ziemlich hohen relativen Ammoniakwerte erklaren sich aus der 
fleischfreien Kost, die der Kranke zu sich nahm. Die Aminostickstoff- 
werte sind niedrig; warum, ist nicht zu sagen.- 

Die absoluten und relativen Harnstoffzahlen erscheinen als ziemlich 
normal; sie entsprechen den Ammoniakwerten. 

Bemerkenswert ist, daB trotzdem die Zahlen fur den Purinstickstoff, 
in diesem Falle exogenen und endogenen vereinen, dennoch die Basen 
nur einen geringen Bruchteil ausmachen. Demnach konnen wir anneh- 
men, daB sowohl der endogene wie der exogene Purinstoffwechsel normal 
verlauft. 

Die Erhdhung der Purinausscheidung am 5. Tage ist zweifellos auf 
die Unruhe der Kranken zu beziehen. 

Wir kOnnen, zwar angesichts der Schwierigkeiten und der kurzen 
Dauer des Versuches mit Vorbehalt, sagen, daB der Stoffwechsel bei 
diesem Falle von traumatischer Epilepsie als normal zu bezeichnen ist. 

Uberblicken wir nun die Gesamtergebnisse unserer Versuche, so 
glauben wir aus denselben und den in der Literatur bereits niedergelegten 
Erfahrungen vor allem eine interessante Tatsache zu entnehmen. 

Es gibt Falle von genuiner Epilepsie — vielleicht aber kommen bei 
jedem solchen Kranken derartige Perioden vor —, denen das VermOgen, 
sich ins Stickstoffgleichgewicht zu setzen, abgeht. 

Diese Stdrung beruht anscheinend auf Retentionen und Abgaben 
exogenen stickstoffhaltigen Materiales, wie das auch Rohde schon 
angenommen hat. 

Wir sehen daraus, wie schwierig es ist, eine Erscheinung wie die der 
schwankenden Stickstoffauscheidung, ohne weitere Analyse zu ver- 
stehen. Auch bei der progressiven Paralyse findet man einen hochst 
ungleichmaBigen Gang der Stickstoffkurve. Dort aber beruhen diese 
Schwankungen auf ganz anderen Grxinden, namlich dem starkeren oder 
geringeren Hervortreten des endogenen EiweiBumsatzes. Dieser scheint 
bei der genuinen Epilepsie zumindest in den bisher untersuchten Fallen 
und Phasen der Erkrankung normal zu verlaufen. Vielleicht kommt es 
praparoxysmal zuStdrungen desselben. Dariiber werden noch besondere 
Untersuchungen anzustellen sein. 

Wir durfen aus unseren Versuchen femer entnehmen, daB der endo¬ 
gene Purinumsatz zuweilen geschadigt ist, indem relativ zuviel des 
Purinstickstoffes in Gestalt der Basen erscheint. Es ergibt sich daraus, 
daB eine Beurteilung des Nucleinstoffwechsels bei der Epilepsie nur dann 
moglich ist, wenn die Purinbasen bestimmt worden sind, daB isolierte 


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326 R- Allere und J. Sacristan: Vier Stoffwechselverauche bei Epileptikem. 

Hamsiiurewerte, wie wir schon oben bemerkten, keinen SchluB auf die 
Stoffwechselvorgange zulassen. 

Noch starker geschadigt erscheint der exogene Nucleinstoffwechsel. 
Diese Schadigung findet ihren Ausdruck in einer Verschleppung der 
-exogenen Purinausscheidung, und einer bedeutenden Verschiebung des 
Quotienten Basen zu Harnsaure zugunsten der ersteren. 

Sowohl die Stcwungen der Stickstoffausscheidung wie die des Nuclein- 
stoffwechsels fehlen bei zwei nicht genuinen Epileptikern. 

Weit entfernt davon, daraus etwa den SchluB zu ziehen, daB diese 
Storungen der genuinen Epilepsie typisch und eigentiimlich seien, 
mochten wir doch darauf hinweisen, daB sich jedenfalls aus diesen Ver- 
suchen die Moglichkeit ergibt, durch das Studium des intervallaren Stoff- 
wechsels Differenzen zwischen den verschiedenen Krampfkrankheiten 
aufzudecken. 

Die Identitat der postparoxysmalen Stoffwechselveranderungen bei 
Krampfanfallen der verschiedensten Atiologie beweist, wie nochmals be- 
tont sei, nichts gegen die Existenz spezifischer Stoff wechselstdrungen; 
.denn jene Veranderungen sind u. E. nur Ausdruck der motorischen 
Leistung im epileptischen Insult. 

Auch im Falle der genuinen Epilepsie sind wir heute noch nicht in 
der Lage, iiber die Stellung der gefundenen Alterationen des Chemismus 
im Gesamtbilde der Erkrankung etwas auszusagen. 

Wir mochten nur darauf aufmerksam machen, daB sich leicht aus 
der auBerlichen Ahnlichkeit des Stickstoffumsatzes bei der progressiven 
Paralyse und der Epilepsie ein TrugschluB hatte ergeben konnen: 
man hatte annehmen konnen, daB es die diffuse cerebrale Erkrankung 
sei, die in beiden Fallen die Erscheinung der schwankenden Stickstoff¬ 
ausscheidung hervorruft. 

Eine genauere Analyse aber hat uns erkennen lassen, daB diese Er- 
scheinungen keineswegs wesensgleich sind und der Ausdruck ganz ver- 
schiedener Prozesse. Ein EinfluB der zentralen Erkrankung ist zwar 
moglich, aber nicht bewiesen, auch nicht aus dem heute vorliegenden 
Tatsachenmateriale beweisbar. 

Abgesehen von den tatsachlichen Resultaten ergeben, wie wir glau- 
ben, unsere Versuche auch noch die Mahnung, nur nach eindringender 
Zergliederung eines Phanomens auf dem Gebiete der Wechselwirkung 
von Him und Korper etwas iiber dessen Wesen auszusagen. 


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Klinischer Beitrag zurKenntnis der Funktionen des Zwischen- 
hlrns (Encephalitis corporum mammillarium). 

Von 

Dr. Max Meyer. 

(Aus der puychiatrischen und Nervenklinik StraOburg i. E. [Direktor: 

Geheimrat Prof. Wollenberg].) 

(Eingegangen am 24. September 1913.) 

Die Umgrenzung des Begriffs der Intoxikationspsychosen ist von 
jeher auf besondere Schwierigkeiten gestoBen, ganz besondera die Frage, 
was man als Autointoxikationspsychose im eigentlichen Sinne zu be- 
zeichnen berechtigt ist. Solange uns das biologische Moment dieser 
Gruppe wie in der Mehrzahl der dazu gehorigen Krankheitsbilder noch 
so vollstandig unklar ist, kann das nicht weiter verwundern. Anders 
verhalt es sich mit solchen Gruppen, in die die experimentell biologische 
Forschung eine allmahlich beginnende Klarung zu bringen versucht 
hat. Bonhdffer rechnet im Abschnitt der Psychosen, die im Gefolge 
von Allgemein- und inneren Erkrankungen auftreten, auch jene unter 
die Infektionspsychosen, die bei chronischen Krankheiten, welche auf 
einer Stoning der Driisen mit chemischer Korrelation beruhen, wie beim 
Diabetes mellitus, dem Morbus Basedow und dem Morbus Addison 
beobachtet werden. Bei Durchsicht dieser Erkrankungen fallt es aber 
auf, daB die Mannigfaltigkeit der Grunderkrankung in keinem rechten 
Verhaltmis steht zur Gleichformigkeit des psychischen Bildes, in dem 
Sinne, daB die psychische Reaktionsform sich verhaltnismaBig unab- 
hangig zeigt von der speziellen Form der Noxe. 

Bei dem augenblicklichen Stand unserer Kenntnisse von der Korre¬ 
lation der Organe, die wir jetzt kurzweg als Blutdriisen bezeichnen, 
gewinnen diese Worte eine besondere Geltung fur die psychischen Zu- 
standsbilder, die wir bei den Dysfunktionen eines dieser Organe beob- 
achten. Speziell von franzosischer Seite, wie von Sainton, Laignel- 
Lavastine u. a., ist der Versuch gemacht worden, bei diesen „Auto- 
intoxikationspsychosen“ im eigentlichsten Sinne charakteristische, spe- 
zielle psychische Merkmale, je nach dem Hauptorgan, was als der Aus- 
gangspunkt der Psychose erscheint, herauszuarbeiten. So nimmt 
Sainton ganz bestimmte Krankheitssymptome als spezifisch fur eine 
Dysfunktion der Nebennieren, andere wieder fiir solche der Schilddriise 


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328 


M. Meyer: 


und Ovarien an. Dabei fallt aber auf, daB Hauptmerkmale, wie die Ver- 
langsamung der Gedachtnisfunktion, die rasche Ermiidbarkeit, die Er- 
schwerung dee AuffassungsvermSgens und vor allem die allgemeine 
Apathie alien gemeinsam sind. Auch eine Trennung der psychischen, 
Stdrungen bei Morbus Basedow in eine haufigere exagitierte Form mit 
Zeichen von Unstetheit,, iBizarrerien des Charakters und eine melancholi- 
sche erscheint doch recht auBerlich. Es ist eben das psychische Bild 
in der Kasuistik all dieser Falle doch zumeist recht einfbrmig, und 
das Vielfaltige der Symptome auBert sich weniger in dem psychischen als 
in dem neurologischen, resp. dem somatischen Befund. 

Diese Tatsache kann uns nicht verwundem, wenn wir die Erkennt- 
nisse des letzten Jahrzehnts iiber das Wesen der Dysfunktion der Organe 
mit innerer Sekretion, wie sie in der Hauptsache durch die Wiener 
Schule ausgearbeitet worden sind, beriicksichtigen. Wie hoch in den 
psychischen Zustandsbildem das Moment der persdnlichen Veran- 
lagung — diese konstante Unbekannte — einzuschatzen ist, mag dahin- 
gestellt bleiben; je nach dem Uberwiegen der gegeneinander gerichteten 
Dysfunktionen bietet sich uns entweder der Zustand der Apathie mit 
all ihren Begleitmomenten oder der psychischen Erregungsform mit 
gewissen Reizerscheinungen, epileptiformen Anfalien u. a. m. 

Jedenfalls mfichte es vorteilhafter erscheinen, zurzeit als Auto- 
intoxikationspsychosen nur diejenigen Krankheitsgruppen zusammenzu- 
fassen, von denen wir heute wissen, daB sie mit Stdrungen der Organe mit 
chemischerKorrelation in Zusammenhang zu bringen sind, und bei denen 
die biologisch-atiologische Komponente nach unserer heutigen Auf- 
fassung eines exogenen schadigenden Moments entbehrt. Als hierher 
gehdrig waren auBer den oben genannten noch die Erschopfungspsycho¬ 
sen und vielleicht jene von Wagner v. Jauregg besonders in den Vor- 
dergrund gestellten psychischen Stdrungen bei Gastrointestinalerkran- 
kungen zu erwahnen; bei diesen letztgenannten verweist ja E. Meyer 
mit Recht darauf, daB das klinische Bild ebensowenig wie die dabei zu 
erhebenden anatomischen Veranderungen einen Anspruch auf eine 
spezifische Bedeutung machen kdnnen. Bei all diesen Zustanden durfte 
eben doch die experimentell-biologische Forschung mehr Aussicht auf 
Erfolg fiir das Verstandnis vom Wesen und den Bedingungen zur Ent- 
stehungder psychischenZustandsbilder bieten, als der noch soeingehende 
Versuch einer Analysierung der Einzelsymptome. 

Nun hat ja auch gewiB die biologische Forschungsrichtung unter Zu- 
hilfenahme des Tierexperiments verschiedentlich die Erfahrung gezeitigt, 
daB die Ergebnisse bei Tieren durchaus nicht den Erscheinungen, die wir 
unter pathologischen Verhaltnissen beim Menschen beobachten, stets 
entsprechen miissen. Dies riihrt vor allem daher, daB wir unter den 
letzteren Verhaltnissen oft schwer imstande sind, primar-pathogene- 


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Klinischer Beitrag zur Kenntnis der Funktionen des Zwischenhirns. 329 


tisohe Erscheinungen hinsichtlich ihrer Lokalisation von sekundaren 
Wirkungen zu trennen; so sind wir heute noch nicht imstande, trotz 
einer Unzahl von Einzeluntersuchungen sowohl auf experimentell biolo- 
gischer Basis wie auf Grand klinischer Beobachtung am Menschen mit 
gleichzeitigen Sektionsbefunden die Funktionen der Hypophyse von 
denen benachbarter Gehimpartien scharf auseinanderzuhalten. Um so 
mehr Interesse diirfte ein Fall beansprachen, der hinsichtlich seiner 
Lokalisation wie hinsichtlich der eingangs besprochenen klinischen Er¬ 
scheinungen besonders eigenartig gewesen ist, und den bis zu seinem 
Exitus mehrere Monate hindurch zu beobachten sich die Gelegenheit 
geboten hatte; fiir seine Uberlassung zur nachfolgenden Bearbeitung bin 
ich Herm Geheimrat Prof. Wollenberg, fiir Kenntnisnahme des 
Sektionsprotokolls und Einsichtnahme der mikroskopischen Praparate 
Herm Prof. Chiari in Strafiburg zu ergebenem Dank verpflichtet. 

Der Fall betrifft die 35j&hrige Frau eines Gipsers; ihr Mann machte die fol- 
genden Angaben, nachdem die Aufnahme der Anamnese bei der Frau selbst, die 
sehr schwer besinnlich ist, auf groBe Schwierigkeiten stieB: Die Frau soli in ihrer 
Kindheit stets gesund gewesen sein. Im AnschluB an die erste Graviditat vor 
10 Jahren ist sie auffallend stark und seit dieser Zeit blasser geworden. Das Kind 
selbst ist kr&ftig, bietet keine Erscheinungen eines Nervenleidens. Vor 9 Jahren 
zweite Geburt, Fehlgeburt im fiinften Monat. Das letzte Kind, das vor 8 Jahren gQ- 
boren wurde, war bis zum siebenten Monate krank und ist sehr schwftchlich. Seit dieser 
letzten Geburt, die ebenso wie das Wochenbett normal verlief und keinerlei febrile 
Storungen bot, fiihlte sich die Frau in den Beinen stets schwach und klagte zeit- 
weise iiber sehr starke Kopfschmerzen, die anfanglich, in den ersten Jahren, 
hauptsachlich in den Hinterkopf lokalisiert wurden. Im Verlauf der letzten Jahre 
Jahre sollen sie mehr die Stimgegend betreffen. Die Menses zessieren seit die¬ 
ser letzten Schwangerschaft, also seit 8 Jahren, seit der gleichen Zeit besteht ein 
auffallend starker Haarausfall am Kopf. 

Von cerebralen Erscheinungen besteht seit der gleichen Zeit h&ufig Schwindel: 
es wird ihr schwarz vor den Augen, die Gegenst&nde drehen sich um sie, doch ist 
sie niemals dabei hingefallen, hat nie das BewuBtsein verloren, auch hat der Mann 
keinerlei Erscheinungen wie kurze Absenzen oder Anfalle beobachtet. 

Der Appetit war dauemd gut, doch besteht seit 5 Jahren ein auffallend starkes 
Durstgefiihl, so daB Pat. mehrere Liter Wasser im Tag trinkt und entsprechend 
sehr viel Urin lassen muB. 

Im Beginn der Krankheit soli die Frau iiber Schmerzen in der Magengegend 
mit krampfartigen Erscheinungen geklagt haben, doch haben niemals Erbrechen 
oder Zeichen einer Darmstorung (Durchfalle) bestanden. 

lrgendwelche Ausschlage hat die Frau niemals gehabt, eine geschlechtliche 
Infektion wird von seiten des Mannes in Abrede gestellt. Beziiglich eines Trauma, 
das speziell den Schadel getroffen hatte, irgendeiner starken Gemiiteerschutterung, 
eines Nervenchoks od. dgl. weiB der Mann nichts anzugeben. Etwa 6 Wochen 
vor der Aufnahme in die Klinik, die am 24. April 1911 stattfand, fiel dem Manne 
auf, daB seine Frau haufig bei Tage einschlief, und zwar iiber ganz allt&glichen 
Verrichtungen. Sie verhielt sich „merkwiirdig ruhig“, auch war ihm zeitweise ein 
starres Stieren bei seiner Frau in der letzten Zeit aufgefallen. In den allerletzten 
Wochen war sie vergeBlich geworden, machte bei gewohnlichen Hausarbeiten die ein- 
fachsten Dinge verkehrt, besonders indem sie die gleichen Dinge unnotigerweise 


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330 


M. Meyer: 


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mehrmals hintereinander tat, zeigte sich bei Einkaufen ganz gedachtnisschwach, 
wuBte nicht, ob sie diese bezahlt hatte oder nicht, und war den Kindera und Mann 
gegeniiber interesselos und stumpf geworden. Weiter ist dem Mann eine starke 
Schwache, die sich bei ganz leichten kdrperlichen Bewegungen in Herzklopfen und 
Miidigkeitsgefuhl in den Beinen auBerte, im Laufe des letzten Vierteljahres bei 
seiner Frau aufgefallen. AlkoholmiBbrauch hatte niemals bei der Frau bestanden. 

Die korperhche Untersuchung der Frau ergab folgenden Befund: MittelgroBe 
Frau von sehr blasser Gesichtsfarbe, mittelkraftig entwickelter Muskulatur, mit 
auffallend starker Fettanhaufung an samtlichen Extremitaten, den Mammae 
und der Bauchgegend. Es fallt auf, daB die Kopfhaare in Anbetracht des Alters 
sehr diinn und schon stark ausgefallen sind, auBerdem eine mangelhafte Be- 
haarung am Mons veneris und den Axillae. Irgendwelche abnorme Pigmentierung 
der Haut oder Schleimhaute besteht nicht. Die Adipositas hat einen leicht teigi- 
gen myxodematosen Charakter. KeineSchwellung der Lymphdriisen. Das Maximum 
der Korpertemperatur schw'ankte bei der Pat. zwischen 37,2 und 37,9° (Achsel- 
messung). Die Tagesschwankungen betrugen meist einen ganzen Grad, wobei die 
Temperatursteigerungen stets abends waren. AuBer in den letzten Tagen iiber- 
stiegen diese niemals 38°. Der Puls schwankte zwischen 90—110 Schlagen. St&r- 
kere Pulsschwankungen innerhalb von 24 Stunden wurden nicht beobachtet. 

Die Untersuchung der Hals- und Rachenorgane ergab vollkommen normalen 
Befund. Schilddruse nicht vergroBert. 

Auch die Brustorgane normal, die Herzgrenzen nicht verbreitert, die Herz- 
aktion stets regelmaBig und gleichmaBig, der Blutdruck bei mehrfachen Messungen 
ebenfalls normal, 125—110:95—80 mm Hg nach Riva-Rocci. Auch die Bauch- 
organe wurden vollkommen normal befunden; Leber und Milz nicht vergroBert. 

Ur in: Die Urinmengen waren anfanglich groBeren Schwankungen unterworfen, 
zwischen 1800 und 3000 ccm, schwankten nach einigen Tagen, bei gleichraaBiger 
Wasserzufuhr aber nur noch zwischen 2—2 l / 2 Liter. Das spezifische Gewicht des 
Urins schwankte zwischen 1005 und 1009. Bei der Aufnahme betrug das Korper- 
gewicht 81 kg, fiel bis wenige Tage vor der plotzlichen Verschlimmerung allmahlich 
bis auf 71 kg. 

Beziiglich des Nervensystems zeigten sich in der Sensibilitat, Motilitat keine 
Storungen. 

In beiden Beinen bestanden Spasmen maBigen Grades. Die Patellarsehnen- 
reflexe waren rechts wie links gesteigert, doch waren Cloni nicht auslosbar. Auch 
die Achillessehnenreflexe waren beiderseits sehr lebhaft. Das Babinskische 
Phanomen war beiderseits positiv, das O ppenhei msehe ebenfalls vorhanden. 
FuBklonus bestand nicht. Das Verhalten der Reflexe der oberen Extremitaten 
war normal. Der Priifung aller Reflexe wurde ein sehr lebhafter Widerstand ent- 
gegengesetzt. 

Die Bauchdeckenreflexe fehlten (wohl infolge der starken Adipositas?). 

Mehrfache Untersuchungen der Augen ergaben beiderseits normale Seh- 
scharfe 5/5. Die Pupillen ebenso wie die Lidspalten beiderseits gleichmittelweit. 
Die Reaktion auf Lichteinfall sowohl direkt als indirekt beiderseits prompt, ebenso 
auf Naheinstellung der Augen. Die Bewegungen der Augen nach alien Richtungen 
hin vollkommen frei, jegliche Art von Nystagmus fehlte, auch die Priifung des 
calorischen und Drehnystagmus ergab vollig normales Verhalten. DiePriifung 
des Gesichtsfeldes zeigte keine Gesichtsfeldeinschrankung. 

Die mehrfache Untersuchung des Augenhintergrundes, die auch von spezia- 
listischer Seite (Prof. Hart el) bestatigt woirde, ergab stets den gleichen Befund; 
eine leichte Prominenz der etwas geroteten Papillen, um die ein eigentiimlich grauer 
Hof, der^n Grenzen nasal unten nicht ganz deutlich, in deren Bereich die Gef^Be 


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Klini8cher Beitrag zur Kenntnis tier Funktionen des Zwischenhims. 331 


leicht iiberlagert und geschlangelt eracheinen. Nachdem dieser Behind auch mit 
Progredienz des Leidens sich nicht im geringsten verknderte, wurde dieser Befund 
als eben noch innerhalb physiologischer Grenzen liegend erachtet und die anf&ng~ 
liche Annahme der Moglichkeit eines Anfangsstadiums einer Papillitis aufgegeben. 

Mehrfache spatere Kontrolle auf hemianopische Stdrungen hatten nie irgend- 
welch positives Ergebnis. 

Die Hornhautreflexe waren beiderseits vorhanden. Die Innervation der iibrigen 
Himnerven vollkommen normal, irgendwelche Stdrungen des Geschmacks, Ge- 
ruchs, Gehors bestanden nicht. 

Blasen- und Mastdarmstorungen wurden bei der Frau niemals beobachtet. 
Irgendwelche Atrophien an den auBeren Genitalien bestanden nicht. Die spezial- 
arztliche gynakologische Untereuchung (Prof. Schickele) ergab einen etwas kleinen 
Uterus in normaler Stellung, die iibrigen Geschlechtsorgane, Ovarien, Tuben 
von normaler GroBe. 

Die Blutuntereuchung ergab folgeriden Befund: H&moglobin 55%, Erythro- 
cyten 3 200 000, Leukocyten 9800, im Blutbild selbst einc leichte relative Lympho- 
cytose, im iibrigen keine pathologischen Formen — abgesehen von sp&rlichen 
kamhaltigen Erythrocyten. 

Die am 28. April vorgenommene Lumbalpunktion ergab eine wasserheile, 
klare Cerebrospinalfliissigkeit, Druck: 170 mm Hg normale Zahl Lymphocyten. 

Die Wassermannsche Reaktion fiel sowohl im Blut wie in der Spinal- 
fliissigkeit vollkommen negativ aus. 

Eine am gleichen Tage vorgenommene Untereuchung der Nasen- und Keil- 
beinhohlen ergab gleichfalls normalen Befund. 

Durch Herrn Privatdozent Dr. Dietlen wurden mehrfach Rontgenaufnahmen 
der Sella turcica gemacht, die mit Sicherheit ein vollig normales Ver- 
halten dieser Gegend — auch keine Abflachung oder irgendwelche 
anderen pathologischen Ver&nderungen der Schadelknochen — er- 
gaben. 

Hinsichtlich des psychischen Verhaltens bot die Frau bei der Aufnahme 
folgenden Befund: W&hrend sie ortlich wohlorientiert war, zeigte sie sich zeitlich 
vollig unklar, wuBte weder Jahr, Monat noch Tag anzugeben. Auch wie lange sie 
in der Klinik sei, konnte sie nicht sagen. Nach einigem Besinnen gibt sie am 
zweiten Tag an, bereits seit einem Monat in der Klinik zu sein. 

Ihr Verhalten auf der Abteilung war ein korrektes, doch fiel es auf, daB sic 
fast immer, wenn man zu ihr kam, eingeschlafen war und auch w&hrend der Mahl- 
zeiten oft einschlief. Bei der Exploration fiel ein haufiges Gfthnen auf. Sie ver- 
kannte ihre Umgebung, stand nachts oft auf, lief herum und suchte ihre An- 
gehorigen, begab sich aber schlieBlich wieder von selbst zu Bett. 

Die Namen der ihr gezeigten Gegenstande wurden zumeist richtig angegeben, 
doch fiel ebenso wie bei den an sie gerichtcten Fragen ein zeitweises Kleben auf. 
Dabei zeigte sich das Auffassungsvermogen sehr verlangsamt und eine schwere 
Stoning der Merkfahigkeit, so daB sie bereits nach einer Minute zweistellige Zahlen 
wieder vergessen hatte. 

Leichte Rechenaufgaben wurden langsam, aber richtig gelost. 

Das Alter ihrer Kinder wie ihr Geburtsjahr wuBte sie nicht anzugeben, auch 
den Namen der StraBe ihrer Wohnung gab sie zueret vollkommen falsch an; die 
Hausnummer fiel ihr iiberhaupt nicht ein. 

Bei Schriftproben zeigte sich keine wesentliche Storung, auch wurden niemals 
apraktische Stdrungen beobachtet. 

Im Verlauf des Monats Mai trat eine besondere Veranderung des eben geschil- 
derten Zustandes nicht ein, nur muBte Pat. von einer Warterin gefiittert werden, 


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M. Meyer: 


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weil sie nach Einnahme von ein bis zwei Loffeln iiber dem Essen gleich einschlief. 
Auch nahmen die Verwirrtheitszustande in der Nacht etwas zu. 

Im Monat Juni trat ein Zunehinen des psychischen Verfalls ein, so d&B Pat. 
auch bei Tag in den Krankenraumen sich absolut nicht mehr zurechtfand. 

Im somatischen Befund fiel eine starke Uberempfindlichkeit bei Beriihrung, 
besonders der Extremit&ten, und bei Bewegungen auf. Pat. lag jetzt dauernd im 
Bett, sie war zeitlich und ortlich vollkommen desorientiert, reagierte auf an sie 
gerichtete Fragen meist nur mit ja oder nein. Gegen Ende des Monats, wahrend 
dessen auch die korperliche Schw&che so stark geworden war, daB sie sich nicht 
mehr allein aufzusetzen vermochtc, lag sie vollkommen apathisch zu Bett. Der 
Puls schwankte dauernd zwischen 120—130, die Temperatur, wie oben bereits er- 
wahnt, war ebenfalls bis 38 allabendlich erhoht. 

Am 9. Juli trat eine plotzlichc Vcrschlimmerung mit j&hem Temperatur- 
anstieg bis zu 39,2 und 160 Pulsfrequenz auf. Die Pat. wurde vollkommen benom- 
men, schwitzte sehr stark; Krampfe oder krampfartige Erscheinungen wurden 
nicht beobachtet. Am anderen Morgen trat nach weiterer Zunahme der Temperatur- 
steigerung auf 40,2° der Exitus ein. 

Fassen wir den Fall in seinen klinischen Erscheinungen nochmels 
kurz zusammen, so handelt es sich urn eine 32 jahrige Frau, bei der wohl 
im AnschluB an ein Wochenbett allmahlich innersekretorische StOrungen 
aufgetreten sind, in deren Beginn augenscheinlich Erscheinungen von 
seiten des Digestionstraktus aufgetreten waren; wiewohl sich diese 
spaterhin vollkommen verloren haben und zur Zeit des klinischen Auf- 
enthalte nicht mehr bestanden, erscheinen sie im Hinblick auf die 
Beobachtungen von Autointoxikationspsychosen im AnschluB an 
Gastrointestinalerkrankungen, wie sie neben anderen besonders v. Wag¬ 
ner beschrieben hat, nicht ganz ohne Interesse, und zwar deshalb, weil 
sie als Initialerscheinung ausgesprochener Psychosen, allerdings meist 
mehr vom Amentiatypus, doch nicht so seiten zu sein scheinen. Natiir- 
lich erscheint es in keiner Weise angangig, ihnen irgendeine pathogno- 
inonische Bedeutung beilegen zu wollen. Was die in derKlinik selbst be- 
obachteten Symptome anlangt, so bestanden sie, wenn wir zunachst von 
den psychischen absehen, in dem Zessieren der Menses, in Haarausfall, 
der allmahlich zunehmenden allgemeinen Adipositas und der Polyurie 
und Polydipsie, femer in Spasmen in beiden unteren Extremitaten 
und einem ganz unsicheren, wenig ausgesprochenen Befund am Augen- 
hintergrund. Nicht bedeutungslos erscheinen femerhin die leichten, 
aber dauemden Temperatursteigerungen, die Pulsbeschleunigung sowie 
die relative Lymphocytose im Blutbild. Von psychischen Erscheinungen 
waren bereits bei der Aufnahme die starke Schlafsucht, die zeitliche 
Desorientiertheit, schwere Storungen des Gedachtnisses und die Zeichen 
der Auffassungs- und Merkfahigkeitsstorungen ausgesprochen. Dabei 
bestand eine starke gemiitliche Stumpfheit, eine schwere allgemeine 
Apathie mit starker Verlangsamung der sprachlichen und motorischen 
Funktionen. Der rasch progrediente Verlauf kommt im allgemeinen 
korperliehen Verfall, am starksten aber in den psychischen Funk- 


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Klinischer Beitrag zur Kenntnis der Funktionen des Zwischenhirns. 333 

tionen zum Ausdruck, dabei treten noch traumhafte Verwirrtheits- 
zustande, anfanglich nur nachts, spater auch am Tage hinzu; unter 
Zunahme dieser Erscheinungen erfolgt ein rasches Versiegen samtlicher 
psychischen Funktionen und unter hochgradiger tlberempfindlichkeit 
der Haut und Tiefenteile bei den minimalsten korperlichen Bewegungen, 
bis bei plCtzlichem Temperaturanstieg Exitus, ohne jegliche Krampf- 
oder Reizerscheinungen eintritt. 

Die somatischen Erscheinungen, wie die Polyurie, die trophischen 
Stdrungen, wie der Haarausfall und die Adipositas, sowie die Funktions- 
stOrung von seiten der Ovarien muBten zunachst das Augenmerk auf 
eine Stoning der heute als ,,Blutdrusen“ bezeichneten Organe lenken. 
Von diesen schieden mangels eines lokalen Befundes die Ovarien und 
Schilddriise als primare Ausgangspunkte von vomherein aus. Auch die 
Annahme einer primaren Erkrankimg von seiten der Nebennieren war 
a priori bei dem somatischen Befund, dem Fehlen der Haut- oder Schleim- 
hauterscheinungen und von Stdrungen im Verhalten des Blutdrucks nicht 
gerade wahrscheinlich, wiewohl die gleichen psychischen Symptome nach 
Laignel -Lavastine, Rothschild u. a. in progredienten Fallen des 
Morbus Addison auch beobachtet werden. Was den inikroskopischen 
Befund der Nebennieren selbst anlangt, wo wird im AnschluB an den 
Sektionsbefund auf eine Beziehung der Nebennieren zur Allgemein- 
erkrankung spaterhin noch einmal kurz einzugehen sein. Immerhin 
lieB das Gesamtbild des Symptomenkonplexes naturgemaB zunachst 
an eine Affektion, die mit der Hypophyse in Zusammenhang gebracht 
werden muBte, denken, ohne daB eine genauere lokalisatorische Diagnose 
moglich erschien. 

Die Sektion, die Herr Prof. Chiari die Freundlichkeit hatte, selbst auszu- 
fiihren (10. Juli 1911) ergab nun folgenden Befund: 

Der Korper 158 cm lang, kraftig gebaut, mit reichlichem Panniculus, auf der 
Riickseite blaBviolette Hypostasen. Haupthaar dunkelbraun. Pupillen ziemlich 
eng, gleich. Hals kurz. Thorax mittellang. Mammae groB, fettreich. Unterleib 
mkBig ausgedehnt. Die Pubes crinosae sparlich, Axillae haarlos. Nirgends auf der 
Haut und sichtbaren Schleimhauten abnorme Pigmentationen. 

Die weichen Schadeldecken ziemlich blaB, der Sch&del 50,5 cm im Haupt- 
umfang, diinn, seine Innenflachen glatt. Die harte Himhaut nicht gespannt. 
Im Sinus falciformis maj. frisch geronnenes Blut in mittleren Mengen, der gleiche 
Inhalt in den basalen Sinus. Auch an der Basis des Sch&dels die Knochen glatt. 
Die Hypophyse nicht vergroBert, die basalen Arterien normal, die Nerven 
an der Basis von normalem Verhalten, ebenso das Infundibulum; auff&llig 
nur, daB die Corpora mamillaria grau sind. Die inneren Meningen zart 
von mittlerem Blutgehalt. Das Gehim gleichfalls von mittlerem Blutgehalt, nur 
etwas feuchter. Im Gehirn nirgends eine Herderkrankung. Die Ventrikel 
nicht erweitert. 

Das Riickenmark von mittlerem Blutgehalt und gewohnlicher Querschnitts- 
zeichnung. 

Das Fettgewebe des Rumpfes von blaBgelber Far be und normaler Konsistenz. 


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M. Meyer: 


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Das Zwerchfell rechts an der 3., links an der 4. Rippe. 

Im linken Schilddriisenlappen ein kubisches Adenom von 5 cm im Durch- 
messer, sonst die Schilddriise blaB, die Schleimhaut der Halsorgane ohne patho- 
logischen Befund, ebenso die Tonsillen. 

Die rechte Lunge total angewachsen, von mittlerem Blutgehalt und von schau- 
migem Serum durchtrankt, iiberall lufthaltig, die linke Lunge ebenso beschaffen. 
Im Herzbeutel nur etwa 10 ocm klaren Serums. Das Herz dem Korper entsprechend 
groB, seine Klappen zart, ebenso auch die Intima der groBen Gef&Be, nur im TeL 
lungswinkel der Carotides communes leichte streifige Intimaverdickung. Oeso¬ 
phagus blaB. Die peribronchialen Lymphdriisen stark anthracotisch. 

In der Bauchhohle kein abnormer Inhalt. Leber ziemlich blaB, in ihrer Blase 
nebst schleimiger heller Galle 8 bis zu 2 ccm groBe polyedrische Gallensteine. Die 
Milz gewohnlich groB, von mittlerem Blutgehalt und gewohnlicher Durchschnitts- 
zeichnung. Die Nieren blaB, mit ganz glatter Oberflache. Die Nebennieren auf- 
fallend diinn; die rechte 3,2, die linke 3,5 g schwer, auf Durchschnitten aber doch 
Rinde und Mark zu unterscheiden! Mikroskopisch ergaben sich in Mark und Rinden- 
zone normale histologische Verhaltnisse. In der Hamblase klarer heller Ham, ihre 
Schleimhaut blaB. Vagina glatt. Uterus auffallend diinnwandig, seine Blutgef&fle 
deutlich verdickt. Die Ovarien wenig gekerbt, die Tuben normal. Magen und Darm 
ohne Befund. Pankreas gewohnlich groB, blaB. 

Die Untersuchung der Halsmuskulatur auf Trichinen ergab negatives Resultat. 
Das Mark des allein aufgeschnittenen Os humeri erwies sich als teils rot, teils lipo- 
matos. Die mikroskopische Untersuchung des Knochenmarks des rechten Humerus 
im Deckglas in Ehrlichs Triacidfarbung zeigte neutrophile, granulierte, poly- 
morphkernige Myelocyten, eosinophile, granulierte Leukocyten, Erythrocyten, 
kemhaltige Erythrocyten, also gewohnlichen Befund der normalen histolo- 
gischen Verhaltnisse. 

Die bakteriologische Untersuchung der Galle aus der Gallenblase ergab ne¬ 
gative Kulturen. 

Schnitte von der Herz wand, der Leber, Milz, der Hypophyse, dem 
Chiasma nervorum opticorum und Medulla spinalis ergaben durchweg 
normale Verhaltnisse. 

Frontalschnitte der beiden Corpora albicantia erwiesen in denselben 
starke Entziindung mit reichlich perivascularen Lymphocyten, sowie Vermehrung 
der Glia und des Bindegewebes, besonders an der AuBenflkche. 

Sieben als verdachtig fiir chromaffine Korper aus der Gegend der Wurzel der 
Arteria meseraica superior et inferior herausgeschnittene Korperchen erwiesen 
sich als Lymphdriisen. Auch in der Umgebung derselben konnten in den mikro- 
skopischen Schnitten keine chromaffine Zellen gefunden werden. In den Sinus 
der Lymphdriisen waren stellenweise rote Blutkorperchen neben groBen Endo- 
thelien enthalten. 

Die mikroskopische Untersuchung von Schnitten aus den verschiedensten 
iibrigen Partien des Gehirns, wie dem Gyrus rectus, dem Lobus frontalis sinister, 
Paracentralis dexter, temporalis sinister, sowie dem Cerebellum und der Medulla 
spinalis ergaben durchweg bei den verschiedensten F&rbungen (mit van Gieson, 
H&matoxylin-Eosin und Kresylviolett) vollig normale histologische Verhaltnisse. 
Ober die genaueren histologischen Befunde in den betroffenen Gegenden der Cor¬ 
pora mamillaria, speziell auch der Beziehungen zu der Pars intermedia und dem 
Stiel der Hypophyse, wird spaterhin noch eingehender berichtet werden. 

Die pathologisch-anatomische Diagnose des Falles lautete nach dem obigen 
Refund somit: 

Inflammatio corporuni mamillarium. 


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Klinischer Beitrag zur Kenntnia der Funktionen des Zwisohenhirns. 335 


Hypoplasia glandularum suprarenalium, 

Adenoma glandulae thyreoideae, 

Cholelithiasis. 

Epikritisch hatten wir uns zunachst mit den verschiedenen Zustan- 
den, die man mit der Hypophyse in ursachlichen Zusammenhang zu 
bringen gewohnt ist, auseinanderzusetzen. DaB wir es mit einer direk- 
ten Schadigung dieses Organs im Sinne einer Hyperfunktion nicht 
zu tun hatten, dafiir sprachen das Fehlen sowohl akromegalischer Er- 
scheimmgen wie zweier Hauptkriterien, die, wenn auch nicht absolut 
notwendig, so doch nach unseren jetzigen klinischen Erfahrungen bei 
schweren Schadigungen dieses Organs angenommen werden miissen: 

1. der fiir jene Gegend charakteristischen Sehstorungen beziiglich der 
Einschrankungen des Gesichtsfeldes wie der bitemporalen Hemianopsie, 

2. der im Rontgenbild nachweisbaren destruktiven Prozesse an der 
Sella turcica und schlieBlich 

3. der im weiteren Verlauf immerhin haufigen nasopharyngealen 
Erscheinungen. 

Auch an die unklaren Falle von Meningitis serosa unter dem Bild 
hypophysarer Erkrankungen, wie sie zuerst von Kurt Goldstein be- 
schrieben worden sind, war unter diesen Umstanden zu denken, ganz be- 
sonders mit Riicksicht darauf, daB das Rdntgenbild hinsichtlich des 
Befundes an der Sella turcica so vollkommen im Stich lieB, wenngleich 
nach Erdheim und Schuller auch in diesen Fallen eine Flachheit der 
Sella ohne Hypophysentumor beschrieben wird. Nur pflegt in 
diesen Fallen meist ein Trauma den Symptomen voranzugehen. In 
denen von Goldstein bestand beiderseits ausgesprochene Stauungs- 
papille, ein Wechsel des Verlaufes, Schmerzhaftigkeit der Wirbeldom- 
fortsatze und auffallend ziehende Schmerzen in der Brust, wahrend 
gerade die Kopfschmerzen zuriicktraton. 

Es bheben dann noch zwei Zustandsbilder, bei denen eine Mit- 
beteiligung der Hypophyse im Sinne einer Dys-, bzw. Hypof unktion 
nach unseren heutigen Auffassungen mit in Betracht zu ziehen ware, 
die beide in dessen auch symptomatisch noch keineswegs scharf 
begrenzt erscheinen. 

Als eines dieser beiden haben wir die Insuffisance pluriglandu - 
laire anzusehen. Inwieweit diese als eine einheitliche Krankheitsform 
uberhaupt anzusehen ist, mag dahingestellt bleiben. Wenn wir darunter 
nicht die multiple Blutdriisensklerose im Faltaschen Sinne, sondem 
die pluriglandularen Syndrome mehr in Anlehnung an die urspriinglichen, 
von Claude und Gougerot im Jahre 1907 in der Literatur nieder- 
gelegten Falle verstehen, so bietet unser Fall wohl manche mit diesen ge- 
meinsamen Ziige. Wir hatten vielleicht den Typus eines thj^reo-hypo- 
physaren-suprarenalen Syndroms (k pr&lominance-hypophysaire). Bei 


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336 


M. Meyer: 


der M&glichkeit der Kombination oder Paralysierung von Ausfalls- 
eracheinungen mit Oberfunktionszustanden der einzelnen Organe konnen 
ja die allermannigfaltigsten Krankheitsformen dabei auftreten. Klinisch 
handelt es sich neben dem ailgemeinen Krafteverfall und der alimahlich 
zunehmenden Abmagerung zuraeist um schwere Storungen endokriner 
Funktionen; je nach dem Sitz der verechiedenen meist sklerotischen 
Prozease, die eine infektiose, luetische oder tuberkulose Ureache wohl 
in der Mehrzahl der Falle haben, pradominieren bald mehr cerebrale 
Eracheinungen, dann wieder mehr solche von seiten des Skelettwachs- 
tums oder solche wie Haarausfall, Trockenheit der Haut, Mangel an 
SchweiBabBonderung u. a. m. Unser Fall, mit den im Vordergrund 
stehenden cerebralen Eracheinungen hat mit einem der ersten diea- 
beziiglichen Falle — jenem von Rumpel — hauptsachlich hinsichtlich 
der psychischen Eracheinungen eine unverkennbare Ahnlichkeit. 
In beiden bestehen die Abnahme des Gedachtnisses, die Apathie und 
Schlafsucht, daneben als Storungen vegetativer Funktionen der Fett- 
ansatz in Form teigig-myxodemartiger Veranderungen sowie die Poly- 
dypsie und Polyurie. Indessen scheint doch als abweichendes Moment 
die hochgradige Atrophie der Genitalien fiir die Einreihung in jenes 
Krankheitsbild nicht ohne Bedeutung. Nun lieBe sich zweifellos in 
unserem Fall auch der Befund an den Nebennieren, die Hypoplasie 
beider Nebennieren und das Adenom der Schilddriise im Sinne einer 
pluriglandularen Stdrung heranziehen. Doch scheint eine derartige 
Deutung des Falles deshalb wenig angangig, weil wir klinisch keinen 
rechten Anhaltspunkt fiir eine Mitbeteiligung der Nebennieren und der 
Schilddriise hatten und derartige Befunde haufig (Strada) bei der Sek- 
tion festgestellt werden konnen, ohne daB vorher diesbeziigliche Er- 
scheinungen beobachtet waren,' und wohl deshalb eher die Auffassung 
gerechtfertigt erecheint, daB es sich um eine rein sekundare Mitbeteili¬ 
gung bei der Korrelation von Hypophyse zu Nebennieren und Schild- 
driise handelt. Wir mochten auch in diesem Falle bei dem heutigen Stande 
unserer Kenntnisse iiber das Verhalten der Blutdriisen und der Schwierig- 
keit einer Lokalisation der prim are n Erkrankung mehr geneigt sein, 
den Befund an den Nebennieren als Ausdruck einer rein funktio- 
nellen Mitbeteiligung bei den vielfachen Wechselbeziehungen 
zwischen den innersekretorischen Organen anzusehen. 

So blieb denn zum SchluB noch unter der groBten Wahracheinlichkeit 
einer rein cerebralen Genese die dritte Form einer Dysfunktion der Hypo¬ 
physe, die Dysplasia adiposo genitalis iibrig. Bei diesem zueret durch- 
den bekannten Fall von Frohlich aufgestellten Krankheitsbild, das in 
erster Linie bei jugendlichen Individuen vorzukommen scheint, stehendie 
Storungen endokriner Funktionen, wie die hochgradige Fettablagerung 
an Bauchdecken, Knien, Mammae und Genitalien, die Polyurie, der 


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Kiinischer Beitrag zur Kenntnis der Funktionen des Zwischenhirns. 337 

Haarausfall sowie die Hypoplasie der Genitalorgane mit Zeichen mangel- 
hafter Keimdriisentatigkeit, wie Amenorrh6e und Hypoplasien der sekun- 
daren Geschlechtscharaktere (geringe Ausbildung der Achsel- und Scham- 
haare) im Vordergrund. Insofem also eine entschiedene Ubereinstim- 
mung mit unserem Fall; nur muBte, abgesehen von dem Fehlen der 
bereits oben als besonders wichtig hervorgehobenen Pimkte, wie der 
Destruktion des Keilbeinkdrpers und der cerebralen Erscheinungen 
von seiten der Chiasmagegend und jeglicher Zeichen einer DruckerhOhung 
in unserem Falle, wiederum das Fehlen ausgesprochener hypoplastischer 
Erscheinungen an den Genitalorganen und von Storungen im Skelett- 
wachstum und Zeichen von Infantilismus an der Annahme eines solchen 
Krankheitsbildes stutzig machen. Auch ist der ziemiich rase he pro- 
grediente Verlauf nicht gerade ein haufiger Befund, vielmehr wird als 
charakteristische Eigentiimlichkeit das Remittieren der Symptome, vor 
allem der Sehstorungen und der cerebralen Erscheinungen angegeben. 
Auch die zu den haufigeren Symptomen gehflrenden epileptischen 
Anfalle, die mit den Gyrus hippocampi in Beziehung gebracht 
zu werden pflegen, fehlen in unserem Falle; dagegen waren die psychi- 
schen Symptome, auf die Fran kl-Hoch wart in Beziehung zu diesem 
Krankheitsbild hinweist, wie die Stumpfheit und die zeitweise Verworren- 
heit, ausgesprochen. So lieBe sich dieser Fall in keines der Symptomen- 
bilder, die wir im Zusammenhang mit der Hypophyse bringen, so recht 
einreihen, am ehesten hatte er noch gemeinsame Ziige mit dem letzt- 
besprochenen Symptomenkomplex. 

Diese diagnostische Unklarheit ist ,,physiologisch“ durchaus be- 
griindet; denn noch bis in die jiingste Zeit sind wir uns gerade iiber 
die Frage, inwieweit alle die im vorigen besprochenen Erscheinungen 
AuBerungen einer eigentiichen Stoning der Hypophyse sind, keines- 
wegs klar. So sind die Meinungen iiber die Beziehung der Dys¬ 
plasia adiposo-genitalis zum Hypopituarismus noch durchaus geteilt; 
wahrend Frohlich, Marburg und Frankl - Hochwart eine direkte 
Beziehung annehmen, laBt B. Fischer nur eine indirekte im Sinne 
einer Schadigung desHinterlappens gelten, wahrend nach der Erdheim- 
schen Theorie der Symptomenkomplex der Dysplasia lediglich als der 
Ausdruck einer Schadigung trophischer Zentren an der Hirnbasis infolge 
raumbeengender Prozesse anzusehen ist. Inwieweit bei solchen in- 
direkten Schadigungen St6rungen in den Sekretabfuhrwegen oder in den 
GefaBen, die von der Hypophyse kommen, mit im Spiele sind, erscheint 
zurzeit noch vollig unklar, ebenso wie der EinfluB des Infundibulums 
und benachbarter hypothetischer Zentren fur vegetative Funktionen auf 
die Hypophyse selbst. Es liegt nicht im Rahmen dieser Betrachtung, 
im einzelnen festzustellen, wie diese verschiedenen Theorien sich zu 
diesem Fall verhalten. Diesbeziiglich sei auf das von J. Bauer in dieser 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XX. 23 


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338 


M. Meyer: 


Zeitschrift erstattete Referat sowie auf die zusammenfassenden Arbeiten 
von Strada und Pick verwiesen. Immerhin mdchten wir in Anlehnung 
an die wertvollen Untersuchungen von Aschner doch so weit gehen, 
anzunehmen, daB wir die mit dem Skelettwachstum zusammenhangen- 
den Storungen und solche der Genitalfunktionen prinzipiell zu trennen 
haben von den anderen hypophysaren Erscheinungen. Fur die Akrome- 
gaiie erscheint die hyperpituiaristisch wirkende spezifische Geschwulst 
des Hypophysenvorderlappens maBgebend. Wenn wir dagegen die durch 
Strada und Pick zusammengestellten 34 Falle von Dysplasia adiposo- 
genitalis iiberschauen, so finden sich darunter 23 mit Neoplasmen, 
die die Hypophyse selbst betrafen, wahrend elfmal die angrenzenden 
Partien, wie das Trigonum intercrurale, das Chiasma, die Crura cerebri 
bis zur Briickengrenze in ursachlichem Zusammenhang mit dem Sym- 
ptomenkomplex standen. Samtlichen Fallen lag indessen ein Tumor zu- 
grunde, der im Gegensatz zu den Befunden bei der Akromegalie ganz ver- 
schieden hinsichtlich seiner Qualitat, seiner Ausbreitung und seines Ur- 
spnmgs war. Nur betont Pick als ganz besonderes, ihm bedeutsam er- 
scheinendes gemeinsames Moment der Befunde, daB das Wachstum 
stets kranialwarts gegen den Boden des 3. Ventrikels gerichtet war, und 
eine Tendenz zum Ubergreifen auf die Himbasis, wenn nicht direkte 
Kompression dieser darbot. Fiir ihn ist also mehr in Annaherung an die 
Erdheimsche Auffassung maBgebend, daB die Geschwulst direkt oder 
indirekt den Hypophysenhinterlappen oder Infundibulum oder Boden 
des 3. Ventrikels beeintrachtigt, „sofem nur iiberhaupt eine intra- 
kranielle Geschwulst vorliegt und nicht ein bloBer chronischer Hydro- 
cephalus". Wahrend die speziellen anatomisch-physiologischen Ab- 
weichungen der Hypophyse ihm bedeutungslos erscheinen, sind die 
trophischen Zentren der Himbasis also fur ihn maBgebend. 

Auch Falta laBt die M6glichkeit offen, daB durch Schadigung von 
Zentren in der Regio hypothalamica und Veranderungen des Zwischen- 
hirns ahnliche Erscheinungen resultieren konnen, wie wenn die Hypo¬ 
physe selbst betroffen ist, unter diesbeziiglicher genauer anatomischer 
Untersuchungen der betreffenden Gegenden. Auch konnte Aschner 
bei Verletzung der gleichen Gegend Fettsucht erzeugen, und Oppen- 
heim hat anderseits vor langerer Zeit schon darauf hingewiesen, daB bei 
Erkrankungen der Regio subthalamica und des Chiasma gumm5ser 
oder tuberkuloser Art als ein haufiges Symptom die Polyurie zu beob- 
achten ist. Es muB allerdings zugegeben werden, daB hinsichtlich der 
mit groBer Wahrscheinlichkeit auf die Hjrpophyse zu beziehende Er- 
scheinung der Cessatio mensum eine gewisse funktionelle, ev. sekundare 
Mitbeteiligung der Hypophyse doch nicht von der Hand gewiesen werden 
kann. Auch muB die Frage, wie man sich die spastischen Symptome in 
den unteren Extremitaten erklaren soil, offen bleiben. Wir sehen eben 


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Klinischer Beitrag zur Kenntnis der Funktionen des Zwischenhirns. 339 

immer wieder neue Abarten bei den Erkxankungen in der Qegend des 
Trichters, die uns von neuem Bedenken aufdrangen mtissen, alle jene 
StOrungen vegetativer Funktionen dem Tuber cinerium undHypophysen- 
stiel, geschweige denn der Hypophyse selbst als primarera Ausgangspunkt 
zuzuschreiben. Ganz besondere Bedeutung gewinnt aber der Fall meines 
Erachtens deshalb, weil die Zubilfenahme eines beliebten, die Hypophyse 
„belastenden“ Moments-Druckwirkung durch Tumoren, oder Cysten- 
bildung, oder irgendwelche Einfliisse auf die Sekretabnahme, besondere 
die Pare intermedia, auf die Biedl neuerdings mit besonderem Nachdruck 
Aschner gegeniiber hinweist, oder wie es von verechiedenen Autoren 
bezeichnet werden mag, wie auch jedwede sekundare Schadelverande- 
rung am Schadeldach, hydrocephale Fliissigkeitsansammlungen, lepto- 
meningitische Prozesse auf tuberkulbser oder luetischer Basis —, hier 
samtlich nicht in Betracht kommen, und trotzdem eine Reihe der glei- 
chen Stdrungen, mit denen jene Theorien zu rechnen pflegen, vorhanden 
gewesen sind. In unserem Fall, wo die ganze Gegend von Chiasma, 
Hypophyse, Infundibulum und Tuber cinerium einer eingehenden mikro- 
skopischen Untereuchung in Serienschnitten, auf die noch an anderer 
Stelle spaterhin naher ein gegangen werden wird, unterzogen wurde, 
beschrankte sich eben die Lokalisation eines makroskopisch auf eine 
pathologische Affektion bereits verdachtigen Prozesses auf entziindliche 
Vorgange in den Corpora mamillaria, ein Befund, fiir den bei Durchsicht 
der klinisch-kasuistischen Literatur, wie auch pathologisch-anatomisch 
eine Analogie bisher nicht vorliegt. 

Inwieweit die in unserem Falle vorliegenden Erecheinungen auf die 
in den Corpora mamillaria bestehenden Zeichen einer lokalen Entziin- 
dung und nur allein darauf bezogen werden diirfen, muB bei dem heuti- 
gen Stande unserer Kenntnisse iiber diese Gebilde noch durchaus fraghch 
erecheinen. Beschranken sich unsere Kenntnisse doch zurzeit ledighch 
auf die Anatomie dieser Organe. 

Wir wissen, daB jedes der Gebilde in der Hauptsache aus zwei Kemen 
zusammengesetzt ist, und zwar aus einem kleinen medialen und einem 
grOBeren lateralen Kern, zwischen denen die Fomixschenkel enden. 
Koelliker unterecheidet auBerdem noch als Nebenkem einen Nucleus 
accessorius, der vielleicht identisch ist mit dem Nucleus intercalatus, 
dessen ovale Zellen sich nach Malone in die Infundibularwand er- 
strecken sollen. Ein Ganghon tuberis hat nach Koelliker Beziehungen 
zum basalen Opticusganglion. Im Faserverlauf bestehen Beziehungen, 
in dem Fasciculus mamillo-tegmentalis zur Haube, im Tractus mammiilo- 
thalamicus zum Thalamus. Das mediate Ganghon ist neben Endstelle 
des Fornix gleichzeitig Uraprungsstelle des Vicq d’Azyrschen Biindels. 
Der erwahnte Tractus mamillo-tegmentalis kann sowohl nach Ver- 
letzung des Thalamus wie nach solcher der Corpora mammillaria atro- 

23* 


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340 


M. Meyer: 


phieren. SchlieBlich bestehen auch noch sicher gestellte Beziehungen 
zum Ganglion interpeduncularis und solche zu den Riechbiindeln, von 
welch letzteren man weiB, daB sie bei Abtrennung der Bulbi olfactorii 
atrophieren. Vom medialen Ganglion ist fernerhin bekannt, daB es dann 
atrophiert, wenn das Ammonshorn, oder die Fornixsaule, deren Schenkel 
zum Teil in dieses enden, zerstort sind. Ein Teil der Fornixfasern, die 
sich dorsal kreuzen, tritt nach Edinger und Wallenberg in die Tiefe 
der Haube. Wenn wir also auch von der eigentlich physiologischen Be- 
deutung der Corpora mamillaria noch keinerlei Vorstellung haben, 
so ersehen wir doch aus den vorbezeichneten Faserverbindungen Be¬ 
ziehungen zu Nachbarzentren, die durch physiologische Untersuchungen 
der letzten Jahre eine ungemeine Bedeutung zu gewinnen scheinen. 
Wir verweisen dabei nur auf die Untersuchungen von Karplus und 
Kreidl, die ein Zentrum, dessen Wirkung bei Reizung bekanntlich in 
Erweiterung der Pupille sowie der Lidspalte und Zuriickziehen des 
(inneren) Lides sich auBert im Hypothalamus, in der nachsten Nahe 
des Tuber cinerium, in direktester Nachbarschaft der dorso-medialen 
Ecke der HimschenkelftiBe nachgewiesen und histologisch seine Lokali- 
sation an der Himbasis im medialen Anted der frontalsten Partien des 
Corpus subthalamicum fixiert haben; dieses Zentrum erwies sich in ge- 
wissem Sinne als vollstandig unabhangig von der Himrinde. Fernerhin hat 
Aschner ein dem Zwischenhirn angehorendesZentrum beschrieben, von 
dem aus gewisse trophische Storungen, wie Genitalatrophie, ausgelost 
werden konnten, bei welchen auch gewisse Stoffwechselstdrungen mit 
beobachtet wurden. Wenn wir schlieBlich noch daran denken, daB 
Stflrungen im medialen Teil des Thalamus auch Temperaturschwankun- 
gen auszulosen, Storungen am Boden des Ventrikels Vasomotoren- 
lahmungen zu erzeugen imstande sind, so mochte es uns scheinen, als 
ob das Studium der einzelnen Kerne und Faserverbindungen dieser 
Gegend, wo der eigentliche Zentralapparat des Sympathicus 
nach Edinger anzunehmen ist, mehr Aussicht verspricht, 
unsere Kenntnisse uber die ungemein komplizierten Be¬ 
ziehungen zu erweitern, als die Studien, die allein die Hypo- 
physe als den Ausgangspunkt dieser Storungen im Auge 
haben. 

Jedenfalls scheint uns dieser Fall geeignet, die Bedeutung samt- 
licher dem Zwischenhirn angehorigen Gebilde fur die Erscheinungen 
einer neurohypophysaren Insuffizienz von einer neuen Seite zu be- 
leuchten. Wir ersehen daraus, daB im Gegensatz zu der Pickschen Auf- 
fassung auch ohne neoplastische Voraussetzung lediglich auf reinentzund- 
licher Basis der an die Hypophyse angrenzenden Partien endokrine Sto¬ 
rungen vom hypophysaren Typus hervorgerufen werden konnen. Es ver- 
sagen eben hier auch alle jene Theorien, die eine rein anatomisch-mechani- 


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Klinischer Beitrag zur Kenntnis der Funktionen des Zwisehenhims. 341 


sche Grundlage als Voraussetzung der hypophysaren Insuffizienz-Erschei- 
nungen haben und machen einer Auffassung Platz, die in dem Symptomen- 
komplex der als Dysplasia adiposo-genitalis zum Ausdruck kommenden 
Dysfunktion der Hypophyse einen Reizvorgang infolge pathologischer 
Erscheinungen in der Nachbarschaft wie in unserm Falle eine Ent- 
ziindung der benachbarten Corpora mamillaria oder anderer in ihrer 
Funktion uns noch nicht bekannten Zwischenhimzentren sehen. Bei 
dieser Auffassung riicken weiterhin die in anderen innersekretorischen 
Organen anatomisch zum Ausdruck kommenden Veranderungen — wie 
in unserm Falle in Nebennieren und Schilddriise — dem Verstandnis 
naher, insofem, als sie eben der Ausdruck einer uns gelaufigen korrela- 
tiven funktionellen Mitbeteiligung der anderen Blutdriisen sind. Die 
Tatsache, auf die schon Pende hinweist, daB bei sorgfaltiger Unter- 
suchung nicht so selten in mehreren endokrinen Organen gleichzeitig 
pathologische Veranderungen bei der Dysplasia adiposo-genitalis auch 
in den Fallen angetroffen werden, wo die hypophysaren Erscheinungen 
im Vordergrund stehen, wie auch dementsprechend die haufige diagno- 
stische Schwierigkeit einer Trennung dieses Symptomenkomplexes von 
der Insuffisance pluriglandulaire, scheint darauf hinzuweisen, daB die 
Auffassung der Dysplasie im Sinne einer pluriglandularen Erkrankung 
in mancher Beziehung dem Wesen der Erscheinung eher gerecht wird 
als die einseitige Beziehung samtlicher Erscheinungen auf das eine cere- 
brale Organ. Diesbezuglich konnen uns aber erst weitere klinische Er- 
fahrungen mit genauen Sektionsbefunden und histologischen Unter- 
suchungen a Her innersekretorischen Organe in Zusammenhang mit 
weiteren Erkenntnissen uber die Lokalisation und die Funktionen der 
der Hypophyse benachbarten Zwischenhimzentren Aufklarung bringen. 


Literaturverzeichnis. 

Handbuch der Psychiatrie, herausgegeben von Aschaf fe nburg, II. Abt. 2. Halfte, 
Bonhoeffer, Infektionspsychosen und Schrbder, Intoxikationspsychosen. 
Kraepelin, Lehrbuch der Psychiatrie. VHI. Aufl., Allgemeiner Teil 1910. 
Edinger, Anatomic des zentralen Nervensystems. 8. Aufl. 1911. 

Biedl, Innere Sekretion. 2. Aufl. 1913. 

Marburg, O., Blutdriisen undNervensystem, Jahreskurse fur arztlicheFortbildung, 
Maiheft 1912. 

Fischer, B., Dystrophia adiposo-genitalis und Hypophyse. Frankfurter Zeitschr. 
1912. 

Aschner, Cber die Funktion der Hypophyse. Archiv f. d. ges. Physiol. 1912. 
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Borchardt, Dber die Funktion der Hypophyse. Ergebn. d. Inneren Med. 3 . 1909. 
Goldstein, K., Meningitis serosa unter dem Symptombild von Erkrankung der 
Hypophyse. Archiv f. Psych. 41 . 1910. 


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342 M. Meyer: Klinischer Beitrag zur Kenntnis der Funktionen dee Zwischenhirns. 

Marburg, O., Adipositaa cerebralis. Deutsche Zeitechr. f. Nervenheilk. SC. 1909. 

Falta, Die Bhitdriisen. Julius Springer 1913. 

Handbuch der Neurologie, herausgegeben von Lewandowsky, Spezielle Neuro¬ 
logic S, daraus der Abschnitt von Schuller iiber Dystrophia adiposo-genitalis. 

Fischer, B., Hypophysis, Akromegalie und Fettsucht. Bergmann, Wieebadenl910. 

Pick, L., t)ber Dystrophia adiposo-genitalis bei Neubildungen im hypophysen- 
gebiet. Deutsche med. Wochenschr. 1911, Nr. 42—46. 

Str4da, Beitrage zur Kenntnis der Geschwulste derHypophyse und der Hypo- 
physengegend. Virchows Archiv SOS. 1911. 

v. Frankl-Hoohwart, Wiener med. Wochenschr. 1909, Nr. 37—39. 

Obersteiner, Lehrbuch der nervOeen Zentralorgane. Leipzig und Wien 1913. 


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Beitrag zur Kenntnis der Fruhkatatonie. 

Von 

Dr. Karl Ponitz, 

zurzeit Assistenzarzt an der psyohiatriichen Klinlk in Halle a. S. 

(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Universitat Leipzig [Direktor: 

Geh. Rat Prof. Dr. Fleehsig].) 

Mit 1 Textfigur. 

(Eingegangen am 13. September 1913.) 

Wiederholt ist die Vermutung ausgesprochen worden, daB wir es bei 
der Dementia praecox mit einer Geisteskrankheit zu tun haben, die durch 
eine Selbstvergiftung infolge Stoffwechselstorung bedingt ist. Man hat 
auf die Driisen mit innerer Sekretion hingewiesen, auf Hoden, Ovarien, 
besohders auch auf Storungen in der Funktion der Schilddriisen. Krae- 
pelin schreibt dazu: 

,,Das gelegentliche Vorkommen von An- und Abschwellungen der 
Thyreoidea, auffallenden Hautverdickungen, Facialisphanomen, Be- 
schleunigung oder Verlangsamung des Pulses, tetanieartigen Anfallen 
erinnert geradezu an die bei Schilddrusenerkrankungen beobachteten 
Erscheinungen; umgekehrt bieten nach Blums Schilderungen die Sto- 
rungen des Seelenlebens und der Bewegungen bei Hunden ohne Schild- 
driise eine gewisse Ahnlichkeit mit dem Verhalten katatonischer Kranker. 
Lundborg hat daher die Dementia praecox in Verwandtschaft mit der 
Myoklonie, Myotonie und Tetanie gebracht und als ihre Grundlagen 
Veranderungen der Schilddriisen und Nebenschilddnisen angesehen.“ 

Trotz der immer wieder ausgesprochenen Vermutungen, daB es sich 
bei der Dementia praecox um eine Stoffwechselstorung handelt, sind 
eindeutige Beweise dafiir bisher nicht erbracht worden. Erst in den letzten 
Monaten scheint durch die Forschungsergebnisse Abderhaldens, 
wie sie zuerst von Fa user auf die Psychiatrie angewandt worden sind, 
die Moglichkeit gegeben zu sein, dem Ziele naherzukommen. 

Es ist eine allgemein anerkannte Erfahrungstatsache, daB die tiber- 
wiegende Mehrzahl der Falle von Schizophrenic in der Zeit vom 15. bis 
30. Lebensjahre manifest wird. Andererseits sind eine groBere Anzahl 
von Fallen bekannt, die in den Kinderjahren erkranken und den aus¬ 
gesprochenen Symptomenkomplex zeigen, wie wir ihn bei der Dementia 
praecox kennen. 

Es durfte nun wohl die Hypothese nicht von der Hand zu weisen sein, 
daB bei diesen Fallen, die so auffallend frtih beginnen, auch die Faktoren 


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5x^6ruinrs ?uis&4> priigi *ind.. du* atioldgiikdi fur (lie Erkr&nknng ift Betmdit 
1?iat v tlexk Tol^ericloci 

jpajl emef kindlic Wn I^emerttia praecb*',, wife ; i;k in der j>^Y(?hia^riseUcn 
Kibrik \ku Leipzig zu l.mthachtpu.tit. 'nalier tlnrauf *u m*i.-rsuo]nm find 
'.': ihu mii.v.iif : ei(i?M.. 

Ein wefeter. m j^vi^std^ Benighting ftutfc^r AnlaB znv I'at^michung 
war hi <k>rn Habitat < ies : Ki iw Jes £ogeb»-n ', ria> Mdmlt &fr mm:«? Myxod^fna^ 

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Beitrag zur Kenntnis der Frllhkatatonie. 


345 


Habitus. Das Gesicht laBt auf kein bestimmtes Alter schlieBen. Finsterer Ge- 
aichteausdruck, Stim in Falten gelegt. (Fig. 1.) 

GroBe 131. Gewicht: 61 kg. 

Schfidel o. B., nur Nasenwurzel eingesunken. 

Haisurnfang: 32 A /a« Brustumfang: 79 (mittleres MaB, Pat. ist nicht zum tiefen 
Aus- und Einatmen zu bringen). 

Mund- und Rachenorgane o. B. 

Herz: Grenzen normal, Tone rein. 

Puls: Gut gefiillt und gespannt, regular, aqual. 

Lunge o. B. 

Bauchorgane und Bruchpforten o. B. 

Pupillen mittel- und gleichweit, reagieren prompt auf Lichteinfall und Kon- 
vergenz. 

Augenhintergrund und Himnerven o. B. 

Conjunctival- und Comealreflexe +. 

Patellarreflexe +, beiderseits gleich, lebhaft. 

Achillessehnenreflex +. Tricepsreflex +. 

Bauchdeckenreflex +, gleich. 

Keine Crines pubis. Keine Achselhaare. Haut pastos gedunsen. 

Beim Druck auf die Haut bleiben keine Dellen bestehen. Sprache heiser, 
klanglos. 

Wassermann im Blut negativ. 

Im Blut: 24% Lymphocyten, 70% Neutrophile, 5% Eosinophile, 1% groBe 
Mononucleare. Geeamtzahl der Leukocyten im ccm: ca. 7000. 

Psychischer Befund bei der Aufnahme (16. Miirz 1911): Pat. ist anfalls- 
weise sehr unruhig und laut. Schreit, wirft sich auf den Boden, ruft nach seinen 
Eltem und Geschwistern, spricht laut: „Sie wollen meinen Vater totschlagen, 
sie wollen ihn totschlagen, sie wollen ihn totschlagen! Ich bin nicht verriickt! 
Mein Vater ist hier! usw.“ Hat den Vater angeblich vor der Tiire rufen horen. 
Ist bei den Anfallen motorisch sehr erregt, wirft sich auf den Boden, verletzt sich 
dabei, str&ubt sich gegen jedes Anfassen, schreit dann laut, manchmal mit voller 
Stimme. Dazwischen ist er wieder ruhig, apathisch. Grimassiert oft, spricht 
mit heiserer Stimme. Ist unrein, laBt Urin und Kot irgendwohin in die Stube. 
Spielt immerfort mit der Hand am Geschiechtsteil. 1st bisweilen stundenweise 
ganz ruhig. 

20. Marz 1911. Pat. ist wesentlich ruhiger. Einformig und stereotyp in Hal- 
tungen und AuBerungen. Halluzinationen sind nicht mehr zu bemerken. ,,Ich 
will nach Hause, ich will nach Hause, ich will nach Hause!“ Fragen werden nicht 
beantwortet. 

25. Marz 1911. Pat. redet unausgesetzt. stereotyp unsinnige Satze vor sich hin: 

„Ich weiB keine Sinichen!“ 

„Ich weiB keinen Handberg! u 

„Ich habe an der Hand studiert!“ 

1. April 1911. Pat. wird heute auf dringenden Wunsch seines Vaters entlassen. 

15. April 1911. Pat. wird wieder aufgenommen. Der Vater auBert jetzt den 
Wunsch, ihn langer in der Anstalt zu lassen. Er hat zu Hause keine Besserung ge- 
zeigt, vielmehr in steten Erregungszustanden Vater und Mutter angefallen, zer- 
kratzt, gewiirgt usw. 

17. April 1911. Nachdem Pat. in den ersten Tagen ziemlich ruhig war, gerat 
er heute im Garten wieder in starkere Erregung. Schreit oftmals laut auf. Onaniert 
nicht nur, wie bisher, im Zimmer, sondern auch im Garten. Ist widerspenstig. 

25. April 1911. Es wechseln stets Perioden von Ruhe, Zuganglichkeit, ja 


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346 


K. Pbnitz: 


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einer gewissen Freundlichkeit mit solchen ab, in denen, stets in plotzlicher Weise 
einsetzend, geschrien oder ein Satz in stereotyper Weise wiederholt wird, besonders 
h&ufig: „Ich will nach Hause, ich will nach Hause, ich will nach Hause!" Nach 
einer solchen Erregung auBerte Pat. einmal: „Ich nehme mirs Leben!" Nachts 
oft unruhig, hkmmert dann mit den Fausten an den Bettrand. Hat vor kurzem 
grundlos einen Pat. angefallen und gewiirgt. Rennt haufig mit dem Kopfe an die 
Wand oder stiirzt sich kopfliber aus dem Bett. 

27. April 1911. Bei einem Sturze aus dem Bett hat sich Pat. eine starke Beule 
an der Stirn zugezogen, von der aus sich Sugillationen bis in die Augenlider beider 
Augen eretrecken. Sonstige Zeichen einer Basisfraktur fehlen. Auffalligerweise 
wird die Verletzungsstelle als nicht schmerzhaft bezeichnet. Heute wieder starkerer 
Erregungszustand. Pat. beruhigt sich kaum, beiflt dauemd um sich, versucht auch, 
sich in die Hande zu beiBen. 

3. Mai 1911. Stark negativistisch, zeitweise unruhig und widerspenstig. 
Halluziniert anscheinend zeitweise sehr stark, spricht dann von der Magd zu Hause 
und dem Nachbar. Zu zusammenhangenden Angaben ist er nicht zu bewegen. 
Dabei ist er ortlich vollkommen orientiert, kennt den Arzt als solchen. 

10. Mai 1911. Beim Besuche des Vaters meist nach kurzer Zeit sehr aggressiv, 
versucht zu beiBen und zu kratzen. Spricht, in stereotyper Weise wiederholend : 
„Unser Pferd hat keinen Verstand." Spricht wiederholt laut vor sich hin: „Wir 
haben 4 Pferde.“ 

15. Mai 1911. Manchmal sehr aggressiv und negativistisch. Nachts meist 
nihiger Schlaf. 

30. Mai 1911. Steht in gebundener Haltung da, laBt sich nicht anfassen, ver- 
weigert jede Auskunft, schimpft: „Halts Maul!“ und wiederholt nur einzelne Worte 
oftmals hintereinander in stereotyper Weise. 

15. Juni 1911. Im allgemeinen ruhiger, doch immer noch stark negativistisch. 

2. Juli 1911. Meist lappisch euphorische Stimmung, lacht sinnlos auf. Es gehe 
ihm sehr gut. Beim Besuche der Mutter noch leicht erregbar, hat einmal die Mutter 
ins Gesicht geschlagen. 

26. Juli 1911. Wenig zuganglich. Lauft meist blode lachend davon, wenn 
man ihn anfassen will. Lebhaftes Grimaasieren! Nahrungsaufnahme schlecht, 
hat an Gewicht abgenommen. Halt manchmal den Mund stundenlang voll Speichel, 
ist aber nicht zu bewegen, auszuspucken. 

20. August 1911. IBt wieder besser. Psychisch kaum verandert, im ganzen 
vielleicht etwas stumpfer. Auch beim Besuch der Angehorigen ruhig. Von Hallu- 
zinationen zurzeit nichts zu bemerken. Keine Erregungszustande. 

17. September 1911. Unver&ndert, steht in den Ecken umher, ist jetzt sehr gut- 
miitig, laBt sich ruhig von anderen Patienten das Essen vom Teller fortnehmen. 
Zahlen kann er flieBend bis 100. Zu einer eingehenden Intelligenzpriifung ist er 
nicht zu fixieren, lauft unter Lachen davon. Somatischer Zustand erheblich ge- 
bessert, Nahrungsaufnahme gut. 

12. November 1911. Pat. sitzt stundenlang unbeweglich auf einem Fleck. 
Gibt nur ganz sparliche Antworten. Reagiert auf Nadelstiche nicht, es tut angeblich 
nicht weh. Keine Katalepsie! 

25. November 1911. Etwas freier, im allgemeinen aber immer noch gedriickt 
und wenig zuganglich. Nahrungsaufnahme gut. 

22. Dezember 1911. Ausgesprochenes Vorbeireden: Wieviel Finger? „10. u 

An der r. Hand? „3.“ 

An der 1. Hand? „2.“ 

Wieviel Zehen? „36.“ 

2 mal 2? „9.“ 


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347 


2 mai 2? „10.“ 

2 mal 3? „8.“ 

Auf andere Fragen ¥ antwortet er wahllos mit „Ja“ oder „Nein u oder „Das 
weiB ich nicht“. Meist gibt er auf dieselben Fragen veraohiedene Antworten. 

5. Januar 1912. Andauemdes Vorbeireden, lacht dabei l&ppisch. Mit Spiel- 
zeug, das er zu Weihnachten bekommen hat, weiB er nichts Vemunftigee an- 
zufangen. 

2. April 1912. Finster grimassierender Gesichteausdruck. Name und Alter 
werden richtig angegeben. Antwortet sehr prompt, aber ins Blaue hinein. 

Wo bist du hier? „In Leipzig.“ 

In welchem Haus? „In der Nervenklinik.“ 

Bist du krank? „Ja.“ 

Was fehlt dir? „Nichts.“ 

Bist du krank? „Nein.“ 

Die Mimik zeigt hier plotzliche Anderung, der Gesichtsausdruck wird fiir 
Minuten freier und heiterer, wird aber bei den folgenden Fragen wieder finster. 
7 mal 7? „24." 

7 mal 13? „18.“ 

18 — 7? „15.“ 

18 — 7? „9.“ 

18 — 8? „5.“ 

Warum siehst du so finster drein? „Ich weiB nicht, warum.“ 

Weshalb spreche ieh mit dir? „Wegen nichts.“ 

Wie lange bist du schon hier? „37 Jahre.“ 

Nicht 57 Jahre? (Gleichgiiltig:) ,*,Ja.“ 

Wie alt bist du? „14. u 

Wieviel Geschwister hast du? „4 Gesohwister.“ 

Du hast doch 6! (Gleichgiiltig:) „Ja, 0.“ 

Hast du nicht 8? „Ja, es sind 8.“ 

Es sind aber doch nor 4? „Ja, es sind 4.“ 

Was willst du werden? „Schlosser.“ 

Willst du nicht lieber Kaiser werden? (L&chelnd:) „Nein.“ 

Warum nicht? „Ich kann keiner werden.“ 

Warum nicht? „Ich weiB nicht, warum.“ 

Bist du nicht Kaiser? (L&chelnd:) „Nein, kein Kaiser.“ 

Lebhaftes Grimassieren, verzieht die Mundwinkel, runzelt die Stim. Die 
meisten Aufforderungen werden auffallend prompt befolgt. Er zieht sioh auf 
Aufforderungen, wenn auch sehr umstandlich, aus. Passiv gegebene Stellungen 
werden nicht beibehalten. Beim Ausziehen beginnt er damit, sich die Hose aus- 
zuziehen. Beim Anziehen zieht er das Hemd nicht an, zieht Weste und Rock iiber 
die bloBe Brust. 

Warum hast du das Hemd nicht angezogen? Lacht l&ppisch. 

20. Mai 1912. In seinem Verhalten wechselnd, bald still und finster, bald von 
einer l&ppisch-frechen Vergniigtheit. Lacht laut und viel. Schlfigt grundlos Pa- 
tienten. Bezeichnet Gegenst&nde richtig, hantiert auch richtig damit. 

(Pfeife.) Referent: 1st das ein Fisch? „Ja, das ist ein Fisch. “ Das ist doch 
ein Vogel! „Eine Pfeife ist es.“ 

(Schere.) Referent: 1st das ein Messer? „Das ist kein Messer, das ist eine 
Schere." 

(Ball.) Referent: 1st das ein Haus? „Ja, das ist ein Haus. (< Das ist doch 
kein Haus, das ist ein Fisch! „0 ja, Fisch.“ (Lacht dabei.) Was ist das also? 
„Ein Fisch.“ (Spielt mit dem Ball.) 


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K. POnitz: 


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(Streichholzschachtel.) Referent: Was ist das? „Streichholzschachtel.“ 
Das ist doch ein Kafig! „Jawohl, das ist ein Kafig. 44 

Wo waret du gestern? „Auf der Messe! 44 

Was hast du da gemacht? „Ich habe dort mit einem Manne gearbeitet, ich 
weiB nicht, wie er heiBt. 44 

Du warst doch den ganzen Tag hier? „Nein, ich war nioht hier. 44 

Wann bist du denn fortgegangen ? „Gestem. 44 

Wie lange warst du fort? „55 Tage. 44 

Wo waret du so lange? „Bei einer Frau, die die W. heiBt. 44 

Wie heiBt der Kaiser? (Lachend:) „Er heiBt Oskar, wie ich. 44 

Februar 1913. Ist im ganzen unverandcrt. Eigenartig sicheree, flegelhaftes 
Auftreten. Er hat dabei den Bewegungstyp eines behabigen Bauera. Es besteht 
ein Kontrast zwischen dem Fehlen des Bartes und einer gravitatisch grimassie- 
renden Mimik. 

Pat. ist meist ruhig, redet in der oben geschilderten Weise vorbei, onaniert 
viel. Dazwischen jedoch heftige Erregungszust&nde, in denen er offenbar hallu- 
ziniert. Spricht von einem Manne, der gekommen sei und von Blut. Singt dann 
auch mit heiserer Stimme, tanzt, schlagt auf andere Patienten los; da er dann sehr 
hastig spricht, ist nur ein kleiner Teil des Gesprochenen veret&ndlich. Spricht 
dann vollig zusammenhanglos: „Ich bin nicht immer ganz richtig im Kopfe . . . . 

weil das Blut zu Kopfe steigt.was soli das arme Kind immer hierin, das 

geht zu Kopf .. . hellrot, hellgriin ... ist nicht recht. . . hat ihn weggeschuppt. . . 
es muB alles drauf . . . ich kann nichts dafiir, wenn ich 24 Stunden gebadet werde 
. . . . abends kam ein SchuB und ich muBte aufstehen. 44 (Ein Schufl?) „Ja, ein 
SchuB im Kopfe. 44 Pat. spricht das alles sehr lebhaft gestikulierend, grimassie- 
rend, mit erregter Stimme, die zeitweise iiberschnappt. Pat. muB wegen seiner 
Erregungszustande wiederholt ins Dauerbad gebracht werden. 

8. Marz 1913. Pat. liegt ruhig im Bett. Finstere Mimik. (Warum?) „Ich 
weiB nicht, warum. 44 Er bezeichnet Abbildungen und Gegenstande prompt. 

Wie lange bist du hier? „Nicht lange, 4 Jahre. 44 

Du bist doch seit gestern da? „Ja. u 

Was willst du werden? „Sattler. 4k 

Was muBt du da machen? „Sattel machen." 

Du muBt doch in die Lchre gehen! „Nein.‘ 4 

Kannst du gut lesen? „Sehr gut. 14 Pat. liest prompt die Aufschriften eines 
Bilderbuches. Beim Ansehen des Bilderbuchs, in dem er korrekt blattert, lacht 
er plotzlich. (Warum ?) „Ich muB lachen wegen der Geschichte. 44 (Wegen welcher ?) 
Zeigt auf ein Bild, auBcrt sich aber nicht naher. Nachdem er das Buch nach hinten 
durchgeblattert hat und bei einigen Bildeni langer verweilte, blattert er wieder 
nach vorn. Bezeichnet die Bilder richtig, wenn ihm jedoch etwas anderes genannt 
wird, sagt er das nach. 

Gefallt dir das Buch? ,,Ja.“ 

Mochtest du es haben? ,.Xein.“ 

Warum nicht? ,,Ich weiB nicht, warum.“ 

Bist du schon mal mit so einem Ding gefahren? (Referent zeigt auf den Zug.) 

,,.Ia .‘ 4 

Wohin denn? „Nach Eilenburg. 44 

Als Referent im Seherz sagt: Oskar, du siehst dir diis Buch doch ganz falsch 
an und es ihm verkehrt gibt, lachelt Pat. und dreht es wieder uni. Spont-an spricht 
er wahrend alien di(\s(Mi Untersuchungen nicht, blattert, wahrcnd Referent schreibt, 
im Buche und wirft nur hin und wieder einen Blick auf ihn. Referent zeigt auf ein 
Bild, wo Blut aus dem Finger eines Madchens tropft. Was ist das? „Blut.‘* 


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Beitrag zur Kenntnis der Frtthkatatonie. 


349 


Wie kommt das dahin? „Geschnitten.“ 

Wie alt bist du? „25 Jahre.“ 

August 1913. Nach Mitteilungen aus der Klinik sind die Erregungszust&nde 
in der letzten Zeit auBerordentlich heftig geworden. Pat. schreit stundenlang laut 
und schl&gt oft wiitend um sich, so daB es nicht mehr moglich ist, ihn auf einer 
ruhigeren Abteilung zu lassen. Eine Veranderung des Gesamtbildes ist gegen 
friiher nicht eingetreten. 

Fassen wir nun die Symptome zusammen, die der Patient bietet, 
so erhalten wir das einwandfreie Bild einer Schizophrenie. Wir sehen die 
auffalligen Storungen im Gemiitsleben des Kranken: Bald steht der Junge 
teilnahmlos, rait apathischem Gesichtsausdruck in einer Ecke, bald 
lauft er singend in lappischer Euphorie im Zimmer umher und bietet 
unmotivierte Zornausbruche, wobei er auch seine nachsten Verwandten 
mit seinen Attacken nicht verschont. Dabei ist er im hochsten Grade 
ungeniert in seinem Benehmen, er onaniert — wie man es so haufig bei 
diesen Kranken findet — in der schamlosesten Weise vor Arzt, Wartern 
und Patienten. Wir sehen femer ausgeprochene Willensstorungen: 
Das unsinnige Schlagen und Trommeln am Bett, das einformige, stereo* 
type Wiederholen ein und desselben Satzes, den bisweilen auftretenden 
Negativismus mit ausgesprochenem Vorbeireden. Dazu kommen noch 
das fast unausgesetzte Grimassieren, die — nach Kraepelin nicht 
seltene — vermehrte Speichelsekretion, das gleichgtiltige Erdulden von 
Nadelstichen und schlieBlich die mit Sicherheit anzunehmenden Sinnes- 
tauschungen. 

Wir haben also das Krankheitsbild vor uns, welches Kraepelin 
als ,,Storung des inneren Zusammenhangs der geistigen Personlichkeit 
mit vorwdegender Schadigung des Handelns und Widens “ bezeichnet, 
die Dementia praecox oder Schizophrenie. 

Wie schon in der Einleitung angedeutet, finden wir nun neben diesem 
psychischen Krankheitsbilde einige somatische Momente, die an eine 
Schilddriisenstorung denken lassen. Es sind dies zunachst der offenbar 
etwas pastose Habitus des Kindes, femer daa auffallige Zuriickbleiben 
im GroBenwachstum (die GroBe des Patienten betrug bei der Aufnahme 
131 cm, wahrend sie nach den Normalzahlen von Vierordt 142,3 cm 
hatte betragen miissen), dazu das Fehlen der Scham- und Achselhaare, 
das auch jetzt im 16. Lebensjahre noch zu konstatieren ist, das kleine 
Genitale und schlieBHch die auffallend heisere Sprache. Zu dem letzten 
Punkte sei gleich hier bemerkt, daB eine spezialistische Untersuchung 
des Kehlkopfes keine Aufklarung dieses Phanomens gebracht hat. 

Wir kommen nun zu den Versuchen: 

Zahlreiche experimentelle Untersuchungen haben mit Sicherheit er- 
geben, daB das Myxodem auf eine mangelhafte Funktion der Schilddriise 


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350 


K. J’linitz: 


im Sinne einer Athyreosis oder Hypothyreosis zuriickzufiihren ist. Nun 
haben Kraus und Ludwig als erste gezeigt, daB bei der Basedow- 
schen Krankheit, die ja als Hyper- resp. Dysfunktion der Thyreoidea 
dem Myxodem gegeniiberzustellen ist, die Assimilationsgrenze flir 
Traubenzucker herabgesetzt ist. Spater hat Hirschl die schon rein 
spekulativ daraus zu folgernde Tatsache experimentell nachgewiesen, 
daB dementsprechend der Athyreoidismus die Assimilationsgrenze er- 
h5ht. Hirschl hat bis zu 500 g Traubenzucker verabreicht, also Mengen, 
die die normale Toleranzgrenze wesentlich iibersteigen, und noch zucker- 
freien Ham erhalten. Knopfelmacher hat auf gleiche Weise zwei 
Patienten mit kongenitalem Myxodem untersueht und die Assimilation 

fiir Zucker ebenfalls abnorm hoch 


Schema 

nach Eppinger, Falta u. Rudinger 
Th. 

o 


\ 


tt 

t/t: 

*/$ 


O 

P. 


intenaiv 

hemmend 



gefunden. Nach Zufiihrung von 
Schilddriisensubstanz wurde diese 
Assimilationsgrenze herabgesetzt. 

Eppinger, Falta und Ru- 
dinger, die zu dem gleichen Er- 
gebnisse in ihren Untersuchungen 
gelangt sind, geben fur diese 
Tatsache folgende Erklarung: 
Zwischen Schilddriise (Th.), Pan- 
kreas (P.) und chromaffinem 
System (Ch. S.) bestehen Wechsel- 
wirkungen, die in der neben- 
stehenden Figur schematisch dar- 
gestellt sind und die von den Ver- 
fassern folgendermaBen charakterisiert werden: ,,1. Zwischen Th. und P., 
sowie zwischen P. und Ch. S. besteht gegenseitige Hemmung, zwischen 
Th. und Ch. S. gegenseitige Forderung. Die Hemmungen sind intensiver 
als die Forderungen. 2. Ausfall bzw. Uberfunktion der einen Druse fiihrt 
zu Uberfunktion bzw. Insuffizienz der anderen. Wir wissen nun 
vom Pankreas, daB es die Zuckerbildung aus dem Leberglykogen 
hemmt, resp. den Aufbau der Kohlehydrate in der Leber be- 
herrscht. Umgekehrt wirkt das Nebennierensekret fdrdemd auf die 
Zuckermobilisation. Fehlt nun also die Schilddriise oder ist — wie wir 
in unserem Falle vermuten — eine Hypofunktion der Thyreoidea vor- 
handen, so wird also einesteils der hemmende EinfluB auf das Pankreas 
wegfalien, d. h. das Pankreas kann mehr Kohlehydrate aufbauen als 
im normalen Zustande, andererseits fallt der fordemde EinfluB auf das 
chromaffine System weg, d. h. die Zuckermobilisation durch das Neben- 
nierensystem wird herabgesetzt. Das Ergebnis ist demnach eine Er- 
h6hung der Assimilationsgrenze fiir Zucker. 

Von diesen Beobachtungen und Erwagungen wurde ausgegangen. 


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Beitrag zur Kenntnis der Frtlhkatatonie. 


351 


Es muBte also angenommen werden, daB in unserem Falle eine abnorme 
Toleranz fur Zucker vorhanden sein miisse. Der Patient erhielt friih 
niichtem eine siiBe Speise, die 300 g Rohrzucker enthielt. Mit derMahl- 
zeit wurde also die normale Toleranzgrenze, die nach von Noorden 
fur Rohrzucker zwischen 150—200 g liegt, bedeutend iiberschritten, 
um so mehr, als es sich um ein jugendliches Individuum handelt. Wieder- 
holte Urinuntersuchungen, die am Versuchstage in kurzen Intervallen, 
am 2. und 3. Tage in langeren Zwischenraumen angestellt worden sind, 
haben nie Zucker ergeben. Als Untersuchungsmethoden wurden einer- 
seits das Polarisationsrohr, anderseits die Nylandersche und Trom- 
mersche Reaktion angewandt. Eine Bestimmung der Urinmenge konnte 
bei der Unreinlichkeit des Patienten nicht stattfinden. 

Eppinger, Falta und Rudinger haben nun weiter gezeigt, daB 
bei schilddriisenlosen Tieren eine Adrenalininjektion, durch die nor- 
malerweise, wie Blum zuerst gezeigt hat, Zuckerausscheidung bewirkt 
wird, keine Glykosurie stattfindet; auch dann nicht, wenn gleichzeitig 
Zucker verfiittert wird. 

Es wurde also 2 Stunden nach einer in gleicher Weise gegebenen 
Zuckermahlzeit 0,0007 Adrenalin subcutan injiziert und dadurch trotz- 
dem das oben gegebene Resultat nicht beeinfluBt, d. h. es erschien auch 
jetzt kein Zucker im Urin. Es ist also auf jeden Fall bei unseren 
Patienten eine auBerordentliche Toleranz gegen Zucker festgestellt und 
dadurch die Wahrscheinlichkeit bedeutend erh6ht werden, daB es sich 
um eine Hypofunktion der Schilddriise handelt. 

Neben dieser Priifung auf Kohlehydrattoleranz wurde nun noch eine 
spezielle Priifung auf Erregbarkeit des vegetativen Nervensystems unter- 
nommen. Die Driisen mit innerer Sekretion werden, wie Biedl schreibt, 
einerseits von einem bestimmten Abschnitte des vegetativen Nerven¬ 
systems innerviert, andererseits wirkt das innere Sekret wieder auf den 
Erregungszustand der entsprechenden Nerven ein. Wahrend wir nun 
wissen, daB das Adrenahn das sympathische, das Pankreas das autonome 
System beeinfluBt, wird vom Schilddriisensekret angenommen, daB es 
ein polyvalentes ist, d. h. sowohl auf das sympathische als auf das 
Vagussystem wirkt, eine Ansicht, die schonKraus (zit. nach Eppinger, 
Falta und Rudinger) ausgesprochen hat. 

Auf diese experimented festgestellten Tatsachen, die — neben 
Biedl — namentlich in den Arbeiten von Eppinger, Falta und Ru¬ 
dinger, femer Falta, Newburgh und Nobel, femer Eppinger 
und HeB, scwie Pdtzl, Eppinger und HeB, und schlieBlich von 
Bauer vertreten werden, wurde gefuBt, als bei unserem Patienten die 
Ansprechbarkeit des vegetativen Nervensystems gepriift wurde. Es 
muBte also erwartet werden, daB durch das mangelhafte Funktionieren 
der Schilddriise nur eine geringe Wirkung derjenigen Gifte zustande 


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352 


lv. Ponitz. 


kommt, die bekanntermaBen das vegetative System beeinflussen, d. h. 
des Adrenalin, des Pilocarpin und des Atropin. 

Es wurde mit Adrenalin begonnen, von dem wir wissen, daB es 
svmpathicuserregend wirkt. Eine Injektion von 0,0007 Adrenalin ergab 
— abgesehen von der oben erwahnten fehlenden Glykosurie — folgendes: 

Keine wesentliche Anderung der Pulsfrequenz (um 96). 

Keine Anderung des Blutdrucks (130). 

Keine Anderung der Atemfrequenz (24). 

Keinen Aschnerschen Reflex (d. h. keine Pulsverlangsamung bei 
Druck auf die Bulbi). 

Pupillen bleiben mittelweit. Zu dem Versuch, wie auch zu den fol- 
genden, ist zu bemerken, daB Puls, Blutdruck und zum Teil auch die 
Atmung graphisch aufgenommen wurden. Die Kontrolle fand wahrend 
der vorangehenden Stunde und wahrend der beiden nachfolgenden 
Stunden statt. In der ersten halben Stunde nach der Injektion nur mit 
wenigen Minuten Pause. Zu der Pulsfrequenz ist zu bemerken, daB zwei 
voriibergehende maBige Steigerungen nicht zu verwerten sind, da das 
gleiche auch vor den Versuchen zu beobachten war. 

Das Resultat des Versuchs ist also eine fehlende oder zum mindcsten 
hdchst mangelhafte Beeinflussung des sympathischen Nervensvstems 
durch Adrenalin. 

Zwei Tage spater wurde 0,007 Pilocarpin, das normalerweise das 
autonome System erregt, injiziert. Das Ergebnis war: 

Keine wesentliche Anderung der Pulsfrequenz (um 108). 

Keine Anderung des Blutdrucks (130). 

Leichte Anderung der Atemfrequenz (von 24 auf 20) . 

Pupillen bleiben weit. 

Gesicht wird lebhaft gerdtet. 

Deutliche Salivation, die l l [ 2 Stunde anhalt. 

Wir konstatieren also eine teilweise Wirkung des Pilocarpins auf 
das autonome System. 

Wiederum zwei Tage spater injizierten wir 0,0005 Atropin, also ein 
Gift, das das autonome System lahmt. Die Wirkung war: 

Keine wesentliche Anderung der Pulsfrequenz (Puls 90—100). 

Keine Anderung des Blutdrucks (130). 

Keine Anderung der Atemfrequenz (um 20). 

Pupillen bleiben mittelweit. 

Keine sichtbare Anderung der Speichelsekretion ( ?). 

Eine deutliche Atropin wirkung ist also nicht zu konstatieren. 

Wir bekommen also durch die 3 Versuche folgendes Resultat : Eine 
Wirkung des Adrenalins bleibt ganz aus, ebenso ist eine solche des Atro- 
pins nicht nachweisbar. Dagegen ist eine partielle Wirkung des Pilo¬ 
carpin vorhanden. Dieses Ergebnis wurde unsere Annahme einer Hypo- 


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Beitrag zur Kenntnis der Frahkatatonie. 


353 


funktion der Schilddrfise weiter bestarken. Denn wie schon gesagt, 
ist das Schilddrfisensekret ein polyvalentes, nach den Untersuchungen 
von Eppinger, Falta und Budinger tiberwiegt aber die Wirkung 
auf das sympathische System. Fur unseren Fall konnte man also sagen: 
Der Tonus des sympathischen Systems ist duroh die mangelhafte Schild- 
drusenfunktion herabgesetzt, Folge: mangelhafte Ansprechbarkeit auf 
Adrenalin. Andererseits ist der Tonus des Vagussystems weniger herab¬ 
gesetzt, Folge: nur maBige Ansprechbarkeit auf Pilocarpin. Die Atropin- 
wirkung ist ebenfalls gering oder fehlend; Angaben fiber Trockenheit 
im Munde sind vom Patienten nicht zu erhalten, die Wirkung auf die 
Pupillen fehlte. 

Ich bin mir nattirlich wohl bewuBt, daB die letzten Versuche nicht 
absolut beweisend ffir eine Hypofunktion der Schilddrfise sind. Immer- 
hin erhohen ihre Ergebnisse doch zusammen mit den Qbrigen Tatsachen 
die Wahrscheinlichkeit unserer Vermutung 1 ). 

Nachdem unsere Untersuchungen also ffir eine mangelhafte Funktion 
der Schilddrfise sprachen, lag es nahe, zu sehen, welche Wirkung unsere 
' Versuche nach Schilddrusenzufuhr haben wtirden. Es ware zu prufen 
gewesen, ob nach Verabreichung von Schilddrtisensubstanz die Resultate 
andere geworden waren. Es wurden also Thyreoidintabletten verab- 
reicht, und zwar nach der Vorschrift von Falta, Newburgh und 
Nobel. Leider muBten wir nach kurzer Zeit damit abbrechen, da der 
Patient heftige Erregungszustande mit Erbrechen bekam und es muBte 
daher auf die Wiederholung der — nunmehr durch Thyreoidin modifi- 
zierten — Versuche verzichtet werden. 

Ich restimiere: Es handelt sich um einen zurzeit 15jahrigen Jungen, 
der im 12. Lebensjahre offensichtlich geistig erkrankt, im 13. der Klinik 
eingeliefert wurde. Der Symptomenkomplex der psychischen Erkran- 
kung gleicht durchaus dem einer Dementia praecox. Also nach unserer 
Ansicht eine Frtihform dieser Erkrankung. Kompliziert wird das Krank- 
heitsbild durch eine Anzahl somatischer Erscheinungen, die mit ziem- 
licher Wahrscheinlichkeit auf eine Hypofunktion der Schilddrfise hin- 
deuten (der leicht pastose Habitus, Zurfickbleiben im Langenwachs- 
tum, Fehlen der Schamhaare, kleines Genitale, leicht eingedrfickte 
Nasenwurzel u. a.). 

Ffir eine Hypofunktion sprechen ferner die auffallige Toleranz ffir 
Zucker und die mangelhafte Ansprechbarkeit des sympathischen, zum 
Teil auch autonomen vegetativen Nervensystems. 

*) Sogar diejenigen, welche der Lehre vom „Vegetativen System 41 , wie sie 
die Wiener Schule gibt, skeptisch gegenuberstehen (Lewandowsky), halten 
eine Anwendung dereelben auf die Storungen der Driisen mit innerer Sekretion 
fur berechtigt. 

Z. I. d. g. Near. u. Peych. O. XX. 24 


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354 


K. Piinitz: 


Bevor zur Kasuistik der Fruhkatatonie iibergegangen werden soil, 
muB man sich folgendes klar machen: 

Der Frage nach Friihformen der Dementia praecox kann auf zwei ver- 
schiedenen Wegen nahergetreten werden. Entweder sucht man die 
Schicksale der Schizophrenen in die Jugend zuriickzuverfolgen, d. h. 
man verlaBt sich auf die durch Angehdrige gegebene Anamnesen, oder 
— und darum handelt es sich hier — man sucht friih beginnende Falle 
selbst zu beobachten. Hierbei muB nun aber von vomherein daran fest- 
gehalten werden, daB Kinder, die in den allerereten Lebensjahren mit 
katatonen Symptomen erkranken, nicht mit Sicherheit zur Dementia 
praecox gerechnet werden konnen. Wenn wir in der folgenden Kasuistik 
bei Heller, Sante de Sanctis, Constantini und Vogt Falle im 
dritten oder vierten Lebensjahre beschrieben finden, so miissen wir hier 
der Diagnose gegeniiber skeptisch bleiben. Kraepelin definiert die 
Dementia praecox als ,,eine eigenartige Zeretorung des inneren Zusammen- 
hangs der psychischen Pereonlichkeit mit vorwiegender Schadigung des 
Willens und Gemiitslebens“, Bleuler hat das Charakteristische der Er- 
krankung in dem Worte ,,Schizophrenic" ausgedriickt. Es erscheint mir 
nun sehr verfanglich, im dritten Lebensjahre einen Zerfall der Person- 
lichkeit nachzuweisen. Die typischen motorischen Symptome allein sind 
aber, worauf Weygandt hingewiesen hat, im friihen Kindesalter nicht 
so wie in den spateren Lebensjahren zu verwerten. Denn im Gegensatze 
zu Kraepelin, der geneigt ist, auch gewisse Formen der Idiotie als 
Friihformen der Dementia praecox aufzufassen, meint Weygandt, 
daB die zahlreichen, der Dementia praecox ahnlichen motorischen Sto- 
rungen sich aus einer gewissen Entwicklungsperiode der normalen Kind- 
heit erklaren. 

Fur unseren Fall kommen alle diese Bedenken nicht in Betracht, da 
die Krankheit erst nach dem 10. Lebensjahre offensichtlich wurde. Dabei 
ist allerdings nicht zu leugnen, daB der Knabe schon als Kind eigenartig 
gewesen ist. Es handelt sich nach der Anamnese, die leider nicht ge- 
nauer zu erheben war, um eigenartige degenerative Storungen, die man 
nicht sicher klassifizieren kann. Da die Schulleistungen des Patienten 
zum Teil gute waren, ist man aber kaum berechtigt, von einer Imbezilli- 
tat zu sprechen, der Fall ware demnach auch nicht der ,,Pfropfhebephre- 
nie“ Kraepelins zuzurechnen. 

Ich gehe nun kurz auf die Kasuistik 1 ) der Fruhkatatonie ein: 

Schon Kahlbaum, der Begriinder der Katatonielehre (zit. nach 
Raecke) hat darauf hingewiesen, daB die Katatonie auch im Kindes¬ 
alter vorkommen kann. Auch Kraepelin gibt zu, mehrere Falle von 
Dementia praecox im Kindesalter beobachtet zu haben. 

*) In chronologischor Reihcnfolge. Eine vollst&ndige Kasuistik zu goben ist 
nicht beabsichtigt. 


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Beitrag zur Kenntois der FrUhkatatonie. 


355 


Bereits im Jahre 1875 hat Kelp drei Falle von Kinderpsychosen ver- 
offentlicht, von denen der zweite lebhaft an das Bild einer Katatonie 
erinnert, wenn auch der Name „Katatonie“ nicht vom Verfasser ge* 
braucht wird. 

Als ,.Dementia infantilis" hat Heller eine Anzahl Erkrankungen 
geschildert, von denen ein Teil mit Wahrscheinlichkeit der Dementia 
praecox angehort. Bei einem kleinen Teil der Falle ist meines Erachtens 
wie ich schon oben angedeutet habe, die Diagnose nicht mit Sicherheit 
zu stellen. 

Auch E. Meyer (zit. nach Raecke) hat Katatonien im 12. und 
14. Lebensjahre wiederholt gesehen, von Ziehen wurden Falle bis ins 
7. Lebensjahr zuriickverfolgt. Ziehe n will in manchen Fallen Symptome 
einer abnorm friihen Pubertatsentwicklung bemerkt haben. 

Im Jahre 1906 hat Sante de Sanctis, nachdem er einige Jahre 
vorher drei ahnliche Falle beschrieben hat, den Fall eines dreijahrigen 
Madchens verdffentlicht, das nach Schreck erkrankte und das Sym- 
ptomenbild einer Katatonie bot. Sante de Sanctis weist jedochdarauf 
hin — und damit bestatigt er meine Bedenken bezw. der Diagnose der- 
artiger Falle —, daB die Diagnose nur auf Grand der Ahnlichkeit der 
Symptome bei diesen Friihformen der Dementia praecox gestellt wird. 
Er laBt es dahingestellt, ,,ob fiir diese Kranken die gleiche Atiologie und 
Pathogenese geltend gemacht werden kann, wie sie fiir die von Dementia 
praecox Befallenen zwar nicht bewiesen, aber vermutet wird“ (d. h. 
eine Autointoxikation). Er ist der Meinung, daB es Symptomenbilder 
der Katatonie gibt, die von der Dementia praecox unabhangig sind. 
Ich schlieBe mich dieser Ansicht vollstandig an, soweit es sich nur um 
ausgesprochene motorische Symptome (,,motorisch“ im engeren Sinne 
des Wortes) handelt und soweit daneben ein PersOnlichkeitszerfall nicht 
festzustellen ist. Dies ist, wie schon angedeutet, u. a. der Fall bei den 
erwahnten ganz friihzeitigen Erkrankungen und bei gewissen Formen 
der Idiotie. Ist jedoch ein Perednlichkeitszerfall nachweisbar, wie es bei 
unserem Patienten der Fall ist, so halte ich es nicht etwa fiir berechtigt, 
die FrUhkatatonie atiologisch und pathogenetisch nur deshalb von der 
Dementia praecox abzutrennen, weil sie vor der Pubertatszeit manifest 
wird 1 ). In unserem Falle, daran muB festgehalten werden, handelt es 
sich eben um eine typische Katatonie, die — abgesehen von der Schild- 
drusenstdrang — nur dadurch bemerkenswert ist, daB sie in den Kin- 
derjahren begonnen hat. 

Die grbBte Anzahl von „Katatonie im Kindesalter" hat Baec ke ver- 
dffentlicht, im ganzen 10 Falle. Von diesen Kindem, die zwischen dem 

*) Von all diesen Erw&gungen bleibt naturlich die Frage unberiihrt, ob wir 
es bei dem groBen Gebiet der Dementia praecox nicht iiberhaupt mit einer atio¬ 
logisch verschiedenartigen Krankheitsgruppe zu tun haben. 

24* 


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356 


K. Pfinitz: 


12. und 15. Lebensjahre standen, galten die Halfte als bisher normal ent- 
wickelt, zum Teil sogar als gut begabt; bei den fibrigen muB man sicher 
von einer mangelbaften Begabung, bzw. Imbezillitat sprechen. Allen 
ist gemeinsam der ,,jahe Wechsel zwischen Hemmung und Erregung mit 
Steigerung zu Stereotypien und triebartig Bizarrem, zu impulsiven 
Entlad ungen und zu blindem Widerstreben bei Fehlen von ausgepragter 
Affektanomalie und BewuBtseinstrfibung“. Ein Zweifel an der Diagnose 
ist nach den Krankengeschichten in keinem Falle berechtigt. 

In den letzten Jahren hat noch Constantini (zit. nach Vogt) zwei 
Falle von ,,Dementia praecocissima“ beschrieben, eine im 4. und eine 
im 5. Lebensjahre beginnend; und kurz nach Raecke hat Vogt drei 
Falle verdffentlicht, davon wird der erste (5 Jahre alt) als rein katatoner 
Typus, der zweite (9 Jahre alt) als hebephrener Typus mit katatonen 
Ziigen und der dritte (15 Jahre alt) als paranoider Fall charakterisiert. 
Vogt meint, daB aus physiologischen Griinden die katatone Form im 
Kindesalter iiberwiegt und erinnert damit an die Ansichten Wey- 
gandts. 

Was also den von mir mitgeteilten Fall von den ubrigen unterscheidet, 
sind die Momente, welche auf eine Hypofimktion der Schilddriise hin- 
weisen. Zum mindesten fehlen in den in der Literatur mitgeteilten 
Fallen Angaben fiber ein Zurfickbleiben im Wachstum und fiber andere 
somatische Symptome. DaB in unserem Falle eine Schilddriisenstdrung 
vorliegt, glaube ich wahrscheinlich gemacht zu haben; sicher ist jedoch 
eine St6rung im Bereiche der Drfisen mit innerer Sekretion vorhanden. 
Man wird vermuten dfirfen, daB diese Stfirungen ffir das frfihzeitige 
Auftreten der schizophrenen Erkrankung nicht ohne Bedeutimg sind, 
zumal, wie oben gesagt, auch andere Erwagungen und Untersuchungen, 
die an Katatonikem gemacht worden sind, daffir sprechen. 

Herm Geheimrat Flechsig danke ich ffir die gfitige Erlaubnis zur 
Publizierung des Falles, Herm Kollegen Schilder ffir die Unterstfitzung 
bei den Versuchen. 


Llteraturverzeichnis. 

Zur Dementia praecox im Kindesalter: 

Constantini, Due case di dementia praecocissima. Rivista di Patologia nervosa 
e mentale 13, H. 3. 1908. (Zitiert nach Vogt.) 

Heller, t)ber Dementia infantilis. Zeitschr. f. jugendl. Schwachsinn t, 17. 1909. 
Inf eld, Beitriige zur Kenntnis der Kinderpsychosen. Jahrb. f. Psych, t*. 1902. 
Kahlbaum, Die Katatonie oder das Spannungsirresein. 1874. 

Kelp, Psychosen im kindlichen Alter. Allgejn. Zeitschr. f. Psych. 31 . 1875. 
Kraepelin, Einfiihrung in die Psychiatrische Klinik. 2. Aufl. 1905. S. 355. 

— Lehrbuch der Psychiatrie. 8. Aufl. 3 . 1913. 

Meyer, E., Die Ursachen der Geisteskrankheiten. Jena 1904. 

Raecke, Katatonie im Kindesalter. Archiv f. Psych. 45. 1909. 


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Beitrag zur Kenntnis der Frtlhkatatonie. 357 

Sante de Sanctis, Rivista sperim. di Freniatria Vol. XXXII, Fasc. I, II. 1906. 
— Dementia praecocissima. Folia neurobiol. t, 1908. 

Vogt, t)ber F&lle von Jugendirresein im Kindesalter. Allgem. Zeitschr. f. Psych. 
€6. 1909. 

Weygandt, Idiotie uhd Dementia praecox. Zeitschr. f. jugendl. Schwachsinn 
I, 311. 1907. 

Ziehen, Geisteskrankheiten des Kindesalters. II. Berlin 1904. 

Zur Storung der Schilddriisenfunktion: 

Bauer, Zur Funktionspriifung des vegetativen Nervensystems. Deutsches Archiv 
f. klin. Med. 10T. 1912. 

Biedl, Innere Sekretion. 1. und 2. Aufl. 1910 und 1913 (ausfiihrliches Literatur- 
verzeichnis ). 

Blum, tJber Nebennierendiabetes. Deutsches Archiv f. klin. Med. 91 . 1901. 
Bonhoeffer, Die Psychosen im Gefolge von akuten Infektionen, Allgemeinerkran- 
kungen und inneren Erkrankungen. Handb. d. Psych. 1912. 

Eppinger und HeB, Die Vagotonie. Berlin 1910. 

— Falta und Rudinger, Uber die Wechselwirkungen der Driisen mit innerer 

Sekretion. Zeitschr. f. klin. Med. 66 . 1908. 

Falta, Newburgh und Nobel, t)ber die Wechselwirkungen der Driisen mit 
innerer Sekretion. Zeitschr. f. klin. Med. It. 1911. 

Hirschl, Beitrage zur Kenntnis des Morbus Basedowii. Jahrb. f. Psych, u. Neurol. 
1902. 

Kndpfelmacher, Aliment&re Glykosurie und Myxodem. Wiener klin. Wochen- 
schr. 1904, Nr. 9. 

Kraus und Ludwig, Klinischer Beitrag zur alimentaren Glykosurie. Wiener 
klin. Wochenschr. 1891, S. 855. 

Lewandowsky, Stand und Aufgaben der allgemeinen Physiologic und Pathologic 
des sympathischen Systems. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 14 . 1913. 
v. Noorden, Die Zuckerkrankheit. Berlin 1898. 

Potzl, HimschweUung. Jahrb. f. Psych. 31 . 1910. 

— Eppinger und HeB, t)ber Funktionspriifung des vegetativen Nervensystems 

bei einigen Gruppen von Psychosen. Wiener klin. Wochenschr. 1910, Nr. 51. 
Wagner v. Jauregg, Myxodem und Kretinismus. Handb. d. Psych. 1912. 


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tlber therapeutische Yersuche mit kolloidalem Palladiura- 
hydroxydnl („Leptynol“) bei verschiedenen Psychosen. 

Von 

Dr. Walter Gorn. 

(Aus der Brandenburgischen Landesirrenanstalt Sorau [Direktor: Geh. Rat 

Dr. Schmidt].) 

(Eingegangen am 12 . September 1913.) 

Zu den vorliegenden therapeutischen Versuchen fiber den EinfluB des 
kolloidalen Palladiumhydroxyduls, das unter dem Namen „Leptynol“*) 
in den Handel kommt, haben die erste Anregung die von Kauffmann 1 ) 
in seinen Entfettungsversuchen mit diesem Praparat gemachten An- 
gaben liber die giinstige psychische Beeinflussung der Patienten wahrend 
der Kur, besonders neurasthenischer Individuen, und die Bestatigung 
dieser Beobachtungen Kauff manns in den von uns angestellten Nach- 
prlifungen 2 ) gegeben. 

Die Einverleibung der katalytisch wirkenden kolloidalen Metalle 
in den Organismus zu therapeutischen Zwecken, deren erste Anfange 
in verschiedenen Arbeiten namentlich franzdsischer Forscher um das 
Jahr 1900 niedergelegt sind [Izar 8 )], von denen aber eigentlich nur 
die Publikationen Robins 4 ) liber die glinstigen Erfolge bei der thera¬ 
peutischen Verwendung des Platinsols in Fallen von croupdser Pneu- 
monie exakte Werte enthalten, ist seit der therapeutischen Anwendung 
des Cred^schen Collargols allgemein bekannt geworden. Die Er- 
forschung der Bedeutung des kolloidalen Zustandes flir den Organismus 
und besonders die chemische Erkenntnis der katalytisch wirkenden 
Stoffe im menschlichen KOrper, zu denen nach den Forschungen Bre- 
digs die in ihrer Wirkung dem im animalen und vegetabilen Gewebe 
vorhandenen Ferment der Katalase gleichkommenden ,,anorganischen 
Fermente“, die Metallsole hinzutreten, lieBen die alte empirische Tat- 
sache wissenschaftlich begrlindet erscheinen, daB Anregung der Oxy- 
dationsvorgange im KOrper, wie sie z. B. schon durch den Sauerstoff- 
reichtum der frischen Luft geschieht, glinstig auf den O-Gehalt des 
Blutes wirkt, den Abbau toxisch wirkender Zerfallsprodukte im Or¬ 
ganismus fdrdert und den Aufbau gesunder Gewebselemente wirksam 

*) Das Praparat wird in den Handel gebracht von der Firma Kalle & Co., 
Biebrioh. 


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W. Gom: fiber therapeutische Vertuche. 


B59 


unterstiitzt. Wiewohl das Gebiet der Oxydasenslehre vom physika- 
lisch-chemischen Standpunkt auch heute noch keineswegs vfillig be- 
kanntes Land daratellt, Hind wir doch durch die Forechungen von Bre¬ 
dig, Salkowski, Spitzer und anderen der Erkenntnis der Wirkungs- 
weise dieser Stoffe naher gekommen, deren Eigenschaften Traubo 
schon 1888 mit den Worten charakterisiert hat: ,,Es gibt Fermente, 
die die Fahigkeit besitzen, freien Sauerstoff aufzunehmen und ihn auf 
andere passive Korper zu fibertragen bzw. deren Oxydation zu ver- 
anlassen. 14 (Zit. nach Schade.) Wir verweisen hier auf die vortreff- 
liehe Schrift von Schade 6 ), der besonders die Bedeutung der Kata- 
lyse fur die Medizin eingehend behandelt, und die neueste umfassen- 
de Arbeit von Bechhold ,,t)ber die Kolloide in Biologic und Medizin“. 

In alien den friiheren therapeutischen Versuchen mit kolloidalen 
Metallen wurden fast ausschlieBlich sogenannte Hydrosole der Metalle 
benutzt, von denen eben besonders das Cred 6sche Collargol viel an- 
gewendet wurde. Eine zusammenfassende Daretellung des damaligen 
Standee der therapeutischer Verwendung der kolloidalen Metalle gibt 
Izar in dem oben erwahnten Referat, wo er auch in einzelnen Thesen 
das fiber ihre physikalisch-chemische Wirkung und ihre sonstigen Eigen¬ 
schaften Bekannte, namentlich fiber ihre hamolytischen Fahigkeiten, 
zusammenfaBt. Schon damals wurde von verechiedenen Autoren auf 
mehrere gute Nebeneigenschaften der kolloidalen Metalle bei ihrer 
therapeutischen Verwendung hingewiesen, die sie besonders geeignet 
ftir die Anwendung in der Therapie erscheinen lieBen. So betonte 
Beier®) das alsbald nach der Injektion eintretende subjektive Wohl- 
befinden der Patienten, und WeiBmann 7 ) machte besonders auf die 
stark bakteriziden Eigenschaften der kolloiden wasserigen Metall- 
ldsungen aufmerksam, durch die die Technik der Applikation doch 
immerhin erleichtert schien und die Infektionsgefahr stark reduziert 
wurde. 

C. Paal 8 ) stellte dann, indem er geringe Mengen von EiweiBspal- 
tungsprodukten (Protalbinsaure und Lysalbinsaure) als Schutzkolloide 
anwendete, Metallhydrosole von hohem Werte her, denen Amberger*) 
in geringer Modifikation des Paalschen Verfahrens Metallorganosole 
anreihte, die Wollfett als Schutzkolloid enthielten, ebenfalls hohen 
Metallwert besaBen und die oben erwahnten Eigenschaften der Hydrosole 
in hervorragender Weise teilten. Zu unseren Versuchen verwendeten 
wir zuerst die auch von Kauffmann (a. a. O.) angewandte kolloidale 
LOsung von Wollfett-Palladiumhydroxydul in flfissigem Paraffin, spater 
in SesamdllOsung, die leichter resorbiert wird. Das in unserer friiheren 
Mitteilung (a. a. 0.) fiber die Technik der Injektion des Leptynols Ge- 
sagte gilt auch ffir diese Versuche. Wir muBten uns nun bei der Anstel- 
lung unserer Versuche, die wir spekulativ auf die beobachtete gfinstige 


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360 


W. Gorn: (jber therapeutiache Vereuche mit 


nervose Beeinflussung unserer Patienten, die eine Entfettungskur mit 
Leptynol durchmachten, griindeten, die Frage vorlegen, ob uns die bis 
jetzt bekannten StoffwechBeluntersuchungen bei den einzelnen Psy¬ 
chosen und Neurosen in ihren Ergebnissen eine Berechtigung zu der 
Annahme geben, daB Anregung der Oxydationsvorgange im Organism us 
giinstig wirken und die Psychosen in ihrem Verlauf eventuell vorteilhaft 
zu beeinflussen imstande waren. Es sei der besseren Ubersichtlichkeit 
wegen erlaubt, im Zusammenhang mit den einzelnen Psychosen und 
Neurosen, auf deren Verlauf wir mit Leptynol einzuwirken suchten, 
die Ergebnisse der Stoffwechseluntersuchungen bei den betreffenden 
Erkrankungen des Zentralnervensystems anzufiihren, die uns diese 
Vereuche untemehmen lieQen. 


Genuine Epilepsie. 

Es wiirde den Rahmen dieser Arbeit weit iiberechreiten, wenn wir 
alle vorgenommenen Untersuchungen uber den Stoffwechsel bei Epi- 
leptikern beriicksichtigen wollten. Trotz aller aufgewandten Muhe 
haben sie zu keinem einheitlichen Resultat gefuhrt und fast jedem 
Befund in irgendeiner Richtung steht eine Vereuchsreihe mit entgegen- 
gesetztem Resultat gegenuber, sowohl was den gesamten Stoffwechsel 
bei der genuinen Epilepsie, wie die Modifikationen desselben bei dem 
einzelnen Anfall oder dem Status epilepticus anlangt. Wir konnen uns 
hier den Feststellungen Tintemanns 10 ) anschlieBen, daB keines der 
Resultate dieser Stoffwechseluntersuchungen ,,bisher geeignet erecheint, 
uns einen Einblick in das Wesen der Krankheit zu eroffnen. Es sind 
vorlaufig Einzeltatsachen, deren jede weitere Untersuchungen erfordert“. 
In neuerer Zeit sind nun auch die bis jetzt bekannten Tatsachen aus dem 
Gebiet der Kolloidchemie zur Erklarung des Wesens der Epilepsie 
herangezogen worden [vgl. L6we, Untersuchungen iiber die Ham- 
kolloidederEpileptiker 11 ) und Rosental, DasVerhaltenderantiproteo- 
lytischen Substanzen im Blutserum der Epileptiker 12 )]. Rosental 
wies nach, daB die antiproteolytischen Substanzen in erhohtem MaBe 
im Serum der Epileptiker vorhanden sind und daB diese Substanzen 
vor dem Anfall eine Vermehrung, nach ihm eine Verminderung erfahren. 
Er schlieBt daraus, daB wir „das erhdhte Hemmungsvermogen des Blut- 
serums der fermentativen Proteolyse gegenuber als den Ausdruck einer 
Hyperfunktion der den intermediaren EiweiBstoffwechsel auf dem Wege 
der inneren Sekretion befordernden Momente“ ansehen diirfen. Diese 
Annahme stimmt iiberein mit der von Rohde festgestellten Neigung 
der Epileptiker Stickstoff zu retinieren [vgl. GeiBler, Uber den Stoff¬ 
wechsel bei Geisteskranken 18 )]. In der Rosentalschen Arbeit wird 
im AnschluB an die aus den Ergebnissen gezogene SchluBfolgerung 


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kolloidalem Palladiunihydroxydul bei verschiedenen Psychosen. 


361 


darauf hingewiesen, daB schon Claude und Schmiergeld haufig 
anatomische Veranderungen in den Drtisen mit innerer Sekretion, 
besonders der Glandula thyreoidea, im Sinne einer sklerotischen Affek- 
tion, die eine Hypofunktion der Organe bedingt, bei Epilepsie gefunden 
haben. Demgegeniiber hat Kauffmann schon in seiner zweiten Mit- 
teilung fiber Leptynol die gfinstigen Erfolge der Injektionen des kolloi- 
dalen Palladiumhydroxyduls bei Fallen mit Stbrungen der inneren 
Sekretion berichtet. 

Wir wahlten aus dem Material der Epileptiker in unserer Anstalt 
3 Falle heraus, von denen einer (Fall I) an unregelmaBig, ziemlich haufig 
auftretenden Anfallen litt, mit psychischen epileptischen Veranderungen, 
die in der Intervallzeit deutlich zutage traten. Fall II charakterisiert 
sich durch Anfallsserien, die durch groBe, freie Intervalle getrennt sind, 
Fall III bot neben unregelmaBig, aber selten in Erscheinung tretenden 
Krampfanfallen mehr die Zeichen psychischer Alteration, Affektlabilita* 
ten bis zur starksten Unruhe, Angst, Gottnomenklatur, Aggressivitat. 
Alle 3 Patientinnen sind intellektuell erheblich reduziert, besonders 
Fall I und III. Els ist noch zu bemerken, daB natfirlich wahrend der 
Verabreichung yon kolloidalem Pd (0H) 2 eine andere therapeutische 
Verordnung an die Patienten nicht gegeben wurde, daB aber andererseits 
die eingetretenen Verschlimmerungen nicht auf Unterbrechung irgend- 
einer antiepileptischen Kur (Brom, Luminal usw.) zurfickzuffihren sind. 
Alle 3 Patienten wurden mindestens 14 Tage vorher ohne Medikamente 
gehalten, abgesehen von kleinen Dosen Chloralhydrat als Schlafmittel 
(1,0—2,0 gr). Die letzte Dosis wurde auch hier 3 Tage vor Beginn der 
Palladiumkur gereicht, — Blutdruckschwankungen wurden nur in 
Grenzen von 10—15 mm Hg beobachtet, Veranderungen im mikrosko- 
pischen Blutbild traten nicht auf. In Fall II besserte sich der irregulare 
Puls schon nach der ersten Leptynoldosis unzweifelhaft, spater schwan- 
den die Herzsymptome vollstandig. Eine besondere Intensitat der 
Krampfanfalle ist uns nicht aufgefallen, dagegen war die Anfallsserie 
in Fall II von langerer Dauer als der sonstigen klinischen Beobtichtung 
und Erfahrung entsprach, ebenso die Periode der psychischen Alteration 
und Verstimmung in Fall III. 

Mit Rficksicht auf die Moglichkeit, die schon in der frfiheren Arbeit 
von mir (a. a. 0.) betont wurde, daB die katalytische Wirkung des 
Palladiums im Organismus durch geeignete Diat und reichliche Be- 
wegung beim Patienten erhoht wird, haben wir in alien Fallen in der 
ersten Versuchsreihe die Patienten Bettruhe einhalten lassen ohne 
Anwendung besonderer Diatvorschriften, in der zweiten Versuchsreihe 
Milchdiat nach Moritz, die sich uns bei Entfettungskuren durch 
Leptynolinjektionen bewahrt hat, und taglich 2—3stfindigen Spazier- 
gang angeordnet. Diese letzteren Verordnungen wurden auch ffir die 


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362 W. Gorw: (Ther llierapeutisolie Versuche mit 

spater angefiihrten Falle anderer psychischer Erkrankungen getroffen. 
Ich lasse die Krankengcschichten nachfolgen: 

Fall I. A. V., Landwirtstochter, 37jahr. Vater: Potator. Seit dem 17. Jahre 
typische epiieptische Anfalle, in den letzten Jahren sehr haufig. Allmahlich 
bildete sich eine erhebliche Demenz aus, Pat. wurde gcdachtnisschwach, stark 
reizbar, brutal zomwiitig. Eingeliefert am 3. VII. 13 im Zustande leichter Benom- 
menheit, ist unvollkommen orientiert, spricht h&sitierend, leichte Inkoharenz des 
Gedankenablaufs. Somatisch sind Besonderheiten nicht konstatierbar. Anfalle 
treten anfangs taglich 1—2, am 8. und 9. VII. je 3 taglich auf. 

Am 10. VII. Injektion von 1 com Leptynol, ohne besondere Diatverordnung. 
An demselben Tage 2 Anfalle, psychisch unverftndert. 

Am 11. VII. Injektion: 2 ccm Leptynol. Danach 3 epiieptische Anfalle, 
Pat. ist laut, erregt, wird aggressiv. 

Am 12. VII. dasaelbe psychische Verhalten, 4 Anfalle. 

Am 13. VII. Injektion: 4 ccm Leptynol. Danach Haufung der Anfalle bis 
zu 9 taglich; psychisch ist Pat. aufierst gereizt, riicksichtslos gewalttatig, grob, 
jedoch ohne wesentliche BewuBtseinstriibung. 

Danach wird mit der Applikation von Leptynol ausgesetzt, Pat. wird ruhiger, 
die Anfalle gehen zuriick bis auf 2 taglich. Vom 15. VII. ab ist Pat. in ihrem 
psychischen Verhalten wie zu Beginn der Kur. 

Am 21. VII. bei Milchdiat und maBiger Bewegung Injektion von 2 ccm 
Leptynol. Nachmittags traten 3 Anfalle auf, Pat. wurde wieder sichtlich gereizt, 
unvertrftghch. 

Am 22. VII. Injektion von 3 ccm Leptynol. Darauf am selben Tage 5 Anfalle, 
starke psychische Alteration mit den iiblichen Symptomen. 

Sistierung der Injektionen, Pat. bekommt normale Kost, Bettruhe. Naohdem 
am 23. VII. noch 6 Anfalle auftreten, nehmen diese in der Zahl allm&hlich ab, am 
28. VII. ist Pat. ganz anfallsfrei und hat seitdem unter Bromtherapie wochentlich 
2—3 Krampfanfalle. Psychisch zeigt sie transitorische Verstimmungen, ist meist 
heiter, leidlich geordnet und zeitlich und ortlich orientiert. 

Fall II. E. St., Arbeiterin, 27jahr. Uber hereditare Belastung nichts bekannt. 
Hat seit 1905 epiieptische Anfalle, die namentlich in den letzten Jahren deutlich 
serienweise auftreten, wobei der alle 3—4 Wochen auftretenden, zirka 4—5 Tage 
dauernden Anfallsperiode einige Tage vorausgehen, an denen Pat. verstimmt ist, 
meist deprimiert, aber reizbar, miBtrauisch, sehr empfindlich. Am 1. IV. 11 in 
die Anstalt eingehefert. Soraatisch besteht deuthche Obesitas cordis; leichte 
Pulsirregularitat. Seit 14. VII. hatte Pat. 2—4 Anfalle taglich. 

Am 10. VII. Injektion von 4 ccm Leptynol. Am selben Tage 6 Anfalle, keine 
psychischen Veranderungen. Somatisch: Puls vollig regular, gut gespannt. 

Am 17. VII. 6 Anfalle, sonst unverandert. 

Am 18. VII. Injektion von 4 ccm Leptynol: 5 epiieptische Anfalle. 

Am 19., 20., 21., 22. VII. taglich 4, 3, 3, 2 Anfalle. Danach ist Pat. psychisch 
leidlich frei bis auf dauernd bestehende Affektschwankungen leichten Grades. 

Am 4. VIII. treten bei der Pat. die vor der Anfallserie haufig beobaehteten 
Symptome der Veranderung der Affektlage auf, sie wird erhoht reizbar, wider- 
strebend, fiihlt sich zuriickgesetzt, gekrankt, macht Streit auf der Abteilung. 

Am 5. VIII. Injektion von 4 ccm Leptynol bei Milchdiat und maBiger Bewegung, 
darauf nachmittags 3 Anfalle. 

Am 0. VIII. Injektion von 4 ccm Leptynol, am Tage 4 Anfalle, ebenso am 
7. VIII 4 Anfalle. 


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kolloidalem Palladiumhydroxydul hei versohiedenen Psychosen. 


363 


Naoh Sistierung der Injektionen dauern die Anf&Ue in t&glicher Anzahl von 
6—2 bis zum 13. VIII. Danach wird Pat. wieder frei wie sonst in dem inter- 
paroxismalen Zeitraum. 

Fall III. E. G., Dienstmagd, 39 j&hr. t)berhereditare Belastung nichts bekannt. 
Hat seit 1890 Schwindelanf&Ue, spelter ausgesprochen epileptische Krampfe, die 
jetzt relativ selten auftreten, sodaB Pat. in der Nahstube beschaftigt wird. Pat., 
die 4. V. 1900 in die hiesige Anstalt aufgenommen wird, ist jetzt intellektuell 
stark reduziert, stumpf, einformig. Die Anf&Ue sistieren oft wochenlang. In 
Zeiten der psychischen Erregung ist Pat. angstlich, &uBert Beeintrachtigungs- 
ideen, redet in religids-ekstatischer Weise (Gottilomcnklatur). 

Am 16. VII. bekam Pat., die auBerlich in der letzten Zeit vollig ruhig und 
ohne Anf&Ue war, 4 ccm Leptynol. Am selben Nachmittag 2 Anfalle, zunehmende 
psychische Unruhe und Erregtheit im geschilderten Sinne. 

Am 17. VII. 3 Anfalle. Psychisch: Stat. id. 

Am 18. VII. 4 ccm Leptynol: starke psychische Alteration, Pat. spricht 
dauernd in pastoralem Ton von Gott, seiner Gnade, vom Himmelreich, &uBert 
Vereiindigungsideen, wird schlieBlich gewaltt&tig, zerreiBt Sachen. 2 Anfalle. — 
Sistieren der Injektionen. 

Am 19. VII. Die Pat. beruhigt sich allm&hlich, ist zug&nglich, 1 Anfall. 

Am 21. VII. normale Affektlage der Pat., gewohntes Krankheitsbild wie an 
den Tagen vor den Injektionen. 

Vom 6. VIII. wird die Injektionskur mit 4 ccm Leptynol und Wiederholung 
derselben Dosis am 8. VIII. nochmals begonnen unter Verordnung von MUchdi&t 
und etwas reichlicherer Bewegung. Die Pat., die am Beginn der Kur absolut ruhig 
und ohne Anf&Ue war, beginnt am 6. VIII. nachmittags angstlich zu werden, 
spricht viel von Gott; am 7. und 8. VIII. hat Pat. 2 und 3 Anf&Ue, ist psychisch 
stark erregt. 

Nach Sistierung der Leptynolinjektionen beruhigt sie sich bald, die Anf&Ue 
bleiben weg, am 12. VUI. bietet Pat. wieder das gewohnte psychische Bild. — 

Es kann kein Zweifel dariiber bestehen, daB die Resultate dieser 
Versuche mit Palladiuminjektionen bei Epilepsie ungiinstig ausgefallen 
sind, sowohl in bezug auf die Haufigkeit der Anfalle wie auf die psychi- 
schen Stdrungen und ihren Verlauf. Es hat den Anschein, als ob che- 
mische Prozesse, wenigstens soweit sie in der oben begrundeten Richtung 
der untemommenen Versuche liegen, obwohl sie den Resultaten mancher 
bei Epilepsie gemachten Stoffwechseluntersuchungen reziprok waren, 
bei der Epilepsie und der Genese ihres augenfalligsten Symptomes, des 
epileptischen Anfalls, eine nur sekundare Rolle spielen und daB auf 
diesem chemisch-therapeutischen Wege die Beeinflussung der epilep¬ 
tischen Symptome keinen Erfolg verspricht. Vielleicht ist es nicht un- 
wichtig, hier daran zu erinnern, wie oft epileptische AnfaUe, die spater 
zur genuinen Epilepsie mit alien typischen Symptomen sich entfalten 
konnen, auch bei diffusen organischen Gehimerkrankungen, als anfang- 
liche Reflexepilepsie, sogar im AnschluB an chronische Reizung peripherer 
Nerven entstehen und diese Tatsache der molekular-mechanischen 
Deutung ftir die Genese der typischen Erscheinungen der Epilepsie, 
wie sie schon Schroder van der Kolk mit dem Gleichnis der Ladung 


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364 


W. Gorn: Uber therapeutische Versuche mit 


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einer Leydener Flasche plausibel machte, Unterstiitzung verleiht, 
wahrend die im Chemismus der Korperzelle beobachteten Veranderungen 
mehr Folgeerscheinungen und somit abhangiger Natur sind von einem 
Agens, das wir nicht kennen und das man als epileptische Veranderung 
bezeichnet. Dabei ist keineswegs ausgeschlossen, daB auch Stoffwechsel- 
veranderungen bei genuiner Epilepsie atiologische Faktoren von maB- 
gebender Bedeutung sein konnen, aber sie scheinen nicht das wichtigste 
genetische Moment zu sein, kommen jedenfalls auch in einzelnen Fallen 
nicht allein als pathogenetische Faktoren in Betracht und sind auf dem 
Wege der Einverleibung anorganischer, katalytisch wirkender Fermente 
in dem Organismus nicht beeinfluBbar. Die klinische Beobachtung 
unserer Patienten wahrend der Versuche macht es vielmehr wahrschein- 
lich, daB die starke Anregung der Oxydationsvorgange im Korper 
gerade auf diese in ihrem Wesen noch unbekannte, primar zur Ent- 
stehung der genuinen Epilepsie notwendige Veranderung im Zentral- 
nervensystem ungtinstig wirkt. 

Ganz anders und durchaus gunstig waren dagegen die Resultate 
der Leptynolinjektionen bei dem nachstehend .geschilderten Fall IV 
von Erschdpfung und Benommenheit nach gehauften epileptischen 
Anfalien. Hier war der EinfluB der kolloidalen Metallosung gunstig 
und erinnerte uns auffallig an die von Alt 14 ) gemachten guten Erfah- 
rungen mit Sauerstoffinhalationen bei der ,,nach gehauften epileptischen 
Anf alien bestehenden Cyanose und Herzschwache“. 

Fall IV. E. Sch., Arbeiterfrau, geb. 31. VII. 1864. tJber Heredit&t nichts 
bekannt. Als Kind somatisch und intellektuell normal entwickelt; sp&ter ohne 
groBere Krankheiten. Seit zirka 20 Jahren hat sie typische epileptische Anf&lle, 
angeblich im AnschluB an normalen Partus. In Anstaltsbehandlung seit 21. X.1908. 
Bei der Aufnahme intellektuell schon wesentlich reduziert, hat zahlreiche Anfaile, 
ist oft laut, storend, wird zeitweise erregt bis zur Aggressivitat. Nach den An- 
f alien stets langere Zeit be nommen, somnolent; in der Zeit vom 6.—9. VIII. 
1913 hatte Pat. auffallig haufige Anfaile in gewohnter Intensitat, kein Fieber, 
war aber danach am 10. VIII. schwer bcnommen, miiBte gefiittert werden, reagiert 
auf Anruf nur wenig, auf mechanische Reize (Nadelstich) gut. Herderscheinungen 
waren nicht nachweisbar. Die Pupillen reagierten normal, wenig ausgiebig. Herz- 
aktion schwach. Puls rhythmisch aqual. 

Am 11. VIII. Injektion von 4 ccm Leptynol ohne Diatverordnung, Einhaltung 
von Bettruhe. Pat. hat am Xachmittag 2 Anfaile von kurzer Dauer, ist aber 
psychisch freier, verlangt Essen, nimmt teil an den Vorgangen in der Umgebung. 
Herzaktion wesentlich gebessert. 

Am 12. VIII. wieder mehr benommen, somnolent. Puls normal. 

Am 13. VIII. 4 ccm Leptynol. Danach wird Pat. wieder lebhafter, beginnt 
in ihrer sonst iiblichen Art zu r&sonnieren. Kein AnfalL 

Am 14. VIII. Stat. id. 

Am 16. VIII. 2 ccm Leptynol. — Ohne Anfall, psychisch in derselben Ver- 
fassung wie auch in den nachsten Tagen, an denen Anfaile auftraten: etwas reizbar, 
schimpft, queruliert, ist aber lucide. 


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kolloidalem Palladiumhydroxydul bei verschiedenen Psychosen. 


365 


Am 16. VIII. und am 18. VIII. hat sie je einen Anfall, ohne daB nach ihnen 
besondere Benommenheit auff&llig w&re. 

In den folgenden Tagen, die wechselnde, gegen friiher nicht vermehrte Zahl der 
Anf&lle zeigen, treten psychisehe Besonderheiten im Krankheitsbild nicht hervor. — 

DaB hier die Einverleibung des kolloidalen Palladiumhydroxyduls 
den desolaten Zustand der Patientin giinstig beeinfluBte, ist wohl 
zweifellos. Aber wir hatten nicht den Eindruck, als ob die fur die Genese 
des epileptischen Anfalls wichtigen Positionen des Zentralnervensystems 
von dem Medikament so angegriffen wiirden, daB dann die wesentliche 
Besserung im Befinden der Kranken so schnell eintrat, sondem daB 
das katalytisch wirkende Leptynol den Stoffwechsel im Organismus der 
Patientin im allgemeinen anregte, die Erschdpfung des ganzen K6rpers 
in ihren Symptomen allgemein beseitigte und eine Anregung der Herz- 
tatigkeit bewirkte, wie wir es in den spater zu erortemden Fallen wieder- 
holt beobachten konnten. 

Klimakterische und prasenile Depressionszustande, senile 
Demenz, manisch-depressives Irresein. 

Fall V. L. R., 47j&hr. ledige Friseuse, erblich nicht belastet, normal ent- 
wickelt, friiher stets gesund, normal menstruiert. Seit Juli 1912 ohne besondere 
Veranlassung stark deprimiert, Insuffizienzgefiihl, auBert Nichtigkeitsideen. 
Tentamen suicidii. 18. I. 1913 Aufnahme in die Anstalt. Somatisch ohne Befund. 
Wassermann im Blut negativ. Psychisch dasselbe Bild: zeitlich und ortlich orien- 
tiert, sehr angstlich, jammert, psychisch und motorisch gehemmt, starke Suicid- 
tendenz, dauemd vollig im Banne ihrer depressiven Wahnideen. 

Fall VI. G. W., 62jahr., ledig, berufslos. Ohne heredit&re Belastung, friiher 
gesund. Cessatio mensium seit einigen Jahren. Im AnschluB an anstrengende 
Krankenpflege und Tod der Mutter wurde Pat. deprimiert, auBerte Selbstvorwiirfe, 
hypochondrische Wahnideen, Suicidabsichten, Beeintrachtigungsideen, jammerte 
viel, untemahm mehrmals Suicidversuche. In Anstaltsbehandlung seit 28. X. 1912, 
hier seit 6. III. 1913. Somatisch: Arteriosklerose, Blutdruck 134 mm Hg, Wasser¬ 
mann negativ. Psychisch derselbe Zustand wie friiher, namentlich beherrschen 
die Kranke Beeintr&chtigungsideen, die sie an die geringsten auBeren Anl&sse an- 
kniipft 

Fall VII. Ch. Z. 46jahr. Arbeitersfrau, nicht belastet, stets gesund, 4 gesimde 
Kinder. — Vor 3 Jahren Ausbleiben der Menses; Pat. war im AnschluB daran 
„nervenkrank“; nach Wiedereintritt der Menses Besserung im nervosen Zustand; 
ebenso vor 2 Jahren. Seit Oktober 1912 Cessatio mensium. Seitdem ist Pat. ge- 
dankenschwach“, ohne Initiative, deprimiert, angstlich, mutacistisch, hat Ver- 
folgungsideen, geht nachts auBer Bett, drangt fort. Aufnahme in die Anstalt 
28. VI. 1913. Somatisch ohne Befund. Wassermann im Serum negativ. Pat. ist 
dauemd angstlich, psychisch und motorisch gehemmt, halluziniert akustisch, 
manchmal raptusartige Attacken, hat Verfolgungs- und Vergiftungsideen. 

Fall VIII. C. R., 60jahr. Arbeiterswitwe. Mutter psychotisch. Pat. ist an- 
geklagt, weil sie ihr Enkelkind im Sand vergmb und erstickte; gibt femer selbst 
an, daB sie vor 21 Jahren ihr eigenes 7 Monate altes Kind im Badewasser ertrankt 
habe, da sie „doch sonst verhungem miiBten“. Aufnahme am 13. VI. 1913. So- 


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W. Gorn: Uber thorapeutische Versuche mit 


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matisoh: PupiUen wenig ausgiebig reagierend, die linke leicht entrundet. Puls 
stark irregular, Herzgrenzen normal, Tone rein; Urin ohne Befund. Blutdruck 
145 mm Hg, Wassermann im Blut negativ. — Pat. ist gut orientiert, in ver- 
zweifelter Stimmung, hat ausgesprochene Nichtigkeitsideen, „alles ist weg, es 
w&chst nichts mehr“ usw., ist angstlich, kuBert depressive und hypochondrische 
Wahnideen. 

Fall IX. M. Sch., 55 j&hr. Kinderfraulein. Mutter f Apoplexie, eine Schwester 
f Suicid. — Als Kind somatisch und intellektuell normal entwickelt, Menses seit 
17. Jahr stets unregel ma Big. Hatte in friihercn Jahren mehrfach gemiitliche De- 
pressionen von verschiedener Dauer, dazwischen leicht manische Phasen. Ge- 
nauere Angaben hieriiber fehlen. In die Anstalt aufgenommen 24. XII. 1912. 
Somatisch ohne Besonderheiten. Psychisch in ausgesprochen oppressiver Affekt- 
lage, auBert depressive Wahnideen, motorisch und psychisch gehemmt, dann 
mutacistisch, zeigt ieichten Negativismus, muB schlieBlich mit der Sonde gefiittert 
werden. Im Marz 1913 wird Pat. deutlioh manisch, hat euphorische Stimmung, 
schmiickt das Bett mit Blumen, spricht viel. Wird dann, anfangs August wieder 
gehemmt, angstlich, jammert, schlieBlich mutaoistisch, vollig akinetisch, iBt nicht, 
ohne jede Spontaneity und sprachliche AuBerung. 

Am 19. VIII. 4 ccm Leptynol, danach anscheinend freier, macht Spontan- 
bewegungen, ist obstinat, spricht aber nicht. • 

Am 20. VIII. 2 ccm Leptynol, danach psychisch entschieden weniger ge¬ 
hemmt, spricht spontan, verlangt Essen, ist noch etwas angstlich und ablehnend. 

Am 21. VIII. 2 ccm Leptynol. Nachmittags wird Pat. sehr lebhaft, erregt, 
schimpft, RuBert, man habe ihr etwas in das Essen getan, ist motorisch sehr lebhaft. 
bleibt auch am Tage noch in motorischer und psychischer Unruhe, ist am 23. VIII. 
ruhiger, am n&chsten Tage wieder gehemmt und mutacistisch. 

Man kann dariiber im Zweifel sein, ob die oben gegebenen Diagnosen 
den beschriebenen Krankheitsbildern entsprechen. DaB in den Fallen VI 
und VIII die bestehende Arteriosklerose atiologische Bedeutung hat, 
ist nicht von der Hand zu weisen, ebenso scheint es mir berechtigt zu 
sein, den als ,,manisch-depressives Irresein“ bezeichneten Fall IX in 
die Reihe jener differentialdiagnostischen Grenzfalle zu stellen, in denen 
durch das Auftreten remittierender katatoner Episoden nach Ur- 
steins Auffassung das manisch-depressive Krankheitsbild den Fallen 
von Dementia praecox angegliedert werden muB. Fdr uns war das 
Wesentliche, aus der Zahl der behandelten Falle solche der allgemeinen 
Kritik zuganglich zu machen, die klinisch einen entschieden melancho- 
lischen Gesamteindruck machten, psychische und motorische Hem- 
mungen, ausgepragt paranoide Zuge depressiven Inhalts und (Fall VII) 
Angstaffekte zeigten. 

Die bei Melancholie, Angstpsychosen und sender Demenz von ver- 
schiedenen Autoren vorgenommenen Stoffwechseluntersuchungen lassen 
noch weniger eine eindeutige Verwertung der Resultate zu als die bei 
der Epilepsie. Kauffmann 16 ) fand bei Melancholien mit einiger 
RegelmaBigkeit Indican im Urin, dessen Vorhandensein entweder 
durch das bei Melancholischen hiiufige Darniederliegen der Darmperi- 
staltik und die daraus resultierende vermehrte und protrahierte EiweiB - 


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kolloid&lem Palladiumhydroxydul bei verschiedenen Psychosen. 


367 


faulnis im Intestinaltraktus erklart wird oder neurogenen Ursprungs ist, 
insofem man bei Psychosen des in Frage stehenden Charakters haufig 
Verminderung der Gallen- und Magensaftsekretion gefunden hat. Bei 
Angstpsychosen wurde mehrmals Glykosurie festgestellt [v. Noorde n lfl ), 
Kauffmann, Rohde, Tintemann]. Wir konnten in keinem der 
angefiihrten Falle Indican im Urin nachweisen, ebensowenig bestand 
in Fall VII Glykosurie. 

Wir haben unsere Patienten (Fall V—VIII) in 2 Versuchsreihen 
therapeutisch zu beeinflussen versucht, indem wir, wie anfangs erwahnt, 
eine 2w5chige Kur mit 4maliger Leptynolinjektion von je 4 ccm 
ohne Diatvorschrift und mit Bettruhe, dann, nach einem grdBeren 
Zwischenraum eine ebensolche Kur mit Milchdiat und reichlicher Be- 
wegung einhalten lieBen. Eine Veranderung des klinischen psychischen 
Zustandsbildes trat nirgends ein, namentlich wurden die paranoiden 
Ideen der Kranken niemals beeinfluBt. Die Patientin Fall VI kniipfte 
sogar an die Injektion sofort Beeintrachtigungsideen an. Im zweiten 
Versuchstumus wurde in Fall VII 1,8 kg, in Fall VIII 2,1 kg, in Fall VI 
und V 0,6 und 0,7 kg Gewichtsabnahme konstatiert. Eine euphorische 
Stimmung wurde bei den Patienten nicht beobachtet. Die Herz- 
beschwerden der Patientin VIII besserten sich schon in der ersten Vcr- 
suchsreihe nach der 2. Injektion vollig. Wir hatten bei diesen Versuchen 
den Eindruck, daB chemische Prozesse im Sinne der Hypoxydation 
bei der Genese dieser Psychosen des Riickbildungsalters, bei denen 
paranoide Ziige so wesentlich das klinische Bild bedingen, eine geringe 
Rolle spielen und neigen zu der Anschauung, daB gerade dicse klimak- 
terischen und prasenilen Psychosen Abnutzungserscheinungen im Orga- 
nismus zum Ausdruck bringen, denen anatomische Veranderungen des 
zentralen Gewebes zugrunde liegen. Ihre Erforschung liegt demnach 
mehr dem pathologischen Anatomen als dem Chemiker ob. 

Der Fall IX, der auch in symptomatologischer Beziehung den 
Charakter eines Grenzfalles trug, bestarkte die Wahrscheinlichkeit, 
daB er mehr der Dementia praecox zuzurechnen ist durch die Art, wie 
er auf die Injektionen von kolloidalem Pd (HO) 2 reagierte. Aus den in 
der Krankengeschichte detalliert angegebenen Daten geht zweifellos 
hervor, daB die der akinetischen Phase folgende Erregung exzessiv 
manischer Art mit den Leptynolinjektionen in Kausalnexus steht. 
Wegen der Schwierigkeit, die die Behandlung unruhiger Kranker macht 
und in Anbetracht der deutlichen Wirkung des Leptynols in diesem 
Falle, glaubte ich auf eine Wiederholung des Experimentes verzichten 
zu kOnnen. Auf die Deutung der in den klinischen Vorgangen sich mani- 
festierenden Stoffwechselveranderungen werde ich im nachsten Ab- 
schnitt naher eingehen. Es liegt nahe, aus der W'irkungsweise des Palla- 
diumhydroxyduls als Ursache der klinischen Erscheinungen bei der 


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368 


W. Gom: t)ber therapeutische Versuche mit 


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Patientin Anderungen im Gesamtchemismus des Korpers anzunehmen, 
bei denen Stoffe mitwirken, die den von Weichardt 17 ) zur Erklarung 
von Ermtidungs- und akinetischen Zustanden herangezogenen Proteo- 
toxinen gleich sind. Ihre im vorliegenden Falle so augenfallige Wirkung 
wurde dann vielleicht in einer Hypoxydation des Organismus Erklarung 
finden, wie sie einige Autoren bei stupordsen Zustanden im Verlauf der 
Dementia praecox gefunden haben. Auch diese Anschauung wiirde den 
Fall dem Gebiet der Dementia praecox naher riicken als dem des 
manisch-depressiven Irreseins. 

Klimakterische Depression ohne vorherrschende paranoide 
Ziige, psychasthenische Akinese, hebephrener Hemmungs- 
zustand, akuter Beginn von Katatonie. 

Fall X. R. G., 35jahr. Dienstm&dchen. Hereditar nicht belastet, korperlich 
und geistig normal entwickelt, eeit dem 16. Jahre regelmaBig menstruiert. Seit 
zirka 1909 verandert im auBeren Verhalten, interesselos, miBtrauisch, fiihrt Selbst- 
gesprache. 1912 erhebliche Verschlechterung des psychischen Zustandes, hallu- 
ziniert lebhaft, redet verworren, ist naohts sehr unruhig. Aufnahme in die Anstalt 
Dr. Edels 13. XI. 1912. Tobsiichtig erregt, aggressiv, verkennt die Umgebung. 
t)berfiihrung in die hiesige Anstalt 19. XII. 1912. Somatisch: leichte Irregularitftt 
des Pulses, Livor der Extremitaten. Wassermann im Blut negativ. — Pat. ist 
vollig zerfahren, maniriert in Sprache und Gebarden, desorientiert, moriatisch, 
spater laut. Nach einiger Zeit auBerlich ruhiger, psychisch vollig ungeordnet, ohne 
jede Initiative, halluziniert, lappisch, leicht erotisch, dabei ausgesprochen psychisch 
und motorisch gehemmt, stumpf. Am 9. VII. 2 ccm Leptynol injiziert, ohne 
Bettruhe, 2mal taghch l / 2 Liter Milch verordnet. Am 11. VII. ist der Puls vOllig 
regular, psychisch ist Pat. unverandert, verbindet mit der Injektion offenbar 
erotische Ideen. 

12. VII. 4 ccm Leptynol. Danach am 23. VII. freier, lebhafter, iBt sehr 
gut. In den nachsten Tagen unverandert. 

17. VII. 4 ccm Leptynol. Gewichtszunahme 1,4 kg. Pat. ist lebhaft, im 
ganzen psychischen Verhalten frei, wiinscht spontan nach Hause zu schreiben, 
beschaftigt sich. mit leichter Gartenarbeit. — 

Am 22. VII., 10. VIII., 19. VIII., 29. VIII. bekam Pat. je 4 ccm Leptynol, 
das gute Befinden dauert an, Pat. ist jetzt mit bestem Erfolg auf der Nahstube 
beschaftigt. 

Fall XI. M. Sch., 48jahr. Rentiere, ledig. Ein Bruder psychotisch. Fniher 
stets gesund. Vor 5 Jahren schwere Appendektomie, seitdem „nervos“. 1909 
verkaufte Pat. ihr Geschaft. Im AnschluB daran machte sie sich Selbstvorwiirfe, 
bekam Verarmungsideen, Insuffizienzgefiihl, Taedium vitae, Conamen suicidii. 
Aufnahme in die Anstalt 24. VII. 1913. Somatisch o. B. Wassermann negativ 
im Serum. — Lucide, sehr angstlich, starke motorische Unruhe, &uBert Nichtig- 
keits- und Kleinheitsideen, Selbstanklagen, ist vollig ratios, angstlich und miB¬ 
trauisch, deprimiert, oft in gereizter Stimmung. 

1. VIII. 4 ccm Leptynol, ohne Diat, nur Bettruhe. — Unverandert im Be¬ 
finden. 

3. VIII. 4 ccm Leptynol. Pat. ist auBerlich ruhig, korrigiert auf Zureden ihre 
Wahnideen, verlangt nach Hause. 

7. VIII. 4 ccm Leptynol. — Wesentlich freier, wiinscht auf eine andere Station 


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kolloidalem P&iladiumhydroxydul bei yerechiedenen Psychosen. 369 

verlegt zu werden, macht Plane iiber eine Erholungsreise nach dem Anstalts- 
aufenthalt, hat Krankheitseinsicht, kommt aber noch auf ihre Ideen zuriick. 
Affektlage noch depressiv. • 

14. VIII. 2 com Leptynol. Befinden durchaus zufriedenstellend, heitere 
Stimmung, interessiert an den Vorgangen in der Umgebung, lieet, geht aus; Krank- 
heitseinsicht. 

18. VIII. 2 ccm Leptynol. — Befinden gut. Am 22. VUE. wird Pat. geheilt 
entlassen. 

Fall XII. W. A., 20jahr. Schkfersfrau. Mutter psychotisch. Somatisch und 
intellektuell normal entwickelt, seit 15. Jahre regel ma Big menstruiert. In der Ehe 
1 Tochter, 2 l / t Jahre alt, seitdem viermal abortiert, zuletzt Marz 1913. Seitdem 
sehr schwach, anamisch. Im April zeigten sich Versundigungsideen, Schlaflosigkeit, 
psychische und motorische Hemmung, im Mai Suicidversuch. Aufnahme in das 
Krankenhaus. Dort sehr unruhig, hatte „ Herzen sangst‘\ Versundigungsideen. 
Aufnahme in die Anstalt 10. VII. 1913. Somatisch: sehr grazil gebaut, anamisch, 
leichte Kyphoskoliose. Gewicht 40,0 kg. Wassermann negativ im Blut. — Pat. 
ist psychisch und motorisch gehemmt, deprimiert, auBert Insuffizienzgefiihl, 
Selbstvorwiirfe. 

11. VII. 4 ccm Leptynol, ebenso am 13. VII. — Am 14. VII. ist Pat. freier, 
geht in den Garten, ist noch gehemmt, korrigiert teilweise ihre Ideen, iBt sehr 
gut. Miloh verordnet. 

16. VII. 4 ccm Leptynol. Danach besseres psychisches Befinden, Pat. hilft 
bei der Hausarbeit, ist motorisch und psychisch frei, wiinscht bald zu ihrem Manne 
zu kommen. 

21. VII. 2 ccm Leptynol. — Das gute Befinden halt an, Wahnideen treten 
nicht mehr auf, motorisch vOllig frei, arbeitet fleiBig. Gewicht 49,5 kg. 

Entlassen am 5. IX., geheilt, Korpergewicht 53,0 kg. 

Fall XIII. M. M., 23jahr. Dienstmftdchen. Ohne hereditare Belastung. 
War friihfcr stets gesund, normal entwickelt, Menses seit 16. Jahr regelmaflig. In 
der Schule gut gelemt, ging dann in Stellung. Mehrfach in Behandlung wegen 
Anamie. Anfangs August 1913 bemerkte man an ihr VergeBlichkeit, Zerfahrenheit 
in der Arbeit. Nach einigen Tagen traten Erregungszustande hinzu, Pat. wollte 
nachts fortlaufen, glaubte, sie wird vergiftet, war aggressiv gegen die AngehOrigen. 
Einlieferung in die Anstalt 6. VIII. 1913. Somatisch fallt auBer einer IrregularitAt 
des Pulses und einer maBig starken Anamie nichts Besonderes auf. Korpergewicht 
53,5 kg. Pat. ist motorisch sehr erregt, schreit laut, ist stark negativistisch, scheint 
lebhaft zu halluzinieren, faBt Fragen nicht auf. Am 8. VIII. hat sie deutliche 
katatone Muskelsymptome, halluziniert akustisch, iBt nicht, nachts ist sie sehr laut, 
aggressiv, muB isoliert werden. Die Herzaktion ist sehr schlecht, Puls sehr niedrig 
gespannt. Injektion von 4 ccm Leptynol, danach ohne wesentliche Veranderung. 

Am 9. VIII. 4 ccm Leptynol, danach am andern Morgen auBerlich ruhiger, 
gehemmt, apathisch, mit weinerlichem Gesichtsausdruck, deutlich kataleptisch. 
Herzaktion gebessert, Puls gut gespannt, leicht irregular. 

Am 12. VIII. 4 ccm Leptynol. Danach psychisch derselbe Zustand; am 
13. VIII. Besuch des Vaters, bei dem Pat. sich geordnet verhalt, wenig, aber sinn- 
gemaBe sprachliche AuBerungen tut. Abends ist sie sehr laut, halluziniert, starke 
motorische Unruhe, muB isoliert werden. Korpergewicht 51,0 kg. 

Am 14. VIII. 4 ccm Leptynol. Danach dauornd auBerlich ruhig, katalep¬ 
tisch, gehemmt, mit depressiv-angstlichem Gesichtsausdruck, antwortet auf An- 
fragen mit leiser Stimme; Puls vOllig regular, Herzaktion kraftig. Nachmittags 
psychisch freier, abends ruhig. 

Z. f. d. g. Neur. u. PBych. O. XX. 25 


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370 


W. Gom: Ober therapeutische Vers ache mit 


15. VIII. Zug&nglich, weniger negativistisch, iBt spontan sehr gut, zeigt 
aber noch motorische Hemmungserecheinungen, spricht wenig, faBt aber gut auf. 
Halluzinationen scheinen nicht mehr zu bestehen; verh&lt sich auch in den n&chsten 
Tagen ruhig und ist psychisch freier. Zusatzkost, Milch verordnet. 

19. VIII. 2 ccm Leptynol. — Pat. ist immer noch gehemmt, kommt aber 
Aufforderungen zu motorischen Leistungen prompt nach, iBt spontan sehr gut, 
auBerlich vollig geordnet. Danach gleichmaBiges Verhalten. Pat. ist ruhig, in 
deprimierter Affektlage, ohne Halluzinationen, spricht wenig. Kataleptischc 
Symptome angedeutet. KOrpergewicht 53,0 kg. 

25. VIII. 2 ccm Leptynol. Psychisch und somatisch gleichmaBiges Verhalten. 

26. VIII. AuBeret spontan, sie wolle wieder arbeiten, ist v6llig orientiert, noch 
angstlich, motorisch und psychisch gehemmt. Nahrungsaufnahme sehr gut. 

28. VIII. Stat. id. Korpergewicht 55,0 kg. Nachts manchmal unruhig. 

2. IX. Tagsiiber bei depressiver Affektlage auBerlich loidlich geordnet an 
den letzten Tagen, geht plotzlich auf die Warterin los: 4 ccm Leptynol. Da¬ 
nach ruhiger, auch nachts. In den n&chsten Tagen ruhig, nachts laut bisweilen, 
am 8. IX. Halluzinationen, schlaft, angstlich. 4 ccm Leptynol. Danach wieder 
ruhiger. Die Behandlung wird fortgesetzt. 

In diesen letzten Fallen handelt es sich klinisch um Krankheits- 
bilder, die in der Gesamtheit der Symptome als Beeintrachtigung der 
normalen psychischen, teils auch somatischen Funktionen des Organis- 
mus imponieren und sich in oppressiver Affektlage, Unlust, Insuffizienz- 
gefiihl, Wahnideen depressiven Inhalts und psychischer wie motorischer 
Hemmung im wesentlichen darstellen, insgesamt Symptomen, die wir 
in geringerer Intensitat physiologisch ahnlich bei starker Ermiidung 
vorfinden. Paranoide Zuge treten, abgesehen von dem letzten Fall 
(XIII) akuter Erkrankung, der gesondert besprochen werden soil, in 
diesen Krankheitsbildern weniger stark hervor. 

Es ist nicht zu bestreiten, dafl das Leptynol in den letztgenannten 
Fallen den Verlauf der bestehenden psychischen Veranderungen gtinstig 
beeinfluBt hat, und es liegt nahe, bei der betonten Ahnlichkeit in den 
Symptomen fur die Deutung dieser giinstigen Wirkung von kolloidalem 
Palladiumhydroxydul diejenigen Tatsachen heranzuziehen, die uns 
die physiologischen Ermudungserscheinungen zu erklaren imstande 
sind. Diese physiologischen Ermudungserscheinungen dem biologischen 
Verstandnis so wesentlich naher gebracht zu haben, ist das Verdienst 
W. Weichardt8 17 ), der im Serum ermudeter Tiere EiweiBspaltungs- 
produkte „Kenotoxine“ nachwies, die er auch isoliert darstellen und 
in ihren chemischen Wirkungen auf den Organismus studieren konnte. 
Diese Ermudungstoxine sind nach Weichardt im EiweiB des Organismus 
vorgebildet vorhanden. Es ist nun auch von anderen Forschem [vgl. 
Weichardt 18 )], nachgewiesen, daB das Hamoglobin, welches in seinem 
Hauptbestandteil, dem Globin, ebenfalls den EiweiBkdrpern zuzu- 
rechnen ist und im Organismus den Sauerstoffwechsel vermittelt, 
durch EiweiBspaltungsprodukte beeinfluBt wird. Andererseits fand 
Weichardt 19 ) auch in der durch den Aufenthalt von Menschen ver- 


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kolloidalem Palladiumhydroxydul bei verschiedenen Psychosen. 371 

brauchten Luft Substanzen, die noch nicht naher identifiziert Bind, 
die aber nachweisbar Katalysatoren lahmende Eigenschaften haben. 
Nach den Untersucliungen von Schade (1. c.) Ascoli - Izar 20 ) 21 ), 
Weichardt 22 ) sind nun den kolloidalen Metallen stark oxydasische 
Fahigkeiten eigen, indent diese Metalle „direkt oxydasiseh im Organismus 
wirken oder mindestens fordernden EinfluB auf Oxydasen im Korper 
au8tiben“. Alle diese scheinbar zusammenhanglos berichteten Fakten 
beweisen, daB Korrelationen zwischen dem EiweiBstoffwechsel, den 
Oxydationsvorgangen im menschlichen Organismus und der spezi- 
fischen Wirkung im Korper vorhandener oder ihm applizierter Kataly¬ 
satoren organischer oder anorganischer Natur bestehen. Zu diesen 
Erwagungen kommt die von zahlreichen Forschem festgcstellte Tat- 
sache, daB im Stoffwechsel Psychotischer, besonders an Dementia 
praecox erkrankter Individuen, sich EiweiBspaltungsprodukte nach- 
weisen lassen, die toxische Eigenschaften haben, sich im normalen 
Organismus nicht finden und somit mit Wahrscheinlichkeit patho- 
genetische Bedeutung fiir die bestehende Psychose haben. Wir verweisen 
hier auf die bekannten auf Grund der Abderhaldenschen Unter- 
suchungen vorgenommenen Forschungen Fausers, namentlich aber 
auf die Arbeit Pfeiffers und de Crinis 23 ), die bei der Untereuchung 
iiber das Verhalten der antiproteolytischen Serumwirkung bei be- 
stiramten Psychoueurosen aus der erhohten Hemmungskraft des Blut- 
serums. die direkt proportional dem Gehalt desselben an EiweiBspal- 
tungsprodukten ist, die Vermutung auf das Vorhandensein einer ,,An- 
reicherung des Serums an EiweiBbausteinen, in letzter Linic eines patho- 
logischen parenteralen EiweiBstoffwechsels“ auf Grund eingehender, 
exakter Untersuchungen nahe legen. Sind wir auch iiber die Entstehung 
dieser EiweiBspaltungsprodukte im Organismus weniger gut orientiert, 
so laBt doch die mehrfach festgestellte N-Retention im Organismus 
Psychotischer [vgl. Rosenfeld 24 )], die regelmaBig gefundene Herab- 
setzung des „Gnindumsatzes“ nach Magnus - Levy bei verschiedenen 
psychischen Erkrankungen durch Bornstein 26 ) daran denken, daB 
eine Oxydatkmsstorung fur EiweiB im Organismus Geisteskranker 
besteht, eine Ansicht, die namentlich Kauffmann (1. c.) vertritt 
und der Bornstein besonders in seiner zuletzt erschienenen Arbeit 
zustimmt 24 ). DaB es sich b?i dem Ganzen um eine reine Oxydations- 
stdrung handelt, ist bei der Unklarheit iiber die Einzelphasen im 
EiweiBstoffwechsel de3 Organismus nicht anzunehmen, zumal das Palla¬ 
dium in vitro sowohl oxydierend wie reduzierend wirkt. Zu vermuten 
ist, daB sich hierbei Hydrolysierungsvorgange abspielen, vielleicht 
gehen Reduktion und Oxydation nebeneinander her, wie das klinisch 
noch am ehesten die uberaus schnellen Wechsel zwischen Akinese und 
Hyperkinese erklaren wiirden. 

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372 


W. Gom: Uber therapeutische Verauche mit 


Bei diesem Stande der Erforschung der pathologischen Bedeutung 
von EiweiBspaltungsprodukten, deren Chemismus noch keineswegs 
geklart ist, und der Verwertung des iiber die chemischen Eigenschaften 
kolioidaler Metalle Bekannten, speziell ihrer Wirkung im menschlichen 
Organismus, darf man wohl mit Biicksicht auf die in den einzelnen 
Fallen erzielten gunstigen therapeutischen Resultate der Leptynol- 
injektionen, ohne iibereilt zu urteilen, annehmen, daB das dem Organis¬ 
mus einverleibte kolloidale Palladiumhydroxydul die Oxydations- 
vorgange stark anregte, auf diese Weise die im Blut kreisenden frischen 
Eiweifispaltungsprodukte unschadlich machte und so die aus ihrer 
Anwesenheit im Blut resultierenden psychischen Erscheinungen des 
Stupors und der Hemmungserscheinungen psychischer und somatischer 
Natur beseitigte. Gerade der Umstand, dab Krankheitsbilder mit vor- 
wiegend paranoidem Charakter nicht beeinfluBt wiirden, gibt uns zu 
dieser Annahme Berechtigimg, denn Pfeiffer-de Crinis fanden bei 
Paranoia chronica, ,,echterMelancholie“ und konstitutionellen Psychosen 
in der Begel keine TitererhShung so dafi man annehmen kann, daB hier 
EiweiBspaltung&produkte keine Bolle spielen, daB also auch, wie es 
unseren Erfahrungen entspricht, Psychosen, bei denen paranoide Ziige 
das Gesamtbild der psychischen Erkrankung charakterisieren, durch 
Leptynol sich wenig beeinflussen lassen. Wir mdchten hierbei noch auf 
die Verwertung dieser Tatsachen fur die Differentialdiagnose des Falles IX 
hinweisen. 

Besonderer Erwahnung bedarf der zuletzt beschriebene Fall XIII, 
in dem nach der Leptynolbehandlung die anfangs ausgesprochenen 
und in hohem Grade vorhandenen hyperkinetischen Erscheinungen 
zuruckgingen, die Patientin ruhiger wurde, spontan reichlich Nahrung 
zu sich nahm und Gewichtszunahme zeigte. Vielleicht darf man diese 
namentlich bei akut auftretenden Fallen von Dementia praecox moistens 
beobachtete Hyperkinese als eine nattirliche AbwehrmaBregel des 
Organismus deuten, indem durch die enorm gesteigerte Muskelarbeit 
physiologische Oxydationsvorgange im Korper gesteigert werden und so 
die Beseitigung toxischer EiweiBprodukte beschleunigt wird, eine 
Deutung, die um so naher liegt, wenn man diese Erscheinungen mit 
denen des Fiebers bei infektidsen Krankheitsprozessen im Kbrper und 
der im Laufe der Jahre mannigfach geanderten Anschauung uber die 
die Infektion begleitende Temperatursteigerung betrachtet, bei der man 
in neuester Zeit ebenfalls mehr dazu neigt, sie als physiologische 
Defensiverscheinung des Organismus der Infektion gegenuber nicht zu 
bekampfen, sondem zu ffirdem. Gelingt es uns, im erkrankten 
Organismus durch Einverleibung katalytisch wirkender kolioidaler 
Metalle diese physiologischen AbwehrmaBregeln. die einen so enor- 
men Kraftaufwand des Individuums erfordern, zu unterstiitzen, in- 


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kolioidalem P&lladiumbydroxydul bei verachiedenen Pay chosen. 


373 


dem wir die vermittels der den Organismus extrem anstrengenden 
Hyperkineae beabsichtigte Hyperoxydation, durch die Application 
der den Patienten auBerlich ruhig stellenden, jedoch denselben 
Effekt im Stoffwechsel garantierenden stark katalytischen, oxydations- 
amegenden kolloidalen Metalle ersetzen, so ist damit fur die Therapie 
akuter Psychosen viel gewonnen. Denn gerade die unter dem Bilde 
toxamischer Psychosen verlaufenden furibunden Erregungszustande, 
gleichgiiltig welcher klinisch-symptomatologischen Gruppe der in Frage 
kommenden Psychosen man sie einreihen will, gehen haufig zugrunde 
infolge korperlichen Zusammenbrucbs, an Herzschwache infolge der 
ungeheuren motorischen Unruhe, und an allgemeinem Krafteverfall. 

Wir betonen, daB die von uns behandelten Falle, entsprechend dem 
in unserer Anstalt vorhandenen Krankenmaterial, fiir therapeutische 
Versuche in der gekennzeichneten Richtung die denkbar ungunstigsten 
sind. AuBer in Fall XI und XII bestanden bei den Patienten die psycho- 
tischen Symptome schon langere Zeit und hatten wohl auch schon 
Defekte gesetzt. Der einzige Fall XIII, der mit dem Auftreten der 
ersten Krankheitserscheinungen in unsere Behandlung kam, scheint 
durch das Leptynol gunstig beeinfluBt zu sein. Sicher giinstigen EinfluB 
iibte die Applikation kolloidalen Palladiumhydroxyduls aus auf die 
Hemmungserscheinungen und stupurbsen Zustande in Fall XI und XII. 

Wir haben es hier mit Stupor- und Hemmungserscheinungen zu 
tun, die wir mit Hilfe des galvanischen Reflexphanomens 27 ) schon 
differenzieren konnten als gutartig und prognostisch gunstig. Immer 
aber erstreckte sich ihre Dauer, die durch die Palladiuminjektionen 
auf 3—4 Wochen gekurzt wurde, unter der bis jetzt angewandtenTherapie 
regelmaBig auf mehrere Monate. 

Die wahrend der Kur notwendigen einzelnen Nebenverordnungen, 
wie Diatvorschriften und Innehaltung der Bettruhe bzw. reichlicher 
Spaziergange, sind von Fall zu Fall zu bestimmen und dem somatischen 
Zustand des betreffenden Patienten und seinem momentanen psychi- 
schen Verhalten anzupassen. Die Verabreichung groBer Dosen Leptynol 
scheint gleich am Anfang der therapeutischen Anwendung notwendig 
und steht mit den experimentellen Erfahrungen Weichardts 22 ), 
der nach groBen Dosen des EiweiBspaltungsantigens Atmungsstillstand 
bei normalen Versuchstieren sah, keineswegs in Widerspruch. Der 
Umstand, daB so erhebliche Mengen Pd (0H) 2 colloidale, wie ich sie 
ohne die geringste Komplikation zu beobachten verwendet habe, laBt 
eher eine Bestatigung erkennen dafur, daB eben EiweiBspaltungsprodukte 
in abnorm vermehrter Menge im Blut kreisen, die ebenso eine groBere 
Menge Antigens d. h. kolloidalen Palladiums aufbrauchen, so daB die 
schadigende Wirkung des Palladiums auf den Gesamtorganismus nicht 
zustande kommt. Vor alien Dingen ist notwendig die Wirkung des Pd. 


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374 


W. Gorn: Obor therapeutieche Versuche rail 


(OH) 2 colloidale an einem reichen Material akuter Psychosen, die ja in 
erster Linie starke motorische Reizerscheinungen zeigen, zu studieren. 
Vielleicht gibt uns die katalytische Wirkung dieser Praparate und ihr 
EinfluB auf den Verlauf der Psychosen, den wir in biologischen Zu- 
saminenhang bringen mit der durch das Palladium bewirkten starken 
Anregung der Oxydationsvorgange im menschlichen K6rper, auch 
Aufklarung iiber die Aufsehen erregenden Berichte franzdsischer Arzte 
auf dem Londoner KongreB iiber Wirkung akuter Psychosen durch 
O-Injektion und nach Radium. Toulouse und Puillet 28 ) berichteten, 
daB nach subcutaner Applikation von Sauerstoff bei den Kranken der 
Appetit ,,betrachtlich und schnell zunahm“, ,,Neigung zur Ruhe“, 
Riickkehr zur Karheit und ,,sogar Schwinden der geistigen St6rungen“ 
beobachtet wurden. Alle diese Mitteilungen, iiber die nahere Berichte 
noch ausstehen, decken sich aber vollig mit den bei unseren therapeu- 
tischen Versuchen an den Patienten gemachten Beobachtungen. Auch 
die ebenfalls auf dem intemationalen ArztekongreB in London aus der 
Irrenanstalt Charrenton gemachten Mitteilungen iiber die Heilung 
,,akuten Wahnsinns“ durch Radium 29 ) laBt vermuten, daB bei der 
Radiumstrahlentherapie ebenfalls katalytische Wirkungen der radioak- 
tiven Sub8tanz auf fermentativ-enzymatische Prozesse im Organismus in 
Frage kommen. Nach Neuberg 80 ) bestehen die Wirkungen der radio- 
aktiven Substanzen auf andere Korper nicht zum geringsten Teil aus 
,,katalytischen Effekten und sekundaren Oxydationsprozessen“. 

So konnen ohne Zwang die biologischen Wirkungen radioaktiver 
Substanzen und die direkte Sauerstoffeinverleibung in den Organismus 
in Parallele gestellt werden zu der Wirkungsweise der spezifischen kata- 
lytischen Metallorganosole, die noch den Vorzug haben, daB sie ent- 
sprechend ihrer kolloid-chemischen Beschaffenheit und Eigenschaften 
dem Organismus als kolloidem System am nachsten stehen. Wir er- 
klaren uns aus dieser Wesensgleichheit die stets komplikationslose 
Anwendung so groBer Dosen Leptynols. 

Unsere Versuche tragen rein klinisch-empirischen Charakter, indem 
sie gleichzeitig das iiber Stoffwechsel bei Psychosen und Katalysatoren- 
wirkung im Organismus bekannte und in der Literatur ziemlich verstreut 
vorhandene Material zusammenfassen und unter einem bestimmten 
Gesichtswinkel betrachten. Stoffwechseluntersuchungen, die allein iiber 
die vermuteten Vorgange im Organismus durch Anregung der Oxyda¬ 
tionsvorgange im K6rper nach Darreichung anorganischer Ratalysatoren 
Aufklarung zu geben und diese, wie ihre therapeutische Anwendung 
auf eine sichere Basis zu stellen vermogen, konnten wir mit Riicksicht 
auf die uns durch die iiuBeren Verhaltnisse auferlegten Beschrankungen 
nicht durchfiihren. Ungunstig und fur derartige Versuche waren, wie 
schon ausgefiihrt, die behandelten Krankheitsfalle an sich. Auch das 


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kolloidalem Palladiurnhydroxydul bei verschiedenen Psychosen. 


375 


erklart sich aus dem Anstaltsmilieu. Aber es ist der Zweck dieser thera- 
peutischen Versuche, die in bestimmten Fallen zweifellos gute Erfolge 
hatten, erfullt, wenn an geeignetem Material, unter genauor Beruck- 
sichtigung des Stoffwechsels, besonders des Verhaltens der EiweiB- 
spaltungsprodukte und der Oxydationsvorgange wahrend der thera- 
peutischen Anwendung kolloidaler, katalytisch wirkender Metalle, die hier 
berichteten Resultate nachgeprlift werden und der Weg, der uns fiir be- 
stimmte Arten akuter Psychosen und spezieller Hemmungs- und Depres- 
sionszustande zu dem gewiinschten Ziele des Heilerfolgs zu fiihren ver- 
spricht, weiter gegangen vvird. Bei den noch erklarungsbediirftigen 
atiologischen Verhaltnissen bei der Entstehung der Psychosen glaubte 
ich diesen Weg, dessen Richtungslinien in anderen Spezialdisziplinen, 
die liber mehr pathogenetische Erkenntnis verfiigen, vielleicht zu wenig 
motiviert erscheinen wiirden, gehen zu diirfen auf Grand der oben 
erwahnten biologischen Erwagungen und weil „mobilisierende“ Methoden 
in der Therapie der Psychosen, zu denen ja die katalytisch wirkendon 
Kolloidmetalle im letzten Grande gehoren, verschiedentlich und, mir 
scheint auf theoretisch nicht besser fundierten Pramissen eingeleitet 
worden sind. 

Es ist mir am SchluB der Arbeit eine angenehme Pflicht, meinem 
Chef, Herm Geheimrat Schmidt, fiir das jederzeit bewiesene Ent- 
gegenkommen bei der Anstellung der Versuche zu danken. 

Literaturverzeichnis. 

1. M. Kauffmann, t)ber ein neues Entfettungsmittel: Kolloidaleg Palladium- 

hydroxydul „Leptynol“. Munch, med. Wochenschr. 1913, Nr. 10. 

— Weitere Erfahrungen mit koll. Palladiurnhydroxydul. Ebenda 1913, Nr. 23. 

2. W. Gorn, t)ber Versuche mit kolloid. Palladiurnhydroxydul. Ebenda 1913, 

Nr. 35. 

3. Izar, Uber Metallhydroaole und ihre biologische Wirkung. Therapie d. Gegenw. 

1909, M&rz. 

4. Robin, Bull. g6n6ral de Th^rapeutique 1904, S. 854; 1905, S. 11, 197. 

5. Schade, Die Bedeutung der Katalyse fiir die Medizin. Leipzig 1908. 

6. Beier, t)ber die Verwendung kolloidaler Metalle in der Medizin. Ref. Fort- 

achritte d. Med. 1904, S. 500. 

7. WeiBmann, Cr., t)ber Collargol (Cred6). — Therap. Monatshefte 1905, 

August. 

8. Paal, C., Berichte der Deutsch. chemisch. Gresellschaft 35, 37, 38. 

9. Amberger, Metallorganosole. Kolloid. Zeitschr. 11 , Heft 3 (1912). 

10. Tintemann; Zur Stoffwechselpathologie der Epilepsie. Munch, med. 

Wochenschr. 1909, Nr. 29. 

11. Lowe, S., Untersuchungen iiber die Hamkolloide von Epileptikem. Zeitschr. 

f. d. ges. Neur. u. Psych. 7, 1. 1911. 

12. Rosental, Das Verhalten der antiproteolytischen Substanzen im Bluteerum 

bei der Epilepsie. Ebenda 3, 588. 1910. 

13. GeiBler, Uber den Stoffwechsel bei Geisteskranken. Fortschritte d. Med. 

1912, S. 641. 


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376 W. Gorn: Uber therapeutische Versuche. 

14. Alt, t)ber die Sauerst off behand lung in der psych. Praxis. Archiv f. Psych. 

1904, 8. 939. 

15. Kauffmann, BeitragezurPathologicdesStoffwechsels beiPsychosen. III.Teil* 

Funktionelle Psychosen. Fischer, Jena 1910, S. 135 ff. 

16. v. Noorden, Handbuch der Pathologie des Stoffwechsels. Hirschwald, 

Berlin 1907. 

17. Weichardt, W., Gber Ermiidungsstoffe. 2. Aufl. Stuttgart 1910, und 

Kolb - Wassermann, Handbuch der pathogenen Mikroorganismen. 
Fischer, Jena 1912. 

18. — u. Schlee, Beeinflussung org. und anorg. Katalysatoren bei Proteotoxi- 

kosen. Zeitschr. f. d. ges. experim. Med. I, 5. 1913. 

19. — u. Schwenk, t)ber verbrauchte Luft. Ebenda I, 3, 4. 1913. 

20. Ascoli - Izar, Katalytische Beeinflussung der Leberautolyse durch kolloidale 

Metalle. Berl. klin. Wochenschr. 1907, Nr. 4. 

21. — Physiopathologische Wirkung kolloidaler Metalle auf den Menschen. 

Ebenda 1907, Nr. 21. 

22. Weichardt, Physiopathologische Wirkung kolloidaler Metalle. Ebenda 1907, 

Nr. 28. 

23. Pfeiffer-de Crinis, Das Verhalten der antiproteolytischen Serumwirkung. 

Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 18 , 4. 1913. 

24. Rosenfeld, t)ber den EinfluB psychischer Vorg&nge auf den Stoffwechsel. 

Allgem. Zeitschr. f. Psych. € 3 . 1906. 

25. Bornstein, Monatsschr. f. Psych. 34, 26, 27. 

26. — Gber den Stoffwechsel bei Geisteskranken. Munch, med. Wochenschr. 

1913, Nr. 36. 

27. Gregor-Gorn, Zur psychopathologischen und klinischen Bedeutung des 

psychogalvanischen Ph&nomens. Diese Zeitschr. 16 , 1,2 . 1913. 

28. Referat. Psych. Neurol. Wochenschr. 1913, Nr. 21. 

29. Mitteilung. Psych. Neurol. Wochenschr. 1913, Nr. 20. 

30. Lazarus, Handbuch der Radium biologic VI.: Neuberg, chemische und 

physikalisch-chemische Wirkungen radioaktiver Substanzen. Bergmann, 
Wiesbaden 1913. 


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Der optische Blinzelreflex. 

Von 

Professor Dr. Georg Levinsohn, Augenarzt in Berlin. 

Mit 1 Textfigur. 

(Etngegangen am 2 . Oktober 1913.) 

So auBerordentlich zahlreich die Untersuchungen und Beobachtungen 
iiber den durch Belichtung hervorgerufenen Pupillarreflex sind, so wenig 
ist zurzeit fiber den auf optischem Wege zustande kommenden Blinzel¬ 
reflex bekannt. Wir wissen eigentlich nicht viel mehr, als daB sich das 
Auge, wenn es durch einen starken diffusen Lichtreiz oder durch eine 
pl6tzlich dem Auge sich nahemde Gefahr bedroht wird, mit einer 
Blinzelbewegung, resp. einem mehr oder weniger ausgesprochenen Lid- 
schluB zu schfitzen sucht. In welcher Weise aber diese Lidbewegungen 
auftreten, auf welchem Wege dieselben zustandekommen, dariiber liegen 
nur wenige Mitteilungen vor. Es m6gen daher die folgenden Beobach¬ 
tungen dazu dienen, diese Lficke wenigstens zu einem kleinen Teile aus- 
zuffillen. 

Die Intensitat der Lidbewegungen hangt ab von der Intensitat des 
Reizes, welcher das Auge trifft. Bei sehr starker Blendung kommt es 
stets zu ausgesprochenem LidschluB, bei maBiger Blendung treten 
nur mehr oder weniger starke Bewegungen an den Lidem auf; das 
Gleiche gilt ffir die Lidbewegungen, die auf drohende Annaherung an das 
Auge zustande kommen. Um nun die einzelnen Bewegungen genauer 
kennen zu lemen, erschien es mir zweckmaBig, die Untersuchungen mit 
schwachen Reizen anzustellen. Bei meinen Untersuchungen fiber den 
Blinzelreflex auf Blendung bediente ich mich einer einfachen Petroleum- 
resp. Gaslampe, deren Licht ich vermoge einer starken Konvexlinse ins 
Auge warf. In letzter Zeit benutzte ich eine kleine elektrische Taschen- 
lampe mit Trockenbatterie, die ein kraftiges aber nicht direkt blendendes 
Licht liefert. Die Untersuchungen wurden im dunklen, resp. maBig er- 
hellten Zimmer ausgeffihrt, die Beleuchtung durch die Lampe laBt dabei 
die Bewegungen an den Lidem deutlich sichtbar werden. Da das Zustande¬ 
kommen des Blinzelreflexes auf Belichtung nicht nur von der GroBe der 
Lichtquelle, sondern vor allem vom Adaptionszustand der Netzhaut 
abhangt, ist es im Dunkelzimmer schon durch relativ schwache Licht- 
quellen m6glich eine Lidbewegung hervorzurufen. Die Versuchsanord- 


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(t. Levinsohn: 


nung war derart, daB das Auge auBer dem Lichtreiz von keinem anderen 
Reiz getroffen wurde. Es wurde durch die Annaherung der Linse nie- 
mals eine Lufterschutterung oder eine Warmewirkung auf das Auge 
herbeigefiihrt, resp. diese beiden Reize waren so minimal, daB sie nicht 
die Spur einer Empfindung auslosten. Der Blinzelreflex kam demnach 
bei meinen Versuchen nur auf dem Wege des Opitcus, niemals auf der 
Bahn des Trigeminus zustande. Um jede andere Bewegung von seiten 
der Augen oder der Lider auszuschlieBen, wurde der Patient angewiesen 
seinen Blick ruhig in die Feme und ein wenig nach oben zu richten. 

Wenn man in der eben beschriebenen Weise die Priifung ausfiihrt, so 
kann man an den Augen des Untersuchten verschiedene Lidbewegungen 
konstatieren, die sich aber leicht in drei voneinander getrennte Gruppen 
einfiigen lassen. Zunaehst muB indes betont werden, daB bei den Unter- 
suchungen im Dunkelzimmer mit der Taschenlampe durchaus nicht 
immer eine Lidbewegung iiberhaupt in Erscheinung tritt. Die Licht- 
quelle ist sehr haufig nicht intensiv genug, um einen Lidreflex hervor- 
zurufen. Insbesondere bei Erwachsenen wird bei dieser Versuchsanord- 
nung sehr haufig jede Lidbewegung vermiBt, wahrend die Augen von 
Kindem, wenn man von den Kindem in den eraten Lebensjahren ab- 
sieht, in der groBen Mehrzahl der Falle mit irgendeiner Lidbewegung, 
selbst auf sehr schwache Lichtreize reagieren. Dieses Versagen eines 
Lidreflexes auf Belichtung ist darauf zuriickzufiihren, daB die corticalen 
Hemmung8bahnen in den betreffenden Fallen starker ausgebildet sind, 
und daher kommt es auch, daB erwachsene Individuen, bei denen die 
corticalen Hemmungen schwacher entwickelt sind, resp. infolge von 
Krankheit eine EinbuBe erlitten haben, leichter eine reflektorische Lid¬ 
bewegung auf Belichtung erkennen lassen, als Individuen mit v6llig 
intaktem Nervensystem. Immerhin kann man sagen, daB auch bei ge- 
sunden Erwachsenen in etwa 2 / 3 aller Falle die Belichtung des Auges mit 
einer elektrischen Taschenlampe irgendeine Lidbewegung zur Folge hat. 

Diese Lidbewegungen lassen sich also in drei Gruppen zerlegen. Es 
handelt sich erstens um eine Blinzelbewegung des Oberlides, die sich als 
ein einmaliges, in der Regel schnell aufeinander folgendes, leichtes 
Zucken des Oberlides charakterisiert. Zweitens wird eine Lidzuckung des 
Unterlides beobachtet, die sehr haufig nur den medialen Teil desselben 
betrifft und mitunter eine geringe Hebung dieses Abschnitts erkennen 
laBt, mitunter aber auch ohne diese Hebung einhergeht, so daB nur eine 
geringe undulierende Bewegung des Hautabschnittes einige Millimeter 
unterhalb des Lidrandes sichtbar wird, die nicht seiten aber auch das 
ganze Unterlid betrifft und dann eine Hebung dieses zur Folge hat. 
Drittens kommt es zu einem mehr oder weniger ausgesprochenem Zu- 
sammengehen der Lider, also entweder zu einer Verkleinerung der Lid- 
spalte oder zu einem festen LidschluB. 


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Der optische Blinzelreflex. 


379 


Das Zustandekommen alter dieser Lidbewegungen ist nun in ganz 
bestimmter Weise charakterisierl. Man kann unschwer erkennen, daB 
die Blinzelbewegungen des Oberlides immer dann auftreten, wenn bei 
dem Untersuchten eine unangenehme Blendungserscheinung hervor- 
gerufen wird. Es handelt sich demnach um einen Abwehrreflex, der mit 
einer Unlustempfindung einhergeht und durch diese auageldet wird. 
Diese reflektorische Blinzelbewegung wird bei der von mir geiibten Ver- 
suchsanordnung nicht allzu haufig beobachtet, ich konnte sie etwa in 
einem Drittel aller von mir untersuchten Individuen festatellen. Sie 
kommt nur sehr selten ganz isoliert vor und ist in der Mehrzahl aller 
Falle mit mehr oder weniger intensiven Bewegungen des Unterlides 
vergesellschaftet. 

Noch viel seltener als die typische Blinzelbewegung des Oberlides 
stellt sich bei Belichtung mit einer elektrischen Taschenlampe die durch 
starke Hebung des Unterhdes bedingte Verkleinerung der Lidspalte, 
resp. ein totaler LidschluB ein. Auch hier handelt es sich um eine 
bewuBte Abwehrbewegung gegen die das Auge treffende Blendung. 
Die Unlustempfindung ist in diesem Falle sogar noch grdBer, was auch 
schon, abgesehen von der intensiveren Lidbewegung. daraus hervorgeht, 
daB mit der Lidspaltenverkleinerung, resp. dem LidschluB nicht selten 
auch ein Zuriickfahren des Kopfes zur Beobachtung gelangt. Diese 
Lidbewegung geht fast immer mit einer geringen oder starkeren Be- 
wegung des Oberlides einher. Aber um einen typischen LidschluB durch 
Belichtimg zu erzielen, sind in der Regel intensivere Lichtquellen als 
die von mir benutzten notwendig. 

Am haufigsten stellen sich bei Belichtung des Auges mit schwachen 
Lichtquellen zarte Bewegungen des Unterlides ein. Ich habe sie etwa in 
einem Drittel aller Individuen ganz rein, d. h. ohne Mitbewegung des Ober¬ 
lides beobachten konnen, in einem zweiten Drittel waren mit diesen Be¬ 
wegungen starkere oder leichte Blinzelbewegungen des Oberhdes ver- 
bunden. In mehr als einem Drittel handelte es sich um die schon 
erwahnten geringen Zuckungen in der medialen Halfte des Unterhdes, 
und zwar gewohnlich bei denjenigen Personen, bei denen die Blinzel¬ 
bewegung des Oberhdes fehlte, wahrend in weniger als einem Drittel aller 
Individuen das ganze Unterhd an der Bewegung beteiligt war. Das 
waren die Falle, bei denen nicht selten eine Blinzelbewegung des 
Oberhdes beobachtet wurde. 

Je geringer die Bewegung des Unterhdes bei schwacher Belichtung 
ausfallt, um so schneller ist der Reflex erschbpft. Wenn daher bei Be- 
lichtung mit einer elektrischen Taschenlampe eine ganz geringe Lid- 
zuckung des Unterhdes eingetreten ist, so gelingt es oft nicht mehr beim 
zweiten Male unmittelbar darauf durch Belichtung des Auges diese Be¬ 
wegung zu wiederholen, und man muB langere Zeit warten, bis der 2. Ver- 


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380 


G. Levinsohn: 


such wieder positiv ausfallt. Manchmal aber gelingt es eine zweite, selbst 
eine dritte Bewegung durch aufeinanderfolgende Belichtung auszulosen, 
indes wird diese Bewegung immer schwacher und hort schlieBlich ganz 
auf. Nur in ganz vereinzelten Fallen war es moglich die Bewegung vier- 
mal und noch ofters, ja in beliebig wiederholten Malen durch Belichtung 
hervorzurufen. Man kann also sagen, daB die durch schwache Belich¬ 
tung bedingte reflektorische Bewegung des Unterlides durch eine groBe 
refraktare Phase ausgezeichnet ist. 

Da die pl6tzliche Annaherung eines Gegenstandes an das Auge in der 
Regel eine starke reflektorische Lidbewegung zur Folge hat, so lag die 
MCglichkeit nahe, daB die Bewegungen der Lider, wie sie bei der pl6tz- 
lichen Annaherung der Lampe an das Auge beobachtet wurden, zum Teil 
auf das Konto dieses Reizes zu stellen und demnach als Annaherungs- 
reflexe zu beurteilen sind. Zur Klarung iiber das Verhalten des letzteren 
Reflexes habe ich demnach einige Versuche angestellt. Es zeigte sich 
nun, daB, wenn man in der Richtung von vome einen Gegenstand z. B. 
den Finger pl6tzlich in die nachste Nahe des Auges bringt, das Oberlid 
eine kraftige blinzelnde Bewegung ausfiihrt, resp. daB es durch Annahe¬ 
rung beider Lider zu einem mehr oder weniger ausgesprochenen Lid- 
schluB kommt. Ganz anders dagegen ist das Verhalten der Lider, wenn 
der Finger vorsichtig aus der Peripherie in den Bereich des Gesichts- 
felds gebracht wird. Man sieht dann in der groBen Mehrzahl aller unter- 
suchten Individuen das Unterlid eine ganz ahnliche Zuckung ausfiihren, 
wie sie bei der Belichtung mit der Taschenlampe einzutreten pflegt. Also 
in erster Linie eine kleine Zuckung des Unterlides in der medialen Halfte 
mit oder ohne Hebung des Lidrandes, in seltenen Fallen verbunden 
mit einer Blinzelbewegung des Oberlides. Dabei ist es gleichgxiltig, ob 
der Finger in der Richtung von unten nach oben oder in umge- 
kehrter Richtung bewegt wird, die Zuckung erfolgt immer am Unter- 
lide, wenn allerdings auch der Reflex bei Bewegung des Fingers von 
unten nach oben viel leichter zustande kommt, als im entgegen- 
gesetzten Falle. Die Tatsache, daB bei Annaherung des Fingers aus der 
Peripherie von oben oder von unten stets nur das Unterlid eine Zuckung 
ausfiihrt, muB besonders betont werden, da bisher angenommen wurde, 
daB die Verkleinerung der Lidspalte bei Annaherung eines Gegenstandes 
von unten nach oben durch Hebung des Unterlides zustande kommt, daB 
dagegen das Oberlid sich senkt, sobald die Annaherung in umgekehrter 
Richtung erfolgt. 

Die geringe Zuckung des Unterlides bei vorsichtiger Annaherung an 
das Auge ist fast immer eine einseitige, im Gegensatz zu den reflektorischen 
Lid bewegungen bei Belichtung, die in der Regel das zweite Auge mit- 
befalien, oft allerdings auf dem gleichseitigen Auge etwas starker als auf 
dem gekreuzten ausgesprochen sind. Kommt es aber bei pl6tzlicher 


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Der optische Blinzelreflez. 381 

Annaherung zum Lidschlub reap, kraftiger Blinzelbewegung des Oberlides 
so sind auch diese Lidbewegungen fast immer doppelseitig. 

Obgleich es nun wahrscheinlich ist, dab es sich bei der Zuckung des 
Unterlides infolge von Annaherung der Lichtquelle an das Auge ver- 
mittels Linse resp. Lampe nicht selten um einen durch die Bewegung 
bedingten Annaherangsreflex handelt, so labt es sich andererseits 
leicht beweisen, dab auch die vermehrte Intensitat des Lichts allein 
schon geniigt um den betreffenden Reflex auszuldsen. Dafiir spricht zu- 
nachst der Umstand, dab die Annaherung mit dem Finger oft noch eine 
Lidzuckung hervorruft, wenn die Bewegung mit der Lampe resultatlos 
verlaufen ist, seltener ist das Gegenteil der Fall. Wenn man femer 
jemand in die Feme blicken labt und das eine Auge dabei mit der Hand 
verdeckt, so sieht man mitunter an denUnterlidem die oben beschriebene 
leichte Zuckung auftreten, sobald die Hand wieder fortgezogen, die in 
das Auge dringende Lichtintensitat demnach verdoppelt wird. Sowohl 
die Blendung mabigen Grades, a Is auch die vorsichtige Annaherung 
von Gegenstanden an das Auge sind daher imstande, jeder Reiz fiir sich, 
eine leichte Zuckung des Unterlides herbeizufiihren. Die Lidzuckung bei 
vorsichtiger Annaherung des Fingers an das Auge ist nur viel allgemeiner 
als bei schwacher Belichtung, sie tritt, wie schon oben bemerkt, bei 
der groben Mehrzahl aller Menschen auf. 

Von grobem Interesse ist es nun den genaueren Weg kennen zu lemen, 
auf dem der optische Blinzelreflex zustande kommt, d. h. also die cere- 
brale Verbindungsbahn zwischen Opticus und Facialis festzustellen. 
Da einschlagige Untersuchungen am Menschen, die hieruber Aufschlub 
zu geben imstande sind, fast vollig fehlen, sind wir zunachst auf den Tier- 
versuch angewiesen. Aber auch die Angaben iiber das Zustandekommen 
des Blinzelreflexes auf Belichtung beim Tiere gehen auseinander. Wah- 
rend altere Forscher wie Longet und Schiff bei niederen Tieren den 
Blinzelreflex nach Abtragung der Himrinde beobachteten, hat H. Mun k 
auf Grand zahlreicher Untersuchungen fiir das Kaninchen, die Taube, 
die Ratte, den Hund und den Affen das Vorhandensein des Blinzel¬ 
reflexes als einen Beweis dafiir erblickt, dab bei diesen Tieren die corti- 
calen optischen Zentren zum Teil noch erhalten, dab diese Tiere also noch 
sehfahig waren. Eckhard hat allerdings fiir das Kaninchen das Gegen¬ 
teil bewiesen. Goltz sah einen Hund auf Lichteinfall noch blinzeln, dem 
das Grobhim abgetragen war, und Bdnsel konstatierte diesel be Tat- 
sache nach Abtragung der Occipitalspharen, wahrend umgekehrt bei 
diesen Tieren vor der Operation der Blinzelreflex auf Belichtung nicht 
zu erzielen war. Auf Grand zahlreicher einwandfreier Untersuchungen 
an Kaninchen habe ich feststellen kOnnen 1 ), dab der Blinzelreflex bei 

*) G. Levinsohn: Cbcr Lidreflexe, vgl. Grilfes Arohiv f. Ophthalmol. 50, 
Heft 3, 1904. 


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382 G. Levinsohn: 

Blendung in der Tat auf subcorticalem Wege zustande kommt und daB 
die zentripetalen Lidbahnen, welche diesen Reflex vermitteln, gemein- 
schaftlich mit den zentripetalen Pupillenbahnen unterhalb des Aquae- 
ductus Sylvii verlaufen. DasGleiche gilt nach meinen Untersuchungen 
fur die Taube und den Hund. Bei letzterem tritt der Blinzelreflex auf 
Blendung in intaktem Zustande sehr wahrscheinllch deswegen nicht 
hervor, weil der Hund bei Annaherung der Lichtquelle stark scheut, und 
das dadurch bedingte AufreiBen der Lider die Blinzelbewegung verdeckt. 

Beziiglich des Verhaltens beim Menschen wire! fast allgemein der 
Standpunkt vertreten, daB die Blinzelbewegung als rein corticaler Re¬ 
flex auszufassen, und das Vorhandensein desselben deranach mit Erhalten- 
sein des Sehens zu identifizieren ist. Es existiert nur eine Beobachtung, 
namlich diejenige von Knies, der in einem Falle von uramischer Amau- 
rose bei einem 14 jahrigen Knaben die Lider bei Annaherung einer Flam me 
eine Blinzelbewegung ausfuhren sah. Der von Heubner beobachtete 
Anencephalus, der gleichfalls einen Blinzelreflex bei Annaherung einer 
Lichtquelle aufwies, kann fur diese Frage nicht als beweisend angesehen 
werden, da es sich hier um ein ganz abnorm entwickeltes Individuum 
gehandelt hat. 

Wenn wir die Frage, an welcher Stelle des Gehirns die Ubertragung 
des zentripetalen Reizes auf die zentrifugale Reflexbahn bei dem op- 
tischem Blinzelreflex stattfindet, mit Riicksicht auf die bisher gemachten 
Beobachtungen priifen, so muB zunachst nochmals die von mir fest- 
gestellte Tatsache betont werden, daB bei schwachen optischen Reizen 
vorzugsweise eine leicht zuckende Bewegung des Unterlides, daB dagegen 
bei starkeren Reizen, die mit einem Unlustgefiihl einhergehen, eine 
Blinzelbewegung des Oberlides, resp. ein mehr oder weniger ausge- 
sprochener LidschluB zustande kommt. Und zwar gilt das sowohl fur 
den Blendungs-, wie fur den Annaherungsreflex. Da das unterscheidende 
Merkmal fur die beiden verschiedenen Reflex be wegungen in der Starke 
des Reizes beruht, so erschien mir die Annahme plausibel, diejenigen 
Lidreflexe, die mit einem Unlustgefiihl einhergehen, als Abwehrbe- 
wegungen, als corticale Reflexe aufzufassen, wahrend die schwachen 
Zuckungen des Unterlides, bei denen der optische Reiz gar nicht oder 
jedenfalls nur sehr wenig zur Perception gelangt und kein Unlustgefiihl 
auslost, auf subcorticalem Wege zustande kommt. Liegt diese Annahme 
vielleicht auch am nachsten, so sind natiirlich auch noch andere M6g- 
lichkeiten fiir den Verlauf der Reflexbahnen moglich. So konnte auch 
bei den leichten Zuckungen des Unterlides auf schwache optische Reize 
der Reflex seinen Weg iiber die Himrinde nehmen, ohne daB der Reiz 
imstande ist eine irgendwie in Betracht kommende optische Erregung 
auszuldsen. Andererseits kann man sich ganz gut vorstellen, daB der 
starkere optische Reiz schon subcortical auf den zentrifugalen Reflex- 


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Der optische Blinzelreflex. 


383 


ast iiberspringt, und daB die hierbei auftretende starkere optische Er- 
regung, die in das BewuBtsein dringt, von dem Zustandekommen 
dieses Reflexes mehr oder weniger ganz unabhangig ist. Diese An- 
nahme hat sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit, wenn man die 
optischen mit den taktilen Lidreflexen in Parallele stellt. Denn es ist 
mir gelungen auf experimentellem Wege fiir das Tier (Kaninchen, Taube, 
Hund, Affe) den Nachweis zu erbringen, daB der Lidreflex, der auf 
schwache Beriihrung des Auges zustande kommt, seinen Weg iiber 
die Hirnrinde nimmt, wahrend der Lidreflex bei starker Beriihrung auf 
rein subcorticalen Bahnen verlauft 1 ). 

Einen exakten AufschluB aber fiber den Verlauf der Bahnen bezfiglich 
des optischen Bhnzelreflexes beim Menschen, werden allein klinische Be- 
obachtungen am Menschen in Verbindung mit pathologisch-anato- 
mischen Untersuchungen zu geben imstande sein. Da aber, so weit ich 
sehe, derartige Untersuchungen ffir den Blinzelreflex ganz fehlen, so 
mochte ich mir gestatten zwei Falle, die ich mit Herm H. Liepmann 
zu beobachten Gelegenheit gehabt habe 2 ), hier etwas naher zu be- 
leuchten. 

Es handelt sich um zwei mannliche Patienten im Alter von 59 und 
64 Jahren, die zuerst einen zerebralen Insult mit linksseitiger, dann 
einen solchen mit rechtsseitiger Hemianopsie erlitten hatten. In beiden 
Fallen hatte der rechtsseitige Herd die Sehstrahlung von der Konvex- 
seite des GroBhirns, der linksseitige die Calcarinagegend vfillig zerstort 
[Fig. I] 3 ). Der erste Patient fiberlebte seine 2 Insulte 11 bezfiglich 
5 Wochen, der zweite um D/ 4 Jahr. Beide Patienten hatten bei Belichtung 
guten Pupillarreflex. Sie waren absolut nicht imstande auch nur eine 
Spur von Lichtschein zu erkennen und reagierten niemals bei drohendem 
Zufahren mit der Hand an die Augen. Bei dem ersten Patienten war 
der mit einer Convexlinse geprfifte Belichtungsreflex nicht vorhanden, 
dagegen reagierte das Auge des zweiten auf diesen Reiz mit einer ener- 
gischen LidschluBbewegung. Der zweite Fall beweist demnach mit Sicher- 
heit,daB auch der energischeLidschluBreflex bei relativschwacher diffuser 
Belichtung auf subcorticalem Wege zustande kommen kann, daB da¬ 
gegen der Annaherungsreflex an die Hirnrinde gebunden ist. Die Tat- 
sache, daB er im ersten Falle nicht auszulosen war, macht es wahrschein- 
lich, daB der LidschluBreflex auf Belichtung, wenn auch durchaus nicht 
immer, auf dem Wege fiber die Hirnrinde zustande kommt. Auch ist 
es moglich, daB das Versagen im ersten Falle dadurch zu erklaren ist, 

1 ) loo. cit. 

2 ) tlber dieselben ist von Herm Liepmann und mir in der Berliner ophth. 
Gesellschaft vom 12. XH. 1912 berichtet worden. 

3 ) Die Zeichnung, die ich der Liebenswiirdigkeit des Herm H. Liepmailn 
verdanke, stellt einen Horizontalschnitt durch das Gehim des 2. Patienten dar. 


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SehsiiPi^JisTig jjtHliVrf. tbui tbi).v hi dk^eiu flip hitab yjei 

Zej^t.firuug dor s^draJetri K^hbabiieu tvarKi^hli'Wi war, iwr Aorfi>aang 


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1 




Original fror 






Der optische Blinzelreflex. 


385 


durch einen diffusen optischen Reiz, aei es durch Annaherung eines 
Gegenstandes an das Auge, hervorgerufen wird, ist eine leichte Zuokung 
dee Unterlides, meist in der medialen Halfte und oft nur auf der Haut 
sichtbar. Diese Zuckung tritt bei schwachen Reizen nicht immer in 
Erscheinung, sie ist bei Annaherung leichter als bei diffuser Blendung 
auszuldsen. Der Reflex ist in der Regel sehr Ieicht erschdpfbar. 

2. Starkere optische Reize, die mit einem Unlustgefuhl einhergehen, 
rufen entweder eine Blinzelbewegung des Oberlides oder eine mehr, 
reap, weniger ausgesprochene LidschluBbewegung hervor. Das gilt so- 
wohl fiir diffuse optische, wie distinkte optische Reize. 

3. Der Annaherungsreflex kommt immer auf dem Wege iiber den 
Cortex zustande, wahrend der Lidreflex bei diffuser Belichtung jeden- 
falls, wenn auch vielleicht nicht immer, auch nach Ausschaltung der 
zentralen Sehsphare ausgelOst werden kann. Der Blinzelreflex bei 
diffuser Belichtung ist daher fiir das Vorhandensein des Sehens 
diagnostic h nicht verwertbar. 


2. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XX. 


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Die latente Form der Neuralgie des N. cruralis und ihre 
diagnostigche Bedeutung bei den Erkrankungen der Organe 

des kleinen Beckens. 1 ) 

Von 

Prof. Michael Lapinsky (Kiew). 

Mit 1 Textfigur. 

(Eingegangen am 4 . October 1913.) 

Als Neuralgien pflegen wir solche Schmerzen zu bezeichnen, die 
im Bereich eines sensiblen Nerven auftreten, in ihrem Verlauf den Cha- 
rakter eines Anfalls zeigen, dem Kranken gewisse Erholungspausen 
gewahren, um sodann wieder zu exacerbieren. Bei der objektiven 
Untersuchung erweist sich der erkrankte Nerv in seiner ganzen Aus- 
dehnung als druckempfindlich, wobei diese Erscheinung in einigen 
bestimmten Punkten desselben besonders stark ausgepragt ist. Die 
Sensibilitat im Verbreitungsgebiet des betroffenen Nerven, die von ihm 
besorgten reflektorischen Funktionen und seine elektrische Reaktion 
bleiben (mehr oder weniger) normal. Die grobe Muskelkraft kann in 
dem MaBe leiden, als die Bewegungen die Schmerzen verstarken. Tro- 
phische Storungen konnen in den Muskeln, der Haut, den GefaBen usw. 
auftreten, doch nur selten, sporadisch und auBerdem bei den Neuralgien 
der verschiedenen Nerven nicht gleich stark. 

Durch Hinzufiigen des Wortes ,,latente “ zum Terminus Neuralgie 
sollen solche Schmerzen charakterisiert werden, die sich bis zu einem 
gewissen Moment durch keinerlei besondere subjektive Empfindungen 
manifestieren. Diese letzteren treten erst dann ein, wenn der Allgemein- 
zustand des Organismus durch irgendein allgemeines oder lokales Leiden, 
durch irgendeine infektiose, toxische oder andere entkraftende Ursache 
erschuttert ist. Dann wird sich diese latente Neuralgie manifest. Es ist 
anzunehmen, daB dann gemaB den wenig bekannten Gesetzen und 
Mechanismen der Verbreitung des Schmerzes eine Irradiation des letz¬ 
teren aus irgendeinem haufig fern vom in Frage kommenden Nerven- 
stammgelegenenaktiven Herd eintritt. Subjektivspurtdie Person, 
die eine latente Neuralgie in sich tragt, wahrend der Latenz- 
periode keinerlei unangenehme Empfindungen, oder die- 

Vorgetragen in der Kiewer physiko - medizinisc hen Gesellsch. am 
15. M&rz 1913. 


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Gck .gie 


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M. Lapinsky: Die latente Form der Neuralgic dee N. cruralis. 


387 


selben sind maskiert, wahrend objektiv der Nervenstamm 
auch in dieser Latenz peri ode schmerzempfindlich auf Druck 
sein kann. Reflexe, Sensibilitat und trophische Funktionen weisen 
bei der latenten Form den gleichen Zustand auf, wie bei der typischen 
Neuralgie. 

Somit kann man mit der Benennung latente Form der Neuralgie 
aolche Schmerzen bezeichnen, die, von Zeit zu Zeit exacerbierend und 
sodann nachlassend, die ganze Zeit iiber ala eine gewisse verborgene 
Erregung dea Nerven fortbeatehen, die in jedem geeigneten Moment 
zu einem neuen Auabruch bereit ist. 

Solchen latenten Formen von Neuralgie begegnen wir de8 bfteren 
im Gesicht bei Weibem. Hier manifeatiert aich der N. trigeminus, ob- 
schon er schmerzempfindlich auf Druck ist, bis zum Eintreten eines 
bestimmten Momentea durch keinerlei unangenehme aubjektive Emp- 
findung. Dieser Moment tritt z. B. mit dem Auftreten der Menstruations- 
periode, mit der Entwicklung dea Klimakteriums oder mit dem Auftreten 
von entzundlichen Erscheinungen im Gebiet dea Geschlechtsapparats 
ubw. ein. Sobald dieses Moment unter dem EinfluB der einen oder 
anderen Ursache erlischt, verachwinden auch die qualenden subjektiven 
Empfindungen im Gesicht ungeachtet desaen, daB der N. trigeminus 
wie vorher druckempfindhch ist, d. h. die objektiven Anzeichen einer 
Neuralgie aufweist. Die gleiche latente Form von Schmerzen in den 
Intercoatalnerven oder im Riicken finden wir bei Erkrankungen vieler 
Viaceralorgane, so z. B. der Leber, Nieren, dea Magens u. dgl. m. 

Bei einer solchen Einteilung der Neuralgien in manifeste und latente, 
gilt die Schmerzempfindlichkeit dea Nervenstammea auf Druck ala 
beiden gemeinsames objektives Symptom. 

Der N. cruralis, um desaen Erkrankung ea aich hier handelt, ent- 
springt bekanntlich aus der I., II., III. und IV. Lumbalwurzel, wobei 
die I., die auch fur andere Nervenstamme beatimmt ist, nur mit einer 
sehr geringen Anzahl ihrer Elemente an der Bildung des N. cruralis 
beteiligt ist. Der seinen Hauptbestandteilen nach somit aus den II., III. 
und IV. vorderen und hinteren Lumbalwurzeln zusammengesetzte 
N. cruralis legt aich der inneren Oberflache des M. ileopsoas an und zer- 
fallt nach aeinem Hervortreten unter dem Poupartschen Bande in 
eine Menge von Asten, von denen die vorderen eine motorische, die 
hinteren hingegen eine sensible Funktion haben. 

Die motoriachen Aste dieses Nerven gehen zu den Muskeln, die den Ober- 
schenkel strecken, so wie zu den M. psoas und pectineus hin. Die sensiblen Ver&ste- 
lungen des N. crur. versorgen mit ihren Endigungen die ganze Vorder- und zum 
Teil die Innenflache des Oberschenkels, die Innenflilche des Unterschenkels und den 
Innenrand des FuBes bis zur groBen Zehe. 

26 * 


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M. I^pinsky 


Jiocfa m Beckon vor seiner Tfeljuag enteeadet d«r urur; ebexi Aat* den N* 
artier, femur, propria*, der den Hauptstamm der A, f-cnri^r. l>egleifcet dnd sodtann 

a.uf die a! protundo ubergeht, gin Voift X. £tfc. feraor 
\proprius afegehendea ^jfyri&uft rjpit 

'$&£ a. .mitritia tvori tfer A- primula) iimedteib de* 
Mtanalfe osaie fejurod# and hmevviffit vvaltstftbomUoli ckw 
Kaochcrmiark dbs Feimitv Vo&die$em Ast*\ dem !$. 

, ' r • conies a, mitntiae ‘fcwyigfc *ich. eiri Aatcberyautn Pejriost 

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4—5 tm unterhalb der S telle, 
tinier dem Pw apart sch»>ja Batixfe kervottrifcfc,gjfa$*?r 
3 inftchrige Gruppen sd>, und iw&r a) den N; pertdraus 
sc*u ^ atiamis lemons medium iFigk h}* fe ) 4pn XV 
etfianeu?* femMris intern us set* JsV s&phtmu^ minor 
(Pig..jib a) deit 0 s&pbeuuv major (Fig. c), 

a ) ik'V N, eutaneus honor, medium odor X, per- 
fomna (Fig. b) ieik . wich- bevur <?r tut die -Sani de& 
Otj^rschfrwktrfa ^niporfiteigt.. in A l &*b% .O^r em£ ; rot; 
djeseir Astoi durcHbohrl den X. •aartoritra irr adnern 
und ( ^ach die 

ci-in dvr MuMbaie de.v^Oix^heid^elrf wvin Xnie hiimlv 


fei pun <W ganze & oufotieu* fe&pHa tiHtdius. X, |^r- 
foram femuiot, Der atfdferc dpi Hteigt m dta* Rrgrf 
decri Tttpcu^nde tips Obet^iibPrxkPfe ft'ts zti Ab&iem- 
phorert Diittei brnab* urn hier naeh Durohbohnuig dor 
Fasoia lata ebenfa?l£ sum Knie abwarta zu riebtMt, d*.- 
bei die ^orderflaphi? deij OtaFfeolmukefe ehthalteud, 
Ciew^iiaUph anasto mofctereh 

™ :d v* i e' p) it* few % 

ei tte at; ’’^4 to." »j esAel he n 

■w/l b) l>em Jf. ^mtaneu^ ^V\®4' 

auphemis minor (Fig. aj £&Ut, wie ichon dor 
eeibst iteigt. Anigabe der ©ttiftiiden Innervation 
tier Innotilihehe des ijberscheafctife id l -^eawe Hfery be» 
^thbt aue 2 Aj^teti voix migkfeber Dieke und I4nge. 
t«er kiirziW dnd zugleieb dtionere von ibuen durel)- 
b<'>)ii , t, di^ Fa^oia tat^ onmittoUm]' siniterh&lU dtsr Fosaa 
ova Ik r.Od dot V. y^pbcna anliegond, abWatts^ 

mit dt^a • dps ^ attest*>• 

Dor a-idrrb.^ diko.nv and fangero ,Vs.t i,k-ht anliiitgd : 

;■ & ?^ehoirj^:fitir' jt‘ if>r^iyduir4« 

bohrt sodarm m der Mitf e dea Obejraaheiikels cbe Fu^cia 
lata nahe von dei V. sapheria tmd verbreitjet SacU tp 
der HmLt dor irinepseite rVs ObPr$cJieinkolift mid v wie 
Fig. xv zeiet, in der daa Kniegoieiik vom mid mnpft 
hedeekeoden Raot. 

?i« i. e) Der jp; saphfenu* major (F5g. c) % der diekate und 

tangste ’ Ast des X cnnalis, enstw;kt sieh vein 
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Die latente Form der Neuralgic des N. cruralis. 


389 


dann auf ihrer Vorderfl&che in den Sulcus adductorius ein. Nach dem Obergange 
der A. und V. era rales, die dabei die Sehne des N. adductor magnus durchbohren, 
auf die Hinterfl&che des Oberschenkels, verlaBt der N. saphenus major die Gef&B- 
scheide, tritt hinter der Sehne des M. sartorius durch das Lig. latum femoris und 
zieht mit der V. saphena interna abw&rts zum FuBe. 

Auf diesem Wege gibt der N. saphenus major mehrere Aste ab (Fig. c). Im 
Oberschenkel zweigen sich 2 Aste von ihm ab, deren einer in der Mitte des Ober- 
schenkels in die Haut der Innenfl&che des letzteren vordringt, w&hrend der andere 
viel niedriger entspringt, und zwar in der Hohe des Oondylus internus femoris. 

Auf dem Niveau der Kniescheibe wendet sich der N. saphenus major mit- 
unter der letzteren zu und tritt sogar durch einen besonderen Kanal in den Korper 
dieses Knochens ein, um nach Verlassen desselben abw&rts zum FuBe zu ziehen. 
Auf der Hohe des Kniegelenks entsendet der N. saphenus major ein feines Astchen 
zur Kapsel dieses Gelenks. 

Unterhalb des Knies gibt der N. saphenus major noch einige m&chtige Aste ab, 
und zwar den Ramus infrapatellaris sowie die N. cutanei cruris mediales. 

Der erstere, der Ramus infrapatellaris (Fig. d), teilt sich, nachdem er sich als 
ziemlich dickes Stammohen vom N. saphenus abgezweigt, in mehrere fast parallel 
zueinander verlaufende Aste. Die letzteren ziehen, sich bogenformig windend, 
von der Innenflache zur Vorderfl&che des Unterschenkels hin und bedecken mit 
ihren Windungen die Tuberositas tibiae und iiberhaupt den unterhalb des Knie¬ 
gelenks befindlichen Bereich. 

Die N. cutanei cruris mediales (Fig. m) haben die Aufgabe, die sensible Inner¬ 
vation auf der Innenflache des Unterschenkels zu besorgen. Mitunter verlaufen sie 
mehr auf der Hinterflache der Wade, bisweilen aber halten sie sich naher an den 
vorderen Teil des Unterschenkels. AuBerdem gibt der N. cruralis nachRiidinger 
mehrere sensible Astchen an die Gelenkkapsel des Hiiftgelenks, und zwar an deren 
Vorderfl&che, und auBerdem an den fcuBeren Teil der Kniescheibe ab. 

Somit stellt der N. cruralis einen langen Stamm dar, der machtige 
Aste besitzt, von denen die sensorischen die sensible Funktion auf der 
Vorder- und zum Teil auch der Innenflache des Oberschenkels, sowie 
des Femur selbst, seines Knochenmarks und Periosts besorgen, sowie die 
Hohle des Kniegelenks und die die Innen- und Vorderseite desselben 
bedeckenden Teile, die Innenflache des Unterschenkels, wahrscheinlich 
auch das Periost der Tibia und die den Innenrand desFuBes bedeckenden 
Teile innervieren. 

AuBerdem entsendet der N. cruralis sehr viele motorische Aste zu 
den auf der Vorderflache des Oberschenkels befindlichen Muskeln mit 
Ausnahme der M. adductores und gracilis, und zwar zu den Streck- 
muskeln des Oberschenkels: a) M. rectus femoris, b) M. vastus lateralis, 
c) M. vastus intermedius, d) M. articularis genu, e) M. vastus medialis, 
f) M. psoas, g) M. pectineus. 

Da nun der N. cruralis ein so kompliziertes Gebilde darstellt, sollte 
man meinen, daB derselbe erstens schadigenden Einflussen in hohem 
Grade zuganglich sei und zweitens seine Erkrankung von hochgradigen 
motorischen Storungenbegleitet sein und sehr verbreitete Schmerz- 
erscheinungen hervorrufen miisse. 


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M. Lapinsky: 


Die auf dem Studium der Anatomie und Physiologie dieses Nerven 
fuBende Annahme findet jedoch in den in der Literatur der Frage 
niedergelegten Angaben keine Bestatigung. So z. B. haben wir uber- 
haupt nur sehr wenig Hinweise beziiglich motorischer Stdrangen, die 
al8 Begleiterscheinung der Schmerzempfindungen aufgetreten waren. 

Was nun die Zuganglichkeit des N. cruralis fur Erkrankungen und 
die Haufigkeit derselben anbelangt, so ist dieser Nerv auf Grand der 
in der Literatur vorhandenen Daten zu den sehr giinstig gestellten zu 
rechnen, da nur sehr sparliche Hinweise auf die Haufigkeit seiner Er- 
krankung vorliegen und dieser Umstand nur in fur die Lebenstatigkeit 
dieses nervdsen Gebildes glinstigem Sinne gedeutet werden kann. Auch 
im Sinne der Fahigkeit, Schmerzempfindungen zu erzeugen, ist diesem 
Nerven eine nur ganz untergeordnete Bedeutung beizumessen, jeden- 
falls aber wird ihm in dieser Hinsicht das Verm6gen zuerkannt, die 
typischen neuralgischen Schmerzen hervorzurafen. Sehr viele Autoren 
haben z. B. eine Neuralgie des N. cruralis in Verbindung mit Neuralgien 
anderer Nerven gesehen. So z. B. hat Valleix eine mit Neuralgie des 
N. ischiadicus einhergehende Neuralgie dieses Nerven beobachtet. Die 
gleiche Kombination hat auch Bernhardt gesehen. 

In der alteren Literatur findet man nur sehr kurze diesbezugliche 
Hinweise und in der neuesten, und zwar in den vielen neueren erst- 
klassigen Lehrbuchern sind nur kurze Bemerkungen hieriiber vorhanden. 

Soweit ich auf Grand der mir zur Verfiigung stehenden Quellen zu 
urteilen vermag, lassen sich aus den neueren Fachzeitschriften flir die 
letzten 15 Jahre keinerlei Mitteilungen iiber Neuralgien des N. cruralis 
sch5pfen. 

Ich wiederhole, daB eine derartige Armut an Daten doch wohl zu- 
gunsten dessen sprechen diirfte, daB die Neuralgie (Jieses Nerven ent- 
weder iiberhaupt zu den seltenen oder zu den leichten Leiden geh6rt, 
die den Patienten in keiner Weise in der gewohnten Lebensweise hindem, 
oder endlich darauf hinweisen diirfte, daB diese Erkrankung einen kurz- 
dauernden Verlauf aufweist, weshalb die Arzte sogar nicht zur Kenntnis 
dieser Krankheitsform gelangen und sie auch nicht genau beschreiben 
konnen. 

Da nun meine personliche klinische Erfahrang dahin geht, daB die 
Schmerzen im Gebiet des N. cruralis zu den sehr haufig vorkommenden 
Leiden gehoren, da dasselbe groBe funktionelle Storangen hervorruft, 
da diese Erkrankungsform sich ferner durch einen chronischen Verlauf 
auszeichnet, da endlich die in Betracht kommenden Schmerzen in ge- 
wisser Beziehung vom gewdhnlichen Neuralgietypus mit anfallsweisem 
Verlauf abweichen, so halte ich es fiir wiinschenswert, diejenigen dies- 
beziiglichen Erfahrangen, die ich an meinem klinischen Material ge- 
sammelt, mitzuteilen. 


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Die latente Form der Neuralgie des N. cruraiis. 


391 


Schon hier will ich jedoch bemerken, daft diese Erkrankungsform 
deshalb bisher der Aufmerksamkeit der Arzte entgangen ist, weil sie 
latent verlauft und nur in gewissen Fallen manifest wird. 

Einige von meinen hierhergehCrigen Krankengeschichten lasse ich 
hier verkiirzt folgen. 

I. Am 15. III. 1912 trat die Kranke K. J. M... in mein Sanatorium ein. Sie 
war 55 Jahre alt und in Lutz&k ans&ssig, von wo sie ihr Bruder, Arzt von Beruf, 
nach Kiew gebracht hatte. Bevor die Pat. mich aufsuchte, war dieselbe wegen des 
Zustandes ihres rechten Beines bei mehreren Kiewer Chirurgen gewesen. Die 
Knochen des Beines, und zwar im Oberschenkel und Knie, schmerzten schon iiber 
ein Jahr unertraglich, so daB die ortlichen Arzte, die anf&nglich nur eine Arthritis 
feststellten, schlieBlich, in Anbetracht dessen, daB die entsprechende Therapie er- 
folglos blieb, befiirchteten, daB im Knochcn selbst irgendein ProzeB, etwa eine bos- 
artige Neubildung in der Entwicklung begriffen sei. In Kiew wandte sich die Pat. 
an Prof. W. P. Dobromyslow, der ihr anriet, eine Rdntgenaufnahme von Ober¬ 
schenkel und Knie machen zu lassen, damit sie GewiBheit iiber ihren Zustand er- 
halte. Da sich diese Korperteile bei der Rontgenaufnahme als unver&ndert erwiesen, 
wurde die Pat. zur Behandlung ihres ,,arthritischen Podagras 44 an mich gewiesen. 
In der Tat hatte der Ham das spezifische Gewicht 1,027 und enthielt hamsaure 
Salze im Niederschlag. Die t&gliche Hammenge war jedoch auf 800 ccm herab- 
gesetzt. ' 

Aus der Anamnese ergibt sich, daB die Pat., die besonders iiber Schmerzen im 
rechten Oberschenkel und rechten Knie klagt, die gleichen Schmerzen auch im 
linken Bein und auBerdem auch noch Schmerzen in der Seite und in den Schultern 
hatte. Derartige Schmerzen bestanden schon seit einer Reihe von Jahren und 
gingen mit Schwache der Beine einher. Im Jahre 1908 wurde die Kranke, deren 
Gemiitsstimmung damals sehr deprimiert war, w r egen einer bosartigen Neubildung 
der Uterusexstirpation unterworfen. Die hiemach am Operationsstumpf zuriick- 
gebliebenen Narben waren empfindlich. Die Gemiitsstimmung der Pat. zeigte nach 
dieser Operation keine Tendenz sich zu bessem, es bestand vielmehr ein Depressions- 
zustand, wahrend dessen sie den Wunsch hegte, einen Selbstmordversuch auszu- 
fiihren; auBerdem wurden die Schmerzen in den Beinen starker. Gegen Ende des 
Jahres 1911 tat die Pat. einen Fall, wobei sie ihr Bein beschkdigte. Seitdem kann 
sich Frau M. nur mit Hilfe einer Kriicke fortbewegen. 

Bei der objektiven Untersuchung erweisen sich beide untere Extremit&ten von 
gleichem Umfang und gleicher L&nge. Die Besichtigung der Haut ergibt reine Haut 
ohne irgendwelchen Ausschlag; die Palpation derselben laBt keinerlei Abweichungen 
von der normalen Dicke, Elastizitat und Konsistenz erkennen. Bei starkem Druck 
ist ein geringfugiges Odem des Unterhautzellgewebes beider FiiBe bemerkbar. 
Leistendriisen nicht palpabel. Passive Bewegungen im Hiift- und Kniegelenk 
kuBerst schmerzhaft. Ein Knisterger&usch ist hierbei jedoch nicht zu bemerken. 
Ver&nderungen in der Konfiguration der Gelenke, Odem, Schwellung, Anwesenheit 
von Fremdkorpern in ihren Gelenkhohlen lassen sich nicht feststellen. Die iibrigen 
Gelenke sowohl der oberen, als auch der unteren Extremitkten sind bei passiven 
Bewegungen nicht schmerzhaft. Umfang der unteren Extremit&ten in cm: rechter 
Oberschenkel 65, 56, 45, linker Oberschenkel 65, 55, 45, rechter Unterschenkel 
40, 30, linker Unterschenkel 39, 30, rechter FuB 28, linker FuB 27*/r Aktive Be¬ 
wegungen in alien Muskelgruppen der unteren Extremitaten moglich. Doch die 
Pat. lABt in ihnen nicht die voile grobe Kraft zur Entfaltung kommen, indem sie sie 
augenscheinlich schont und sich hiitet Schmerz hervorzurufen. 

Die Empfindlichkeit gegen Nadelstiche ist- im ganzen Korper erhalten; in den 


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M. Lapinsky: 


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unteren Extremit&ten ist dieselbe im Vergleich zum Rumpf vielleicht Bogar erhdht 
Patellar- und Achillessehnenreflex m&Big erhoht. FuBsohlenreflex beiderseits nor* 
maL Bauchreflexe sehr trage; der mittlere Bauchreflex fehlt beiderseits (die Bauch* 
w&nde smd sehr welk). 

Die Nervenst&mme zeigen eine verschiedene Empfindlichkeit auf Druck. Die 
N. iliohypogastricus mit seinen Asten und iliacus sind beiderseits nicht besonders 
druckempfindlich; ebenso ist auch der N. ilio-inguinalis auf beiden Seiten wenig 
empfindlich. Der linksseitige N. genito-cruralis ist wenig empfindlich; auf derselben 
Seite ist sein Ast, der N. lumbo-inguinalis m&Big empfindlich gegen Fingerdruck. 

Als m&Big empfindlich gegen Druck erweisen sich beide N. ischiadici, die N. 
peronaeus und tibialis und alle oberen Aste vom Plexus sacralis, n&mlich die 
N. glutaeus superior, inferior und die N. clunei. 

Auf der Vorderfl&che dee Oberschenkels waren die N. cutanei femoris laterales 
beiderseits m&Big empfindlich. Druck auf die N. crurales dicht unterhalb des Pou* 
partschen Bandes auf beiden Seiten und seine Rami cutanei auteriores per- 
forantes sehr wenig empfindlich. 

Der N. cutaneus femoris anterior an der Stelle seines Hervortretens auf beiden 
Seiten und der ganze Verbreitungsbereich dieses Nerven sehr m&Big empfindlich. 

Beide N. sapheni majores im Oberschenkel, soweit man sich durch Fingerdruck 
auf den M. sartorius oder durch Einfiihren einer dicken stumpfen Nadel in den 
Canalis adductorius und einen mittels derselben auf den Stamm des N. saphenus 
major ausgeiibten Druck davon zu iiberzeugen vermachte, besonders rechter- 
seits sehr schmerzhaft. 

Der N. saphenus minor dexter sowohl an seiner Austrittsstelle durch 
die Offnung in der Fascia lata, als auch auf seinem Wege abwarts iiber und 
unter dem Kriegelenk, insbesondere in der H6he des Condylus inter- 
nus femoris und der Patella unertr&glich schmerzhaft auf Druck. 
Scharf ausgepr&gt empfindlich sind die Rami infrapatellares dextri auf dem Niveau 
des Condylus internus tibiae. Sehr schmerzhaft ist der ganze N. saphenus 
major dexter langs der Innenseite der Wade bis zum Gelenk der groBen 
Zehe. Dieselben Nerven des linken Beines sind viel weniger empfindlich. Beide 
N. obturatorii in der Tiefe des Canalis obturatorius sehr schmerzhaft. AuBerst 
empfindlich auf Druck sind die Plexi hypogastricus, renales sin. et dext. und solaria. 

MaBig schmerzhaft sind die N. intercostales auf der linken Seite und beide N. 
occipitales majores. 

Der Hals ist hinten im Gebiet der M. cucullares, splenii capitis und and. sehr 
druckempfindlich, und zwar nicht nur die Muskebi selbst, sondem auch ihre 
Sehnenaponeurosen langs den Proz. dorsales und transversales der Halswirbel. 
Druckempfindlich sind auch die Muskeln des Schultergiirtels. 

Das Gehen fallt der Pat. schwer, sie schont dabei das rechte Bein und kann ohne 
Kriicke keinen Schritt machen. 

3 Wochen nach ihrem Eintritt in das Sanatorium ist das spezifische Gewicht 
des Hams 1,015, im Niederschlag amorphe Urate in geringer Menge. 

Die Pat. weilte 3 Monate im Sanatorium. Die w&hrend dieser Zeit wiederholt 
vorgenommenen Untersuchungen des Nervensystems ergaben eine scharf ausgepr&gte 
Schmerzhaftigkeit der N. saphenus major und minor, infrapatellaris, des Plexus 
hypogastricus und Plexus Solaris. Diese Schmerzempfindlichkeit bestand nicht 
kontinuierlich langs des ganzen N. cruralis, sondern im Nervenstamm traten viele 
einzelne Punkte hervor, in denen die Druckempfindlichkeit st&rker ausgepragt war. 
Diese Schmerzen lieBen sich nicht auf irgendeins der iibrigen Gewebe, sondem nur 
auf das des Nervenstammes beziehen; sie lieBen sich nicht durch Empfindlichkeit 
der Haut, Veranderungen der Muskeln oder des Periosts erklaren, denn obschon 


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Die latente Form der Neuralgic des N. cruralis. 


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diese Teile beim Palpieren empfindlich waren, so wiesen sie doch weder eine feetere 
Konsistenz, noch Odeme auf, und ihre gleichmftBigen Konturen entsprachen der 
Norm. 

Die im wesentlichen in Thermoelektrotherapie und Injektion von Novocain in 
das Gebiet des Nerven bestehende Behandlung, von der weiter unten ausfiihrlich 
die Rede sein wird, setzte die Schmerzhaftigkeit der hier erw&hnten Teile allmahlich 
herab, und gleichzeitig begann die Pat. allmahlich ihre Eeine zu brauchen. Gegen 
Ende des 3. Monats konnte sie 2—4 Stunden lang zu FuB gehen, ohne Schmerzen 
zu empfinden. Ebenso fiihlte sie sich auch im Belt vollkommen wohl. 

Vor ihrem Fortgang aus dem Sanatorium hatten iiberhaupt alle ihre Klagen 
iiber Schmerzen in den Beinen aufgehhort. Als sie nach Hause abreiste, lieB sie 
ihre Kriicke, die sie nun gar nicht mehr notig hatte, im Sanatorium. Immerhin 
waren die N. saphenus major, minor et infrapatellaris dextri gegen Ende dee 
3. Monats ihres Aufenthalts im Sanatorium auf Druck noch etwas empfindlich, 
obschon in weitaus geringerem Grade als zu Beginn der Behandlung. Sehr wenig 
schmerzhaft auf Durck waren die Plexi hypogastrici, solaria und renales. 

Am 24. Oktober, d. h. 4 Monate nach ihrem Fortgange aus dem Sanatorium 
erschien Frau M. zur Besichtigung zu meinem ambulatorischen Empfang. tTber 
Schmerzen in den Beinen oder irgend an einer anderen Stelle klagte sie nicht 
mehr. AnlaB zu Beunruhigung gaben ihr allgemeine Abmagerung und Appetit- 
losigkeit. Bei der Untersuchung erwiesen sich die N. saphenus major, minor und 
infrapatellaris dextri als ebenso schmerzhaft auf Druck, wie am Tage ihrer Abreise 
aus dem Sanatorium; gleichfalls schmerzhaft waren die Plexi hypogastricus, Solaris 
und renales. Gem&B den Angaben der Pat. hatte die gynakologische Untersuchung 
die friihere Empfindlichkeit des nach der Uterusexstirpation gebildeten Operations- 
stumpfes ergeben. Die Hammenge war nach dem Verlassen des Sanatoriums auf 
5—6 Glas in 24 Stunden gestiegen; spezifisches Gewicht 1015; Urate in geringer 
Menge. 

Der vorliegende Fall ist insofem interessant, als die Schmerzen, die 
fur arthritische gehalten wurden, im Kniegelenk, Ober- und Unter- 
schenkel lokalisiert waren, wahrend die Untersuchung mit Rontgen- 
strahlen die normale Beschaffenheit dieser Kdrperteile nachwies. Ebenso 
ergab auch die klinische Untersuchung mit anderen Methoden weder 
in der Haut, noch in den Muskeln, noch auch in den Knochen keinerlei 
Veranderungen; die Kniegelenke wiesen keine Odeme auf, waren nicht 
deformiert und lieBen, soweit hieruber nach dem Fehlen von Knister- 
gerauschen im Knie bei Palpation wahrend der Vomahme passiver 
Bewegungen geurteilt werden konnte, keine Ablagerungen in ihrem 
Innera erkennen. 

Als schmerzhaft erwiesen sich einige sensible Aste des N. cruralis: 
Nn. saphenus major, minor, infrapatellaris. Besonders deutlich trat 
diese Schmerzhaftigkeit des Nerven saphenus beim Palpieren seines 
Stammes mit einer dicken stumpfen Nadel hervor. Viel weniger druck- 
empfindlich waren Nn. cruris medialis, cutaneus femor. exter. und 
obturatorius. Gar nicht druckschmerzhaft erwies sich der 
Stamm des N. cruralis dicht unter dem Pupartschem Bande 
und seine Rami cutanei femoris anteriores. 

Die Diagnose des vorliegenden Falles lautete auf Neuralgie des N. cru- 


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M. Lapinsky: 


ralis, da das Kennzeichen dieses Leidens, und zwar Schmerzempfindlich- 
keit gegen Druck vorhanden war. 

Eine Neuritis des N. cruralis lag nicht vor, da sowohl die Sensibilitat, 
al8 auch die Reflexe und die Ernahrung der von diesem Nerven inner- 
vierten Oberschenkelmuskeln normal waren. 

Es bestand eine Neuralgie, nieht aber eine Sklerose oder Ischamie 
des N. cruralis, da diese beiden Leiden, die gleichfalls mit Schmerzen 
im Nervenstamm einhergehen, bei Verengerung oder Obliteration der 
A. cruralis vorzukommen pflegen, die aber im vorliegenden Falle voll- 
kommen regelrecht pulsierte. 

Das war eine Neuralgie der Aste des N. cruralis, nicht aber eine 
solche, der anderen Nerven der Extremitat, d. h. der Nn. ischiadicus, 
obturatorius, cutaneus femoris lateralis, denn es trugen Injektionen in 
die Gebiete der Nn. saphenus major und minor und infrapatellaris 
dazu bei, die Schmerzen zum Verschwinden zu bringen. 

Diese Neuralgie entspricht dem Typus der latenten Neuralgien, denn 
nach Verlauf von 4 Monaten seit der Beendigung der Behandlung sind 
die in Frage kommenden Nervenaste bei volligem Fehlen von subjektiven 
Schmerzen im Bein immer noch druckempfindlich, d. h. weisen die objek- 
tiven Kennzeichen der Neuralgie auf. 

Als sehr wichtig erscheint die gleichzeitig mit der Druckempfindlich- • 
keit des N. cruralis auftretende Empfindlichkeit der sympathischen 
Bauchgeflechte gegen Druck. 

Die Annahme, daB die Krankheit auf podagrischer Grundlage be- 
ruhe, ist ganzlich unhaltbar, wenn man die Resultate der Hamanalyse 
und die Erfolglosigkeit der Behandlung mit alkalischen Mineralwassem 
in Betracht zieht. 

II. Fraulein L. N. L., 23 Jahre alt, wandte sich am 10. X. 1910 an mich 
mit Klagen liber allgemeine Schwache, zeitweilig auftretende Schwere im Kopf, 
Kopfschmerzen, Schmerzen in den Beinen und im Kreuz, unangenehme Emp- 
findungen in den Beinen w&hrend der Menses. Die Beine werden in dieser Zeit 
sehr schwer, „unruhig“. Vor 2 Jahren w&hrend einer Influenza hatte die 
Patientin 2 Wochen lang qualende Schmerzen in den Beinen. Huston- 
anfalle riefen in dieser Zeit besonders heftige Schmerzen in den Beinen hervor. 
Wahrend der letzten 5 Jahre sind ihre Beine best&ndig kalt; letzteres ist sogar 
hachts im Bette der Fall. Die Beine waren nie geschwollen; auch ein Abmagem 
derselben hat die Pat. nicht bemerkt. AuBerdem klagt die Pat. liber Verstopfung, 
AufstoBen, Sodbrennen, Herzklopfen, unbefriedigenden Schlaf, veranderliche Ge- 
miitestimmung; sie ist oft zu Tranen geriihrt. Das Menstruationsblut war wfthrend 
der letzten 5—6 Jahre von dunkler Farbe. 

In den letzten 3 Jahren hatte die Pat. gegen ihre „podagrischen“ Kopfschmerzen 
ohne jeden Erfolg die Mineralwasser in Karlsbad, Essentuki, Borschom gebraucht. 

Die Hamanalyse ergab folgende Daten: spez. Gew. 1014, Reaktion schwach- 
sauer, eine geringe Menge amorpher Urate. 10—15 Leukocyten im Gesichtsfelde 
(Fluor albus?). 

Ihre Mutter und altere Schwester leiden gleichfalls an „podagrischer“ Er- 


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Die latent© Form der Neuralgic des N. cruralis. 


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krankung des Kopfes; auch sie hatten wiederholt in Essentuki, Vichy, Neuenahr, 
Wiesbaden Heilung gesucht, aber ohne jeden Erfolg. 

Die objektive Untereuchung ergibt eine bedeutende Bl&sse der Haut und der 
Schleimh&ute, sowie allgemeine Abmagerung. Die Haut der unteren Extremitaten 
nicht odematos und nicht pastos. Periost der Tibia glatt. Die Gelenke der unteren 
und oberen Extremitaten sind nicht geschwollen, knistem nicht bei passiven 
Bewegungen, sind nicht druckempfindlich. Bei Druck auf die Muskelmassen des 
Hinterkopfes und Nackens fiihlt die Pat. Schmerz. Druck auf die Aste des N. tri¬ 
geminus und die N. occipitales major und minor ruft keinen besonderen Schmerz 
hervor. 

Die N. intercostales sind nur auf der linken Seite maCig empfindlich auf 
Druck. 

Die Plexi hypogastricus, Solaris und renalis sinister sehr empfindlich auf 
Fingerdruck. 

Die N. ischiadicus, tibialis, peronaeus nicht, der N. cutaneus fern. ext. m&Big 
druckempfindlich. 

Der N. cruralis unter dem Poupartschen Bande nicht druckempfindlich. 

Die Rami cutanei perforantes anteriores n. cruralis beiderseits sehr wenig 
empfindlich. 

Die N. sapheni minores und majores und die N. patellares auf 
beiden Seiten scharf ausgepr&gt schmerzhaft. 

Hingegen sind die N. cutanei cruris mediales wenig druckempfindlich. 

Wahrend der Untereuchung behauptet die Pat., daB auch vor 2 Jahren 
wahrend einer Influenza an den gleichen Stellen Schmerzen be- 
standen h&tten. 

Die taktile und thermische Sensibilit&t, die Empfindlichkeit gegen Nadel- 
stiche und das Muskelgefiihl sowohl in den oberen, als auch in den unteren Ex- 
tremit&ten normal. Hingegen findet sich am Rumpf im Bereich der VI. bis VII. 
Rippe ein schmales Hyper&sthesicfeld von ovaler Form, das in der Richtung von 
vorn nach hinten in die Lange gezogen ist. Ebensolche hyper&sthetische Felder 
werden auf dem hinteren Teil des Halses festgestellt, und zwar linker- und rechter- 
seits je eins, das in Gestalt eines nach unten ausgezogenen Ovals sich von der 
Haarwuchsgrenze bis zu den Querfortsatzen des IV. bis V. Halswirbels eretreckt. 
Im Gesicht ergibt die Untereuchung linkerseits Hyperftsthesie gegen Nadelstiche 
im Bereich der Headschen Zonen, n&mlich der Zonae temporalis, mandibularis, 
Iron to temporalis. 

Patellar-, Achillessehnenreflex, sowie die Reflexe der M. supinator longus, 
triceps erhoht. Die Haut-, FuBsohlen-, Bauchreflexe, sowie die Reflexe von der 
Schleimhaut des Rachens und des Augapfels normal. 

Die willkiirlichen Bewegungen und die grobe Muskelkraft der Arme und 
Beine weichen nicht von der Norm ab. 

Die Konturen der Extremitaten, ihr Umfang, sowie die Umrisse der einzelnen 
Muskeln normal. Bei der Kontraktion der Adductoren des Oberechenkels und der 
Beugemuskeln des Hiiftgelenks fiihlt die Pat. keinerlei Schmerzen im Bereich 
des N. cruralis und seiner sensiblen Aste. 

M&Biger Dermographismus des Bauches und des Nackenbereichs. 

Puls der Aa. pedieae, tibiales anticae, radiales und ulnares normal. 

Herzgrenzen normal; Herztone rein; maBiges Kreiselgerftusch in der V. jugu- 
laris. 

Beim Auscultieren der Lungen iiberall deutlich vesicul&res Atmen. 

Die Untereuchung des Geschlechtsapparats (Privatdozent G. F. Pissemski) 
ergab beideraeitige Eieretockentziindung. 


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M. Lapinsky: 


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Am 6. V. 1911 wandte sich die Pat. wieder mit den gleichen Klagen iiber all* 
gemeine Schwache, Unwohlsein, „podagrische“ Kopfschmerzen an mich. Unter 
anderem teilte sie mit, daB sie im Marz des Jahres 1911 einen „Podagraanfall“ 
in den Beinen gehabt habe, der sich in ununterbrochenen Schmerzen in beiden 
Ober- und Unterschenkeln, FiiBen, Kniegelenken, sowie in den Gelenken beider 
groBen Zehen kuBerte. Diese Schmerzen in den Beinen dauern auch noch jetzt 
fort und nehmen nach Spaziergangen und Stehen zu. Die Beine aind die ganze 
Zeit iiber kalt und werden sogar im Bett nicht warm. AuBerdem treten auch 
Schmerzen im Bauch auf. Dieser „ Podagra “-Anfall war im AnschluB an eine sehr 
schmerzhafte Menstruation aufgetreten, die wahrscheinlich mit „Erkaltung 4 ‘ kom- 
pliziert war. Dieser Beinschmerzen wegen begab sich die Pat. in meine Behandlung. 

Bei der objektiven Untereuchung wurden samtliche friiher vermerkten Sym- 
ptome festgestellt, unter anderem auch eine scharf ausgepr&gte erhohte Druck- 
empfindlichkeit der sensiblen Aste des N. cruralis, und zwar der N. sapheni minor 
und major und des N. infrapateUaris. Sowohl die groBen, als auch die kleinen 
Gelenke der unteren Extremitaten (Knie- und Sprunggelenke, sowie die Zehen- 
gelenke) schmerzlos, nicht geschwollen und weisen bei passiven Bewegungen weder 
die geringste Crepitation noch Knistergerausche auf. Als sehr schmerzhaft erwiesen 
sich die Plexi hypogastricus und renalis sinister. Hamanalysen (vom 8. III. und 
1. V. 1911): spez. Gew. 1012, schwach saure Reaktion, amorphe Urtae in sp&r- 
licher Menge, 10—15 Leukocyten im Gesichtsfelde (Fluor albus); keine Nieren- 
elemente, ZyUnder, Blutkorperchen usw. Herr Privatdozent Dr. G. F. Pissemski 
stellt wieder beiderseitige Oophoritis fest. 

Diagnose: Neurasthenic, Anamie, Neurose der Bauchgeflechte des Sympathi- 
cus, latente Form von Neuralgic des N. cruralis (keinerlei podagrische oder harn- 
saure Diathese), beiderseitige Oophoritis. 

Der Pat. wurde eine thermo-therapeutische Behandlung in Form von Dampf- 
duschen auf den Bauch, das Kreuz und die FiiBe, elektrische B&der, heiBe Douchen 
auf Lenden und FiiBe verordnet. 

Die wahrend der Thermotherapie wiederholt vorgenommene Untersuchung 
ergibt Druckempfindlichkeit der obenerwahnten sensiblen Aste des N. cruralis, 
der linken N. intercostales und der sympathischen Bauchgeflechte (Plexi hypo¬ 
gastricus und renales). Nach 4 Wochen hat die DruekempfindUchkeit der Bauch¬ 
geflechte abgenommen, und gleichzeitig Bind auch die Aste des N. cruraUs weniger 
druckempfindlich. Die Menses verUefen ohne Schmerzen. 

Nach 8 Wochen lang durchgefiihrter Thermotherapie versehwanden die Schmer¬ 
zen in den FiiBen, an die Stelle des Kaltegefiihls in denselben war ein gleichm&Biges 
Warmegefiihl getreten. Die Plexi hypogastricus, renaUs, solans sind bei tief- 
gehendem Druck gar nicht empfindhch. Gleichzeitig verschwand die Schmerz- 
haftigkeit in den N. saphenus major und minor, infrapateUaris, intercostales 
sinistri. Auch die Hyperasthesie im Nacken und im Gesicht ist erloschen. 

Nach 6 Monaten konsultierte mich die Pat. wegen Schlaflosigkeit. In alien 
underen Hinsichten fiihlt sie sich vorziiglich. Sie auBert sich dahin, daB sie voll- 
kommen vergessen habe, daB sie an Beinschmerzen gelitten. W’&hrend der Unter¬ 
suchung stellte e8 sich heraus, daB die N. sapheni major et minor rechtereeits 
viberaus druckempfindlich sind. AuBerdem sind auch die Plexi hypogastricus, 
renales und Solaris schmerzhaft. 

In diesem Falle wird ebenso wie im vorhergehenden unsere Auf- 
merksamkeit auf die hochgradige Druckempfindlichkeit der N. sapheni 
major und minor und infrapateUaris bei normaler Sensibilitat, nor¬ 
ma len Reflexen und regelmalJiger Ernahrung der vom N. cruralis 


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Die latente Form der Neuralgie des N. cruralis. 


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innervierten Muskeln gelenkt, wobei in beiden Fallen die subjektiven 
Klagen auf Schmerzen in den Beinen hinweisen. Somit sind auch hier 
die Anzeichen einer Nenralgie des N. cruralis vorhanden. Nach der 
entsprechenden Therapie vergingen die subjektiven Schmerzen, und 
die oben bezeichneten Nerven wurden weniger druckempfindlich. 

Nach 6 Monaten, als die Patientin keinerlei Schmerzen mehr in 
den Beinen hatte, ergab die objektive Untersuchung wie friiher eine 
hochgradige Druckschmerzhaftigkeit derselben Nerven der unteren Ex¬ 
tremist. Diese Daten sprechen dafur, daB die manifeste Neuralgie 
sich in eine latente verwandelt hatte. Andrerseits war dieselbe 
am 10. X. 1910 auch in der latenten Form aufgetreten, um 
sich hernach im Jahre 1911 in die manifeste zu verwandeln. 

Als sehr interessant erscheint im gegebenen Falle das zeitliche 
Zusammenfallen des entziindlichen Zustands beider Eier- 
stdcke mit der Schmerzhaftigkeit der hier verzeichneten 
Nerven. Ferner ist die Druckempfindlichkeit der sympathi- 
ftchen Bauchganglien und die gleichzeitige Schmerzhaftig¬ 
keit der Aste des N. cruralis auf Druck und andrerseits die Herab- 
minderung der Druckempfindlichkeit der letzteren mit der Abnahme 
der Schmerzhaftigkeit der ersteren hervorzuheben. Der Stamm des 
N. Cruralis und Nn. cutanei perforantes waren auch in diesem Fall nicht 
druckschmerzhaft. 

III. Frau M. S. E., 37 Jahre alt; 15 Jahr verheiratet; hat 5mal geboren; 
das jungste Kind 6 Jahre alt. 

Bei meiner ersten Visit© fand ich die Pat. an einem Anfall „podagrischer“ 
Schmerzen im rechten Oberschenkel, Knie, Sprunggelenk und in der groBen Zehe 
derselben Seite erkrankt. An diesen Anfallen leidet sie bereits seit 5 Jahren. 
Sie hat sehr viel Mineralwasser Borshom dagegen getrunken, doch ohne besonderen 
Nutzen. Da w&hrend dieser Zeit kein einziges Mai im Ham hamsaure Salze, 
Oxalsaure oder Zucker gefunden wurden, wurde angenommen, daB ein „verbor- 
genes“ Podagra vorliege, und damit dasselbe sich „manifestiere“, war ihr angeraten 
worden, eine Saison in Salzschlirf zuzubringen oder zu Hause das Wasser dieser 
Quellen zu trinken. Die Pat. hat 45 Flaschen dieses Mineralwassers ausgetrunken, 
die ganze Zeit iiber die entsprechende Diftt eingehalten; die Schmerzen bestehen 
jedoch unver&ndert fort. 

In der Regel w&hren die Schmerzen 5—8 Tage und erloschen allm&hlich. 
Mitunter zeichnen sie sich aber durch einen mehr andaueraden Charakter aus und 
halten sich 2—3 Monate lang Tag und Nacht ohne Remissionen. W&hrend dieser 
Schmerzen wird das rechte Bein so schwer, als ob es paralysiert w&re. Die Schmer¬ 
zen strahlen iiber das ganze Bein aus, besonders unangenehm erscheinen sie aber 
in der Tiefe des Oberechenkels, im Knie und im FuB. Die Menses unregelm&Big, 
sind mit Schmerzen im Bauch und Kreuz verkniipft. In den letzten 6—8 Jahren 
war das Menstrualblut von dunkler Farbc. Ein starkes Geechwollensein des 
Beins hat die Pat. nicht bemerkt. Beide Beine, insbesondere das rechte, sind be- 
st&ndig kalt. 

Bei der im Bett vorgenommenen Untersuchung ist der Puls in den A. pediea 
und tibialis postica beiderseits deutlich fiihlbar und unterscheidet sich in nichts 


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von der Norm. FuB und Unterschenkel frei von Odemen. Die passiven Bewegungen 
im rechten Bein, in den Gelenken der vier kleinen Zehen, im Sprung-, Knie- 
und Hiiftgelenk schmerzlos und ohne jede Crepitation oder Reibung ausfiihrbar. 
Taktile und thermische Sensibilitat, sowie die Empfindliehkeit gegen Nadelstiche 
im Vergleich zum linken Bein erhoht. Hautreflexe, Plantar- und Sehnenreflexe 
weichen an beiden Beinen nicht von der Norm ab. 

Bei Druck auf beide Ischiadicusst&mme in der Glut&alfalte ist keine be- 
sondere Schmerzhaftigkeit zu bemerken. Ebenso aind auch die Nn. tibiales, peronaei, 
cutanci femoris extemi beiderseits wenig empfindlieh gegen Druck. 

Der N. cruralis ist auf der linken Seite unter dem Poupartschen Bande 
und Nn. perforantes anteriores nicht schmerzhaft. Hingegen sind die Nn. saphe- 
nus major und minor, sowie der N. infrapatellaris auf dieser Seite sehr druck- 
8chmerzhaft. Rechterseits ist der N. cruralis unterhalb des Poupartschen Bandes 
m&Big druckempfindlich; die Nn. perforantes cutanei anteriores sind m&Big 
schmerzhaft, hingegen sind die N. saphenus major und minor, sowie der N. infra¬ 
patellaris hochgradig empfindlieh. 

Der N. obturatorius extemus ist auf beiden Seiten schmerzhaft. Sehr 
empfindlieh gegen Fingerdruck usind die Plexi hypogastricus, renales, So¬ 
laris, sowie die N. interoostales VI und VII und der Nacken bei Druck 
auf die iiber den Proc. dorsales und transversales des II. bis V. Halswirbels ge- 
legenen Gewebe. 

Die Hautsensibilitat auf dem Rticken, der Brust und dem Bauch normal. 
Sehr empfindlieh gegen Nadelstiche ist die Nackenhaut; als hyperasthetisch er- 
scheinen im Gesicht die Zonae temporales beiderseits. Obere, mittlerer und 
unterer Bauchreflex etwas tr&ge. 

Die Reflexe von den M. supinator longus und triceps normal. 

Herzgrenzen und -tdne nicht verandert. MaBiges Kreiselgerausch in der V. ju- 
gularis. Perkutorisch und auscultatorisch lassen sich keine Veranderungen in den 
Lungen feststellen. 

Stuhl einmal taglich oder einmal in zwei Tagen. 

Harn: spez. Gew. 1015; Urate in geringer Menge. 

Der Pat. wurde Antipyrin 0,5 pro dosi verschrieben und vorgeschlagen, sich 
einer thermotherapeutischen Behandlung mit Dampf, Licht, heiBer Luft usw. zu 
unterwerfen; gleichzeitig wurde ihr angeraten, sich zuvor einer gyn&kologischen 
Untersuchung zu unterziehen. 

Herr Privatdozent Dr. G. F. Pissemski fand bei der objektiven Unter- 
suchung der Pat. linksseitige Salpingitis, Oophoritis und Perimetritis. 

Nach einem Monat begann die Pat. mit der Thermotherapie. Wahrend der 
ersten l 1 /, Wochen klagte sie wie vorher iiber Schmerzen im rechten Knie und 
im ganzen rechten Bein; doch allm&hlich erloschen diese qualenden Schmerzen. 
Bei den wiederholt vorgenommenen objektiven Unterauchungen konnte festgestellt 
werden, daB, obschon die Schmerzhaftigkeit der N. saphenus major et minor und 
infrapatellaris gegen Ende der dritten Woche der Behandlung ein wenig abgenom- 
raen hatte, diese Nerven doch noch sehr empfindlieh waren und noch diesel ben 
Symptom©, die wahrend der Schmerzanfalle bestanden hatten, aufwiesen, obschon 
die Pat. sich subjektiv schinerzfrei fiihlt. Gleichzeitig erwiesen sich auch die 
Plexi hypogastricus, Solaris, renales als schmerzhaft. Auch die den hinteren Teil 
des Halses bedeckenden Gewebe waren druckempfindlich. 

Am Ende der 6. Woche der Behandlung stellte die Pat. die Kur ein und gab 
an, daB sic sich in jeder Hinsicht ausgezeichnet fiihle. Ihr Korpergewicht hatte 
um 5 Kilo zugenommen. Die Beine waren warm geworden; kein einziges Mai 
inachten sich die Schmerzen im rechten Bein bemerkbar. Die am Ende der 0. Woche 


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Die l&tente Form der Neuralgic des N. cruralis. 


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der Thermotherapie angestellte Harnanalyse ergab: spez. Gew. 1015, schwach 
saure Reaktion, amorphe Urate in geringer Menge. 

Die sympathischen Bauchganglien: renales, solaria und hypogastricnm waren 
jetzt schmerzlos auf Druck geworden und gleichzeitig hatten auoh die N. saphenus 
major und minor aufgehort, empfindlich gegen Fingerdruck zu sein. Die N. inter¬ 
costales sind schmerzfrei; ebenso die Gewebe des hinteren Teiles des Halses. 

Diagnose: Latente Form von Neuralgie des N. cruralis, Sympathicusneurose. 

Im gegebenen Falle sind die Symptome einer Neuralgie des N. cruralis, 
und zwar anfangs in der manifesten und spater in der latenten Form 
und gleichzeitig Salpingitis, Oophoritis und Metritis vermerkt. Gleich¬ 
zeitig erweisen sich auch die sympathischen Bauchganglien als druck- 
empfindlich. Mit der Abnahme der Schmerzhaftigkeit dieser letzteren 
lassen auch die Schmerzen in den sensiblen Asten des N. cruralis nach. 
Der Stamm von N. cruralis und Rami cutanei perforantes waren in 
diesem Falle nicht druckschmerzhaft. 

IV. Am 10. X. 1910 kam in meine Sprechstunde Frl. M., 19 Jahr alt. Sie 
klagte iiber Bauch- und Kopfschmerzen wfthrend der Menstruationsperiode, 
schlechten Schlaf, allgemeine Nervosit&t, Reizbarkeit, Abnahme der Aufmerksam- 
keit und des Ged&chtnisses. Keine Schmerzen in den Beinen, doch sind dieselben 
bestandig kalt. Menstruationsblut dunkel gefarbt. Die objektive Untersuchung 
ergibt Abmagerung, Blasse der Hautdecken und Schleimh&ute, an&mische Ge- 
r&usche im Herzen und in den Venenstammen des Halses. Bauch weich. Druck 
auf die Plexi aorticus, Solaris, renalis und hypogastricus schmerzhaft. N. inter¬ 
costales nicht druckempfindlich, ebenso die Aste des X. trigeminus, die N. occipitales 
major und minor, sowie dieSt&mme des N. ischiadicus, derN. tibialis und peronaeus; 
auch der Stamm des N. cruralis in den Inguinalfalten beiderseits nicht empfindlich. 

Dagegen sind die N. sapheni minores und infrapatellares beider¬ 
seits intensiv schmerzhaft. 

Die Knie-, Sprung- und Zehengelenke unver&ndejt, bei passiven 
Bewegungen nicht schmerzhaft, knistern nicht. Grobe Muskelkraft 
unver&ndert. Empfindlichkeit gegen Nadelstiche normal. Reflexe 
erhoht. 

Der Patientin wurden Arsenikinjektionen verordnet und der Rat erteilt, 
sie solle sich an die Frauen&rztin Fr. Dr. A. P. Chomiakowa - Buslowa wenden, 
die eine beiderseitige Oophoritis feststellte. 

Am 5. V. 1911 suchte mich Frl. M. wieder in meiner Sprechstunde auf. Sie 
klagte jetzt iiber „akuten Rheumatismus“ beider Beine. Bei der Besichtigung 
erweisen sich die Kniegelenke an beiden Extremit&ten als nicht angeschwollen, 
nicht deformiert, die passiven Bewegungen in denselben nicht schmerzhaft; die 
Gelenke knistern und crepitieren nicht. Fingerdruck auf die Innenseite des Gelenks 
nahe von der Patella im Verlaufe des N. saphenus beiderseits sehr schmerzhaft. 
Ebenso ist auch Fingerdruck unterhalb der Kniescheibe im Gebiet des N. infra- 
patellaris auf beiden Seiten sehr schmerzhaft. Auflerst schmerzhaft ist Fingerdruck 
auch im Verlaufe der N. saphenus major und minor, infrapatellaris und cutaneus 
femoris extemus. Die Temperatur der Beingelenke ist bei Palpation nicht erhdht, 
Fluktuation ohne Spannung der Gelenkkapsel wird nicht vermerkt. Die Muskeln 
der Wade der AuBenseite des Unterechenkels der Vorder- und Hinterseite des 
Oberschenkels der Stamm N. cruralis und seine Rami cutanei perforantes nioht 
schmerzhaft. 


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Der Bauch ist etwas aufgetrieben, die sympathischen Bauchgeflechte: 
solaria, renalis und hypogaatricua aind aehr druckempfindlioh. 

Die Auscultation dea Herzens ergibt ein leichtea systoliaches Gerausch; in 
der V. jugularis iat ein Nonnenger&usch horbar. Menstruation schmerzhaft. Die 
gegenwartig AnlaB zu Klagen gebenden Schmerzen in den Beinen haben w&hrend 
der Menses vor 5 Tagen begonnen, verlaufen ohne Temperaturerhohung und 
verursachen der Patientin, obschon aie bereits nachgelassen haben, tags 
und nachts groBe Qualen. 

Auf Grund der vorliegenden Untersuchung wurde die Diagnose auf Neuralgie 
des N. aaphenus gestellt. Was nun den Kheumatismus anbelangt, so war an 
einen solchen iiberhaupt nicht zu denken. Die Patientin wurde wieder an Dr. A. 
P. Chomiakowa gewiesen, die mitteilte, daB beide Eieratocke sehr empfindlich 
und von entziindlichen Ablagerungen umgeben sind. 

Der Patientin wurde ein Waaserkur in Form von Thermotherapie im Laufe 
von 0 Wochen verordnet. Wahrend der ersten 3 Wochen klagte die Kranke liber 
qualende Schmerzen in den Beinen, und die objektive Untersuchung vermerkte 
in dieaer Zeit eine hochgradige Schmerzhaftigkeit in den Sta inmen der N. sapheni 
majores und minores und infrapatellares und in den Bauchganglien, insbesondere 
im Plexus hypogastricus. Sodann wurden die subjektiven Empfindungen weniger 
intensiv und die Schmerzhaftigkeit der Plexi Solaris, hypogastricus und renales, 
sowie der St&mme der N. sapheni beiderseits nahm gleichzeitig ab. Gegen Ende 
der 0. Woche der Thermotherapie verschwanden die subjektiven Schmerzempfin- 
dungen in den Beinen und die objektive Druckempfindlichkeit in beiden N. sapheni 
beiderseits vollkommen. Die Patientin nahm um 4 kg an Korpergewicht zu. 
Die Menstruationsperiode verging ohne Schmerzen. 

Am 18. I. 1912 kam die Patientin wieder in meine Sprechstunde. Sie klagte 
jetzt iiber qualendes nachtliches Herzklopfen. Die Besichtigung ergab die Sym- 
ptome der An&mie, systolisches Gerausch an der Herzspitze und in der V. jugularis. 
Herzgrenzen normal; Anzahl der Schlage 72—78 in 1 Minute. Die Hautdecken 
im Bereich des Herzens im Zustande der Hyperasthesie; Bauch aufgetrieben; 
Plexi hypogastricus und Solaris maBig druckempfindlich; als hochgradig schmerz¬ 
haft auf Druck erweisen sich beiderseits die N. sapheni majores, minores, infra¬ 
patellares. 

Diagnose: Anaemia, Oophoritis, Neuralgia cruralis latenta. 

In vollkommener Analogie zum vorhergehenden Falle haben wir im 
vorliegenden Druckempfindlichkeit der obenerwahnten Aste des N. cru¬ 
ralis nicht nur dann, wenn subjektive Schmerzempfindungen vorhanden 
sind, sondem auch in dem in dieser Hinsicht vdllig freien Zeitabschnitt. 
Somit kann man diesen Fall als einen Fall von latenter Neuralgie des 
N. cruralis betrachten, die zeitweilig unter dem EinfluB irgendwelcher 
zufalliger Ursachen, z. B. infolge einer unregelmaBigen Menstruations¬ 
periode einen manifesten Verlauf nimmt. 

Die „rheumatischen“ Schmerzen in den Beinen hat man nur durch 
eine manifesto Neuralgie des N. cruralis zu erklaren. Gegen Rheumatis- 
mus spricht hier die normale Temperatur und das Fehlen von irgend- 
welchen lokalen Veranderungen in den Gelenken. 

Hier beobachten wir, ebenso wie im vorhergehenden Falle, gleich¬ 
zeitig mit der Schmerzhaftigkeit der obenerwahnten Hautaste der 
N. crurales eine Erkrankung des Greschlechtsapparats. Ebenso haben 


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wir auch hier wieder parallel mit der Druokempfindlichkeit der N. sapheni 
majores und minores and infrapatellares eine Druokempfindlichkeit der 
sympathischen Bauohganglien. Der Stamm der Nn. cruralis in der In- 
quinalfalte und rami perforantes waren nicht druckempfindlich. 

V. G., 46 Jahr alt, tr&t im Oktober 1911 in mein Sanatorium ein. Er klagte 
iiber allgemeinen Kr&fteverfall, Rheumatismus der Beine, schlechte Gemiits- 
stimmung, Schlaflosigkeit, h&ufigen Harndrang von „podagrischem Charakter 44 
und Stuhlverhaltung. 

Bei der objektiven Untersuehung erweist sich der Patient als gut gen&hrt. 
Seine Muskulatur ist stark entwickelt; die grobe Muskelkraft und die willkiirliehen 
Bewegungen weichen in keiner Hinaicht von der Norm ab. Die Gelenke der unteren 
Extremit&ten sind frei, schmerzloe, knistem nicht. Die Empfindlichkeit gegen Nadel- 
stiohe ist iiberall normal, nur die Innenfl&chen beider Oberschenkel weisen eine 
gewiflse Hyperasthesie auf. Die Hautreflexe von der FuBsohle, vora M. cremaster, 
der untere, mittlere und obere Bauchreflex normal. Die Sehnenreflexe von der 
Achillessehne, der Patellarsehne und von den M. supinator longus und triceps 
beiderseits erhoht. Linke Herzgrenze einen Fingerbreit nach innen von der Brust- 
warze, rechte (relative Dampfung) l&ngs dem linken Rande des Stemums. Herztone 
rein; Puls 70—74, nicht hart. Untere Magengrenze drei Finger breit iiber dem Nabel; 
Darm aufgetrieben; Dickdarm ausgedehnt und empfindlich auf Druck. Plexus 
solaria nicht schmerzhaft, Plexus hypogastricus hingegen sehr schmerzhaft, ebenso 
sind auch die Plexi renales dexter und sinister druckempfindlich. 

Die intercostalen Nervenstamme und der Stamm der Nn. crurales und Nn. 
perforantes anferiores sind nicht schmerzhaft auf Druck; als m&Big druckempfind¬ 
lich erweisen sich die N. ischiadici, tibiales, peronaei, als hochgradig schmerzhaft 
hingegen die Nn. sapheni majores, minores, infrapatellares, cruris medialis und 
cutanei femoris late rales beiderseits. Auf die Frage, ob er denn an den letzt- 
erw&hnten Stellen keine selbst&ndigen Schmerzen verspiire, erwiderte der Patient, 
daB er mitunter gerade an den Innenfl&chen der Beine „podagrische Schmerzen 44 
spiire, wenn er sich zuf&lhg erk&lte, bei Temperaturerhohung usw. Der Harn ist 
hell, von schwach saurer Reaktion; spezifisches Gewicht 1015; enth&lt weder Ei- 
weiB noch Salze. 

Dr. S. J. Ratner, an den der Patient zur Aufklarung der Ursachen des 
h&ufigen Harndranges gewiesen wurde, fand eine hypertrophische Prostatitis 
mit zahlreichen Erweichungsherden. Die Prostata ist hiihnereigroB und sehr 
schmerzhaft. 

Diagnose: Neurasthenic, Prostatitis, latente Neuralgie der Nn. crurales beider¬ 
seits und der N. intercostales sinistri. 

VI. Am 10. V. 1910 wandte sich der 55 Jahre alte A. L F. mit Klagen iiber 
beiderseitige „podagri8che 4< Ischias und h&ufigen Harndrang an mich. Die Schmer¬ 
zen in den Beinen hatten sich bereits vor 3 Jahren eingestellt; gegen dieselben 
brauchte er Borshom, und zwar trank er im Laufe von 6 Behandlungskursen 
deren jeder 4 Wochen lang w&hrte, t&glich 4 Glas dieses Mineralwassers. Diese 
Behandlung brachte etwas Linderung, doch die Schmerzen bestanden noch weiter. 

Die Besichtigung des Patienten ergab betrachtliche Abmagerung, m&Biges 
Emphysem; die Haut beider Unterschenkel maBig pastos. Herz bedeckt, Herztbne 
ged&mpft, doch rein. Die willkiirliehen Bewegungen der oberen und unteren 
Extremit&ten regelm&Big, die grobe Muskelkraft etwas herabgesetzt. Keine 
Muskelatrophie. Gelenke der oberen und unteren Extremit&ten frei, schmerzlos, 
knistem nicht bei passiven Bewegungen. Sensibilit&t normal. Die Reflexe von 
der Bauchhaut, Cremaster- und Plantarreflex normal. Achillessehnen- und 
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XX. 27 


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PateUarsehnenreflexe erhoht. Dae Laseguesche Symptom beiderseite vorhanden. 
Beide N. ischiadici maBig druckempfindlich, ebenso die N. clunei, die hinteren 
Aste der Lendenwurzeln, die N. intercostales sinistri V—VII, die hinteren Aste 
des III. und IV. Halsnerven, die M. cucullares. Hochgradig schmerzhaft sind die 
N. sapheni majores und minores, infra pate llares und cruris medialis beiderseite. 
Sehr empfindlich gegen Druck sind die Plexi hypogastricus und ren&les. Der Stamm 
von N. cruralis und Nn. perforantes sind nicht druokschmerzhaft. 

Der Ham reagiert alkalisch; sein spezif. Gewicht 1025, TripelphosphatkrystaUe. 
Zylinder, ca. 60—80 weiBe und 10 rote Blutkorperchen im Gesichtsfelde. 

Dr. S. J. Ratner fand Prostatahypertrophie mit mehreren Erweichungs- 
herden und Blasenkatarrh. Das Einfiihren des Fingers in den Dickdarm ruffc 
kuBerst schmerzhafte Empfindungen nicht nur in der Richtung nach der Prostata 
und Ham blase hin, sondem auch nach hinten und zu beiden Seiten des Rectums 
hervor (pelveo-cellulitis); die Oberflache des Rectums ist nicht empfindlich gegen 
Beriihrung; Druck iiber der Schambeinfuge ruft unangenehme Empfindung hervor. 

Diagnose: Prostatitis, Catarrhus vesicae, Hyperaemia pelvis. Neuralgia n. 
cruralis latenta. 

VII. M. I. trat mit Klagen uber intensive „podagrische“ Schmerzen und 
Kkltegefiihl in den Beinen in mein Sanatorium ein. Im Laufe von 5 Jahren hatte 
die Behandlung mit alkalischen Mineralwasser keinen schmerzlindemden Erfolg 
gehabt. Die objektive Untersuchung ergibt: guten Korperbau, subcutanes Fett- 
gewebe schwach entwickelt; alle willkiirlichen Bewegungen sind normal, und 
auch die grobe Kraft derselben weicht nicht von der Norm ab. Passive Bewegungen 
in aUen Gelenken moglich. Die Gelenke knistem dabei nicht und orepitieren nicht. 
Die Knie-, Sprung- und Zehengelenke sind nicht odematos und nicht druck¬ 
empfindlich. Die A a. crurales, tibiales posticae und anticae pulsieren normal. 
Die Empfindlichkeit gegen Nadelstiche, die taktile und thermische Sensibilitat 
in den Beinen, und iiberhaupt am ganzen Korper unverkndert. Plantar-, Cremaster- 
und aUe 3 Bauchreflexe normal, ebenso Patellar- und AchiUessehnenreflexe. Die 
mit den Fingem in Falten emporgezogene Haut der Oberschenkel, Unterschenkel 
und der FiiBe ist nicht druckempfindlich. Die einzelnen Wadenmuskeln, die 

M. quadricipites imd die Muskeln der Hinterflkche der Oberschenkel schmerzen 
nicht beim Palpieren. Der N. ischiadicus und seine Aste, der Stamm Nn. cruralis 
und seine rami cutanei perforantes sind nicht druckempfindlich. Als hochgradig 
8chmerzempfindlich erweisen sich die N. sapheni majores, minores und infrapa- 
teUares, sowie der Plexus hypogastricus. Der Ham hat das spezifische Gewicht 
1010, reagiert schwach sauer, gibt keinen krystallinischen oder amorphen Nieder- 
schlag, weist aber 6—12 Leukocyten im Gesichtsfelde auf. Dr. G. G. Reise, von 
dem die Untersuchung des Geschlechtsapparats des Patienten ausgefiihrt wurde, 
fand Hypertrophie der Prostata und katarrhalische Prostatitis mit mehreren Er- 
weichungsherden und empfiehlt die Behandlung mit Prostatamassage. — Die 
Behandlung des Bauches, des Kreuzes und des Darmes mit heiBen aufsteigenden 
Duschen und dem Dampfspray linderte die Schmerzen in den unteren Extremi- 
tkten. Die wfihrend der Behandlung wiederholt vorgenommene Untersuchung der 

N. sapheni majores, minores, infrapateHares und des Plexus hypogastricus ergab 
eine allmahliche Abnahme der Druckempfindlichkeit dieser Gebilde und paraUel 
hierzu ein Erloschen der subjektiven Schmerzempfindung in den Beinen. 

6 Monate nach der Beendigung der hydropathischen Behandlung wandte 
sich der Patient wieder an mich. Er klagte jetzt iiber Schlaflosigkeit. Auf mein 
Befragen hinsichtlich der Schmerzen in den Beinen erklkrte der Patient kategorisch, 
daB diese Schmerzen nach AbschluB der Behandlung verschwunden seien und er 
sich in dieser Beziehung vollkommen gesund fiihle. 


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Die latente Form der Neuralgie des N. cruralis. 


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Bei der Untersuchung ergab rich, dafl die unteren Extremitaten den Status 
quo ante bewahrt batten, und zwar rind die Haut, die Muskeln und die Qelenke 
nicht schmerzhaft, w&hrend die N. sapheni majores, minores und der Plexus 
hypogastricus rich als druckempfindlioh erweisen. Die per rectum vorgenommene 
Untersuchung der Prostata ergab eine groBe Schmerzhaftigkeit dieses Organs. 

Diagnose: Detente Neuralgie des N. cruralis, Prostatitis. 

Die 3 an letztei* Stelle aufgefiihrten Krankengeschichten unter- 
scheiden sich von den ersten 4 nur darin, daB sie 1. Manner betreffen, 
und 2. bei diesen eine Erkrankung der Blase oder der Prostata bestand. 
Sonst laBt sich eine vollkommene Identitat vermerken, und zwar wird 
objektiv die Druckempfindlichkeit der N. sapheni majores minores und 
infrapatellares festgestellt und parallel hierzu sind subjektive Klagen 
uber Schmerzen in den Beinen vorhanden. Diese Schmerzen sind als 
Kennzeichen einer Neuralgie der obenerwahnten sensiblen Aste des 
N. cruralis aufzufassen, einer Neuralgie, die entweder manifest oder latent 
verlauft, wobei in beiden Stadien als objektive Anzeichen der Neuralgie 
Druckempfindlichkeit dieser Nerven vorhanden ist. Der Stamm des 
N. cruralis und seine rami perforantes waren nicht druckempfindlich. 

Die von der Patientin verapiirten Schmerzen konnten nur von diesen 
obenerwahnten As ten des N. cruralis ausgehen, da alle iibrigen Ge- 
bilde der unteren Extremitaten normal waren. Auch hier waren, ebenso 
wie in den oben aufgefiihrten 4 Krankengeschichten, die Personen weib- 
lichen Geschlechts betrafen, die sympathischen Bauchgeflechte druck¬ 
empfindlich bei gleichzeitiger Druckempfindlichkeit der sensiblen Aste 
des N. cruralis. Die Schmerzen in den Beinen nahmen parallel mit der 
unter dem EinfluB der Therapie eintretenden Abnahme der Druck¬ 
empfindlichkeit der sympathischen Bauchgeflechte und nach MaBgabe 
der Besserung der lokalen somatischen Leiden, und zwar der Prostatitis, 
Cystitis, Hyperasthesie desZellgewebes des kleinenBeckensu.dgl. mehrab. 

Wenn wir nun die Resultate der an unserem gesamten Kranken- 
material gemachten Beobachtungen zusammenfassen, so laBt sich im 
allgemeinen sagen, daB sich die Symptomatologie dieses Leidens als 
recht kompliziert darstellt, weshalb die Symptome von seiten des 
N. cruralis des ofteren in der Menge der iibrigen Erscheinungen ver- 
schwinden. Diese parallel mit dem Bilde der Erkrankung des N. cruralis 
verlaufenden Erscheinungen sind jedoch so eng mit demselben ver- 
bunden, daB nur ein durch Erfahrung gescharftes Auge sie zu unter- 
scheiden vermag. Ihr gleichzeitiges Auftreten weist jedenfalls entweder 
auf den organischen Zusammenhang derselben oder auf ihre atiologische 
Abhangigkeit von ein und derselben Ursache hin. In der Regel klagen 
die Kranken uber Schmerzen in den Beinen, in den Knie- 
gelenken, im Femur, mitunter uber Schmerzen im Hiift- 
gelenk oder in den Waden und im Innenrande des FuBes. 
Diese Schmerzen tragen einen bestandigen Charakter und werden 

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tags bei Bewegung starker; nachts im Bett befinden sich die 
Kranken besser, doch findet auch das Umgekehrte statt. Die 
Schmerzen verschlimmern sich bei trager Funktion des 
Darms, bei Verstopfung, Harnverhaltung und bei anderen 
Stdrungen der Harnausscheidung, vor den Menses oder 
wahrend derselben; in einem Falle bestanden die Schmerzen nur 
wahrend des Geschlechtsaktes, wobei dieselben wahrend der 
Ejaculation ihren Hohepunkt erreichten. In vielen Fallen wurden 
die Schmerzen in derSchwellungsperiode der Hamorrhoidal- 
knoten starker. Auch bei feuchter Witterung, einigen In- 
fektionskrankheiten und in den Perioden sttirmisohen Ge- 
schlechtslebens verschlimmern sich die Schmerzen. Eine 
Linderung derselben erfolgt nach Entfernung der Hamorrhoidalknoten, 
nach hamorrhoidalen Blutungen, bei regelmaBigem Stuhlgang, einige 
Tage nach Beendigung der Menstruation; dazu tragen auch Bettruhe und 
warme Vollbader bei. In der Regel bringt der Patient jedoch noch viele an- 
dere Klagen vor, und obwohl die fiber Beinschmerzen in den Vordergrund 
treten, ist der Patient selbst nicht imstande, dieselben inihrem Verlaufe 
zu verfolgen und ihre Schwankungen in Abhiingigkeit von den einen oder 
anderen Veranderungen in der somatischen Sphare, von zufalligen Ver- 
letzungen oder klimatischen Verhaltnissen zu bestimmen. Nur durch eine 
ins einzelne gehende arztliche Fragestellung laCt sich dasjenige zeitliche 
Zusammenfallen der Verschlimmerungen und Besserungen der Bein¬ 
schmerzen mit anderen Momenten, das hier geschildert wurde, feststellen. 

Aus den Klagen der Patienten ergibt sich ganz unzweifelhaft der 
chronische Verlauf der Schmerzen und eine Schwankung 
ihrer Intensitat, wobei nach einerExacerbation derSohmer- 
zen ein zeitweiliges verhaltnismaBiges Wohlbefinden ein- 
treten kann, wahrenddessen eine grdBere oder geringere 
Linderung der Schmerzen erfolgt, was mitunter der Fall 
ist, ohne daB der Patient irgendeine firtliche Therapie der 
Beine angewandt hatte. Andrerseits ergaben in der Periode dieser 
Schmerzen verschiedene lokal gebrauchte, narkotische Salben, Massage 
und Elektrisation der Beine u. dgl. m. nicht die geringste schmerz- 
lindemde Wirkung. Nach einer Periode vOlliger oder verhalt- 
nismafiiger Ruhe kdnnen die Schmerzen wieder an den 
Stellen der frfiheren Lokalisation auftreten, weshalb man 
von 2 Erscheinungsformen derselben sprechen kann, von 
denen die eine durch manifeste, die andere durch latente 
Schmerzen charakterisiert ist. Die erstere entspricht dem 
manifesten, die letztere dem latenten Stadium der Neur- 
algie. In einigen Fallen klagen die Patienten nicht nur fiber Schmerzen 
in den Beinen, sondem auch fiber Schwache in denselben. 


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Die latente Form der Neuralgie des N. cruralis. 


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Die Kranken pflegen ihr Leiden als Podagra, chronischen oder ner- 
vdsen Rheumatismus, latente Harasaurediathese usw. zu bezeichnen, wo- 
bei sie in zahlreichen von ihnen gebrauchten Mineralwassertrinkkuren in 
Karlsbad, Baden-Baden, Borshom, Vichy, Neuenahr, Salzschlirf, die 
ihnen jedochihrer eigenen Aussage gemaB gar keinen Nutzen 
gebracht, den Beweis ftir die Richtigkeit ihrer Diagnose sehen. AuBer- 
dem weisen die Kranken in der Regel zahlreiche Hamanalysen vor, in 
denen mitunter ham- oder oxalsaure Salze verzeichnet sind und das 
spezifische Gewicht zwischen 1,024 und 1,030 schwankt; doch in der 
Mehrzahl der Falle weist der Ham bei einem spezifischen Gewicht 
von 1,012—1,015 keinerlei besondere Abweichungen von der Norm auf. 
AuBer den Schmerzen erwahnen die Kranken noch verschiedene Par- 
asthesien, so z. B. Ameisenkriechen in den Beinen, Vertauben, 
ein Gefiihl von aufsteigender Hitze u. dgl. m. Diese Parasthesien 
sind grOBtenteils in der Innenseite des FuBes lokalisiert. 

Alle Kranken klagen mit wenigen Ausnahmen iiber ein Kalte- 
gefiihl in den Beinen, weshalb sie genCtigt sind, dieselben warm 
zu kleiden und sie nachts im Bett gut zu bedecken. 

Sehr viele Patienten klagen tiber Ode me der Extremitaten, 
wobei diese Anschwellungen nicht nur im FuBe, sondem auch im Unter- 
schenkel und sogar im Knie vermerkt werden. t)brigens urteilen die 
Kranken iiber diese Odeme der Extremitaten nicht auf Grund einer 
arztlichen Besichtigung, sondem nur nach den Vertiefungen, die im K6r- 
per ober- oder unterhalb des Knies an der Stelle der Strumpfbander 
sichtbar sind, oder nach den Abdriicken, die die Stiefelschniire am FuBe 
zuriicklassen. 

AuBerdem klagen die Patienten und Patientinnen in der Regel iiber 
allgemeines Unwohlsein, Kopfschmerzen, Herzklopfen, 
Verstopfung, Sodbrennen, Appetitlosigkeit, Schlaflosig- 
keit, haufigen Harndrang, Stdrungen der Geschlechts- 
sphare, dunkle Farbung des Menstruationsblutes, Schmerz- 
haftigkeit wahrend der Menses usw. 

Bei der objektiven Untersuchung fiihlen sich die unteren Ex¬ 
tremitaten gewohnlich kalt an. Sehr oft ist die Haut des FuBes, des 
Unter- und sogar des Oberschenkels pastos, doch Fingerdmck hinter- 
laBt nur eine schwache Spur. Der Puls in den Aa. pediea und tibialis 
postica ist gut fiihlbar, doch die Arterien zeigen nur schwache 
Blutfiillung. Mitunter gelangt eine gewisse Entwicklung der feinen, 
oberflachlichen Hautvenen zur Beobachtung. Die passiven Be- 
wegungen sind stets oder mit nur seltenen Ausnahmen vdllig sch merz- 
los; Knister- und Reibegerausche weder im Kniegelenk, noch in den 
iibrigen Gelenken des Beines bemerkbar. Ausnahmen hiervon waren 
auBerst selten, und zwar gelangte nur in einigen Fallen ein leichtes 


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406 


M. Lapinsky: 


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Knistern im Kniegelenk zur Beobachtung und in 2 oder 3 Fallen hatte 
ich eine scheinbare Herabsetzung der Beweglichkeit des Huft- und 
Kniegelenks wegen der Schmerzen zu verzeichnen. Die willkiir- 
lichen Bewegungen in den unteren Extremitaten zeigen keine 
besonderen Veranderungen, obwohl bei einigen Kranken das Bestreben 
zu bemerken ist, ihre vom N. cruralis innervierten Muskeln zu scho- 
nen. Der Muskeltonus ist wenig oder gar nicht verandert. Die 
Palpation der Mm. quadriceps, pectineus u. a. laBt keinerlei Verande¬ 
rungen in ihrem Bau erkennen: es ist weder Crepitation, noch erhohte 
Konsistenz, noch Spaltung in einzelne Bund el, noch das Auftreten 
von harten Strangen oder Muskelschwielen u. dgl. m. zu bemerken. 
In der Regel sind diese Muskelmassen nicht druckempfindlich, doch 
waren in einigen Fallen die M. rectus, vastus medialis und articularis 
genu schmerzhaft bei Druck, und in einer geringen Anzahl der Falle 
(2%) waren diese Muskeln zweifellos im Umfang verringert und leicht 
atrophisch. 

Fingerdruck auf den Stamm des N. cruralis und seine einzelnen 
Aste erzeugte Schmerzhaftigkeit von verschiedener Intensitat. 

Druck auf den gemeinsamen Stamm des N. cruralis bei 
seinem Hervortreten unter dem Poupartschen Bande verursachte 
mit sehr wenigen Ausnahmen keine Schmerzen. 

Die N. perforantes sind in der Regel weder an ihrer Ab- 
gangsstelle von ihrem Mutterstamm im oberen Viertel des 
Oberschenkels, noch in ihrem Verlauf in der Vorderflache 
des Oberschenkels druckempfindlich, oder die Empfindlichkeit 
dieser Nerven gegen Druck ist viel schwacher als die der anderen Aste 
des N. cruralis. 

Druck auf den N. saphenus minor ist in vielen Fallen sehr 
schmerzhaft, und zwar am meisten in der Mitte zwischen der 
medialen Oberschenkelseite und der Kniescheibe, seltener 
tiber der Kniescheibe, am unterenRande oderan derAuBen- 
seite derselben. 

Der N. saphenus major ist stets empfindlich gegen Druck, und zwar 
nicht nur auf dem Niveau des Knies, sondern auch in der Tiefe des 
SuIcub adductorius und unter dem M. sartorius. Um mich hiervon zu 
uberzeugen, ging ich mit einer 3 mm dicken, stumpfen Nadel unter 
die Fascia lata und driickte, nachdem ich den Nerv gefunden, mit 
dieser Nadel auf denselben. Mit seltenen Ausnahmen fiihlten die Kran¬ 
ken an der Druckstelle einen sehr lebhaften Schmerz. 

Eine hochgradige Schmerzhaftigkeit bestand auch auf der ganzen 
Innenflache des Unterschenkels bis herab zum inneren FuB- 
kndchel, und in einigen Fallen auf dem Innenrande des FuBes 
auf der Innenflache des Os metatarsi I. 


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Die latente Form der Neuralgic des N. cruralis. 407 

In einigen Fallen waren die N. obturatorii und cutanei 
femoris laterales mehr oder weniger schmerzhaft. 

Auchder N. infrapatellaris war sehr oft druoke mpfindlich. 

Der Stamm des N. ischiadious war in der Glutaalfalte und auf 
der Hinterflache dea Oberachenkels in alien meinen ohne Komplikationen 
verlaufenden Fallen entweder gar nicht oder viel weniger druck- 
empfindlioh ala die N. aapheni major und minor, cruris medialis 
und infrapatellaris. 

Das gleiche lieB sich auch von den N. peronei, tibiales, clunei, glutaei 
superiores, cutanei femoris posteriores und ileo-hypogastrici sagen. 

Sehr druckempfindlich erschienen hingegen die sym- 
pathisohen Bauchgeflechte, und zwar die Plexi hypogastri- 
cus, solaria, renales. 

In vielen Fallen erwiesen sich die linken N. intercostales IV—VI, der 
Bereich des Hinterkopfes und der Nacken ale empfindlich gegen Druck. 

Sehr haufig waren der Condylus internus femoris et tibiae, 
das untere Ende und der Innen- und AuBenrand der Kniescheibe 
schmerzhaft. 

Sehr schwer war es, sich von der Schmerzhaftigkeit des Femur zu 
flberzeugen, doch nach den Klagen der Kranken zu urteilen laBt sich 
dieselbe nicht von der Hand weisen. 

Schmerzempfindlichkeit, taktile und thermische Sensibilitat wiesen 
mitunter eine gewisse Hyperasthesie auf, waren jedoch in der Mehr- 
zahl der Falle unverandert geblieben. Das Muakelgeftihl war im 
Bereich des Kniegelenks und der groBen Zehe normal. Die Hautreflexe, 
Plantar- und Cremasterreflexe (auf Druck im unteren Drittel der Innen- 
seite des Oberschenkels bei Mannem), ebenso die Sehnenreflexe, und 
zwar der Patellar- und Achillessehnenreflex normal. 

Die elektrische Erregbarkeit erschien mit wenigen Ausnahmen voll- 
kommen normal. 

In einem Falle bestand eine scharf ausgepragte Affektion auch der 
motorischen Aste des N. cruralis. 

Wenn ich hier alle diese Symptome aufzahle, so beabsichtige ich 
damit, auf den Umstand hinzuweisen, daB nur die sensiblen Aste 
des N. cruralis, und zwar nicht samtliche, sondern haupt- 
sachlich die auf der Innenflache des Oberschenkels und 
im Bereich des Kniegelenks gelegenen betroffen sind. 

Als druckempfindlich erwiesen sich vorzugsweise die 
N. sapheni major, minor, infrapatellaris, medialis cruris 
wahrend die N. perforantes ebenso wie der Stamm des N. 
oruralis selbst unter dem Poupartschen Bande in der Leisten- 
falte fast stets unempfindlich gegen Druck waren. Als seltene 
Ausnahmen wurde in einigen wenigen Fallen das Betroffensein der die 


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M. Lapinsky: 


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Mu skein der Vorderflache des Oberschenkels innervierenden motorischen 
Aste des N. cruralis vermerkt. Von anderen Nerven der unteren Ex- 
tremitaten waren in vielen Fallen gleichzeitig auch noch die Nn. outa- 
neus femoris lateralis und obturatorius, und zwar der letztere 
seltener schmerzhaft. Die ubrigen Nervenstamme der unteren Extremi- 
taten und des Beckengurtels waren entweder gar nicht empfindlich, 
oder ihre Druckempfindlichkeit war viel geringer als die der erwahnten 
Aste des N. cruralis. 

Hingegen waren die sympathischen Baucbgeflechte, und zwar die 
Plexi hypogastricus, Solaris und renales stets druckschmerzhaft. 

Ein solches zeitliches Zusammenfallen der Druckempfindlichkeit 
dieser sympathischen Gefiechte mit der der oben aufgefiihrten Aste 
des N. cruralis war eine so bestandige Erscheinung, daB man nicht 
umhin konnte, einen Zusammenhang zwischen beiden anzunehmen und 
diese Schmerzhaftigkeit der sympathischen Bauchgan- 
glien als eins der objektiven Symptome desjenigen Leidens 
aufzufassen, als dessen Kennzeichen die objektive Unter- 
suchung die Druckempfindlichkeit einiger sensiblen Aste 
des N. cruralis vermerkt. 

Welches ist denn nun das Wesen des uns beschaftigenden Leidens ? 

Wenn wir furs erste die Erscheinungen von seiten der sympathischen 
Bauchganglien auBer acht lassen und unsere Aufmerksamkeit aus.- 
schlieBlich auf die Ursachen der Schmerzen in den Beinen richten, so 
miissen wir zu der SchluBfolgerung gelangen, daB diese Schmerzen 
das Resultat einer Erkrankung des N. cruralis sind, da weder 
die ubrigen Nerven der unteren Extremitiiten, noch die anderen Ge- 
webe derselben, und zwar die GefaBe, das Muskelgewebe, das Knochen- 
system, die Gelenke, Hautdecken usw. keinerlei Anzeichen aufwiesen, 
durch die man diese Beinschmerzen erklaren konnte. Denn die GefaBe, 
sowohl Venen als Arterien, waren durchgangig. Das Muskelgewebe 
wies keine Anzeichen von irgend einer besonderen Erkrankung auf. 
Die Knochen und insbesondere ihre Gelenkkopfe waren (mit einzelnen 
Ausnahmen nicht deformiert und zeigten keinerlei Anzeichen einer Zer- 
storung; die Haut war von normaler Beschaffenheit usw. Wenn sich 
also die Ursachen der Schmerzempfindungen in den unteren Extremi- 
taten einzig und allein auf eine Erkrankung der sensiblen Aste des 
N. cruralis zuruckfuhren lieBen, so konnte dieses Leiden in Anbe- 
tracht der Schmerzempfindlichkeit dieser Aste gegen Druck 
bei normaler Sensibilitat, normalen Reflexen und norma¬ 
ler elektrischer Reaktion nur als Neuralgie des N. cruralis 
bezeichnet werden. 

Es lag keine Neuritis vor, da die Reflexe, die Sensibilitat, die moto- 


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Die latente Form der Neuralgic des N. cruralis. 


409 


rische Sphare und die elektrieche Reaktion normal waren. Auch von 
einer Sklerose oder Ischamie des Nerven konnte keine Rede sein, da 
dieser Erkrankung eine Degeneration der GefaBe mit Undurchgangig- 
keit derselben/voranfgeht, wahrend hier die GefaBe von normaler Be- 
schaffenheit waren. 

Somit hatten wir es mit einer Neuralgic des N. cruralis, und in den- 
jenigen Fallen, wo die subjektiven Schmerzen scbarf ausgepragt waren, 
mit der manifesten Form dieser Erkrankung zu tun. 

Meine Behandlung des Leidens, und zwar mit lokalen MaBnahmen — 
Massage, Elektrisation —, hatte lange Zeit hindurch keinen Erfolg, 
d. h. solange die Therapie eben lokal war; hingegen nahmen die Schmer¬ 
zen recht schnell ab, als neben der brtlichen Therapie gleichzeitig 
Warmeprozeduren (Dampf, heifie Luft, heifle Duschen) auf den Bauch, 
quere Elektrisation des Bauches usw. an den Stellen der Schmerzhaftig- 
keit der sympathischen Bauchganglien angewandt wurden. 

Diese therapeutischen MaBnahmen ergaben einige sehr interessante 
Beobachtungen und SchluBfolgerungen, und zwar: 1. nach Applika- 
tion der Warmeprozeduren auf Bauch und Lenden began- 
nen die Schmerzen in den Beinen abzunehmen; 2. mit der 
wohltatigen Einwirkung der Warmeprozeduren wurden die bis da- 
hin bei Druck sehr schmerzhaften Bauchnervengeflechte 
und gleichzeitig auch die N. sapheni major, minor, infrapatellaris u. a. 
weniger druckempfindlich; 3. nach einiger Zeit, als die Bauch- 
geflechte aufgehdrt hatten druckempfindlich zu sein, waren 
auch die Aste des N. cruralis unempfindlich gegen Druck 
geworden, und gleichzeitig hatten auch die subjektiven 
Schmerzempfindungen in den Beinen aufgehdrt. 

Nach Erreichung eines solchen Resultates verlieBen die Kranken 
das Sanatorium, doch hatte ich Gelegenheit, die Mehrzahl derselben 
nach Verlauf von 3—4 Jahren wieder zu untersuchen. Diese emeuten 
Begegnungen mit diesen Patienten, zu denen irgendwelche andere zu- 
fallige Leiden (Kopfschmerzen, Herzklopfen, Schlaflosigkeit, Anamie, 
Neurasthenie usw.) den AnlaB gaben, ermdglichten es, sich ein Urteil 
iiber den weiteren Zustand derjenigen N. crurales zu bilden, die friiher 
von manifester Neuralgie betroffen und sodann dank der Anwendung 
einer gewissen Behandlungsmethode von derselben befreit worden waren. 
Bei vielen von diesen Kranken, die ich nach 5—8—12 Monaten und 
sogar nach 2—3 Jahren seit der Beendigung der Behandlung genau 
untersuchen konnte und die wahrend der emeuten Besuche gar nicht 
iiber Schmerzen in den Beinen klagten, bei denen aber ein meisten- 
teils chronischer Prozess in den Organen des kleinen Beckens 
fortdauerte, erwiesen sich die sensiblen Aste des N. cruralis 
wieder als druckempfindlich, obschon in weniger hohem 


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M. Lapinsky: 


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Grade als vor Beginn der Behandlung, und gleichzeitig 
waren auch die sympathischen Bauchganglien empfindlich 
gegen Fingerdruck, obwohl diese Erscheinung weniger 
scharf ausgepragt war, als zu der Zeit, als eich >die Kranken 
wegen manifester NeuralgiedesN.cruralis behandeln lieBen. 

Da diese Schmerzhaftigkeit der Bauchnervengeflechte mit der der 
sensiblen Aste des N. cruralis zusammenfiel, so war man auch jetzt 
wieder gendtigt, diese an verschiedenen Stellen gleichzeitig auftreten- 
den Erscheinungen als zu dem Symptomenkomplex einer und derselben 
Erkrankung gehdrig aufzufassen, und da der N. cruralis druckempfind- 
lich war, so war seine Erkrankung als Neuralgie zu bezeichnen; da 
jedoch hierbei keinerlei subjektive Empfindungen und Klagen fiber 
Schmerzen in den Beinen vorhanden waren, so war diese Neuralgie 
im Gegensatz zu dem vorher beobachteten Stadium der manifesten 
Neuralgie als latente Neuralgie zu bezeichnen. 

Somit gestattete mir die im Laufe vieler Jahre wiederholt vorge- 
nommene Untersuchung von Kranken, 2 Phasen von subjektiven Zu- 
standen in den Beinen zu vermerken. Wahrend der einen waren Klagen 
fiber Schmerzen vorhanden, und dem entsprach die objektive Druck- 
empfindlichkeit der Nervenaste. Wahrend der anderen Phase waren 
keine Klagen fiber Schmerzen in den Beinen zu verzeichnen, obwohl 
die Aste des N. cruralis wieder druckschmerzhaft waren. Hieraus muB 
geschlossen werden, daB der N. cruralis im Falle seiner Erkran¬ 
kung 2 Arten von Symptomen aufweisen kann: entweder 
eine Reihe von aktiven Schmerzempfindungen, und sol- 
chenfalls ist sein Zustand den manifesten Neuralgien zu- 
zuzahlen, oder aber diese Veranderung des Nerven ver- 
lauft versteckt, unmerklich fttr den Patienten, der Nerv 
reagiert jedoch mit Schmerzen, wenn man einen Druck 
auf ihn ausfibt; in diesem Falle ist sein Zustand zur Kate- 
gorie der latenten Neuralgien zu zahlen. In beiden Phasen 
werden pathologische Erscheinungen von chronischem, 
entzfindlichem Charakter in den Organen des kleinen Bek- 
kens vermerkt. 

Zur Aufklarung der Atiologie des den Gegenstand dieser Arbeit 
bildenden Leidens trugen mehrere Umstande bei. 

II. 

Die ersten Beobachtungen dieser Art stellte ich an Frauen an, bei 
denen einerseits Schmerzhaftigkeit der erwahnten Aste des N. cruralis 
und andrerseits der Bauchgeflechte vermerkt wurde. AuBerdem war 
das Menstruationsblut dieser Patientinnen von dunkler Farbe; das 
Auftreten der Menses war von Schmerzempfindungen im Bauch, in 
den Beinen und im Kreuz begleitet. Die gvnakologische Untersuchung 


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Die latente Form der Neuralgie des N. cruralis. 


411 


vermerkte bei diesen Kranken eine Reihe von Stdrungen verschiedenen 
Grades, die eine Behandlung mit Warmeprozeduren erforderten. Die 
Anwendung dieser letzteren trug zur Linderung der Schmerzen wahrend 
der Menstruationsperiode, zur Besserung der Beschaffenheit des Men- 
straationsblutes (statt des dunklen wird grellrotes Blut abgesondert) 
bei und rief gleichzeitig, wie bereits erwahnt, eine Linderung der Schmer¬ 
zen in den Beinen hervor. Dieser Umstand legte den Gedanken nahe, 
dafl die Erkrankung des N. cruralis in irgendeinem atiologischen Zu- 
sammenhang mit den Stdrungen der weiblichen Geschlechtssphare steht. 
Dieser Gedanke erechien noch glaubwiirdiger, nachdem in vielen weiteren 
Fallen mit scharf ausgepragten subjektiven Klagen fiber 
Schmerzen und Parasthesien in den Beinen und mit objektiver 
Druckempfindlichkeit der obenerwahnten Aste des N. cruralis und der 
Bauchgeflechte (d. h. bei manifester Neuralgie dieses Nerven) durch 
die von Gynakologen (Prof. Muratow, Priv.-Dozenten: Pissemski, 
Bruno, Jachontow, Dr. Abuladse, Dr. Chomiakowa-Bus- 
lowa, Dr. Hausmann, Dr. Matwejew) vorgenommene Unter- 
suchung in alien diesen Fallen ein aktives Leiden der weiblichen Ge¬ 
schlechtssphare, und zwar Metritis, Endo-, Perimetritis, Salpingitis, 
Perisalpingitis, Oophoritis, Perioophoritis, Kolpitis, Adnexitis, Ante- 
oder Retroflexio uteri usw. festgestellt worden war. 

Parallel hiermit hatte ich Gelegenheit, in meiner Praxis anderen 
weiblichen Kranken zu begegnen, die keinerlei unangenehme Empfin- 
dungen in den Beinen spfirten und die mich wegen anderer Be- 
schwerden (Schlaflosigkeit, Anamie, Herzklopfen usw.) aufgesucht 
haben; bei alien denen von diesen Patientinnen, bei denen die Unter- 
suchung der sensiblen Aste des N. cruralis auf Druckemp- 
iindlichkeit ein positives Resultat ergab, erhielt ich von den 
Gynakologen Mitteilung fiber das Vorhandensein des einen oder anderen 
Leidens der Geschlechtssphare. Somit befand sich bei diesen 
Patientinnen der N. cruralis im Zustande einer versteck- 
ten Erregung (in Form einer sozusagen latenten Neuralgie), wes- 
halb auch keine subjektiven Klagen fiber Schmerzen in den Beinen 
geauBert wurden. 

Doch fiber Schmerzen in den Beinen klagten nicht nur meine Patien¬ 
tinnen, sondera auch Manner wandten sich an mich mit Klagen fiber 
Parasthesien und Schmerzen in den Beinen, wobei die objektive Unter- 
suchung auch bei vielen vonihnen ebenso einerseits Schmerzhaftig - 
keit der erwahlten Aste des N. cruralis bei Druck und an- 
drerseits Druckempfindlichkeit der Bauchgeflechte ergab. 

Auf Grand dieser Daten konnten die bei diesen Patienten beobach- 
teten Schmerzempfindungen und Parasthesien in den Beinen als mam- 
feste Neuralgie des N. cruralis bezeichnet werden. 


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412 


M. LapLnsky: 


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Bei diesen Patienten, die von Spezialisten fur die Krankheiten des 
Urogenitalapparats (Priv.-Doz. Radzijewski, Dr. Reise, Dr. Ratner) 
sorgfaltig untersucht wurden, konnte die eine oder andere Er- 
krankung der Prostata, des hinteren Harnrdhrenabschnitts, 
der Samenblaschen, des das Rectum umgebenden Zellge- 
webes, Hamorrhoidalknoten und uberhaupt irgendeine Er- 
krankungsform der Organe des kleinen Beckens festge- 
stellt werden. 

Weiterhin nahm ich auch bei kranken Mannern, die sich aus einem 
anderen AnlaB an mich gewandt hatten, und nicht fiber Schmerzen 
in den Beinen klagten, eine Untersuchung der Bauchgeflechte und 
Nervenstamme der unteren Extremitaten auf Druckempfindlichkeit vor 
und schickte die Patienten, falls sich die Bauchgeflechte und die sen- 
siblen Aste des N. cruralis als druckempfindlich erwiesen, zu einem der 
obenerwahnten Spezialisten und erhielt von ihnen glaubwfirdige Hin- 
weise auf ein bestehendes Leiden der Organe des kleinen Beckens. Somit 
litten diese mit urologischen Leiden behafteten Manner 
gleichzeitig an latenterNeuralgie des N. cruralis, und diese 
latente Phase war eben durch das Fehlen von subjektiven 
Klagen fiber Schmerzen in den Beinen gekennzeichnet. 

Von solchen Patientinnen und Patienten, die an der latenten Form 
der Neuralgie des N. cruralis litten, erhielt ich auf wiederholte Fragen, 
,,ob sie nicht jetzt Schmerzen hatten oder dieselben vielleicht frfiher 
bei irgendwelchen Anlassen bestanden hatten“, die Antwort (jedenfalls 
behaupteten es einige dieser Kranken mit groBer Bestimmtheit), 
daB sie z. B. bei erhfihter Temperatur diffuse unbestimmte 
Schmerzen in den Beinen gespfirt hatten; die Kranken 
schrieben dieselben einer Erkaltung zu, in anderen Fallen 
waren diese Beinschmerzen als Begleiterscheinung einer 
Migrane ohne erhohte Temperatur aufgetreten usw. Einige 
Kranke erwahnten eine Darmstorung, Schmerzen im Anus, 
Storungen beimHarnlassen,Venenerweiterungen an denBei- 
nen usw. und sahen darin die Ursache der Beinschmerzen. 

Es erscheint mir sehr wichtig, auch den Umstand zu betonen, daB 
in 2 Fallen als objektiv Druckempfindlichkeit der obener¬ 
wahnten sensiblen Aste des N. cruralis festgestellt worden 
war, wahrend die sympathischen Bauchgeflechte nicht 
druckempfindlich waren, die gynakologische Unter¬ 
suchung doch eine klar ausgepragte Erkrankung des 
weiblichen Geschlechtsapparats vermerkte. Diese Falle 
konnen zugunsten dessen sprechen, daB der Druck¬ 
empfindlichkeit der Bauchgeflechte, welche als notwen- 
diges Glied zum Symptomenkomplex der Neuralgie des 


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Die l&tente Form der Neuralgic des N. cruralis. 


413 


N. cruralis gehdrt, ein Zeitraum voraufgehen muB, in 
welchem bereits ein gynakologisches Leiden bestand. 

Was nun die Krankheiten im kleinen Becken betrifft, welche bei 
den speziellen ^Unterauchungen gefunden wurden, so erwiesen sich 
gewdhnlich nicht ein einziges, sondern mehrere Organe 
gleichzeitig als affiziert. 

Bei Frauen wurden in der Regel folgende Leiden in der einen oder 
anderen Kombination beobachtet: Metritis, Endometritis, Perimetritis, 
Oophoritis, Perioophoritis, Salpingitis, Kolpitis, Cystitis, Adnexitis, 
Retro- oder Anteflexio uteri, Descensus ovarii; in vielen Fallen hatte 
vor mehreren Jahren ein chirurgischer Eingriff stattgefunden; in 
alien Fallen bestand Hyperamie oder Hyperasthesie des 
Gesohlechtsapparats. 

Bei Mannern wurden vermerkt: Hypertrophie der Prostata, katar- 
rhahsche Prostatitis, Hyperasthesie der Prostata, Spermatocystitis, 
Cystitis, hintere Urethritis, Hamorrhoidalknoten, Schmerzhaftigkeit 
der Seitenwande des Beckens, Entfernung von Hamorrhoidalknoten. 

Die Zahl der wahrend der letzten 3 Jahre beobachteten Kranken, 
bei welchen das uns beschaftigende Leiden des N. cruralis vorhanden 
war, betrug 460. 

Hiervon kommen 47 Falle auf Manner, die iibrigen 413 Falle auf 
Frauen. Unter diesen letzteren waren 57 Fraulein (die also nie ge- 
schlechtlich verkehrt hatten). 

Unter diesen 460 Kranken litten 105 an der manifesten Form der 
Neuralgic dieses Nerven, die Gbrigen 355 an der latenten Form. Unter 
den 105 Personen mit manifester Neuralgie waren 15 Manner und 
90 Frauen. 

Diese Ziffem stimmen nicht mit denen der andern Autoren iiber- 
ein, die Schmerzen des N. cruralis von solchem Charakter beschreiben, 
der sich dem Typus der manifesten Neuralgien nahert. 

Valleix beobachtete manifeste Neuralgien des N. cruralis bei 
5 Frauen und 12 Mannern. 

Bernhardt vermerkte diese Form von Neuralgie bei 19 Mannern 
und 3 Frauen. 

Eulenburg beobachtete diese Erkrankungsform nur bei Mannern, 
und zwar bei Patienten aus der Arbeiterklasse. 

Das Alter der Frauen, bei welchen diese Symptome vermerkt wurden, 
schwankt in meinen Fallen zwischen 15 und 70 Jahren. 

Die geringste Zahl der Erkrankungen kommt auf das Alter zwischen 
15 und 20 Jahren. 

Die Zahl der Erkrankungen steigt nach 22 Jahren rapid. Der grdBte 
Teil der erkrankten Frauen steht im Alter zwischen 25 und 42 Jahren, 


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414 M. Lapinsky: 

und mit der Annaherung an das 70. Lebensjahr sinkt die Zahl der Er- 
krankungen allmahlich. 

Das Alter der an den hier besprochenen Schmerzen leidenden Manner 
schwankte zwischen 25 und 50 Jahren. 

Bei der Beurteilung der Ursachen dieses Leidens hat’man mit vielen 
Momenten zu rechnen. So z. B. verdient der Umstand Beriicksichtigung, 
daB diese Erkrankung bei Frauen haufiger vermerkt wird. Nach der 
Statistik meines Sanatoriums wurde dieselbe bei 413 Frauen und nur 
bei 47 Mannern vermerkt. Die meisten dieser Kranken litten an Ver- 
stopfung, und zwar standen bei einigen von ihnen die Klagen iiber 
Verstopfung im Vordergrunde. Viele von diesen Kranken, insbesondere 
die in vorgeriicktem Alter stehenden, hatten varikdse Venenerweiterun- 
gen. Alle behaupteten, daB sie an podagrischer oder harnsaurer Dia- 
these litten. AuBerdem litten sie auch an dem einen oder anderen Leiden 
des Geschlechtsapparats oder iiber haupt der Organe des kleinen Beckens. 

Fast alle diesbeziiglichen Beobachtungen wurden an Frauen ge- 
macht, die wie gesagt an Oophoritis, Salpingitis, Perimetritis, Adnexitis, 
Endometritis, pathologischen Retro- oder Anteflexionen, Dammrissen, 
Kolpitis litten, oder eine schwere Operation am Geschlechtsapparat 
iiberstanden, oder endlich eine ungeheure Hyperasthesie des Geschlechts¬ 
apparats aufwiesen. 

Dasselbe kann man auch beziiglich der Manner sagen, bei welchen 
dieser Nerv druckempfindlich war. Alle litten sie an chronischer Prostatitis 
oder Prostata hyperaesthesia oder Spermatocystitis. Bei 15 von ihnen 
bestand chronischer Blasenkatarrh, bei 3 chronische hintere Urethritis; 
bei 2 Patienten waren wiederholt Hamorrhoidalknoten entfemt worden. 

Die Gleichzeitigkeit der Erkrankung der Organe des kleinen Beckens 
und des N. cruralis wurde in vielen Hunderten von Fallen kontrolliert. 
Da ich mich nicht auf meine eigene Erfahrung in dieser Hinsicht stiitzen 
konnte, holte ich in alien Fallen, wo die Aste des N. cruralis druck- 
empfindlich waren, die Meinung von Gynakologen, Urologen und an¬ 
deren Spezialisten iiber den Zustand der Organe des kleinen Beckens 
ein, wobei ich in 88% aller Falle von den konsultierten Speziahsten 
Hinweise darauf erhielt, daB das eine oder andere Organ des kleinen 
Beckens in der Tat entziindet, hyperamisch, unnormal fixiert sei usw. 
In 4% (bei den jungfraulichen Patientinnen) ergab die Spezialunter- 
suchung keinerlei genauen Hinweise auf eine Erkrankung des Uterus 
oder des Eierstocks oder der Tuben; in 8% wurde eine hochgradige 
Hyperasthesie des Geschlechtsapparats vermerkt. 

Die uns beschaftigenden Schmerzen konnte man nicht als ausschlieB- 
lich dem weiblichen Geschlecht eigen betrachten, da die gleiche Er¬ 
krankung auch bei 47 Mannern zur Beobachtung gelangt war. 


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Die latente Form der Neuralgic des N. cruralis. 


415 


Der Gedanke, daB die Ursache des uns interessierenden Lei dens des 
N. cruralis in der Geburtstatigkeit der Frauen zu suchen sei, muBte auf- 
gegeben werden, da sich unter den obenerwahnten 413 Frauen 57 Jung- 
frauen befanden, die keinen geschlechtlichen Verkehr gehabt hatten. 
Um einen Zusammenhang zwischen dieser Erkrankung und der Atonie 
des Darme8 festzustellen, habe ich die Druckempfindlichkeit des N. cru¬ 
ralis und seiner Aste bei mehreren Dutzenden von Mannern und Frauen 
die an Verstopfung litten, untersucht. Diese Prufung hat gezeigt, daB 
die Verstopfungen an und fiir sich, sogar wenn sie hartnackig und lang- 
jahrig sind, weder bei Mannern noch bei Frauen mit derartigen Schmerzen 
in den N. crurales einhergehen. 

Was nun die verschiedenen Diathesen anbelangt, so waren die Dia- 
gnosen: Podagra, chronischer Rheumatismus, Harnsaurediathese, die 
in den hier aufgefiihrten Fallen vorlagen, doch offenbar nur hypothetisch. 

Freilich hatten alle diese Patienten Schmerzen im FuBe, die sich 
gerade im Bereich des Gelenkes der groBen Zehe, also an der Stelle 
lokalisierten, wo die Schmerzen beim Podagra auftreten. In den ge- 
gebenen Fallen waren jedoch menials typische podagrische Anfalle mit 
Rdtung der Basis der groBen Zehe, Anschwellung dieses Bereichs mit 
Erschwertsein oder Schmerzhaftigkeit der passiven Bewegungen in dieser 
Zehe, Deformierung dieses Gelenkes usw. vorhanden. Auf Grand dieser 
Daten kann man annehmen, daB die Schmerzen im Gelenke der groBen 
Zehe durch Neuralgie des N. saphenus bedingt waren, da ja eines seiner 
Astchen, wie bereits erwahnt, das Gebiet des Os metatarsi der groBen 
Zehe innerviert. 

Gegen Arthritis sprach das vollige Fehlen einer Deformierung der 
Artikulationsenden, sowie das Fehlen von Knistergerauschen und 
Schmerzhaftigkeit bei passiven Bewegungen. 

Gegen die Annahme eines chronischen Rheumatismus sprach die 
Anamnese selbst, welche keinerlei Hinweise auf Temperaturerhohung 
oder auf einen akuten Beginn enthalt; hiergegen sprach auch das Fehlen 
von Schmerzhaftigkeit bei passiven Bewegungen und vonMuskelatrophie. 

Was nun die harnsaure Diathese anbelangt, die sich in reichlichem 
MaBe bei fast alien Patienten und Patientinnen in der Diagnose vorfand, 
so ergab, wie bereits erwahnt, in der Mehrzahl der Falle die Harnanalyse 
keine derartige Diathese, weshalb man die letztere als latent bezeichnete 
und zu ihrer Aufdeckung Mineralwasser trinken lieB, was jedoch dem 
Patienten im Sinne der Abnahme der Schmerzen keinen Nutzen brachte, 
und auch fur die Diagnose ohne jeden Belang war, da die Menge der 
harnsauren Salze im Harn infolge dieser Therapie nicht grOBer wurde. 

So konnten alle die Ursachen, welchen gewohnlich ein atiologischer 
Einflufi bei manifester Neuralgie zugeschrieben wird, hier nicht in Be- 
tracht kommen. 


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M. Lapinsky: 


Beim Aufsuchen der verschiedenen pathologischen Momente, mit 
welchen man die Schmerzhaftigkeit der sensiblen Fasem dea N. 
cruralis in Verbindung bringen kbnnte, ist es mir, wie schon ge- 
sagt, gelungen, das Zusammentreffen dieses Leidens mit der Druck- 
empfindlichkeit der Plexi hypogastricus, solaria, renales dexter et sinister, 
und auBerdem mit Schmerzhaftigkeit des Eierstocks, Schmerzen bei den 
Menses, dunklem Menstruationsblut usw. bei Frauen zu vermerken. 

Was die Druckempfindhchkeit der obenerwahnten sympathischen 
Bauchgeflechte betrifft, so wird dieser von den Gynakologen gut er- 
forschte Symptomenkomplex von denselben als Anzeichen von Stauungs- 
erscheinungen im Geschlechtsapparat aufgefaBt. Der Umstand, daB bei 
den an Druckempfindhchkeit des N. cruralis leidenden Frauen das 
Menstruationsblut gewohnlich von dunkler Farbe ist, dient gleichfalls 
als Beweis daftir, daB in solchen Fallen Stauungserscheinungen im Ge¬ 
schlechtsapparat vorhanden sind. Selbstveretandlich miissen die gleichen, 
die Stauungserscheinungen betreffenden Erwagungen auch auf die Man¬ 
ner iibertragen werden, bei denen Druckempfindhchkeit des PL hypo¬ 
gastricus vorhanden ist. Natiirhch haben bei chronischer Entziindung 
der Prostata und bei Spermato-Cystitis, der PI. venosus pudendahs genau 
ebenso AnlaB, sich im Zustande einer chronischen Hyperamie zu be- 
finden, weshalb die gleichen Erscheinungen, die bei Frauen vorkommen, 
auch bei Mannem auftreten miissen. 

Aus der Zusammenstellung dieser Daten konnte man schlieBen, daB 
die Ursache der Neuralgie des N. crurahs in der Stauungshyperamie des 
kleinen Beckens hege. Diese SchluBfolgerung ist um so interessanter, 
als im Mechanismus des Schmerzes die Hyperamie, wie bekannt, eine 
ungeheure Rolle spielt. (Michael Lapinsky, Der Mechanismus des 
Schmerzes. Praktische Medizin. 1914. [Russisch].) In Anbetracht dieses 
ware es sehr vorteilhaft, auch in der Schmerzhaftigkeit der N. crurales 
dieselbe Ursache zu sehen, und zwar die Hyperamie, die vieheicht da- 
durch entstanden ist, daB die Hamostase im kleinen Becken durch 
Behinderung des Blutabflusses aus den Venen der unteren Extremitaten 
hier Biutstauung hervorruft. Hierfiir wiirden auch einige Daten spre- 
chen, und zwar: Oben wurde z. B. bereits darauf hingewiesen, daB von 
den Asten des N. cruralis diejenigen am meisten leiden, die weiter vom 
Becken entfernt liegen, weshalb ihre Blutversorgung erschwert ist. Wie 
oben bereits erwahnt, sind der gemeinsame Stamm des N. crurahs und 
seine Aste, die N. perforantes, fast nie druckempfindhch, hingegen sind 
die N. saphenus minor und infrapatellaris und insbesondere der N. sa- 
phenus major stets empfindhch. 

Der langste dieser Nerven ist der N. saphenus major, dessen Blut¬ 
versorgung und VenenblutabfluB gerade unter den sehwierigsten Be- 
dingungen vor sich geht, wahrend die Nn. perforantes in dieser Hinsicht 


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Die latente Form der Neuralgie des N. cruralis. 


417 


die gtinstigsten Bedingungen aufweisen. Sehr interessant ist jedoch die 
Tatsache, daB derselbe N. saphenus major, der im Bereich des Unter- 
schenkels and im Sulcus adductorius als sehr druckempfindlich erscheint, 
unter dem Poupartschen Bande, wo er naher zur V. iliaca communis 
inmitten des gemeinsamen Stammes des N. cruralis liegt, fast unemp- 
findlich gegen Druck ist. So kann also einerseits die Lange dieses Nerven 
und andererseits die Haufigkeit der Erkrankung gerade dieser langen 
Aste auch zu der Annahme fiihren, daB unter den verschiedenen Ur- 
sachen der Schmerzhaftigkeit der N. sapheni der AbfluB des Venen- 
blutes eine gewisse Bolle spielen konnte, da die in dieser Hinsicht un- 
gttnstig gestellten Nerven stets betroffen sind, wahrend die unter giin- 
stigeren Bedingungen stehenden nicht betroffen werden. 

Diese Annahme, daB im gegebenen Falle die vendse’ Stauung als 
atiologisches Moment wirkt, ist jedoch nur mit groBer Vorsicht aufzu- 
stellen, da es vollig unverstandlich ist, wariun denn diese Stauung nicht 
auf die langen Aste des N. ischiadicus wirkt, wo sich solchenfalls genau 
ebenso Schmerzen einstellen muBten; indessen bheben aber die N. tibialis 
und peroneus in der Mehrzahl der Falle vollkommen schmerzlos. Doch 
alle diese Schltisse und Erwagungen hinsichtlich der Blutstauung in den 
Beinen, die hier nur als Voraussetzungen vorgebracht wurden, verlieren 
ihren Wert und erscheinen als praktisch nicht verwertbar, weil in Wirk- 
lichkeit kein Odem der Extremitaten und also auch keine Venenstauung 
vorhanden war. 

Andererseits durfte die Stauungshyperamie im Bereich des kleinen 
Beckens augenscheinlich keineswegs an dem Blutumlauf der unteren 
Extremitaten zum Ausdruck kommen, da das gesamte Venenblut des 
kleinen Beckens sich entweder durch die V. hypogastrica in die V. iliaca 
communis oder durch die Vena haemorrhoidalis superior in die V. portae 
entleert. Folglich vermag die gewdhnliche Stauung im kleinen Becken 
keine Stauung in den unteren Extremitaten, die sich des venosen Blutes 
durch die V. iliacae externa und communis entledigen, hervorzurufen. 
Wenn man somit von der Voraussetzung einer Venenstauung in den 
Beinen absieht, so muB man doch eine solche im Becken zugeben, und 
da diese letztere dort wirklich vorhanden war, so entsteht die Frage, ob 
nicht dieses Moment durch irgendeinen Mechanismus das Auftreten 
dieser Schmerzen bewirkt, da immerhin das zeitliche Zusammentreffen 
der Nervenschmerzen mit der Stauung im Becken als Wirkung und Ur- 
sache aufzufassen ist. 

Man darf auch diejenigen Toxine nicht auBer acht lassen, die sich 
in der Sphare des kleinen Beckens entwickeln und aus den entziindeten 
Geweben in die hier in Betracht kommenden Nerven vordringen kbnnten. 
Diese Toxine dringen freilich auch in andere Gewebe ein, doch da die 
an entzundlichen Prozessen im kleinen Becken leidenden Personen 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XX. 28 


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418 M. Lapinsky: 

Bewegungen vermeiden, so erscheint es natiirlich, vorzugsweise eine 
Vergiftung der Nerven der unteren Extremitaten mit diesen Toxinen 
zuzugeben, wo infolge ungeniigender Bewegung der Blutumlauf sehr 
herabgesetzt und die Durchspiilung der Gewebe hochgradigen Stbrungen 
ausgesetzt ist. Vielleicht ist gerade aus diesem Grunde das uns beschaf- 
tigende Leiden nach meiner Statistik in der vermbgenden Klasse ver- 
breitet, die nicht auf grobe Arbeit und ausgiebige Bewegungen der Bein- 
muskeln angewiesen ist. Bekanntlich entstromt dem ruhenden Extremi- 
tatenmuskel nur eine minimale Blutmenge. Die Menge desselben nimmt 
um das Dreifache zu, wenn man diesen Muskel oder die Extremitat passiv 
bewegt, indem man sie in verschiedenen Ebenen beugt und streckt. 
Endlich vergrbBert sich die Menge des einem in aktiver Bewegung be- 
findlichen Muskel oder einer arbeitenden Extremitat entstrdmenden 
vendsen Blutes im Vergleich zum Ruhezustand um 7 mal. Deshalb eben 
vergroBert diese ungeniigende Bewegung des Blutes, das auBerdem noch 
Toxine enthalt, die Vorrate an Stoffwechselprodukten im Nerven, die 
vermutlich fahig sind, ihn zu reizen. 

Obgleich also alle diese direkten und indirekten Ursachen vielleicht 
die Beinnerven beeinflussen kdnnten, so spricht doch gegen diese toxische 
Atiologie, ebenso wie auch gegen den EinfluB der venosen Stauung in den 
Beinen das ungleichmaBige Betroffensein der Nerven der unteren Extremi¬ 
taten. In den meisten Fallen leiden mu' die Nn. sapheni und infrapatellaris, 
zum Teil die Nn.cutaneus femoris lateralis und obtura torius, wahrendan- 
dere Nerven, darunter auch der N. ischiadicus mit seinen zahlreichen 
Asten entweder ganz gesund bleiben oder nur leicht empfindlich sind. 

Dieses eklektische Betroffensein erscheint mit irgendeiner allgemei- 
nen gleichmaBig auf alle Nerven der unteren Extremitaten wirkenden 
Ursache schwer vereinbar. Wenn wir auch den Gedanken an den atio- 
logischen EinfluB der Hyperamie des kleinen Beckens im gegebenen 
Falle von der Hand weisen, konnen wir dennoch den Umstand nicht 
auBer acht lassen, daB parallel mit dieser Hyperamie Druckempfindlich- 
keit in den sympathischen Bauchgeflechten vorhanden ist. Die Schmerz- 
haftigkeit dieser Geflechte weist darauf hin, daB dieselben verandert 
sind, und dieser Umstand muB wahrscheinlich auch auf den Zustand der 
N. crurales einen EinfluB haben. 

Um so mehr muB man bei dieser Annahme stehenbleiben, als man sich 
bei Verordnung warmer Prozeduren nur auf den Bauch der Patienten 
davon uberzeugen konnte, daB allmahlich die Druckempfindlichkeit 
sowohl der sympathischen Bauchganglien resp. -geflechte als auch 
gleichzeitig der hier in Frage kommenden sensiblen Aste des N. cruralis 
gelindert wurde, und nach Beendigung der Behandlung, sowohl die 
sympathischen Bauchganglien, als auch die N. crurales gegen Druck 
unenipfindlich geworden waren. 


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Die latente Form der Neur&lgie des N. cruralis. 


419 


Dieses Zusammentreffen, diese Aufeinanderfolge beider Erkrankungen, 
bringt auf den Gedanken, daB primar hier die Geflechte der Bauchhdhle 
leiden und erst sekundar sich das Leiden des N. cruralis hinzugesellt. 

Es durfte naheliegen, sich bei der Erklarung der Schmerzhaftigkeit 
der hier in Frage kommenden Nerven auf das Vorhandensein von 
Anastomosen zwischen den sympathischen Asten des kleinen Beckens 
und den vorderen Wurzeln des Lendenmarks, die einen Bestandteil des 
Lendengeflechta bilden, zu berufen. Dieser Hinweis auf eine Anastomose 
kann uns jedoch wenig die Schmerzhaftigkeit der Aste des N. cruralis 
erklaren, da erstens die Anastomosen, von denen hier die Rede ist, mit 
den Rami communicantes synonym sind, welche aus dem Ruckenmark 
entspringend, in die sympathischen Bauchgeflechte miinden oder um- 
gekehrt im sympathischen Geflechte entspringend, ins Ruckenmark 
miinden, wobei sie, um ins Ruckenmark oder in die Bauchgeflechte zu 
gelangen, durchaus nicht zum N. cruralis hinabzugehen, in seine sen- 
siblen Aste vorzudringen brauchen usw. Zweitens haben wir im Hin- 
blick auf diese Erwagungen keinen Grand zu der Annahme, daB diese 
Anastomose dem N. cruralis sensible Fasem zubringen konnte. Drittens 
ist es ganz unmdghch, anzunehmen, daB der Schmerz durch Vermittlung 
dieser Anastomose, d. h. durch den sympathischen Nervenstamm, der 
die Empfindlichkeit nur aus der Bauchhdhle fortleitet, zum BewuBtsein 
gebracht werden konnte. Und endlich konnen wir uns nicht vorstellen, 
daB die nicht ins Riickenmark, sondern in die Wurzeln des Lenden- 
geflechts einmiindende Anastomose in irgendeiner Beziehung die Funk- 
tion des N. cruralis andern kdnnte. Da andererseits die Drackempfind- 
lichkeit der Plexi hypogastrici, Solaris, renales und andrer Geflechte 
gewohnlich der Drackempfindhchkeit der sensiblen Aste des N. cruralis 
vorausgeht oder mit derselben zusammenfallt, so muB man in der Er- 
krankung dieser Geflechte den Grand fur die letztere Erscheinung 
suchen, wobei man als primare Ursache der Schmerzhaftigkeit der 
Bauchganglien selbst die Erkrankung der Organe des kleinen Beckens 
anzusehen hat. 

Zugunsten dieser letzteren Erwagung spricht die Abhangigkeit der 
nervOsen Erscheinungen bei den uns hier beschaftigenden Kranken von 
ihren in alien Fallen vermerkten somatischen Storungen im kleinen 
Becken. Diese somatischen pathologischen Prozesse in der Hohle des 
kleinen Beckens traten nicht nur als Begleiterscheinung der Drack- 
empfindlichkeit der Bauchgeflechte und der Aste des N. cruralis auf, 
sondern gingen stets diesen nervosen Storungen voraus. Dieselbe 
SchluBfolgerang ergibt sich aus den Resultaten der therapeutischen 
MaBnahmen. Nur in denjenigen Fallen wurde eine Linderang der 
Schmerzen erhalten, wo diese Prozeduren auf den Bauch appliziert 
wurden, was eben eine Besserang des Blutumlaufs im kleinen Becken 

28 * 


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M. Lapinsky: 


zur Folge hatte. In deni MaBe, wie sich die somatischen Erscheinungen 
im kleinen Becken verbesserten, verringerten sich die Schmerzerschei- 
nungen sowohl in den sympathischen Bauchgeflechten, als auch in den 
Asten des N. cruralis. Andererseits traten die Schmerzen bei Druck 
auf die Bauchgeflechte und die sensiblen Aste des N. cruralis usw. wieder 
auf, sobald die nach der Behandlung gebesserten Erscheinungen im 
kleinen Becken durch Recidiv wieder akut wurden. Somit hat man 
als primare Ursache der Schmerzen im N. cruralis — als Ursache sowohl 
der manife8ten als auch der latenten Neuralgie des N. cruralis — eine 
Erkrankung der Organe des kleinen Beckens anzusehen. Diese Erkran- 
kung muBte Bedingungen schaffen, welche die Bauchgeflechte druck- 
empfindlich machen und schlieBlich die manifeste und latente Neuralgie 
des N. cruralis hervorrufen. 

Beim Durchsehen der einschlagigen Literatur habe ich nur einige wenige 
die hier dargelegten Anschauungen bestatigende Hinweise angetroffen* 

Professor Snegirew (Gebarmutterblutungen. Moskau 1907. [Rus- 
sisch].) erwahnt in dem der Innervation des Uterus und den bei seinen 
Erkrankungen auftretenden ausstrahlenden Schmerzen gewidmeten 
Kapitel, daB bei Retroflexio uteri die Patientinnen Schmerzen in den 
Beinen im Verlaufe des N. cruralis spiiren. 

Lomer erwahnt Schmerzen im Verlauf des N. cruralis auf der Innen- 
flache des Oberschenkels bei gynakologischen Leiden. 

Hierher gehoren augenscheinlich auch die Beobachtungen Nott- 
hafts bei Mannern. Er erwahnt gerade bei chronischer Prostatitis 
Schmerzen infolge von Reiten, augenscheinlich in den M. adductores 
und im Knie, wobei der Autor hinzufiigt, daB diese Schmerzen zur Kate- 
gorie derjenigen gehoren, „ welche bei einem Reiter leicht liber die Quelle 
der Schmerzen tauschen konnen^. 

Obgleich Notthaft diese Schmerzen nicht durch Beteiligtsein des 
X. cruralis zu erklaren versucht, so kann man doch hochst wahrscheinlich 
die Schmerzhaftigkeit des Knies in den Fallen Notthafts durch erhdhte 
Empfindlichkeit des N. saphenus erklaren, welcher, wie schon erw'ahnt, 
die Kniegelenkkapsel innerviert. Andererseits konnte dieser im Sulcus 
adductorius gelegene und gegen Druck empfindliche Nerv auch jene 
Schmerzempfindung wahrend des Reitens hervorrufen, welche Notthaft 
der Schmerzhaftigkeit der M. adductores zuschreibt. 

In den mir zu Gebote stehenden Quellen konnte ich keinerlei weitere 
Angaben uber den Gegenstand finden. Offenbar ist dieser Zustand des 
X. cruralis bisher der Aufmerksamkeit der Kliniker entgangen. 

Im Sinne der Therapie ist das uns interessierende Leiden beim Ein- 
halten einer bestimmten Behandlungsmethode sehr vielversprechend. 
Wie schon erwahnt, sind viele Hunderte von Kranken, die ihrer ,,poda- 


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Die latente Form der Neuralgic des N. craralis. 


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grischen Schmerzen“ wegen Mineral wasser getrunken, nicht von ihren 
Schmerzen befreit worden. Ebenso nutzlos waren die gegen ..rheurna- 
tische“ Schmerzen gebrauchten Bader in der See und im offenen Liman. 
Massage, Galvanisation, verschiedene lokale Einreibungen brachten gar 
keinen Nutzen. 

Schmerzstillende Aspirin- und Antipyrinpulver verschafften eine 
gewisse, jedoch nur zeitweise Erleichterung, worauf mit der Gewohnung 
des Organismus an diese Mattel die Schmerzen sich wiedereinstellten 
und den Patienten viele Jahre hindurch qualten. 

Auf Grand meiner Erfahrang kann ich sagen, daB die Therapie in 
der Anwendung von Warme, und zwar am besten in Gestalt des Dampf- 
Bprays zu bestehen hat, wobei nicht nur die Beine — der Sitz der Schmer¬ 
zen — .sondern auch Bauch und Lenden in dieser Weise behandelt wer- 
den miissen. 

Als Hilfsprozedur wurde hier auch die heiBe hydraulische Massage 
angewandt. In vielen Fallen jedoch rief sowohl diese Prozedur als auch 
die trockene Massage starke Schmerzen wahrend der Stance hervor. 

Sehr wenig Erfolg erzielte man durch warme galvanische oder Licht- 
vollbader. 

Von gutem Erfolg begleitet waren Trockenluftbader von 50—70° R 
der Beine und des unteren Teiles des Rumpfes. 

Eine sehr schdne Wirkung wurde bei Anwendung von heiBen Duschen 
erzielt. Dieselben wurden in 2 Formen verordnet, und zwar als heiBe 
aufsteigende Dusche auf den Anus und als seitliche Duschen auf Lenden 
und Innenflachen des Oberschenkels. 

In vielen Fallen wandte ich tiefe Injektionen von physiologischer 
Kochsalzlosung in den Stamm des.kranken Nerven, in dessen Scheiden- 
hiillen oder iiberhaupt in seine unmittelbare Nahe an, indem ich gleich- 
zeitig die thermotherapeutischen Prozeduren fortsetzte. 

Falls’ ich durch Palpieren mit einer dicken, stumpfen Nadel Schmerz- 
haftigkeit des Stammes des N. saphenus major in der Mitte des Ober¬ 
schenkels hervorrief, so machte ich die Einspritzungen unter den M. sar- 
torius, im Verlauf der Scheide der groBen BeingefaBe, indem ich unter 
die Fascia lata vordrang. 

Wenn Schmerzhaftigkeit des N. saphenus major unterhalb des Knies 
vorhanden war, so machte ich eine oberflachliche Einspritzung, d. h. nur 
unter die Haut langs des Stammes der V. saphena. 

Bei Erkrankung des N. saphenus minor wurde die Injektion tief unter 
die Fascia lata ausgefiihrt. Ebenso muBte die Injektion, falls sich die bei 
Fingerdrack schmerzhafte Stelle im mittleren Teil des Oberschenkels be- 
fand, tief unter die Fascia lata gemacht werden. Wurde aber die Schmerz¬ 
haftigkeit im Bereich des Kniegelenks oder unterhalb desselben ver- 
merkt, so wurden nur oberflachliche subcutaneInjektionen vorgenommen. 


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M. I^apinsky: 


Bei Schmerzhaftigkeit unterhalb des Kniegelenks im Bereich der 
N. infrapatellares wurde die Injektionsfltissigkeit sowohl unter die 
Haut als aucb tief zur Insertionsstelle der M. tibialis und peronaeus ein- 
gefuhrt. 

Somit gelangen wir zu der SchluBfolgerung, daB der N. cruralis, und 
zwar gerade nur einige seiner sensiblen Aste in einigen Fallen in den 
Zustand einer schmerzhaften Erregung geraten, die sich in unbe- 
stimmten diffusen Schmerzen in der unteren Extremitat auBert; die- 
selben erinnem augenscheinlich an die bei Rheumatismus, Podagra usw. 
auftretenden Schmerzen. Bei der objektiven Untersuchung erscheinen 
die Gelenke und tiberhaupt alle Gewebe der kranken Extremitat un- 
verandert, mit Ausnahme der sensiblen Aste des N. cruralis, und zwar 
der N. saphenus major, minor, infrapatellaris (zuweilen der N. cutaneus 
femoris lateralis, obturatorius und cruris medialis), die sich als druck- 
empfindlich erweisen. Gleichzeitig sind auch die sympathischen Bauch- 
geflechte empfindlich gegen Fingerdruck. 

Die Schmerzen, iiber welche die Patienten klagen, gehoren nicht zu 
den bestandigen; sie zeichnen sich dadurch aus, daB sie nachlassen und 
exacerbieren konnen, wobei die Nn. sapheni, sowie die iibrigen oben- 
erwahnten sensiblen Verastelungen des N. cruralis wahrend der Exa¬ 
cerbation und ebenso auch wahrend der Linderung der Schmerzen oder 
in der Ruhepause druckempfindlich sind. Da die Schmerzhaftigkeit 
des Nerven bei Fingerdruck eins von den Symptomen der Neuralgie ist, 
so kann man das ganze Krankheitsbild als den Ausdruck einer bald im 
manifesten, bald im latenten Stadium stehenden Neuralgie des N. cru¬ 
ralis ansehen. 

Die primare Ursache dieses Leidens muB man in der Erkrankung der 
Organe des kleinen Beckens und der sympathischen Bauchgeflechte 
suchen. 

Dieser Zusammenhang zwischen Schmerzhaftigkeit des N. cruralis 
und Erkrankung des Bauchsympathicus im Becken geht aus dem Um- 
stande hervor, daB die Druckempfindlichkeit der sensiblen Aste des 
N. cruralis mit der der sympathischen Bauchgeflechte zusammenfallt. 
Andererseits konnte man sich bei der Verordnung warmer Prozeduren 
auf den Leib davon tiberzeugen, wie die Druckempfindlichkeit sowohl 
der sympathischen Bauchganglien als auch der sensiblen Aste des N. cru¬ 
ralis allmahlich nachlieB. Nach AbschluB der Behandlung blieben in 
vielen Fallen sowohl die sympathischen Bauchganglien als auch der 
N. cruralis sehr lange Zeit hindurch unempfindlich gegen Fingerdruck. 

Was nun die Bedingungen anbetrifft, welche die Schmerzhaftigkeit 
der sympathischen Bauchgeflechten begiinstigen, so hat man die Ursache 
dieser Erscheinung sowohl bei Mannem als auch bei Frauen in ver- 


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Die latente Form der Neuralgic des N. cruralis. 


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schiedenen pathologischen Prozessen der Visceralorgane des kleinen 
Beckens zu suchen. Somit erscheinen diese Prozesse als Ursache der im 
N. cruralis auftretenden Schmerzen. 

Bei der Beschreibung dieser Erkrankung des N. cruralis, und zwar 
gerade seiner sensiblen Aste, mochte ich den Umstand besonders betonen, 
dab dieses Leiden eine Begleiterscheinung der Erkrankungen der Organe 
des kleinen Beckens ist. Infolge dieses Umstands erscheint die Drack- 
empfindlichkeit der hier in Frage kommenden Nervenaste als Hinweis 
auf ein Leiden im kleinen Becken, als Symptom pathologischer Ver- 
anderangen in der Hamblase, der Prostata, in dem den Dickdarm um* 
kleidenden Zellgewebe, im Eierstock, im Uterus, in der Tuba Fallopii usw. 
Auf Grand meiner eigenen Beobachtungen kann ich daher mit Bestimmt- 
heit behaupten, dab das Vorhandensein von Drackempfindbchkeit dieses 
Nerven immer auf ein Leiden der Organe des kleinen Beckens hinweist, 
und in vielen Fallen war dieses Symptom die einzige Veranlassung zu 
einer speziellen Untersuchung dieser Organe, die sodann eine chirurgische 
Behandlung erforderten, wobei erst nach einer im Bereich des kleinen 
Beckens ausgefiihrten Operation oder nach der Thermotherapie des 
Bauches, ohne dab irgendeine andere Therapie angewandt worden ware, 
die Beachwerden der unteren Extremitaten, derentwegen die Patienten 
in drei bis funf aufeinanderfolgenden Jahren zahlreiche therapeutische 
Kuren untemommen hatten, verschwanden. 

Wenn ich diesen Zusammenbang vermerke, so habe ich doch noch 
nicht das Recht, auf Grand meines Materials das Umgekehrte zu be¬ 
haupten, d. h. ich kann mich nicht dazu entschlieben, zu bezeugen, dab 
jede Erkrankung der Organe des kleinen Beckens zu Schmerzhaftigkeit 
der sensiblen Aste des N. cruralis fuhrt. Vielleicht ist gerade das der 
Fall, aber meine persdnliche Erfahrang und das Material, mit dem ich 
zu tun gehabt, gestatteten mir nicht, einen solchen Schlub zu ziehen. 

Die Schmerzhaftigkeit der Aste des N. cruralis (sowie mitunter der 
N. cutaneus femoris laterabs und obturatorius) erscheint als das Resultat 
einer Gleichgewichtsstflrang des sympathischen Bauchsystems; eine 
Folge hiervon ist, dab ein besonderer Mechanismus auch die N. saphenus 
major, minor, infrapatellaris, cutaneus femoris lateralis gegen Drack 
schmerzhaft macht, indem er den Gefabtonus in den Vasa nervorum der 
Aste des N. cruralis verandert. Dieser Mechanismus alterierte den 
Tonus der Gefabe, die Duchlassigkeit und die Widerstandsfahigkeit der 
Gefabwand nur in bestimmten Segmenten des Korpers (namlich im 
IV. Lumbalsegment, reap, im IV. Lumbalmetamer), wahrend er die Ge¬ 
fabe der ubrigen Segmente gar nicht beriihrte; aus diesem Grande waren 
nicht alle Nerven der Extremitat und sogar nicht einmal alle Aste des 


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M. Lapinsky: Die l&tente Form dor Neuralgic des N. cruralis. 


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N. cruralis, sondem nur die in den Grenzen eines bestimmten KOrper- 
segments oder -sektors (namlich des IV. Lumbalmetamers) gelegenen 
druckempf indlich. 

Indem ich mich hier auf diese SchluBfolgerungen beschranke, beab- 
sichtige ich in 2 weiteren, der Frage von der metameren Verteilung der 
Schmerzen 1 ) und von einer als Begleiterscheinung eines Beckenleidens 
auftretenden Gelenkerkrankung 2 ) gewidmeten Arbeiten eingehender zu 
untersuchen, a) weshalb die Erkrankung vieler Organe des kleinen 
Beckens mit Schmerzerregung der peripheren Nerven der unteren Extre- 
mitaten einhergeht; b) weshalb hierbei nur der N. cruralis, nicht aber 
die librigen Nerven betroffen werden, und c) weshalb nur einige sensible 
Aste des N. cruralis und nicht alle diese Aste ohne Ausnahme schmerz- 
haft sind. 


Uteraturverzeichnis. 

Bernhardt, Die Erkrankungen der peripheren Nerven. Nothnagels Sammlung 
n. Teil, 1904. 

Bousseau, Neuralgie du nerf saphin. Gaz. des h6p. 1869. 

D6j6rine, S6myologie du syst&me nerveux. 1905. b) Traits de m6d6cine. 
Charcot-Bouchard. Bd. 5. 

Frank - Hallion, Arch, de Physiol 16 , 493. 1896. 

Frankenhauser, Die Nerven der Gebarmutter. Jena 1867. b) Die Bewegungs- 
nerven der Geb&rmutter. Jena 1864. Zeitschr. f. Med. u. Naturwiss. 
Gowers, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 

Hager, Neuralgia femoris. Deutsche med. Wochenschr. 1888. 

Jabouley, Chirurgie du grand sympatique. Paris 1900. 

Langley, The innervation of the pelvic viscera. Joum. of Physiol. 1890. 
Laignel - Lavastine, Recherches sur le plex. solaire. 1903. 

Lommer, Bedeutung der Schmerzen in der Gynakologie. Centralbl. f. Gynakol. 
1899, Nr. 47, 477. 

Michailoff, Untersuchungen des sympathischen Nervensystems. St. Petersburg 
1909. (Russisch.) 

Muller, Stand der Lehre vom Sympathicus. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 
1912. 

v. Nott haft, t)ber scheinbar mit Prostata nicht zusammenhk^gende Schmerzen. 

Archiv f. Dermatol. It, 277. 1904. 

Nuel, Dictionnaire Dechamp 1905, p. 603. 

Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 1909. 

Rehfisch, Virchows Archiv 161 . 

Sims. Cm. Berger, Klin . Wochenschr. 1873, Nr. 24. Berlin. 

Seelig - Muller, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 1890. 

Snegireff, Die Menorrhagien. Moskau 1907. (Russisch.) 

x ) Diese Zeitschr. 1913—1914. 

2 ) Deutsches Archiv f. klin. Med. 1914. 


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Untersuchimgen fiber das Verhalten des Restkohlenstoffs 

im Epileptikerblute. 

Von 

Nazareth Aga Serobianz (Tiflis). 

(Aus dem chemischen Laboratorium der peychiatriachen und Nervenklinik der 

Universit&t Leipzig.) 

Mit 1 Textfigur. 

(Eingeyangen am 1. Oktober 1913.)*) 

Wird eine Erkrankung nicht mehr als klinische Krankheitseinheit 
angesehen, ohne daO sie jedoch auf andere Krankheitseinheiten restlos 
verteilt werden kann, ao spricht dies dafur, daB weitgebende Unklarheit 
iiber die Atiologie dieses klinischen Krankheitsbildes besteht. Wenn 
daher die Epilepsie heute vielfach nur noch als einheitlich in bezug auf 
den Symptomenkomplex angesehen wird, so ist dies nur ein Zeichen 
mehr dafur, wie sehr sie noch, hinsichtlich ihrer Ursachen, der Klarung 
bediirftig ist. Wenn auBerdem, wie dies bei der Epilepsie der Fall ist, 
sogar hinsichtlich der klinischen Auffassungsweise die Meinungen aus- 
einandergehen, so wird dadurch die Unsicherheit iiber diese Erkran¬ 
kung nicht geringer. In der Tat beginnen bei der Epilepsie die Schwie- 
rigkeiten schon mit der klinischen Betrachtung; es gehen bereits hier 
die Auffassungen auseinander, wo die Abgrenzung des epileptischen 
Krankheitsbildes zu suchen ist; nach der Anschauung der einen ist der 
Krampfanfall als das wesentliche Symptom der Epilepsie aufzufassen. 
Es gipfelt die Anschauung dieser Gruppe in dem Satze: Ohne Krampf¬ 
anfall keine Epilepsie. Aber auch diese urspriinglich selbstverstand- 
liche Auffassungsweise hat bekanntlich in den letzten Jahren eine zu- 
nehmende Anzahl von Gegnem gefunden, welche den Krampfanfall 
keineswegs als zur Feststellung der Epilepsie notwendiges Symptom 
betrachtet wissen wollen [Aschaffenburg x ) u. a.]. Ist so von klinischen 
Gesichtspunkten aus bereits die Grenze eine verwischte, so mehren sich 
die Unsicherheiten noch wesentlich mit dem Augenblicke, in dem sich 
zu dem Kliniker der pathologische Anatom gesellt. Wie sehr sich auch 
die pathologische Histologie darum bemiiht hat, objektive Verande- 
rungen zu finden, welche das anatomische Substrat der krankhaften 
Gehimfunktion bilden sollten, so widerlegen doch die widersprechenden 
Resultate der histologischen Durchsuchung epileptischer Gehime die 
Auffassung, daB diese Bemiihungen zu dem gewiinschten Erfolg gefiihrt. 

*) Aus auBeren Griinden verzoperto sich das Erscheinen dor Arbeit, die 
bereits seit Jahresfrist abgeschlossen war. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XX. 29 


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42(5 X. A. Serobianz: Untersuchungen liber das Verhalten 

haben konnten. Eine nahere Betrachtung der pathologisch-anatomischen 
Befunde, welche bisher fiir die Epilepsie beschrieben wurden, konnte 
vielleicht sogar dazu fiihren, zu zweifeln, ob die Bemiihungen in dieser 
Richtung iiberhaupt jemals diesen gewiinschten Erfolg zeitigen k6nnten. 
Die Ergebnisse der pathologischen Histologie haben teils zu der Fest- 
stellung interstitieller Veranderungen in der Rinde[ 2 ) a ) 4 ) 5 ) u. a.], teils 
zu der Feststellung von Gliosen ira Gebiete des Ammonshoms gefiihrt 
[z. B. # ) 7 ) 8 ) •)]; beide Feststellungen bezogen sich nur auf eine geringe 
Anzahl der jeweils untersuchten Falle, wahrend in der Mehrzahl der 
Falle die histologische Prufung iiberhaupt negativ ausfiel [vgl. hierzu 
Weber 51 )]. Aber selbst die positiven Befunde muBten einem doppelten 
Einwand begegnen; einmal fehlen iiberhaupt die Beziehungen zwischen 
der anatoraischen Lokalisation des vermeintlichen Krankheitsherdes 
und der pathologisch-physiologischen Lokalisation der Krampferschei- 
nungen, um so mehr, als auch hinsichtlich dieser letzteren die Anschau- 
ungen weitgehend differieren. Es besteht auch in diesem Punkte ein 
Widerstreit der Meinungen der einen, welche eine corticale Lokalisation 
der Anfalle behaupten [ 10 ) n ) 12 )] der anderen, welche den epileptischen 
Krampfanfall in der Medulla oblongata lokalisieren [ 13 ) 14 ); vgl. auch 44 )]. 
NaturgemaB wird also die medullare Theorie mit den zuweilen gefun- 
denen corticalen Veranderungen nichts zu beginnen wissen, und sowohl 
den Vertretern der corticalen, wie denen der medullaren Genese ward mit 
dem Befund einer Veranderung im Ammonshorn wenig gedient sein. 
Die zweite Abschwachung aber, die die Bedeutung der histologischen 
Befunde erfahren muB, ist die, daB die einsichtigeren unter den Histo- 
logen selbst allerhand Wahrscheinlichkeitsbeweise dafiir erbrachten, daB 
diese Befunde selbst wieder nur Folge und nicht Ursache der epileptischen 
Erkrankung, insbesondere der haufig wiederholten Krampfe sind[ 61 ) 

52^ 53j 54JJ 

So ist es nicht zu verwundem, daB auch die Stoffwechselverande- 
rungen, nach denen naturgemaB auch bei der Epilepsie gefahndet wurde, 
und welche in der verschiedensten Form festgestellt werden konnten, 
eine verschiedenartige Auslegung gefunden haben. Die Kausalverkniip- 
fung zwischen krankhafter Gehirnfunktion und gleichzeitiger Stoning 
in extracerebralen Gebieten des Organismus konnte in doppelter Rich- 
tung stattfinden; die Stonmgen in den auBerhalb des Gehims liegenden 
Gebieten des Korpers konnten einmal als Folge des anomal funktio- 
nierendcn Gehirns, also als eine sekundiire Erscheirmng aufgefaBt wer¬ 
den; andererseits w r ar jedoch auch die Moglichkeit nicht von der Hand 
zu weisen, daB eine priinare Storung der Funktion eines beliebigen 
anderen Organes <len AnlaB zu der im Krampfanfall sich auBernden 
Storung der Gehirnfunktion bildete. Es drehte sich also um die Frage, 
ob zur Entstehung des Krampfanfalls ein primar erkranktes Gehirn 


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des Restkohlenstoffs im Epileptikerblute. 


427 


notwendig sei, oder ob die Anomalie der Gehimfunktion durch den Ein¬ 
fluB extracerebral entstandener Storungen auf ein intaktes Gehim er- 
klart werden kdnne. Die histologische Betrachtungsweise verleitete da- 
zu, die primare Ursache einer abnormen Organfunktion in einer ab- 
normen morphologischen Struktur des gleichen Organs zu suchen. Sie 
fiihlte sich scheinbar bestarkt in der Anwendbarkeit dieser Auffassung 
auf die Epilepsie dadurch, daB sie Begriffe wie Disposition und Here- 
ditat scheinbar zu ihren Gunsten ins Feld fiihren konnte. Es erschien 
dem Morphologen nicht vorstellbar, daB die hereditaren Verhaltnisse 
anders erklart werden konnten, als durch eine praformierte Bildungs- 
anomalie des epileptischen Gehims [Redlich 56 )], und ebenso glaubte 
er die Beobachtungen, daB die gleichen Schadigungen, welche vom Ge- 
sunden reaktionslos vertragen werden, vom Epileptiker mit einem An- 
fall beantwortet werden, nur so deuten zu kdnnen, daB eben dieses 
krankhaft reagierende Gehim die Disposition in Gestalt einer auch mor- 
phologisch nachweisbaren Minderwertigkeit von Hause aus in sich 
tragen miisse. Es schienen solche Auffassungen so plausibel, daB sogar 
Autoren, welche extracerebrale Momente fur die Atiologie suchten, 
fanden oder gefunden zu haben glaubten, nicht frei von ihrem EinfluB 
blieben. So zweifelte Krai ns ky 15 ), welcher durch seine Untersu- 
chungen 16 ) 17 ) zu einer Autointoxikation mit Carbaminsaure als Grund- 
lage des epileptischen Anfalls gefiihrt wurde, nicht daran, daB neben 
dieser toxamischen Grundlage doch auch das Vorhandensein eines pra- 
disponierten Gehims fiir das Zustandekommen des epileptischen Krank- 
heitsbildes gefordert werden miisse. Es erhellt aus diesem Beispiel, 
daB die vorgefaBte Meinung von der Identitat zwischen Lokalisition der 
Krankheitserscheinung und Lokalisation der Krankheits ursache auch 
alle iibrigen Befunde, welche fiir eine extracerebrale Ursache der Epi¬ 
lepsie gefiihrt werden konnten, in ihrer Bedeutung fiir die Pathogenese 
der Epilepsie herabmindem muBte. Nicht zum mindesten tragen an 
der Lebensfahigkeit jener Einwande diese Befunde selbst die Schuld, 
wie das aus einer naheren ErOrterang der bisherigen Feststellungen 
in der Frage der toxamischen Genese der Epilepsie hervorgehen wird. 
Die allgemeine Fragestellung dieser Forschungsrichtung muBte natur- 
gemaB folgendermaBen lauten: Finden sich auBerhalb des Gehims Sto¬ 
rungen, welche fiir die Atiologie der Epilepsie verwertet werden konnen ? 
Der EinfluB solcher auBerhalb des Gehims lokalisierter Storungen 
konnte sich auf das Gehim, welches die StGrung von auBen her mit 
einem Krampfanfall beantworten sollte, nur mit Hilfe des Blutes gel- 
tend machen. Und zwar konnte dieser exogene EinfluB ein doppelter 
sein, ein primar-mechanischer, oder ein primar-chemischer. Die Grand- 
lage der mechanischen Erklarangsmoglichkeiten muB die Beobachtung 
bilden, daB mechanische Storungen der Blutzufuhr zum Gehim zu 

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428 


N. A. Serobianz: Untersuchungen Uber das Verhalten 


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Krampferscheinungen fiihren kdnnen. Es kdnnte also die Ursache des 
Anfalls entweder in einer Verengerung oder in einer Verlagerung der 
BlutgefaBe gesucht werden. Die eretere Mdglichkeit ist bisher ohne 
experimentelle Belege geblieben; die Mdglichkeit, daB durch eine adre- 
nalinartige Wirkung auf die Muskulatur der GehirngefaBe eine zu 
Krampfen fuhrende ischamische Storung im Gehirnkreislauf herbei- 
gefiihrt wiirde, vprliert dadurch an Vorstellbarkeit, daB von der vaso- 
constrictorischen BeeinfluBbarkeit durch das Adrenalin selbst wenig- 
stens gerade die GehirngefaBe ausgenommen sind (Gerhardt). Da- 
gegen hat die Auffassung, daB eine Gehirnischamie durch GefaBver- 
schluB zustande kommen kdnne, bereits den Versuch einer experimen- 
tellen Bestatigung erlebt. Turner 18 ) 1# ) ging von der Beobachtung 
aus, daB das Epileptikerblut eine erhdhte Gerinnbarkeit in den Zeiten 
des Anfalls aufweist. Seine Befunde, daB die Koagulationszeit des 
Blutes wahrend und unmittelbar nach den Anfallen verkiirzt war, fand 
eine Bestatigung durch italienische Autoren [Galdi und Tarrugi 20 ), 
Silve8tri 81 )], wennsie auch nicht unbestritten geblieben ist [Besta 2 *)]; 
Turner jedenfalls stellte sich vor, daB auf Grand dieser erhohten Ge¬ 
rinnbarkeit kleinste Thrombosen in den GehimgefaBen zustande kamen, 
welche als Ursache des epileptischen Anfalls aufzufassen seien. Vor- 
wiegend sind es aber chemische Einflusse des Blutes gewesen, denen 
man eine atiologische Bedeutung bei der Epilepsie zugeschrieben hat. 
Beziehungen, welche man zwischen der Epilepsie und Anomalien der 
Driisen mit innerer Sekretion (Thyreoidea, Genitaldriisen), oder mit 
Darmstorangen gefunden zu haben glaubte, heBen die Beobachter 
schon daran denken, daB diese Organe auf dem Blutwege eines EinfluB 
auf das Gehirn ausiiben konnten. Ebenso waren es Stoffwechselsto- 
rungen, insbesondere Anomalien des Phosphor- und Stickstoff- 23 ) 24 ), 
sowie des Purinstoffwechsels 25 ) 26 ) 27 ) 28 ), von denen man sich einen 
ahnlichen EinfluB auf das Gehirn vorstellen konnte. SchheBhch sind 
aber auch die beiden Korperfliissigkeiten, an denen sich eine toxamische 
Storung am unmittelbarsten erkennen lassen muBte, namlich das Blut 27 ) 
66 ) 67 ) 88 ) 69 ) 60 ), welches den Trager dieses chemischen Agens abgeben 
muB, und der Ham[ 61 ) u. a.] welcher als leichter zugangliches Unter- 
suchungsobjekt zum Priifstein der normalen oder veranderten chemi¬ 
schen Zusammensetzung des Blutes dienen kann, nicht von der Unter- 
suchung ausgenommen worden. Die Grandlage aller dieser Unter¬ 
suchungen, wie iiberhaupt der Hy]X)these von einer extracerebralen 
Lokalisation der epileptischen Krankheitsursache konnten schon Ana- 
logieschliisse, welche die Epilepsie mit anderen gleichfalls von Krampfen 
begleiteten Erkrankungen sicher oder wahrscheinlich extracerebralen 
Ursprungs in Zusainmenhang bringen lassen, gebildet haben. Als solche 
Erkrankungen driington sich neben zahlreichen mit Krampferschei- 


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des Restkohlenstoffs im EpileptikerbJute. 


429 


nungen einhergehenden exogenen Intoxikationen vor allem zwei Krank- 
heitsbilder auf, die Uramie und die Eklampsie. Bei der Uramie, deren 
Ursachen ohne weiteres in der durch die gestorte Nierenfunktion ver- 
anderten Blutzusammensetzung gesueht werden muBten, und bei der 
Eklampsie, bei der gleichfalls die Annahme eines extracerebralen Sitzes 
der krampferzeugenden Noxe von vomherein angenommen werden 
muBte, waren naturgemaB die Priifungen auf eine nachweisbare Toxamie 
in Blut und Ham schon wesentlich friiher in Angriff genomraen worden. 
Als wesentlichste Ergebnisse solcher Priifungen sind bei der Uramie zu 
verzeichnen: Vermehrung des Reststickstoffes in Blut und Ham, Ver- 
mehmng des Restkohlenstoffs im Blute 80 ), Vermehrung der Kolloid- 
fraktion des Hames 81 ). Der gleiche Befund einer Vermehrung der Harn- 
kolloide liegt auch fiir die Eklampsie vor 88 ) 88 ). Bei beiden Erkran- 
kungen war die Toxizitat des Hames oder einzelner seiner Komponenten 
gepruft und vermehrt gefunden worden. 

Die Eklampsie hat besonders in den letzten Jahren sehr wesentliche 
Klarungen gefunden. Sie datieren von dem Zeitpunkt, in welchem 
Zweif el 84 ) nach dem eklamptischen Anfall eine betrachtliche Milchsaure- 
ausscheidung im Ham feststellte. Es bildet zweifellos diese Entdeckung 
den Markstein in der gesamten Auffassung des eklamptischen Krank- 
heitsbildes. Seit dieser Zweifelschen Entdeckung richtete sich das 
Augenmerk in der Eklampsiefrage auf das Studium toxamischer Ver- 
anderungen. GewiB ist die Auffassung, als sei es der Milchsauregehalt 
des Eklamptikerblutes unmittelbar, welcher den eklamptischen Krampf- 
anfall hervorrufe, nicht ohne Widersprach geblieben 88 ) 85 ), da bisher 
der Beweis, daB ein gesteigerter Milchsauregehalt des Blutes allein 
Krampfe ausldsen konne, noch nicht erbracht worden ist. Auch der Ein- 
wand, daB die Milchsaure im Harn vorwiegend nach dem Anfalle 
gefunden wird, daher als intermediates Stoffwechselprodukt des wahrend 
des Krampfanfalles in betrachtlich gesteigerter Funktion befindlichen 
Muskelsystems erklart werden k6nne, so daB die Milchsaureausscheidung 
weniger als Ursache, denn als Folge des Anfalls in Frage komme, ist 
nicht zu Unrecht erhoben worden. Immerhin ist die einmal eingeschla- 
gene Richtung seitdem weiter verfolgt und nicht resultatlos geblieben. 
Es ist heute fiir die Eklampsie erwiesen, daB sie auf eine parenterale 
Verdauung korperfremden, vermutlich Placentar-EiweiBes zuriick- 
gefiihrt werden muB, also eine Anaphylaxieerscheinung darstellt. Die 
Krampfsymptome stellen nur die Reaktion des Gehims auf einen durch 
das Blut zugefiihrten, bisher noch unbekannten, als Krampfgift auf- 
zufassenden, Baustein des parenteral abgebauten EiweiBes dar 88 ) * 7 ) 88 ), 

39j 40j 41^ 42j 8») 

Es war, schon ehe die Eklampsieforschung bis zu diesem Grade der 
Klarung vorgedmngen war, sicherlich naheliegend und nicht aussichts- 


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4;*50 N. A. Serobiaoz: Untereuchungen liber das Verhalten 

los, neben den klinischen Parallelen der Epilepsie mit der Eklampsie, 
wie auch mit der Uramie, auch nach atiologischen Parallelen zwischen 
diesen Erkrankungen zu suchen. In der Tat haben sich manche dieser 
Hoffnungen bestatigt, insbesondere konnte auch bei der Epilepsie das 
gleiche Verhalten der Kolloidfraktion des Harnes, wie bei Eklampsie 
und Uramie gefunden werden. Die Kolloidfraktion des Harnes zeigt 
eine betrachtliche Vermehrung in der Nahe der epileptischen Anfalle 
und zwar konnte an einem reichen Epileptikermaterial von Loewe 43 ) 
festgestellt werden, dall in der dem Anfall vorausgehenden Periode ein 
allmahliches Ansteigen der Tagesausscheidung der Hamkolloide statt- 
findet, welche zur Zeit des Anfalls die betrachtliche Hohe von oft 
mehreren Grammen pro die annimmt, um dann in den Tagen nach dem 
Anfall allmahlich sich wieder der Norm zu nahem. Besonders aber 
konnten von dem gleichen Autor im Tierversuch bedeutsame Eigen- 
schaften dieser Kolloidfraktion beobachtet werden; wahrend die Harn- 
kolloide des Gesunden in Mengen bis zu einem Gramm im Tier¬ 
versuch keinerlei objektiv feststellbare Toxizitat fiir Kaninchen oder 
Meerschweinchen bei subcutaner oder intravenoser Applikation besitzen, 
erwiesen sich die Hamkolloide von Epileptikem, in den Anfallsperioden 
gewonnen, als auBerordentlich toxisch. Bereits in Mengen, welche sich 
in einer bedeutend niedrigeren Gr6Benordnung, als die von normalen 
ohne Schadigung anwendbaren Kolloidmengen bewegen. Und zwar 
konnte Loewe die toxische Wirkung der Hamkolloide von Epileptikem 
insofern als eine spezifische bezeichnen, als die Giftwirkung dieser Sub- 
stanzen und zwar ausschlieBUch der von Epileptikem gewonnenen, in 
serienweisen, den epileptischen auBerordentlich ahnelnden klonisch- 
tonischen Krampfanfallen sich auBert. Diese Spezifitat der Wirkung 
wurde besonders dadurch bemerkenswert, daB der gleiche Autor von 
anderen Geisteskranken Hamkolloide gewinnen konnte, welche teilweise 
eine die epileptischen Hamkolloide noch bedeutend iibertreff ende Toxizitat 
besaBen, deren Giftigkeit sich aber niemals in Krampfwirkung auBerte. 

Schon vor der Beobachtung der Eigenschaften der Epileptiker- 
hamkolloide war eine andere Analogie mit der Uramie gefunden worden, 
namlich festgestellt worden, daB bei der Epilepsie, ebenso wie bei jener 
Erkrankung, der Reststickstoff des Blutes vermehrt ist 16 ) * 8 ) 46 ). Es 
war nun naheliegend, daB auch die dritte, fiir die Uramie gemachte Fest- 
stellung, namlich die Konstatierung einer Vermehrung des Restkohlen- 
stoffs des Blutes, an Epileptikerblut nachgepriift wurde. Auf Loewes 
Veranlassung hat MaaB 46 ) im hiesigen Laboratorium ein psvchiatrisches 
Krankenmaterial in dieser Richtung studiert; er fand beachtenswerte Sto- 
mngen des Restkohlenstof fgehaltes des Blutes bei einer Anzahl von Geistes- 
kranken, und es befanden sich unter seinen Kranken auch vier Epilep- 
tiker, welchen toils vor, teils nach Krampfanfallen Blut entnommen war. 


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des Re8tkohlenstoff8 im Epileptikerblute. 


431 


NaturgemaB sind die Mehrzahl aller Befunde, welche fiir eine toxa- 
mische Genese der Epilepsie sprechen oder sprechen konnen, in der Zeit 
nach einem Anfall erhoben worden; es kann daher, wie dies Allers 47 ) 
in seinem ausgedehnten Referat iiber die Ergebnisse stoffwechsel- 
pathologischer Untersuchungen bei der Epilepsie getan hat, stets der 
Einwand erhoben werden, daB alle zu solcher Zeit erhobenen von der 
Norm abweichenden Befunde, ebenso wie wir dies von der Milchsaure- 
ausscheidung bei der Eklampsie, welche ja iibrigens in analoger Weise 
auch bei der Epilepsie festgestellt wurde 48 ) 49 ), gesehen haben, nur 
Folgen und nicht Ursachen des Anfalls darstellen. Freilich werden schon, 
wie Allers weiter anfiihrt, ,,die Kolloidstudien Loewes“ von diesem 
Einwand nicht mehr ganz betroffen. 

Und daB dieser Einwand auch auf die MaaBschen Untersuchungen 
nicht zutrifft, zeigt die nahere Betrachtung seiner wenn auch nur in ge- 
ringer Zahl vorgenommenen Restkohlenstoffbestimmungen bei Epilepti- 
kern. Von den vier genuinenEpileptikem, an denenMaaB Restkohlen¬ 
stoffbestimmungen vorgenommen hat, ist nur bei einem die Restkohlen- 
stoffzahl verhaltnismaBig gering. Gerade diese eine Bestimmung ist die 
einzige, welche in einer Periode nach einem Anfall vorgenommen wurde 
(3 Tage nach Anfall). Von den drei anderen gr6Beren Steigerungen der 
Restkohlenstoffzahl entfallt eine, die geringste, auf einen Dammerzu- 
stand, wahrend die beiden anderen im Intervall vorgenommen wurden, 
und zwar beide wochenlang nach einem Anfall, so daB beide Bestim- 
mungen jedenfalls wait eher in eine dem Anfall vorausgehende, als dem 
Anfall folgende Phase des Krankheitsbildes entfallen. Gerade diese bei¬ 
den weisen nun auBerordentliche Steigerungen der Restkohlenstoffzahl 
bis auf mehr als 200% auf. Wenn es also erlaubt ware, aus diesen we- 
nigen Fallen einen SchluB auf das Verhaltnis zwischen Restkohlenstoff- 
vermehrung und Anfallen zu ziehen, wozu natiirlich, wie MaaB selbst 
betont hat, die geringe Zahl der Untersuchungen noch nicht ausreicht, 
so wiirde man schon aus diesen wenigen Fallen sich diese Beziehungen 
als allmahlich steigende Vermehrung vor dem Anfall und Abfallen gegen 
die Norm hin nach dem Anfall vorstellen miissen. Jedenfalls ist nicht 
ersichtlich, mit welcher Berechtigung eine Restkohlenstoffvermehrung 
von iiber 200%, welche nach dem letzten Anfall gefunden wird, 
auf eine Saureiiberladung als den „unmittelbaren Ausdruck der Sauer- 
stoffverarmung infolge der intensiven Muskeltatigkeit wahrend des 
Krampfanfalles“ (Allers) zuriickgefiihrt werden konnte. Vielmehr er- 
scheint es naheliegend, die Vermehrung der Hamkolloide, deren Ver- 
halten zum Anfall hinreichend untersucht ist und auch das Verhalten 
des Restkohlenstoffs streng zu trennen von der Mehrzahl der iibrigen 
im Sinne einer Toxamie verwendeten Befunde bei Epileptikem und sie 
als Hin weise dafiir zu nehmen, daB sich bereits vor dem Anfall Verande- 


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432 N. A. Serobianz: Untersuchungen ttber das Verhalten 

rungen finden lassen, welche also eher als Ursache, denn ala Folge des 
Anfalls betrachtet werden rniissen. Von den Restkohlenstoffbestim- 
mungen dnrfte dies bisher nur mit der bereits erwahnten Einschrankung 
gelten, daB die bis jetzt vorliegende Priifung von nur wenigen Fallen 
in vier Einzelbestimraungen nicht ausreicht, um den Befunden irgend- 
welche Beweiskraft zu verleihen; MaaB selbst fiigt seinen Untersu¬ 
chungen den SchluBsatz an: „Allerdings wird es erforderlich sein, gerade 
bei dieser Erkrankung die Restkohlenstoffvermehrung noch sehr ein- 
gehend zu priifen, vor allem daraufhin, welche Schwankungen der Rest- 
kohlenstoffzahl den jeweiligen klinischen Zustand des Epileptikers be- 
gleiten, und ob sich, wie dies bei einer atiologischen Bedeutung der Rest¬ 
kohlenstoffvermehrung zu verlangen ware, in der Tat die hochsten 
Steigerungen vor, die niedrigsten bzw. normale Werte nach den An- 
fallen finden lassen. “ 

Es erschien daher aussichtsreich, diese Frage an einer groBeren Reihe 
von Epileptikem zu priifen, und ich habe daher der dankenswerten An- 
regung von Herrn Geheimrat Flechsig, mich mit dem Studium der 
extracerebralen StOrungen beim Epileptiker zu befassen, geme Folge 
geleistet, und mit seiner giitigen Erlaubnis auf Vorschlag von Herrn 
Dr. Loewe die Priifung der Restkohlenstoffzahl des Blutes in den ver- 
schiedenen Phasen des epileptischen Krankheitsbildes in den Mittel- 
punkt meiner Untersuchungen gestellt. 

Methode und bisherige Ergebnisse der Restkohlenstoffbestimmungen. 

Die Methode der Restkohlenstoffbestimmung im Blute wurde auf 
Hofmeisters Anregung zum ersten Male von Mancini 50 ), der lange 
zuvor geiibten Reststickstoffbestimmung im Blute gegeniibergestellt, 
da es erforderlich schien, sich nicht nur iiber die Menge der nichteiweiB- 
artigen stickstoffhaltigen Bestandteile des Blutes, iiber welche die Rest¬ 
stickstoffbestimmung Auskunft gibt, zu orientieren, sondern sich auch 
iiber die Gesamtmenge der kohlenstoffhaltigen Verbindungen iiberhaupt, 
welche nach Entfemung von EiweiB und eiweiBartigen Bestandteilen 
noch im Blute verbleibt, unter physiologischen und spater auch unter 
pathologischen Verhaltnissen informieren zu konnen. Es wurde also 
bei der Ausarbeitung dieser Methode darauf ausgegangen, einerseits die 
proteinartigen Stoffe und nur diese aus dem Blute restlos zu entfemen, 
und andererseits in diesem enteiweiBten Blute den Gesamtkohlenstoff 
moglichst sicher quantitativ zu bestimmen. Fiir den ersteren Zweck 
erwies sich nach zahlreichen Vorversuchen am geeignetsten die Fallung 
mit Phosphorwolframsaure, welche die Entfemung aller Proteine ein- 
schlieBlich des Serummucoids gestattet und nur den unbedeutenden 
Nachteil mit sich bringt, daB eine geringe Anzahl nichteiweiBartiger 
Stoffe, wie z. B. die Hamsaure und die kaum in Betracht kommenden 


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des Restkohlenstoffs im Epileptikerblute. 


433 


in freiem Zustand wasserunloslichen hdheren Fettsauren, gleichzeitig 
aus der L6sung entfemt werden. Fur die zweite Absicht muBte ein Ver- 
fahren der Kohlenstoffbestimmung gewahlt werden, welches die Bestim- 
mung des Kohlenstoffes in feuchtem Medium gestattet; hierzu wurde 
das Messingersche Verfahren in der von Spiro angegebenen Modifi- 
kation ausgewahlt, welche bereits mit Vorteil fiir die Bestimmung des 
Hamkohlenstoffes benutzt worden war. Dieses Verfahren der Rest- 
kohlenstoffbestimmung in feuchtem Medium ist von MaaB in nahezu 
unveranderter Anlehnung an die Angaben von Mane ini benutzt wor¬ 
den, und hat sich auch mir nach Anbringung einiger weniger unwesent- 
licher Modifikationen der MaaBschen Methode als h6chst brauchbar 
erwiesen. Die von mir verwendete Apparatur war die folgende: 

An den etwa 500 ccm fassenden Entwicklungskolben war durch 
Schliff ein groBerer RiickfluBkiihler angesetzt, dessen oberes Ende um- 
gebogen und mit einem horizontal angesetzten Glasrohr versehen war. 
An dieses wurden die Vorlagen angeschlossen. Diese bestanden aus je 
einem mit Glasperlen bzw. destilliertem Wasser versehenen Peligot- 
rohrehen, auf welches zwei U-formige Chlorcalciumr6hren folgten. 
Hieran waren die beiden mit Natronkalk beschickten Wagerfthrchen 
angeschlossen, welche dann das mit einem Gemisch von Natronkalk und 
Chlorcalcium beschickte Schutzrohr nach auBen abschloB. 

Auch die Anwendung der Methode geschah im wesentlichen in der 
durch Mancini angegebenen und von MaaB ausprobierten Weise: 

Durch Venaepunctio wurden 40—60 ccm Blut aus der Cubitalvene 
entnommen und sofort in einem mit 50 ccm lOproz. Natriumfluorid- 
losung beschickten MeBzylinder aufgefangen. Zur Verarbeitung wurde 
das auf diese Weise an der Gerinnung verhinderte Blut sorgfaltig in einen 
groBen Stehkolben hiniibergespiilt und mit destilliertem Wasser auf 
etwa 400—500 ccm aufgefiillt. Dem so hamolysierten Blute wurden 
darauf 10 ccm konzentrierter Schwefelsaure zugesetzt und hierauf mit 
einem UberschuB von Phosphorwolframsaure — im allgemeinen wurden 
100 ccm einer lOproz. Phosphorwolframsaurelosung als ausreichend be- 
funden — die EiweiBfallung vorgenommen. Nach 24stiindigem Stehen 
wurde von dem Phosphorwolframatniederschlag abfiltriert, der Filter- 
riickstand sorgfaltig ausgewaschen und das Waschwasser mit dem ur- 
8priinglichen Filtrat vereinigt. Die so erhaltene Gesamtmenge des Fil- 
trats wurde in zwei gleiche Halften geteilt, und in jecier dieser Halften 
die Parallelbestimmung vorgenommen. Hierzu wurde die LOsung im 
Entwicklungskolben mit 15 g Kaliumbichromat, einem Tropfen Queck- 
silber und 100 ccm konzentrierter Schwefelsaure versetzt, und acht 
Stunden unter guter RuckfluBkiihlung im Sieden erhalten. Aus dem 
abgekiihlten Entwicklungskolben wurde dann die entwickelte Kohlen- 
saure durch einen langsamen Luftstrom in die beiden mit Natronkalk 


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434 


N. A. Serobianz: Untersuchungen Uber das Verhalten 


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beschickten Absorptionsrohrchen xibergetrieben und durch Wagung be- 
stimmt. Der Luftstrom wurde durch Ansaugen in ein 5 1 fassendes, 
hinter das ganze System geschaltetes, tropfenweise sich entleerendes 
GefaB erzeugt und vor der Einleitung zur Entfemung der Kohlensaure 
durch einen Chlorcalciumturm und eine mit Kalilauge beschickte Spiral- 
waschflasche hindurchgefiihrt. 

Uber das physiologische Verhalten des Restkohlenstoffs hatte 
Mane ini durch Versuche mit Normalblut folgendes ermittelt: 

1. Der (nicht durch Phosphorwolframsaure fallbare) Restkohlenstoff 
des Blutes ist bei derselben Tierart annahemd konstant; fur den Hund 
schwankt er von 0,0728—0,0870g in 100ccm Blut. Das Mittel ist 0,0780g. 

2. Auch das Blut anderer Saugetiere gibt nachstehende Werte: 
Pferd 0,0756, Rind 0,0832, Kaninchen 0,0844 g pro 100 ccm Blut. 

3. Bei Aufbewahrung in der Kalte andert sich der Gehalt an Rest¬ 
kohlenstoff in den ersten 24 Stunden nicht merklich. 

In einer weiteren Untersuchung hat Mancini dann die Verhaltnisse 
des menschhschen Blutes unter physiologischen und pathologischen Ver- 
haltnissen studiert. Er fand, daB das normale menschlische Blut im 
Durchschnitt 0,0765 g Restkohlenstoff pro 100 ccm enthalt, also an¬ 
nahemd dieselbe Menge, wie er sie beim Blut des Hundes und des Pferdes 
gefunden hatte. Eine Vermehrung geringen Grades fand er bei verschie- 
denen Krankheiten, eine erhebliche Zunahme in einem Fall von Malta- 
fieber, in einem Fall von Diplokokkenbronchopneumonie, in drei Fallen 
von fibrinoser Pleuropneumonie, bei Lebercirrhose mit Ascites, in alien 
von dem Autor untersuchten Krebsfallen, bei interstitieller Nephritis 
und besonders bei Uramie und Eklampsie. Mancini schloB bereits aus 
diesen Untersuchungen, ,,daB die Zunahme des Restkohlenstoffs auf eine 
Zunahme der imBlute enthaltenen kolloidalenStoffe zuriickzufiihren ist“. 

Diese letztere Annahme wird denn auch von MaaB bestatigt. Im 
allgemeinen dec ken sich die Rrankheitsbilder, in welchen MaaB eine Ver¬ 
mehrung des Restkohlenstoffs des Blutes fand, mit denjenigen, in welchen 
Loewe vor ihm eine Vermehrung und Toxizitat der Hamkolloide fest- 
stellen konnte. Seine hier insbesondere interessierenden Befunde an 
Epileptikem sind bereits im vorigen Abschnitt erwahnt; es sollen hier 
nur die einzelnen von ihm gefundenen Zahlen angeschlossen werden: 



Darin C() 2 

Demnach 

C in 100 ccm 
Blut 


Genuine Epilepsie 

0,1735 

0,1785 

8 Tage v. Anf. 

>> 9t 

0,1538 

0,1472 

Dammerzustand 

ft tt 

0,1804 

0,1838 

Interval! 

tt ft 

0,1265 

0,1147 

3 Tage n. Anf. 

Alkohol- ,, 

0,1093 

0,1147 

3 Tage nacli 
Dammerzustand 


Go 'gle 


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des Hestkohlenstoffs im Epileptikerblute. 


435 


Im iibrigen bestatigen die von M a a B gef undenen Zahlen bei denjenigen 
Krankheitsbildem, in denen sich keine Vermehrung des Restkohlen- 
stoffs fand, also vor allem bei vier Katatonikem und einem Imbezillen, 
mit 0,0732, 0,0799, 0,0766, 0,0731 und 0,0777 g in 100 ccm Blut, die 
von Mancini fur das Blut Normaler gef undenen Zahlen. 


Eigene Yersuche. 

Im folgenden werden die mit der oben beschriebenen Methode vor- 
genommenen eigenen Untersuchungen an dem Blut von Epileptikem 
in verschiedenen Stadien der Erkrankung zusammengestellt. Aus 
auBeren Griinden konnte die Entnahme gewohnlich nicht sofort nach 
dem Anfall vorgenommen werden, sondem es waren bereits wenige 
Stunden seit diesem voriibergegangen. Den jeweiligen Angaben iiber 
das Versuchsergebnis wird gleiehzeitig ein kurzer Auszug aus der Kran- 
kengeschichte vorausgeschickt. 


Versuch Nr. 1 
cand. med. S., gesund, 27 J. 

Entnommene Blutmenge: 36 ccm. 

gefund. g C0 2 demnach C in 100 ccm Blut 

Parallelbestimmung I . . . . — i — 

„ II ... . 0,05100 0,0773 

Im Mit tel also 0,0773% C. 

Versuch Nr. 2. 

Pat. Z.; Epileptiker vor dem Anfall. 

Am 3. 1. 12 41 ccm Blut entnommen. 

gefund. g C0 2 demnach C in 100 ccm Blut 

Parallelbestimmung I .... I 0,0614 j 0,0817 

„ II .... j 0,0850 | 0,1131 

Im Mittel also 0,0974% C. 


Versuch Nr. 3. 

Pat. Schm.; seit 10 Jahren Epileptiker. 
Anfalle der Untersuchungsperiode: 
am 5. 3. 12 2 Anf. 

„ 28. 4. 12 1 „ 

„ 3. 5. 12 1 „ 

„ 3.5.12 1 „ 

„ 6. 4. 12 1 „ 

Am 19. 3. 12 70 ccm Blut entnommen. 


gefund. g C0 2 ( demnach C in 100 ccm Blut 


Parallelbestimmung I 

„ n 


0,0722 

0,0809 


0,0714 

0,0721 


Im Mittel also 0,0717% C. 


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Gck igle 


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436 


N. A. Serobianz: Untersuchungen Uber das Verhalten 


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Versuch Nr. 4. 

Pat. Go. 

Bekommt regelm&Big in 8t&gigem Intervall einen Anfall. 
Am 29. 3. 12 58 com Blut entnommen. 



gefund. g C0 2 

| demnach C in 100 ccm Blut 

Parallelbestimmung I . . . . 

0,0773 

I 0,0695 

„ II ... . 

0,0770 

0,0692 


Im 

Mittel also 0,0694% C. 


Versuch Nr. 5. 

Pat. Eis. (a) 

Anf&ile: 
a<n 2. 4. 12. 

„ 24.4.12. 

„ 28. 4. 12. 

Am 14. 4. 12 63 ccm Blut entnommen. 

| gefund. g C0 2 | demnach C in 100 ccm Blut 

Parallelbestimmung I . . . . 0,0522 I 0,0417 

„ II ... . 0,0657 0,0541 

Im Mittel also 0,0480% C. 

Versuch Nr. 6. 

Pat. Schw. (a) 

Anfalle: 
am 17. 3. 12. 

„ 25. 3. 12. 

„ 26. 3. 12. 

„ 11.4.12. 

„ 19. 4. 12. 

Am 12. 3. 12 54 ccm Blut entnommen. 


gefund. g C0 2 | demnach C in 100 ccm Blut 

Parallelbestimmung I . . . . 0,1314 0,1327 

„ II ... . 0,1200 0,1202 

Im Mittel also 0,1264% C. 


Versuch Nr. 7. 

Pat. Wo. (a) 

Anfalle: 
am 1. 3. 12. 

„ 9. 3. 12. 

„ 10. 3. 12. 

„ 18. 3. 12 3 Anf. 

„ 19. 3. 12 1 „ 

„ 20.3.12 1 „ 

Am 16. 3. 12 54 ccm Blut entnommen. 


gefund. g C0 2 demnach C in 100 ccm Blut 

Parallelbestimmung I .... i — — 

,, II ... . 0,1231 0,1231 

Im Mittel also 0,1231% C. 


Go 'gle 


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d©8 Restkohlenstoffs im Epileptikerblute. 


437 


Versuch Nr. 8. 

Pat. K. Status epil. 

Am 19. 2. 12 46 ccm Blut entnommen. 

___J_gefund. g CQ t demnach C in 100 ccm Blut 

Parallelbestimmung I .... 1 — j — 

„ II ... . 0,1110 j 0,1362 

Im Mittel also 0,1362% C. 

Versuch Nr. 9. 

Pat. Schl. Geh&ufte Anfalle. 

Anf&lle: 
am 26. 2. 12. 

„ 7. 2. 12 2 Anf. 

„ 8.2.12 2 „ 

„ 9. 2. 12 2 „ 

„ 10.2.12 3 „ 

„ 11.2.12 3 „ 

„ 12. 2. 12 4 „ 

„ 13. 2. 12 2 „ 

„ 14. 2. 12 1 „ 

Am 12. 2. 12 54 ccm Blut entnommen. 

_ gefund. g C O, _demnach C in 100 ccm Blut 

ParaUelbestimmung I . . . . 0,0897 I 0,0978 

„ II ... . 0,985 0,1074 

Im Mittel also 0,1026% C. 

Versuch Nr. 10. 

Pat. Eis. (b) Dammerzustand am 11. 4. 12, in den n&chsten 2 Tagen abklingend. 

Anfalle: 
am 2. 4. 12. 

„ 24. 4. 12. 

„ 28. 4. 12. 

Am 11. 4. 12 63 ccm Blut entnommen wahrend starken Dammerzustandes. 

gefund. g C0 2 | demnach C in 100 ccm Blut 

VT 04370 ^ ^04200 ” 

. . 0,1217 0,1053 

Im Mittel also 0,1127% C. 

Versuch Nr. 11. 

Pat. Pesch. W&hrend des Dammerzustandes. 

Anf&lle: 
am 19. 12. 11. 

„ 22. 12. 11. 

„ 2. 1. 12. 

_ Am 13. 12. 12 62 ccm Blut entnommen. _ 

____ gefund . g C0 2 demnach C in 100 ccm Blut 

Parallelbestimmung I . . . . — — 

„ II ... . 0,1037 0,0912 

Im Mittel also 0,0912% C. 



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438 


N. A. Serobianz: Untersuchungen tlber das Verhalten 


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Versuch Nr. 12. 

Pat. Leh.; soit 20 J. Epileptiker. 

Anfalle: 
am 18. 12. 11. 

„ 23. 12. 11. 

„ 26. 12. 11. 

„ 25. 12. 11. 

Am 18. 12. 11. 6 Std. nach dem Anfall 46 com Blut entnommen. 


Parallelbestimmung 

99 


I . 

II . 


gefund. g CO 


aj_demna ch C in 100 ccmBlut 


. . 0,0791 0,0938 

. . 0,0795 0,0942 


Im Mittel also 0,0940% C. 


Versuch Nr. 13. 

Pat. M. 

Am 3. 1. 12 52 ccm Blut 5 Std. nach dem Anfall entnommen; mehrere Anf&lle 

vorausgegangen. 


gefund. g C0 2 | demnach C in 100 com Blut 

Parallelbestimmung I .... | 0,0695 0,0729 

„ II .... | 0,0990 0,1039 

Im Mittel also 0,0884% C. 

Versuch Nr. 14. 

Pat, Ul. 

Am 29. 3. 12 56 ccm Blut entnommen, Tag vorher Anfall gehabt, vorher jeden 

Tag schwere Anf&lle. 


_ _gefund. g C0 2 demnach C in 100 ccm Blut 

Parallelbestimmung I .... i 0,0888 0,0865 

„ II .... ; 0,0707 | 0,0689 

Im Mittel also 0,0777% C. 

Versuch Nr. 15. 

Pat. Tes. 

Am 26. 3. 12 46 ccm Blut entnommen, 2 Tage vorher 2 Anfalle gehabt. 

gefund. g C0 2 demnach C in 100 ccm Blut 
0,0812 I 0,0715 

0,0881 j 0,0822 

I m Mittel also 0,0768% C. 

Versuch Nr. 16. 

Pat. Wo. (b) 

Anfalle: 
am 7. 3. 12. 

„ 9. 3. 12. 

„ 10. 3. 12. 

„ 18. 3. 12 3 Anf. 

„ 19. 3. 12 1 ,, 

„ 20. 3. 12 1 „ 


Parallelbestimmung I 

II 


Gck igle 


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dos Kestkohlenstoffs im Epileptikerbluto. 


439 


Am 22. 3. 12 64 ccm Blut entnommen. 

gefund. g C0 2 demnach C in 100 ccm Blut 

0,0948 I 0,0800 

0,1133 ; 0,0965 

Im Mittel also 0,0883% C. 

Versuch Nr. 17. 

Pat. Br. 

Anfalle: 
am 13. 1. 12. 

„ 14. 1. 12 2 Anf. 

„ 18. 1. 12 1 „ 

„ 19. 1. 12 5 „ 

„ 20 . 1 . 12 2 „ 

Am 22. 1. 12 40 ccm Blut entnommen. 

gefund. g C0 2 demnach C in 100 ccm Blut 

0,0830 | 0,1131 

0,0872 | 0,1189 

Im Mittel also 0,1160% C. 

Versuch Nr. 18. 

Pat. Schw. (b) 

Anfalle: 
am 17. 3. 12. 

„ 25. 3. 12. 

„ 26. 3. 12. 

„ 11.4.12. 

„ 19. 4. 12. 

Am 22. 4. 12 68 ccm Blut entnommen. 

1 gefund. g C0 2 demnach C in 100 ccm Blut 

Parallelbestimmung I .... i 0,0853 0,0684 

„ II ... . 0,0823 0,0661 

Im Mittel also 0,0672% C. 

Stellen wir die Ergebnisse dieser 18 Versuche gemaB ihrer zeitlichen 
Beziehung zum Anfalle zusammen, so erhalten wir die Anordnung der 
folgenden Tabelle: 

Zeitliche Beziehuntf zum Pnroxvsnuis 


Kan,e do* Patientcn 




Vor dem Paroxysmus 


1. 

Gesunder . 

Ser. 

0,0773 

2. 

? YVochen vor Anf all. 

Z. ! 

0,0974 

3. 

4 Wochen „ „ . 

Sohm., vgl. 21 

0,0717 

4. 

8 Tagc „ „ . 

Go., vgl. 20 

0,0694 

5 . 

o ,, ,, ,, . 

Eis., vgl. 10 | 

0,0480 

6. 

»» ff » . 

Schw., vgl. 20 

0,1264 

7. 

9 

If M ff . 

Wo., vgl. 20 

0,1231 


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440 


N. A. Serobianz: Untersuchungen Uber das Verhalten 


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Zeitliche Besiehung sum Paroxysmus 

Name des Patienten 

Bestkohlenstoff (g) 
in 100 ccm Blut 


Wahrend des Paroxysm us: 



8. 

Status epil. . . 


K. 

0,1362 

9. 

Gehftufte Anf&lle 


Schl. 

0,1026 

10. 

Diimmerzustand 


Eis., vgl. 5 

0,1127 

11. 

99 . 

Nach dem Paroxysmus: 

Pesch. 

0,0912 

12. 

5 St unden nach Anfall. 

Leh. 

0,0940 

13. 

^ *9 99 


M. 

0,0884 

14. 

1 Tag 


Ul. 

0,0777 

15. 

2 Tage 

99 . 

Tes. 

0,0768 

16. 

2 „ 

>9 . 

Wo., vgl. 20 

0,0883 

17. 

2 „ 

99 . 

Br. 

0,1160 

18. 

3 ,, ,, 

99 . 

Schw. 

0,0672 

19. 

6 „ 

»♦ . 

Wo., vgl. 16 

0,1231 

20. 

8 


Go., vgl. 4 

0,0694 

21. 

14 „ 


Schra., vgl. 3 

0,0717 


Betrachten wir die Tabelle, so konnen wir ihr folgendes iiber die 
Beziehungen des Restkohlenstoffgehaltes des Blutes zu dem zeitlichen 
Ablauf der Erkrankung entnehmen. 

Es bestatigt die erste am Gesunden gefundene Prozentualzahl von 
0,0773 g cUe Angaben der bisherigen Autoren iiber die Menge und Kon¬ 
stanz der Restkohlenstoffzahl im normalen Blute. 

Fur die Epileptiker ist zunachst ersichtlich, daB die niedersten 
und der Norm am nachsten Zahlen da liegen, wo die groBte zeitliche Ent- 
fernung vom Paroxymus besteht. Bis zum 5. Tage vor dem Anfall be- 
wegen sich die Rest kohlenstoff zahlen stets unter 0,10. Die beiden Be- 
stimmungen 7 und 8, welche in der grOBten zeitlichen Annaherung vor 
dem Anfall vorgenommen wurden, weisen beide eine betrachtliche Ver- 
mehrung auf. 

Mit Ausnahme des Dammerzustandes Nr 12, dessen Abweichen weiter 
unten noch erklart werden wird, weisen die samtlichen, wahrend einer 
paroxysmalen Phase entnommenen Blutproben eine Vermehrung iiber 
0,10 auf, und zwar findet sich die starkste Vermehrung bei dem offen- 
sichtlich sc-hwersten Falle, dem Status epilepticus Nr. 9. Auch der 
schwerere der beiden Dammerzustande Nr. 11 weist in Ubereinstim- 
mung mit dem von MaaB gepruften Dammerzustand eine betrachtliche 
Vermehrung auf. Der zweite Dammerzustand Nr. 12 war stets charakte- 
ristiert (lurch auffiillige psychogene Komponenten, so daB er whol kaum 
als ein reiner Fall betrachtet werden kann und daher die verhaltnis- 
iniiBig niedrige bei ihm wahrend eines solchen hysteriformen Dammer¬ 
zustandes gefundene Restkohlenstoffziffer nicht zu verwundern braucht. 


Go 'gle 


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des Restkohlen8toffs im Epileptikerblute. 


441 


Die beiden unmittelbar nach dem Paroxysmus (5 Stunden nach 
Anfallen) gepriiften Epileptiker befinden sich aber mit den um 0,09 
liegenden Restkohlenstoffzahlen doch noch offensichtlich fiber dem 
Normalniveau. Dies andert sich jedoch, sobald der auf den Anfall 
folgende Tag fiberschritten wird. Hinter einer Distanz von 24 Stun¬ 
den hinter dem Anfall finden sich fast durchwegs normale Z&hlen. 
Eine Ausnahme bilden nur die drei Falle 17, 18 und 20. Leider ist 
von alien dreien z. T. infolge ihrer Entlassung aus der Klinik, 
nicht mehr feststellbar, inwieweit die bereits wieder vorhandene Steige- 
rung durch einen bald darauf folgenden Anfall erklart werden kann; wie 
aus der Betrachtung der beiden Falle 7 und 8 hervorgeht, mfiBte der 
Anfall innerhalb der nachsten 5 Tage nach der Blutentnahme statt- 
gefunden haben. Ffir den Patienten Br. ist dies bei der Haufigkeit 
seiner Anfalle hfichst wahrscheinlich. Was die beiden Bestimmungen 16 
und 20 anbetrifft, welche die beiden anderen Ausnahmen von unseren 
Feststellungen bilden, so sind diese von dem gleichen Patienten, nur in 
verschiedenem Abstand vom Anfall gemacht; die dem Anfall naher 
liegende Bestimmung, zu welcher die Blutentnahme zwei Tage nach dem 
Anfall stattfand, weist nun jedenfalls die geringere Steigerung (0,0883) 
gegenfiber der in grfiBerer Entfemung vom Anfall (7 Tage nach dem 
gleichen Anfall) bestimmten Restkohlenstoffzahl von 0,1231 auf. Es 
stimmen also auch diese beiden Abweichungen insofern mit den von uns 
aufgestellten MutmaBungen fiberein, als jedenfalls nach dem Anfall die 
Annaherung an die Norm und gleichzeitig mit der zeitlichen Annaherung 
an den nachsten Anfall wiederum eine betrachtliche Zunahme der Rest¬ 
kohlenstoffzahl gegenfiber der postparoxysmalen Periode festzustellen ist. 

Dasselbe Verhalten, wie es fur diesen Patienten aus der Restkohlen¬ 
stoffzahl zweier zu verschieclenen Zeiten des Krankheitsbildes ent- 
nommener Blutproben hervorgeht, findet sich auch ffir die beiden an¬ 
deren Patienten, deren Restkohlenstoffzahlen sich unter 5 bzw. 10 und 7 
bzw. 16 bzw. 20 verzeichnet finden. Der Patient Eis. wurde wahrend des 
Dammerzustandes und zu einem spateren Zeitpunkt, in einem Abstand 
von 6 Tagen vor dem Anfall, nachdem der Dammerzustand bereits voll- 
standig abgeklungen war, untersucht; auf der Hohe des Dammerzu- 
standes wies er die zu fordernde betrachtliche Vermehrung auf 0,1127 
auf, wahrend er im paroxysmenfreien Intervall einen prozentualen Rest- 
kohlenstoffgehalt von 0,0480 auf wies; offensichtlich ist also der Gegen- 
satz zwischen einer auBerordentlichen Steigerung wahrend der Exa¬ 
cerbation gegenfiber einer zum mindesten normalen Zahl im anfalls- 
freien Zustande. Weshalb diese letztere Zahl so auffallig gering ist, 
konnen wir allerdings nicht erklaren; es ist die einzige Zahl, welche wir 
unterhalb der von uns selbst und von den beiden anderen Autoren sonst 
stets konstant gefundenen Normalziffer gefunden haben. Da die beiden 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XX. 30 


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442 


N. A. Serobianz: Untersuchungen liber das Yerhalten 


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Parallelbestiramungen hinreichend iibereinstimmen, um einen Versuchs- 
fehler ausschlieBen zu konnen, bediirfte dieses Verhalten einer sach- 
lichen Erklarung, welche natiirlich aus einem einmaligen Befund heraus 
nicht gegeben werden kann. Hochstens ware dieser Fall in Parallele zu 
setzen mit den Bestimmungen 4, 19 und 21, welche sich gleichfalls auf 
die Intervallperiode von Epileptikem beziehen, und ebenf alls unterhalb der 
Norm liegen, oder wenigstens sich an der untersten Grenze der Normal- 
zahlen bewegen. Zur Erklarung ware vielleicht heranzuziehen, daB 
auch Loewe bei der Bestimmung der Menge der adialysablen Anteile 
des Epileptikerharnes im Intervall zuweilen auffallend niedrige Werte 
gefunden hat. Was den dritten zu zwei verschiedenen Zeiten unter- 
suchten Patienten, Schw., anlangt, so wurde die Bestimmung einmal 
5 Tage vor dem Anfall, das zweitemal 3 Tage nach dem Anfall vor- 
genommen. Das Verhalten dieses Patienten bildet eine weitgehende 
Bestatigung der hier gezeigten Parallelitat zwischen dem Rhythmus des 
Krankheitsablaufs und dem des Restkohlenstoffgehalts des Blutes; vor 
dem Anfall die hohe Zahl von 0,1264%, jenseits des Anfalles und in 
einem Abstand von mehr als 24 Stunden von demselben (3 Tage nach 
dem Anfall) die an der unteren Grenze der Norm liegende Zahl von 
0,0672. 

Noch deutlicher werden die Beziehungen zwischen Anfall und Rest- 
kohlenstoff im Blute aus der nachfolgenden graphischen Darstellung 
hervorgehen, in welcher als Ordinate die Hohe der Restkohlenstoffzahl, 
als Abszisse die zeitliche Lagerung zum Anfall bzw. der Paroxysmal- 
periode gewahlt worden ist: 



Gck 'gle 


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des Kestkohlenstoffs im Epileptikerblute. 


443 


bereits aus der Diskussion der tabellarischen Zusammenstellung dieser 
Versuche heraus durch die Ergebnisse bestatigt gesehen haben. Es 
findet sich ein Anschwellen des Restkohlenstoffgehaltes im Blute, aus- 
gehend von dem im Intervall zu findenden Normalgehalte, in der pra- 
paroxysmalen Periode, eine Kulmination in der Paroxysmalperiode, 
ein rascher Abfall innerhalb der era ten 24 Stunden nach dem Paroxys- 
mus bis zur Norm, auf welcher sich dann die Restkohlenstoffzahl um 
so langer halt, je groBer der Abstand zwischen zwei Anfallen, je grOBer 
also das paroxysmenfreie Intervall ist. 

Wir kdnnen also durch unsere Untersuchungen den Einwand weit- 
gehend widerlegen, daB die extracerebralen StOrungen, die sich beim 
Epileptiker in Gestalt von Stoffwechselanomalien, toxischen Substanzen 
usw. finden lassen, ohne weiteres als Folgen des Anfalls und nicht als 
dessen Ursache aufgefaBt werden kdnnen. Ebenso wie dies fiir die Ham- 
kolloide nicht stichhaltig ist, trifft es auch nach den obigen Darlegungen 
fiir die Restkohlenstoffzahl nicht zu. Eine Storung, welche die in 
unserer Kurve dargelegte zeitliche Beziehung zum Anfall aufweist, kann 
unmoglich eine Folge dieses Anfalls sein. Inwieweit sie selbst die Ur¬ 
sache des Anfalls darstellt, kann aus der obigen Untersuchung des- 
wegen noch nicht ausgesagt werden, weil die Komplexitat der gepriiften 
Erscheinung eine mehr ins einzelne gehende Ausfiihrung der Hypothese 
von der toxamischen Natur der Epilepsie noch nicht zulaBt. Die Fest- 
stellung, daB die Gesamtheit derjenigen kohlenstoffhaltigen Substanzen 
des Blutes, welche durch Phosphorwolframsaure nicht fallbar sind, 
vor den Paroxysmen und auf der Hohe derselben vermehrt ist, un- 
mittelbar nach dem Anfall rasch zur Norm zuriickkehrt und erst 
mit dem Bevorstehen eines neuen Anfalls wieder iiber das Normal- 
niveau hinausschwillt, ist zu allgemeiner Natur; die Menge der den Kom- 
plex der restkohlenstoffhaltigen Substanzen bildenden Stoffe ist zu groB, 
als daB aus dieser Feststellung heraus allein sofort Genaues iiber die 
epileptogene, die krampferzeugende, die ,,pesotoxische“ Substanz aus¬ 
gesagt werden kann. Wenn sich der SchluB aufdrangt, daB eine solche 
vorliegt, und daB sie durch die Restkohlenstoffbestimmung mitgemessen 
wird, so ist sie damit noch nicht gegeben. Aber es wird durch unsere 
Untersuchungen nahegelegt, ihre Existenz zu vermuten, und es wird 
weiter nahegelegt, basierend auf den vorliegenden Versuchen, nach ge- 
naueren Anhaltspunkten iiber ihre Beschaffenheit zu fahnden. Zu- 
nachst muB zu diesem Zwecke das bisher auf anderen Wegen zu der 
gleichen Frage gepriifte Material gesichtet werden. Es sind hier in 
erster Reihe die Hamkolloide ins Augenmerk zu fassen, von denen 
Loewe bereits die auf der Hand liegende Vermutung ausgesprochen hat, 
daB sie, um in den Harn zu gelangen, zuvor im Blute gewesen sein 
diirften. Die Briicke zwischen unseren Feststellungen einer Vermehrung 

30 * 


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444 


N. A. Serobianz: Untersuehungen Uber das Verhalten 


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des Restkohlenstoffgehaltes des Blutes, und dem Nachweis einer Ver- 
mehrung und spezifischen Toxizitat der kolloidalen Substanzen im Ham 
schlagen die Untersuehungen Mane inis iiber den Restkohlenstoff- 
gehalt des menschlischen Blutes unter anderen pathologischen Ver- 
haltnissen. Mane ini hat bereits gemutmaBt, daB es kolloidale Sub¬ 
stanzen sind, welche die Vermehrung der Restkohlenstoffzahl im Blute 
der von ihm untersuchten Kranken hervorrufen. Es wird also fur die 
weitere Forschung die Fragestellung gegeben sein: Welches ist die Sub- 
stanz bzw. die Substanzen, welche vor dem Anfall im Blute kreisen 
und als Krampfgifte zu wirken geeignet sind ? Die kolloidale Natur der 
Substanzen ist wahrscheinlich, aber an sich noch nicht ausreichend, 
urn die Richtung der weiteren Untersuehungen zu definieren. Wenn 
wir gesehen haben, daB bei der Eklampsie die pesotoxische Substanz 
durch einen oder mehrere Bausteine parenteral verdauten EiweiBes dar- 
gestellt wird, so wird zweckmaBig auch bei der Epilepsie nicht auBer 
acht gelassen werden diirfen, daB moglicherweise ein kolloidaler, gleich- 
falls unter anaphylaktoidenVerhaltnissen, vielleicht gleichfalls aus Pro¬ 
tein, gebildeter Korper ins Auge zu fassen ist. 

Ergebnisse. 

Das Studium des Restkohlenstoffgehaltes im Blute einer groBeren 
Reihe von Epileptikern hat zu folgenden Ergebnissen gefiihrt: 

1. Der Restkohlenstoffgehalt des Epileptikerblutes ist 
im paroxysmenfreien Intervall normal; seine Hohe deckt 
sich mit der von anderen Untersuchern, wie auch in eigenen 
Versuchen festgestellten Konstante. 

2. Dieses normale Verhalten der Restkohlenstoffzahl im 
Epileptikerblut beginnt spatestens 24 Stunden nach dem 
Anfall; bereits 5 Stunden nach dem Anfall ist die Vermeh¬ 
rung iiber die Norm nur eine geringe. 

3. Mit der Annaherung an einen Anfall wird dieses Nor- 
malniveau allmahlich verlassen; es ist ein Anschwellen der 
Restkohlenstoffzahl, beginnend mit dem 5. Tage vor dem An- 
falle, feststellbar; die Vermehrung der Restkohlenstoffziffer 
in dieser praparoxysmalen Periode nimmt bereits mehrere 
Tage vor dem Anfall sehr hohe Werte an; der Restkohlen- 
8toff wird in dieser Periode oft schon ebenso stark vermehrt 
gefunden, wie in den kurzen Remissionen innerhalb einer 
Paroxysmalperiode mit gehauften Anfallen (Status). 

4. Das Maximum der Restkohlenstoffzahl findet sich 
wahrend der Paroxysmen (Status, gehaufte Anfalle, schwere 
Dammerzustande; wahrend eines einzelnen Anfalles konnte 
bisher eine Blutentnahme nicht vorgenommen werden; die 


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des Restkohlenstoffs im Epileptikerblute. 


445 


vorliegendenUntersuchungen legenes jedochnahe, indiesem 
Augenblick die starkste Vermehrung der Restkohlenstoff- 
zahl zu erwarten). 

5. Die an einer groBerenZahl von Epileptikern mit Regel- 
mafiigkeit gefundenen Verhaltnisse der Restkohlenstoff- 
zahl des Blutes erweisen das Auf treten abnormer Substanzen 
im Epileptikerblut wahrend einer Praparoxysmalperiode, 
ein Anschwellen der Menge dieser Substanzen bis zu einem 
Kulminationspunkt wahrend der paroxysmalen Phase, ein 
rasches Verschwinden dieser Substanzen in der auf die Pa- 
roxysmen folgenden Zeit und ein normales Verhalten der 
Restkohlenstoffzahl, also die Abwesenheit solcher abnor¬ 
mer Substanzen, wahrend eines paroxysmenfreien Inter¬ 
vals, solange nicht weniger als 24 Stunden zuvor ein An- 
fall aufgetreten oder innerhalb der nachsten 5 Tage ein 
solcher zu erwarten ist. 

Herm Geh. Rat Prof. Dr. F le c h s i g erlaube ich mir auch an dieser Stelle 
fur die freundliche Uberlassung des Krankenmaterials sowie fur das der 
Arbeit entgegengebrachte rege Interesse nochmals verbindlichst zu 
danken. 

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446 N. A. Serobianz: Untereuchungen Uber das Verhalten des Restkohlenstoffs usw. 


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61. Voisin u. Petit, Arch, de Neurol. 29 , 527. 1895. 


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Em Fall von zirkularer Psychose, graphologisch gewiirdigt. 

Von 

Oberarzt Dr. Georg Lomer. 

(Aus der Landes-Irrenanstalt bei Strelitz [Alt].) 

Mit 8 Schriftproben. 

(Eingegangen am 3 . Oktobtr 1913 ) 

Angesichts der besonders von Robert Sommer und Kraepelin 
vertretenen Bestrebungen, ftir die mannigfachen Ausdrucksbewegungen 
des Menschen adaquate Fixationen zu finden, um diese dann wiederum 
als MaBstab der zugrunde liegenden seelischen Vorgange benutzen 
zu k6nnen, ist die bemerkenswerte Vemachlassigung der Graphologie, 
auf deren Wichtigkeit erst jungst noch Jaspers 1 ) hinwies, bedauerlich, 
wenn auch nicht weiter erstaunlich. 

Sie ist bedauerlich, denn wir haben in der Schrift den sozusagen 
naturgegebenen Niederschlag von Ausdruckskomplexen, die zudem mit 
seelischen Vorgangen in weit unmittelbarerer Beziehung stehen, als bei- 
spielsweise der aufgezeichnete Kniescheibensehnenreflex oder die sphyg- 
mographische Kurve. Doch ist sie nicht so erstaunlich, wenn man be- 
denkt, daB es sich in der Schrift, der mehr oder weniger unwill- 
kurlichen Fixierung seelischer Ausdrucksgewohnheiten, doch vor- 
wiegend um ein Gebilde recht komplizierten Aufbaues handelt, das 
— will man zu brauchbaren Resultaten gelangen — erst mehr oder 
minder wieder in seine Komponenten zerlegt werden muB. Und hier 
scheint sich eine Hauptschwierigkeit zu bergen, auf die denn auch haufig 
genug hingewiesen wurde: Um in die Beziehungen graphologischer 
Charakteristica zu den entsprechenden seelischen Urelementen eindrin- 
gen zu kdnnen, miissen erst einmal diese letzteren wissenschaftlich ein- 
wandfrei herausgeschalt sein, mit anderen Worten: muB erst eine 
wissenschaftlich brauchbare Charakterkunde vorhanden sein; und 
daran fehlt’s vorlaufig. 

Diese Schwierigkeit ist jedoch m. E. mehr scheinbar als wirklich: 
kann ich mir beim Studium eines hochzusammengesetzten Mosaik- 
gemaldes liber die Natur seiner einzelnen Komponenten nicht klar 
warden, so beschranke ich mich zunachst auf seine Hauptlinien und 

x ) Karl Jaspers, Allgemeine Psyohopathologie. Berlin 1913. Verlag von 
Julius Springer. S. 135—138. 


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G. Lomer: 


suche diese zu erfassen. Jedenfalls ware es falsch, um einer theoretischen 
Maximalforderung willen sich dem schon jetzt praktisch Erreichbaren 
vorurteilsvoll zu verschlieBen. Und das ist gar nicht so wenig. 

In der Tat ist in dieser Richtung neuerdings mehr gearbeitet und 
erreicht worden, als gemeinhin bekannt ist. Ich erinnere, von dem 
Preyerschen Werke abgesehen, nur an die vorztiglichen, exakten und 
tief schurfenden Bucher von Georg Meyer-Herzberge 1 ) und Ludwig 
Klages-Mtinchen 2 ), wie auch an das neuere Werk des Pathologen 
Georg Schneidemuhl - Kiel 3 ). Werke, die niemand libersehen darf, 
der sich mit Fragen der normalen Graphologie beschaftigen will. 

Auch wir werden im wesentlichen diese drei Autoren unserer Unter- 
suchung zugrunde legen 4 ): exakt gefundene wissenschaftliche Erkennt- 
ni8se aus dem Bereiche der normalen Schrift sind sicherlich auch das 
geeignete Sprungbrett fur die Erforschung der pathologischen. 

Zweifellos fallt dem Psychiater auf diesem — mehr kiinftigen als 
gegenwartigen — Arbeitsgebiete eine besonders dankbare Rolle zu. 
In seinen Anstalten finden sich vorzugsweise alle jene Falle zusammen, 
deren seelische Abnormitaten von der einfachen Abweichung, im Be¬ 
reiche physiologischer Streuung, bis zum pathologischen Riesenwuchs 
variieren und schon dadurch die reichste Auswahl zur graphologischen 
Untersuchung besonders geeigneter Individuen an die Hand geben. 
Vielfach spielen sich unmittelbar vor seinen Augen tiefgreifende geistige 
Umwandlungsprozesse ab, die zum Studium der graphologischen 
Parallelerscheinungen geradezu herausfordern. Ich erinnere nur an die 
zuweilen ganz rapide einsetzenden Verblodungsvorgange 6 ), an die 
pl6tzliche oder langsamere Entwicklung von das ganze Bild beherr- 
schenden GroBenideen oder an die chronischen Depressionen, die im 
zirkularen Irrsein so oft den scharf charakterisierten Gegenpol der Manie 
bilden. 

Je eindeutiger und besser bekannt die Erscheinungen eines Krank- 
heitskomplexes, je einfacher sie im Aufbau sind, um so leichter werden 
sie graphologischen Forschungszwecken dienstbar zu machen sein. 

Das Hauptgewicht aber wird — unter den Manifestationen einer 
Erkrankung — stets auf ihre Gebardensymbolik zu legen sein. Alle 
Schrift ist ja in der Hauptsache sozusagen versteinerte Gebarde. 
Wollen wir sie in ihrer individuellen Bedeutung griindlich verstehen, 

*) Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie. Jena 1901. Gustav 
Fischer. 

2 ) Die Probleme der Graphologie. Leipzig 1910. Joh. Ambr. Barth. 

3 ) Handschrift und Charakter. Leipzig 1911. Th. Grieben’s Yerlag. 

4 ) Uber weitere Quellen und iiber bereits stattgefimdene Spezialunter- 
suchungen vgl. meine groBere Arbeit: „t)ber graphologische Kennzeiohen des 
Schwachsinns“, demnachst erscheinend im „Archiv f. Psych. 

6 ) Vgl. meine oben angefiihrte Arbeit. 


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Ein Fall von zirkul&rer Psychose, graphologisch gewtlrdigt. 


449 


so ist also ihr Parallelismus zur Gebardensprache des Individuums vor 
allem aufzuzeigen. Erst in zweiter Lime — jeder Form entspricht ein 
Inhalt — ist auf das treibende geistige Element zu schlieflen, das sich 
erfahrungsgemaU hier in diese, dort in jene Form kleidet. 

Und damit riihren wir an die Bedingtheit alles psychologischen Er- 
kennens uberhaupt, das ja immer und durchaus nur ein Erkennen 
durch AnalogieschluB, gewissermaBen ein Erkennen aus zweiter Hand 
sein kann. 

Zu den bestbekannten und in seinen Ausdrucksbewegungen scharfst 
umrissenen Erscheinungskomplexen gehdrt ohne Zweifel der m anise he. 
Es ist daher gerechtfertigt, wenn wir einmal einen markanten Fall aus 
diesem Krankheitsgebiete herausgreifen, um an ihm die innige Bezie- 
hung der SchriftauBerungen zum jeweiligen Geisteszustand iiberzeugend 
darzulegen. Der im Interesse der Sache in extenso zu behandelnde Fall 
folgt hier. 

Es handelt sich um den Kranken G. Z. 1 ). 

Hereditare Belastung in keiner Richtung nachweisbar. Doch tragt die Mutter 
den gleichen — ziemlich seltenen — Geburtsnamen wie der Vater und entstammt 
einem entfemteren Zweige derselben Familie: mbglichweise liegt also eine gewisse 
Inzucht vor. Ein Bruder des Pat. macht einen leicht beschrankten Eindruck. Der 
Kranke selbst war ein begabtes Kind und sehr guter Schuler. Dabei lebhaft und mun- 
teren Temperaments. Von Anfang an besonders begabt fiir Klavier und Gesang. Er 
gehorte in der Regel zu den besten in der Klasse, war dementsprechend sehr selbet- 
bewuBt und konnte, wie es heiBt, „bei Nichtbeachtung jahzomig“ werden. Er 
zeigte friih ein selbstandiges Wesen, war, wie er selber angibt, „am liebsten allein, 
und ein Gegner der Schiilersiinden und Jugendsiinden 4 *. In einem mit 11 Jahren 
verfaBten Lebenslauf heiBt es: „Was aus mir fur ein groBer Gelehrter werden wird, 
wird die Zukunft lehren, Minister mochte ich aber nicht geme werden. “ 

Mit 20 Jahren Abiturium. Dann Mediziner. Auf der Universitat fleiBiger 
Arbeiter. Z. besaB, nach dem Bericht des Bruders, als Student „eine seltene Gabe, 
seine Mitmenschen zu lenken und zu leiten“. 

Mit 23 Jahren, auf einem Ferienfest im Elternhaus, zum erstenmal psy- 
chischauffallig. Es waren eine groBere Anzahl Verwandter im Hause. Z. kam 
mit einem seiner Bruder von einem Ausflug heim, auf dem sie ein paar Glas Bier 
und mehrere Schnapse getrunken hat ten. In lustiger — also wohl angeheiterter — 
Stimmung veranstaltete er ein Tiinzchen und forderte seinerseits eine junge Ver- 
wandte auf, die es ihm jedoch absclilug, da er nach Bier roche. Hieriiber erregte 
sich Z. iiber Gebiihr, trank bei der darauffolgenden gemeinsamen Tafel in kurzer 
Zeit eine Flasche Wein fiir sich aus, erhob sich und hielt eine verletzende Rede gegen 
jene Verwandten, die er einfach des Hauses verwies. Man nahm ihn emst und verlieB 
tatsachlich das Haus. Die naheren Angehorigen waren sprachlos, da man ihn so 
nicht kannte. Z. war derart berauscht, daB er miihsam von den Geschwistem zu 
Bett gebracht wurde. 

Von Interesse ist die Schilderung und Verteidigung dieses Vorganges, wie sie 
Z. heute selber nachtraglich gibt. „Diese Verwandten", schreibt er, „weilten zu Be- 
such im elterlichen Hause und benahmen sich meinem guten Vater gegeniiber sehr 
schmeichlerisch, liebenswiirdig und glaubten nicht, daB ich iiber ihre Falschlicit 

J ) Name verandert. 


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G. Lomer: 


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und hinterlistiges Verhalten orientiert war. Die eine Tante hatte namlich meinem 
altesten Bruder B., der Bankbeamter war, eine groBere Summe Geldes zur Ver- 
fiigung gestellt mit der Weisung, damit zu spekulieren. Die Tante wollte mit dem 
durch schlaue Geschaftskniffe verdienten Geld noch mehr verdienen und brauchte 
dazu einen ,Bankier 4 — meinen Bruder. Leider hatte mein Bruder Pech, die 
Sache wurde bekannt, mein Bruder verlor seine Stellung ala Prokurist und starb 
bald darauf an Diabetes. Meine Eltem hatten sich dariiber sehr alteriert imd waren 
tief traurig. Bei mir hatte sich deshalb schon lange ein Groll gegen alle Verwandten 
heimlich entwickelt und dieser Groll kam bei diesem Besuch der Onkel und Tanten 
zum Ausbruch: ich warf kurzer Hand die ganze Gesellschaft aus meinem Elternhaus 
hinaus und verbot ihnen den ferneren Zutritt. Mein Vater hielt mir am anderen 
Tag eine Strafpredigt, zeigte mir aber seine vomehme Gesinnung dadurch, daB er 
mir sein Wohlwollen nicht entzog.“ 

Die Art, wie sich jenes Ereignis in der Erinnerung dee Kranken zeigt, differiert 
also wesentlich von der zweifellos objektiveren Schilderung des Bruders. Berner- 
kenswert ist dabei das vollige Ubergehen des eigenen Rauschzustandes, das ego- 
zentrische Betonen der inneren Berechtigung, so zu handeln, wie es geschehen, und 
die vollige Einsichtslosigkeit in bezug auf die moralische Wertung des Ganzen. 

Die medizinischen Priifungen bestand Z. mit Auszeichnung. Im Februar 1894, 
mit 24 Jahren, Staatsexamen und Promotion. Wahrend des arztlichen Einjahrigen- i 

halbjahres wurd^ Z. aktiver Militfirarzt und wurde bald zu einem Feudalregiment / ' 
kommandiert. November 1894 zum Assistenzarzt befordert. ' jf 

tJber seine damalige Lebensweise ist nur bekannt, daB er wegen seiner geselli- 
gen Talente im Kasino sehr geschatzt war und es durch seine arztliche Tiichtigkeit 
zum hausarztlichen Berater der meisten Offiziersfamilien brachte. 

Nach funfvierteljahriger militararztlicher Tatigkeit kam es zu einem zweiten 
bemerkenswerten Zwischenfall. Z. folgte der Einladung einer Tante zur Silber- 
hochzeit in eine kleine Stadt. Er kam in Uniform. Ein einspanniges Geschirr, das 
der Gastgeber zur Abholung an die Bahn geschickt, liefi er wieder wegfahren mit 
der Begrxindung, er fahre als Offizier nur zweispannig. Er fuhr dann in einem 
selbstbestcllten zweispannigen Landauer vor dem Hause des Gastgebers vor, 
trank nachher bei der Tafel sehr viel, „hielt eine hochtrabende Rede und warf, wie 
es zuweilen in Offizierkasinos Sitte ist, die leeren Sektglaser in die Ecke. Da dies 
in dem kleinstadtischen Kreise unangenehm auffiel, rief ihn sein Vater hinaus und 
stellte ihn zur Rede 44 , allerdings ohne Erfolg. „Dieser Vorfall 44 , so schreibt der 
Bruder, „versetzte seinen Vater in groBe Sorge, zumal er sich auch geiegentlich 
der kurzen oft nur Stunden wahrenden Besuche im Elternhaus sehr auffallend und 
aufgeregt benahm. 44 

In einem selbstverfaBten Lebenslauf spricht Z. selbst von seinen „Offiziers- 
matzchen 44 aus damaliger Zeit, „die er sich bei dem feudalen Kavallerieregiment 
angewohnt hatte 44 , und fiigt, in halbwegs rich tiger Einschatzung seines damaligen 
Auftretens liinzu: „Vielleicht ware es damals an der Zeit gewesen, mein Vater hatte 
mir die Uniform abzulegen befohlen und mich veranlaBt, mich als praktischer Arzt 
in meiner Heimat niederzulassen! ?“ Doch ist diese Einschatzung, wie gesagt, nur 
halbwegs richtig. 

Das auBerlich glanzende Leben im Offizierkorps, mit seinen alkoholischen und 
anderen Verfiihrungen, ist ja zweifellos fiir pathologische Charaktere nicht der 
geeignete Boden. Die endogene Psychose, welche bei Z. vorliegt, ware aber mit 
Sicherheit auch in einer anderen, soiideren Umwelt zur Entwicklung gekommen. 

Der geschildcrte Auftritt im Elternhause war vielleicht, das Auftreten bei der 
Silbcrhochzeit, im Verein mit den iibrigen Andeutungen, sic her eine der ersten 
Manifestationen der psychotischen Anlage. 


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Ein Fall von zirkul&rer Psychose, graphologisch gewtlrdigt. 


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Z. wechselte als Oberarzt die Gamison und will an dem neuen Standort infolge 
einer India kretion einDuell gehabt ha ben, wobei seinGegner fiel. 1898—1900 war 
er ana C.-Krankenhaus in D. kommandiert, wo er unter Hofrat X. eine treffliche 
chirurgische Auabildung empfing. 

Seine militarischen Zeugnisse iiber arztliche und persbnliche Eigenschaften 
waren state vorzuglich. Als ihm „durch eine unfeine Schiebung im Avancemont 
ein Oberarzt der Reserve als Stabsarzt vor die Nase gesetzt 44 wurde, fiihlte er sich 
„berechtigt, Krach zu machen 44 . Als Stabsarzt kam er zum Leibregiment, verblieb 
also in dem bisherigen militarischen Feudalkreis. „Der Oberst des Leibregiments, 44 
so schreibt er selbst, „begrtiBte mich sehr kameradschaftlich, es wurde aber der 
Fehler gemacht, daB ich den Offizieren als Dr. Z. vorgestellt wurde, was ich sofort 
energisch in „Stabsarzt Z.“ zu korrigieren bat. Ich hielt mir Pferde, trug Lack- 
stiefel, aB taglich im Kasino und hatte Gelegenheit, meiner Passion, den Sanitftts- 
of f izier herauszubeiBen, griindlich nachzugehen. Leider wurde dies mein Bestreben 
am meisten vora Sanitatsoffizicrkorps verkannt und verurteilt. Es kam zu 
heftigen, peinlichen, haBlichen Auftritten, aus denen ich gottlob iaimer als 
Siegei hervorging und als Kluger nachgebend den Sanitatsoffizieren aus dem 
Wege ging und mit Gardeoffizieren lieber verkehrte. Bei den Gardeoffizieren 
fand ich Verstandnis und damit neuen Mut, meine Ansichten riicksichtslos 
dure hzudriic ken. 44 

Mustem wir diesen letzten Abschnitt, so ist die pathologische Steige- 
rung nicht zu verkennen. Psychisch suspekt ist bereits das angebliche 
Duell und der — gelegentlich der (angeblichen) Avancementsschadigung 
gemachte — ,,Krach“. Noch mehr die geschilderte Szene bei der Vor- 
stellung im Offizierkorps des Leibregiments. Zum wenigsten lafit alles 
dies auf eine gewisse Reizbarkeit des Naturells schlieBen, die — wie 
aus obigem hervorgeht — schlieBlich auch zu emsteren Reibungen mit 
den militararztlichen Kollegen gefUhrt hat. 

Die zwischen Offizieren und Sanitatsoffizieren ja nicht so seltenen 
dienstlichen Eifersiichteleien m6gen auch mehr oder weniger mit- 
gespielt haben. Jedenfalls nahm man im Offizierkorps an Z.s Art zu- 
nachst anscheinend keinen AnstoB, und hielt auch im Sanitatskorps fur 
personliche Arroganz, fur unliebsames Mehrgeltenwollen, was vermut- 
lich das Wetterleuchten manischer oder besser: hypomanisch-pathologi- 
scher Ztige war. Dazu kam die unzweifelhafte dienstliche und arztliche 
Tiichtigkeit Z.s, der chirurgische Schneid, die gesellige Begabung — 
Vorziige, die im Sommer 1900 ihre Kronung fanden durch die Designie- 
rung Z.s zum stellvertretenden Leibarzt des Landesherm. 

Diese Emennung wurde indessen ruckgangig gemacht. Weshalb, ist 
uns nicht bekannt. Der Kranke selbst behauptet heute: infolge von 
Intrigen. Doch ist seinen Behauptungen, wie die Erfahrung lehrte, 
mit MiBtrauen zu begegnen. Jedenfalls leitete sich mit dieser Wider- 
rufung der Abstieg seiner bis dahin glanzenden Laufbahn ein. 

Es versteht sich wohl, daB dieser MiBerfolg flir ihn eine groBe Ent- 
tauschung war. Stabsarzt B. spricht sogar gutachtlich von ,,einem 
melancholischen Gemiitszustand 44 . Hat er, was moglich ist, recht, so 


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452 


G. Lomer: 


ware die zirkulare Natur der Verstimmungen des Kranken bereits fiir 
jene Zeit einwandfrei bezeugt. 

Rein auBerlich betrachtet, bedeutete jedenfalls das Jahr 1900, im 
ganzen genommen, den Hohepnnkt seines — dienstlichen wie privaten — 
Lebens. Auch ist anzunehmen, daB damals die gesunden Wesenszuge 
noch machtiger waren als die kranken, und es ist daher von besonderem 
Werte, daB wir aus dieser wichtigen Periode eine Schriftprobe besitzen. 
Sie mag hier zunachst, unter Anfugung der spateren Proben, folgen. 
Samtliche Proben sind in der Wiedergabe wesentlich verkleinert. 

Betrachten wir zunachst die Schriftproben 1 und 2. Sie entstammen 
beide einem und demselben vertraulichen Briefe, den Z. im August 



ii. 

(August 

1900 .) 








1900 aus dem Manover nach Hause richtete. Benutzt ist ein gewdhn- 
licher Briefbogen ohne Liniierung. Probe 1 stellt den Anfangsteil, 
Probe 2 den SchluBteil des Briefes dar. Ortsbezeichnung und Datum 
sowie das letzte Wort der Anrede in 1 wurden hier weggelassen. 


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453 


Ein Fall yon zirkul&rer Psychose, graphologisch gewttrdigt. 


Die graphologische Betrachtung ergibt folgendes Bild: 


Gesamtanordnung der Schrift klar und iibersichtlich. Rand verschieden 
breit, bald breiter, bald schmaler werdend, doch im ganzen mehr breit als schmal. 
ZeilenschluBrand desgleichen. Zeilenabstand ziemlich weit; die Zeilen greifen 
nicht ineinander liber, Wortabetand wechselnd, nach dem Briefende zu weiter 
werdend (vgl. die ersten drei Worte von I mit dem SchluBabsatz von II). Auch der 
Buchstabenabstand ist ziemlich weit. Zeilenrichtung in Zeile 1 — der Uber- 
Bchrift — horizontal; in Zeile 2 zeigt sie einen leisen Anstieg. In Zeile 3 sind die 
ersten drei Worte dachziegelfdrmig fallend geschrieben, die iibrigen ansteigend. 
Die ganze Probe 2 zeigt deutliches Aufsteigen. 

AusgesprocheneSchragschrift: Neigungswinkel in dertJberschrift undim 
Anfang der ersten Zeilen 46—55 Grad. Er wird nach dem Zeilenende zu kleiner 
und betragt am Briefende (vgl. Zeile 8—10) nur 40 Grad. 

Die Schrift ist ziemlich verb unden. Das kleine d stets mit dem Folgebuch- 
staben verkniipft, der i-Punkt zweimal desgleichen (Zeile 3, Zeile 7). Um den 
Verbundenheits- oder Getrenntheitsgrad zahlenmaBig auszudriicken, 
habe ich in der oben angefiihrten Arbeit ein Verfahren angegeben; 

Man driickt ihn aus, indem man das Verh&ltnis der Anstrichzahl zur 
Zahl der Schriftkontinua 1 ) berechnet. Bei der Normalschrift, wie sie imAJl- 
tagsleben tausendfach auftritt, kommt nun nicht etwa je ein Anstrich auf je ein 
Kontinuum, sondern der Regel nach ein Anstrich auf mehrere Kontinua, 
ein Verhaltnis, das nach beiden Seiten variieren kann. Will man es in einer Formel 
ausdriicken, so kann man sagen: Z. A. : Z. C. = 1 : x, wobei unter x stets eine 
groBere Zahl als 1 verstanden wird. Fur das Wort „Liebe“, Zeile 1, lautete dann 
Z A 3 1 

die Formel: - - — - = - . In Worten: die 6 Kontinua des Wortes wurden mit 

Z. C. 6 2 


drei Anstrichen gezogen. Auf 1 als Zahler zuriiekgefiihrt, kommt das Verhaltnis 
1 : 2 heraus. 

Auf diese Weise laBt sich der Verbundenheitsgrad eines Schriftstiickes Wort 
fiir Wort berechnen. Ist es klein, so berechnet man dabei samtliche Worte und 
nimmt dann den Durclischnitt. Ist es groB, so nimmt man etwa ein Dutzend Worte 
vor, um dann den Durchschnitt zu nehmen. 

Auf diese Art berechnet, bekommen wir fur die Pro ben 1 -f 2 die Formel: 

Z. A . 11,81384 o( j er ^ m jt einem Anstrich werden in Probe 1 + 2 


Z. C. 24 2,0315 

durchschnittlich 2,0315 Schriftkontinua gezogen. 

Der Schrifttyp ist fast ein reiner Girlandenduktus (d. h. die Basisbindungen 
sind bogenfomig), der sich besonders schon in den m und n, doch auch in den 
meisten anderen Basisverbindungen ausspricht; zuweilen an Orten wo er auffallig 
wirkt (siehe das e in Wort 1, Zeile 4). Nur seiten findet sich Winkelbindung 
(z. B. in n, Wort 2 Zeile 3 und im u Zeile 9) oder Andeutung von Arkaden 
(z. B. im ii, Zeile 9). 

Schriftdruck verstarkt sich nach dem Briefende zu. Strichbreitenun- 
terschied ausgepragt. Die Worte der ersten Zeile verkleinern sich nach dem Ende 


x ) Unter Schriftkontinuum wird ein linearerZusammenhang verstanden, 
der nach der schulmaBigen Schreibweise gewohnlich in einem Zuge geschrieben 
wird. Jedes Wort zerfallt in solche linearen Zusammenhange. Ja, auch viele 
Buchstaben. Die Buchstaben m, n, o, a, p, h, usw. bilden beispielsweise je ein 
Kontinuum. Die Buchstaben i, u zwei. Die Buchstaben ii, a drei Kontinua. 

Die Unterschiede der verschiedenen Schreibsysteme sind zu geringfugig, um 
eine wesentliche Fehlerquelle zu bedingen. 


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454 


G. Lomer: 


zu; auch einige weitere Worte zeigen diese Tendenz (Wort 3, Zeile 6; Wort 1, 
Zeile 10, usw.). Hier und da ist auch die entgegengesetzte Tendenz leicht ange- 
deutet (z. B. letztes Wort, Zeile 3), doch selten. Im ganzen tritt gegen das Ende 
des Schrift8tiickes eine sehr deutliche SchriftvergroBerung hervor. 

Die wesentlichsten Komponenten der SchriftgroBe sind die Langen und Breiten- 
verhaltnisse. Hier die Nebeneinanderetellung der entsprechenden Abmessungen 
von Zeile 2 und 3 eincr- und Zeile 8+9 andererseits. 



Tabelle A. 

Zeile 2+3 

Zeile 8 + 


langenlosen Kleinbuchstaben 

2,7 mm 

4,2 mm 


Oberlangenbuchstaben 




a) Majuskeln 

9,0 mm 

19,0 mm 

Durch- 

b) Minuskeln 

6,3 mm 

9,0 mm 

schnittslange > 

Unterlangenbuchstaben 
a) Majuskeln 

_ 


der 

b) Minuskeln 

9,4 mm 

9,5 mm 


Do ppel langen buchstaben 1 ) 




a) Majuskeln 

17,0 mm 

18,5 mm 


b) Minuskeln 

10,7 mm 

16,9 mm 


Bei diesen Langenmessungen wurde selbstverstandlich nur der jeweilige Buch- 
stabenkorper gemessen, und zwar nicht etwa in der Vertikalen, sondem in seinem 
wirklichen Schragvedauf; die Beizeichen (Striche auf dem u, a, u-Haken usw.) 
auBer acht gelassen. 

Das ziffernmaBige Ergebnis ist interessant genug, langenlose Kleinbuchstaben, 
Oberlangenminuskeln und Doppellangenminuskeln sind in Zeile 8 + 9 etwa um 
ein Dr it tel des alten Wertes gewachsen; die Oberlangenmajuskeln sogar um 
etwa das Doppelte. Ungefahr gleichgeblieben sind sich dagegen die Unter- 
langenminuskeln und die Doppellangenmajuskeln. 

Es ergibt sich also, daB das Wachstum der Schrift hauptsachlich den Klein- 
buchstaben sowie den Oberltingenformen zu danken ist. Die im Briefanfang weit 
kleineren Oberlangen erreichen gegen das Ende die Lange der Unterlangen. 

Es ist nun erforderlich, auch die Breitenverhaltnisse in gleicher Weise zu 
messen. Dabei kann man theoretisch verschieden verfahren. Zunachst jedoch ist 
die Vorfrage zu beantworten: wenn es sich um eine verbundene Buchstabenfolge 
handelt, wo beginnt da der einzelne Buchstabe? Und wo hort er auf? 

Bei Wortanfangsbuchstaben erledigt sich die erstere, bei Wortendbuchstaben^' 
die letztere Frage von selber. Auch wo der Schreibweg innerhalb eines Wortea 
unterbrochen ist, gibt es kaum einen Zweifel: Striche, die nicht vorhanden sindt 
konnen auch nicht in die Schriftmcssung einbezogen werden. i 

Nun haben die Uberleitungsziige, die Buchstaben mit Buchstaben verbindeii, 
mit der hier in Diskussion stehenden SchriftgroBenkomponente (Lange x Breiti) 
eigentlich zwar nichts zu tun. Andererseits waren sehr viele Buchstaben in ihiw 
Gestalt unvollkommen, ja verstiimmelt, wenn man ihnen diesen t)berleitungsz\lg 
ganz oder teilweise abschneiden wollte; auch ist letzterer ganz und gar nicht be-, 
deutungslos fiir den Eindruck des mehr oder weniger „Breiten“ oder „Schmalen < ‘, 
den ein Buchstabengebilde macht. So entschlossen wir uns denn zur Einbezie- 
hung der Uberleitungsstriche, und dies in der Weise, daB wir die jeweilige Grenz^ 
linie zwischen zwei Buchstaben durch die Mitte ihrer Verbindungslini^ 
fallen lassen. f 

Damit kommen wir zur Hauptfrage: wie ist nun die Breite selbst zu messen \ 

x ) Buchstaben mit Ober- und Unterlangen. 


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(Ein Fall von zifkularer Psychoses graphologisch gewllrdigt. 


455 



Verbinden wir, was nahe lage, einfach Grenzpunkt mit Grenzpunkt, wie z. B. 
am o und n im Wort j.hoffentlich 4 * 1 ), Zeile 4, so haben wir zwar in der Verbindu 
der Pnnkte links und rechts vom n zweifellos die groBte Breite des Buchstal 
gemessen. Aber schon beim o ergibt sich ein FehlschluB: die Verbindung der H^ic 
Grenzpunkte links und rechts vom o miBt, wie der Augenschein lehrt, keineswegs 
die groBte Breite des o; sie lauft vielraehr — dank der links untcn beginnenden, 
rechts oben weiter laufenden Schriftlinie des Buchstabens — fast der vorhin ge- 
messenen Langslinie parallel und ist weit entfemt, von der Breite des Buchstabens 
ein zutreffendes Bild zu geben. 

Auch bei anderer Gelegenheit tritt die Mangelhaftigkeit dieses Prinzips zutage. 
Nehmen wnr z. B. das k in „kann“ (Zeile 4). Die Kreuzchen bezeichnen die Buch- 
stabengrenzen, wie wir sie fassen wollten. Aber auch hier gibt die Verbindung 
beider Grenzpunkte nur sehr unvollkommen die Breite des Buchstabens an. Der 
^tiacli rechts oben weit ausladende Toil des letzteren ist gar nicht beriicksichtigt 
unjfgefcade er gibt dem Buchstal>en sozusagen die Physiognomic. Wir sehen also, 
\ —je > lichen sich noch weit mehr Beispiole aufzeigen — daB wir mit diesem MeBprinzip 

J ni£ht a<Lskommen diirften; und fragen wir uns, wo denn der alien MiBerfolgen ge- 

" mtins^tne Fehler steckt, so lautet die Ant wort: er liegt in der allzu variablen, un- 

bes1«ndigen und unmaBgeblichen Lage der Querachse, die wir zur Messung benutz- 
ten. Es heiBt also, ein stabileres Prinzip finden! Und ein solches finden wir meines 
Erachtens nur, wenn wir die bei der Langenmessung verwandte groBte Langsachse 
des Buchstabens, die sozusagen sein Riickgrat bildet, auch zum Riickgrat unserer 
Quermessung machen. 

Dabei w'ird am zweckmaBigsten so verfahren: Man zieht zu jeder Seite der 
groBten Langsachse, dieser parallel, cine Linie, deren erste— von derL&ngs- 
achse aus gesehen — durch den distalsten Anfangspunkt, deren zweite durch 
den distalsten Endpunkt des Buchstabens lauft. Der kiirzeste Abstand die- 
- s^r ^arallelen ist dann die zu messende Breite. 

/ yehr oft werden diese Parallelen durch den richtigen Anfangs- und Endpunkt 
I d ;s buchstabens gehen, doch nicht immer. Das zeigt ein Beispiel: Im groBen H 
v.ypn Wort 1, Zeile 4, miindet im y die (gedachte) groBte Langsachse, durch x 
lilOft die erste, durch z die zweite Parallele dazu. X lauft aber keineswegs durch 
cl“n Anfangspunkt des H, sondern durch einen darauf folgenden, zeitlich spa- 
;tcren. \ Der dicke Verbindungsstrich zwischen x und z veranschaulicht die ge- 
*suchteM Breite. Die Querachse stcht also rechtwinklig auf der L&ngs- 
Vchs/; das ist eine feste geometrische Beziehung, die sich nicht andert. — 
v^Auf diese Weise gelangen w r ir nun zu folgender Tabelle 2 ). 

Tabelle B. 




Zeile 2 -f 3 

Zeile8 -f 9 


’ Langcnloscn Kleinbuchstaben etwa 
Oberlangenbuchstabcn 

2,3 mm 

3,7 mm 


a) Majuskeln 

4,25 mm 

4,6 mm 

Durch - 

b) Minuskeln 

2,8 mm 

3,3 mm 

schnittsbreite \ 

Unterlangenbuchstaben 
a) Majuskeln 

_ 

_ 

der 

b) Minuskeln 

3,0 mm 

3,0 mm 2 ) 


Doppellangenbuchstaben 




a) Majuskeln 

23,0 mm 3 ) 

3,0 mm 2 ) 


b) Minuskeln 

2,5 mm 

3,0 mm 

*) V T gl. die 

kleinen Kreuze. 




2 ) Die Beizeichen wurden nicht beriicksichtigt. 

3 ) Es handelt sich nur um je einen Buchstaben. 


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456 


G. Lorner: 


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Wir sehen also, daB auch die Breitenzunahme in erster Linie aufs Konto 
der Kleinbuchstaben und der Oberlangenbuchstaben kommt, wahrend die Unter- 
und Doppellangenbuchstaben sich im ganzen gleichgeblieben sind. Sicher nicht 
im Sinne einer Verkleinerung zu deuten ist der Unterschied in der Breite der 
Doppellangenmajuskeln, da es sich hier nur um je einen einzigen Buchstaben 
handelt, aus dem sich so weitgehende Schliisse keinesfalls folgem lassen. 

Mit der Lange und Breite haben wir zwei wesentliche Komponenlen der 
BuchstabengroBe gemessen 1 ). Wollen wir nun, im Sinne praktischer Vereinfachung 
und Kiirzung, beide Tabellen in einer einzigen vereinigen, so ergibt sich, unter 
Multiplikation von Lange und Breite, folgender SchriftgroBenkoeffizient: 

Zeile 8 + 9 
( 4,2 • 3,7) - 15,54 

(19,0 • 4,6) =87,4 
( 9,0 • 3,3) 29,7 

( 9,5 - 3,0) = 28,5 

(18,5 • 3,0) = 55,5 
(16,9 • 3,0) = 50,7 

Deutlicher noch als aus A und B ist aus Tabelle C die GroBenzunahme der 
Schrift ersichtlich. 

Wenden wir uns nun wieder der Betrachtung der ganzen Schriftprobe zu. 

Die GroBbuchstaben stehen zu den Kleinbuchstaben in sehr ver- 
schiedenem Verhaltnis: bald iiberschreiten sie nicht eine maBige und bescheidene 
GroBe (siehe das I, Zeile 2; das E und A, Zeile 3; das Z, Zeile 5), bald steigern 
sie sich (siehe das L, Zeile 1; das F, Zeile 8) oder nehmen gar eine ganz exzeasive 
GroBe an (wie im F, Zeile 3). 

Ihre Form zeigt vielfach personliche Eigenart (besonders schon im vor- 
genannten F) und Vereinfachung (so im T, Zeile 1; im V, Zeile 7; in den G, 
Zeile 9 und 10). Das Dach des F (Zeile 3) ist zu einem langen, fast wagerechten 
Strich, mit leichter Girlandenandeutung am Anfang und kurzem Riicklauf am 
Ende, ausgezogen. Der Strich iibcrdacht fast das ganze Wort sowie einen Teil 
des vorhergehenden Wortes. Dasselbe gilt, in kleinerem Umfange, fur das T in 
Zeile 1. 

Bald werden deutsclie, bald lateinische Typen gebraucht (vgl. die F, 
Zeile 3 und 8; die W, Zeile 2 und 5). 

Ahnliche Verhaltnisse herrschen bei den Kleinbuchstaben. Ihre GroBe 
wechselt durchweg sehr, oft im gleichen Wort, wo sie oftmals kleiner wird (siehe 
Wort 1, Zeile 1; Wort 3, Zeile 6; Wort 1, Zeile 10 u. a.), und nur ausnahmsweise 
groBer (Wort 3, Zeile 7; letztes Wort, Zeile 3). 

Deutsche und lateinische Buchstaben wechseln in bunter Reihe, besonders 
im e, r und h. Zuweilen ist selbst die lateinische Form noch unter sich verschie- 
den. Man vergleiche das korrekte h in „habe“, Zeile 2, mit dem sonst regelmaBig 
gebrauchten. 

*) Am idealsten ware natiirlich, zweeks GroBenbestimmung, die Messung des 
ganzen von der Feder zuriickgelegten Schreibweges. Bis jetzt existiert hierfiir 
jedoch kein exaktes Verfahren. 


Durch- 

schnittlicher 

GroBen- 

koeffizient 

der 


Tabelle C. 

Zeile 2 + 3 

Langenlos. Kleinbuchst. ( 2,7 • 2,3 ) = 6,21 

Oberlangenbuchstaben 

a) Majuskeln ( 9,0 • 4,25) = 38,25 

b) Minuskein ( 6,3 • 2,8 ) — 17,64 

U nterlangenbuchstaben 

a) Majuskeln — 

b) Minuskein ( 9,4 • 3,2 ) = 28,2 
Doppellangenbuchstaben 

a) Majuskeln (17,0*23,0 ) = 391,0 

b) Minuskein (10,7 • 2,5 ) = 26,75 


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Ein Fall von zirkularer Psychose, graphologisch gewtlrdigt. 


457 


Auch hier t re ten gelegentlich Kiirz ungen auf (z. B. im i, Zeile 7, das nur aus 
Grundstrich und Punkt besteht; im r, Zeile 8). Doch bleiben die Buchstaben 
immer deutlich lesbar, selbet da, wo die Kiirzung starker ist, als eigentlich er- 
laubt (im r, Zeile 5; im letzten n, Zeile 5). 

Personliche Eigenart in der Form ist unverkennbar vorhanden (be- 
sonders schon in den k, Zeile 4 und 6). Doch ist die individuelle Gestaltung in 
gewissen Fallen unschon. So vor allem in den in zwei Grundstriche geteilten h, 
wie es Zeilen 2, 3, 8 und 9 besondere gut zeigen. Neben den beiden lateinischen 
h-Formen figuriert auch die deutsche, doch erst gegen Ende des Schriftstiickes, 
wo sie am Ende der Zeilen 4, 7 und 8 vorkommt. Da die Schrift nach einem 
feststfehenden Gesetze gegen Ende der Worte, Zeilen und Seiten zwang- 
loser, natiirlicher wird, ist ohne weiteres anzunehmen, daB die erwahnte 
haBliche h-Form erst kiinstlich angewohnt ist. 

tJbrigens ist dieses h ein gutes Beispiel fur den auBerordentlichen GroBen- 
und Formwechsel vieler Klein buchstaben: man vergleiche die bald mehr rund- 
lichen, bald mehr spitzigen h-Formen in Zeile 1, 6 und 8 

Die Schleifenweite ist durchschnittlich gering, und zwar in Ober- wie 
Unterlangen. Sehr oft fehlen die Schleifen ganz (z. B. im L, Zeile 8) oder sind zu 
einem dicken Strich verschliffen (vgl. das drittletzte und letzte Wort in Zeile 2, 
das F in Zeile 3, die beiden letzten Worte von Zeile 4 usw.). Auch besitzt keines 
der h eine Schleife (ausgenommen letztes h, Zeile 4). 

Die SchluBschleife in h und g bleibt, wo der Buchstabe am Wortende steht, 
nach links manchmal offen (vgl. Zeile 3 und 4); doch handelt es sich hier um das 
unverbildete h. 

Ein paarmal sind die Klein buchstaben im Grundstrich kurz abgesetzt (die 
ersten i in Zeile 1 und 2, das letzte i in Zeile 6) oder stehen gar ohne An- und Ab- 
strich ganz allein (das o, Zeile 5; das i, Zeile 4). 

Das k in Zeile 4 iiberdacht den folgenden Buchstaben. Die kleinen a in Zeile 2 
sind zugeschliffen. Meist sind die kleinen a und o oben geschlossen, doch nicht 
immer (vgl. das a in „kann“, Zeile 4; das o in Zeile 6). Geschlossen ist auch das 
groBe A (Zeile 3). 

Das t wird in der Regel durch einen kurzen, kraftigen Haken geschlossen 
und zeigt alsdann fast durchweg einen gleichsam bekraftigenden Querstrich durch 
den oberen Buchstabenkorper. Dieser Querstrich ist meist kurz, kraftig, nicht 
sehr hoch, sondem stets in die Buchstabenspitze gesetzt und abwarts gerichtet. 
Einmal, in Zeile 8, ist er etwas langer, diinner und verlauft etwa wagerecht. Auch 
in Wort 1, Zeile 3, zeigt er Abweichungen: er ist langer als im Durchschnitt, ver- 
starkt sich nach dem Ende zu und ist nach oben konvex. Bemerkenswerterweise 
steht dieser Querstrich nie am Zeilenende. Ein paarmal ist er ganz weggelassen, 
so in Zeile 4, sowie im letzten Wort, Zeile 3. Auch im letzten Wort, Zeile 6, ist 
er nicht vorhanden; statt dessen ist der gewohnliche SchluBhaken zu einer star- 
ken linkslaufigen Schleife ausgezogen. 

Ahnliche Verhaltnisse walten im SchluBteil des f ob. Es besitzt eine sehr 
kraftig entwickelte SchluBschleife (Wort 1, Zeile 4) oder doch einen aus einer 
verschliffenen Schleife gebildeten starken Querriegel (Wort 3, Zeile 5). Schwacher 
gepragt ist dieser im groBen F (Zeile 3). — 

Die Wortanstriche sind von wechselnder Lange. In den ersten Worten 
von Zeile 2, 3, 5, 6, 9 sind sie von inittlerer Entwicklung. Im ersten Wort von 
Zeile 10 langer. In der Mehrzalil der iibrigen Worte sind sie kurz bis sehr kurz, 
ja fehlen in manchen Worten. Gelegentlich beginnt der Anstrieh mit einem kleinen 
Hakchen (z. B. Wort 1, Zeile 5). Ein paarmal zeigt der Anstrieh gebogenen Schwung 
(so im groBen Anfangs-L, Zeile 1 und 8; im kleinen z, Zeile 6; im b. Zeile 7). 

Z. f. d. p. Neur. u. Psych. O. XX. 31 


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G. Lomer: 


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Wortendstriche iiberwiegend kurz. Sie endigen teils abgebrochen (z. B. 
letztes Wort, Zeile 2; letztes Wort, Zeile 5; 2. und 3. Wort, Zeile 7; vgl. auch 
die Endigung des h. Wort 1, Zeile 4), teils leicht zugespitzt (Wort 6, Zeile 2; Wort 4, 
Zeile 3; Wort 2, Zeile 8); selten etwas langer, wie in Wort 3, Zeile 5, wo der End- 
strich mit einem Hakchen endet. 

Zweimal, am Ende von Zeile 4 und 6, ist der Endstrich mit weitem Schwunge 
zu einem in scharfer zentripetaler Spitze auslaufenden Schluflstrich ausgezogen. 
Einen ebensolchen SchluBstrich zeigt die Unterschrift, und eine Andeutung da- 
von der SchluB von Zeile 8 wie auch Wort 1, Zeile 9. 

Beizeichen vollstandig gesetzt. Die — anfangs punktformigen, dann strich- 
formigen — i-Punkte stehen in sehr wechselnder Hohe; man vergleiche das erete 
i in Zeile 2 und 3 mit den i in Zeile 5! Der Punkt ist entweder in die Verlange- 
rung des Grundstriches oder vor dieselbe, zuweilen auch hinter sie gesetzt. Der 
u-Haken ist stets kriiftig entwickelt, dabei aber von auBerst verschiedener Ge¬ 
stalt. Bald ist er ein nach rechts abwarts geneigter Strich (Zeile 1), bald geradezu 
nach oben konvex (Zeile 2), bald mehr oder weniger kahnformig (vgl. die iibrigen 
Zeilen); meist ist dieser Kahn oben often, nur einmal geschlossen (Zeile 3). Auch 
der u-Haken steht in sehr verschiedener Hohe (vgl. z. B. die Zeilen 5 und 6!) 
und ist meist iiber, ein paarmal vor den Buchstabenkorper gesetzt (vgl. Zeilen 5 
und 8), einmal auch hinter ihn (zweites u, Zeile 6). Die Striche iiber dem u im ii 
(vgl. Zeile 9) sind zu einem Querstriche zusammengezogen, der sodann — nach 
oben konvex, und mit wachsendem Drucke — sich bis iiber den SchluB des Wor- 
tes hinauszieht. 

Interpunktion korrekt und liickenlos. Auf das die Unterschrift abkiir- 
zende G folgt ein Punkt. — 

Wir haben es in dieser Schrift mit einem klaren 1 ), in logischem 
Denken sehr befahigten 2 ) und gebildeten 8 ) — vielleicht manch- 
mal etwas originalitatssuchtigen 4 ) — Geiste zu tun, dessen Hauptzug 
in seiner auBerordentlichen Reagibilitat 6 ) und Beweglichkeit 
besteht. Von Zuruckhaltung ist der Autor kein Freund 6 ), zumal 
sein Lebenselement die Tatigkeit 7 ) ist, aus der sein an und fiir sich 
sehr bedeutend entwickeltes SelbstbewuBtsein 8 ) und seine frisch- 
frohliche Stimmung 9 ) neue Impulse schdpfen. 

*) Deutliche Schrift, Worte und Zeilen gut voneinander abgesetzt. 

2 ) Deduktive, hochverbundene Schrift. 

8 ) Flotte Schrift, Eigenformen und zweckvolle Vereinfachungen vieler Buch- 
staben. 

4 ) Haufig angewandte, haBliche lateinische h-Form (vgl. Anfang von Wort 2 
und 3 in Zeile 8), die keine Vereinfachung, sondem eine ungefallige Bereicherung 
darstellt. 

6 ) GroBer Wechsel in Buchstabengestaltung und -groBe, auch beziiglich 
der Beizeichen. 

8 ) Stark geneigte, sehr zentrifugale Schrift. Auch das oben erwahnte h ist 
eine Umgestaltung des gewohnlichen h im Sinne abduktiver Bewegungen. 

7 ) Geschwinde Schrift, strichformige i-Punkte; ii-Striche als Querstrich. 
Steigende Schrift, besonders nach dem Briefende zu. 

8 ) GroBbuchstaben hie und da stark, gelegentlich exzessiv betont. Teilweise 
groBe Schrift. 

9 ) Die Zeilenrichtung geht aus einer wecliselnden und mehr horizontalen 
schlieBlicli ganz in eine aufsteigende Richtung iil^er. 


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Ein Fall von zirkularer Psy chose, graphologisch gewtirdigt 


459 


Z. ist ein groBer Freund heiterer Geselligkeit 1 ). 

Mit Zahigkeit 2 ) verbundener Wille 3 ) ist vorhanden, doch ist dieser 
Wille kein nachhaltiger, gesammelter, auf Reserven gestiitzter 4 ), sondera 
mehr ein Kind des Augenblicks, d. h. entsprechend der ganzen geistigen 
Anlage — stark von den jeweiligen Eindrucken beeinfluBt und sich 
sogleich ganz ausgebend (Impulsivitat!). Das Auftreten des Sehrei- 
bers ist lebhaft 6 ) und entschieden 6 ); er neigt zum Dominieren 7 ) 
und Arrangieren und weiB seinen Wiinschen und Anordnungen 
Nachdruck zu geben 8 ). Seine Neigungen weisen ihn anscheinendmehr 
aufs Praktische als aufs Geistige 9 ), der Sinn fur materielle, sinn- 
liche Geniisse ist kraftig entwickelt 10 ). Die produktive Phantasie 
weniger 11 ). 

Zweifellos besitzt er eine gewisse Oppositionslust 11 ) und Kri- 
tik 18 ), und gewiB auch einige Heftigkeit 14 ) und Scharfe. 

Das Stigma der Schrift und der ihr zugrunde liegenden Geistesanlage 
ist demnach vor allem Beweglichkeit und Hemmungsarmut, 
beides bei Handlungen wachsend und sich steigernd 15 ), etwa 
gleich dem Tempo und Ausschlag einer Maschine, deren Widerstande 
im Laufe nicht wachsen, sondem sich mehr und mehr ausschalten. Es 
liegt also eine psychomotorische Anlage im Sinne fortschreitender 

*) Zahlreiohe geschwungene An- und Endstriche. u-Haken oft desgleiohen. 

*) Viele Zahigkeitshakchen. Oft doppelte SchlieBung des t durch a) SchluB- 
schleife und b) Querstrich, von denen eines uberfliissig ware. 

3 ) Druck 

4 ) Fehlen von Winkel, Enge und Steile in der Schrift. 

6 ) Beizeichen oft hinter die Verlangerung des Grundstriches, auoh hoch ge- 
setzt. Striche iiber dem ii als Querstrich. Im ubrigen vgl. 4). 

•) Wortende oft kurz abgebrochen. Kurze, starke t-Querstriche. Kraftige 
linkslaufige Schleifen in f und t. 

7 ) Sogenannter Protektionsstrich in T und F. Ahnlich ist der lange Quer¬ 
strich in „GruBe“, Zeile 9, motiviert. Auch wohl der das a iiberdeckende zweite 
Aufstrich im k, Zeile 4. 

8 ) SchluBzug von Zeile 4 und 6, sowie von Wort 1, Zeile 9, und der Unter- 
schrift. 

9 ) Uberwiegen der Unterlangen. 

10 ) Schleifen oft verschmiert. 

u ) Wenig Schleifenentwicklung, an der vorgeschriebenen Steile oft ganz feh- 
lend. Schrift fast ganz ohne intuitive Ziige. 

12 ) Langer gerader Anstrich in Zeile 3 und 10. 

13 ) Dicke Striche als i-Punkte. 

14 ) Manche Endziige sehr spitz auslaufend, auch manche u-Haken, die ub- 
rigens manchmal abwarts gerichtet sind; der t-Querstrich in Zeile 8. 

15 ) Vgl. die Veranderungen nach dem Schriftende zu. Vielfach ist die Buoh- 
stabenform direkt nach' deitl inneren Zentrifugalitatsbediirfnis gestaltet. So be- 
sonders schon die Eigenform des in zwei Grundstriche auseinandergezogenen 
schleifenlosen h. Auch die zu einem Querstrich transformierten beiden ii-Striohe 
gehoren hierher. 

31* 


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460 


G. Lomer: 


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Ldsung der psychischen Kraft vor. Eine Anlage, die zweifellos 
im geselligen Sinne ihre Vorzuge, aber auch im sozialen Sinne ihre 
Gefahren hat, von denen die eine — eine leichte Hand im Geldausgeben 
und dergleichen 1 ) — am deutlichsten ins Auge springt. 

Vermutlich hat auch der Schreiber selbst dieseGefahr nicht verkannt. 
Wenigstens zeigen sich in der Schrift gewisse Anzeichen fur das Bestre- 
ben, sich selbst die Ziigel anzulegen. Der Schreiber achtet auf sich 2 ) 
und sucht Selbstdisziplin zu iiben. Er ist im ganzen eher verschlos- 
sen, als offen 3 ). Auch ist er von Hause aus gewissenhaft und 
genau 4 ). Vor allem aber bildet seine liebenswiirdige Gemiits- 
anlage 6 ), seine entgegenkommende freundliche Art einen ausgleichen- 
den Faktor von Wert. Durch ihn wird die unmittelbare Gefahrlichkeit 
der stark zentrifugalen Ziige fraglos eingeschrankt. 

Fragen wir uns also nach etwaigen pathologischen Zugen dieser 
Handschrift, so ist allein ihre ungemeine hemmungsarme Bewegtheit 
verdachtig. In ihr kann der Keim einer moglichen psychotischen 
Weiterentwicklung liegen. 

Wollten wir Schneidemiihl 6 ) folgen, so hatten wir auch den hau- 
figen Wechsel deutscher mit lateinischen Buchstaben als pathologisch 
bedingt anzusehen. Nach ihm rechtfertigt dieser wechselweise Gebrauch 
in einem langeren Schreiben bei gebildeten Leuten die Vermutung, 
„daB krankhafte Storungen der Himtatigkeit vorhanden oder in der 
Entwicklung begriffen sind“ 7 ). Den Beweis fur diese Annahme bleibt 
Schneidemiihl indessen schuldig. Ich lasse sie darum dahingestellt 
sein, da ich mich nicht entschlieBen kann, ihr beizutreten. Gerade bei 
Arzten findet sich, nach meiner Erfahrung, jener Wechsel gar nicht so 
selten. Es geht das vielleicht auf die starke lateinische Komponente in 
den Ausdrucksmitteln der medizinischen Wissenschaft zuriick, ist 
moglicherweise auch teilweise durch das Streben nach Ktirze bedingt, 
da viele lateinische Buchstaben sich mit weniger Zeitaufwand und Muhe 
wiedergeben lassen, als die entsprechenden deutschen. 

Verfolgen wir nun den auBeren Lebenslauf des Patienten weiter. 

Ende Februar 1901 und spater, d. h. also etwa ein halbes Jahr nach obigem 
Schreiben, fiel es einigen Offizieren auf, daB Z. lebhafter, aufgeregter war 

1 ) Breite Hander beiderseits. Weiter werdende Schrift. 

2 ) i-Punkte und u-Haken ofters vor die Grundstrichverlangerung, t-Quer- 
strich ofters groBtenteils vor den Grundstrich gesetzt. 

3 ) a und o haufiger verschlossen also offen; auch das A verschlossen. u-Haken 
eirnnal leicht eingerollt. 

4 ) Kcin Beizeichen fehlt. Interpunktion ohne Auslassung. 

5 ) Fast roine GirlandeiLSchrift. 

•) Schneidemiihl, a. a. O., S. 271, 272. 

7 ) „Es wiire sehr zweckmaBig“, sagt Schneidemuhl, „wcnn in Nerven- 
heilanstalten diese Eigentiimlichkeit beachtet wiirde, um unsere Konntnisse auf 
diesem Gebiete zu vcrvollstandigen.“ 


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Ein Fall von zirkul&rer Psyihose, graphologisch gewttrdigt. 


461 


als sonst. Bald darauf bemerkten auch Sanitatsoffiziere an ihm ein erregtes und 
herrisches Wesen. Am 23. Marz 1901 machte er des Nachts in einem Bahnhofs- 
restaurant eine auffallend hohe Zeche. Dienstliche Schriftstucke wurden nicht 
mehr so sorgfaltig abgefaflt wie friiher. Am 29. Marz kam es dann zu dem ent- 
scheidenden Vorfall: Z., der ordinierender Arzt der chirurgischen Lazarettab- 
teilung war, nahm an einem Ulanen, der einen Selbstmordversuch durch Er- 
schieBen gemacht, eine nach der Meinung anderer Arzte keineswegs ratsame, 
au Berordentlich sehwere Operation vor, welche mi Clang und mit dem Tode des 
Operierten endete. AUe zuschauenden Arzte hatten den Eindruck, daB Z. roh 
operiere, mit iiberfliissiger Kraft arbeite, alle Bewegungen, Schnittfiihrungen usw. 
gar zu ausgiebig maehe. Auch haben spaterhin samtliche befragten Chirurgen 
begutachtet, daC „ein geschulter Chirurg nur in einem geistig abnormen Zustande 
so handeln konne, wie Z. handelte, als er bei Ulan R. die Oberkieferresektion 
vomahm u . 

Es sind das auBerst charakteristische Angaben, die unverkennbar auf die 
manische Natur der jetzt antisozial gewordenen psychischen Affektion hinweisen. 
Z. wurde noch gleichen Tages vom Dienste suspendiert und hatte zu gewartigen, 
vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Man war aber wohl inzwischen beziig- 
lich seiner Geistesgesundheit zweifelhaft geworden imd lieB ihn durch Stabsarzt 
Dr. B. militiirarztlich untersuchen. 

Z. war bei dieser Untersuchung (15. April) auffallend heiter, neigte zum 
Planeschmieden und wechselte sehr seine Entschliisse. Dr. B. dachte an zirku- 
lares Irresein. 

Am 18. Juni 1901 lieB Z. sich freiwillig in die Psychiatrische Klinik zu L. 
aufnehmen und verblieb dort bis 29. August gleichen Jahres. Aus der korper- 
lichen Untersuchung in der Klinik: 

R. Pup. > 1. R. L. +, prompt. Kniescheibensehnen-R. +. FuBsohlen-R., 
Bauchdecken-R., Cremaster-R., Hornhaut-R. schwach. Schluck- und Wiirg-R. 
stark herabgesetzt. Mechanische Muskelerregbarkeit erhoht. Vasomotorische Re- 
flexerregbarkeit sehr lebhaft. Druckpunkte an den Supra- und Infraorbital- 
nerven. 

Psychisch benahm Z. sich sehr selbstbewuBt, sprach von einem gegen ihn 
bestehenden Komplott und glaubte sich verleumdet. Dabei war seine Stimmung 
meist heiter, und er liebte die drastischen Ausdriicke. 

Nach etwa fiinf Wochen wurde er ruhiger, lehnte jedoch nach wie vor jede 
Verschuldung ab. Keine Intelh'genz- oder Moraldefekte. Von manischen Sym- 
ptomen nur: gehobene Stimmung und Bewegungsdrang. — 

Nach dem schonenden Gutachten des Geh. R. Prof. F. handelte es sich um 
eine ,,Stimmungsschwankung, welche auf der Grenze von Gesundheit und Krank- 
heit steht“. Es heiBt darin femer: „Von etwa Februar bis Juli 1901 bestand eine 
Anomalie der Stimmungslage, die man als expansive Verstimmung bezeichnen 
muC. Der Zustand gehort insofern zu den psychischen Anomalien, als er sich 
im Bereich der psycliischen Vorgange abspielt, er ist aber kaum als eine wirklich 
ausgesprochene Geistesstorung anzusehen. Er verminderte die Zurechnungsfahig- 
keit, hebt sie aber nicht vollstandig auf 1 ). Ein solcher Zustand macht nicht dau- 
emd unfahig zur Ausiibung der arztlichen Praxis. Er laBt auch nicht Unterbrin- 
gung in einer Irrenanstalt erforderlich erscheinen. Ein Riickfall ist bei Fern- 

l ) In einem Nachtrag zu diesem Gutachten vom 10. November 1901 heiBt 
es erganzend, daB „die freie Willensbestimmung nur einer so komplizierten Frage 
gegeniiber — wie der Operation — ausgeschlossen war, wahrend noch die Fahig- 
keit bestand, Aufgaben einfacher Art sachgemaB zu losen“. 


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G. Lomer: 


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haltung der Schadlichkeiten, geistige und korperliche Gberanstrengung, Alkohol 
nicht zu erwarten.“ 

Im November 1901 erhielt Z. den Abschied mit der gesetzlichen Pension, 
Irgendwelche Einsicht in seinen Krankheitszustand zeigte er weder jetzt nooh 
spaterhin. Vielmehr blieb er bei der Auffassung, durch mifigunstige Kollegen 
aus dem Sanitatskorps hinausgedrangt zu sein. Eine — iibrigens abgelehnte — 
Forderung, die er angeblich dem Generalarzt X. damals zugedacht haben will, 
ware ein Beleg fiir diese seine Auffassung. 

An diese Exaltationszeit scheint sich eine Depressionsphase angeschlossen zu 
haben. Wenigstens glaube ich das nach einer Stelle im Lebenslauf des Z. ver- 
muten zu diirfen, die von der Versohnung mit seinem durch die Verabschiedung 
des Sohnes tief gekrankten Vater handelt. (April 1902.) „Sein treuer Hande- 
druck 44 , heiBt es da, „gab mir sofort mpine fast verlorene Energie, Selbstvertrauen, 
SelbstbewuBtsein, Hoffnung, meinen Humor wieder. . . Nach dieser Besprechung 
war ich mit einem Schlage der Alte und pfiff auf das Militar 44 . • 

Z. arbeitete nun zunachst unter medizinischen Autoritaten in Berlin und 
Halle an seiner weiteren Ausbildung, hauptsachlich auf orthopadischem wie auch 
auf gynakologischem Gebiete. Zweifellos war sein seelischer Zustand in dieser 
nachsten Zeit keineswegs gleichmaBig, sondern mannigfachen Schwankungen un- 
terworfen. Wenigstens scheinen allerhand kollegiale Reibereien und sonstige 
Differenzen — er brach mit alten Freunden, trat aus den Arztevereinen aus usw. 
— auf das Fortbestehen eines mehr oder weniger andauernden Reizzustan- 
des hinzuweisen. 

Beruflich miissen seine Leistungen indes durchweg gut geblieben sein: alle 
Zeugnisse aus jener Zeit lauten gvinstig, auch wurde ihm nirgends gekundigt. 

SchlieBlich, gegen Ende 1904, steigerten sich die pathologischen Erschei- 
nungen wieder ins Antisoziale: Z. kaufte ohne geniigende pckuniare Grundlage 
ein Sanatorium in Baden-Baden fur 120 000 Mark, gleichzeitig ein Grundstiick 
in Dresden und verlobte sich mit einer an unheilbarer Coxitis leidenden Patientin. 

Eines Tages, 4. Dezember 1904, verlieB er plotzlich seine Steilung und be- 
gab sich auf planlosen Reisen ins Ausland. Jetzt griff seine Familie ein, machte 
die geschehenen Torheiten riickgangig und setzte es schlieBlich durch, daB er sich 
in irrenarztliche Behandlung begab. Ein Zeugnis von Geh. R. F. vom 28. De¬ 
zember 1904 besagt, daB Z. „an maniakalischer Exaltation 44 litt, sinnlos Geld 
ausgab, trank usw. und der Anstaltsbehandlung bediirfe. Der Kranke trat frei- 
willig in die Privatanstalt Thonberg bei Leipzig ein, entwich jedoch von da be- 
reits nach einigen Tagen (Ende Januar 1905) und trieb sich jetzt monatelang 
planlos in Osterreich-Ungam umher. 

Endlich trat wieder eine gewisse Beruhigung ein. Vom Sommer 1905 ab 
hat Z. an mehreren Orten Mittel- und Norddeutschlands, allerdings wohl mit 
Unterbrechungen, arztliclie Vertretungen innegehabt, gelegentlich durch langere 
Zeit hindurch. Auch hier scheint es, trotz tiichtiger beruflicher Leistungen, zu- 
weilen zu Reibereien gekommen zu sein. Endlich, gegen Ende 1906, lieB er sich 
als praktischer Arzt auf eigene Gefahr in N. nieder. 

Seine Praxis stieg bald auf eine glanzende Hohe. Z., der eine unermiidliche 
Tatigkeit entwickelte und sich anscheinend besonders auf den weiblichen Be- 
volkerungsteil stiitzte, hatte Einnahmen, die in die Zehntausende gingen, und 
war bei seinen Patienten auBerordentlich l^eliebt, konntc? sich jedoch mit den 
ortsansassigen Kollegen ganz und gar nicht stellen. Schuld trug daran, wie es 
scheint, groBtenteils sein selbstherrliches, manchmal schroff ablehnendes Auf- 
treten, — er verschmahte es z. B., trotz ausdriicklicher Aufforderung, in den 
Arzteverein einzutreten, — zum kleineren Teil wohl der kollegiale Neid, der sicli 


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Ein Fall von zirkularer Psychose, graphologisch gewllrdigt. 


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aus der scharfen Konkurrenz ergab. Auch warf man ihm — wie es Bcheint, nicht 
ohne Grund — vor, daB er allzusehr mit allerhand suggestiven Matzchen arbeite. 

Trotzdem ging die ereten Jahre alles gut. Erst Juli 1910 kam es wieder zu 
einer schwereren, depressiven Verstimmung. Z. wurde schwermiitig, mutlos, 
menschenscheu, schweigsam, all schlecht und litt an andauernder Schlaflosigkeit. 
Interessant ist die Art, wie Z. selbst sich diesen Zustand nachtraglich zu erklaren 
sucht und ihn rein auf auBere Einfliisse und Beweggriinde zuriickfiihrt. „Ich 
hatte‘\ schreibt er in seinem Lebenslauf, „eine sehr peinliche Differenz in Saehen 
der Ehescheidung des Assessor PI.-Hamburg mit dem Gesetzbuch und meiner 
Gberzeugung und da ich dabei den kiirzeren ziehen muBte, war ich deprimiert, 
so daB ich ein viertel Jahr ausspannte, einen Vertreter nahm und zu meinen El- 
tem ging. Als ich Anfang Oktober 1910 zuriickkehrte, . . . suchte ich zunachst 
meine vollig geschrumpfte Praxis wieder hoch zubringen. Das gelang und ich war 
Weihnachten 1910 wieder vollig auf der Hohe ... Zu Kaisers Geburtstag 191L 
war ich sehr vergnugt und hatte als Assistent flir meine groBe Praxis Dr. F. aus 
Berlin engagiert, und schon zum 27. Januar 1911 als Gast bei der Feier bei mir.“ 

In der Tat hatte bereits Anfang Januar wiederum cine Phase starkerer Er- 
regtheit eingesetzt. Z. war seitdem auffallend heiter, aufgeregt, sprach viel und 
lebhaft, suchte unstandesgemaBe Gesellschaft auf und gab sich groBen Alkohol- 
exzessen hin. Zuweilen machte er Zechen von Hunderten von Mark. Ansohei- 
nend trug er bestandig Waffen bei sich und legte u. a. einmal in einem Lokal 
in Gegenwart des Wirtes auf einen Viehhandler seinen Revolver an. Ein andermal 
nahm er dem Stationsvorsteher eines Nachbarortes die Dienstmiitze ab, setzte 
sie sich auf und lieB einen Schnellzug eigenmachtig abfahren. Gleichzeitig schloB 
er in diesem Zustande die unsinnigsten Rechtsgeschafte ab und ging dabei auf 
jedes ihm gemachte Angebot ein. So kaufte er, noch im Januar 1911, vom Schlos- 
sermeister W. ein Haus fiir 43 000 Mark, von einer Klavierfirma einen Fliigel 
fiir 1300 M., von einer Berliner Firma medizinische Apparate im Werte von 
14 000 M., ferner eine Schreibmaschine fiir 522 M., und ein Opelauto fiir 9800 M. 
Wie es heiflt, auch noch andere, gar nicht in seinen Beruf passende Gegenstande. 
Dem ihm bis daliin gar nicht bekannten Dr. E.-Berlin versprach er urkundlich, 
der Waldheimstatte in G. 10 000 M. zu schenken und den gleichen Betrag ohne 
Zinsen darzuleihen. Sein Vermogen hob er ab und verbrauchte es schnellstens. 

Ende Januar hatte sich sein Zustand derart verechlim inert, daB es am 27. Ja¬ 
nuar, bei der erwahnten Kaiserfeier, zu einem Auftritt gekommen zu sein scheint. 
Z. spricht namlich in seinem Lebenslauf von einer „sehr peinlichen Szene, die 
sich spat abends zutrug“ und die Veranlassung war, daB er sich — „um Pistolen- 
schieBereien aus dem Wege zu gehen“ —, am 28. Januar kurz entschlossen auf 
die Bahn setzte und nach Berlin fuhr. Dahingestellt muB dabei natiirlich blei- 
ben, ob wirklich die — angebliche — peinliche Szene an dem plotzlichen Orts- 
wechsel die Schuld trug, oder ob es nicht etwa lediglich der unbandige Bewegungs- 
drang Z.s war, der hier ein Ventil suchte und erst nachtraglich seitens des Kranken 
die genannte Erklarung erfuhr. Jedenfalls befand sich Z. seit diesem Tage auf 
ganz planlosen Reisen und zwar in Begleitung eines Frl. L. aus N., die sich ihm — 
angeblich — „geradezu aufgedrangt, um auch et-was von der Welt zu sehen.“ Z. 
lebte dabei durchaus iiber seine Verhiiltnisse, machte groBe Zechen (oft iiber 
500 M.), wohnte in den ereten Hotels, kaufte sich Armbander, Ringe und anderen 
Schmuck, wie er ihn sonst nie zu tragen pflegte. Frl. L. gab er meist als seine 
Frau aus. 

Zunachst tauchte er in Berlin bei seinen Bekannten auf. Dem dortigen 
Dr. med. M. erzahlte er, er sei verlobt, seine Braut bekomme zwei Millionen mit, 
sein Schwiegervater besitze 10 Millionen. Er selber habe eine Praxis von 200 000 M. 


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und besitze Klinik und Sanatorium. Dem Dr. med. S. ebenda erzahlte er mit 
alien Einzelheiten, daB er zur Konsultation an den sachsischen Hof zu einer Prin- 
zessin gerufen und auf der Reise dorthin sei, und viele andere 'widerepruchsvolle 
Dinge abenteuerlichen Charakters, deren Unwahrheit auf der Hand lag. Von der 
Wohnung des Kollegen telephonierte er sodann im Laufe einiger Nachmittags- 
stunden etwa 50 mal an die verscliiedensten Leute, medizinische Professoren usw., 
auch nach auBerhalb, und teilte ihnen ganzlich verschiedene Sachen mit. Dem 
einen, daB er nach Amerika zu einer Operation reise, dem anderen, daB er nach 
Frankfurt reise, noch anderen, daB er nicht von Berlin aus, sondem wo anders- 
her tele phonic re. Das Gemeinsame dieser Gesprache war jedoch, seinen Aufent- 
haltsort zu verbergen und seine Spur zu verwischen. 

Daneben trank er sehr viel Alkohol, sowie aus einem Westentaschenflasch- 
chen: Morphiumlosung. „Er war dauemd laut, heftig und erregt, schlug in of- 
fentiichen Lokalen mit einem zerbrochenen Stock auf die Tische und benahm 
sich so, daB man jederzeit Gewalttatigkeiten befiirchten muBte 4 * 1 ). 

Bald darauf wurde er auch in Dresden und Leipzig gesehen. Am 16. Februar 
schrieb er aus letzterer Stadt, daB er sicli auf einer Reise nach Paris befinde und 
sech9 Tage spa ter meldete er tatsachlich aus Paris, daB er dort acht Tage bleiben 
und dann nach Marseille, Nizza, Monte Carlo, Triest, Wien, Budapest, Eger, 
Piauen, Leipzig reisen wolle. Ehe es jedoch zur Weiterreise karn, wurde er in 
Paris verhaftet und ins Untersuchungsgefangnis verbracht: er hatte erst Streit 
mit einem Kellner gehabt, von dem er sich dureh falsches Geld betrogen glaubte, 
und hatte dann die herbeigeholten Schutzleute beschimpft und tatlich angegriffen. 

In der Haft benahm er sich auBerst rabiat, schlug gegen Tische und Tiiren, 
erzahlte, er habe an 8?. Maj. den Kaiser telegraphiert und begreife nicht, daB 
er ihn noch nicht abgeholt habe usw. Beim Untersuchungsrichter sehr grob. 
Er schrie wiitend herum und weigerte sich, seine Miitze abzun?hmen, so daB er 
ohne Verhor wieder fortgeschickt wurde. In den Giingen randalierte er derart, 
daB 15 Polizisten eingreifen muBten, urn ihn zur Ruhe zu bringen. 

Auf die Nachricht von diesen Vorgangen entschloB sich die Familie endlich, 
einzugreifen. Z.s Bruder, ein Jurist, zog schleunigst die Gutachten dreier Arzte 
ein, die Z. mehr oder weniger genau kannten (darunter Prof. F.), und suchte auf 
Grund derselben die Freilassung Z.s zu erwirken. Diese erfolgte jedoch noch 
vor Eintreffen der deutschen Zeugnisse auf das Gutachten des franzosischen 
Psychiaters Claude: am 11. Marz 1911 wurde Z. nach Metz transportiert, dort 
zunachst im Hotel, dann im Spital untergebracht, um endlich — auf Anordnung 
seines inzwischen eingesetzten Zustandsvormundes — am 16. Marz hiesiger An- 
stalt zugefiihrt zu werden. Bemerkt sei, daB Z. sich auf dem Meldezettel des 
Metzer Hotels als „Major“ bezeichnet hat. Er begriindet das nachtraglich da- 
mit, daB in Frankreich die Militararzte des entsprechenden Ranges den Titel 
,,Major 4 * fiihrten. 

Gegen seine Aufnahme in die Anstalt protestierte er energisch und folgte 
erst auf die Abteilung, nachdem mehrcre Pfleger zum Transport bereit gestellt 
waren. Lehnte das Bad ab. Verlangte sofort einen Rechtsanwalt. 

Die alsbald vorgenominene Untersuchung ergab in den fiir uns wesentlichen 
Ziigen folgendes: 

Untersetzt gebauter, sehr kraftiger Mann. Frische Farben. Ellbogen-, Nacken- 

Bemerkt sei, daB der erstgenannte Kollege M. bci dieser Gelegenheit durch 
Wassermann Lues bei Z. feststellte und ihm auf seinen Wunsch eine Dosis Sal- 
varsan intravends injizierte. Z. hat diesen Vorgang spiiter dauemd abgeleugnet. 
Auch wurden Spuren von Lues hier nicht mehr gefunden. Ein Zusammenhang 
der geistigen Erkrankung mit der lnfektion ist nicht anzunehmen. 


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Ein Fall von zirkuliirer Psyehose, graphologisch gewUrdigt. 


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und Leistendriisen leicht geschwollen. Pupillen ziemlich eng, rund, gleich weit. 
R. L. +, ausgiebig. R. C. + . Sonstige Reflexe o. B. Romberg: leichtes Schwan- 
ken. Sprache auBerordentlich lebhaft, ohne artikulatorische Stoning. Potus und 
Lues negiert. Bei der korperlichen Untereuchung ist Z. durchaus fiigsam und 
entgegenkommend. 

Im Laufe der nachsten Wochen erzahlt er folgendes: Er sei 1899—1901 
Leibarzt des Konigs von . . . gewesen. Der Konig habe ihm gesagt: Lieber Freund, 
wir wollen Ihnen ein paar Zimmer im SchloB zu P. chirurgisch ausstatten! — 
Vom Militar sei er abgegangen, weil er den Generalarzt X. gefordert habe; dar- 
auf hatten sie beide abgehen miissen. Jetzt sei er Oberetabsarzt in russischen 
Diensten, diirfe aber nur mit Genehmigung des Zaren da von sprechen. Der Zar 
habe ihm durch einen Gesandtschaftstrager mitteilen lassen, daB er sich — im 
Falle einer Gefahr — als russischer Oberstabsarzt ausgeben diirfe. Einmal, 1903, 
S 3 \ er in London in solcher Gefahr gewesen; da hatten ihm die russischen Be- 
horden beigestanden. Er kenne den Zaren personlich, da er sein Tochterchen 
an X-Beinen operiert habe. Er sei auch mit der angesehenen russischen Familie 
Lukjanoff bekannt, ein Lukjanoff habe ihn in London beschiitzt. 

Nach seiner Verabschiedung sei er zunachst nach Riga gegangen, habe dort 
dreiviertel Jahre als Gast des Generals von Kossel, Totlebenlx)ulevard 14, gelebt. 
Jetzt habe er eine Praxis von 200 000 Mark, besitze in S. ein Gut im Werte von 
200 000 M., sei mit 100 000 M. in der Lebensversicherung, habe eine Jahresein- 
nahme von 160 000 M. Seine Instrumente seien 70 000 M. wert. Er sei zu den — 
gerade stattfindenden — Wiener Empfangen von der Fiirstin Mettemich ein- 
geladen, auch habe ihn der Kaiser nach Venedig geladen. Er habe die Absicht 
gdiabt, von dort nach Algier und per Auto (!) nach Korfu zu fahren. Den Kaiser 
habe er einmal, im Manover 1894, an einer Balggeschwulst operiert. Der GroB- 
herzog von X. habe ihm Villen geschenkt. Dringend miisse er nach Budapest 
reisen, wo er bei Graf T. eine Operation vomehmen solle. In Australien und in 
Tibet sei er auch schon gewesen, habe dabei russische Kosaken als Begleiter 
gehabt. 

Alle diese Dinge bringt Z. mit groBter Zungenfertigkeit, in gewandter Sprache 
und mit ersichtlichem Vergnugen vor. Er gerat dabei stets von einem ins andere, 
ist kaum zu fixieren und erhitzt sich sehr leicht, wenn die Rede auf seine ver- 
meintlichen Widersacher kommt, die ihn seiner Praxis entzogen hatten. Er habe 
eigentlich von Paris nach Madrid weiterreisen wollen, wo ihm ein Honorar von 
10 000 M. gewinkt hatte. Da aber gerade Kameval in Paris war, habe er sich 
uberreden lassen, ein paar Tage zu bleiben; er habe sich eine Maske gekauft und 
mitgemacht. Eines Tages habe ihm der Wirt vom Grand Hotel erklart: „Das 
ist der Zar! Sie sind der Zar! Ich muB Sie verhaften lassen!“ Auch das Volk 
und die Frauenzimmer auf den StraBen hatten gerufen: ,,0’est le tsar! Voilk le 
tsar! hourra le tsar!“ Es sei auch ganz gut moglich, daB man, ihn wegen seines 
eleganten Autos fiir den Zaren gehalten habe. — 

Ein andermal erzahlt er, er besitze vier Automobile. Brauche er Geld, so 
wende er sich nur an den Direktor des Diakonissenhauses in D., dann habe er 
sofort 100 000 M. Alle diese Behauptungen stellt er mit der seibstverstandlich- 
sten Miene von der Welt, unter lebhaftesten Gestikulationen, auf und gerat so¬ 
fort in zomige Erregung, wenn ihm nicht alles aufs Wort geglaubt wird. 

Sein Verhalten zu Arzt und Personal wechselt. Sicherlich ist er zuzeiten 
bemiiht, sich zu bejierrsphen und hofliche Umgangsformen zu wahren. Doch 
gelingt ihm das in der Regel nur auf kurze Frist: ein im ruhigsten Tone be- 
gonnenes Gesprftch wird von ihm fast stets in lautem, scheltendem, 
schwadronierendem Tone fortgefiihrt, der sich schlieBlich oft bis 


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G. Loraer: 


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zum Gebriill steigert. Er liebt iiberhaupt ein herrisches, kurz abweisendes 
Wesen und bleibt durchweg sehr selbstbewuBt. Die Pfleger beschimpft er, wenn 
sie nicht auf sein Kommando springen und ihm ihre ganze Zeit zur Verfiigung 
stellen, mit unflatigcn Ausdriicken und verklatscht sie nach Kraften beim Arzt. 
Auch diesen wiederum verklatscht er haufig beim Direktor. Gberhaupt ist er zu 
standi gen Norgeleien geneigt, ist mit nichts auf der Abteilung zufrieden, weder, 
was seine eigenen, noch was die Angelegcnheiten anderer angeht. 

Zu diescm hauptsachlich in ausgesprochener Ideenflucht hervortretenden 
psychisohen Bewegungsdrange tritt, als koordinierte Erecheinung, ein 
ebenso lebhafter iiuBerer. Z. ist bestandig auf den Beinen, lauft — oft vollig 
nackt — durch den Saal, neckt und hanselt andere Kranke, nimmt ihnen Wasche- 
und Kleidungsstucke weg, versteckt sie oder wirft sie auch wohl aus dem Fenster. 
Einem gerade auf der Abteilung arbeitenden Maurer versteckt er die Steine in 
einer Tischschublade, fiillt auf den — nur selten moglichen — Spaziergangen 
seine Tasche mit Lumpen und dergleichen und schmiickt seine Brust mit auf- 
gesammelten alten Tonnenreifen. Gelegentlich entwendet er auch der Anstalt 
gehorige Gegenstande, wie Loffel, Gabeln u. dgl. und zerbiegt sie zu volliger Un- 
brauchbarkeit. In seinem Nachttisch werden haufig zahllose Briefumsclilage mit 
losen Blattern gefunden, die er aus Zeitschriften und Biichem der Anstalt — 
manchmal bis zu ganzlicher Vernichtung der Hefte —, herausgerissen und zu- 
sammengewickelt hat. Auch schreibt er zahllose Zeitungsartikel, ohne jede 
Auswahl, ab und verwahrt die Abschrift sorgfaltig, indem er sie verschnurt und 
verpackt. 

Ungeheuer ist sein Seifenverbrauch. Nicht nur im Bade ist er bestandig 
dabei, sich den ganzen Korper abzuseifen und einzureiben, sondern auch auBer- 
halb des Bades liebt er es, sich nackt ins Zimmer zu stellen und mit groBter Sei- 
fenverschwendung seine Haut derart zu bearbeiten, daB sie zuweilen krebsrot 
aussah. Einmal verbrauchte er in 15 Tagen 29 Stiick Seife. Auch Kaloderma 
vergeudete er in gleieher Weise, solange die Mittel reichten. Wurde er wegen 
dieser Regelwidrigkeiten zur Rede gestellt, so bestritt er entweder glattweg alles 
oder hatte eine moglichst plausible Erklarung bei der Hand. 

Am auffallendsten war aber, wie schon angedeutet, sein Schreibdrang. Er 
schrieb stundenlang Briefe an alle moglichen bekannten und unbekannten Per- 
sonen, dercn Namen er gerade in der Zeitung fand. Bezeichnend ist dabei auch, 
daB er mit Vorliebe auf allerlei Zeitungsinserate, z. B. Heiratsgesuche, sich mel- 
dete und in derlei Briefen manchmal einen merklich erotischen Ton anschlug. 
Es ist dies ein Seitenstiick zu seiner Gewohnheit, bettlagerigen Kranken die Decke 
W'egzunehmen und sie an den Geschlechtsteilen zu kitzeln. 

Die Hauptziige dieses tvpischen Krankheitsbildes sind also ein 
ungeheuer gesteiger ter inner er wie auBerer Be weg ungsd rang, 
der zuweilen mit lebhaften Lustempfindungen 1 ), zuweilen aber auch mit 
zomiger Gereiztheit einhergeht und zweifellos die Grenze sozialer Norm 
weitaus iiberschreitet, sowie ein sehr gehobenes Selbstgefuhl, 
das sich hier und da zu — stets sehr unbestandigen und wechselnden, 
ganz und gar nicht systematisierten — GroBenvorstellungen 
steigert. 

Dieser Zustand blieb bis in den Mai 1911 hinein auf seiner Hohe, und 
wir besitzen aus dieser Zeit eine Reihe auBerst charakteristicher Schrift- 
proben (Nr. 3—6). welche hier zunachst zu erlautern sind. 

Plaisir do mouvement der Franzosen. 


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Ein Fall von zirkul&rer Psychose, graphologisch gewttrdigt. 


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Schriftprobe 3 ist einem Briefe entnommen, den Z. auf eine Heirats- 
annonce verfaBte. Benutzt wurde ein gewohnlicher Briefbogen. Wieder- 
gegeben ist die Anrede. 

Wir finden, unter Hervorhebung der Unterschiede gegen Probe 
1 und 2, folgende Kennzeichen: 

Die Sohrift ist, besonders innerhalb der einzelnen Worte, ziemlich weit: 
die Anrede konnte nicht, wie iiblich, in einer Zeile untergebracht, sondem muBte 
auf zwei Zeilen verteilt werden. Diese greifen nicht ineinander. Die Schrift ist 
zwar leserlich, zeigt aber eine Reihe Ungenauigkeiten, auf die spater einzu- 



gehen ist. Sie ist rechtsschrag: Neigungswinkel 30—50 Grad (gegen 40—55 
Grad in 1 + 2); er wird nach dem Zeilen- und Wortende zu geringer. Bemer- 
kenswert ist, daB diese Abflachung des Neigungswinkels bereits im Anfangsteil 
des Briefes, in der Oberschrift, eintritt. 

Zeilenrichtung deutet Wellenform, mit absteigender Tendenz, an. Der 
Verbundenheitsgrad ist bedeutend hoher als in Probe 1-1-2; er betragt, 

3 225 1 

nach der beschriebenen Weise berechnet, ’ oder , das heiBt, mit einem 

13 4,031 

Anstrich werden durchschnittlich 4,032 Schriftkontinua gezogen (gegen 2,0315 
in Probe 1-1-2, also etwa doppelt soviel). Das kleine d ist mit dem Folgebuch- 
staben verbunden, im letzten Wort auch die Beizeichen. Der Querriegel am 
groBen F dagegen ist unverbunden gcschrieben. 

Der Strichbreitenunterschied ist in der Regel ausgepragt, doch weniger 
als in Probe 1+2. Der Schrifttypus bevorzugt die Girlande, doch finden sich 
auch Beispiele von Winkelbildung, z. B. im Anfangsteil des n nach dem g 
in „gnadiges“, so wie im i ebenda. 

Was die BuchstabengroBe betrifft, so ergibt die Messung nach dem ge- 
schilderten Verfahren folgende 

Tabelle D: 

a) L&nge x b) Breite = Grbtten- 
koeffizient 

langenlosen Kleinbuchstaben etwa 1,64 mm 3,4 mm 5,576 
Oberlangenbuchstaben 

a) Majuskeln etwa 9,0 mm 7,0 mm 63,0 

b) Minuskeln etwa 6,0 mm 2,0 mm 12,0 

Unterlangenbuchstaben 

a) Majuskeln — — — 

b) Minuskeln etwa 7,0 mm 3,0 mm 21,0 

Do ppellangenbuchstaben 

a) Majuskeln etwa 16,7 mm 11,0 mm 183,7 

b) Minuskeln etwa 11,2 mm 4,0 mm 44,8 

Zu dieser Tabelle zunachst einige Bemerkungen. Die langenlosen Klein¬ 
buchstaben sind von ganz auBerordentlich wechselnder GroBe; man vergleiche 
nur das v in Wort 2 und die letzten 3 Buchstaben e, i, n in „Fraulein“, die ge- 


Durch- 
schnittslange 
und -breite 
der 


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bv Google 


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G. Lomer: 


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radezu zu einem Querstrich zusammengezogen sind: es wurde hier infolgedessen 
auch nur der gerade noch erkennbare Grundstrich des e gemessen, die Langs- 
achse des i und n dagegen gleich Null angesetzt und so verreclinet. Auch im a. 
Wort 3, ist der erste Grundstrich sozusagen verschluckt. Das SchluB-s im glei- 
chen Wort besteht lediglich aus einem knieformig geknickten Haaretrich mit 
Hakchen, wahrend der Buchstabenkorper wiederum fehlt; die Buchstabenlange 
wurde demgemaB mitgemessen und mitverrechnet. Dasselbe gilt fiir das SchluB-s 
des zweiten Wortes. 

Ebenso wenig einfach ist die Breitenmessung mancher Buchstaben. Im 
Wort 2 fehlt das SchluB-r der ersten Silbe, wurde also auch nicht mitgemessen. 
Im SchluB-s von Wort 2 und 3 fehlt der ganze Buchstabenkorper, seine Breite 
wurde demgemaB gleich Null angesetzt; und was die letzten 3 Buchstaben von 
„Fraulein“ angeht, so wurde der sie andeutende Strich in 3 Teile geteilt und jeder 
Teil fiir einen der Buchstaben verrechnet. 

Vergleichen wir das Gefundene mit den MaBen von Probe l 1 ), so ergibt sich 
die 

Doppel-Tabelle E: 


LAngenmafle Breitenma Be GrGCenkoCffixient 
von von 



Probe 1 

Probe 8 

Probe 1 Probe 3 

Probe 1 

1 Probe 


mm 

min 

mm 

mm 

_ 


Langenlose Kleinbuchstaben . . 

2,7 ! 

1.64 

1 2,3 

1 3,4 i 

6,21 

i 5,57 

Oberlangenmajuskeln. 

. » i 

9 

! 4,25 

' 7 

38,25 

1 63 

Oberlangenminuskeln. 

. 6,3 

6 

2.8 

i 2 , 

17,64 

j 12 

Unterlangenmajuskeln. 

. 9,4 

— 

— 


— 

— 

UnttTlangen in i nus keln. 

— 

7 1 

3 

1 3 ! 

28,2 

1 21 

Doppellangenmajuskeln. 

. 17 i 

16,7 

23 

11 j 

391 

183J 

DoppeUangenminuskeln. 

. 10,7 

11,2 | 

2,5 

I 4 | 

26,75 

I 44,8 


Diese Vergleichstabelle ist recht lehrreich. Besondere interessant scheinen 
rair die Verhaltnisse der Iftngenlosen Kleinbuchstaben, als der zahlreich- 
sten Buchstabengruppe beider Schriftproben. Wahrend ihre Lange um die gute 
Halfte kleiner geworden ist, hat sich ihre Breite um etwa ebenso viel, d. h. auch 
um die Halfte vergroBert. Ein volliger Ausgleich findet jedoch nicht statt, viel- 
mehr diirfte der Schreibweg im ganzen kleiner geworden sein, wie sich aus dem 
Biickgang des GroBenkoeffizienten von 6,21 auf 5,576 zu ergeben scheint. 

Auch die Oberlangenmajuskeln und die Doppell&ngenminuskeln 
zeigen eine geringe Zunahme der Durchschnittsbreite, wahrend die Lange sich 
im ganzen gleichgeblieben ist. Eine Abnahme von Lange und Breite dagegen 
ergibt sich fiir die Oberl&ngenminuskeln und die Doppell&ngenmajus- 
keln. Auch die Unterlangenminuskeln nehmen — bei gleichbleibender 
Durchschnittsbreite — in der Lange ab. Doch muB man bei all diesen letztge- 
nannten Gruppen, in Anbetracht ihrer zahlenmaBigen Schwaclie, mit allzuweit 
gehenden Schlussen zuriickhalten. Immerhin sei auf den Riickgang des GroBen¬ 
koeffizienten bei der Mehrzahl von ihnen hingewiesen. Eine Zunahme zeigt der- 
selbe nur 1x4 den Doppelliingcnminuskeln und den Oberlangenmajuskeln, also 
gerade bei den in Probe 3 schwachst vertretenen Gruppen. 

*) Probe 1 ist ebenso wie Probe 3 einem Briefanfang entnommen, wahrend 
Probe 2 der letzten Briefseite entstammt. Da die psychologischen Vorausset- 
zungen des Briefendes sich in einigen Punkten von denen des Anfangs unter- 
scheiden, konnte billigerweise nur Probe 1 zu Vergleichszwecken herangezogen 
werden. 


Gck igle 


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Ein Fall von zirkuliirer Psychose, graphologisch gewUrdigt. 


469 


Zweifellos ist also eine absolute Verminderung der SchriftgroBe, 
eine starke Verflachung der Schrift aus dieser Tabelle zahlenm&Big nach- 
weisbar. Eine Verminderung, die teilweise auf einem Riickgang der vertikalen 
Tendenz zugunsten der horizontalen, teilweise auf einem Riickgang beider Ten- 
denzen beruht und auch nicht entfernt durch die gelegentliche VergroBerungs- 
tendenz dieser oder jener Gruppe ausgeglichen wird. Vielmehr ist sogar darauf 
hinzuweisen, daB auch diese vergroBemde Tendenz lediglich in einer Breiten- 
zunahme, also in einer starkeren Betonung des Horizontalen ihren Ausdruck 
findet. Es fiihrt das alles zu einer Zunahme des zentrifugalen Elementes 1 ), die 
sicherlich auf das Zustandekommen der groBeren Schriftweite nicht ohne Ein- 
fluB gewesen. 

Fahren wir nun in der Analyse von Probe 3 fort: Die Unterl&ngen sind — 
vgl. wiederum die Tabellenzahlen — ein wenig starker entwickelt als die Ober- 
langen. Die Schleifenfiille wechselt sehr, doch ist sie weit groBer als in Probe 1. 

Die Anstriohe sind kiirzer (vgl. Zeile 1) oder langer (vgl. Zeile 2) geschwun- 
gen. Die Endstriche kurz. 

Das a in Zeile 2, das erste g in Wort 3 sind oben offen. 

Das Formniveau der Schrift ist im ganzen das gleiche. Es zeigt, so weit die 
geringere Sorgfalt der Ausfiihrung es gestattct, dieselbe Eigenart wie in Probe 1. 
Einige Abwcichungen: das h in Wort 2 ist offenbar aus dem sonderbaren zwei- 
grundstrichigen h der fniheren Schrift hervorgegangen und zeigt in der Untcr- 
lange eine Schleife. Das groBe F in Wort 4 ermangelt der Dach-Horizontalen 
der friiheren Schrift. 

Deutsche und lateinische Buchstaben sind wiederum gemischt. 
Die Auslassungen von Buchstaben und Buchstabenteilen wurden bereits er- 
wahnt. Nachzutragen ist, daB auch der Korper des zweiten g in Wort 3 „ver- 
schluckt“ ist, und daB die letzten 3 Buchstaben von Wort 4 fadenformig sind. 

Statt der Beizeichen finden sich durchweg hochgesetzte, lang ausge- 
zogene, dtinne, nach oben konvexe Striche, und zwar derart, daB die a-Striche- 
lung und der i-Punkt in Wort 3 durch je einen einzigen Strich wiederge- 
geben sind. In Wort 4 haben a und u gar zusammen nur einen Strich, der 
sich unvermittelt ins 1 fortsetzt; wahrend das i im selben Wort, entsprechend 
seiner auBerordentlichen Verwaschenheit, gar keinen Punkt besitzt. 

Der zweite Querstrich am t fehlt, ja selbst der erste, untere ist vollig ver- 
schliffen. 

Mustem wir diese analytischen Einzeltatsachen nun kritisch-grapho- 
logsch und halten sie wiederum gegen Probe 1, so finden wir als Haupt- 
zug die hochgradigst gesteigerte fliichtige Eile 2 ), die gleichzeitig mit 
einer auffallenden Erleichterung der deduktiv - assoziati ven 
Prozesse 8 ), wie auch einer Verflachung 4 ) derselben einhergeht. 
Hemmungen sind hier gar nicht mehr vorhanden 5 ); die Gesamtheit 

*) Je ausgiebiger und sorgfaltiger ein Buchstabe gefertigt wird, um so mehr 
halt er den fortlaufenden FluB der Schreibbewegung auf. Im besonderen hat die 
Vertikaltendenz eines Buchstabens diese aufholtende Wirkung; und um so mehr, 
je scharfer sie ausgepragt ist. 

a ) Weite, sehr rechtsschrage Zentrifugalschrift. St rich form ige. hochgesetzte, 
stark verbundene Beizeichen. 

8 ) Sehr hoher Verbundenheitsgrad. 

4 ) Durch die Eile bedingt. 

5 ) Keine vorgesetzten Beizeichen, keine linksliiufigen Ziige, keine Steile. 


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Go^ 'gle 


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470 


G. Lomer: 


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der geistigen Prozesse spielt sich in iibersturztem Vorwarts- 
sttirmen 1 ) ab, ohne sich die geringste selbstdisziplinare Fessel an- 
zulegen 2 ). Keine Zielvorstellung wird festgehalten, der sich an und fiir 
sich ziemlich energisch gebardende*) Wille wird von impulsivem Ziel- 
wechsel riickgratlos hin- und hergeworfen und bleibt Knecht des 
rein Gef uhlsmaBigen, Affektiven 4 ). 

Trotz dieser auBerordentliehen Bewegtheit ist die allgemeine Stim- 
mung eher depressiv 6 ). Auch diirfte das Selbstgefiihl gegenuber 
Probe 1 herabgemindert 6 ) sein, wahrend die Phantasietatigkeit eine 
Zunahme 7 ) erfahren hat. Die reine Intelligenz scheint erhalten 8 ). 

Ehe wir jedoch auf diese Dinge weiter eingehen, wollen wir weitere 
Proben sprechen lassen. Nur durch Heranziehung eines moglichst viel- 
seitigen, unter abweichenden psychologischen Bedingungen entstandenen 
Materials kann die Variationsbreite der Schrift, kann ihr ,,Schwan- 
kungsspielraum 44 (Klages) die erforderliche Beriicksichtigung erfahren. 

Wir wenden uns also zu Probe 4, die einem gleichfalls spontan ent¬ 
standenen Briefe entnommen ist. Der Brief ist an den Anstaltsleiter 



gerichtet und bringt ein paar geringfiigige Wunsche vor. Die Probe 
gibt den letzten Abschnitt der letzten Briefseite wieder. 

1 ) Auslassungen von Buchstaben und wesentlichen Buchstabenteilen, vollige 
Verschleifung ganzer Buchstabenfolgen (Wort 4). 

2 ) Neigungswinkel bis zu 30 Grad herabgehend. 

s ) Stnchbr<;‘itenunterschied erhalten. Zuweilen starke Grundstriche. Hie und 
da Winkel. Dock fehlen die SchluBriegel im t, auch der zweite t-Querstrioh. 

4 ) Ganzliches Fehlen von Steile, Enge, Linkslaufigkeit, RegelmaBigkeit. 

6 ) Absteigende Tendenz. 

6 ) Viel kleinere Schrift, keine so exzessiven Majuskeltypen wie teilweise in 
Probe 1. 

7 ) Durchschnittlich viel groBere Schleifenfiille. 

®) Zeilen nicht ineinander iibergreifend, kein Schriftzerfall. Vgl. jedoch 
Probe 4 nebst Erlauterung. 


Gok 'gle 


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Ein Fall von zirkularer Psychose, graph ologisch gewllrdigt. 


471 


Die Schrift ist noeh weiter als in 3, der Wort- und Zeilenabstand noch 
groBer. Der Rand wird breiter und ist durch Langszeilen ausgefiillt. Zeilen- 
richtung abeteigend. Strichbreitenunterschied gewahrt, doch nicht so 
bedeutend als in 3. Rechtsschr&ge Schrift: Neigungswinkel 40—30 Grad, 
nach dem Zeilen- und Seitenende zu geringer. Hoher Verbundenheitsgrad 1 ), 

Z A 5 53 1 1 

doch nicht so hoch als in 3. ^^ = -y 3 = 2 35 ^ gegen 20315 in Probe 1 + 2 

und - * in Probe 3). Das kleine d ist mit dem Folgebuchstaben verbunden, 
4,0ol 

sehr oft auch die Beizaichen. Letztere sogar einmal (Zeile 5) mit dem folgenden 
Wort. Der SchluBriegel der kleinen f dagegen (Zeile 2) ist — auffalligerweise — 
im Gegensatz zu Probe 1-1-2 unverbunden geschrieben. 

Die GroBe nverh&ltnisse der Schrift werden am iibersichtlichsten in fol- 
gender Tabelle zusammengefaBt: 


Tabelle F. 




Lftnge 

x Breite = 

= 0 r 6 0 e n - 




koPffizient 


(langenlosen Kleinbuchstab. etwa 1,8 mm 

4,735 mm 

8,523 


Oberlangenbuchstaben 





a) Majuskeln 

11,5 mm 

6,77 mm 

81,155 

Durch- 

b) Minuskeln 

6,17 mm 

3,3 mm 

20,361 

schnittsmaBe < 

Unterlangenbuclistaben 
a) Majuskeln 

_ 

_ 

_ 

der 

b) Minuskeln 

8,0 mm 

3,22 111 m 

25,76 


Doppellangenbuchstaben 





a) Majuskeln 

— 

— 

— 


b) Minuskeln 

14,05 mm 

2,75 mm 

38,6375 


Zu diesen Messungen ist wiederum allerlei zu bemerken. Auch hier sind 
eine Reihe von Buchstaben mehr oder weniger verschluckt und konnten nur, 
soweit sie vorhanden wareji, der Messung unterzogen werden. Im r, (Wort 1, 
Zeile 4), konnte nur die Breite gemessen werden, nicht aber die Lange, da diese 
vollig verschliffen ist. Auch im zweiten c (Wort 3, Zeile 5), fehlt der langenbil- 
dende Grundstrich, wahrend die Buchstabenbreite durch weitere Ausziehung des 
Verbindungsstriches vom a zum h angedeutet ist. In beiden Fallen wurde das 
LangenmaB mit Null angesetzt, der Buchstabe als solcher aber ziffemmaBig 
mitgezahlt. — 

Wie sich wahrend der Messung besonders klar ergibt, ist die GroBe der ein- 
zelnen Buchstaben, und zwar innerhalb einer jeden Kategorie, auBerordentlich 
wechselnd. Dabei besteht eine deutliche Tendenz zum Kleinerwerden nach den 
Wortenden zu (siehe z. B. Wort 3, Zeile 3), zuweilen zum Auslauf inFadenform 
(Zeile 4). Stehen zwei gleiche Buchstaben unmittelbar hintereinander, so ist 
der zweite stets bedeutend kleiner (letztes Wort, Zeile 1; erstes Wort, Zeile 4). 

Das groBe M (Zeile 5) stuft sich treppenformig ab. Im groBen H (Zeile 5) 
ist der erste Hauptzug im groBen W (Zeile 4) der Endzug hoher. 

Betrachten wir obige Tabelle, so bemerken wir die auffallend groBe Diffe- 
renz zwischen Durchschnittsbreite und -Lange der langenlosen Klein- 
buchstaben; erstere ist etwa 3 mal so groB als letztere. Ebenso sind die Unter- 
langenminuskeln ein wenig groBer als die Oberlangen minuskeln, wahrend die 

*) Bei dieser und der GroBenmessung wurden die Randzeilen nicht mit ein- 
bezogen. ch ist stets als ein Kontinuum gerechnet. 


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Gck igle 


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472 


G. Lomer: 


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GroBe der Doppellangenbuchstaben den Voraussetzungen entspricht (etwa Ober- 
-f Unterlangendurchschnitt). 

Um die Gro Ben veriinderungen im Verhaltnis zur friiheren Schrift zu finden, 
stellen wir nun wiederum eine Vergleichstabelle auf, wahlen diesmal aber hierzu 
Schriftprobe 2, die gleichfalls die letzte Seite einea Briefes wiedergibt und darum 
aus psycho-graphologischen Griinden besser zum Vergleiche geeignet ist, als 
Probe 1. 


Tabelle G. 




Lfioge 

Probe 2 Probe 4 
mm mm 

i Breite 

iProbe 2 Probe 4 
■ mm ; mm 

| Grc0enko£fflzient 
Probe 2 ! Probe 4 


langenlosen Kleinbuch- 
staben. 

' | 

4,2 

1,8 

3.7 

i 

1 4,735 

15,54 

8,523 

1 lurch- 

Oberlangenbuchstaben 
a) Majuskeln .... 

1 

19 

11,5 

1 4,6 

6,77 

1 87.4 

81,155 

■L/ \AL Vll 

schnitts- 

b) Minuskeln .... 

9 

6,17 

| 3,3 

3,3 

29,7 

1 

20,361 

maBe 

der 

U nterlangen buchstaben 
a) Majuskeln .... 

_ 

1 _ 


i _ 

i _ 

_ 

b) Minuskeln .... 

9,5 

8 

i 3 

3,22 

28,5 

25,76 


Doppellangenbuchstaben 
a) Majuskeln .... 

18,5 


1 3 

i j 

55,5 

i 


b) Minuskeln .... 

16,9 

14,05 

t 3 


50,7 

38,637; 


Aus dieser Tabelle laBt sich Folgendes ersehen: die langenlosen Klein - 
buchstaben, als Riickgrat der Schrift, verlieren ura mehr als die Halfte 
an Lange und verbreitern sich gleichzeitig um mehr als den vierten 
Teil. (Demgegeniiber das Verhaltnis der Proben 3 :1 = Verkiirzung um die 
reichliche Halfte, Verbreiterung um fast die Halfte.) Wie groB hier die absolute 
Verkleinerung ist, lehrt ein Blick auf die Ziffem des GroBenkoeffizienten: 
er ist um fast die Halfte zuriickgegangen, namlich von 15,54 auf 8,523, 
wahrend sein Riickgang von Probe 1 zu 3 nur recht geringfiigig war (von 6,21 
auf 5,576). 

Ein gleichsinniges Verhalten bezuglich Lange und Breite zeigen die Ober- 
langenmajuskeln und Unterlangenminuskeln: bei ersteren Verkiir- 
zung um ein gutes, Verbreiterung um ein kna ppes Drittel (im vorigen 
Vergleich: Lange unverandert, Breite etwas groBer). Bei letzteren Verkiir- 
zung um etwa ein Sechstel, nebst geringfiigiger Verbreiterung (gegen: ge- 
ringe Verkiirzung und unveranderte Breite). 

Auch die Oberlangen minuskeln sind etwa um ein Drittel kiirzer, wah¬ 
rend die Breite dieselbe blieb (im vorigen Proben vergleich: Abnahme von Lange 
und Breite). 

Eine Langen- und Breitenabnahme zeigen die Doppellangen minuskeln; 
ihre Lange kiirzte sich um etwa ein Funftel, ihre Breite um ein Zwolftel. 

U n t e r 1 a n g e n - und D o p p e 11 a n g e n m a j u s k e 1 n lassen sich aus Mangel 
an Material nicht vergleichen. 

Die Verkleinerung der Schrift ist also hier, am Briefende — verglichen 
mit dcm iilteren Briefe — noch weit bedeutender als am Briefanfang; 
sie erstreekt sich auf saint lie he Buchstabengru p pen und findet ihren 
pragnant<‘sten Niedersehlag in der Nebeneinanderstellung der GroBenkoeffizienten, 
die in Probe 4 durchweg niedrigere, z. T. selir viel niedrigere VVerte zeigen. 

Es bleibt nun noch iibrig, die MaBergebnisse von Probe 4 mit denen von 
Probe 3 zu vergleichen, urn festzustellen, ob und wieweit sich hier etwa dieselben 


Gok 'gle 


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Em Fall von zirkularer Psychos©, graphologisch gewllrdigt. 


473 


Ver&nderungen wie von 1 zu 2 finden lassen. DaB Probe 3 und 4 nicht einem 
und dem8elben Brief© entnommen sind, ist dabei wenig von Belong, da ©e sioh 
beide Male um einen vollkommen spontan entstandenen, Ahnliches Papiermaterial 
benutzenden Brief aus einer und derselben pathologiaohen Phase handelt. Hier die 


Tabelle H: 


Durch- 

schnitts- 

maBe 

der 


langenlosen Kleinbuch- 

staben etwa. 

Oberl&ngenbuchstaben 

a) Majuskeln . . . . 

b) Minuskeln .... 
Unterl&ngen buchstaben 

a) Majuskeln . . . . 

b) Minuskeln .... 
Doppell&ngenbuchsta ben 

a) Majuskeln . . . . 
k b) Minuskeln .... 


j L&nge Breite 

iprobe 8 'Probe 4 Probe 8 'Probe 4 


_mm 

i 

mm 

i 

| 1,64 

1.8 ; 

| 9 

11,5 1 

' 6 

1 

| 6,17 i 

1 

1 

i 

i 7 

8 

| 16.7 

_ 

11.2 

14,05 | 


mm | 

| mm 1 

3,4 

4,735' 

7 

6,77 1 

2 

3,3 | 

i 

3 ! 

3,22 J 

11 


4 

2,75 | 


Ur6B©nko6fflxient 

Probe 8 | 

' Probe 4 

5,576 

8,523 

63 

12 

81,155 

20,361 

21 

1 25,76 

183,7 

44,8 

38,6375 


Auch hier ist also eine gewisse GesamtvergroBerung ersichtlich. Doch 
bemerken wir sogleich, daB dieselbe bei weitem nicht den Grad wi© von 
Probe 1 zu 2 erreiclit. Die GroBenzunahme erstreckt sich auf Lange wie Breite 
und schwankt in den einzelnen Kategorien zwischen etwa der H&lfte und ganz 
geringfiigigen Werten. Eine Breitenabnahme zeigen nur die Doppeil&ngenminus- 
keln, also eine der schwachsten Buchstabengruppen. 

Am pragnantesten zeigt sich die Zunahme in den GroBenkoeffizienten, deren 
weit geringere Werterhohung — im Vergleiche zu Tabelle C — sehr ins Auge fallt. 

Hier der tabellarische Vergleich: 

Tabelle I: 


Aus TabeUe C Aus Tabelle H 


GroBen- 

koeffi- 

zient 

der 


langenlosen Klein- 
buchstaben. . . 
Oberlangenmaj. . 
Oberiangenniin. . 
Unterlangenmaj. . 
Unterlangenmin. . 
Doppellangenma j. 
Doppellangenmin. 


Probe 1 i Probe 2 

Differens 

Probe 8 

1 Probe 4 | 

i_i. 

Differenz 

6,21 

i 

15,54 | 

. 

1 

9,33 

5,576 

8,523 j 

-X. 

i 

2,947 

38,25! 

87.4 ! 

+ 

49,15 | 

63 

81,155 I 

4-18,155 

17,64 

29.7 1 

"r 

12,06 | 

12 

[20,361 1 

+ 

8,361 

28,2 

28.5 i 


0,3 

21 

| _ | 

i 25,76 ! 

4- 

4,76 

391 

55,5 i 

— 

335,5 

183,7 

— i 


— 

i 26,75 

50,7 j 

4- 

23.95 

' 44,8 

38,63751 

— 

6,1625 


Wir haben es, ailes in allem, also nicht nur mit einer bedeutenden Ver- 
kleinerung der Gesamtschrift zu tun, sondern auch mit einer erheblich 
geringeren GroBenzunahme nach dem Briefende zu. Zwei Tatsachen, 
die nicht ohne tiefere Bedcutung sind. 

Fahren wir nun in der Schriftzergliederung von 4 fort: Auf die Auslassun- 
gen oder „Verschluckungen“ einiger Buchstaben oder Buchstabenteile 

Z. f. d. t?. Near. n. Psych. O. XX. 32 


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474 


G. Lomer: 


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wurde schon hingewiesen. Nachzutragen ist das Vorkommen solcher Vorgange in 
geringerem Grade auch noch an einigen anderen Stellen. So findet sich in der ganzen 
Schriftprobe kein vollentwickeltes e; es ist vielmehr in der Regel auf nur einen 
Grundstrich beschrankt, an den sich der fortfiihrende Haarstrich inehr oder we* 
niger unniittelbar anschlieBt. Auch der Korper des a ist fast durchweg stark 
verkleinert, z. T. sogar auf Ntrichbreite, wie in Zeile 2 und 3. Auch das o ist sehr 
nachlassig gcfonnt; im o von Zeile 1 setzt sich der Haarstrich nicht, wie gehorig, 
im Bogen, sondem im spitzen VVinkel an den Grundstrich an, wahrend der Buch- 
stabe in Zeile 5 iiberhaupt nur durch seine Stellung im Worte als solcher kennt- 
lich ist. 

Ebenso nachlassig sind die g in Zeile 1 und 5: die obere Korperhalfte ist 
fast ganzlich verschliffen. Auch das z in Zeile 5 ist mangelhaft gebildet und als 
solches nur durch seine Stellung im Worte legitimiert. 

Einige der a und o sind, infolge der auBerordentlich nachlassigen und ge- 
dehnten Schreibweise, oben weit offen. Was den Schrifttypus betrifft, so 
finden sich zwar noch mehrere Beispiele des Girlandentyps (so das n, Zeile 2; 
das m, Zeile 3); aber die Winkelbindung iiberwiegt (besonders schon im n 
und m von Zeile 1), und ofters findet sich doppelte Bogenbindung, als tlber- 
gang zur Fadenform (so im n, Zeile 2). Die Schrift wird nach dem Wortende 
zu haufig kleiner. (Vgl. Wort 3, Zeile 3). Die Schleifen sind sehr verschieden 
stark entwickelt; von ganz strichformig verschliffenen und ganzlich verschluckten 
(vgl. das d, Zeile 2; die 1 in Zeile 1; das f in Zeile 2) bis zu sehr weitbauchigen 
(das g, Zeile 2; das erste h, Zeile 5) finden sich mancherlei Varietaten. Im ganzen 
iiberwiegen die Unterschleifen, entsprechend der starkeren Auspragung 
der Unterlangen (Tabelle!). 

Die Entwicklung der Maj uskel n ist nicht iibertrieben; keinerlei Verschnorke- 
lung. 

Die Anstriche sind vielfach lang bis sehr lang und zeigen dann leichten 
Schwung (vgl. die ersten Worte von Zeile 1, 4, 5). Die Endstriche sind teils 
kurz, teils lang und laufen vielfach spitz aus. 

Das t hat entweder gar keinen SchluBriegel (Zeile 3 und 4) oder einen kurzen 
(Wort 1, Zeile 5) oder einen lang ausgezogenen (Wort 1, Zeile 1); einmal ist auch 
noch ein — etwas nach vorn geworfener — Querstrich vorhanden (Wort 3, 
Zeile 1). Das h hat, wo es am Wortende steht, keine ausgezogene Unterschleife, 
letztere ist vielmehr nach links offen. 

Buchstaben wieder teils deutsch, teils lateinisch. 

Der erste Grundstrich des W (Zeile 4) erreicht nicht ganz den Boden der 
Zeile. 

Die Beizeichen sind fast samtlich recht hoch gesetzt und alle vorhanden. 
Der i-Punkt ist entweder ein kolbig beginnender, kriimmerer oder geraderer, 
mehr oder weniger lang ausgezogener Strich, von vorwiegend horizontalem Ver- 
laufe, oder er ist mit dem Folgebuchstaben strichformig unmittelbar verbunden 
(Wort 1, Zeile 1; Wort 1, Zeile 3; Wort 2, Zeile 4). Der u-Haken (Zeile 2) ist mit 
d?m darauffolgenden f organisch verbunden. Die ii-Striche (Zeile 5) sind gleich- 
falls zu einem weit ausholenden, schwungvoll einsetzenden Horizontalstrich zu- 
samraengezogen, der sogar in die Anfangsmajuskeln des folgenden Wortes iibergeht 

Die Interpunktion ist vollstandig. Das letzte t, Zeile 5, lauft in eine 
zentripetal geschwungene, sehr spitze Paraphe aus, der ein Punkt folgt. — 

Fassen wir die Hauptzlige dieses Schriftbildes ins Auge, so finden 
wir im ganzen die Wahmehmungen aus Probe 3 bestatigt. Das ganze 
Bikl wird auch hier von einer auBerordentlich sturmischen Fluch- 


Gck 'gle 


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Ein Fall von zirkulftrer Psychose, graphologisch gewUrdigt. 


475 


tigkeit beherrscht, die hier denselben exzessiven Grad erreicht, wie 
in 3, und auch nicht eine Spur von Selbstbeherrschung mehr aufweist. 
Auch beziiglich der Impulsivitat, des erleichterten Ablaufes der 
A8soziationen und der sonstigen Grundeigenschaften walten ganz 
die gleichen Verhaltnisse vor wie bei 3, so daB sie hier nicht noch einmal 
wiederholt werden sollen. 

Einige das Bild erganzende Besonderheiten aber sind vorhanden, 
auf w r elche hingewiesen werden muB. Zunachst weist die geringere 
Druckstarke der Grundstriche in der gesamten Probe 4, im Verein 
mit den oben genannten Symptomen groBerer Fliichtigkeit und fehlen- 
der Hemmung beziehungsweise Spannung, auf einen Riickgang des 
energischen, zielstrebigen Wollens hin. 

Erwagt man gleichzeitig die von Probe 3 zu 4 nur sehr geringe 
GroBenzunahme der Schrift gegenuber den Proben 1 : 2, sowie der 
Umstand, daB auch der (auf Ideenflucht deutende) Verbundenheits- 
grad in 4 lange nicht so hoch ist, als in 3, so lassen sich alle dies© 
Dinge vielleicht am besten als Ermudungssymptome auffassen. 
Als Symptome, die auf eine grdBere Ermiidbarkeit des Kranken 
in bezug auf die psychomotorische Funktion der Schrift hin- 
deuten, als sie der noch leidlich gesunde Mann der Proben 1 und 2 be- 
sessen. Auch die gegen Ende der Probe 4 sichtlich zunehmende 
Fliichtigkeit 1 ) stiitzt diese Auffassung. 

Es wiirde dieses Ergebnis 2 ) den Resultaten von Rehm 8 ) entsprechen, 
der bei der Ermudungsprtifung Manisch-Depressiver mittels Rechen- 
versuchen fand, daB die Leistungen der Kranken durchschnittlich 
um etwa ein Drittel hinter denen der Gesunden zuriickblieben. 

Aber auch sonst bietet die kritische Vergleichung von 3 und 4 mit 
1 und 2 allerlei Wichtiges. Die bereits friiher vorhandene Neigung 
zum Verschwenden tritt verscharft hervor 4 ). Der ganze Charakter 
des auBerst reagiblen Mannes 6 ) erfahrt eine Umwandlung 
nach der unliebenswiirdigen Seite: der konziliante, herzenswarme 
Zug tritt zuriick 6 ); norgelnde Opposition 7 ), uberstiirzte Riick- 
sichtslosigkeit 8 ) und gereizte Scharfe 9 ) machen sich geltend. 

1 ) Zahlreichere Auslassungen, haufigeres Auftreten von Fadenformen. 

2 ) DaB die Proben 3 und 4 zwei verschiedenen Briefen entnommen sind, ist 
hierbei m. E. belanglos, da beide Briefe dem Hohestadium einer und derselben 
Krankheitsphase entstammen und auch unter ahnlichen Gelegenheitebedingungen 
verfaBt sind, namlich ohne Mitwirkung erheblicher Affekte. 

3 ) Kraepelin, Psychiatrie, VIII. Aufl., Bd. Ill, S. 1201. 

4 ) Schrift noch weiter, Rand sich verbreitemd. 

ft ) Sehr wechselnde BuchstabengroBe. 

8 ) Wenig Girlanden. 

7 ) Viele lange, fast gerade Anstriche, bei eckiger Bindung. 

8 ) Stark zentrifugale Schrift, ohne Hemmungen. — Auslassungen. 

9 ) Haufigere lang und spitz auslaufende Endstriche. 

32* 


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476 


G. Lomer: 


Die Einbildungskraft spielt eine groBere Rolle als friiher 1 ); sie 
spiegelt demzweifellos gesunkenen Selbstgefuhl 2 ) allerlei expan¬ 
sive Vorstellungen 3 ) vor, die sich vorwiegend auf das eigene 
Ich beziehen 4 ) und eine Art Kompensation fur die organische Herab- 
stimmung des Seelenlebens 6 ) bilden, die vielleicht auf denLebens- 
miBerfolg und die dauemden ZusammenstdBe mit der Umwelt zuriick- 
zufiihren ist. 

Was die Intelligenz betrifft, so sind ihre Urelemente zweifellos 
erhalten 6 ). Dennoch verursacht das beschleunigte und verflachte 7 ) 
Spiel der Assoziationen, im Verein mit der expansiven Tendenz, 
eine Triibung der momentanen Einsicht und damit eine Erschwerung 
der richtigen Stellungnahme: Zur richtigen kritischen Erfassung und 
Bew'ertung der Umwelt gehort nun einmal eine gewisse Vertiefung und 
Verarbeitung der Wahrnehmungen. Das beschleunigte Tempo seiner 
Denkprozesse laBt jedoch dem Kranken hierzu gar nicht die Zeit; auch 
vermag er eine solitare Zielvorstellung gar nicht festzuhalten; und da 
diese ,,Flucht“ der Ideen die ausgesprochene Neigung hat, sich ins 
Motorische, d. h. in Muskelaktion, umzusetzen, so ist — wie wir sahen — 
eine ungeordnete Kette von ZusammenstdBen mit Hausordnung, Per¬ 
sonal, Arzten und sonstiger Umwelt die unvermeidliche Folge. 

DaB der Patient, seiner VeratdBe halber zur Rede gestellt, also kiinst- 
lich bei den fraglichen Vorstellungen fixiert 8 ), sie so gut oder so schlecht 
als mdglich begriindet oder, wenn das nicht mdglich, glatt abstreitet, ist ein 
schoner Beweis fur die tatsachliche Intaktheit der Elemente seiner In¬ 
telligenz. Worum es sich bei ihm handelt, das ist also lediglich eine 
Storung der Intelligenzbetatigung. 

Nun zu den beiden nachsten Schriftproben, die indes — bei der Aus- 
flihrlichkeit des Voraufgegangenen — etwas kurzer behandelt werden 
durfen. 

Probe 6 ist Notizen entnommen, die sich der Kranke zu eigenem 
Gebrauche als Unterlage fiir allerlei Beschwerden gemacht hat. Der 

*) GroBere Schleifenweite. 

2 ) Viel kleinere, druckschwachere Schrift, kleinere Majuskeln, absteigende 
Zeilen. 

3 ) Manche Schieifen auBerordentlich vollbauchig. 

4 ) Unterlangen und Unterschleifen starker betont. 

5 ) Dauernd absteigende Schrift. 

fl ) Kein Schriftzerfall; Formniveau erhalten; klare, deutliche Schrift und 
Schriftverteilung. 

7 ) Isserlin stellte fest, daB ein Richtungswechsel des Gedankenganges bei 
Geeunden etwa alle 5—0 sec., bei einer Maniaca dagegen schon nach 1,6—1,7 sec. 
stattfand. Monatsschr. f. Psych, u. Neur. XXII, 302. 

8 ) Das war nie ganz leicht, da der Kranke stets abschweifen wollte und bei 
energischen Erinnerungen an das Geschehene sich leicht heftig gereizt zeigte: 
das versuchte Verharren bei einer Vorstellung war ihm sichtlich unlustvoll. 


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Ein Fall von zirkul&rer Psychoae, graphologisch gewtlrdigt 


477 


Briefbogen ist dicht — auch am Rande — beschrieben. Die Schrift 
zeigt in der Hauptsache samtliche Eigenschaften der beiden vorigen 
Proben verstarkt. Einige Besonderheiten : 


Enteprechend der Absicht des Schreibers, den Raum moglichst auszunutzen, 
ist die Schrift noch bedeutend kleiner, dabei drucksch w&cher. Neigungs- 

4 203 

winkel 30—50 Grad. Verbundenheitsgrad der ersten 7 Zeilen: - -- - oder 


1 


_ , also wiederum wesentlich Hdher als in Probe 1 und 2. Bemerkenswert 

2,8146 

erscheint die trotz Wasserliniierung vorherrschende absteigende Zeilen- 
richtung. Doch koramen auch einige ansteigende Zeilen vor. Femer sind die 


v. 

(Mai 

1911.) 



AsL a 









Anstriche zuweilen starker geschwungen, als in den friiheren Proben (vgl. B in 
Zeile 1 und 2; S in Zeile 8 usw.). 

Beides diirfte als Ausdruck gelegenthchen heiter-geselligen Stimmungsauf- 
schwunges aufzufassen sein, der zweifellos in einem gewissen Wechselverhaltnis 
zu der Zunahme des Verbundenheitsgrades 1 ) steht und auf ein Wachsen der Fliich- 
tigkeitskomponente hindeutet. 

Wenden wir uns nun zu Probe 6, die abermals einem Beschwerde- 
brief an die Direktion entnommen und auf einem wasserliniierten Brief¬ 
bogen geschrieben ist. Die Schriftprobe unterscheidet sich insofem von 
den vorigen, als sie — wie schon der Inhalt lehrt — unter der Einwirkung 
eines lebhaften zornigen Affektes verfaBt ist. 

Die Schrift ist weit druckreicher als die vorigen und macht sogleich 
einen viel unregel maBigeren Eindruck. Doch zeigen die Worte im ganzen 
weniger Verschluckungen. Der Neigungswinkel schwankt zwar vor- 
wiegend in den iiblichen Grenzen von 30—50 Grad, erhebt sich jedoch ein paar- 
mal zu hoheren Werten, so zu 60 Grad (im letzten langen s der letzten Zeile), 
zu 05 Grad (im i, Zeile 2), zu 70 Grad (im r, Zeile 2). 

*) Bei Probe 4: ; bei Probe 5: — . 

2,35 2,8146 


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478 


G. Lomer: 


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4 SOT 

Zeilenrichtung stets absteigend. Verbundenheitsgrad -y-- oder 

1Z 

o • Di e GroBe nverhaltnisse entsprechen so ziemlich denjenigen von Probe 4, 
2,4963 

doch sind sie im ganzen um einen — sehr geringfiigigen — Wert kleiner. Bin- 
dungstyp: Winkel- und Girlandenbindu ng gemischt. 


VI. 

(Mai 

1911 .) 







Recht auffallend sind die verschieden geformten u-Haken, in denen ein druck- 
reich beginnender, in langer scharfer Abwartsspitze auslaufender neuer Typ sich 
besonders bemerkbar macht (Zeile 3 und 4). 

Kurz gesagt ist diese Probe 6 ein hiibsches Beispiel fur die Wirkung 
des Zomaffektes auf den Schriftcharakter. Starkerer Druck, gro- 
Bere Unregel maBigkeit, Wechsel des Neigungswinkels, 
scharf - spitzig hingeschleuderte u-Haken — das alles sind typische 
Merkmale zorniger Gereiztheit, die denn auch in der Tat zu den 
haufigeren Stimmungslagen des Kranken gehort. 

Die Ideenflucht — das ist besonders interessant — wird anscheinend 
durch den Zornaffekt etwas gehemmt, wie die geringe Zahl der Aus- 
lassungen anzudeuten scheint. 

Uberblicken wir nun noch einmal die Gesamtheit der letzten 4 Schrif t- 
proben (Nr. 3—6), so stellen wir fest, daB sie in der Tat als ein treff- 
licher Niederschlag, eine ausdrucksvolle Fixierung gerade der hier vor- 
liegenden Spezialform zirkularer Psychose 1 ) anzusprechen sind. Wie 
durchaus das der Fall, ergibt sich aus den durch die Analyse gefundenen 
und oben beschriebenen Einzelheiten von selber. Zugleich wird uns 
klar, wie sehr die Psychose sozusagen aus dem Charakter, aus 
der angeborenen Wesensart 2 ) des Kranken herausgewachsen 

l ) Um eine extreme Form kandelt es sich hier nicht; bei einer solchen wiir- 
den schweriich Schriftproben geordneter Art zu erzielen gewesen sein. 

a ) Man vergleiche beispielsweise nur die in Probe 1 und 2 festgestellte Nei- 
gung, aus der Tatigkeit neue starkere Impulse des Selbstgefiihls und der lust- 
betonten aktiven Betatigung zu ziehen, mit dem klinisch beobachteten Verhalten 
des Kranken bei Gesprachsversuchen: ieidlich nihiger Beginn und allmahliche 
Steigerung, unter lebhaftem Gebardenspiel, zu schreiendem Gebriill! — Ein ab- 
warts rollendes Rad !! 


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Ein Fall von zirkul&rer Psyehose, graphologisch gewUrdigt. 


479 


ist *). Sie ist nichts als die Summe von teils Steigerungen, teils Abschwa- 
chungen der bereits in der Gesundheitsbreite vorhandenen Eigen- 
schaften. 

So ist auf der einen Seite die Hemmungsarmut zum volligen 
Hemmungsmangel, auf der anderen die lebhafte Reagibilitat 
zur fessellosen Ideenflucht, das stolze bis iiberstolze Selbstgefuhl 
zu einem eigentiimlichen Gemisch von groBenwahnhafter Selbstiiber- 
schatzung und reizbarer Depression geworden; und es ergibt 
sich klar, wie sehr die Hyperkinesie das Krankheitsbild be- 
herrscht. 

Will man ihrem Mechanismus gerecht werden, so ist der Wegfall 
der Hemmungen und die darauf beruhende auBerordentliche Er- 
leichterung, Beschleunigung und Verflachung im Vorstellungsablauf 
wohl als die Primarerscheinung anzusehen, aus der sich dann sekun- 
dar die der Krankheit eigentiimliche Verktirzung des psychischen 
Reflexbogens ergibt. 

Beim Normalgeistigen erfahrt jeder Reiz, ehe er sich ins Motorische 
iibertragt (sofern dies iiberhaupt geschieht!), eine mehr oder weniger 
grundliche Durcharbeitung und damit Hemmung. Diese Hemmung 
liegt in der kritisch-intellektuellen, mehr oder weniger bewuBten Denk- 
arbeit, welche die Reize sichtet und nur so weit in die motorische Region 
weitergibt, als den Zwecken des Organismus dienlich ist. Beim Maniacus 
ist dieser Widerstand ausgeschaltet: jeder Reiz wird sogleich zum 
motorischenlmpuls 2 ). Daraus resultiert dann ein unwiderstehliches 
Hingerissensein, das jeden auBeren Hemmungsversuch mit einem 
starken Unlustgefiihl beantworten laBt. 

Solche Hemmungsversuche bietet jedoch in groBer Zahl schon das 
Alltagsdasein, mit seinen tausend Schranken, Gesetzen und Sitten- 
geboten: in der Diskrepanz beider, namlich des Hingerissenseins mit 
diesem Alltagsdasein, liegt vermutlich eine Hauptquelle 3 ) der bei Ma- 
nischen nicht so seltenen, als depressiv aufzufassenden zornigen 
Reiz bar keit, deren mehr 4 ) oder weniger 5 ) starke Auspragung auch 
unsere Proben zeigen. So kommt es, daB bei vielen Manischen das durch 
die Assoziationsleichtigkeit und erhohte Reaktivitat ausgeloste per- 

') Auch Re ill hat bekanntlich festgestellt, daB im allgemeinen bei hei- 
terer Veranlagung die manischen Zustiinde uberwiegen. Vgl. Zeitschr. f. d. gcs. 
X. und Psych., 2, 347. 

2 ) Ahnlich wie beim Rausch. In der Tat ist ja auf die Ahnlichkeit des ma¬ 
nischen Verhaltens mit dem Rauschverhalten schon oft hingewiesen worden. 

3 ) Wohl nicht die einzige Quelle. Moglicherweise wird schon das „Hinge- 
rissensein“ an sich, das Nicht-andere-konnen vorn gewissermaBen zuschauenden 
Eigenintellekt unlustvoll empfunden. 

4 ) Probe 6. 

b ) Probi' 3—5. 


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G. Lonier: 


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sdnliche Gehobenheitsgeflihl seltsam mit dieser Reizbarkeit kontrastiert, 
mit der es sich so geme vergesellschaftet 1 ). 

Ehe wir nun in der Schilderung des Krankheitaverlaufes fortfahren, 
wollen wir die graphologischen Sonderkennzeichen unseres 
Falles von Manie, so weit sie sich bereits aus dem Vorstehenden ergaben, 
kurz und (ibersichtlich zusammenstellen. Es wurde durch die Gegen- 
uberstellung von Schriftproben aus relativ gesunder und aus kranker 
Zeit als graphische Symptome der Manie bisher etwa folgendes 
gef unden: 

I. Ein sehr hoher Grad von fltichtiger Eile: 

a) Weiterwerdende Schrift. 

b) Auslassungen von Buchstaben oder Buchstabenteilen. 

c) Neigung zur Verkleinerung, auch zur Fadenform am Wort- 
ende. 

d) StrichfCrmige Beizeichen. 

II. Starkes Wachsen des Verbundenhei tsgrades, unter Um- 
standen bis auf den doppelten Wert. 

III. Sinken des Neigungswinkels bis unter 40 Grad, oft 
schon am Anfang des Schriftstiickes. 

IV. Verlust der Hemmungs- oder Spannungsmerkmale. 

V. Zunahme der Schleifenweite. 

Wie man sieht, handelt es sich also nicht um ein solitares Merkmal, 
sondem um einen ganzen Merkmalkomplex. Der manische Vor- 
gang verandert ganze graphische Erscheinungsgruppen. 

Von den genannten fiinf Punkten scheinen mir Punkt II und III 
besonders bedeutsam, da sowohl Neigungswinkel wie auch Ver¬ 
bundenhei tsg rad der Regel nach zu den stabilsten Sc hr if teigen - 
schaften gehoren. 

Hierzu k6nnte vielleicht als 6. Punkt noch die Wandlung des 
Charakters in Unsozialere und als 7. Punkt die deutliche De- 
pressivitat der Schrift gerechnet werden, die sich in sinkender 
Zeilenrichtung, Druckminderung und den Merkzeichen hoher Reizbar¬ 
keit auBert. Doch diirfte die Depressivitat wahrscheinlich nur einer 
Mischform, wie sie hier vorliegt, zuzusprechen sein; und Punkt 6, die 
Charakterwandlung, ist sicher erst von sekundarer Art und kann nicht 
als manisches Merkmal im engeren Sinne angesprochen werden. 

Fahren wir nun in der Krankheitsschilderung fort. 

Der oben geschilderte Gipfelzustand klang im Laufe des Juni 1911 allmah- 
lich ab. — Z. wurde erheblieh ruhiger, fing an, sich mit medizinischer Lektiire — 
freilich in eigentiimlich flacher Art — zu beschaftigen, er schalt zwar hie und da 
noch auf seine Angehbrigcn, auBerte bei Gelegenheit auch noch diese oder jene 

l ) Es handelt sich in unserem Falle also um einen der nicht so seltenen Misch- 
zustande. 


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Ein Fall von zirkul&rer Psy chose, graphologisch gewBrdigt. 


481 


passage re Expansivvorstellung, benahm sich jedoch im ganzen so geordnet, daB 
er von den ihn besuchenden Angehorigen fiir gesund gehalten und aus der An- 
stalt genoramen wmrde. Am 22. Juli 1911 als gebessert entlassen. 

Z. siedelte ins Eltemhaus iiber und machte dort wiederum eine langere de¬ 
pressive Phase durch: er schloB sich stundenlang in sein Zimmer ein, floh die 
Menschen und sprach nur das Notwendigste. Eine Verst&ndigung mit ihm erwies 
sich auf die Dauer als unmoglich. Die Angehorigen sucliten die Erklarung fiir 
diesen Zustand in der berufiichen Untatigkeit und willigten daher ein, als der 
Kranke — Anfang 1912 — mit wieder wachsender Erregung den Wunsch auBerte, 
an der Universitat L. den FerienkurHua fur iiltere Mediziner mitzumachen. Z. 
zog zu seinem Bruder nach L., besuchte jedoch keineswegs den Kursus, sondem 
vergeudete das dafiir erhaltene Geld in Kneipen und auf Reisen. SchiieBlich ver- 
schwand er wiederum, um endlich in Berlin aufzutauchen, wo er auf Antrag des 
Vormundes polizeilich angehalten wurde. 

Nachdem er im Zimmer des Berliner Polizeipr&sidiums alles kurz und klein 
geschlagen, wurde er am 15. Oktober 1912 zum zweitenmal hiesiger Anstalt zu- 
gefiihrt. 

Hier bot er im ganzen dasselbe Bild wie w&hrend seines ersten Aufenthaltes, 
war auBerst beweglich, redselig, gereizt, erz&hlte in sehr weitschweifiger, ex- 
pansiv-renommistischer VVeise, mit niannigfachen Konfabulationen, von seinen 
Erlebnissen, schrieb zahllose Briefe, kommandierte und briillte, zerriB W&sche, 
Noten und Bucher, wurde gelegentiich aggressiv, belastigte andre Kranke homo- 
sexuell, bemalte sich mit Kalk und hatte tausend Querelen iiber Personal, Arzte 
und Mit kranke. 

Dieser Erregungszustand, der den friiheren noch iibertraf, klang nur sehr 
langsam im Februar bis M&rz 1913 ab und ging in ein geordneteres, doch immer 
noch hypomanisches Benehmen iiber. — Z. ging rcgelmaBig in Begleitung spa- 
zieren, lief dabei jedoch in solehem Tempo, daB der begleitende Pfleger kaum 
zu folgen vermochte, kam ofters mit groBer Verspatung nach Hause, suchte mit 
Pflegerinnen erotisch anzubandeln, rief unterwegs Voriibergehende an, liebte es, 
andere Kranke zu necken, und spielte mehrmals wochentlich in sehr gewandter, 
aber fliichtiger und immer nur reproduktiver, nie produktiver Weise Klavier. 
Ofters besuchte er die Anstalts&rzte zum Kaffee, sprach dann unendlich viel 
und rasch und lieB andere nicht zu Worte kommen. 

Endlich, im April bis Mai 1913, vertiefte sich die Beruhigung, so daB Z. — 
abgesehen von gelegentiich auftauchender Reizbarkeit und von Andeutungen 
leichter Ideenflucht — sich vom Normalmenschen nur noch unwesenthch unter- 
schied. Er zeigU* sich jetzt im personlichen Verkehr als auBerst liebenswiirdiger, 
gewandter Gesellschafter, voll Witz und Humor, erz&hlte mit Vorliebe Erlebnisse 
und Anekdoten aus seinem Leben, arrangierte Gesellschaftsspiele und leistete 
wirklich Gutes am Klavier. Sein Auftreten blieb jetzt durchaus bescheiden. 

Aus dieser Zeit, Mai 1913, stammt Schriftprobe 7, die der letzten 
Seite eines Spontanbriefes an einen guten Bekannten entnommen wurde. 

Die Schrift unterscheidet sich in der GroBe kaum von Probe 3 und 6, ist 
druckreich, weit und zeigt noch mehrere Verschluckungen von Buch- 
staben (z. B. das erete e in ,,bestens‘\ 2k?ile 2) oder Buchstabenteilen (z. B. im 
a, Zeile 2, Wort 2; im en, Zeile 2, Wort 3; im p. Wort 2, Zeile 3); freilich nicht 
entfernt so viele wie beis pie Is weise Probe 3—5. Strichbreite nu nterschied 
sehr ausgepragt. 

Zeilenrichtung etwas ansteigend, Neigunsw'inkel 40—50 Grad, 
nie u liter 40 Grad herabgehend. Der Verbundenheitsgrad betragt 


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G. Lomer: 


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5,8556 1 j)j e Verbundenheit ist also weit geringer als in den Proben 

3—6 und nahert sich deutlich dem entsprechenden Werte der Proben 1 und 2 


ohne freilich ganz zu ihm herabzusinken. 

\ 2,0old / 

Bemerkenswert erscheint mir, daB der Bindungst 
Girlandenform annimmt und seine Ecken verliert. 


yp wieder mehr die 
Die Schleifen treten 


VII. 

(Mai 

1913 .) 













nirgends mehr auffallig hervor. Die Anstriche zeigen zuweilen eleganten 
Schwung. Die Majuskeln fallen nicht durch GroBe auf. Die Endstriche 
laufen teils spitz aus, teils sind sie kurz, doch nie druckreich abgesetzt. 

Die i-Punkte sind noch strichformig, doch bei weitem nicht so lang wie 
in den vorigen Proben. Die u-Haken gleichfalls viel kiirzer. Alle Beizeichen 
ziemlich hoch gesetzt und im Anfangsteil der Probe kurz, im Endteil weit hintei 
die Grundstrichverlangerung gesetzt. 

Linkslaufige Schleifen am t und f fehlen; der fortfiihrende Zug setzt ein- 
fach im spitzen oder stumpfen Winkel an. Einmal ist ein Querstrich iiber die 
Spitze des t gesetzt (Zeile 2). 

Wir sehen bereits, daB das Schriftbild durchaus dem klinisch-gesell- 
schaftlichen Befunde entspricht. Es tragt zwar noch die Merkmale 
einer gewissen Fllichtigkeit 1 ), doch lange nicht in dem MaBe, wie 
die Proben 3—6. Die impulsive Fortgerissenheit 2 ) ist weit geringer, 
der assoziative Gedankenablauf 3 ) zwar gegeniiber gesunden Zei- 
ten noch immer erleichtert, doch nicht entfernt so sturmisch wie zur 
Zeit der manischen Acme. 

Zweifellos geht dieses veranderte Verhalten weniger auf groBere 
Selbstbeherrschung zuriick 4 ), als vielmehr auf einen Riickgang der ele- 
mentaren Storung selbst. Hand in Hand damit erscheint eine deutliche 
Riickkehr zum Sozialen 6 ). Die Phantasie 6 ) gefallt sich nicht 
mehr in iibergroBer Expansivitat, die ganze Denkweise wird bescheide- 
ner 7 ). Der Wilie 8 ) erhalt mehr Zielstrebigkeit, und gelegentlich tritt 

*) Verschluckungen, hoch und z. T. vorwartsgcsetzte Beizeichen, strichformige 
i*Punkte. 

2 ) Neigungswinkel nie unter 40 Grad. 

3 ) Vgl. die Verbundenheitsgrade. 

4 ) Keine Hernmiingsinerkmale. Beizeichen nur teilweise an richtiger Stelle 
gesetzt. 

5 ) Girlande vorherrschend. 

6 ) Schleifen durchweg engcr. 

7 ) Majuskeln von gemaBigter Auspragung, Schrift kleiner. 

8 ) Starkerer Druck. besonders im Zeilenanfang, vgl. Zeile 2. 


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Ein Fall von zirkulfcrer Psyehose, graphologisch gewtirdigt. 


483 


wohl die Neigung zu dominierendem 1 ) und kurz angebunde- 
nem a ) Auftreten hervor; beides jedoch nie in verletzendem MaBe. 

Sichtlich gehoben haben sich Laune und Lebensmut 8 ). 

Damit kommen wir zu unserer letzten Schriftprobe Nr. 8, die einem 
kurzen Spontanschriftetlick des Kranken entnommen und auf Akten- 
format geschrieben ist. 

Die Schrift ist weit und ziemlich druckschwach. Der Rand breit und 
sich nicht ver&ndemd. Zeilenrichtu ng absteigend. Zeilen und Worte gut 



VIII. (Juni 1913.) 

voneinander abgesetzt. Neigungswinkei durchschnittlich 40—50 Grad. 
Die GroBenverhaltnisse ergeben sich aus folgender 

Tabelle K: 


Durch- 

schnitts- 

maBe 

der 


! 

i 

j 

langenlosen Kleinbuchstaben 4 ) 

L&npc x 

mm 

Breite - 

nim 

1 

tiroflen- 
ko^ffizient 
von 8 

i 

GroCen- 
koPffizient 
von 4 

etwa. 

0,956 


3,592 

8,523 

Oberlangenbuchstaben 


3,757 j 



a) Majuskeln. 

7,25 

3,4 

24,65 

81,155 

b) Minuskeln. 

3,76 

2.8 

10,528 

20,361 

Unterl&ngenbuchstaben 


a) Majuskeln. 

— 

— 

- 

— 

b) Minuskeln. 

5,8625 

3 

17,5875 

25,76 

Doppellarigen buchstaben 





a) Majuskeln. 

i i 

— ' 

— 

| — 

b) Minuskeln. 

i 10.12 

1,96 

19,8 .if) 2 

38,6375 


Vergleichen wir diese Tabellenzahlen mit den Ergebnissen friiherer Messun- 
gen, z. B. mit den GroBenverhaltnissen der Proben 3 und 4, so bemerken wir 
einen ganz erheblichen, weiteren Ruckgang, der sich auf samtliche Buchstaben- 
kategorien crstreckt und Buchstabenliinge wie -breite umfaQt. Wie bedeutend 
dieser Ruckgang ist, erhellt am besten a\is dem Vergleiche der GroBenkoeffizien- 
ten; es w r urde darum der Koeffizient von Probe 4 der Tabelle K angefiigt. Stellen* 
weise geht der Koeffizient auf die H&lfte, ja einmal unter ein Drittel des 
fruheren Wertes herab. 

Im iibrigen w r alten in Tabelle K ahnliche Verhaltnisse der einzelncn Gruppen 

x ) Hoher Querstrich iiber dem t, Zeile 2. 

2 ) Hie und da kurz abgesetzte Endstriche. 

3 ) Ansteigende Zeilen. 

4 ) Gemesscm an den beiden ersten Zeilen. 


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G. Lomer: 


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untereinander ob, wie in den vorigen. Bei den Kleinbuchstaben fallt das ge- 
waltige Gberwiegen der Breitendimension auf, die an der bedeutenden Weite 
der Schrift wesentlich beteiligt ist. Auch das Uberwiegen der Unterlangen iiber 
die Oberlangen erscheint bemerkenswert. Dem entspricht eine weit starkere Ent- 
wicklung der Unterschleifen, die ausgepragter ist als in Probe 7. Geblieben ist 
femer, wenn man ins einzelne geht, der betrachtliche Wechsel in der GroBe 
der gleichen Buchstaben, die Vermengung deutscher und lateinischer For- 
men, die Neigung zur Fadenform. Verschluckungen kommen gar 
nicht vor, wenn man von dem nur eben angedeuteten e (vorletztes Wort, Zeile 2 ) 
absieht. 


4 04164 1 

Der Verbu ndenheitsgrad betragt —^ oder 2474 * Er ist also merk- 
lich hoher als in der vorigen Probe , ja ubert rifft sogar den Verbundenheits- 

grad von Probe 4 (namlich — und erreicht fast die Hohe wie in Probe 6 


i- 


2,4963 / * 


Was den Bindungstyp angeht, so sind zwar auch hier eine Reihe von Gir- 
landenformen vorhanden, aber nicht in dem MaBe wie in Probe 7, sondem 
mit haufigen Winkelbindungen untermengt. 

Die Anstriche sind ziemlich lang und vielfach leicht geschwungen. End- 
striche desgleichen. Beizeichen vollzahlig und im ganzen korrekt gesetzt, 
d. h. in der Verlangerung der Buchstabengrundstriche oder kurz dahinter; nur 
der u-Haken, Zeile 2 , ist etwas vorgeriickt; ihre Hohe wechselt. 

i-Punkte punktformig oder in Gestalt kurzer Striche. u-Haken oben offen. 
t und f ohne Querriegel, d ohne Kopfschleife, a und o in der Regel geschlossen. 
Interpunktion korrekt. 


Es finden sich also in Probe 8 ohne Frage eine Reihe von Symptomen, 
die uns aus den exquisit manisch-graphischen Zustanden der Proben 
3—6 wohlbekannt sind. Vor allem: der erhohte Verbundenheits- 
grad, die Neigung zur Fadenform, die Zunahme der Schleifen- 
weite. 

Dazu kommt die absteigende Zeilenrichtung und das Zuruck- 
treten der Guirlanden. 

Es fehlt demgegeniiber: das Sinken des Neigungswinkels, 
es fehlen die Verschluckungen von Buchstaben und Buchstabenteilen 
und die lang - strichformigen Beizeichen. 

Gelegentlich treten Hemmungsmerkmale auf (sehr korrekt ge- 
setzte Beizeichen; u-Haken vorgesetzt, Zeile 2). 

Die Schrift zeigt also unbezweifelbare Ansatze zur Norm zuruckzu- 
kehren, hat aber sehr wesentliche pathologische Merkmale behalten. 
Lehrreich ist der Vergleich der Proben 7 und 8, die beide aus etwa der- 
selben Zeit des Schwindens der manischen Erscheinungen stammen. 
Sie seien hier in einer Tabelle vereinigt, in der das Vorkommen und die 
deutliche Auspragung eines der oben genannten manischen Merkmale 
mit dem -f Zeichen, das Fehlen oder die schwache Auspragung mit 


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Ein Fall von zirkul&rer Psychose, graphologisch gewtlrdigt. 


485 


dem 0-Zeichen, das abwechselnde Vorhanden- oder Nichtvorhandensein 
durch beide Zeichen ausgedrtickt sei. 


Tabelle L. 

I. Ein sehr hoher Grad von fliichtiger Eile: Probe 7 Probe a 

a) .Schrift weiter. 4 - 4- 

b) Verschluckungen.+ 0 

c) Fadenform.+ 4 - 

d) Beizeichen lange Striche.4-0 0 

II. Wachsen des Verbundenheitsgrades.0 + 

III. Sinken des Neigungswinkels unter 40 Grad 0 0 

IV. Verlust der Hemmungs- oder Spannungsmerkmale 4- 4-0 

V. Zunahme der Schleifenweite.0 4~ 

hierzu: 

VI. Depressivitat.0 4 

oder: 

VII. Gehobenheit 1 ).+ 0 

und: 

VIII. Schwinden der Girlanden.0 4- 


In Probe 7 findet sich das 0-Zeichen 6mal, das Kreuzzeichen eben- 
falls 6mal; in Probe 8 das 0-Zeichen 5mal, das Kreuz dagegen 7mal. 
Woraus ohne weiteres erhellt, dafl Probe 8 dem grapho-psychologischen 
Normalverhalten femer steht, als Probe 7. Es handelt sich also zweifellos 
um eine gewisse Verschlimmerung des psychischen Zustandes, 
der — ausweislich dieser Schriftbetrachtung — labiler ist, als aus dem 
auBeren Verhalten des Patienten wahrend dieser Zeit ersichtlich. 
Z. benahm sich im Mai und Juni durchweg so geordnet und sozial, dafl 
er am 25. Juni der Familie wiedergegeben wurde, und hat sich auch 
bis heute drauBen zu halten vermocht. Die Schriftuntersuchung gewahrt 
also einen tieferen Einblick in den seelischen Zustand als die 
nur klinische Beobachtung. Sie veranschaulicht deutlich, wie die 
Erregungswelle, statt auf einmal ganzlich zuriickzufluten, vielmehr 
allmahlich abebbt und dabei noch eine gewisse Wellenhohe — wohl 
voriibergehend — zu erreichen vermag. 

Aber noch weiteres lehrt uns ein Blick auf die letzten Schriftproben. 
Zu ihren wesentlichsten Merkmalen gehort zweifellos die mit der fallen- 
den psychomotorischen Erregung einsetzende betrachtliche Schrift- 
ver kleinerung. Da die beiden Proben nun aber in toto dem absoluten, 
d. h. dem uberhaupt erreichbaren Normalzustande der Z.schen Schrift 
am nachsten kommen, so ist mit groBter Wahrscheinlichkeit anzuneh- 
men, daB auch dieses in der ,,beruhigten“ kleineren Schrift zutage tre- 
tende wichtige Merkmal dem Normalverhalten der Schrift so ziemlich 
entspricht oder nahe kommt. In der Wurdigung der SchriftgroBe bei- 
spielsweise der Proben 3 und 4 diirfen wir also nicht von alter datierten 

l ) Vgl. die nachfolgenden Ausfuhrnngen. 


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486 


G. Lomer: 


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Proben, wie etwa 1 und 2 ausgehen, da dies sicher zu irrigen Ergebnissen 
fuhren wtirde. Vielmehr ist anzunehmen, daB die Schrift in den letzten, 
den Proben 3 und 4 vorangehenden Jahren, aus denen wir leider 
keine Belege haben, etwa den GroBenverhaltnissen von 7 und 8 entspro- 
chen haben mag. So gewiirdigt, zeigen die Proben 3 und 4 also nicht 
etwa ein Kleinerwerden, sondern ein bemerkenswertes GroBerwerden 
der Gesamtschrift. 

Und in ahnlicher Weise miissen auch die Druckverhaltnisse kri- 
tisch betrachtet werden. 

Bei der Aussonderung maniseh-graphischer Merkmale aus unserem 
Material muBten wir konstatieren, daB unsere samtlichen Schriftproben 
Nr. 3—6 als Ausdruck der hier vorliegenden Mischform, deutliche de¬ 
pressive Ziige zeigten. Diese depressiven Beimengungen fehlen nur 
in einer Probe, namlich in Nr. 7, die statt dessen gegenteilige Merk¬ 
male (ansteigende Zeilenrichtung, starken Druck, groBen Strichbreiten- 
unterschied) aufweist und damit die einzige Probe wird, deren Merkmale 
als — wenn auch liickenhafte — so doch rein - manische Merkmale 
angesprochen werden konnen. Diese Merkmale aber stehen in schroffem 
Gegensatze zu den depressiven Ziigen von Probe 8 wie Probe 3—6, und 
man darf also als sicher annehmen, daB — wie die zunehmende GroBe — 
so auch der zunehmende Druck als tvpisches manisches Kenn- 
zeichen aufzufassen sind. 

Es bestiitigt sich damit der von Georg Meyer 1 ) gefundene und er- 
vviesene Satz, daB Exaltationszustande ,,mit Steigerung von Aus- 
dehnung, Geschwindigkeit und Druck einhergehen“ 2 ). 

Diese drei Komponenten der Schrift: Ausdehnung, Geschwindigkeit 
und Naehdruck stehen — das hat bereits Meyer auf das klarste nach- 
gewiesen — zueinander in ganz festen Beziehungen, ,,und zwar so, daB 
mit dem Wachsen einer derselben auch die beiden anderen zu- 
nehmen“ 8 ). 

In den Proben 3—6 findet sich keine so erhebliche Druckstarke wie 
in Probe 7; in Probe 8 andererseits, die dem graphischen Normalzustand 
zweifellos relativ fast ebenso nahe kommt wie 7, ist der Druck be- 
merkenswert gering und jedenfalls geringer als in 3, 4 und 6. Die Nor- 
malstarke dlirfte also, wie sich somit schlieBen laBt, in der Mitte zwischen 
den Druckstarken von 7 und 8 liegen; denn wie die Exaltation (Probe 7) 
mit Drucksteigerung einhergeht, so ist die Depression, wie die Er- 


*) Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie, S. 34ff. 

2 ) ,,Bei vier nianischen Kranken“, sagt Meyer, S. 38, „fand sich . . . eine 
betrachtliche Erhohung sowohl der Schreibgeschwindigkeit wie des Druckes, ins- 
besondere zeigten sich die Druckunterschiede zwischen den Auf- und Abstrichen 
als weit iiber die Norm hinausgebend. 44 

3 ) A. a. O., S. 39. 


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Ein Fall von zirkul&rer Psy chose, graphologisch gewQrdigt. 


487 


fahrung lehrt 1 ), regelmaBig mit einer Druckherabsetzung vergesell- 
schaftet. 

Es erweist sich also, daB zur Vergleichung und Erlauterung der Druck- 
verhaltnisse unsere ersten beiden, uber 10 Jahre alteren Schriftproben, 
Nr. 1 und 2, nicht herangezogen werden kOnnen, daB man die Normal- 
druckverhaltnisse dieser Schrift vielmehr aus den gegebenen Tatsachen 
nach Moglichkeit zu rekonstruieren hat, was mit Obigem versucht wurde. 

Wollen wir also vollstandig sein, so mussen die oben normierten 
manisch - graphischen Merkmale nunmehr, unter Einfugung des 
Neugefundenen, zu folgendem Gesamtbilde erganzt werden: 

I. Ein sehr hoher Grad von fluchtiger Eile^ 

a) Schrift im ganzen weiter, grdBer und — besonders im 
Grundstrich — druckreicher. 

b) Verschluckungen von Buchstaben und Buchstabenteilen. 

c) Neigung zur Verkleinerung, auch Fadenform am Wortende. 

d) Beizeichen lange Striche. 

II. Starkes Wachsen des Verbundenheitsgrades, unter Umstanden 

bis auf den doppelten Wert. 

III. Sinken des vorher hOheren Neigungswinkels bis unter 40 Grad. 

IV. Verlust der Hemmungs- oder Spannungsmerkmale. 

V. Zunahme der Schleifenweite. 

VI. Aufsteigende Zeile. 

Dieses tatsachliche Ergebnis an einer groBeren Zahl von Fallen nach- 
zupriifen, muB Aufgabe weiterer Arbeiten sein. 

x ) 8. Meyer, S. 38. 


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Zur Frag© der Heilbarkeit der Korsakowsehen Psychos©. 

Der weitere Verlauf der Falle von Korsakowscher Psychose, die in den 
Jahren 1904 bis 1911 in der Kgl. psychiatrischen Klinik in Miinchen 

aufgenommen wurden. 

Von 

Alfred Friedrich Kauffmann. 

(Eingegangen am 10. Oktober 1913.) 

I. 

Schon den alteren Psychiatern war es bekannt, daB sich bei schweren 
Alkoholikern nicht selten eine psychische Stdrung entwickelt, deren 
augenfalligstes Symptom eine hochgradige Schadigung der Merk- 
fahigkeit, verbunden mit einer Schwache des Gedachtnisses — nament- 
lich fur Jungstvergangenes — ist. 

Von den 50 Fallen von ,,Alcoholismus chronicus kt , deren Kranken- 
geschichten uns Magnus HuB mitteilt, finden wir bei nicht weniger 
als 8 diese Storung deutlich ausgepragt (Fall 8, 14, 20, 22, 23, 32, 34, 41), 
wahrend bei einigen anderen Fallen die Abnahme des Gedachnisses 
nicht ausdriicklich erwahnt, aber nach dem iibrigen psychischen Ver- 
halten der betreffenden Kranken zu vermuten ist. HuB* Fall 14 ist 
fast ein Schulfall dieser GeistesstOrung zu nennen: Bei einem Saufer 
mit schweren neuritischen Erscheinungen, der mehrmals Delirium 
tremens durchgemacht hat und an Alkoholepilepsie leidet, kommt es 
zu einem hochgradigen Verluste des Gedachtnisses. Unter den psychi¬ 
schen Erscheinungen des ,,Alcoholismus chronicus' 4 fuhrt HuB zwei 
an, die wenigstens teilweise mit der hier behandelten Storung identisch 
sind, die Stupiditat und die Demenz, beide mit Gedachtnisschwache 
verbunden. 

Auch W. von Speyr erwahnt die Abnahme des Gedachtnisses 
bei manchen Alkoholikern. Er sieht sie nicht mehr wie HuB als ein 
Symptom des chronischen Alkoholismus an, auch nicht, wie die moderne 
Psychiatrie als das Kennzeichen einer selbstandigen alkoholischen 
GeistesstOrung, sondem er zahlt jene Falle zu der ,,chronischen alkoho¬ 
lischen Verrucktheit 44 , von der er schreibt: ,, . . . das Gedachtnis hat 
abgenommen oder betrtigt den Kranken, indem er Erlebtes ummodelt. 
Intelligenz und Willenskraft sind geschwacht und die Patienten keiner 
Leistung fahig.“ 

Im Jahre 1880 stellte Leyden das Krankheitsbild der multiplen 


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A. F. Kauffmann: Zur Frage der Heilbarkeit der Korsakowschen Psychose. 489 

degenerativen Neuritis auf, und bald erkannte man den Zusammenhang 
dieser Erkrankung mit dem chronischen Alkoholismus. Alle die zahl- 
reichen nervdsen Erscheinungen, die HuB neben sonstigen k6rperlichen 
Erkrankungen beim chronischen Alkoholismus beschrieben hatte, 
wie Hypotonie der Muskulatur, Anasthesien, Parasthesien, rheumatische 
Schmerzen, Druckschmerz, Paresen und Lahmungen, Atrophien usw. 
fanden jetzt ihre einheitliche Erklarung: es waren die Symptome einer 
Polyneurits alcoholica. 

Auch fiel bald die Vergesellschaftung polyneuritischer Erkrankungen 
teils alkoholischer, toils toxischer, teils infektioser Genese mit psychi- 
schen Storungen auf, worauf vor allem Lilienfeld hinwies. Derjenige 
aber, der als erster das Krankheitsbild der „polyneuritischen Psychose 44 
abgrenzte und den dieser Erkrankung eigenen Symptomenkomplex 
analysierte, war Korsakow. 

Im Jahre 1887 erschien Korsakows Abhandlung ,,Eine Stdrung 
der psychischen Tatigkeit bei alkoholischer Lahmung und ihre Be- 
ziehungen zur psychischen St6rung bei multipler Neuritis nicht alko- 
holischen Ursprungs 44 in russischer Sprache. Die psychischen Storungen 
bei Alkoholneuritiden und diejenigen bei toxischen und infektiosen 
Neuritiden, so fiihrt er aus, bieten dasselbe klinische Bild. Eine reiz- 
bare Schwache der psychischen Sphare oder eine Verwirrtheit mit Ir- 
rungen in bezug auf Ort, Zeit, Situation oder auch eine akute Amnesie 
bilden die hervorstechendsten Merkmale dieser Geistesstorung. Die 
Neuritis und dieser psychische Symptomenkomplex gehOren nach 
Korsakows Anschauung eng zusammen. M6gen auch in einzelnen 
Fallen die korperlichen Krankheitserscheinungen iiberwiegen, in an- 
deren wieder die geistigen, so gilt doch nach Korsakow die Regel: 
kein amnestischer Symptomenkomplex ohne Neuritis multiplex degene- 
rativa. Die Kombination von peripherer Nervenerkrankung mit cere- 
braler Stoning ist nach Korsakow nicht eine zufallige, wie die alteren 
Psychiater geglaubt hatten, sondem eine gesetzmaBige, durch die ge- 
meinsame Atiologie bedingte. Dieselbe Schadlichkeit, die die Poly¬ 
neuritis erzeugt, ruft auch die geistige Erkrankung hervor. Diese Noxe 
sollten im Blut zirkulierende Gifte verschiedener Art sein: metallische 
Gifte, Bakteriotoxine, im Korper selbst gebildete Stoffwechselprodukte 
(Ptomaine und Leukomaine). Das Gift, das speziell die Alkoholneuritis 
und die alkoholische amnestische Psychose erzeugt, ist nach Kor¬ 
sakow nicht der Alkohol selbst, wie Leyden annahm, sondem es sind 
toxisch wirkende Stoffwechselprodukte, die im Korper des Gewohn- 
heitssaufers gebildet werden und infolge einer Storung der Entgiftung 
oder Ausscheidung (Lebererkrankungen, Magen- und Darmkatarrhe 
der Saufer) in groBer Menge in den Kreislauf geraten und Him und peri- 
phere Nerven schadigen. Diese Theorie ist heute noch die herrschende 

Z. f. d. g. Near, n. Psych. O. XX. 33 


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A. F. Kauffmann: 


und wird u. a. von Bonhoeffer und Kraepelin verfochten. Fur 
diese mit Polyneuritis vergesellschaftete, auf eine Vergiftung des Ge- 
hims auf dem Blutwege beruhende Psychose schlug Korsakow den 
Namen vor: ,,Psychosis polyneuritica seu Cerebropathia psychica 
toxaemica. 44 

Im Jahre 1890, 3 Jahre nach der russischen Publikation, veroffent- 
lichte Korsakow das Resultat seiner Forschungen in deutscher Sprache. 
Es entspann sich eine zienilich heftige Kontroverse uber verschiedene 
der erwahnten Punkte. So glaubte z. B. Tiling, die geschilderte 
Psychose nur bei alkoholischen, nicht bei infektiosen Neuritiden zu 
finden, korrigierte aber spater seine Meinung und gab das Vorkommen 
von nicht alkoholischer Cerebropathia toxaemica zu. 

Die Lehre von der polyneuritischen Psychose, oder wie man sie 
auch nannte, der Korsakowschen Psychose, und ihrem charakteri- 
stischen Symptomenkomplex, dem amnestischen oder Korsakow¬ 
schen machte in der Folgezeit die verschiedensten Wandlungen durch. 
Man fand, daB dieser Symptomenkomplex sich auch bei Erkrankungen 
vorfindet, die nicht von Neuritis begleitet sind, so z. B. bei der Pres- 
byophrenie, bei arteriosklerotischen Psychosen, bei Hirngeschwiilsten, 
ja zuweilen bei der progressiven Paralyse. Aber auch bei der echten 
alkoholischen Korsakowschen Psychose fehlten mitunter die poly¬ 
neuritischen Erscheinungen, so daB man sie nicht mehr als integrierenden 
Bestandteil der Krankheit ansehen konnte und den Namen polyneuri- 
tische Psychose fallen lassen muBte und mit ihra die Auffassung von der 
klinischen Zusammengehorigkeit aller jener Falle, die den Korsakow¬ 
schen Symptomenkomplex aufwiesen. Jene Falle wurden den verschie¬ 
densten Krankheitsformen zugeteilt, und selbst die alkoholische Kor¬ 
sakow sche Psychose gait der damals herrschenden symptomatolo- 
gischen Richtung vielfach nicht als eine nosologische Einheit, eine 
selbstandige Krankheitsform; so z. B. bezieht Ziehen diese Erkrankung 
in seine Krankheitsgruppe ,,akute halluzinatorische Paranoia sive 
Amentia 44 ein. 

Als der Anregung Kahlbaums folgend Kraepelin und seine 
Schuler daran gingen, die Psychosen nach atiologischen Prinzipien 
zu klassifizieren und damit ein natlirliches System der Geistesstorungen 
zu schaffen, stellte man als eine der groBen Krankheitsgruppen auch die 
derjenigen Erkrankungen auf, die durch AlkoholmiBbrauch verursacht 
werden. Eine Unterabteilung dieser Gruppe bilden nun auch alle jene 
Falle von polyneuritischer Psychose im Sinne Korsakows, die auf 
Alkoholismus beruhen. Kraepelin betrachtet diese als eine durch 
gleiche Atiologie wie durch gleichen Verlauf gekennzeichnete Krank- 
heitseinheit und benennt sie Korsakowsche Psychose. 

Gleichzeitig beschrieb auch Bonhoeffer diese Erkrankung, die 


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Zur Frage der Heilbarkeit der Koreakowschen Psychose. 


491 


auch er als einheitliche Krankheitsform auffaBt. Er betont vor allem 
die enge Zusammengehorigkeit mit dem Delirium tremens, dessen 
chronische Form diese Krankheit darsteile; er bezeichnet sie deshalb als 
chronisches Delirium. 


II. 

Unter Korsakowscher Psychose verstehen wir demnach jetzt eine 
Geistesstdrung die zu ihrer Voraussetzung langjahrigen schweren 
AlkoholmiBbrauch, besonders starken Schnapskonsum hat. Gekenn- 
zeichnet ist sie durch die vier von Wernicke aufgestellten Kardinal- 
symptome. 

1. Ortliche und zeitliche Desorientierung. 

2. Herabsetzung oder Aufhebung der Merkfahigkeit. 

3. Retroaktive Amnesie. 

4. Konfabulationen. 

Die Stoning der Merkfahigkeit ist von all diesen Symptomen das 
Primare. Weil der Kranke nicht imstande ist, die Vorgange in seiner 
Umgebung, die Veranderungen, die mit ihm vorgehen, in seinem Ge- 
dachtnis zu fixieren, die Erinnerungsbilder aus der Zeit seiner Krank¬ 
heit seinem Gedachtnisschatze einzuverleiben, kann er fur die Ereig- 
nisse, die in die Zeit seiner Krankheit fallen, gar keine oder nur eine 
geringe und haufig gefalschte Erinnerung haben; wir sprechen dann von 
Gedachtnisstorung oder Amnesie. 

Aber auch der friihere geistige Besitzstand, die Erinnerungsbilder 
aus einer Zeit, da noch keine Merkstdrung den Kranken am Fixieren 
seiner Sinneseindriicke hinderte, gehen dem Kranken teilweise verloren; 
es kommt zur retroaktiven Amnesie. Ahnlich wie bei den Gedachtnis- 
storungen des Greisenalters wird auch hier die Erinnerung an Jungst- 
vergangenes meistens mehr geschadigt, wie die an weit Zuriickliegendes. 
Oft vergessen die Kranken vollstandig, daB sie seit Jahren verheiratet 
sind und daB sie Kinder haben, glauben noch in demselben Beruf tatig 
zu sein, den sie vor 30 Jahren ausubten, obwohl sie ihn inzwischen langst 
gegen einen anderen vertauscht haben. 

Sowohl der Merkstorung, wie der Gedachtnissehwache entspringt 
das dritte kardinale Symptom, die ortliche und zeitliche Desorientierung. 
Denn da keiner der Eindriicke der AuBenwelt dem Kranken haften 
bleibt, ist es ihm unmOglich, sich zu orientieren. Er weiB nicht wo er 
ist, nicht in welcher Zeit er lebt. Die Gedachtnisliicke fiir die jiingste 
Vergangenheit bei wohl erhaltener Erinnerung an langstvergangene 
Zeiten bringt es mit sich, daB der Kranke sich in seine Jugendzeit riick- 
versetzt glaubt, seine Umgebung fur alte — vielleicht langst verstor- 
bene — Bekannte halt und seine jetzige Lebenslage wahnhaft im Sinne 
einer friiheren umdeutet; es kommt zur Desorientiertheit im Sinne 

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A. F. Kauffmann: 


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einer frtiheren Situation. So glauben altere Leute Soldaten, langst- 
verheiratete Frauen junge Madchen zu sein. Wernicke und Liep- 
mann berichten von einem 49jahrigen Reporter und Stenographen, 
der frliher Philologe gewesen war; die Erinnerung fur die letzten 26 Jahre 
war ihm vOllig verloren gegangen, er hielt sich fur einen Kandidaten 
der Philologie, glaubte seine vor 26 Jahren verstorbenen Eltem am 
Leben, wuBte nichts vor der vor 10 Jahren erfolgten Auswanderung 
seines Bruders. 

Die Erinnerungslucken flir die Erlebnisse der letzten Zeit sucht der 
Kranke durch Ausreden zu verdecken, an deren Realitat er selbst nicht 
im geringsten zweifelt, und so kommt es zur Entstehung von Kon- 
fabulationen. Patienten, die seit Monaten in der Anstalt sind, berichten 
auf die Frage, wo sie gestem gewesen seien, sie seien in der und der 
Wirtschaft eingekehrt, hatten dort mit Bekannten Karten gespielt, 
geben an, wieviel MaB sie dabei getrunken, wieviel Geld sie beim Spiel 
gewonnen oder verloren hatten. Durch Suggestivfragen kann man 
haufig die Konfabulationen in eine bestimmte Richtung lenken. Neben 
diesen Verlegenheitskonfabulationen, die ihren Inhalt dem Lebens- 
und Wirkungskreise der Patienten entlehnen, gibt es andere, die sich 
durch phantastische Ausschmlickung auszeichnen. Hier haben wir es 
dann, wie Bonhoeffer meint, mit den Erinnerungsresten deliranter 
Sinnestauschungen zu tun. 

Neben diesen 4 Hauptsymptomen finden wir bei der Korsakow- 
schen Psychose mehr oder weniger regelmaBig alle psychischen und 
kOrperlichen Veranderungen, die wir auch bei anderen durch Alkoholis- 
mus entstandenen Psychosen antreffen. Visionen und Akoasmen, 
Apathie und Erregungszustande, Abnahme der Initiative, alkoholische 
Vertrottelung, Verfolgungs- und Eifersuchtsideen, alles dies kommt 
bei dieser Krankheit vor, ohne fur sie charakteristisch zu sein. Von 
korperlichen Erscheinungen finden sich besonders haufig Herz- und 
GefaBerkrankungen, Erkmnkungen des Magendarmkanals, Leber- 
cirrhose und nicht selten Lungentuberkulose. Auch epileptiforme An- 
falle sind nicht selten. Fast stets aber findet man polyneuritische Er- 
scheinungen, die ja Korsakow fiir ein wesentliches Kennzeichen dieser 
Krankheit ansah, die aber, wie wir wissen, in vereinzelten Fallen ganz- 
lich fehlen konnen. 


III. 

So scliarf umrissen und so gut bekannt das im vorstehenden kurz 
skizzierte klinische Bild der Korsakowschen Psychose ist, so un- 
bekannt ist uns die genauere Atiologie dieser Krankheit. Wir wissen 
heute dariiber noch nicht mehr, als wie schon vor 25 Jahren Korsakow*. 
Wir wissen, daB es sich hdchstwahrscheinlich um eine Selbstvergiftung 


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Zur Frage der Heilbarkeit der Korsakowschen Psychose. 


493 


des Korpers mit Stoffwechselprodukten handelt, die unter dem EinfluB 
des chronischen Alkoholismus gebildet werden und aus irgendeiner 
Ursache nicht mehr aus dem Kdrper entfemt werden konnen, daB also 
die Korsakowsche Psychose eine ,,metalkoholische“ Erkrankung ist. 
Welcher Art aber diese Gifte sind, unter welchen Bedingungen sie 
nicht mehr ausgeschieden werden und in den Kreislauf gelangen, warum 
von den vielen Saufem nur verhaltnismaBig wenige an dieser Stoning 
erkranken, daruber konnen wir hdchstens Hypothesen aufstellen. 

Besser bekannt, als die Ursachen der Krankheit, ist der Ausgang, 
den diese Psychose zu nehmen pflegt und damit die Prognose, die wir 
dem Kranken zu stellen haben. Doch auch auf diesem Gebiete ist noch 
manches ungeklart, so namentlich die Frage der Heilbarkeit der Kor¬ 
sakowschen Psychose, betreffs derer die Ansichten der Autoren noch 
recht auseinander gehen. Zur Klarung dieser Frage will Verfasser 
mit dieser Arbeit sein Scherflein beitragen, indem er die Schicksale 
der Kranken, die in den Jahren 1904 bis 1911 wegen Korsakowscher 
Psychose in der Kgl. Psychiatrischen Universitatsklinik zu Miinchen 
behandelt wurden, katamnestisch verfolgt und den Ausgang der Er- 
krankungen festzustellen versucht. 

Ehe ich mich dieser meiner Hauptaufgabe zuwende, sei mir gestattet, 
kurz unser Krankenmaterial zu schildem, die Verteilung der Erkran- 
kungen nach Geschlecht, Lebensalter,' Beruf und Familienstand, femer 
die Art und die Dauer des AlkoholmiBbrauches und die Form des Aus- 
bruchs der Psychose zu untersuchen und schlieBlich die Mischformen 
zu besprechen. Denn das Munchener Krankenmaterial weicht in man- 
chen dieser Punkte betrachtlich von demjenigen ab, das Bonhoeffer 
bei seiner klassischen Schilderung der Korsakowschen Psychose im 
Auge hatte. Die Basseverschiedenheit der oberbayerischen und der 
schlesischen Bevolkerung, Unterschied in den sozialen Verhaltnissen, 
vor allem aber die verschiedenen Trinksitten bewirken, daB wir bei 
unserem Material wesentliche Abweichungen von dem von Bonhoeffer 
beschriebenen Verhalten finden, die es wohl verdienen, publiziert zu 
werden. 

Es liegen mir die Krankengeschichten von 63 einschlagigen Fallen 
vor. 45mal handelt es sich um eine klinisch reine, typische Korsakow¬ 
sche Psychose, 4mal um Abortivfalle, bei denen der charakteristische 
Symptomenkomplex nicht zur vollen Entwicklung gekommen ist, 
8mal um Mischformen von Korsakowscher Psychose und anderen 
Alkoholpsychosen, 6mal um eine Mischung mit senilen und arterio- 
sklerotischen Erscheinungen. Diese beiden Gruppen von Mischformen 
werde ich spa ter noch eingehender besprechen. 

Was die Beteiligung der beiden Geschlechter an der Erkrankung 
anlangt. so finden wir auch bei unserem Material die von vielen Autoren, 


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A. F. Kauffmann: 


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auch von Bonhoeffer und Kraepelin, betonte relativ haufigere 
Beteiligung des weiblichen Geschlechts. Nach Kraepelin bilden die 
Frauen nur 10% des Gesamtkontingentes der Alkoholiker, aber 33% der 
Korsakow-Kranken. Von unseren 63Fallen entfallen 18 auf weibliche 
Kranke, namlich 16 reine Falle und 2 alkoholische Mischformen. Unter 
den 46 mannlichen Patienten waren 29 reine Falle, 4 Abortivfalle, 
6 alkoholische und 6 senile Mischformen. Von samtlichen Fallen ent¬ 
fallen also 28,6% auf das weibliche Geschlecht. Von den klinisch reinen 
Fallen von Korsakowscher Psychose sogar 36,6%. 

Als das Lebensalter, in dem die Erkrankung am haufigsten auszu- 
brechen pflegt, bezeichnet Bonhoeffer die Zeit um das 46. Lebensjahr. 
Das durchschnittliche Erkrankungsalter unserer Munchener Kranken 
ist etwas hoher, was sich vielleicht aus dem geringeren Schnapskonsum 
unserer Kranken erklart, der die Erkrankung erst spater zur Entwick- 
lung kommen laBt. Das durchschnittliche Erkrankungsalter aller 
unserer Falle (einschl. Abortiv- und Mischformen) betragt 52,6 Jahre; 
das der Manner allein 52,8 Jahre, das der Frauen 52,2 Jahre. Als friihe- 
stes Erkrankungsalter finden wir bei einem Abortivfalle 23 Jahre, bei 
einem typischen Korsakow-Falle 36 Jahre; am spatesten begann die 
Erkrankung bei einem Manne von 83 Jahren. Bei den Frauen finden 
wir als friihesten bzw. spatesten Termin des Krankheitsbeginns 29 und 
67 Jahre. 

Folgende Tabelle soil die Verteilung des Ausbruchs der Krankheit 
auf die einzelnen Altersstufen demonstrieren. Die eingeklammerten 
Zahlen bedeuten klinisch reine Korsakow-Falle. 

Tabelle I. 

Beginn der Korsako wschen Psychose nacli Altersstufen. 



21—80 J. 

31-40 J. 

41—60 J. 

61—60 J. 

61-70 J. 

Uber70J. 

Manner . . . 

. 1 (0) 

8 (3) 

13 (10) 

9 (9) 

11 (8) 

3 (0) 

Frauen . . . 

• 1 (1) 

1 (1) 

6 (4) 

7 (6) 

4 (4) 

0 (0) 

zusammen 

• 2 (1) 

9 (4) 

18(14) 

16 (16) 

15 (12) 

3 (0) 


Gruppieren wir unsere Kranken nach dem Familienstand, so sind 
von unseren 46 Mannern 9 ledig, 27 verheiratet, 7 verwitwet und 2 ge- 
schieden; von den 18 Frauen sind: 6 ledig, 6 verheiratet, 4 verwitwet 
und 2 geschieden. Wahrend drei Funftel der Manner verheiratet sind, 
sind nur ein Drittel der weiblichen Patientinnen Ehefrauen. Der Grund 
dieser auffallenden Erscheinung dlirfte wohl darin zu suchen sein, 
daB die Frau durch die Ehe im allgemeinen vor der Gefahr des Alkohol- 
miBbrauches geschutzt ist. Von unseren 6 verheirateten Patientinnen 
waren iibrigens 3 vor der Ehe im Gastwirtsgewerbe tatig und traten 
sehon als Alkoholistinnen in die Ehe. DaB aber die Ehemanner ein so 
viel groBeres Kontingent zur Zahl der Korsakow-Kranken stellen. 


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Zur Frage der Heilbarkeit der Korsakowschen Psychose. 


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als die Unverheirateten und die Verwitweten, dtirfte durch die groBere 
Zahl der verheirateten Manner in den in Betracht kommenden Alters- 
klassen erklart werden. 

Die soziale Gliederung unseres Krankenmaterials soil durch folgende 
Tabellen veranschaulicht werden. Kranke, die in den letzten Jahren 
berufslos waren, habe ich unter ihrem friiheren Berufe aufgefiihrt, 
unter der Rubrik ,,Alkoholgewerbe“ auch diejenigen, die nur eine Zeit- 
lang in diesem Gewerbe tatig waren. 

TabelJe II. 

Die mannlichen Patienten nach Berufen geordnet. 


Handwerker und Gewerbetreibende.19 

Tagelohner, Dienstmanner, Fuhrleute usw.11 

Alkoholgewerbe. 6 

Landwirte . 1 

Fabrikarbeiter. 1 

Verwalter und Kontrolleure . 3 

Technische Berufe und Kaufleute. 1 

Akademische Berufe. 2 

Beanite. 1 


zusammen 45 

Tabelle III. 

Die weiblichen Patienten nach Berufen geordnet. 


Ehefrauen . 6 

Witwen ohne Beruf. 1 

Tagelohnerinnen. 3 

Dienatmadchen und Kochinnen. 2 

Naherinnen. 1 

Alkoholgewerbe 1 ). 1 

Abortfrauen. 1 

Reisebeamtinnen. 1 

Pensionsinhaberinnen. 1 

Schauspielerinnen.. . . 1 


zusammen 18 

Das Hauptkontingent der mannlichen Kranken, namentlich der 
,,reinen“ Falle, wird demnach von Handwerkem und Gewerbetreiben- 
den gebildet, meistens Leuten in leidlich giinstiger sozialer L#age; dann 
erst kommt die Gruppe der Tagelohner, Dienstmanner, Fuhrleute, 
Kutscher, Holzhacker usw., die zum groBten Teil aus heruntergekom- 
menen Individuen besteht. In dieser Hinsicht ist ein Unterschied 
zwischen unserem Krankenmaterial und Bonhoeffers Breslauer 
Kranken, die meistens dem Landstreichertum und dem groBstadtischen 
Proletariat zu entstammen scheinen, wahrend wir es hier iiberwiegend 
mit Kleinblirgern zu tun haben. 

x ) Im Alkoholgewerbe waren femer friiher 3 der als „Ehefrauen“ rubrizierten 
Patient innen beschaftigt. 


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A. F. Kauffmann: 


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Ein wesentlicher Unterschied zwischen Mtinchen und Breslau be- 
steht auch hinsichtlich der Form des AlkoholmiBbrauches. Bon- 
hoeffer schreibt, daB seine Kranken 1—D /2 Liter Kognak, 2 Liter 
und mehr Korn, denaturierten Spiritus und dergleichen getrunken 
hatten. Bei unseren Kranken iiberwiegt der BiergenuB; die Menge 
der taglichen Bierzufuhr variiert, doch werden von Frauen bis 10 Liter 
pro Tag, von einzelnen mannlichen Patienten bis 20 Liter zugegeben. 
Das iibliche Bierquantum diirften etwa 5—8 Liter bilden. Dazu kommen 
wohl bei alien Patienten noch konzentrierte Alkoholica, bei manchen 
allerdings nur in geringer Menge. Als solche kommen bei der einfachen 
Bevolkerung hauptsachlich Schnaps, bei den im Gastwirtsgewerbe 
beschaftigten Personen und bei den Angehorigen der bessersituierten 
Stande Likore, Kognaks, Sekt und Siidweine in Betracht; eine groBe 
Rolle spielt, namentlich bei weiblichen Patienten, auch Tee mit Rum. 
In alien Fallen aber handelt es sich um langjahrigen, meist viele Jahr- 
zehnte lang fortgesetzten AlkoholmiBbrauch. 

Betreffs der Art des Ausbruches der Krankheit gehen die Meinungen 
der Autoren weit auseinander. Wahrend z. B. Tiling und Kraepelin 
der Meinung sind, daB die Krankheit in der Mehrzahl der Falle sich 
langsam aus dem Stadium des chronischen Alkoholismus heraus ent- 
wickelt, in einer geringeren Zahl von Fallen mit deliranten oder stupo- 
rosen Erscheinungen beginnt, vertritt Bonhoeffer die Ansicht, daB 
in mindestens zwei Drittel der Falle eine delirante Phase die Erkrankung 
einleitet, ja er faBt die Korsakowsche Psychose, wie oben erwahnt, 
geradezu als ein chronisches Alkoholdelir auf. 

Von unseren 63 Patienten begann nur bei 18, also lediglich in 28,6% 
aller Falle, die Erkrankung mit einer deliranten Phase; von diesen 18 
entfallen aber 10 auf Abortiv- bzw. Mischformen. Von den 45 ,,reinen“ 
Korsakow-Fallen begannen demnach nur 8 unter deliranten Er¬ 
scheinungen, also 17,8% der Falle. Fur unser Material zum mindesten 
kann demnach der delirante Beginn nicht als typisch angesehen werden. 

In 39 Fallen entwickelte sich die Krankheit schleichend oder begann 
unter dem Bilde einer Verwirrtheit oder eines Stupors; in 6 Fallen sind 
wir liber den Ausbruch der Krankheit nicht unterrichtet. 

10 unserer Patienten, samtlich Manner, hatten friiher Delirium 
tremens durchgemacht, einige davon mehrmals. 2mal treffen wir in 
der Vorgeschichte akute Alkoholhalluzijiose an. Bei weiteren 11 Patien¬ 
ten, 10 Mannem und 1 Frau, finden wir epileptiforme oder apoplekti- 
forme Erscheinungen, und zwar litten 3 Patienten schon vor der Korsa- 
kow-Erkrankung an Krampfanfalien, 2 davon schon 10 Jahre lang; 
bei 3 Kranken begann die Korsakowsche Psychose mit epileptiformen, 
bei 2 mit apoplektiformen Anfallen, und bei weiteren 3 traten erst 
wahrend der Dauer der Psychose Anfalle auf. In 10 von diesen Fallen 


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Zur Frage der Heilbarkeit der Korsakowschen Psychose. 


497 


dlirfte es sich kaum um genuine Epilepsie handeln, da das Leiden erst 
im spateren Alter und nach jahrzehntelangem AlkoholmiBbrauch auf- 
trat. Wir haben es hier wohl ausschlieBlich mit alkoholischer bzw. 
arteriosklerotischer Epilepsie zu tun 1 ). Bei einer ganzen Reihe anderer 
Patienten werden in der Vorgeschichte Schwindelanfalle ohne Verlust 
des BewuBtseins erwahnt. Nur von 20 Patienten wissen wir sicher, 
daB sie nie an Krampf-, Schlag- oder Schwindelanfallen gelitten haben. 

Von der bekannten Erfahrungstatsache, daB sich unter den Alko- 
holikem viel psychopathische und sonstige pathologische Personlich- 
keiten befinden, macht auch unser Krankenmaterial keine Ausnahme. 
Ein groBer Teil unserer Kranken ist zweifellos als erblich belastet zu 
betrachten. In einer ganzen Reihe von Fallen treffen wir auf die An- 
gabe, daB der Vater oder beide Eltem Trinker waren; haufig hat der 
Patient auch trunksiichtige Geschwister. Auch von geisteskranken 
Verwandten, epileptischen Geschwistem horen wir. Auffallend haufig 
wird uns berichtet, daB Kinder unserer Kranken idiotisch, epileptisch 
oder geisteskrank sind. Da diese Kinder haufig zu einer Zeit geboren 
sind, in der die Patienten noch nicht so hochgradig dem Trunke ergeben 
waren, so durfte es sich in einem Teile der Falle nicht um eine durch 
den Alkoholismus bedingte Keimschadigung handeln, sondern um die 
Vererbung der bereits angeborenen Minderwertigkeit des Patienten. 

Namentlich unter denjenigen unserer Patienten, die den gebildeten 
Standen angehdren, finden wir sehr viele Psychopathen. Es ist dies 
nicht weiter verwunderlich, da ja der nervengesunde Gebildete sich 
kaum in so hohem MaBe dem Trunke ergibt, wie es zum Zustandekommen 
der Korsakowschen Psychose notwendig ist. 

Die Beziehungen dieser pathologischen Veranlagung zu unserer 
Krankheit konnen doppelter Natur sein. Einmal verfallt, wie bereits 
erwahnt, der haltlose, jedem Triebe nachgebende, aller Hemmungen 
bare Psychopath viel leichter dem Alkoholismus, als der Gesunde; 
und auf dem Boden dieser chronischen Alkoholvergiftung entwickelt 
sich dann die Korsakowsche Psychose. Und zweitens ware denkbar, 
daB das weniger widerstandsfahige Gehim und Nervensystem des 
Psychopathen bei gleicher Alkoholzufuhr schwerer geschadigt wiirde, 
als das des Gesunden, so daB der psychopathische Trinker leichter an 
Korsakowscher Psychose erkrankte, als der von Haus aus Normale. 
Ob und wie diese beiden Faktoren zusammenwirken, sei dahingestellt; 
ich begniige mich, die hohe Zahl von Psychopathen unter unseren Kran¬ 
ken zu konstatieren. 

*) Bei dem 11. Falle, wo uns von Anfallen in friiher Kindheit berichtet wird, 
die dann wieder verschwanden, um im Verlaufe der Psychose wieder aufzutreten, 
kann man an genuine Epilepsie den ken; es konnen aber auch psychogene Anfalle 
in Frage kommen. 


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498 


A. F. Kauifmann: 


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IV. 

Die Forschungen der letzten Jahre haben uns zu der Erkenntnis 
gefiihrt, daB zwisehen den einzelnen Alkoholpsychosen, namentlich 
zwischen dem Delirium tremens und der akuten Alkoholhalluzinose, 
zahlreiche Ubergange, sog. Mischformen, bestehen. Von Speyr ver- 
trat noch die Ansicht, daB ein Individuum, das einmal an Delirium er- 
krankt ist, niemals spater an alkoholischer Verriicktheit (Halluzinose) 
erkranken konne, daB umgekehrt jemand, der eine Halluzinose durch- 
gemacht habe, nie ein Delir bekommen konne; kurz, er glaubte zwei 
Krankheiten vor sich zu haben, die sich gegenseitig ausschlossen und 
nie bei einer und derselben Person auftreten konnten. Die Unrichtig- 
keit dieser Ansicht wurde bald erkannt. Racke, Meyer, Bonhoeffer 
u. a. konnten von Kranken berichten, die nacheinander an Delirium 
tremens und Alkoholhalluzinose erkrankt sind. 

Nun findet man aber auch haufig sog. atypische Alkoholpsychosen, 
bei denen delirante und halluzinatorische Ziige vereinigt sind. Wahrend 
manche Autoren, wie Chotzen, diese als Komplikation einer Alkohol- 
psychose durch eine nichtalkoholische Stdrung, z. B. eine Dementia 
praecox, auffassen, drang in den letzten Jahren immer mehr die Ansicht 
durch, daB wir es hier mit echten Mischformen von Delir und Hallu¬ 
zinose zu tun haben. Solche Mischformen werden von Meyer, Gold¬ 
stein, Heilig, Bonhoeffer, Luther u. a. erwahnt. Kraepelin 
vertritt den Standpunkt, daB die ,,metalkoholischen“ Psychosen sich 
untereinander sehr nahestehen, ineinander ubergehen konnen und kli- 
nisch nicht immer streng unterschieden werden konnen. Eine ein- 
gehende Beschreibung dieser Mischformen von Dqjir und Halluzinose 
verdanken wir Filser, der 5 Hauptgruppen aufstellt: 

Falle von: 

1. Delirien, die auBer dem typischen Symptomenkomplex noch 
Erscheinungen der Alkoholhalluzinose unverkennbar aufweisen. 

2. Besonnene Delirien, das sind solche Falle, die delirante Erlebnisse 
von groBer sinnlicher Deutlichkeit bei vdllig erhaltener Besonnen- 
heit, speziell intaktem BewuBtsein und erhaltener Orientierung 
zeigen. 

3. Alkoholhalluzinosen mit deliranten Erscheinungen. 

4. Falle von Delir und Alkoholhalluzinose, bei denen Gefiihlshalluzi- 
nationen bzw. Sensationen im Vordergrunde stehen. 

5. Falle, bei denen Delir und Alkoholhalluzinose in kurzen Zwischen- 
raumen aufeinander folgen. 

Man sollte nun annehmen, daB es auch Mischformen gibt, bei denen 
als Komponentedie dritte ,,metalkoholische“ Geistesstorung, dieKorsa- 
kowsche Psychose. mitwirkt. Tatsachlich sind solche Falle in der Lite- 
ratur erwahnt worden; so spricht z. B. Bonhoeffer von ,,Mischfornu n 


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Zur Frage der Heilbarkeit der Korsakowschen Psychose. 


499 


von Delir und Halluzinose und von Korsakow und Halluzinose". 
Luther teilt in seiner Abhandlung „t)ber das Vorkommen chronischer 
Alkoholhalluzinosen‘‘ einen Fall (Fall IV) mit, der eine Mischform von 
Abortiv-Korsakow und von chronischer Halluzinose darstellt. In der- 
selben Abhandlung schreibt Luther, daB „Mischzustande zwischen 
den 3 Formen Halluzinose, Delirium und Korsakow als typische zu 
gelten haben". 

Unter meinen 63 Fallen von Korsakowscher Psychose befinden 
sich 8, 6 Manner und 2 Frauen, die als Mischformen mit anderen alko- 
holischen (eigentlich ,,metalkoholischen“, denn die iiberaus haufige 
Beimischung von Ziigen des chronischen Alkoholismus habe ich selbst- 
verstandlich nicht beriicksichtigt) Psychosen aufgefaBt werden miissen. 
Ich muB es mir versagen, an dieser Stelle die Krankengeschichten mit- 
zuteilen, und ich will nur kurz bemerken, wie ich diese 8 Falle gruppieren 
mochte: 

1. Falle von protrahiertem Delir mit Korsakow-Ziigen 
(2 Falle). Diese unterscheiden sich kaum von Abortiv-Korsakow-Fallen 
mit delirantem Beginn. Einem protrahierten Delirium mischen sich Ziige 
der Korsakowschen Psychose bei, die nach dem Abklingen des Delirs 
noch einige Zeit bestehen bleiben, dann allmahlich wieder verschwinden. 
Diese Gruppe bildet den Ubergang von den Abortivfallen zu den eigent- 
lichen Mischformen. 

2. Falle von Alkoholhalluzinosen mit Korsakow-Ziigen 
(2 Falle). Zu einer (akuten oder chronischen) Alkoholhalluzinose gesellt 
sich, mehr oder minder ausgepragt, der amnestische Symptomen- 
komplex, der ja der reinen Halluzinose ganzlich fremd ist. Bei meinen 
beiden Fallen beherrschen die halluzinatorischen und paranoiden 
Symptome das Bild; die amnestischen treten gegen sie entschieden 
etwas zuriick. 

3. Falle, in denen ein Delirium auf dem VVege iiber eine 
Korsakowsche Psychose ubergeht in 

a) eine Halluzinose (1 Fall), 

b) halluzinatorischen Schwachsinn der Trinker (1 Fall). 

Aus einem protrahierten Delirium ent wickelt sich eine Korsakow sche 

Psychose; unter Zuriicktreten des amnestischen Symptomenkomplexes 
geht diese binnen kurzer Zeit einmal in eine Halluzinose, einmal in 
Alkoholschwachsinn iiber. In letzterem Falle spielt sich also der normale 
Verlauf einer delirant beginnenden Korsakowschen Psychose in 
ganz kurzer Zeit ab. Wahrend normalerweise zwischen dem deliranten 
Beginn einer Korsakowschen Psychose und dem Schwachsinnszustand, 
der aus ihr resultiert, viele Monate, ja oft Jahre liegen, ist hier der ganze 
Vorgang auf ein paar Wochen zusammengedrangt. 

4. Falle, in denen ein Delir auf dem Wege iiber Hallu- 


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500 


A. F. Kauffmann: 


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zinose mit Korsakow-Zugen in alkoholischen Sehwachsinn 
iibergeht (1 Fall). 

Diese Grappe stellt eine Kombination von 2 und 3 b dar. Statt 
des Stadiums der Korsakowschen Psychose, wie wir es bei 3b finden, 
sehen wir hier die sub 2 erwahnte Kombination von Halluzinose und 
Korsakow-Krankheit als Ubergangsstadium zwischen Delir und Al- 
koholsch wachsinn. 

5. Falle, in denen sich eine Korsakowsche Psychose aus 
einer Mischform von Delirium und Halluzinose entwickelt 
(1 Fall). 

Die Mischform geht in eine Korsakowsche Psychose iiber, wobei 
die deliranten und halluzinatorischen Erscheinungen bestehen bleiben, 
so daB wir in diesem Falle eine Mischform aus alien drei metalko- 
holischen Psychosen vor uns haben. 

Wir diirfen wohl annehmen, daB alle ,,metalkoholischen“ Geistes- 
storungen, Delirium tremens, Korsakowsche Psychose, akute und 
chronische Halluzinose (letztere entwickelt sich zweifellos haufig aus 
einer der anderen drei Formen) untereinander eng verwandt sind, 
bei einem und demselben Individuum nacheinander vorkommen, sich 
jederzeit miteinander kombinieren und alle denkbaren Mischformen 
bilden konnen. Sie sind, wie Kraepelin in bezug auf Delir und Hal¬ 
luzinose bemerkt, nicht als prinzipiell verschiedene Krankheiten, sondem 
nur als verschiedene AuBerungen eines und desselben Krankheitsvor- 
ganges aufzufassen. Gemeinsam ist ihnen die Ursache, Selbstvergiftung 
durch Stoffwechselprodukte, auf Grund langjahrigen schweren Alkohol- 
miBbrauches, gemeinsam auch der typische Ausgang aller ungeheilten 
Falle in alkoholischen Sehwachsinn mit oder ohne Halluzinationen. 
Die Ursachen freilich, die es bewirken, daB bei dem einen Trinker sich 
die Autointoxikation als Delirium, bei dem anderen als Halluzinose, 
bei dem dritten als Korsakowsche Psychose auBert, sind uns zurzeit 
noch ganzlich unbekannt; wir konnen dariiber allerhftchstens Ver- 
mutungen anstellen. 

Viel bekannter als die Kombinationen der Korsa ko wschen Psychose 
mit anderen Alkoholpsychosen sind diejenigen mit senilen und arterio- 
sklerotischen Erkrankungen. Kruckenberg, der sehr viel derartige 
Falle beobachtet hat, faBt iiberhaupt die Korsakowsche Psychose 
als eine Kombination von Alcoholismus chronicus und senilen Er¬ 
scheinungen auf. Umgekehrt sieht Dupre, wohl ebenfalls auf Grund 
solcher Mischformen, die Presbyophrenie fur eine ,,Psychopolynevrite 
chronique avec demence“, eine zur Verblodung fiihrende polyneuritische 
Psychose an, eine Anschauung, die bei den franz6sischen Autoren eine 
lebhafte Kontroverse hervorrief (Nouet, Brissot und Hamel usw.). 
Solcher senil gefarbter Korsakow - Falle finden sich unter unseren 


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Zur Frage der HeiJbarkeit der Korsakowschen Psychose. 


501 


Kranken 6, samtlich Manner, im Alter von 64, 69, 70, 76, 77 und 
83 Jahren. 

Abortivfalle wurden 4mal, stets bei Mannem, beobachtet. Zwei- 
mal handelte es sich um schwere alkoholische Polyneuritis mit nur 
leicht angedeuteten psychischen Storungen (Merkstdrung und Gedacht- 
nisschwache bei gut erhaltener Orientierung); in den beiden anderen 
Fallen ging ein protrahiertes Delirium in eine leichte Korsakowsche 
Psychose iiber. Diese Falle sind von der als ,,Protrahierte Delirien mit 
Korsakow-Zugen“ bezeichneten Gruppe von Mischformen nur durch 
das etwas starkere,Hervortreten des amnestischen Symptomenkomplexes 
also nur graduell, unterschieden. 


V. 

Was die Prognose der Korsakowschen Psychose anlangt, so gehen 
die Meinungen der Autoren recht auseinander. DaB die schweren 
amnestischen Erscheinungen erheblich zuriickgehen konnen, wird wohl 
von alien Forschem zugegeben; strittig ist aber, ob eine vollstandige 
Ausheilung der psychischen Storung ohne Defekt moglich ist.Korsakow 
halt eine Heilung fiir moglich; Wernicke geht noch weiter, indem er 
die Prognose als ziemlich giinstig bezeichnet. Von neueren Autoren 
waren hier Brissot und Hamel zu nennen, die von einer an Kor- 
sakowscher Psychose alkoholischer Genese erkrankten Frau berichten, 
die nach zweijahriger Krankheit bis auf eine leichte Storung der Merk- 
fahigkeit wieder vollig genas. Boedeker teilt die Krankengeschichte 
eines ordentlichen Universitatsprofessors mit, der eine Korsakowsche 
Psychose durohmachte und spater wieder imstande war, seine wissen- 
schafthche und Lehrtatigkeit in vollem Umfange auszuiiben. Freilich 
ist trotz konzedierten AlkoholmiBbrauches die Diagnose dieses Falles 
nicht ganz einwandfrei. Auch Tegtmeyer berichtet von einem Falle 
mit wesentlicher Besserung der schwersten korperlichen und psychischen 
Storungen bei Korsakowscher Psychose. 

GroBer ist die Zahl der Autoren, die die MSglichkeit der Reparation 
der psychischen Storung ablehnen. Tiling hat bei seiner „Alkohol- 
paralyse“, die sich mit unserer Krankheit ziemlich deckt, niemals 
Heilung beobachtet, ebenso auch Monkemoller. Nach Bonhoeffer 
konne man hochstens von einer Heilung mit Defekt sprechen; eine 
Heilung im eigentlichen Sinne habe er nie gesehen. Auch Kraepelin 
steht der Restitutionsmdglichkeit skeptisch gegeniiber. Stanley 
stellt die Prognose ungiinstig; auch in bestverlaufendsten Fallen bleibt 
Beeintrachtigung des Gedachtnisses imd gemiitliche Schwachung 
zuriick. Auch Knapp hat in keinem Fall von Korsakow alkoholischer 
Atiologie Heilung beobachtet. 

Der weitere Verlauf einer Korsakowschen Psychose gestaltet sich 


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502 


A. F. Kauffmann: 


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nach Bonhoeffer, Kraepelin und anderen Autoren in den typischen 
Fallen so, daB langsam, im Verlaufe von Monaten, selbst Jahren, die 
polyneuritischen Erscheinungen zuriickgehen, noch langsamer aber 
sich der amnestische Symptomenkomplex zuriickbildet, der freilich in 
einer groBen Anzahl von Fallen iiberhaupt nicht verschwindet. Der 
Endzustand dieser Krankheit ist charakterisiert durch Schwachsinn 
mit oder ohne grobere Merkstorung, mit oder ohne Halluzinationen. 
Gregor, Roderich Mayr u. a. berichten iiber eine Steigerung der 
Gbungsfestigkeit bei Recheniibungen, die sie mit Korsakow-Patienten 
anstellten, die gute Perspektiven fiir eine planmaBige Ubungsbehand- 
lung eroffnet. Auf affektivem Gebiet treffen wir meistens eine lappische 
Euphorie, haufig Apathie, mitunter auch groBe Reizbarkeit an, Nicht 
selten zeigt der Kranke eine labile Stimmung, die standig zwischen 
Euphorie und Gereiztheit wechselt. In vielen Fallen aber tritt der Tod 
ein, ehe es zur Ausbildung dieses Endzustandes kommt. Todesursache 
kann die Polyneuritis sein, namentlich bei Mitbeteiligung des N. vagus. 
Als sonstige Todesursachen kommen vor allem Magendarmstorungen, 
Herzmuskeldegeneration, Lebercirrhose, Himblutungen, Pneumonien, 
Bronchitiden, Lungentuberkulose und Altersschwache in Betracht. 

Ich habe nun versucht, das spatere Schicksal unserer Patienten und 
den Ausgang ihrer Krankheit an der Hand von Katamnesen und Kran¬ 
kengeschichten zu ergriinden. Ich bin mir wohl bewuBt, daB die An- 
gaben der Katamnesen sehr unzuverlassig sind, da die Angehorigen 
oftmals den Gesundheitszustand des Kranken nicht beurteilen konnen, 
in manchen Fallen auch die Wahrheit nicht mitteilen wollen. Aus iiuBe- 
ren Griinden blieb aber die schriftliche Anfrage an die Angehorigen 
fiir mich der einzige Weg, um mich iiber das psychische Befinden der 
Nachhause-Entlassenen zu informieren. Immerhin konnte ich aus den 
Angaben doch feststellen, ob der Kranke noch am Leben ist, ob er sich 
zurzeit in Anstaltspflege oder zu Hause befindet, ob er seinem Berufe 
nachgehen kann und ob er noch auffallende psychische Storungen dar- 
bietet. Besser konnte ich mich iiber den psychischen Status derjenigen 
Kranken unterrichten, die sich noch in der Pflege offentlicher oder 
privater Anstalten befinden, da die arztlich geleiteten Anstalten mir 
die betreffenden Krankengeschichten in zuvorkommenster Weise zur 
Verfiigung stellten, die iibrigen mir ausfiihrliche Katamnesen schick- 
ten 1 ). Ein absolut sicheres Bild der Krankheitszustande konnte ich 
freilich aus diesen Krankengeschichten auch nicht immer gewinnen, 
da der psychische Status manchmal recht liickenhaft war. Daher bin 
ich nicht in der Lage, eine genaue Schilderung des Endzustandes der 

*) Don Direktionen all der staatlichen und privaten Anstalten, die mir bereit- 
willigst Krankengeschichten und Katamnesen einsandten, spreche ich meinen 
ergebensten Dank aus. 


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Zur Frage der Heilbarkeit der Koreakowschen Psychose. 


503 


einzelnen Krankheitsfalle zu liefem, sondem kann nur feststellen, 
wieviele von den Kranken gestorben sind, wieviele ungeheilt, wieviele 
gebessert sich in Anstaltspflege befinden, wieviele gebessert oder geheilt 
zu Haus leben, und wieviele wieder berufsfahig geworden sind. In 
einzebien Fallen, wo mir zuverlassige und genaue Angaben zur Ver- 
fiigung stehen, kann ich dann auch den augenblicklichen psychischen 
Zustand schildem. In einem Falle, bei einer weiblichen Kranken, 
habe ich gar keine Nachricht bekommen konnen. 


VI. 

Von unseren 63 Patienten verstarben in der Klinik 9; 41 wurden 
nach Anstalten oder Krankenhausem iiberfiihrt; 13 wurden nach Hause 
entlassen. Die Verteilung auf die Geschlechter soil durch nachstehende 
Tabelle demonstriert werden, wobei wieder die eingeklammerten Zahlen 
reine Falle bedeuten. 


Tabelle IV. 


Art der Entlassung der Patienten aus der Klinik. 

Frauen Manner zusammen 


In der Klinik vers tor ben 
Nach Anstalten uberfiihrt 
Nach Hause entlassen . 


3 (3) 6 (6) 9 (9) 
12 (10) 29 (22) 41 (32) 
3 (3) 10 (2) 13 (5) 


Von den in die Anstalt oder nach Hause Entlassenen sind nach- 
traglich noch 24, namlich 16 Manner und 8 Frauen, gestorben. Von 
unseren 63 Patienten sind also im ganzen 33 gestorben, und zwar 22 Man¬ 
ner und 11 Frauen. Wieviele von diesen Todesfallen der Krankheit 
selbst zur Last fallen, wieviele durch interkurrente Krankheiten ver- 
ursacht worden sind, laOt sich nach den vorliegenden, teilweise reeht 
diirftigen Angaben nicht feststellen. Wir konnen daher keine Mortali- 
tatsziffer angeben, sondem miissen uns damit begniigen zu konstatieren, 
dafl jetzt, wenige Jahre nach der Entlassung, nur noch 51,1% der Man¬ 
ner, 38,9% der Frauen, 47,6% der gesamten Kranken am Leben sind. 


Tabelle V. 

Obersicht iiber die Todesf&lle. 

Frauen Manner zusammen 


„Reine“ Formen. 11 14 26 

Abortivformen. 0 2 2 

Mischformen. 0_ 6 (davon 3 senile) 6 

Alle Formen. 11 22 33 


In der Mehrzahl der Falle ist bei den auBerhalb der Klinik Verstor- 
benen die Todesursache unbekannt; nur von etwa der Halfte der Ver- 
storbenen haben wir dariiber mehr oder weniger genaue Angaben. 
Wir finden am haufigsten den Tod durch Herzsehwache verursacht, 


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504 


A. F. Kauffraann: 


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femer durch Nephritis chronica, Lungentuberkulose, dyspnoische und 
peritonitische Erscheinungen, Lungeninfarkt, Meningealblutung, Bron¬ 
chitis, Carcinoma recti, Krafteverfall nach profusen Durchfallen; ein- 
mal finden wir bei der Sektion einen Tumor des Riickenmarks mit auf- 
und absteigender Degeneration. 

Die in der Klinik verstorbenen Patienten gingen im akuten Stadium 
der Korsakowschen Psychose zugrunde. Von den ubrigen starben 
19 psychisch ungeheilt, namlich 12 Manner und 7 Frauen ; bei dreien 
war die Krankheit mit Defekt ausgeheilt; die Merkstorung und die 
Desorientiertheit waren zuriickgegangen, ehe der Tod erfolgte (2 Manner, 
1 Frau). 2 Manner, beides Abortivfalle, starben, nachdem ihre Geistes- 
stdrung angeblich vollstandig geheilt war. 

Tabelle VI. 


Todesf&lle bei Korsakowscher Psychose. 




Reine FMle 

© £ © 7 ! 

a § 1 g 

S 1 

Misch-Formen 

© g ©2 

| 2 gS 

Abort! v-Form. 

© e 

g § 2f 
| fi 

t 

zusammen 

IS S .22 

\ a a 2 ® 

a g 

In der Klinik verstorben . 

0 

3 

9 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

6 

3 9 

Nach der 

Ungeheilt ver¬ 
storben . . . 

8 

7 

15 

i 

4 

0 

4 

0 

0 

0 

12 

7 19 

Entlassung < 
verstorben 

Nach Defekth. 
verstorben . 

0 

1 

1 

1 2 

0 

2 

0 

0 

0 

2 

1 3 

Geheilt verstorb. 

0 

0 

0 

0 

0 

0 

2 

0 

2 

2 

0 2 


zusammen 

14 

11 

25 

; e 

0 

6 

2 

0 

2 

22 

11 33 


Mit Ausnahme der Abortivfalle war also keiner der Verstorbenen 
von seiner psychischen Erkrankung genesen. 


VII. 

Was das Schicksal der ubrigen 30 Patienten anlangt, so habe ich 
iiber eine Patientin, wie bereits erwahnt, keine Nachricht erhalten 
konnen. Von den ubrigen 29 befinden sich 17, namlich 14 Manner und 
3 Frauen zurzeit noch in Anstaltspflege, wahrend 12, und zwar 9 Manner 
und 3 Frauen, nach Hause entlassen sind. 


Manner . 
Frauen . 
zusammen 


Tabelle VII. 

Die noch in Anstaltspflege befindlichen F&lle. 

Reine Formen Abortlv-Formen 
. . 11 0 

. . 2 0 


Alle Formen 
zusammen 


Mischformen 

3 (davon 2 senile) 14 
1 3 


13 


0 


17 


Alle diese Patienten, die Mischformen eingeschlossen, sind als un¬ 
geheilt zu betrachten; zwar sind bei einzelnen die Desorientiertheit 


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Zur Frage der Heilbarkeit dcr Koreakowschen Psychose. 


505 


und die Merkstdrung betrachtlich zuriickgegangen, doch besteht bei 
alien diesen Kranken Schwache des Willens, Fehlen der Initiative und 
eine hochgradige Verstandesabnahme, kurz der charakteristische al- 
koholische Schwachsinn. Viele der Patienten sind zu leichterer Arbeit 
gut zu gebrauchen, enthalten sich teilweise auch, selbst wenn man 
ihnen etwas Bewegungsfreiheit gibt, freiwillig des Alkohols, aber dies 
alles doch wohl nur, solange sie das Gefiihl haben, beaufsichtigt zu sein. 
Recht treffend schreibt der nichtarztliche Leiter eines Miinnerheims 
iiber einen unserer Kranken : „Der Eindruck bleibt allerdings, daB der 
willensschwache Mann die auBere Zucht einer strengen Haus- und 
Arbeitsordnung und das BewuBtsein bestandig beobachtet zu sein, 
fortdauemd bedarf.“ Und so ist es wohl mit vielen dieser Patienten; 
in der Anstalt machen sie bei oberflachlicher Betrachtung den Eindruck 
eines fast vollig Geheilten; wollte man sie aber wieder nach Hause in 
ihre alte Umgebung und in ihren friiheren Wirkungskreis entlassen, 
so wiirde man bald bemerken, daB man lediglich geistige Ruinen vor 
sich hat, die nur unter den giinstigen Bedingungen der Anstalt ihr 
Leben fristen konnen, nicht aber auBerhalb der schiitzenden Anstalts- 
mauem. 

Ein einziger, schwer belasteter Patient — seine beiden Eltem waren 
Saufer, und Schwester und Tochter litten an Epilepsie — scheint be¬ 
trachtlich gebessert zu sein. Nach dem uns von der Anstalt, in der er 
sich befindet, zugeschickten Krankenbericht, ist er wieder vollig orien- 
tiert und ohne Merkstorung; aber schon der Umstand, daB er nicht 
aus der Anstaltspflege entlassen wird, deutet darauf hin, daB auch 
dieser Patient von einer wirklichen Genesung noch weit entfemt ist. 

VIII. 

Die 12 nach Hause entlassenen Patienten verteilen sich folgender- 
maBen auf die verschiedenen Krankheitsformen. 


Manner . . 
Frauen . . 
zusammen 


Tabelle VIII. 

Die nach Hause entlassenen Falle. 

Heine Formen Abortiv-Formen Mischfonnen ^usammen 1 

4 2 3 (darunter 1 senile) 9 


Mischfonnen 


4 Patienten, 1 Frau und 3 Manner, samtlich reine Formen, sind als 
ungeheilt zu betrachten. Bei einem weiteren Patienten, der sich per- 
sonlich vorstellte, war eine deutliche Besserung zu konstatieren; er 
hatte wieder vollstandige Orientiertheit und gute Merkfahigkeit erlangt, 
iibte einen leichten Beruf aus und lebte, nach Angabe der Ehefrau, 
vollig enthaltsam. Freilich handelt es sich auch in diesera Falle nur um 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XX. 


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eine Heilung mit Zuriickbleiben eines betrachtlichen Defektes. Das- 
selbe gilt wohl auch von einem 33jahrigen Patienten, der schon einmal 
eine Alkoholhalluzinose durchgemacht hatte, dann an einer Mischform 
von Delirium tremens und Halluzinose erkrankte, die allmahlich in 
Korsakowsche Psychose iiberging. Naeh langer Anstaltspflege wurde 
er nach Hause entlassen; sein psychisches Verhalten war annahernd 
normal. Was seither aus ihm geworden ist, ob er sich drauBen hat 
halten komien, konnte ich leider nicht in Erfahrung bringen. Auch 
eine weibliche Kranke, die ebenfalls an einer Mischform erkrankt war, 
gehort in diese Kategorie. Im AnschluB an ein Erysipel entwickelte 
sich bei dieser Patientin ein Delirium tremens, das immer mehr den 
Charakter einer Korsakowschen Psychose annahm, um schlieBlich 
in eine Halluzinose uberzugehen. Auch diese Patientin wurde nach 
langerem Anstaltsaufenthalt nach Hause entlassen. t)ber ihr jetziges 
Befinden konnten wir von den Angehorigen keinen AufschluB erlangen. 
Das Gemeinsame dieser 3 Falle ist das, daB sich bei ihnen alien eine 
deutliche Besserung des psychischen Befindens konstatieren laBt, 
ohne daB wir eine tatsachliche vollstandige Heilung nachweisen oder 
auch nur als wahrscheinlich betrachten konnen. 

In 5 Fallen endlich, bei 1 Frau und 4 Mannem, wird uns von den 
Angehorigen oder den Patienten selbst mitgeteilt, daB die Kranken 
sich zurzeit wieder vollstandig wohl befinden und keinerlei Zeichen einer 
geistigen Stoning aufweisen. Es sei mir gestattet, auf diese 5 Falle naher 
einzugehen. 

Die beiden ersten Falle betreffen Abortivformen von Korsakow- 
scher Psychose. Der erste, ein dem Trunke ergebener, anscheinend von 
Haus aus psychopathischer 23jahriger Studierender der Chemie, war 
schon vor geraumer Zeit wegen Alkoholpolyneuritis in intemer Be- 
handlung gewesen. Er hatte selbst einen Ruckgang seiner geistigen 
Fahigkeiten, besonders des Gedachtnisses, bemerkt. Aber nicht des- 
halb kam er in die Behandlung der Psychiatrischen Klinik, sondem er 
lieB sich aus Furcht vor seinen Selbstmordgedanken, die ihn standig 
qualten, freiwillig aufnehmen. Er wurde am andem Tage entlassen. 
t)ber seine spateren Schicksale teilt er uns mit, daB er seit 4 Jahren 
im Staatsdienst stehe, seit 3 Jahren verheiratet sei, Vater eines gesunden 
Kindes und wohl und munter sei. Sein Schreiben macht einen klaren 
und geordneten Eindruck, und man kann annehmen, daB unser Patient 
tatsachlich keine geistige Stoning mehr aufweist. 

Ahnlich verhalt es sich mit dem zweiten Patienten, einem 47jahrigen 
Taglohner, der zwecks Unfallsbegutachtung in die Klinik aufgenommen 
wurde. Dieser litt ebenfalls an Alkoholneuritis; daneben fand sich 
auch bei diesem Patienten eine gewisse geistige Schwache, besonders 
beziiglich des Gedachtnisses. Wahrend nach Angabe des arztlich ge- 


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Zur Frage der Heilbarkeit der Korsakowschen Psychose. 


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leiteten Sanatoriums, in dem sioh Patient bis vor kurzem befand, 
neuritische Symptoms noch fortbestehen, war von psychischen Stdrungen 
dort nichts bekannt, ein Beweis, daB Patient zum mindesten keine er- 
heblichen geistigen Anomalien darbietet. 

Wesentlich anders liegen die Dinge bei einem dritten Patienten, 
einem 69jahrigen Rechnungsrat a. D. Dieser hatte schon einmal ein 
Delirium tremens durchgemacht und erkrankte dann an einer stark 
send gefarbten Korsakowschen Psychose. Patient, der im Anfang 
das Bild einer schweren Ge is teas to rung bot, besserte sich in der Pflege 
der Irrenanstalt in auffallender Weise. Alle Krankheitssymptome 
schwanden; Krankheitseinsicht stellte sich ein, imd als letztes Residuum 
derKrankheitserscheinungen bliebenleichteEriimerungsdefekte. SchlieB- 
lich wurde der Patient nach Hause entlassen und befindet sich nach 
Angabe seiner Tochter zurzeit bei bestem Wohlsein. Inwieweit diese 
Angabe zutrifft, laBt sich leider nicht nachpriifen. 

Bei dem vierten, angeblich vollstandig Genesenen haben wir es mit 
einer Mischform von Korsakowscher Psychose und Alkoholhalluzinose 
zu tun. Der 40jahrige Patient, seines Zeichens Maler, hatte mehrmals 
Alkoholhalluzinose durchgemacht und war deswegen allein viermal 
in der Psychiatrischen Klinik. Bei der dritten Aufnahme zeigte er 
neben den Sinnestauschungen noch deutlich den Korsakowschen 
Symptomenkomplex, der aber bald wieder verschwand. Zurzeit soli 
er sich nach Angabe seiner Tochter vollstandig gesund befinden. 

Der letzte Fall betrifft eine klinisch reine Form von Korsakow¬ 
scher Psychose. Eine 53jahrige Kochin, bei der sich im Laufe eines 
Jahres die Krankheit schleichend entwickelte, besserte sich in der 
Irrenanstalt wieder so weit, daB sie nach Hause entlassen werden konnte. 
Freilich lieB nach Angabe der Krankengeschichte Gedachtnis und Merk- 
fahigkeit der Kranken zur Zeit der Entlassung noch manches zu wiinschen 
ubrig, und alles in allem war eine erhebliche Geistesschwache als Resi¬ 
duum der Krankheit zuriickgeblieben. Nach Angabe der Tochter ist 
die Patientin zurzeit gesund. 

Versuchen wir diese 5 Falle von angeblichen Heilungen kritisch zu 
werten, so wird uns die vollige Wiederherstellung (wobei dahingestellt 
sei, ob sie wirklich als „vollig“ bezeichnet werden darf) der zwei Abortiv- 
falle nicht allzusehr Wunder nehmen, da man bei diesen Fallen ja sicher- 
lich einen giinstigeren Verlauf erwarten darf, als bei ausgebildeten Fallen. 
Auch die Genesung des Falles mit der Mischform von Halluzinose und 
Korsakowscher Psychose diirfte ihre Erklarung darin finden, daB die 
Korsakow-Komponente des Krankheitsbildes eben nur abortiv war 
und die Halluzinose an sich ja eine gunstige Heilungsaussicht bietet. 
Bei dem fiinften Falle, dem „reinen“ Korsakow-Falle, diirfte es sich 
nach der Krankengeschichte um eine unvollstandige Heilung mit Zuriiok- 

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A. F. Kauffraann: 


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bleiben eines erheblichen Defektes handeln; daB die Tochter die Patientin 
als gesund bezeichnet, spricht nicht dagegen. Betrachtet doch der 
Laie, besonders der ungebildete, bisweilen selbst Personen mit hoch- 
gradiger Geistesschwache als gesund, wenn sie nur sonst keine auf- 
fallenden Erscheinungen darbieten. 

Ganz unerklarlich ist mir die Genesung des Patienten mit der senilen 
Mischform, da derartige Falle sonst eine sehr schlechte Prognose haben. 
Was der Grand fur dieses auffallende Verhalten sei, ist mir nicht moglich 
zu ergriinden. Vielleicht handelt es sich iiberhaupt um einen diagno- 
stischen Irrtum. 

Bei der relativ geringen Haufigkeit der Korsakowschen Psychose 
ist unser Material von 63 Fallen schon als ein ziemlich groBes zu betrach- 
ten. Wir glauben uns daher berechtigt, aus dem Krankheitsverlauf 
unserer Miinchener Falle Schliisse auf den Verlauf und die Prognose 
der Korsakowschen Psychose schlechthin zu ziehen. Freilich muB 
hierbei beriicksichtigt werden, daB den lokalen Verschiedenheiten in 
bezug auf Lebensalter, soziale Stellung und Trinksitten der Kranken, 
sowie in bezug auf die Art des Ausbraches der Krankheit, vielleicht auch 
Abweichungen im Verlauf und Ausgang der Krankheit entsprechen. 
Daher haben die von uns gesammelten Erfahrungen iiber die Prognose 
der Korsakowschen Psychose zunachst nur fur ein solches Krank- 
heitsmaterial Giiltigkeit, das in all den ebengenannten Punkten dem 
unseren vollig gleicht. Doch glaube ich annehmen zu diirfen, daB mit 
gewissen, durch lokale Umstande bedingten Modifikationen die Er- 
gebnisse unserer Untersuchung auch auf jedes andere Korsakowsche 
Kranken material ubertragen werden diirfen. 

Welches sind nun die Ergebnisse der Nachforschungen nach dem 
Schicksal unserer Kranken? Erstens geht ein groBer Teil der Kranken, 
bei uns iiber 50%, im Laufe der nachsten Jahre nach Beginn der Er- 
krankung zugrunde. Die Ursache des todlichen Ausganges liegt in einer 
Minderheit der Falle in der Polyneuritis, die durch Vaguslahmung 
oder unter dem Bilde der Polioencephalitis haemorrhagica superior 
den Tod herbeifiihrt. In der Mehrzahl der Falle sind anderweitige, 
auf dem Boden des Alkoholismus entstandene korperliche Krankheiten 
als Todesursachen zu beschuldigen. Das meist hohe Lebensalter der 
Patienten und die haufige Kombination mit Arteriosklerose kommen 
daneben als sekundare Ursachen in Betracht. In einzelnen Fallen sind 
es interkurrente, in keinem direkten Zusammenhang mit dem Alkohol- 
miBbrauch stehende Krankheiten, die den Tod des Kranken verschulden. 

Zweitens: Abortivformen der Korsakowschen Psychose und solche 
alkoholische Mischformen, deren Korsakow-Komponente abortiven 
Charakter hat, konnen vollstandig ausheilen; alle ausgepragten Kor- 
sakow-Falle — seien es klinisch reine Formen, seien es Mischformen — 


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Zur Frage der Heilbarkeit der Korsakowschen Psychose. 


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konnen dies nicht. Die angebliche vollige Genesung des einen Patienten 
mit der senilen Mischform ist zu unsicher, um als Gegenbeweis zu dienen; 
wir sind berechtigt, den Satz aufzustellen, daB wohl jeder Korsakow- 
Kranke, der am Leben bleibt, einen mehr oder weniger groBen Defekt 
zuriickbehalt. Der eigentliche Korsakowsche Symptomenkomplex 
schwindet in einer groBen Zahl von Fallen; es restiert aber stets ein 
leichterer oder schwerer alkoholischer Schwachsinn, charakterisiert durch 
Intelligenzdefekt und Willensschwache. Letztere tritt, namentlich in 
leichteren Fallen, mehr in den Vordergrund, als der erstere. Je hOher 
das Lebensalter des Patienten und je langer die Zeit des Alkoholabusus, 
desto betrachtlicher die Storung; daher geben senile oder arteriosklero- 
tische Mischformen im allgemeinen eine besonders schlechte Prognose. 

Wir miissen uns also, das ist das Ergebnis unserer Untersuchung, 
der Meinung derjenigen Autoren anschlieBen, die, wie Tiling, Kraepe- 
lin und Bonhoeffer, die Heilungsmoglichkeit der Korsakowschen 
Psychose bestreiten, oder zum mindesten als sehr unwahrscheinlich 
betrachten. 


Literaturverzeiehnis. 

1. Boedecker, Archiv f. Psychiatric 40. 

2. Bonhoeffer, Die akuten Geisteskrankheitcn der Gewohnheitstrinker. 1901. 

3. — Die alkoholischen Geistcsstorungen. Deutsche Klinik € (2). 

4. Brissot u. Hamel, Bull, dc la soc. de med. ment. 3. 1910. (Ref. in Zeitschr. 

f. d. ges. Neur. u. Psych. 3, 498.) 

5. Chot^en, Zeitschr. f. Psych. 00. 1909. 

(i. Filser, Alkoholische Mischformen und chron. Alkoholhalluzinosen. Jahresber. 
iiber die Kgl. Psych. Klinik in Miinchen fiir 1908 und 1909. 

7. Goldstein, Zeitschr. f. Psych. 04. 1907. 

8. Gregor, Monatsschr. f. Psych. Zl. 

9. Heilig, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Orig. 10 . 1912. 

10. Huss, M., Chronische Alkoholskrankheit oder Alcoholismus chronicus. t)ber 

setzt von G. van dem Busch. 1852. 

11. Knapp, Die polyneuritischen Psychosen. 1906. 

12. Korsakow, S., Allgem. Zeitschr. f. Psych. 40. 1890. 

13. — Archiv f. Psychiatrie Zl. 1890. 

14. Kraepelin, Psychiatrie II. Bd. 8. Aufl. 1910. 

15. — Der Alkoholismus in Miinchen. Munch, med. Wochenschr. 1906. 

16. Krauss, tJber Auffassungs- und Merkverauche bei einem Fall von polyneu- 

ritischer Psychose. (Kraepelin: Psych. Arbeiten Bd. IV.) 

17. Kruckenberg, Zeitschr. f. klin. Medizin 10. 

18. v. Leyden, Zeitschr. f. klin. Medizin 1. 

19. Liepmann, Neurol. Centralbl. Z0. 1910. 

20. Lilienfeld, Berliner klin. Wochenschr. 1885. 

21. Luther, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. Orig. 9. 1912. 

22. Mayr, t v ber Endzustande bei Korsakowscher Psychose. Inaug.-Dissert. 

Miinchen 1911. 


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510 A. F. Kauffraann: Zur Frage der Heilbarkeit der Korsakowschen Psychose. 

23. Meyer, Archiv f. Psych. 3$. 1904. 

24. — Deutsche med. Wochenschr. 1909. 

25. Monkemoller, Allg. Zeitschr. f. Psych. 54 . 

26. Nouet, L’Enoephale 6. 1911. Ref. in der Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych, £, 

498. 

27. R&cke, Archiv f. Psych. 39. 1904. 

28. v. Speyr, W., Die alkoholischen Geisteskrankheiten im Basler Irrenhause. 

1882. 

29. Stanley, The American Journal of Insanity 5i. (Ref. in Zeitschr. f. d. ges. 

Neur. u. Psych. 1, 626. 

30. Tegtmeyer, Zeitschr. f. Psych. €£. 

31. Tiling, Allgem. Zeitschr. f. Psych. 45 . 1890. 

32. — Uber alkoholische Paralyse und infektiose Neuritis multiplex. 1897. 

33. Wernicke, Krankenvorstellungen aus der psychiatr. Klinik in Breslau. 1899. 

34. — GrundriO der Psychiatrie. 1900. 

35. Ziehen, Psychiatrie 1911. 


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t)ber das Selbstbewufitsein und seine Storungen. 1 ) 

Von 

Dr. Paul Schilder. 

(Aus der psychiatrbehen und Nervenklinik der University t Leipzig 
[Direktor: Geheimrat Flechsig].) 

(Eingegangen am 10 Oktober 1913.) 

Im Alltagsleben sind wir der festen Uberzeugung, daB unser Ich, 
unsere Personlichkeit, konstant und unteilbar sind. Wir sehen auch in un- 
sem Mitmenschen nichts Veranderliches, sondem sehen in ihnen be- 
8timmte Gegenstande feststehender Art, die ebenso Objekte der prak- 
tischen Menschenkenntnis werden, wie etwa ein Element Gegenstand 
der Chemie ist. Wir geben diesen Standpunkt des gegenstandlichen 
Betrachtens von Ichen andem Personlichkeiten gegeniiber wohl niemals 
auf. In demjenigen, der mich gekrankt hat, sehe ich immer wieder den 
gleichen Menschen. Diese Idee der Einheitlichkeit des Individuums liegt 
al8 selbstverstandlich unserm gesamtem offentlichem Leben zugrunde. 
Welchen Sinn hatte es auch, einen Verbrecher zu bestrafen, wenn man 
in ihm (etwa im Sinne Machs) nur eine wechselnde Gruppe von Empfin- 
dungen sieht. Lenken wir jedoch unsere Beobachtung nach innen, 
wenden wir uns von dem Handeln im sozialen Getriebe auf unsere 
eigenen Innenerlebnisse, so scheint, in gewissen Stunden wenigstens, jene 
Sicherheit zu schwinden. Wir vermissen jenes einheitliche IchbewuBt- 
sein, das uns begleitet, wenn wir uns handelnd im taglichen Leben be- 
wegen. Lassen Sie mich zum Beweise folgende Verse Hofmannsthals 
anfiihren: 

Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt, 

Und viel zu grauenvoll, als daB mans klage : 

DaB alles gleitet und voriiberrinnt, 

Und daB mein eigenes Ich durch nichts gehemmt 

Heriiberglitt aus einem kleinen Kind 

Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd. 


x ) Nach einem Vortrag, gehalten auf der 85. Versammiung Deutscher Natur- 
forscher und Arzte in Wien am 22. September 1913. Die Krankengeschichten und 
die Analysen, die dem Vortrag zugrunde liegen, werden demnachst in Buchform 
veroffentlicht. 


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P. Schilder: 


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In pathologischen Zustanden finden wir gleiche Erlebnisse nnr gro- 
tesker in der Form. Wir wollen einigen dieser Erlebnisse gegeniiber 
die Frage erheben, ob wir wirklich berechtigt sind, davon zu sprechen, 
das Ich sei ein anderes geworden, sei verdoppelt, oder sei versehwunden. 

Ich beschaftige mich zunachst mit der Depersonalisation. Ich 
verstehe darunter jene Stoning, in der das Individuum sich gegeniiber 
seinem friiheren Sein durchgreifend verandert fiihlt. Es beobachtet 
sein Handeln und Tun wie ein unpersonlicher Zuschauer. Seine Hand- 
1 ungen erscheinen ihm automatisch, es erkennt seine Personlichkeit 
nicht an. Die AuBenwelt erscheint fremd und neu und hat ihren Re- 
alitatscharakter verloren. Wie schwer und in welcher Weise sich der- 
artige Kranke in ihrem Ich geandert fiihlen, mogen einige ihrer AuBe- 
rungen erkennen lassen. Die Kranken geben an, sie fanden sich nicht 
in sich selbst zurecht, es fehle das BewuBtsein ihres eigenen Ichs. 
Einer meiner Patienten klagte, ,,ich bin vollkommen umgestiilpt“ oder 
,,ich bin kein Mensch mehr, ich habe keine Seele mehr“. Ein Kranker 
Balls sagt, seine Personlichkeit sei absolut und vollstandig verschwun- 
den. ,,Es scheint mir, als wenn das Ding, welches existiert, in nichts 
an das erinnert, was auf mein altes Ich Bezug hat.“ Unsere Patienten 
sagen haufig, es sei, wie wenn sie tot seien. 

Uber das Gesamtbild der eigenartigen Stoning moge ein Fall aus 
meinem eigenem Materiale orientieren. 

Bei einem 21jahrigen Studenten entwickelt sich aus einem neurasthenischen 
Zustandsbild, in dessen Vordergrund Selbstbeschuldigungen sexueller Art stehen, 
eine vollige De personalisation. Seine Person sei durchgreifend verandert, ins be - 
Bonders seine Willenstatigkeit. Die Sinneseindriicke erweckten in ihm nicht den 
gleichen Eindruck wie fruher. Er sehe zwar, es kniipfe sich jedoch nichts daran, 
er hore, aber es sei keine direkte Klangempfindung. Es fiihle nichts, schmecke 
nicht und rieche nicht. Doch ergibt die objektive Untersuchung, daB an den Sinnes- 
organen kein Defekt nachzuweisen ist. In seinem Korper fiihlt er sich schwer ver¬ 
andert, der Kopf sei wie hohl, der Korper sei leicht. Die Bewegungen seien vollig 
umgewandelt, er wisse nicht, ob er gegessen habe, spiire keinen Hunger, keine 
Sattigung. Das Wasserlassen und den Stuhldrang habe er nicht in der Gewalt. 
Es fehlten jedoch jene Erscheinungen, welche auftreten, wenn Storungen der tiefen 
Sensibilitat und der Empfindlichkeit der inneren Organe vorhanden sind. Noch 
eindringlichere Klagen bringt er iiber seine Gefiihle vor. Er behauptet, er hatte gar 
keine, die Seele fehle, er konnte fiir seine Angehorigen nichts Liebes empfinden. 
Sie taten ihm leid, aber das sei nur so ein Denken. Im Gegensatz hierzu stelit, daB 
es leicht gelingt, ihn zum Lachen zu bringen und daB samtliche auBere Zeichendes 
tiefen Affektes bei ihm nachgewiesen werden konnen. Sein Verhalten bei dem 
Besuch Angehoriger entspricht dem Verhalten des liebevollen Solmes. Auch iiber 
seine Vorstellungen und Erinnerungen auBert er Klagen. Unauffallige Priifimgen 
ergeben jedoch Intaktheit des Vorstellungsvermogens und des Gedachtnisses. Der 
Kranke klagt, es fehle ihm die Ideenverbindung und fiihlt sich in seinem Denken 
schwer gestort. Auch hier uberrascht bei unauffalliger objektiver Priifung die 
ungeschadigte Denkfiihigkeit. Allerdings bestehen Storungen der Einstellung des 
Denkens. Die Gedanken richten sich nicht auf die AuBenwelt, sondem sind aus- 


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liber das SelbatbewuBtsein und seine Storungen. 


513 


schlieBlioh mit dem eigenen Ich beschaftigt. Er lebt in der Selbetbeobachtung, 
er wird gesprachig, wenn von seinem Leiden gcsprochen wird. Seinen Willen fiihlt 
der Kranke vernichtet und wie er meint durch elektrische Willensstrome ersetzt. 
Er bezeichnet sich als Holzpuppe, die von einem fremden Willen regiert werde. 
Er selbst habe nichts Seelisches, sei keine Pereonlichkeit. Wir trafen haufig den 
Kranken stundenlang oline Beschaftigung dasitzend an. Aber auoh hier kommt 
die genauere Beobachtung zu anderen Resultaten. Er rafft sich auf zu den Verrich- 
tungen des taglichen Lebens, schreibt Briefe, bemiiht sich, seinen Zustand richtig 
zu schildern, kurz es fehlen vollkommen die Zeichen der objektiven Hemmung. 
Mit anderen Worten, der Wille ist da, aber er ist verkehrt eingestellt. Es ist im 
Prinzip das gleiche wie bei einem Kranken Krishabers, der aussagt, „ich fand 
meine Energie wieder, wenn es sich um meine Gesundheit handelte.“ 

Die Depersonalisationserscheiniuigen unseres Kranken klangen in 
verhaltnismaBig kurzer Zeit ab und es trat ein Zustandsbild auf, in 
dem wahnhafte Ideen von einer kiinftigen Bestimmung seiner selbst 
und seiner Familie dominierten. Das Zustandsbild erforderte die 
Diagnose Schizophrenic. 

Ieh mochte sofort hinzufiigen, die Mehrzahl der einschlagigen Falle 
gehort einer anderen Gruppe von Erkrankungen an. Sie stellen eine gut 
charakterisierte Reihe dar, die in inniger Mischung Zeichen vereinigt, 
welche dem manisch-depressiven Irresein einerseits, der Psychasthenie 
andrerseits zugehoren. Was zunachst die Dauer des Zustandes anbetrifft, 
so verzeichnen wir Attacken von minutenlanger Dauer, die wir geradezu 
als Anfalle bezeichnen konnen und von da alle tlbergange zu lang- 
dauemder chronischer Erkrankung. Es ist von Fallen berichtet, die 
20 Jahre nach dem Beginn des Leidens noch nicht zur Heilung ge- 
kommen waren. Der Symptomenkomplex tritt haufig rezidivierend auf. 
Man ware geneigt, von periodischem Verlaufe zu sprechen. Doch ist 
auch bei periodisch verlaufenden Fallen haufig eine reaktive Entstehung 
der einzelnen Attacken nachzuweisen. In einem meiner Falle folgte der 
Depersonalisation eine Phase von hypomanischem Charakter. Der 
Symptomenkomplex entwickelt sich, wie erwahnt, haufig reaktiv im 
AnschluB an Aufregungen. Doch ist ein gewisser EinfluB korperlicher 
Erschopfung zu mindest wahrscheinlich. DaB rein endogene Faktoren 
fur die Erkrankung und fur ihren Ausbruch mitbestimmend sind, halt© 
ich fur sicher. Die Symptomatologie gibt gleichfalls fiir eine Klassifi- 
zierung keine Anhaltspunkte. Wir konnen unseren Symptomenkomplex 
abkiirzend als totale subjektive Hemmung bezeichnen. Jede einzelne 
dieser Klagen finden wir im Rahmen des manisch-depressiven Irreseins, 
ja sie gelten zum Teil als charakteristisch fiir dieses. Aber wir finden 
ebenso enge symptomatologische Beziehungen zur Psychasthenie und 
Neurasthenie. Diese letzteren werden augenfalliger, wenn wir bemerken, 
daB eine Reihe von Patienten hypochondrisch-neurasthenische Be- 
schwerden auBem, und daB Zwangsvorstellungen fast regelmaBig an- 
getroffen werden. Wir konnen sagen, tritt der Symptomenkomplex 


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P. Schilder: 


nicht auf Basis von organischen Prozessen auf, so vereinigt er in inniger 
Mischung Ziige aus dem manisch-depressiven Irresein und der Neurasthe¬ 
nic. Auch hier wieder fiihrt das genauere Studium zu dem Resultate, 
daB Abgrenzungen im Bereich der funktionellen Psychosen nur relative 
und kiinstliche sind. Auch mir erscheint als Oberbegriff dieser Psychosen - 
formen gelten zu konnen, daB sie gegeneinander nicht scharf abgrenzbar 
sind (Homburger). Noch eines muB hervorgehoben werden: Es ge- 
lingt, diese Symptomenverkuppelung in das Normale hinein zu verfolgen. 
Das ganze komplizierte Bild kann als kurzdauemde Attacke beim Nor- 
malen vorkommen. Es ist in guter Ubereinstimmung mit den Resul- 
taten unserer Untersuchungen am pathologischen Material, wenn 
Heymanns in einer Enquete festgestellt hat, daB die Depersonali¬ 
sation vorwiegend labil veranlagte Menschen trifft. Wir fugen hinzu, 
daB auf dem Boden der Epilepsie gleichfalls Depersonalisations- 
erscheinungen erwachsen konnen. Bedenkt man wie verschiedenartig 
die klinische Genese einer derart komplizierten Symptomengruppe 
sein kann, so wird man die Berechtigung eines Studiums von Symptomen- 
komplexen im Wernicke - Hocheschen Sinne zugeben miissen. 

Ich glaube, ein psychologisches Verstandnis des eigenartigenZustands- 
bildes in folgender Weise ermoglichen zu konnen: Verandert ist in diesen 
Fallen nicht das zentrale Ich, das Ich im eigentlichen Sinne, verandert 
ist vielmehr das Selbst, die Personlichkeit. Das Ich nimmt jene Veran- 
derung des Selbst in einem fundierten Akte wahr. Diese Veranderung 
des Selbst ist nicht die Folge der Veranderung irgendeiner Gruppe 
psychischer Elemente, etwa der Empfindungen, der Gefiihle, der Er- 
innerungen, der Gedanken, sondcm riihrt daher, daB das Ich in seine 
Akte nicht mehr in voller Weise eingeht, es werden nicht alle gleich- 
zeitig gegebenen Ichtendenzen im Akte vereinheitlicht. Es wird nicht 
schlicht wahrgenommen, sondern das Wahmehmen selbst wird wieder 
zum Gegenstand eines neuen Aktes. Das Selbst erscheint entseelt, 
weil die Tatigkeit des Ich sich in ein Wahmehmen des Wahmehmens zer- 
splittert. Es geniigt also nicht, daB Gefiihle, Erinnerungen, Gedanken 
dem BewuBtseinsstrome immanent sind, ja es geniigt auch nicht, daB das 
Ich die Inhalte gegenstandlich erfaBt, sondern das Ich muB ganz und 
ungeteilt in den Inhalt einstrahlen, damit die befriedigende voile Wahr- 
nehmung, das voile Fiihlen, das voile Erinnem und das voile Denken 
zustande kommt. Das Pro tot yp dieses vollen Erlebens ist das evidente 
aus voller Uberzeugung geschopfte Urteil, das Urteil, das nicht schlecht- 
hin auf Grund eines ungeklarten SachverhaltsbewuBtseins vollzogen 
wird, sondern auf Grund eines geklarten Sachverhaltshintergrundes 1 ), das 
beruht auf einer Dbereinstimmung aller aktuell gegebenen Urteils- 


*) Vgl. hierzu Husserl. Ich spreche von Evidcnz im laxen Sinne. 


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Cber das Selbstbewufitsein und seine Stfirungen. 


515 


tendenzen der Persbnlichkeit. Das was unsere Beobachtungen lehren, 
ist: Es gilt nicht bloB fur Gedanken, daB sie evident vollzogen werden 
konnen und vollzogen werden sollen, sondem es gilt das auch fur die 
pefuhle und fur die Wahmehmungen. Auch sie sollen vollzogen werden 
aus der einheitlichen Persdnlichkeit heraus in einheitlichem, das ganze 
Selbst enthaltendem Akte. Man hat gemeint, die Stdrungen des Peredn- 
lichkeitsbewuBtseins in unseren Fallen seien ein Verlust des Ich selbst. 
Aber die Depereonalisierten sagen, ich bin verandert gegen friiher, 
ich bin anders. Welches Ich ist ist es denn, das jene Veranderungen 
konstatiert? Man hat versucht, zu sagen, die Empfindungen sind 
gestdrt, infolgedessen ist die Stoning eingetreten. Aber die objektiven 
Untersuchungen haben ergeben, daB das Rohmaterial der Empfindungen 
intakt ist. Wiewohl ich sehe, ist es mir, als ob ich blind sei, das ist die 
charakteristische Rede der Depereonalisierten. Man hat auch versucht, 
die Depereonalisation auf einen Mangel oder auf eine Hemmung der 
Gefiihle zuriickzufiihren, aber es sind ja samtliche auBeren Zeichen des 
Gefuhlslebens vorhanden. Die Gefiihle sind, so meine ich, ebenso vor- 
handen, wie es die Empfindungen sind, sie werden nur nicht in evidenter, 
echter und von innen her unbestrittener Weise vollzogen 1 ). Man hat 
auch Aktionsgefiihle supponiert, die geschwunden sein sollen. Aber ich 
kann nicht finden, daB die Wahmehmung noch ein besonderes Aktions- 
gefiihl braucht, um rechtskraftig zu werden und eret recht kann ich nicht 
entdecken, daB sich die Wahmehmung der Depereonalisierten gegeniiber 
der des Gesunden durch das Fehlen eines derartigen Gefuhles charakteri- 
siert. SchlieBlich hat man pathologische Fremdheitsqualitaten ein- 
gefiihrt, um den Zustand zu erklaren. Aber in der Depereonalisation 
weiB das Individuum sehr wohl, daB die Gegenstande nicht fremd sind, 
sondem nur ihm fremd erecheinen. Es bediirfte auBerdem noch der 
Darlegung, auf welche Weise denn dieses hypothetische Fremdheits- 
gefiihl zustande kommt. Also, nach allem komme ich darauf zuriick: 
Es ist gestCrt der Vollzug, der Akt des Wahmehmens, Fuhlens, Denkens 
Wollens und zwar in der Art, daB der vom Ich ausgehende Ichstrahl 
beim Depereonalisierten nicht alle Tendenzen des Ich in sich verein- 
heitlicht. Diese Unfahigkeit der vollen Zuwendung zu den Gegenstanden 
wird in einem neuen Akte erfaBt; sie ist fiir das Individuum schmerzlich 
und qualend. 

Wir wenden uns jetzt einer genetisch psychologischen Betrachtung 
der Depereonalisation zu. Wir sind uns der Unsicherheit bewuBt, die 
dem Aufzeigen veretandlicher Zusammenhange anhaftet. Bereits 
Janet hat darauf hingewiesen, daB Aufregungen sehr haufig die Deper¬ 
sonalisation einleiten. Eine Flucht aus der Realitat schemt tatsachlich 

l ) Vgl. hierzu Haas. 


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51G 


1\ Schilder: 


in der Depersonalisation angestrebt zu sein. In einem Falle Lftwys 
sind derartige Zusammenhange wahrscheinlich gemacht. Angestrebt 
ist, die Wirklichkeit zu verlassen und alles Seelische in reiner Geistigkeit 
durchzufiihren. Gerade zu jenen Akten intuitiven Denkens, zum reinen 
Erschauen gehort aber die voile und ungeteilte Pers6nlichkeit. Es 
gehort zu dem vollen Erlebnis des Denkers, daB das Ich im Denken voll 
aufgeht. Den Depersonalisierten miBlingt diese Flucht aus der Wirk¬ 
lichkeit, weil sie zu der durchaus einheitlichen, der Gesamtpersonlich- 
keit entsprieBenden schopferisc hen Syn these nicht fahigsind. Bedenkt 
man, daB das Leid der Depersonalisierten ein ungeheures sein muB — 
es ware besser tot zu sein, als so zu leben, sagen sie — so wird man er- 
messen konnen, in welcher Weise das Gluck des Individuums von jenen 
Akten der schopferischen Synthese abhangig ist, sei es, daB diese im 
Handeln, sei es, daB sie im Wahmehmen, im Fiihlen oder im Denken er- 
lebt wird. Gerade die Falle, die uns hier beschaftigen, lehren uns das 
Goethesche Wort besser begreifen: Htichstes Gluck der Erdenkinder 
ist nur die Personlichkeit. 

Unseren Symptomenkomplex weiter verfolgend, werfen wir die 
Frage auf, ob ein himphysiologisches Verstandnis desselben moglich 
ist. Es ist bisher nicht geniigend betont, daB in dem bekannten Falle 
Wilbrands von Seelenblindheit Erscheinungen nachweisbar waren, 
die man direkt als Depersonalisation bezeichnen muB : Klagen iiber 
Automatismu8. Nun finden wir andrenteils bei den Depersonalisierten 
Klagen das Sehen betreffend, welche mit denen der Kranken von 
Wilbrand (und auch mit denKlagen des Kranken von Charcot) iiber- 
einstimmen. Hier bestehen enge Beziehungen. Es erhebt sich aber die 
Frage, ob in dem Wilbrandschen Falle diejenigen Storungen, welche 
iiber den Gesichtsfelddefekt hinausgehen, namlich die Erscheinungen 
von Seelenblindheit nicht eine Superposition funktioneller Erschei¬ 
nungen darstellen. Ich halte diese Annahme nicht fur berechtigt, denn 
die Entfremdung der Wahmehmungswelt trifft ganz uberwiegend 
dasjenige Sinnesgebiet, dessen cerebrale Foci geschadigt sind. Ich halte 
mich fur berechtigt zu sagen, es gibt organische Herderkrankungen 
welche (auf einzelnen Teilgebieten des Seelischen) das physische Korrelat 
der psychischen Storung darstellen, daB das Selbst sich nicht vollig 
hineinversetzen kann in Empfindungen, die es empfindet, und in Vor- 
stellungen, die es vorstellt. Akzeptiert man diese Ausfiihrungen, so 
muB prinzipiell die Lokalisierbarkeit neurasthenischer und psychasthe- 
nischer Beschwerden zugegeben werden. 

Ich gehe an dieser Stelle nicht naher auf die gutbekannten Verdoppe- 
lungen der Personlichkeit bei Hysterischen ein. Ich hebe nur hervor, 
daB nach psvchogalvanischen Untersuchungen von Prince und 
Peterson auch jene Ereignisse, die dem Individuum im Etat second 


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Uber das Selbstbewufltsein und seine Storungen. 


517 


widerfuhren, Affektreaktionen hervorrufen. Es ist also auch das zweite 
PersonlichkeitsbewuBtsein in dem ersten enthalten. Mit anderen Worten, 
es liegt eine wirkliche Verdoppelung des Ich nicht vor. 

Nun zu eigenen Beobachtungen, in denen das Individuum gleich- 
zeitig verschiedene Personlichkeiten zu enthalten angibt. 

Ein 24 jahriger Student wird in die Klinik aufgenommen, weil er im Hemd auf 
die StraBe gelaufen war. Er zeigt kataleptische Erscheinungen und ist negativistisch. 
Als er freier wird, erklart er, daB in ihm ein kosmisches und individuelles BewuBtsein 
vorhanden sei. Das kosmische erteile Befehle, es habe ihm auch befohlen sich wahn- 
sinnig zu stellen. Er gab in der Tat an, den Teufel gesehen zu haben und produzierte 
Beispiele von Sprachverwirrtheit. In der der Aufnahme folgenden Nacht erlebte 
er eine „Inkamation“. Ich gebe im wesentlichen seine Worte wieder: „In der Zelle 
fuhlte ich auf einmal, daB ich eine ganze andere Physis hatte, eine viel sohonere 
Physis. Mein Korper war durchgebildet als ware ich Erdarbeiter und Militargefan- 
gener. Die eigenc Physis schien den Doppelganger aufzunehmen. Ich war mit 
einem Schlage cine ganz andere Person, als ware ich gar nicht ich. Ich horte Stim- 
men, ich ware katholisch. Es war als ware ich ein Militargefangener in Spandau. 
Es fing beim grdBten Habitus an und ich wurde iramer kleiner. Mein Korper wurde 
direkt verandert. Die verschiedenen Personlichkeiten wechselten, daneben blieb 
das BewuBtsein, daB ich Karl O. war, und es war als ware mir eine andere Psyche 
inkamiert . . . damit ich die Strapazen in der Zelle aushalten soli to . . . Einmal 
war ich katholischer Schlesier. Durch Herzklopfen erhielt dieser Nachricht von 
dem Tode seiner Mutter“. 

Auch in diesen Erlebnissen sehe ich nicht den Tatbestand einer Ver¬ 
doppelung des Ich. Die Teilung in ein kosmisches und in ein individuelles 
BewuBtsein, von der unser Patient berichtet, entspricht nur einer weit- 
gehenden Verselbstandigung bestimmter Gedankenreihen. Beide Ge- 
dankenketten werden aber von demselben Ich gedacht und das Indivi¬ 
duum erfaBt diese disparaten Gedankengange als seine eigenen. Es ist 
derselbe Tatbestand, den wir antreffen, wenn wir vor einer Entscheidung 
Griinde und Gegengriinde gegeneinander abwagen. Wir vermerken, daB 
bei vielen Zwangsprozessen ahnliche psychische Erlebnisse vorhanden 
sind. 

Auch die Inkarnationserlebnisse des Kranken stellen keineswegs eine 
Verdoppelung des Ich dar. Er fuhlt sich ein in einen halluzinatorisch ver- 
groBerten Leib. Aber — wir wiederholen dabei nur seine Worte — er 
ist sich stets bewuBt, daB er Karl O. blieb. Also wiederum bleibt die 
Einheit des Ich streng gewahrt. Ebensowenig wie der Schauspieler, der 
sich in Richard III. einlebt, sein Ich verliert oder verdoppelt, ebenso¬ 
wenig liegt derartiges bei unserem Kranken vor. Das Erlebnis wird 
dadurch eigenartig, daB das Ich in den eigenen halluzinatorisch ver- 
anderten Leib eingefiihlt wird. 

Setzten die bisher erw ahnten Erscheinungen (die ubrigens nicht etwa 
AuBerordentliches darstellen, sondern im Bilde der Schizophrenic, wie 
ich naeh eigenen Beobachtungen aussagen kann, haufig sind) der Analyse 


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518 


P. Schilder: 


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relativ geringe Schwierigkeiten entgegen, so fiihren uns andere Erleb- 
nisse des Kranken vor weittragende Probleme. Drei Jahre vor dem 
Beginn der akuten Psychose hatte Karl O. ein Erlebnis von tiefer 
Mystik: 

Es war auf einer Studienreise nach England, er stand, wie er erz&hlt, unter dem 
Eindrucke langer Einsamkeit und unter der Nachwirkung tiefen Schmerzes um 
eine verstorbene Schwester. Da sah er iin Garten ein Spinnenetz mit einer Spinne. 
Zum Zcitvertreib warf er eine Fliege in das Spinnenetz und diese Spinne fing diese 
Fliege und saugte sie aus. Er wah auch im Garten einen Stein und dieser erregte 
ihn ungemein. Und dieses Leben d^r Spinne und das Sterben der Fliege, ging so in 
ihn liber in eine ungeheure seelisch-geistige Versunkenheit ins All, aber nicht 
in die Schopfung sondern in ein rhythmisches Chaos, in ein ungeheures Auf- und 
Niederwogen. Er falite seine Gefiihle in die Worte: „ Alles wogt auf und nieder, wie 
eine ewige Woge, alles ist ein endloser Kreisen von Werden und Vergeh n n, alles 
trennt und eint sich wieder und was mir Widersinn erschien, vereinigt sich in wun- 
dersamer Symphonies 

Dann kamen noch einige merkwiirdige Gedichte zum Ausdruck, ohne 
daB er daran gedacht hatte. Es wurde ihm in Gedichten offenbart, 
daB sich in seiner Familie Deutschland widerspiegle. Auch sonst be- 
tont er immer wieder, daB seine dichterische Produktion ohne sein Zu- 
tun unwillkiirlich erfolge. 

Wir sehen so auf pathologischem Boden Erlebnisse erwachsen, 
denen wir eine gewisse Typik fur das dichterische Erlebnis iiberhaupt 
nicht absprechen konnen. Im Momente des Schaffens entschwindet 
dem Individuum das BewuBtsein des Ich. Wir erheben wieder unseres 
Frage: Ist das Ich in jenen Momenten wirklich geschwimden ? Hier ist 
sofort zu sagen, im Gedankengang des taglichen Lebens wenden wir uns 
den Dingen zu und nicht uns selbst. Wir leben bestandig in der Welt, 
wir sind in ihr darin. Es wurde im Vorangehenden gezeigt, daB dieZu- 
wendung des inneren Blickes zur geistigen Tatigkeit selbst zu einer 
Schadigung des SelbstbewuBtseins fiihrt. Gerade jene Kranke, die 
standig ihrem eigenen Ich zugewendet sind, gerade diesen entschwindet 
das voile Personlichkeitserlebnis. Es muB also in der restlosen Hin- 
wendung zur AuBenwelt in dem restlosen Aufgehen im Gedanken, im 
Gefiihl, in der Wahrnehmung irgendwie enthalten und darin sein. Ja wir 
glauben zu dem Ausspruche berechtigt zu sein: das Pers6nlichkeits- 
erlebnis ist um so voller und um so eindeutiger, je weniger die Auf- 
merksamkeit ihm zugewendet ist. Die innere Hingabe an Gegenstande 
(das Wort im strengen Sinne genommen) ist das wahre Personlichkeits¬ 
erlebnis. Gerade in den wirklich wertvollen Momenten des Daseins ver- 
schwindet der Gedanke an das Ich. Aber sollen wir uns selbst nur jene 
wertlosen Gedanken und Handlungen zuschreiben, die wir, uns selbst 
beobachtend, durclifiihrten ? Wir lehnen jene paradoxe Auffassung ab, 
die uns die kiinstlerischen Produkte als ichfremd erscheinen lassen will. 


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(jber das SelbstbewuCtsein und seine Stttrungen. 


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VVohin kommen wir, wenn wir als wahrhafte Erlebnisse Mozarts nur 
jene gelten lassen wollen, die er mit uns alien gemein hat ? Alles drangt 
eindeutig zu der Auffassung: 1m vollen Erleben ist das Persdnlichkeits- 
erlebnis voll enthalten. Es ist eben dann rein gegeben, wenn es nicht in 
einem besonderen Akte erfaBt wird. Und hier mochte ich den Faden 
friiherer Auseinandersetzungen aufnehmen und darauf verweisen, daU 
die voile Hingabe an die Welt der Gegenstande nicht nur fiir unseren 
Patienten allein Gliick bedeutet. Und so diirfen wir auch diese Er- 
Orterungen mit den Worten beschlieBen: Hdchstes Gluck der Erdenkinder 
ist nur die - Personlichkeit. 


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Der Konstitutionsbegriff in der Psychiatrie. 

Von 

Karl Birnbaum (Berlin-Buch). 

(Eingegangen am 12. Oktober 1913.) 

Nachdem der alte Konstitutionsbegriff — allerdings in veranderter, 
scharferer Fassung — in der modemen Medizin von neuem Aufnahine 
und Anerkennung und in ihren verschiedenen Spezialgebieten Ver- 
wertung gefunden hat, wird sich auch die Psychiatrie der Aufgabe nicht 
entziehen konnen von ihrem Fachgebiete und ihren Sonderanschauungen 
aus prinzipiell zu ihm Stellung zu nehmen. Sie ist dazu um so mehr 
verpflichtet, als gerade sie eigentlich von jeher einem endogenen Mo¬ 
ment, mag man es nun Konstitution oder sonst wie immer genannt 
haben, eine besondere Bedeutung fur die Pathogenese psychischer 
Storungen eingeraumt hat. 

Ihre Aufgabe ist es natiirlich nicht, die Berechtigung der modemen 
Konstitutionslehre ganz allgemein zu priifen. Das ist Sache der all- 
gemeinen Pathologie wie der allgemeinen Medizin iiberhaupt. Von 
ihnen nimmt die Psychiatrie den Konstitutionsbegriff einfach als ge- 
geben hin, und sie darf ihn als wissenschaftlich ausreichend begriindet 
und geniigend fest fundiert ansehn, da er sich auf die Namen anerkannter 
naturwissenschaftlich denkender Forscher (Kraus, Rosenbach, vor 
allem Marti us u. a.) stiitzt und sich in den verschiedensten Spezial- 
disziplinen (Padiatrie, Dermatologie, Neurologie usw.) bewahrt hat. 
Fiir die Psychiatrie kommt es lediglich darauf an, den iibemommenen 
Konstitutionsbegriff in ihrem Fachgebiete in dem Sinne, wie es die 
Pathologie tut, zu verwenden und nun zuzusehen, ob damit fiir das 
Verstandnis psychopatliologischer Erscheinungen und ihrer Beziehungen 
und Zusammenhange etwas gewonnen wird. 

Bisher ist der Konstitutionsbegriff in der Psychiatrie, soweit ich die 
Literatur iiborsehen kann, doch wohl etwas zu kurz gekommen. In 
anerkannten Lehrbiichern (etwa bei Kraepelin) findet er sich kauni 
dem Namen nach, in anderen, wie bei Ziehen, zwar dem Worte, aber 
nicht dem Begriffe nach. Die alteren Autoren ziehen ihn gewohnlich 
nur ganz allgemein heran, um ein endogenes Moment herauszuheben. 
und auch in der neueren Uteratur, wo man dem Konstitutionsfaktor 
schon ofter begegnet (z. B. bei Kleist u. a.) wird er gewohnlich auch 


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K. Birnbaum: Der KonstitutionsbegrifF in der Psychiatric. 


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nur in dem Sinne verwertet, daB damit etwas endogen Vorgebildetes 
gekennzeichnet werden soli 1 ). 

Demgegeniiber verlangt eine prinzipielle Erorterung von Verwend- 
barkeit, Wert und Bedeutung dieses Momentes fiir die Psychiatrie 
zunachst und vor allem jene bestimmtere, engere Fassung des Begriffes, 
wie sie die allgemeine Pathologie geschaffen hat. Beziiglich des Vorgehens 
im einzelnen naturlich auBerdem, daB man bei jedem Schritt sich stets 
an der Hand der Tatsachen, auf dem Boden der Erfahrung orientiert. 
Die Gefahr, von den Begriffen aus statt zu sachlicher, brauchbarer 
Kritik, zu den ebenso miiBigen wie luftigen Spekulationen einer gliick- 
lich uberwundenen psychiatrischen Zeitepoche zu gelangen, muB un- 
bedingt vermieden werden. 

Konstitution ist naeh Martius Verfassung. Ein Ausdruck, 
der an sich nicht viel besagt und rechten Sinn und Inhalt erst dureh 
den Hinweis auf die Art bekommt, wie diese Verfassung sich auBert. 
Erst beim Funktionieren, beim physiologischen Vorgang hebt sich die 
Konstitution erkennbar heraus. Dabei kann man dann zweierlei unter- 
schiedliche Momente herausfinden: Einmal die allgemeine Funk- 
tionseigenart, noch besser vielleicht im Hinblick auf das Verhalten 
gegeniiber den unvermeidlichen auBeren Reizen als allgemeine Reak- 
tionsart gekennzeichnet; sodann die Funktionstiichtigkeit, statt 
deren wiederum speziell im Hinblick auf die Beantwortung auBerer — 
besonders pathologischer — Reize die Widerstandskraft herauszu- 
heben ist. 

Aus den beiden Faktoren ergibt sich iibrigens das mit dem Konsti- 
tutionsbegriff eng verbundene — freilich nicht identische — Moment 
der Disposition, speziell der Krankheitsdisposition. Geht doch 
aus der Reaktionsart — zumal bei pathologischer Konstitution — die 
Tendenz zu ev. pathologischer Funktionsbetatigung und aus der — 
pathologisch gearteten — Widerstandskraft eine erhohte Vulnerabilitat 
und Resistenzlosigkeit gegeniiber auBeren Schadlichkeiten hervor. 

Diese beiden Momente: Funktionseigenart und -tiichtigkeit er- 
schopfen m. E. das Wesen der Konstitution, wenn sie dieses auch nicht, 
weil eine Anzahl von Teilbegriffen umfassend, in alien Einzelheiten 
zum Ausdruck bringen. Es bedarf vielmehr dazu noch weitgehender 
Zerlegung. So ware beispielsweise im einzelnen zur Funktionstiichtigkeit 
die f unktionelle Leistungsfahigkeit der Einzelbetatigungen, 

*) Mollweide (Dementia praecox im Lichte der modemen Konstitutions- 
lehre, Zeitechr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 9) schlieBt sich zwar in der Auffassung 
des Konstitutionsbegriffs den modemen Anschauungen, speziell denen von Mar¬ 
tius an, begniigt sich aber damit, jene allgemeinen Momente herauszuheben, 
die auf das Bestehen einer abnormen Konstitution hinweisen (Hereditat, ab ovo 
psychisch abnormes Wesen und dgl.). Auf die Eigenart des Konstitutions¬ 
begriffs und das Wesen der Konstitution selbst geht er dagegen nicht weiter ein. 

Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XX. 35 


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522 


K. Bimbaum: 


die Fahigkeit zu geordnetem Gesa mtf unktionieren aller Teile, zur 
funktionellen Selbstregulierung (Higier) bei storenden Einfliissen 
u. dgl. mehr zu rechnen. Jedenfalls halten wir uns mit einer Begriffs- 
bestimmung, welche die genannten Faktoren und speziell ihre gelaufi- 
gerenSeiten: allge meine Reaktionsart,f unktionelleLeistungs- 
fahigkeit und Widerstandskraft heraushebt, ira Rahmen der 
ublichen naturwissenschaftlichen Anschauungen und in Ubereinstim- 
mung mit den iiblichen Definitionen 1 ). 

Diese Hauptelemente des Konstitutionsbegriffes lassen sich nun 
ohne weiteres auf das Gebiet der Psychiatrie libertragen, und man kann 
eigentlich sagen, es ist ohne weiteres verstandlich, und es laBt sich 
sehr wohl auch etwas Taksachliches darunter vorstellen, wenn man 
etwa von der allgemeinen psychischen Reaktionsart, von der funktio¬ 
nellen Leistungsfiihigkeit und psychischen Widerstandskraft als den 
Bausteinen der psychischen Konstitution spricht 2 ). 

Es sind dies ja Begriffe, die uns in der Psychiatrie ziemlich vertraut 
sind, und die ihren Wert nieht schon deswegen verlieren, weil sie unver- 
kennbar zusammengesetzter Natur sind und eine ganze Anzahl ver- 
schiedenartiger Teil begriffe umfassen, welche ihrerseits auch noch sehr 
der Analyse bediirfen. 

Nun konnte man grade im Hinblick auf die Bekanntheit mit ihren 
Elementen glauben, die psychische Konstitution sei uberhaupt kein 
neues Moment, dessen besondere Heraushebung in der Psychiatrie 
sich schon durch seine Eigenart rechtfertige. Immerhin zeigt der Ver- 


1 ) Beispiele aus der jiingsten Literatur: Lowenfeld (Sexuelle Konstitution, 
Wiesbaden 1911) versteht unter Konstitution „die Korperbeschaffenheit eines 
Individuums in bezug auf seine Leistungs- und Widerstandsfahigkeit gegen scha- 
digende Einflusse oder in bezug auf die Disposition zu besonderen Krankheiten“; 
Jaspers (Allgemeine Psycliopathologie, Berlin 1913) — weniger klar — „den 
Dauerzustand des korperlichen und seelischen Lebens, der die Grundlage von Reiz- 
barkeit, Ermiidbarkeit, Reaktionsfahigkeit, aller der (vorher erorterten) Leistungs- 
fiihigkeiten ist.“ 

2 ) Selbstverstandlich hat die psychische Konstitution eine organischeGrund¬ 
lage, und insofem konnte man mit gleichem Rechte von der Nerven- und Ge« 
him konstitution sprcchen. Weil aber Gehim- und Nerven konstitution die 
uns liier interessierenden psychischen Erscheinungen so wenig zu erklaren hilft, 
wie Gehirn und Nervensystem psychische Vorgange iibc^rhaupt, und weil diese 
Erscheinungen, soweit sie iiberhaupt aus der Konstitution heraus verstandlich 
werden, es am ehesten aus deren psychischen Besonderheiten werden, soli im 
wesentlichen hier nur von diesen die Rede sein. Damit wird aber natiirlich nicht 
in Abrede gestellt, daB es pathologische V T organge in der Psychiatrie gibt — oder 
wenigstens hochst wahrscheinlich gibt, — bei denen umgekehrt die psychische 
Konstitution uberhaupt nicht zum Verstandnis der pathologischen Zusammen- 
luinge Ix^itragen kann, und vielmehr eben auf die organische, die Nerven- und 
Gehirnkonstitution zuruckgegriffen werden muB. Dies diirfte natiirlich vor allem 
fiir gewisse organische Psychosen (Paralyse und dgl.) gel ten. 


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Der Konstitutionsbegriff in der Psychiatric. 


523 


gleich mit anderen Faktoren ahnlicher Art, die in der Psychopathologie 
eine Rolle spielen, daB sie doch eine gewisse selbstandige Stellung be- 
anspruohen darf. 

Man kann beiapielsweise nieht sagen, daB die psychische Konstitution 
mit der individuellen Artung, der persSnlichen Eigenart u. dgl. 
identisch ist. Denn wenn man auch mit einem gewissen Recht in dem 
MaBe der psychischen Leistungsfahigkeit, in der allgemeinen Reaktions- 
weise usw., Bestandteile, Ja z. T. sogar Grundlagen der individuellen 
Eigenart sehen darf, so gehdren doch zu dieser letzteren so viele andere 
spezielle persdnliche Eigentiimlichkeiten, die ganz gewiB nichts mit dem 
Wesen der Konstitution zu tun haben. 

Noch viel weniger darf man peychische Konstitution und Charakter 
identifizieren, denn einzelne von den Konstitutionseigentiimlichkeiten, 
wie die Widerstandskraft gegen Schadhchkeiten oder gar die Disposition 
zu Erkrankungen bedeuten zum mindesten hochst anfechtbare Bestand¬ 
teile des Charakters, wahrend umgekehrt die zahlreichen speziellen 
Charaktereigenschaften (Habsucht und dgl.) zweifellos nichts mit der 
Konstitution gemein haben. 

Am ehesten konnte man einen allgemeinen grundlegenden psychischen 
Faktor, der fur die psychische Eigenart wie den Charakter von Bedeu- 
tung ist, auch zur psychischen Konstitution in Beziehung setzen, nam- 
lich das Temperament. Freilich nur zu einer Seite der Konstitution: 
Es wiirde sich eben grade mit der allgemeinen psychischen Funktionsart, 
der Reaktionsweise decken. Da ihm nun aber die iibrigen Bestandteile 
der Konstitution fehlen, kann es freilich auch nicht gleichwertig an deren 
Stelle treten. 

Auch die psychische Gesamtanlage, die allgemeine seelische 
Veranlagung darf man keinesfalls mit der Konstitution gleichsetzen. 
Einmal gibt es unzahlige Veranlagungen (Begabungen aller Art u. dgl.), 
die unter jene fallen, aber in keinerlei innere Beziehung zur Konstitu¬ 
tion gebracht werden konnen. Sodann liegt es aber durchaus nicht 
im Wesen der Konstitution im oben gekennzeichneten Sinne, daB sie 
nur in der Anlage gegebcn sein kann. GewiB, allgemeine Reaktionsart, 
funktionelle Leistungsfahigkeit, Widerstandskraft usw. sind vor- 
wiegend Anlageeigentiimlichkeiten und werden zunachst stets als solche 
in Betracht kommen. Aber es laBt sich doch nicht verkennen: Die 
primare Konstitution kann durch auBere Einfliisse im Laufe des 
Lebens eine erhebliche Veranderung erfahren, durch toxische, trau- 
matische und ahnliche Schadigungen so weitgehend umgewandelt 
werden, daB man mit vollem Rechte von einer neuen, nunmehr er- 
worbenen Konstitution reden kann. Diese (alkoholisch, trau- 
raatisch u. dgl.) bedingte erworbene psychische Konstitution weist 
alles auf, was zu einer Konstitution gehort, sie unterscheidet sich in 

35* 


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K. Bimbaum: 


nichts als in der Entstehungsart und -zeit von der Anlagekonstitution 
analogen Charakters 1 ). 

DaB 8chlieBlich die Konstitution nicht etwa das endogene Mo¬ 
ment an sich ausmacht, auf das man in der speziellen Psychopathologie 
so oft zuriickgreift, zeigt der Riickblick auf die eben genannten Fak- 
toren, die samtlich endogener Natur waren, ohne sich doch mit dem 
Konstitutionsbegriff zu decken. 

Ohne weiteres geht auch aus den Erorterungen hervor, daB die 
psychische Konstitution in unserem Sinne, — auch soweit sie patho- 
logisch ist, — nicht mit Ziehens psychopathischer Konstitution 
zusammengetan werden darf. Unsere Konstitution ist ein Begriff der 
allgemeinen Pathologie, nichts weiter. Er ist daher auch nicht an 
eine einzige Krankheitsform gebunden, er kann vielmehr zu den ver- 
schiedensten und verschiedenartigsten Psychosen — und dariiber hinaus 
zu klinischen Einzelgebilden — Symptomen, Verlaufsformen usw. — 
in Beziehung gesetzt werden. Ziehens psychopathische Konstitution 
ist eine spezielle Krankheitsbezeichnung, die ganz bestimmte 
Krankheitstypen und nur diese zusammenfaBt und von anderen abhebt, 
die nur auf diese und nicht auch auf beliebige andere sich anwenden 
laBt. Also grundlegende, prinzipielle Unterschiede. 

DaB nun diese Konstitution ein Faktor eigener Art ist, der durch 
andere Momente nicht erfaBt wird, selbst aber in praktischen Fallen 
verschiedenster Art sehr wohl gefaBt und herausgegriffen werden kann, 
zeigt die Erfahrung an beliebigen Beispielen. 

Man nehme zunachst einmal einen in der Anlage gegebenen Krank- 
heitszustand, etwa den angeborenen (degenerativen) Schwachsinn. 
Was laBt sich da als zur Konstitution gehorig herausheben? Nun, 
die herabgesetzte Leistungsfiihigkeit der psychischen Funktionen, die 
leichte Storung des seelischen Funktionsgleichgewichts unter schwierigen 
Verhaltnissen, die angeborene Resistenzlosigkeit gegen Schadlichkeiten 
aller Art (Alkoholintoleranz usw.), die abnorme psychische Anfalligkeit 
uberhaupt und die Disposition zu psychischen Storungen (zu psycho- 
genen Zustanden, zu pathologischem Rausch u. dgl.), endlich die 
abnorme —erethische oder torpide—allgemeineReaktionsart, sie wiirden 
die Hauptwesenszeichen der dem Schwachsinn zugehorigen patholo- 

l ) Die Tendenz Konstitution und Anlage zu identifizieren ist wohl nicht 
so sehr durch die allgemeine Erfahrung bedingt, daB die erstere sich gewohnlich 
auf dem Boden der letzteren erhebt, als vielmehr durch den zwiespaltigen Sinn 
des Ausdrucks: konstitutionell. Dies Wort hat sowohl den oben gekennzeichneten 
Sinn, wie auch den „in der Anlage gegeben‘\ Beide Bedeutungen sind so gebrauch- 
lich, daB eine scharfe Scheidung gewohnlich nicht vorgenommen wird, imd selbst 
Autoren, die speziell iiber die Konstitution schreiljen, halten diese beiden Bedeu¬ 
tungen nicht immer streng auseinander und gehen gelegentlich prompt und un- 
bemerkt von der einen zur anderen iiber. 


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Der Konstitutionsbegriff in der Psychiatric. 


525 


gischen Konstitution bilden. Was dagegen fiir die Klinik das Haupt- 
moment bei derlmbezillitat ausmacht, die inteilektuellen Mangel, die Un- 
zulanglichkeiten der Begriffsbildung, der Kombination, des Urteils usw. 
das konnte vom Standpunkt der Konstitutionslehre hochstens als 
Stigma dieser in der Anlage gegebenen Konstitution, als Hinweis 
auf sie angesehen werden, es konnte — mit einein aus der somatischen 
Konstitutionspathologie ubemommenen Ausdruck — nur etwa als Teil- 
erscheinung des psychischen Habitus gelten. 

Oder man nehme, um auch das Beispiel einer erworbenen Kon¬ 
stitution herauszugreifen, den chronischen Alkoholismus. Was 
die Konstitution ausmacht, sind auch hier eigentlich nicht die iiblichen 
und bekannten Wesensziige des chronischen Alkoholisten, die Eigen- 
heiten der alkoholischen Demenz, die sind im groBen ganzen und mit 
groBerem Rechte wieder dem psychischen Habitus zuzurechnen. Es 
sind vielmehr ahnliche Faktoren, wie die eben genannten : Die Ande- 
rungen der psychischen Erregbarkeit, also der Reaktionsweise, die er- 
hohte Disposition zu Psychosen (z. B. zu hysterischen Kraepelin), 
die Widerstandslosigkeit gegen mannigfache Reize (insbesondere auch 
wieder gegen den Alkohol, aber auch gegen andere Schadlichkeiten, 
Traumata u. dgl.), schlieBlich auch die Tendenz zu pathologischen 
(Alkohol- und anderen) Reaktionen. 

Man erkennt auch hier wieder die Unterschiede gegeniiber Ziehens 
psychopathischen Konstitutionen. Der chronische Alkoholist, der Trau- 
matiker, Epileptiker, Psychopath usw. gibt fiir diesen Autor so gut 
wie fiir uns den Ausgangspunkt, die ,,Basis" fiir die Heraushebung der 
— pathologischen, erworbenen oder angeborenen — Konstitution ab. 
Fiir Ziehen gilt aber das, was fiir uns nur eben hochstens den psychischen 
Habitus bedeutet: die speziellen ,,sehr zerstreuten leichteren Symptome 
sowohl auf affektivem wie auf intellektuellem Gebiete" als das Wesent- 
liche an seinen psychopathischen Konstitutionen. Die (durch Alkoholis¬ 
mus, Trauma, Epilepsie, abnorme Veranlagung usw. bedingte) patho- 
logische Konstitution, die wir meinen, liegt jedoch tiefer, ist im ganzen 
Wesen verankert, ist grundlegenderer und allgemeinerer Art. 

Man kann sogar noch weiter gehen und sagen: Das, was Ziehens 
psychopathische Konstitution ausmacht, jene leichteren funktionellen 
Abweichungen, die sich annahernd mit dem psychischen Habitus decken, 
konnen uberhaupt fehlen, und auch dann kann man noch von einer — 
allerdings latenten — pathologischen Konstitution in unserem Sinne 
reden. Uns geniigt es beispielsweise fiir diese Annahme, wenn durch 
Alkohol, Trauma und andere Schadlichkeiten eine — im allgemeinen 
und im Durchschnittszustande nicht manifeste — Veranderung der 
seelischen Verfassung im Sinne einer erhohten psychischen Vulnerability 
und Resistenzlosigkeit, einer verstarkten Krankheitsdisposition, einer 


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K. Birnbaum: 


gesteigerten Neigung zu psychotischen Reaktionen und sonstigen Sto- 
rungen entstanden ist. Eine solche latente pathologische Konstitution 
— angebome oder erworbene — kommt vor, damn kann kein Zweifel 
sein, sonst kdnnten nicht bei anscheinend normaler Geistesveranlagung 
resp. bei einer scheinbar durch einwirkende Noxen nicht geschadigten 
seelischen Verfassung von selbst oder auf geringfiigige, belanglose An- 
stdBe hin schwere Storungen auftreten. Da muB eben — mogen auch 
auBere Anomalien fehlen — die zugrundeliegende Konstitution eine 
Schwachung der Widerstandskraft und Erhohung der Krankheitsemp- 
fanglichkeit und Erkrankungsbereitschaft von vomherein besitzen oder 
nachtraglich erfahren haben. 

Man sieht also: Im groBen ganzen liegt dem Konstitutionsbegriff 
etwas Besonderes, FaBbares und auch in praxi Erkennbares zugrunde. 
Freilich ist mit ihm allein und ganz allgemein nicht allzu viel gewonnen. 
Weiter kame man bei der praktischen Verwendung nur, wenn es ent- 
sprechend der Mannigfaltigkeit der vorkommenden psychischen und 
psychopathologischen Erscheinungen gelange, differente Konstitutions- 
formen, Spezialtypen wechselnder Art aufzustellen. Auch dies ist bei 
Beriicksichtigung der Teilbestandteile jeglicher Konstitution mdglich, — 
zum mindesten denkbar, imd so gut wie sich aus dem iiber das Durch- 
schnittsmaB hinausgehenden Grad von Funktionsschwache und Resi- 
stenzlosigkeit, aus der von der Durchschnittsart abweichenden allge- 
meinen Reaktionsform usw. die Gruppe der pathologischen Konstitu- 
tionen neben den normalen ohne weiteres ergibt, so ergeben sich auch 
je nach den sonstigen Besonderheiten der pathologischen Konstitutions- 
bestandteile spezielle Unterformen pathologischer Konstitutionen 
(abnorm verringerte Leistungsfahigkeit — asthenische Konstitution; 
pathologisch herabgesetzte Widerstandsfahigkeit — labile Konstitution; 
Unfahigkeit zur funktionellen Koordination und Selbstregulierung — 
dissoziative Konstitution usw. usw.). 

Es kann nicht das Ziel dieser allgemeinen Orientierung sein, den V T er- 
such einer vollstandigen Zusammenstellung aller vorkommenden oder 
gar iiberhaupt in Betracht kommenden Spezialkonstitutionstypen zu 
machen und darzulegen, wie sie im einzelnen zu finden und abzuleiten 
sind. Nur eins glaube ich im Hinblick auf gewisse in der Literatur 
oft wiederkehrende Erscheinungen hervorheben zu diirfen: Es ist 
zum mindesten zweifelhaft, ob man von einer paranoischen, hypo- 
chondrischen und ahnlichen Konstitution reden darf, wenn man den 
Begriff, wie wir es tun, im Sinne der allgemeinen Pathologie auffaBt 
und festhalt. Diese genannten Eigentiimlichkeiten waren, sofern eine 
Einordnung versucht wiirde, zu den allgemeinen Reaktionsformen zu 
rechnen. Die der Konstitution eigenen Reaktionsformen beziehen sich 
nun aber nur auf allgemeine Grundfunktionen, jedoch nicht auf so 


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Der Konstitutionsbegriff in der Psychiatrie. 


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komplizierte und zusammengesetzte psychische Betatigungen. Solche in 
der Person vorherrschende Aktions- und Reaktionstendenzen 
bestimmter Richtung gehCren meines Erachtens nicht zur Konsti- 
tution, sondem zur individuellen Eigenart. Moglich allerdings, daB 
sie bei weitgehender Zerlegung sich wenigstens zum Teil schlieBlich 
doch noch auf gewisse Konstitutionseigentiimlichkeiten zuriickfiihren 
lieBen. 

Die Hauptbedeutung, welche die psychische Konstitution, wie iiber- 
haupt jeder Faktor der allgemeinen Pathologie, gewinnen konnte, ware 
naturlich die, daB sie in die klinischen Zusammenhange und 
Beziehungen eingreift. Nun, auch dies kommt fiir die Konstitution 
in Frage, und man kann auf Grund einer allgemeinen Betrachtung 
sehr wohl behaupten, daB eine Kcnntnis allgemeiner Konstitutions- 
eigentumlichkeiten und speziellen Konstitutionstypen die Fragen der 
Pathogenese und der Systematik in-der Psychiatrie zu fordem ver- 
m6chte. 

Im Begriff, in der Natur der Konstitution liegen ja von vorn 
herein innere Beziehungen — allgemeine oder spezielle — zu Er- 
krankungen begriindet. Schon die bei Konstitutionsfragen iiblichen 
Bezeichnungen (Vulnerabilitat, endogenesEntgegenkommen, Krank- 
heitsbereitschaft und -empfanglichkeit u. dgl.) weisen gleich darauf 
hin, und ein einfacher t)berblick iiber die zugehorigen Tatsachen 
bestatigt es. Die mangelhafte Funktionstiichtigkeit und Leistungs- 
fahigkeit von charakteristischer Art, die abnorme Neigung zu allge¬ 
meinen oder bestimmten Storungen der einzelnen Funktionen oder der 
gesamten psychischen Koordination und Regulierung, die erhohte Resi- 
stenzlosigkeit gegeniiber jeglichen oder bestimmten pathogenen Reizen, 
diese und ahnliche Kennzeichen einer pathologischen Konstitution be- 
deuten ja zugleich eine besondere Empfanglichkeit fiir krankmachende 
Einfliisse, eine Predisposition fiir psychotische Erscheinungen, eine 
Praformation bestimmter Krankheitsformen und -zustande, oder wenig¬ 
stens bestimmter Symptomkomplexe und Verlaufstypen. Erscheinungen 
die vor allem Auftreten der klinischen Vorgiinge selbst gegeben sind 
und in diesen wieder ihren Niederschlag finden. 

Ein Beispiel allgemeinster und weitgehendster Art fiir diesen Zu- 
sammenhang bietet ja die klinisch als degenerative gekennzeichnete 
allgemeine pathologische Geistesartung samt ihren speziellen Unter- 
formen. Die ihnen zugrunde liegende „allgemeine psychopathische 
Konstitution*' kommt mit ihrer aUgemeinen Resistenzlosigkeit, Vulnera¬ 
bilitat und Neigung zu Funktionsstdrungen ebenso charakteristisch in 
dem ungew6hnlich haufigen, abnorm leichten und auf die verschieden- 
sten und geringsten Anlasse hin erfolgenden Auftreten psychotischer 
Vorgange zum Ausdruck, wie deren Einzeltypen mit ihrer speziellen 


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K. Birnbaum: 


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und auf bestimmte Reize (psychische, alkoholische usw.) beschrankten 
Empfanglichkeit, ihrer Tendenz zu bestimmten und nur diesen 
pathologischen Funktionsarten (zu psychogenen, zu pathologischem 
Rausch usw.) sich in speziellen entsprechend ausgelosten und gefarbten 
Storungen wiederfindet. 

Ausdiesen verschiedeneninderKonstitution liegendenKrankheits- 
dispositionstypen und speziell denSymptomenpraformationen 
waren dann endogene Reaktionstypen analog Bonhoffers exo- 
genen abzuleiten, die in der Art ihrer Struktur und der Gruppierung 
ihrer Bestandteile ev. festgelegte, endogen bedingte Hochesche Sym- 
ptomenverkuppelungen wiedergaben. Eine Annahme, die freilich 
nur durch die spezielle Untersuchung zur GewiBheit werden kann. 

Sucht man nun die Krankheitsformen, bei denen das Konsti- 
tutionsmoment eine Rolle spielt, im Hinblick auf dieses Moment zu 
gruppieren, so wiirden sich ohne weiteres zwei Gruppen ergeben: 
Einmal konstitutionsbedingte Psychosen, bei deren Pathogenese 
wie klinischer Form die Konstitution wesentlich mitspricht, und die 
gewissermaBen aus der Konstitution herauswachsen. Es sind vor- 
wiegend endogene Storungen. Als exogen kfinnen sie gewohnlich 
nur insoweit gelten, als ein auBerer AnlaB (psychischer, toxischer) 
den AnstoB zu ihrem Auftreten gab 1 ). Bei ihnen ist das Typische 
an der Erkrankung durch die Konstitution gegeben 2 ). 

Sodann durch die Konstitution modifizierte Psychosen, bei 
denen die Konstitutionsfaktoren sich in ein wesensfremdes Krankheits- 
bild hineinmischen, in dieses hineinspielen, hineinfunktionieren und im 
Gegensatz zur ersten Gruppe konstitutionsbedingte Modifika- 
tionen typischer Krankheitsformen erzeugen. Hier wird das 
Atypische am Krankheitsbilde durch die Konstitution gegeben. Bei 
diesen Fallen wird es sich vorwiegend um exogene Krankheits¬ 
formen handeln, die dieser Atypisierung von innen her unterliegen. Es 
konnen aber sehr wohl auch endogene vorkommen, bei denen infolge 
der mannigfachen Zusammensetzung der Konstitution und der ver- 
schiedenartigen im gleichen Individuum vertretenen Dispositionen endo- 

*) Ich kann keinen so prinzipiellen Unterschied zwischen spontanem und 
reaktivem Auftreten bei dieser Art Storungen maehen, wie es manche andere 
Autoren tun. Das Beispiel der degenerativen Krankheitszustiinde (Verstimmungs- 
zustande usw.) zeigt, daB in dieser Beziehung allenthalben flieBende tlbergange 
existieren. 

2 ) Auch auf diesem Wege, aus den Beziehungen zu bestimmten Krankheits¬ 
formen, konnte man Konst i tut ions ty pen, — freilich von anderer Gruppierung 
und innerer Struktur, namlich zusainmengesetztere als die vorher genannten — 
ableiten: liysterische Konstitution u. ahnl. Vielleicht waren sie wegen ihres un» 
mittelbaren Zusamincnhangs mit entsprechenden klinischen Bildern fiir die 
praktische Verwendung noch geeigneter. Allerdings lie lien sie sich letzten Endes 
wohl noch in die erwahnten allgemeineren Konstitutionscigenheiten auflosen. 


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Der Konstitutionsbegriff in der Psychiatrie. 


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gene Faktoren verschiedener Art ineinandergreifen. Vielleicht lieBen sich 
auch die nach franzosischcn Autoren von Ziehen aufgestellten ,,degene- 
rativen Modifikationen 44 gewisser Krankheitsformen (der Manie, Melan- 
cholie usw.) aus solehen mitwirkenden Eigentiimlichkeiten einer patho- 
logischen (Anlage-) Konstitution erklaren. 

Jedenfalls ware es als ein ganz erheblicher Gewinn fiir die psychia- 
trische Klinik anzusehen, wenn es gelange, grade einzelne von diesen 
atypischen endogenen Bildern auf diese Weise aufzulosen, damit der hig¬ 
her vergebliche Versuch ihrer scharfen Abgrenzung und die Aufstellung 
immer neuer, scheinbar typischer Bilder ihr Ende fanden. 

Selbstverstandlich konnen diese vom Typus abweichenden Krank- 
heitsbilder sich wieder zu neuen Typen zusammenschlieBen, sofem 
die entscheidende pathologische Konstitution hiiufig genug vorkommt, 
um diese atypischen Formen mit einer gewissen RegelmaBigkeit auftreten 
zu lassen. So haben sich ja beispielsweise die (durch eine pathologische 
Konstitution bedingten) atypischen Alkoholreaktionen im typischen 
Krankheitsbilde des pathologischen Rausches zusammengefunden. Auch 
die Alkoholhalluzinose lielie sich vielleicht in dicsem Zusaminenhange 
anfiihren. 

Der Weg vom Konstitutionsbegriff ins klinische Gebiet sieht also 
durchaus nicht so aussichtslos aus, wenigstens solange man allgemein 
und theoretisch mit diesem Faktor hantiert. Freilich gestalten sich 
die Verhaltnisse ungleich verwickelter, schwieriger und bedenklicher, 
sowie man auf die klinische Praxis iibergeht und im konkreten 
Fall die gewonnenen Gesichtspunkte und Anschauungen verwerten will. 

Es sei ganz davon abgesehen, daB die praktische Verwendung des 
Konstitutionsmomentes dadutch erschwert wird, daB es sich um ein 
abstraktes, konkret nicht faBbares Gebilde handelt. Immerhin 
konnte man sich damit noch am ehesten abfinden. SchlieBlich steht 
es mit anderen in der Psychiatrie stets verwerteten Faktoren (Veran- 
lagung u. dgl.) auch nicht viel besser, und wenn eine Wissenschaft, 
die so sehr auf das sinnlich ErfaBbare sieht, wie die somatische Medizin, 
trotzdem nicht auf die Konstitution verzichten will, so braucht es die 
Psychiatrie gewiB noch weniger zu tun. 

Schwerer fallt schon ins Gewicht, daB die Erfassung des Konsti¬ 
tutionsmomentes im speziellen klinischen Falle nicht so ein- 
fach ist, und besonders die Auffindung, Heraushebung und Aufstellung 
bestimmter Konstitutionstypen, welche die Grundlage fiir jeden 
Weiterbau bilden miiBten, auf recht erhebliche — zum Teil prinzipielle 
— Schwierigkeiten stoBt. 

Die Konstitution ist nicht direkt wahrzunehmen, sie muB erschlossen 
werden. Das gelingt zum Teil wenigstens, soweit sie im psychischen 
Habitus des Durchschnittszustandes zum Ausdruck kommt. Nun be- 


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K. Birnbaum: 


kommt man aber die Individuen mit ihrer pathologischen Konstitution 
gewohnlich nicht als bloBe ,,Disponierte“ zu Gesicht, d. h. zu der 
Zeit, wo Konstitution und Habitus allein gegeben sind, sondem als 
Erkrankte, wenn diese Faktoren verdeckt oder verwischt sind. Es 
bleibt also meist nur iibrig, das Konstitutionsbild vom Krankheits- 
bilde aus zu rekonstruieren. Da besteht nun die groBe Gefahr, daB 
man sich bei dieser kiinstlichen Rekonstruktion etwas Falsches 
zurechtlegt, denn eine Sicherheit und Gewahr, daB man nun auch wirk- 
lich die rechten Konstitutionselemente herausgreift undihrenZusammen- 
hang mit der Krankheitsform richtig erfaBt, hat man nicht. Besonders 
groB ist diese Gefahr natiirlich bei latenter Konstitution, die iiber- 
haupt nicht im psychischen Habitus ihren Niederschlag findet und 
lediglich aus der Krankheit heraus erschlossen werden muB (etwa beim 
manisch-depressiven Irresein ohne entsprechende psychische Durch- 
schnittsartung). Hat man doch bisher nicht einmal mit Sicherheit 
einwandsfrei endogene Reaktionstypen erkannt, von denen aus noch 
am ehesten zu der zugrunde liegenden Konstitution zu gelangen ware. 
Am nachsten liegt es dann, weil am einfachsten und bequemsten, 
daB man, soweit man typische konstitutionsbedingte Er- 
scheinungen vor sich zu haben glaubt, einfach die psychotischen Ziige 
in abgeschwachter Form als Bestandteile der speziellen zugehorigen 
Konstitution annimmt, — soweit man atypische, durch die Kon¬ 
stitution modifizierte Formen vermutet, einfach alles vom tv- 
pischen Bilde Abweichende der Konstitution zurechnet. Diese 
Neigung verallgemeinert kann dazu fiihren, den verschiedensten Sym- 
ptomenkomplexen besondere Konstitutionen zugrunde zu legen und 
schlieBlich so viel Spezialkonstitutionen zu schaffen, als es pathologische 
Sonderziige gibt. Ich glaube, daB auch Kleist 1 ) dieser Gefahr nicht 
entgangen ist, wenn er zum Beispiel — falls ich ihn nicht miBverstehe 
— bei dem Vorwiegen einer bestimmten Komponent^ im Krankheits- 
bilde, etwa eines wechselnden psychomotorischen Verhaltens, eine zu¬ 
grunde liegende ,,zyklisch-psychomotorische“ Konstitution annimmt und 
uberhaupt von Konstitutionen der verschiedensten Symptomatologie 
spricht. Eine solche Art der Ableitung ist um so bedenklicher, als die 
den Einzelziigen zugrunde liegenden Konstitutionseigentumlichkeiten 
ganz anders aussehen und geartet sein konnen als diese selbst, die mit der 
Konstitution zusanvmenhangenden Krankheitserscheinungen also nicht 
ohne weiteres die Eigenart der Konstitution wiedergeben. Man denke 
nur an die versehiedenartigen hysterischen Zustande, bei denen die 
grundlegenden Konstitutionsfaktoren, etwa Labilitat, Dissoziabilitat und 
ahnliche durchaus nicht in ihrer Eigenart stets hervorzutreten brauchen. 

J ) Die Streitfrage der akuten Paranoia. Zeitschr. f. d. gcs. Neur. u. Psych. 
Grig. 3. 


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. Der Konstitutionsbegriff in der Psychiatrie. 


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Das Schlimmste aber ist, daB der Konstitutionsfaktor, so schwer er 
nachzuweisen, so leicht anzunehmen ist. Dies fiihrt nur zu leicht zu 
unkritischem Gebrauche. Alles, was am klinischen Bilde nicht 
ohne weiteres erklarbar ist, setzt man dann einfach auf Rechnung des 
Konstitutionsmoments. So wird die Konstitution schlieBlich zu einem 
LiickenbiiBer, der zu Hilfe kommt, wo die Einsieht in die pathologischen 
Beziehungen und die pathogenetischen Zusammenhange versagt, und 
sie wirkt dann auf unsere Erkenntnisse eher hemmend als fordemd, 
indem sie das tatsachliche Nichtwissen durch ein wertloses ja bedenk- 
liches Scheinwissen verdeckt. 

All solche Unzulanglichkeiten und Schwierigkeiten sind m. E. schwer- 
wiegend genug, um die Frage nahezulegen, ob man nicht — vorder- 
hand wenigstens und beim gegenwartigen Stand unseres psychiatrischen 
Wissens und unserer klinischen Beobachtungsmoglichkeiten — besser 
daran tate, auf diesen Begriff zu verzichten. MaBgebend fiir die Ent- 
scheidung wiirde dabei freilich noch sein, ob man mit dem Konstitutions- 
begriff etwas ganz Unentbehrliches, durch nichts Ersetzbares aufgibt. 

Nun, wenn man ihn in der iiblichen unbestimmten und unscharfen 
Fassung verwendet, ist er ganz gewiB entbehrlich. Aber auch in dem 
gekennzeichneten Sinne aufgefaBt, laBt er noch halbwegs ausreichende 
Ersatzmoglichkeiten zu. Soweit es sich um Reaktionsart, Leistungs- 
fahigkeit u. dgl. handelt, sind sie zugleich in der individuellen Eigen- 
art, der personlichen Veranlagung vertreten und mit ihr gegeben, und 
nur gewisse Elemente der Funktionstuchtigkeit, die Widerstandskraft, 
Krankheitsbereitschaft u. dgl. sind nicht so leicht anderwarts zu 
finden und unterzubringen. Immerhin kommt einem auch hier ein 
anerkannter und gebrauchlicher Begriff zu Hilfe, eben jener der Dispo¬ 
sition, der ja sowieso schon in engste Beziehung zur Konstitution 
und speziell zu den gennanten Konstitutionselementen gesetzt worden 
war. Er besagt zwar an sich sehr wenig, dafiir ist aber auch die Gefahr 
einer bedenklichen Verwendung um so geringer. Er wiirde halbwegs 
jene allgemeinen Bestandteile der Konstitution umfassen, und wird ja 
iibrigens auch bereits dazu gebraucht, um die verschiedenen Formen 
endogener Krankheitsbereitschaft zu kennzeichnen (psychogene Dispo¬ 
sition usw.) 1 ). Someineich, daB es besser ist, sich mit einem so nichts- 
sagenden Begriff zu begniigen, und damit of fen die Liicken unserer 
Erkenntnis hervortreten zu lassen, statt durch Verwendung des inhalts- 

*) Disposition ist Krankheitsbereitschaft (Pfaundler), das ist wohl das 
VVesenthche. Sie deckt sich ganz gewiB nicht mit Konstitution, ist vielmehr ein 
allgemeinerer, umfassenderer Begriff. Sie kann sowohl auf dauemden wie vor- 
iibergehenden Zustanden beruhen. Alle moglichen Zufalligkeiten (Hitze, seelische 
Erregung, AlkoholexzeB) konnen z. B. eine passagere, allgemeine oder speziellc 
Erkrankungsdisposition schaffen, wahrend die Konstitution schon einen gewissen 


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K. Birnbaum: Der Konstitutionsbegriff in der Psychiatrie. 


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und wesensreichen Konstitutionsbegriffs sich selbst zu tauschen und 
durch einen zu weitgehenden Gebrauch zu falschen Ergebnissen zu 
gelangen. Selbstverstandlich soli mit dieser — vorlaufigen — Ab- 
lehnung einer praktischen Verwertung des Konstitutionsbegriffs nicht 
zugleich das Kind mit dem Bade ausgeschiittet und nun auch das 
Konstitutionsmoment und der Konstitutionsgedanke aus der Psychiatrie 
eliminiert werden. Deren anerkannte allgemeine Bedeutung im Bereich 
der Psychiatrie und ihr Wert fur die klinische Erkenntnis wird durch 
diese auf ganz anderes gerichteten Bedenken nicht verkiirzt und ge- 
schmalert. 

Dauerzustand voraussetzt. Zudem ist Krankheitsdisposition ohne Konstitution 
und Konstitution ohne Krankheitsdisposition moglich. Auoh eine Krankheit 
kann zu einer anderen disponieren (Diabetes zur Tuberkulose, Alkoholismus zur 
HyBterie). Allerdings — das sei zugestanden: vielleicht doch nur auf dem Wege 
der Konstitutionsanderung. Sodann kann durch die Konstitution — speziell eine 
normale — gradezu das Gegenteil der Krankheitsdisposition, eine Unempfanglich- 
keit, Immunitat gegeben sein. 


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t'ber Apraxie bei Balkendurchtrennung. 1 ) 

Von 

Oberarzt Dr. v. Rad. 

(Aus dem allgemeinen stadtischen Krankenhause in Niirnberg.) 

Mit 8 Textfiguren. 

(Eingegangen am 27. October 1913.) 

Es ist das groBe Verdienst Lie p man ns, im Jahre 1905 auf die 
Abhangigkeit der dem Handeln dienenden sensomotorischen Zentren 
der rechten Hemisphare von den entsprechenden der linken Hemisphare 
hingewiesen zu haben. Es ist uns dadurch bekannt geworden, daB 
supracapsular gelegene linkseitige Herde auch die iinke Hand apraktisch 
machen, wenn sie die vom linken zum rechten Sensomotorium ziehenden 
Bahnenunterbrochen haben. 

Die schon aus den klinischen Erscheinungen gezogenen Schliisse, 
daB es sich hier um eine Lasion der Balkenfaserung handeln muB, 
fanden bald darauf durch einschlagige anatomische Beobachtungen 
ihreBestatigung. Die Falle von Liepmann, Hartmann, Liepmann- 
MaaB, von Vleuten, Goldstein und Forster 2 ) haben gezeigt, 
daB Affektionen des Balkens eine Apraxie, bzw. Dyspraxie der linken 
Hand zur Folge haben. Da es sich aber immerhin doch nur um spar- 
liche anatomische Beobachtungen handelt und beziiglich des be- 
troffenen Abschnittes des Balkenfasers die einzelnen Falle untereinander 
verschieden sind, ist die • Veroffentlichung weiterer auf Serienschnitten 
untersuchter Falle sicher erwiinscht. 

Es diirfte daher gerechtfertigt erscheinen, iiber einen Fall von aus- 
gedehnter Balkenzerstorung infolge eines Erweichungsherdes zu be- 
richten, den ich auf meiner Abteilung zu beobachten Gelegenheit hatte. 

F., 51jahriger Schuhmachermeister; aufgenommen am 26. III. 1910. 

Anamnese: Friiher gesund, insbasondere nicht geschlechtskrank, maBiger 
Potus zugegeben. Frau hat eine Friihgeburt und eine Totgebmt gehabt, die leben- 
den Kinder sind gesund. 

x ) Vortrag, gehalten bei der Jahresvereammlung bajrrischer Psychiater in 
Miinchen 1913. 

2 ) In Anbetracht der vor kurzem in den Ek-gebnissen der Neurologie und 
Psychiatrie erschienenen groBen Abhandlung iibsr Apraxie von Kleist-Erlangen 
kann ioh wohl von alien Literaturangaben absehen. 

Z. f. d. g. Neur. u. Paych. O. XX. 30 


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v. Rad: 


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Im September 1908, Januar 1909 und August 1909 angeblich epileptische 
Anfalle mit Krampfen, BewuBtlosigkeit, starker Cyanose. Nach den Anfallen sollen 
keinerlei Storungen des Allgemeinbefindens und keine Lahmungen aufgetreten sein. 
Seit Anfang Februar 1910 bemerkte die Frau ein Nachlassen des Gedachtnisses 
und der geistigen Regsamkeit. Am 9. III. fiel Pat. plotzlich bewuBtlos zusammen, 
zeigte sofort Lahmung der rechten Korperhalfte. 

Status praesens bei der Aufnahme am 26. III. 1910. 

Pat. ist etwas apathisch, nimmt yon seiner Umgebung wenig Notiz, gibt aber 
auf Befragen Antwort, er ist ortlich gut, zeitlich nur ungenau orientiert. Einfache 
Rechenaufgaben konnen nicht gelost werden, Aufzahlen der Monatsnamen gleich- 
falls nicht moglich. 

Die Pupillen sind beide gleichweit, reagieren auf Lichteinfall etwas langsam, 
bei Konvergenz besser. Die Augenbewegungen sind frei, der Augenhinter- 
grund ist ohne krankhaften Befund. 

Hernia no psie besteht nicht. 

Dir rechte Facialis ist in alien 3 Asten leicht paretisch, die Zunge wird gerade 
herausgestreckt. 

Rechter Arm und rechtes Bein sind fast vollig gelahmt, bei passiven Bewegun- 
gen fiihlt man deutlichen Widerstand. Die Sehnenreflexe sind am rechten Arm 
und Bein sehr lebhaft. 

Babinski und Oppenheim rechts deutlich positiv. 

An den rechten Extremitaten fanden sich keine Storungen der aktiven und 
passiven Beweglichkeit. 

Bei Nadelstichen erfolgen auf beiden Seiten gleich starke Abwehrbewegungen. 
(Genauere Priifung der Sensibilitat bei dem psychischen Verhalten des Kranken 
nicht moglich.) Abdominal- und Cremasterreflex ist rechts schwacher als links 
auszulosen. 

Innere Organe ohne krankhaften Befund, die fiihlbaren Arterien leicht ver- 
dickt, Puls regelmaBig, von starker Spannung, 70 Schlage in der Minute. 

Blutdruck 135 mm Hg (Riva - Rocci). 

Wassermann in Blut und Lumbalpunktat negativ. 

Nonne - A pelt negativ. 

Urin frei von Zucker und EiweiB. 

Am Kreuzbein ca. funfmarkstiickgroBer Decubitus. 

Der Kranke laBt Stuhl und Urin unter sich. 

Untersuchung der Sprache: 

Pat. spricht spontan sehr wenig, die sprachlichen AuBerungen lassen keine 
dysarthrische Stoning erkennen. Das Sprachveretandnis ist sehr gut erhalten, 
auch komplizierte Auftrage werden sofort richtig ausgefiihrt. Die Wortfindung 
ist teilweise gestort, vorgehaltene Gegenstande werden nicht alle bezeichnet, Nach- 
sprechen gelingt meist ordentlich. Bei den Sprachpriifungen macht sich starke 
Perseveration gel tend. 

Untersuchung auf Apraxie. 

LidschluB, Augen-, Lipj)en- und Zungenbewegungen werden ohne jede Storung 
ausgefiihrt. 

Der linke keineswegs paretische Arm wird spontan nur sehr wenig bewegt, 
bei passiven Bewegungen zeigt sich kein Widerstand. Einfache Bewegungen, 
wie Fingerspreizen, FaustschluB gelingen links weder nach Aufforderung, noch 
nach wiederholtem Vormachen; ebensowenig gehen Ausdrucksbewegungen (Win- 
ken, Drohen, KuBhandwerfen, Lange-Nase-Machen). Pat. bringt sie auch nicht 
fertig, wenn man ihm die entsprechende Bewegung vormacht. In gleicher Weise ist 
das Markieren von Zweckbewegungen, wie Drehorgeldrehen, Geldzahlen vollig 


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Uber Apraxie bei Balkendurchtrennung. 


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unmoglich. Die Ansatze, die Patient macht, um die verlangte Bewegung auszu- 
fiihren, erinnern oft kaum an die verlangte Aufgabe. Die Ausfiihrung von Zweck- 
bewegungen geht etwas besser, das Anziinden einer Kerze gelingt leidlich, ein 
in die Hand gegebener Bleistift wird so ungeschickt gehalten, daB unmoglich damit 
geschrieben werden kann. Schneiden mit einer Schere geht gar nicht, ebensowenig 
das Hantieren mit einer Kleiderbiirste. Wenn man diese Bewegungen ihm wieder- 
holt vormacht, werden die Bewegungen etwas zweckentsprechender, ohne jedoch 
richtig ausgefiihrt werden zu konnen. Am linken Bein bestand keinerlei Apraxie. 

In der Nacht vom 2. V. 1910 kam es zu einem Anfall mit volligem BewuBt- 
seinsverlust und Muskelzuckungen, die zuerst links einsetzten und dann auch die 
rechte Seite betrafen, die Temperatur stieg auf 39,5; auch nach dem Anfall traten 
fortdauernd kurze Zuckungen in der linken Gesichtshalfte und im linken Arm 
auf. Bei der Morgenvisite fand sich vollige schlaffe Lahmung der ganzen linken 
Korperhalfte, Babinski war links stark positiv. 

Die Anfalle wiederholten sich dann ofters, die Temperatur stieg bis auf 40,7 °. 
Patient verfiel sehr rasch. Am 4. Mai trat morgens der Tod ein. 

Eine kurze Zusammenfassung des klinischen Bildes ergibt 
folgendes: Nach wiederholten Anfallen mit Krampfen und BewuBtlosig- 
keit, die von keinen postparoxysmellenParesen gefolgt waren, entwickelte 
sich bei einem 51jahrigen Manne ein allmahliches Nachlassen des Ge- 
dachtnisses und der geistigen Regsamkeit, bis es ca. 1 / 2 Jahr spater zu 
einem schweren Insult, der zur Lahmung der rechten Korperhalfte 
fiihrte, kam. Es zeigten sich dann neben Apathie, Abnahme des Ge- 
dachtnisses und Orientierungsstorung eine sich bald zuriickbildende 
motorische Aphasie leichten Grades sowie eine Parese der ganzen rechten 
Korperhalfte. In der nicht gelahmten linken oberen Extremitat bestand 
ausgesprochene Akinese und motorische Apraxie. 2 Monate spater 
kamen wieder 2 schwere Anfalle mit Zuckungen, die vorwiegend die 
linke Korperhalfte betrafen und von einer Lahmung des linken Facialis 
und der linken Extremitaten gefolgt waren. Im AnschluB an diese 
Attacken trat nach wenigen Tagen der Tod ein. 

Die im pathologischen Institute von Herm Prosektor Thorel vorgenommene 
Sektion ergab folgenden Befund: 

Schadeldach derb mit starken Gefa^furchen an der Innenseite, Dura mater 
sehr verdickt. Windungen der Gehimoberflache gut entwickelt, Venen iiberall 
stark gefiillt. Die Arteria basilaris weist starke ringformige Verdickung auf, die 
kleinen Arterien der Gehimoberflache zeigen auffallend starke herdformige Ver- 
dickungen. An der Medianseite des Gehimes findet sich, hauptsachlich im Bereiche 
des Gyrus cinguli ein leicht eingesunkener und triib graugelb gefarbter Erweichungs- 
herd, uber dessen Oberflache zierliohe Netze auffallend stark verkalkter GefaBe 
hiniiberlaufen. Der Erweichungsherd erstreckt sich auch noch etwas auf die 
Gegend der I. Stirnwindung und der vorderen Zentralwindung. 

In beiden Unterlappen fanden sich bronchopneumonische Herde, der linke 
Ventrikel war hypertrophisch. 

Das Gehim wurde zur weiteren Verarbeitung in das neurologische Institut 
nach Frankfurt a. M. geschickt, dort in Serienschnitte zerlegt und nach Weigert 
gefarbt. Ich gestatte mir auch an dieser Stelle Herm Professor Ed i nger und Herm 
Professor Vogt meinen verbindlichsten Dank dafiir auszusprechen. 

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In dm* frtmted&ten f&ad d.ckvn dir i taken HirnhSliu? cirdii vr/r 

df*m JfcJkftriknte mne groLk*re Erwek’hmtg, diedeft Oyuix cinguii and etas dammar 
Mark ; '.'(Fig*-, i };. v ; t>fe Erfi^efctmg tjtt^4tx--er•';.^i;afe&l:- * 4 .in <ia* 

Mark der L FroiUalvvindimg. .stork geliHi'tet >v,\r. Du? Artrria 

edrporia'»alln»i ist ttMjt*>rifcrt. , ; .• ^ 

In de.r Tpcbt^iri H#mispfr&ro frmd sieh in drr de* Market dno 

^W^idhutu^ pi# Herd Jag im Mark der 0r^a1 windsini^ 


Fig. 1. Em eichun*u»hrr(3l, tier dea Mnk»,»» Hyne riiigwli nod das tliinmhV tf^ietfvrte'MarW z£:?,tujt 


l?$|« J. J’.rw ^'Miuo^fcij^rd *ti» ftui'uir.fiC '' 4»s linkmi O/rua clngult tm<l *J*r liuKen .BalkechiHlit?: 
w»iter^r ftfefd; iu tter. J. linkou $Uni*iuduag. 

Aqf Fig, sJ hat <ler jijfik^itige Erwv-rcbung?Lietd sChon vdne yud gfiitk^j Aus- 
d^lmiuag. fer^rardi t. tifc<^ :titi3. Mark de«' Gyrua ciiiguii.;dWrfed Scheftfod; 
tier h'oken Ba.|k>ifhSLft^ * eine wf*itr*P> idwa. orh^eiign»tk' Erwe^lnih^ finder Vicb 
mi utiteTtn Haikerii-d^nk^I j demtHx'* enactin' un ganri-n/ > latk, A^Hektet { Aid 
cinigen i\n&'reu'^h&%U$ t n i iki: >ine,;gehehtr-f.e Linie m ■ieiwtv-Mi? ijuerlijniiher in 
die rec'hu .Brtlkenhuiti,-' >ieJit rifid tie> Milk* halt.. e* k.uukOt «if*h I Her won.! 

nut erne &d<ijml&f£g 0*-0’.-ne^o>, ,r» vosn ImUm Ikdlo o !>*;'♦*.> Da* IFd ken tope turn 

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timber .\pram bei Rktkjeti537 

Dev Erweichiingshmi erstn'ckt si eh auch in das Mark der 1. Stirmvnwimigi 
In der rediteu Hemisphere fmden fvioh iicr M#rke der er$i<vrt beVden Frontalwin- 
dwngela and ijter • i&nei$iv ; kletafc xlnchtohaigp Eryvieich'Jnjpen. 


■Fix* 3. giiidt' liuci Mark, d^f JiHkmJ &sti* t*4mtaW ydliig Jink* U».ik« nimbi* 


\<VUg. t-raikiv EiiuwbtattUimjg der I. tftiktm Wrn*iD(iunf/, 

Bei Sobnirien. die wir**r i^udidivarl* liegen (Fig.3). k*- Buttle and Mark 
dfc* Hnken ’i’sy.nu* emguii vfdhg verse hw linden. Mich tile erMe Htim^indmig kt bis 
a«f germgen iti.ua*fi!^n Re?:t eiXge*dfime|ien, dir Envy-icrfid^ erstrefcki sirfi 

fast bis ziit dhfiercn Kap^f. Da- link# Fkdkenh/iJfbe fohH V^Hig. fterht« findot 


Pig. k Befund ihulicli wIp bui Pi g. 3. 

sich erne kieme spailfoiiinge Erweichung im Marke des Gyrus ringnli, Soane kleine 
stri'iFnfVyrmigt' Erwetch'i&gm ton Mark* des Pufe* der yftfdcmi Zentmlwi'Hhmg. 

Fig. 4 trip gleiohfcdte* riafi der jbyrli* dnguli vrtd die'-k^baMlse • roMig 
eiwetchi ^iTici, eberiso i*t die* .-h windiiiig .^ifivr-k die Eiiveh 


□wm-wGoi gle 


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'•chimjz ‘ritMcIitaher.nU*Jd meter»t* ft*#t im dta jot^' Kapsel herari. In der «if». 
rorderen ,ScJi^nfer(* Vlvr iij«t^h .Kapjsel findot:■ sj'Vrii eitie Zt>m j(ttegene-. 

writer ■■ 8t v a bkrmiy' aua, dam findet sioli die $ehcm *et\vahnte. 

Ecwpirlvrtnji i m fax yfafaivn Z^tT^l^nridmi^. 


Ki«, 6. Herd im hlnteren deriaupren Kup**l . ^ . ( v; 

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Ote naehste figitr (Nib fi\ bietet nocit dfr gtefofton ..yiyfiaUrii 4 ^- ';bf^^|!!ir%.: 
fax bniug ...tfes Oynuj'dnguli * BirikenK xitid fax *r&eti -tMl 

Mnffittfi .Sebenkel far imieiyii Kajwfcl find?! \o\n die ganse 
iinlerbreeltend^r HpitL „ ? 


K. ' <W Ki'V'HcUinuKhvTil rrsitv^t M-h k*u in *lnv GmM.m :jV> ijidc»i l*ariu»Mitf*Ilai>p«fttf. 

Cu t fiaol^tt'rlg^n.Jr SvJui'il ? Fig, b\ >•>•’<)» •<>;• vfay\'--- BMd. dir Erweidiimg 
^trabjt, )<d.it In dkv* fa$' .'&*!t^nuhteVbreehung 

A*t iib r nneh wvieG<yHsK*odi8K fa n^ii-r w'r. jr *vj guided* y*>‘* v:->.l»eri t me hr 

v«>fkh.nniT»- *ioh « : W ibid A’d iMk. ? i~i d«V }hn\'i*r /?>•-. Uy/u* rn^idi bCliori viet 


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Bulkc-iivlirt'litrenoung, 


Uii?r Apmxik \y&\ 


fel at *f dm M^rk <J«^Ibeti Unci das tU’p Paraimfttfii* 
l&ppins l^dirankr; in dor linker* Bh 1 k'-i>h,al Ft *• zeigen *ieh scfton mdhrore er- 
haltenc Viyaerth die Balkenfm-hrog izt aueh raeJite hier geliohtet. 

hi der ZtmtralwiiHiung Tia'dei si eh aueh *iq kieiner .Herd, ebenso 

xm liuken TOri^mtiW optica*: ; !>(‘r linke jm iimersten Fiiiiftel 

eine geriis^ im i^&ej ttanerstem biiik" '(teuitici^Te" Schtung auf. 

. 'Au! K t tHH-him Boimsphiire finder fdch;.eijxe ^bsg(t»doh'nteK‘ Lichiuug in tier 
der vdrdecbn ^f^r^iWindung eaMprechendab Eh\ Krqflerei’ Et 

wetchungdjoH ust *tu .iiuBereo-.Kerne‘.’desThakimu^'gele^e.n ? der -uni fiuc!^} (i)ur 
itiettgef* ritu't-h^c^r ist und sicli n^lV.nben 1ml ‘Sitytk Uek rePhten fiyrtiA 

uingp*& ;' 1 ^ ^ ' ;. ■>'-!, V 

Weifer fmttei web r£eht*i eih>? apaiilormige Ervi^i^himg ivsf Slteke der Quer- 


Fig.,/7 U£r £lenl ljsikteinort sich- tUniie dea Gyrtw olnguii whoa tosser etbalfceiv in dettinfouft 
fculkenb&Ute amen ftefcai eiuige eriial&ae Kaaern but. 

svindmi*:' tfm Hc&leifatdappen*’ and in der L Sdilafenwindung; eine under** spoilt- 
fnrniigtv ErwDichuiJg zieht in den {*ytm hippocampi; 'ij0 Mark der I. TVanpomh 
windaag ctseheim gleiekfaHs gelicht-n. 

■Auf tk>ui uik'hn'ai 8ehoitte (Fig. 1) verklfeiriert si;?b der Exwe\ ohung?hord 
\hi ;flwli' «.fe Mark 4e» ttyrm binguli and dfck P^AKe.iitfa!- 

iapppnet 


■nil npi ip ..ppp. i.■.mpp_ip 11 ppijpm 

Weifrpyr 1 Hohvvrteho Aufbelld.nu wt \m tceferi Mark der ipat^trr^ 
und iim ^^u8 >.m jjranvaiginalk' nach^uwei^exi; aueh im rechten Scitkif^riiapfH-n 
findeu atRrkem diftu&v Liclituiigen und einzetflr 8trwhfDrm.ijjpa .duili!*i)njigoPi. 
Im lln.koti.Ilj niselieftfeelf a li ini emem'bt,«*.ltr deutliehc* livbtung mi z\v^ : itinne^n>n 
Fljinftei'nacb*dwow»>n.. ‘In'dnr. rerhtcai HeaiiaphaiT: findct sich bin graBemr Herd, 
der ;dbit • hidt^ivtbby: Atekilutijtt-, Thalamus dp'ti(?tis y zerslbrt hat and sich auch in 
das lateral geiegene M&rkjfeUi bin^inerstfeckt. 

WeJ^r ftndim sich. Xicktnn^n itn Marker der limter^n Zi>ntTalwin(iung imd 
de» Clyrtia aupmnntrgimHfi. Oas zwe^auBmtp FtinfleV *im Hirnacbenkek weist 
tine ummVimetu*ne AuOielhmg auf,. tdjenw.* cte Mark dor |] and. HL Scliiafen- 
wiiidung and di> baeaVett ^Vthdungch des Sohlafetdapjzensj.. 

tfe welter .man eaudalwiiru geht (Fig. 8), -dmUt mehr vtfrklemert 4icji die 
fe-^eieWrtg; j^ngub itfid Lobua' jiaracentralia weiaeri imr mehr flaeben- 


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Fl#r. WTeftcre VeTfcifitnertUig <Ies 'Herde*,. Bnlkeii^eniJu? vi«T erijalietj* Ini Mark? des 

lmfctra <*ynjt* dupraamntiimlfb tijftu** Lichtuag, b3au.orThagfocti*r Herd 2w recliton Tfatiiamas,opticus. 


In den fliniuM tVtC''!!*l?u jMpi m voui .ErK't , «ehimg«Iu*rd Kali.* nu-fir 
tioehzxjwdscn, tier ■Juntvr.'te .kbechnitt d*r linken Ballc>ril;ii1fic i?t ybilie i-rhaitt-n, 
rin Mark* d«r XcWMW! uml ;D«iifiitallap|?yn fmd*n i«n kl'-in^ 

Aiifhellongeii. 

' . - ' ' 

Ihr dit-r dip , opr&litHM’hem f'tfscbvinuQgpEi dor liinken 

Hip eteflt wick daf ate pine {isuig|3'rtt«'<!tfkt+*Ervypk;bung 

an, tier H&liiisphan'K^'^tol, .$& lu\kt»fl Gyrus 

ciu'golt Hctrifft. den-filic jut iii stuiiPii' v«.m;U*rcn und ‘uytllemi 4*wefuiitW*f«' 
ia:-i vtiihg zemtort unci z,w'?u- erslreckl die Z«i*ton»ua ^*>hi avif 

l;. i> •. A. _4l ..l -V .i....... ' .Uv. -i-• V: ; ....• .1 ■ X:, 


die Riftde, n!.s jivich daw Mark. 'Jjfeken deru Gyrus emikHi• 
linki IfeikenluUfte v»m der Erv.cielntn.« ivstroffru,. UkwtrlUo isl in iterem 
Tnrdnrpu u»ul liiit Drittc 4 ! fusk; vuiUg erweiclftr, ersf in tier Gyjpsttd 
dns Lolm* p;Ui>ienM;iiis mehfvji sieh tiife erijaltem’iy I'itsem . Din Er- 
vrichung lies Gyrus euietili mid Hai.kfiis fri.vjc* . jjMj^aiiblk I* l.irmer wer- 
dewJ: urn* ihr Endn ettva an dur •G« , rii^t' : .«>idwi?.bwc I’rtrawitii'ra^iii^tien and 


v. Had: 


/fcvHnifef* Aufhdltmgen apf, icri jnehren njch gehr diV erhalteuen 

Irn AfWk dcr» Gyrus ^uprAmarginalia linden sieh geringe diffuse Aufheilungttn, 
rfr den busalen fcfchl&feuwind^^«^ribhfortqiige Liditunge^ric Der naif. Blutimgeia 
fhirifcxpJtzU- Herd jm redden: - option$ etntrecrkt Sich in das lat&mfo 

MarkfkKi; das Mark de* reel i^n GyriiS supra margi nalia (hr iiinteren Zentrsd- 
wrkUmg und d***» 

A»i ^patvien tyhmltiin ist &w Mark linker*.tkiieiteUappeheTts 
tifid tlm- ffyru*- cfhguli ttqdh m der huken Balkenhalfte u^fwi^h ilk- 

erhaherten Fasem. finden swh ini te- krntfrfc'iri 'Jfeii'tilil.^iiniuiig 

und de« Gyrus supra txutrghiafw fringe in* 

\Tinfiungen. Ira Briicke <ind e&nfy Vis .uiehrere kkunere- &we.jrhtm^herd»^ 


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N 


af fror 



t)ber Apraxie bei Balkendurchtrennung. 


541 


Praecuneus. Die ZerstArung des Markes reicht aber weiter nach ruck- 
warts als die der Rind 9. 

Dieser Hauptherd, der in allererster Linie Gyrus cinguli und linke 
Balkenhalfte betrifft, zieht nach oben und vome noch in seinen Bereich 
die I. linke Frontalwindung, die bis auf einen geringen lateralen Rest 
eingeschmolzen ist. Diese Erweichung eretreckt sich hier fast bis zum 
vorderen Schenkel der inneren Kapsel, etwas nach hinten zu beschrankt 
sie sich aber nur mehr auf das Mark der I. Stimwindung, wahrend die 
Rinde viel besser erhalten ist. 

In gleicher Weise ist auch die mediale Wand der Parazentrallappen- 
in den Erweichungsherd miteinbezogen, auch hier ist die Markfaserung 
mehr geschadigt als die Rinde. Nach riickwarts zu zeigt sich die Er¬ 
weichung mehr in Form flachenformiger Aufhellungen. 

Die tiefer lateral gelegenen Markstrahlungen des Centrum semiovale 
werden von diesem Erweichungsherd nicht mehr betroffen. Derselbe 
liegt im Ausbreitungsgebiet der Arteria cerebri anterior und der Arteria 
corporis callosi, welch letztere sich in ihrem Verlaufe um das Balken- 
knie schlagt und den Balken und die letzteren anliegenden Windungen 
versorgt. 

Neben dem Hauptherd fanden sich nun noch in beiden Gehimhalften 
kleinere, meist strichformige Erweichungen, die aber nur die Markstahlung 
betroffen haben. In der linken Hemisphare fanden sich solche Er¬ 
weichungen im Mark der hinteren Zentralwindung, des Gyrus supra- 
marginalis, das eine strichformige Aufhellung aufweist. In ahnlicher 
Weise zeigen sich diffuse Lichtungen und einzelne strichformige Auf¬ 
hellungen im linken Schlafenlappen. Ein weiterer Herd findet sich 
in der Mitte des hinteren Schenkels der inneren Kapsel. Die rechte 
Hemisphare ist auch nicht frei von solchen Lichtungen und Aufhellungen 
des Markes. Wir finden sie im Marke des vorderen Stimhimes, im FuB 
der vorderen und hinteren Zentralwindung, des Gyrus supramarginalis 
und des unteren Schlafenlappens, von letzterem sind namentlich die 
basalen Windungen betroffen. Bemerkenswert ist femer noch ein Herd 
im rechten Thalamus opticus, der sich bis in das laterale Markfeld er- 
streckte. 

Der wichtigste Befund im vorliegenden Falle ist die Lasion der 
linken Balkenhalfte, welche sich bis etwa in das hinterste Fiinftel er- 
streckte. Die durch die Erweichung bedingte Zerstdrung der Balken- 
fasem ist im Bereiche der vorderen Zentralwindung eine totale. Hier 
ist sicher jede Kommunikation der linken mit der rechten Hemisphare 
in den mittleren Abschnitten des Gehimes vollig aufgehoben. Erst 
am Ende der hinteren Zentralwindung zeigen sich im Balken wieder 
einzelne erhalten gebliebene Fasem. Die Erweichung muB auf eine 
Thrombose der linken Arteria cerebri anterior und der Arteria corporis 


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542 


v. Rad: 


callosi zuriickgefiihrt werden und enspricht in ihrer Ausdehnung genau 
dem Versorgungsgebiet dieser GefaBe. Auffallend ist hier allerdings 
das Verschontbleiben des Praecuneus, der auch noch in das Aus- 
breitungsgebiet der Arteria cerebri anterior gehort. Einmal ist es moglich, 
daB hier individuelle Variationen vorkommen, und dann kann wohl 
auch angenommen werden, daB bei der Blutversorgung des Praecuneus 
auch noch andere Arterien mitbeteiligt sind. 

Der Fall reiht sich den anderen Beobachtungen von Liepmann, 
Hartmann, Liepmann - MaaB, von Vleuten, Goldstein und 
Forster an, in denen fast ganz identische Himbezirke teils durch 
Erweichung, teils durch Tumorbildung zerstort waren. 

Alle diese Beobachtungen konnen zur Bestatigung des von Liepmann 
im Jahre 1905 aufgestellten Satzes, daB die linke Hemisphare durch den 
Balken hindurch einen dirigierenden EinfluB auf die von der rechten 
Hemisphare abhangigen Zweckbewegungen der linken Hand ausiibt und 
daB die ZerstOrung des Balkens Dyspraxie bzw. Apraxie der linken 
Hand ergibt, herangezogen werden. Diese Ausfallserscheinung darf 
aber direkt als Lokalsymptom fiir Erkrankungen des Balkens angesehen 
werden. 

Das Wichtige liegt darin, daB die Apraxie der linken Hand auf einen 
Herd zuriickgefiihrt werden muB, der im wesentlichen nur Balkenfasern 
zerstort hat. 

Der Erweichung des Cingulum, dessen Funktion ja noch nicht fest- 
steht, kommt wohl fiir das Zustandekommen der Apraxie keine Bedeu- 
tung zu, da es in dem Falle Forsters, in dem der Balken in fast gleicher 
Ausdehnung zur Zerstorung kam, vollig erhalten blieb. 

AuBer der Balkenzerstorung fanden sich im Gehim keine Herde, 
die fiir die Entstehung der Apraxie in Betracht kommen konnten. Das 
Sensomotorium der rechten Hemisphare ist, von kleinen, ganz unbe- 
deutenden, sicher zu keiner Unterbrechung der Markfasem fiihrenden 
Erweichungsherden abgesehen, vollig intakt. 

Zur Entscheidung der Frage, ob das Praxiezentrum im linken Stirn- 
hime, wie Hartmann und Goldstein annehmen, oder im linken 
Gyrus supramarginalis liegt, dessen Bedeutung hierfiir Kroll und 
Kleist hervorheben, kann mein Fall nicht herangezogen werden, da 
es sich hier nur um eine reine Leitungsunterbrechung handelt und die 
corticalen Zentren im wesentlichen intakt waren. Die etwas grOBere, 
fleckige Aufhellung im Marke des linken Gyrus supramarginalis, dessen 
Lasion Kleist fiir das Zustandekommen der rechtseitigen Apraxie 
verantwortlich macht, erscheint mir doch so gering, daB ihr nach der 
Richtung hin keine Bedeutung wohl zugesprochen werden kann. 

Von den Anhangem eines frontalen Apraxiezentrums konnte aller¬ 
dings geltend gemacht werden, daB derartige Falle nichts gegen das 


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tuber Apraxie bei Balkendurchtrennung. 


543 


Nichtbestehen eines frontalen Zentrums beweisen, da eben durch die 
Leitungsunterbrechung das hier erhalten gebliebene Zentrum keine 
Einwirkung auf die rechtshimigen Zentren gewinnen konnte. 

Gegen eine derartige Beweisfiihrung zugunsten der Annahme eines 
einzigen Hauptzentrums im linken Gyrus supramarginalis ist jedoch 
einzuwenden, daB in unserem Falle gerade die hinteren Balkenabschnitte 
in die die vom Gyrus supramarginalis ausgehenden Fasem einstrahlen, 
am wenigsten geschadigt waren und noch gut erhaltene, leitungsfahige 
Fasem aufwiesen. 

Den kleinen strichformigen Erweichungen im rechten Gyrus supra¬ 
marginalis kommt gleichfalls keine Bedeutung zu. Die Bedeutung der- 
selben fur das Zustandekommen der linkseitigen Apraxie ist ja auBerst 
strittig und fraglich. Es ist kein Fall bisher beobachtet worden, in dem 
linkseitige Apraxie durch Zerstorung des rechten Gyrus supramarginalis 
bedingt gewesen ware. Es konnte vielmehr Goldstein 1 ) einen Fall 
von Tumor im Marklager des rechten Gyrus supramarginalis und der 
hinteren Zentralwindung beobachten, in dem die fur diesen Bezirk 
charakteristischen Ausfallserscheinungen deutlich nachzuweisen waren, 
bei dem aber auch bei genauester Untersuchung keinerlei Zeichen von 
Apraxie nachzuweisen waren. 

Der Umstand, daB die von der vorderen Zentralwindung aus¬ 
gehenden und im Balken verlaufenden Commissurenfasem weitaus die 
starkste Schadigung aufwiesen und daB hier eine vollige Unterbrechung 
der Leitung stattfand, kftnnte sicherlich zur Stiitze der friihcr von Lie p- 
mann vertretenen Ansicht, daB das Sensomotorium der oberen Extre¬ 
mist der linken Hemisphere von groBem EinfluB auf die Entstehung 
apraktischer Storungen sei, herangezogen werden. 

Vor kurzem hat sich ja Liepmann 2 ) dahin ausgesprochen, daB 
man von einem cigentlichen Apraxiezentrum iiberhaupt nicht reden konne, 
der Scheitellappen sei nur quoad Praxie das vulnerabelste Gebiet. Die 
Bedeutung des Scheitellappens fur das Zustandekommen der Apraxie 
liegt ja darin, daB Herde in dcmselben durch ihre Lage ganz besonders 
geeignet sind, wichtige ^ssoziative Verbindungen des »Sensomotoriums 
mit kinasthetischen Erinncrungsbildem im Scheitel- und Hinterhaupt- 
lappen zu unterbrechen. 

Von einer endgiiltigen Ldsung dieser Frage sind wir noch weit ent- 
femt, zurzeit miissen wir uns an der Tatsache geniigen lassen, daB 
Unterbrechung der Balkenstrahlung das Auftreten linkseitiger Apraxie 
bedingen kann. 

In den meisten Fallen von Apraxie nach Erweichung des Balkens 

x ) Goldstein, Uber Apraxie, Beiheft Nr. 10 zur medizinischen Klinik 
1911. 

2 ) Liepmann, Monatsschr. f. Psych. 33 , 197. 1913. 


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544 


v. Rad: 


war das hintere Viertel oder Fiinftel desselben erhalten. Die Blut- 
versorgung desselben geschieht wohl sicher nicht mehr von der Arteria 
corporis callosi, sondem von der Arteria cerebri posterior aus. Auf meiner 
Abteilung kam vor wenigen Tagen ein Fall von tuberkuloser Meningitis 
zur Sektion, bei dem durch Thrombose der linken Arteria cerebri 
posterior eine isolierte Erweichung des hintersten Funftels der gleich- 
seitigen Balkenhalfte zustande kam. 

Das Erhaltensein dieses Abschnittes des Balkens hat in den Fallen 
von Liepmann, Forster und mir das Zustandekommen der Apraxie 
nicht verhindem konnen, andrerseits liegen Falle von isolierter Zer- 
storung des vordersten Balkenabschnittes vor (Claude), in denen 
keine Apraxie bestand, femer eine Beobachtung von Hartmann, bei 
der trotz Erhaltenseins der vorderen Balkenfaserung eine schwere 
linkseitige Apraxie nachzuweisen war. Es darf demnach, wie ja schon 
Liepmann hervorgehoben hat, als recht wahrscheinlich gelten, daB 
die linkseitige sympathische Apraxie an der Unterbrechung der Fasem 
des mittleren Balkendrittels gebunden ist. Es sind das ja hauptsachlich 
die Balkenfasem, die von den hintersten Abschnitten derStimwindungen, 
der vorderen Zentralwindung und den vordersten Bezirken der hinteren 
Zentralwindung herstammen. 

Einer weiteren interessanten Bewegungsstorung, die der Rranke 
bot, ware noch kurz zu gedenken, es ist das die recht ausgesprochene 
Akinese der linken, anfangs ja nicht paretischen oberen Extremitat. 
Der Arm wurde spontan fast gar nicht bewegt, er blieb ebenso regungslos 
liegen, wie der rechte, schwer gelahmte. 

Es muB diese Erscheinung auf eine Funktionsstorung des Stirnhimes 
zuruckgefiihrt werden. Akinetische Storungen bei Balkenlasionen wurden 
schon wiederholt von Liepmann, Goldstein, Kroll, Kleist und 
Forster beobachtet. 

Wie Kleist ausfiihrt, kommt der Antrieb zu willkiirlichen Bewe- 
gungen der linken Extremitaten der rechten Hemisphere zu einem groBen 
Teil vom linken Gehim und wahrscheinlich vom Stimliime aus her. 
Wahrscheinlich ist der Antrieb, den das rechte Stimhim aus eigenem 
liefert, recht gering im Vergleich zu dem aus dem linken Stimhime 
kommenden Zuwachs. Kleist laBt es weiter dahingestellt, ob die 
Zerstorung des rechten Gyrus cinguli und von Teilen der rechten ersten 
Frontalwindung in den Fallen Kroll III und Goldstein bei der Ent- 
stehung der linkseitigen Akinesie mit wirksam war, d. h. ob etwa diese 
Stimhimteile etwas mit dem ,,Antriebe“ zu tun haben. 

Eine besondere, ausschlaggebende Bedeutung kam dem Gyrus 
cinguli nach dieser Richtung wohl auch kaum zugesprochen werden, 
denn in dem Falle Forsters war trotz Erhaltensein desselben deut- 
liche Akinese nachzuweisen. In unserem Falle kamen auBer der durch 


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tjber Apraxie bei Balkendurchtremiung. 


545 


die Balkenlasion bedingten Unterbrechung der Fasem aus dem Stim- 
hime noch der Erscheinungsherd in der I. linken Stimwindung vielleicht 
fur die Lokalisation der akinetischen Storungen in Betracht. 

Die mit der Akinese schon wiederholt beobachteten abnormen to- 
nischen Spannungen der Extremitatenmuskulatur konnte in meinem 
Falle nicht nachgewiesen werden. Dafiir daB Akinese und tonisch- 
kataleptische Erscheinungen auch unabhang’g voneinander bestehen 
konnen, sprechen die Falle Hartmann I und II, in denen nur Akinese 
aber keine Tonusveranderungen beobachtet wurden. Ob die bei unserem 
Patienten beobachtete starke Herabsetzung der Initiative beim Spontan- 
sprechen auch als akinetische Erscheinung aufzufassen ist und ebenfalls, 
wie Quensel meint, mit einem Funktionsausfall des Stimhimes, 
besonders des linken, in Zusammenhang zu bringen ist, kann in meinem 
Fall nicht sicher entschieden werden, da die recht betrachtliche Abnahme 
der geistigen Fahigkeiten und die erhebliche gemiitliche Abstumpfung 
auch diese Erscheinung in ungezwungener Weise zu erklaren imstande 
sind. 

Die iibrigen bei dem Kranken beobachteten krankhaften Erscheinun¬ 
gen bediirfen keiner besonderen epikritischen Besprechung mehr. Die 
initiate rechtseitige Hemiparese ist auf den Herd im hinteren Schenkel 
der linken innercn Kapsel zuriickzufiihren; die anfangliche Sttfrung der 
Wortfindung ist wohl durch eine Femwirkung auf das Sprachzentrum 
bedingt. 

Die terminate linkseitige Parese findet ihre Erklarung in dem 
frischen, mit Hamorrhagien durchsetzten Herd im rechten Thalamus 
opticus, der die lateral da von liegenden Markstrahlungen schwer gescha- 
digt hat. Mit wenigen Worten m6chte ich noch auf die von Anfang recht 
stark ausgesprochenen psychischen Storungen eingehen. Es ist ja 
bekannt, daB solche bei Balkenlasionen sehr friihe und in starker Auspra- 
gung auftreten. Wir finden meist Stdrungen der Intelligenz und des 
Gedachtnisses, geistige Schwerfalligkeit und mehr oder minder starke 
Benommenheit. Man sieht ja Bilder, die direkt an progressive Paralyse 
erinnem, mein Fall wurde auch mit dieser Diagnose auf die Abteilung 
eingeliefert. Schuster hat ja darauf hingewiesen, daB diese genannten 
Storungen vorwiegend bei Lasionen des vorderen Balkenabschnittes 
zur Beobachtung kommen, wahrend bei solchen des hinteren Teiles mehr 
Erregungszustande, Delirien, halluzinatorische Zustande, Wahnvor- 
stellungen iiberwiegen sollen. Unser Fall wurde mit dieser von Sch uster 
angenommenen lokalisatorischen Trennung der psychischen Ausfalls- 
erscheinungen in Einklang stehen. In erster Linie ist wohl auch hier 
die Unterbrechung der aus dem Stimhirne kommenden Faserung an- 
zuschuldigen. 

Diese besonders starken Storungen auf psychischem Gebiet bei 


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546 


v. Rad: liber Apraxie bei Balkendurchtrennung. 


Balkenlasionen werden uns ja leicht verstandlich, wenn wir bedenken, 
daB durch denselben fast die gesamte Rindenflache beider Hemispharen 
miteinander in Verbindung steht, und zwar handelt es sich nicht nur um 
Verbindungen symmetrisch gelegener Himterritorien, sondem auch von 
asymmetrischen Windungen. 


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Dystrophia periostalis hyperplastica familiaris. 

Von 

Dr. W. Dzierzynsky, 

Ordinierender Arzt des Charkower Gouvernement-Semstwokrankenhauses. 

Mit 11 Textfiguren. 

(Eingegangen am 26 . September 1913.) 

lm Jalire 1897 haben P. Marie und Sainton 1 ) eine eigenartige 
Familienerkrankung beschrieben, die spaterhin den Namen Dysostosis 
cleido cranialis erbalten hat. Seitdem sind mehr als 20 Artikel veroffent- 
licht wcrden, die dieselben Beobachtungen zum Gegenstand haben und 
die eine allgemeine klinische Charakteristik dieser Erkrankung ermog- 
lichen. Als ihre Hauptmerkmale erscheinen: 

1. Mangelhafte Verknocherung des Schadeldaches, die sich als Fein- 
heit der Knochen selbst, als Offenbleiben der Fontanellen manchmal bis 
ins Greisenalter, als Bildung zieralich breiter Rinnen zwischen den 
Knochen, an Stelle von Nahten, als Vorhandensein anstatt eines (Schei- 
tel-, Hinterhaupt-, Schlafen-), mehrerer Knochen, die durch Nahte ver- 
bunden sind, auBert. Als Folge der mangelhaften VerknOcherung des 
Schadeldaches erscheint die typische Kopfform bei dieser Krankheit — 
eine ziemlich groBe, breite, mit scharf ausgepragten Stirnhockem; diese 
Form entsteht infolge der iibermaBigen Nachgiebigkeit der Schadelhiillen 
gegen inneren Druck. 

2. Fehlen der Schliisselbeine oder Ersatz des groBten Teiles derselben 
(lurch fibroses Gewebe und nur in geringem MaBe durch kleine Knochen 
am Sternum; manchmal sind ahnliche kleine Knochen auch am akro- 
mialen Ende des Schulterblattes zu beobachten. 

3. Vererbbarkeit dieser Veranderungen im Knochengeriist. 

Weiter kommen noch weniger bedeutende und nicht obligatorische 

Knochen veranderungen vor, die aber doch sehr oft beobachtet werden. Das 
haufige Vorkommen dieser Syraptome veranlaBt einen genetischen Zu- 
sammenhang mit dem Wesen der Krankheit anzunehmen und sie nicht 
als zufallige Komplikation irgendeiner anderen Krankheit, wie z. B. 
der Rachitis u. a., zu betrachten. 

Die Zahne kommen sehr oft spat, manchmal erscheinen sie nicht 
vollzahlig und sind asjmimetrisch, oft werden die Milchzahne nicht durch 

*) Soc. med. des hopitaux 14. IV. 1897. 


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548 W. Dzierzynsky: 

bestandige ersetzt. Bei erwachsenen Subjekten fehlen gewohnlich viele 
Zahne und sind schlecht. 

Sehr oft sind Wirbelsaule und Brustkasten deformiert; beschrieben 
sind Verflachung und Einkerbung des Brustkastens, Vorwolbung des 
Brustbeins, Hiihnerbrust, Scoliosis, Lordosis, Kyphosis. Der Wuchs ist 
klein. 

Rarifizierung der Knochenmassen im allgemeinen und Verdickung 
der medullaren H6hlen der langen Rohrenknochen. 

Unvollstandige Ausbildung der Epiphysen. 

Was die Genese dieser Krankheit anbetrifft, so muB die Theorie von 
Porak und Durante 1 ) als die zutreffendste unter den vorhandenen 
anerkannt werden. Diese Autoren erklaren diese Krankheit durch eine 
eigenartige Form periostaler Dysplasie, die eine unvollkommene Aus¬ 
bildung der Knochen aus der Knochenhaut bei der Verknocherung der 
fibrftsen Massen bewirkt und mit einer Hyperfunktion der Osteoklasten, 
infolge trophischer oder Driisenveranderungen, verbunden ist. Voisin, 
Lepinay und Infrait 2 ), Moldoresco und Parton 3 ) schreiben diese 
Erkrankung der Schilddriise zu, da sie viele gemeinsame Ziige mit dem 
Myx6dem finden, wie kleinen Wuchs, spaten SchluB der Fontanellen, 
schlechte Zahne u. a. Convelaire 4 ) fand, daB hier eine Systemaffektion 
derjenigen Knochen vorliegt, die nicht aus dem Knorpel, sondem aus 
dem fibr6sen Gewebe gebildet werden. Die Erkrankung weist zweifellos 
eine elektive, wenn auch nicht ausschlieBliche Affektion der Periostal- 
knochen auf; das Fehlen der Schliisselbeine und die unvollkom¬ 
mene Ausbildung des Schadeld aches, die durch so viele Beobachtungen 
festgestellt ist, ist doch unmoghch als zufallig anzuerkennen. 
Diese zwei Erscheinungen machen das Typische des klinischen Bil- 
des aus; aber auBer ihnen werden noch andere Symptome beobachtet, 
die auf Mangelhaftigkeit in der Ausbildung der Knorpelknochen hin- 
weisen, so die Veranderungen in der Wirbelsaule, in den Epiphysen usw. 
Alle diese Tatsachen weisen auf eine allgemeine Mangelhaftigkeit der 
osteogenenProzesse im Organismus mit elektiver besonderer Affektion der 
Beleghautknochen hin. Hier liegt irgendeine Affektion der Knochenhaut 
vor, die eine mangelhafte Tatigkeit der osteogenen Funktion entwickelt. 
Da wo zuerst ein Knorpel gebildet wird, geht die Verknocherung leichter 
vor sich, da sie nicht periostal, sondem auch endochondral geschieht, 
und ist deswegen wenn auch mangelhaft, so immer noch vollkommener 
als in den Periostalknochen. Welche Ursachen eine ahnliche Verminde- 
rung der Tatigkeit der Knochenhaut hervorrufen, ist bis jetzt nicht mit 

1 ) Iconographie de la Salpetrtere 1905. 

3 ) Iconographie de la Salpetriere 1907. 

2 ) Iconographie de la Salpetriere 1912. 

4 ) Journ. de Physiol, et de Pathol. g£ner. 1899. 


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Dystrophia periostalis hyperplaslica familiaris. 


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Sicherheit festgestellt. Diese Erkrankung darf mit Recht „Dystrophia 
periostalis hypoplastica famiiiaris^ benannt werden. Ich gehe 
jetzt zur Besclireibung meiner Beobachtungen iiber, die beweisen, daB 
es auch eine „Dystrophia periostalis hyperplastica famiiiaris^ 
gibt, worauf bis jetzt in der Literatur noch nicht hingewiesen worden ist. 

Bauemfamilie Orlow, aus dem Mediner Rreis des Charkower Gou- 
vemements. 



Fig. 1. 

A. starb, 60 Jahre alt, kein Potator, trank gelegentlich, war im allgemeinen 
gesund; das Knochengeriist war regelm&Big ausgebildet. 

B. starb mit 65 Jahren; besondere Knochen veranderungen wurden nicht beob- 
achtet; sie machte 20 Schwangerschaften durch; 3 Kinder leben noch, ob Aborte 
vorgekommen, ist nicht bekannt. 

1. Arseny starb mit 42 Jahren, war starker Trinker. BesaB eine Kopfform, 
wie 7 (Alexander). Es leben jetzt seine 4 Tochter: Maria, 24 Jahre, Anna, 
20 Jahre, Nastasja 18 Jahre, Anna 12 Jahre alt. Alle zeigen keine Knochen- 
geriistdeformationen. 

2. Jermila starb mit 24 Jahren wahrend des Militardienstes; besaB dieselbc 
Kopfform wie 7. Bei ihm wurden auch Veranderungen der Metaphalangealgelenke 
der H&nde beobachtet. 

3. Anna — starb mit 60 Jahren — und ihr Sohn Iwan normal. 

4. Tatjana, starb mit 45 Jahren. Veranderungen in den Fingerphalangen; ihre 
Tochter: Tatjana (b) und Katharina (c) zeigen auch Veranderungen in den Pha- 
langen, beim Sohne Alexander (a) sind diese Veranderungen nicht vorhanden. Bei 
pereonlicher Untersuchung der Katharina (4c) ist nur eine Deformation der Finger¬ 
phalangen festgestellt worden, namlich der unteren(Grund-) und mittlerenPhalangeal- 
gelenke des IV. und V. Fingers und eine unbedeutende Deformation der mittleren 
Phalanx des III. Fingers. Diese Phalangen zeigen eine merkbare Verdickung. 
Der IV. und V. Finger sind zwischen der mittleren und Grundphalanx unbeweglich, 
der III. Finger bewegt sich in demselben Gelenke imgeniigend. Diese Verande¬ 
rungen sind an beiden Handen symmetrisch. Im iibrigen ist das Knochengeriist 
regelmaBig gebildet. 

5. Jakow, 63 Jahre alt, gesund, bei ihm sind Veranderungen in den Finger¬ 
phalangen zu beobachten. 

6. Iwan, 65 Jahre alt, zeigt Veranderungen in den Fingerphalangen. Seine 
Sohne Ossip (a) und Iwan (b) weisen auch Veranderungen der Fingerphalangen 
auf, bei den anderen Kindem sind diese Veranderungen nicht vorhanden, 

Z. f. d. g. Neur. u. Psycb. O. XX. 37 


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gelid Tagdohnev. Tnnfer wenig and Hdten. 

St.nth* pr^t:snis. Knoohi*fi3y.st iv-fa: Ro]b hooh, vmi naoh nbeu untuer 
eager, Vi^K»->nUem yen sk*h Reiter*. vvodmv| { »jk*. %:had*?ldaeh Ki-gbf-KHilvjt a? 
wrh&lt, *rh)kd$t dureh tfincn scharf hi'rv'orir^k'fld^*) K.aOuvi die Pf ednaht 

iM-J YDU.yiH au^nvigt. t#h dfcr ^liitdet sehr steil sowohl 
I to Hlirnbeiri i$f uherm&Big both; v<*« der Xrs^tv- 
wtuaad ttfe sbtn J&tfc dwj K#irnbfi* simi £ L8» wnbei tier beka&rte Tati 


*• Fife & 

Kopfe IM mifii. Vain hint area Emit* das Kviinrrnw.- his sum Kiaterhs upthckike'r 
sind KU>. I Vie mitt (are v/i-gUi'ai* Luba von dot Xasrnwurzel bis zuui C*^bpih>livot»kar 
1st ke»no bogonfomlgr, -sondem, einc crki^a; — rlic tier l*duuirtn !IVii tie* 

StindX Hi^ iW Kniliin b.ife -SralL dor s^ittaletr Nuht) and WkL <7,5 if»d*' 

Vi.L) des* Oa».'V|.u.aU« v mK Ab*m* v;.m Karam Dt die Kcigahg wnal>odyatertda. rdwr 
*J»ne bngnbbrniiito Ailt ih^iahi-skta^hjcvi trota-t* seharf her v or, k^utuiejs die H&fci 
die -oilY^rh^Uoi^iu^Sig. -\gt< Thp AugenbOhlen -sinci' $&kt- k.lrm;.; Bridie 3,8, 

Hnhn 3,tf. Van ikt Itoia tfef lm- /.ur Xnsetu'|>ifze sind iM Die Zalme; 

h--*l«n N-idirhiof m Kiefav ^h-hett die abtovr* Ziiltin -.mf 0,5 vuv (die Schneide^ihnv-); 

• u- Ziihao {eliiv c. t^,»nja*n. Ohn n si:i.l nanvm-l, iM Wivl»eIsiude — meht. gr:- 
krur.Mnu in der MrtU* dis Tituht.heins ; iOji vom .Tuiritluru and V2~\ vnm 

antt'M-it Lud 1 ,i i ni, -. li.n b inoy f ahy. di ss< li>rn v der oix iv 'i>d de? Bnt.dlA^in- i.«i 
, '.^Virntr gcHv^ilh? y. der uhhnv IVii -r iiniiU dcr \VirbelH^5ile. Ife’ 
f^PjPpi -»ad MHi Ih-u-tb/ u) un. r»UHi% ^:^vn1Lt. wi-du/vh firws«dhc auswln;>l)lt 
>rhrna. hf^oiulf in d. r A<-r Ihrgn.fjg.. Die- jamlerv PhAlan^* dos V. Finger* 

der linkea Hand i«t k«iro>: iUid..hr- ib r uh di.- drr n^hteru infolg^ diesorWf. 
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riifeii rlrr^jk Inrii'u, jSniM^rD 

gri t foe rty sir ,<51 mi tvndureh 

^drifek*xdbri^ 

Dfe' -'-LyWi.ohirfi viM‘i wrkif'inwt., AID 
NrhMelflitnhntjide -find venvuchM'N, I>ir 
in* Dfefe Wd kwx ties VL Bxlt* r ito ken 
Bar;d ,\#t verdiekt vnd kiimi a h dir der 
r-T‘h*?'ii v ilm UHrnfeftoelirii -if>d nit-lit he- 
,c-i/iirat ; !)tig1. ■' ’.- 5jf »' ,* *** ^V.'r'.r^i^'wj*,-'.:;''- 

: pD[ekti V i$t fev fevijz# 
in *irdnmn f . Die Yfdblddru^*. is! nivh i tTur- 
febfiert* AdrnpkJen ni r d~U- Y^ri-ia!Hfe?i.; Ake 
nie dev DarmeVt life mfe lietfe 

^TfU'aa i*t Ui tbehiVffit:. *h ''Kr-rnii- }s\ lejad 

rfr»->:bu/\ empritHlsaiih JUnvviien Afifelfe r»r- 
*;fehU^>er, SofeHamat , **> thifj: er Ko^ur \v^ruf, . 
r|| -.ui hyr*fee-oaf i-seh. Klagt iYnmW lifer 
ifiknd t't^a^ , ;• V;. .. \ ; > ' ■ V .. 

Ven'K'ivHfrt ?o if firm 10. Jlebeiisjaim^ 
dir knr-\ \*r-,-t r K’hwaeavr. 

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Jitt vr an Kopfechmprziw mit Ohreosausen. Naeh dev Aits«a&«? d<?r Mutter hjitte 
tir schon- b**r. /tar j^iburtf&st dtasd ta* Ro'pfform. yrir jctzt. 

t>i ntUA i>r>i<"r n* ; Kopfforro dh '^ehrit/i-lgf^cnd — bach, iiiich f*t^n 
Vfcwjirgt* abcr obm* Kmtim tit drr Mjtte;•brnt^in xwiscbcn iijsin Itijuathaupt- »md dem 

K(,-l;r'if-'|i‘jri.n oiiif (It'Utiit'he Auh- 


^v^r- , pin niitUt-i^n uwl 

Seliief g* shdit. Daa Bntsfbom 
iat in dnr obm*.n Halftt ubt^r- 
niaBig naeli vprm* gi^Tbiht.. I Yip 
Ebiitgi‘nf)g'mt?i!Tic- (Fig. ) tta* 
Kopffs nrwtiyfn^ 

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Dystrophia p^msfralis hrinirplastiia fa.rarii,at^. 


Wladimir P, 4U .fahfc alt, vin Batier *le> i>nutxoscdierr Besirk# clp* Mimkaner 
Onuvrnieim-nts $». Fit:, V* 10). Wind-*' a\if dem Laud'* g-Wen, \vn t-r !>m 
?.mu 12. Ifttwitejaim* leMe; Lernte Wjfli lV*riku*tnr, dak l>me»i fi<d ihni kichu 
l>Aini dieritc <?r junta* in emtati FIvis.c[dmk«ru vrurtfo KnimiiK ilrkse Stejtang 


JVfit 32 Jaiuon erkranfcte or -aiY iikdtemIn dw UdyA^n J^hrou 
leidet ci a if K*V|>i^lVmrr 2 ifttV;. &ou?.eH .feidf^qr nri kiiiem Herzfehkir,. 

Stains )M*uosonv'Ak- 
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W. Dzierzynsky: 


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ftbergange von den Scheitelbeinen zum Hinterhauptbein in der Lambdagegend auf 
der AuBenflache eine Einkerbung, wahrend die innere Flache des Schadels an dieser 
S telle keine Unebenheiten zeigt. Die Pyramiden der Schlafenbeine sind massiv. 
Die Lufthohlen der Schadelbasis und die des Stimbeins sind infolge der Verdickung 
der entsprechendcn Knochen schwach ausgepragt. Die Sella turcica ist nach unten 
und vorne hineingedriickt, infolgedessen stehen die Gesichtsknochen hervor. Alle 
Unebenheiten ira Innern des Schadels sind ubermaBig ausgepragt. Verdickung und 
Sklerosierung des Jochbeins. Die Nase ist groB und krumm; der Abstand vom 
Subnasalpunkt bis zur Nasenspitze 2,8. Kein Exophthalmus. Die Zahne sind sehr 
schlecht. Der Gaumen hoch. Die Extremitaten- und Rumpfknochen sind sehr 
dick und massiv, mit ubermaBig ausgepragten Hockern und anderen Unebenheiten. 
Besonders fallt die Dicke der Schlusselbeine auf. Infolge der Verdickung erscheinen 
die Knochen kurz, obgleich sie in Wirklichkeit eine geniigende L&nge haben. 

Der Umfang des Radiokarpalgelenkes = 17,5. 


I II III IV V 


Fingerl&nge . . . 

. .6,0 

6,0 

9,8 

9,8 

11,0 

11,0 

10,0 

10,0 

8,7 

8,7 

Grundphalanx . . 

. 4,0 

4,0 

4,3 

4,3 

5,7 

5,7 

4,3 

4,3 

4,0 

4,0 

Mittlere Phalanx. 

. . 

— 

2,4 

2,4 

2,8 

2,8 

3,6 

3,6 

2,4 

2,4 

Nagelphalanx . . 

. 2,0 

2,0 

3,1 

3,1 

2,5 

2,5 

2,1 

2,1 

2,3 

2,3 


Dex. 

Sin. 

Dex. 

Sin. 

Dex. 

Sin. 

Dex. 

Sin. 

Dex. 

Sin. 


Verheiratet seit dem 20. Lebensjahre. Die Frau war sechsmal schwanger. Zwei 
Kinder starben klein mit 9 und 2 Monaten. Es leben jetzt: 1. Warwara, 13 Jahre 
alt, sie begann im 3. Lebensjahre zu gehen, zu sprechen mit l l 2 Jahren; sie hat 
dieselbe Kopfform wie ihr Vater; die Nase ist krumm, lemt gut; 2. Philipp, 9 Jahre 
a't, im 3. Lebensjahre begann er zu gehen, mit 2 Jahren zu sprechen; Kopfform 
normal; 3. Marja, 6 Jahre alt, im 3. Lebensjahre fing sie an zu gehen; Kopf normal; 
4. Jegor, 5 Jahre alt, fing an mit 2 Jahren zu gehen, Kopf normal. Der Vater, seine 
Briider, Schwestern und Kinder haben alle sehr dicke und machtige Knochen. 

Die anthropologischcn Messungcn des Alexander (I) und Maxim (II), Orlow 
und des Wladimir P. S. (Ill) ergabcn folgende Zalilen: 


Kopf: 

I 

ii 

III 

1. Horizon taler Umfang. 

52,0 

51,0 

53,0 

2. Langsbogen. 

32,5 

31,5 

33,0 

3. Querbogen. 

34,5 

35,0 

37,0 

4. Der groBte Langsdurchmesser. 

17,0 

17,0 

17,5 

5. Der groBte Querdurchmesser. 

13,2 

14,0 

15,0 

6. Der kleinste Stirndurchmesser. 

10,8 

9,0 

11,5 

7. Ohrendurchmesser. 

13,0 

12,0 

13,0 

8. Gesichtslange. 

18,0 

14,0 

17,0 

9. Der groBte Abstand zwischen den Jochbeinbogen . . 

14,0 

12,5 

14,0 

10. Der Jochbeindurchmesser. 

12,5 

11,0 

13,0 

11. Die obere Gesichtsweite. 

10,5 

10,0 

9,5 

1J. Die untere Gesichtsweite. 

12,0 

11,0 

11,0 

13. Der Abstand von der Nascnwurzel bis zum Alveolarrand 

7,1 

6,5 

6,8 

14. Abstand der Nasenwurzel bis zum Subnasalpunkt . . . 

6,0 

4,8 

5,7 

15. Abstand vom Subnasalpunkt bis zur Kinnmitte . . . 

6,3 

5,3 

7,2 

16. GroBte Nason weite. 

3,2 

3,1 

3,5 

17. VVeite d* Nasenriickens zwischen den inneren Augenwinkeln 

2.25 

2,3 

2,2 

18. GroBte Ohrlange . 

6,7 

6,0 

6,5 

19. GroBte Ohrweite. 

3,4 

3,2 

3,9 

20. Der Gesichtswinkel. 

71 c 

84° 

80° 

21. Der sphenoidale Winkel. 

169° 

157° 

141° 


Go 'gle 


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Dystrophia periostalis hyperplastica familiaris. 


555 


Die H6he iiber dem Boden: 

1. Des Scheitels (die Hohe). 165,0 140,0 164,0 

2. Der kuBeren Ohroffnung. 150,5 126,0 151,0 

3. Der Kinnspitze. 142,0 119,0 145,0 

4. Der 7. Halswirbel. 138,0 113,0 139,0 

5. Des oberen Schulterfortsatzes. 137,0 110,0 139,5 

6. Des Epicondylus des Ellenbogens. 103,0 86,0 106,0 

7. Des Processus styloideus des Radius. 80,0 66,0 81,5 

8. Des unteren Endes des Mittelfingers. 64,0 52,0 62,5 

9. Des Jugulum des Brustbeins. 137,0 112,5 136,0 

10. Der Brustwarzen. 121,5 105,0 120,0 

11. Des oberen Randes der Symphisis oss. pubis .... 88,0 72,0 84,5 

12. Der Spina iliaca anterior superior. 96,0 86,0 97,5 

13. Des Trochanter major. 84,0 72,0 90,0 

14. Der Naht des Dammes. 78,0 69,0 79,0 

15. Der Linie des Kniegelenkes. 54,0 44,0 51,5 

16. Des inneren FuBknochels. 7,0 6,0 7,0 

1. Brustumfang in der Hohe der Achselhohlen. 67,0 90,0 88,0. 

2. Die groBe Armspannweite. 126,0 167,0 168,0 

3. Lange der FuBsohle . 21,0 25,0 25,0 

4. Umfang in der Nabelhohe. 58,0 84,0 78,0 


Indem wir die Ergebnisse der Untersuchung in bezug auf die Familie 
Orlow zusammenfassen, miissen wir vor allem die Erkrankung als eine 
Familienerkrankung anerkennen, vcn 22 Mitgliedem leiden 12 an Defor- 
mationen des Knochengeriistes. Hauptsachlich sind das Deformationen 
des Schadelbaues, und der Fingerphalangen. GewiB konnten nur stark 
ausgepragte Abweichungen vom normalen Schadelbau die Aufmerksam- 
keit der Umgebung auf sich lenken, es ist daher anzunehmen, daB mehr 
als 5 Familienmitglieder diese Abweichungen aufwiesen. Pers6nlich habe 
ich die nicht normal gebauten Kopfe bei 7 und 7 b untersucht. In beiden 
Fallen handelt es sich um akrocephale Schadelform, das heiBt um eine 
solche, die durch vorzeitiges Verwachsen der Coronar- und Pfeilnahte 
bedingt ist. 7 b weist anBerdem ein iibermaBiges Hervortreten der Occi- 
pitalschuppe auf, was in Zusammenhang mit dem kompensatorischen 
Wuchse dieses Knochens infolge der Verknocherung der erwahnten 
Nahte gebracht werden muB. AuBer dem Verwachsen der Schadeldach- 
nahte ist auf den Rontgenogrammen eine starke Verdickung imd In¬ 
duration der Knochen zu sehen. Die Gesichtsknochen sind auch stark 
verdickt. Alle diese Erscheinungen sind gewiB das Resultat der osteo- 
genen Hyperfunktion der Knochenhaut, die als Bildner der Belegknochen 
erscheint. 

Die Schadelbasis ist auch stark verandert. Eine starke Inklination der 
oberen AugenhShlenwand nach unten, eine iibermaBig niedrige Lage der 
mittleren Schadelgrube und horizontale Lage des Foramen occipitale 
magnum. Da solche Veranderungen der Schadelbasis bei sporadischen 
Oxy-, Akro- und anderen Cephalien im Zusammenhange mit vorzeitiger 


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556 


W. Dzierzynsky: 


Verwachsung der Schadeldachnahte beobachtet werden, muB man an- 
nehmen, daB sie als kompensatorische bei diesen Deformationen er- 
scheinen. Die Schadelbasis ist knorpeligen Ursprungs, deshalb miissen 
diese Deformationen mit der abnormen Entwicklung der Knorpellamellen, 
beeinfluBt durch die Verletzung der harmonischen Verknocherung und 
Wuchses des ganzen Schadels, in Zusammenhang gebracht werden. Die 
Senkung der mittleren Schiidelgrube ist von hinten durch den abnormen 
Knoehenwuchs sowohl an der Stelle der Synostosis der Hinterhaupt- und 
Keilbeine, als auch im Gebiete der Knorpellamelle zwischen dem hinteren 
und vorderen Paare der Verknocherungszentren der beiden Keilbeine 
bedingt; von vome hangt die iibermaBige Neigung der Augenhohlen von 
der abnormen Inklination der Ala parva, auch von der Neigung des 
Orbitalfortsatzes des Stirnbeins und in geringerem MaBe von dem 
Ethnoidalbein ab. Die horizontale Lage des Foramen occipitale hangt von 
dem abnormen Zusammenwachsen der vier embryonalen Knochen ab, 
die diese Offnung umgeben. Der Prognatismus des Oberkiefers ist hier 
ein Pseudoprognatismus, da er nicht durch die iibermaBige Entwicklung 
desselben, sondem durch die niedere Lage des Keilbeinkorpers bedingt 
ist. 

Als nachstes charakteristisches Merkmal dieser Familiendysostosis 
erscheinen die Veranderungen in den Phalangen. Anamnestisch sind 
sie bei zehn Familienmitgliedem festgestellt, persflnlich habe ich sie bei 
7 und 4c feststellen konnen. Diese Veranderungen erscheinen als Ver- 
dickung und Verkiirzung der Phalangen und Deformation der Gelenke, 
was die Verminderung der Bewegungsamplitiide hervorruft. 7 wies eine 
Affektion des einen Fingers, 4 c symmetrisch auf drei Fingem auf. Die 
Verkiirzung hangt von der vorzeitigen Verknocherung des Knorpels der 
betroffenen Phalangen und die Verdickung von der iibermaBigen peri- 
ostalen Verknflcherung ab. Auf diese Weise muB auch dieses Symptom 
der osteogenen Hyperfunktion der Knochenhaut angerechnet werden. 

Weiter kommt das wesentliche, aber charakteristische Merkmal dieser 
Dysostosis, namlich das iibermaBig gewolbte Brustbein bei 7 und 7b. 
Das erscheint auch als Resultat derselben Ursache. 

Aus den anamnestischen Angaben ist zu ersehen, daB die Kopf- 
deformation von der Geburt an beobachtet wurde. 

7 und 7 b fingen spat an zu gfchen, Beinchen und Armchen waren bei 
ihnen krumm. Das Angeborensein der Knochendystrophie und die 
hyperplastischen Knochenveranderungen sind ein geniigender Beweis 
gegen die Annahme eines rachitischen Ursprungs dieser Knochenver¬ 
anderungen. 

In der Familie W. P. S. ist bei zwei Mitgliedem (bei Vater und Toch- 
ter) eine oxycephalische Schadelform zu beobachten, die durch das vor- 
zeitige Verwachsen der Seitenteile des Coronar- und des hinteren Teiles 


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Dystrophia periostalis hyperplastica familiaris. 


557 


der Sagittalnaht bedingt ist. Die ROntgenogramme des Schadels von 
W. P. zeigen eine UbermaBige Verdickung des Schadeldaches und das 
Verwachsen aller Nahte, und der Kopfform entsprechend eine Senkung 
der Sella turcica. Das weist zweifellos auf eine osteogene Hyperfunktion 
der Knochenhaut hin. 

Die bei vielen Mitgliedem derselben Familie beobachtete allgemeine 
ubermaBige Dicke und Machtigkeit der Knochen bei normalem Wuchs 
weist auch auf diese Hyperfunktion hin. Die photographische Aufnahme 
des W. P. zeigt, wie dick die Finger und die Schliisselbeine sind. 

Auf diese Weise miissen wir in dieser Familie eine allgemeine uber¬ 
maBige knochenbildende Funktion der Knochenhaut anerkennen, die 
in einzelnen Fallen ein vorzeitiges Verwachsen der Schadelnahte ver- 
bunden mit einer entsprechenden Deformation, hervorgerufen hat. 

Es gelang mir trotz der genauesten Nachforschungen nicht, in der 
Literatur ahnliche Falle zu finden. M5glicherweise hangt das davon ab, 
daB ahnliche Kranke entweder die Defekte ihres Knochensystems nicht 
empfinden oder wenn die Schadeldeformation sehr auffallt, bemiiht sind, 
dieselbe aus falscher Scham zu verbergen. 

Beide Familien sind von mir zufallig entdeckt worden, da 7 (Orlow) 
wegen Darmatonie und W. P. S. wegen seines Herzfehlers bei mir arzt- 
lichen Rat suchten. 

Wir werden deshalb solche Falle aus der Literatur erwahnen, die 
nur einen gewissen Zusammenhang mit unseren Beobachtungen haben. 
Dazu gehOren die Beobachtungen von Kopfdeformation, die durch vor¬ 
zeitiges Verwachsen der Nahte hervorgerufen wurde und bei einigen 
Familienmitgliedem festgestellt wurde. Mane hot 1 ) berichtet von einem 
Saugling, der einen oxycephalischen Kopf besaB. Seine Mutter und 
Tante zeigten dieselbe Deformation. Bei der Mutter entstand spaterhin 
eine zweiseitige Atrophie der Sehnerven, die der Meinung des Autors nach 
durch die Verengung des Sehnervkanals hervorgerufen wurde. 

Oiler 2 ) hatte bei Zwillingen eine oxycephahsche Schadelform beob- 
achtet, dieselben wiesen auch eine Atrophie der Sehnervpapillen auf. 
Velhagen 3 ) beobachtete eine Oxycephalie bei Bruder und Schwester; 
der Bruder wies auch eine Atrophie der Sehnervpapillen auf. Da in 
diesen Fallen die Autoren ihre Aufmerksamkeit hauptsachlich der Augen- 
affektion schenkten, so wurde, auBer dem Schadel, das Knochengeriist 
nicht geniigend untersucht. Moglich, daB auch hier eine primare hyper- 
plastische periostale Dystrophie vorhanden war, moglich aber nicht, 
da ein partielles Verwachsen der Schadelnahte auch durch andere ort- 
liche Ursachen bedingt sein konnte. 

x ) Berl. Klin. Wochenschr. 1911. 

2 ) Atlas der Ophthalmoskopie 1897. 

3 ) Miinchn. med. Wochenschr. 1904. 


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558 


W. Dzierzynsky: 


A pert ‘) berichtet von folgender Beobachtung: Ein Kind von 15 Mo- 
naten hat einen sehr hohen Kopf, die Stim hebt sich steil in die H6he; 
die vordere Fontanelle befindet sich auf dem obersten Punkte des Scha- 
dels; von dieser Fontanelle senkt sich der Schadel nach hinten und unten, 
in der Hinterhauptgegend senkrecht dem Halse zu, ohne eine Hinter- 
kopfwolbung zu bilden. Diese Schadelform nannte der Autor in An- 
betracht ihrer H6he eine akrocephalische, was aber nicht ganz zutreffend 
ist, da unter diesem Namen anthropologisch hohe Kopfe mit einer In- 
klination des Stirnbeins nach oben und hinten gemeint werden. Bei 
demselben Kinde wurde auch an den Handen und FiiBen Syndaktylie 
beobachtet. 

VonGalippe und Magnan wurde ein debiles Subjekt beobachtet, 
das einen brachy-plagio-oxycephalischen Kopf, ein asymmetrisches Ge- 
sicht, eine Atresie der Lippen und Syndaktylie an alien Extremitaten 
aufwies. Galippe hatte auch einen zweiten ahnlichen Fall beobachtet. 
Fournier hat ein syphilitisches Kind mit Oxycephalie und Syndaktylie 
an den Handen und FiiBen beschrieben. Ahnliche Falle werden auch von 
Dubrisay und Wheaton erwahnt. Da die Schadeldeformation hier, 
stereotyp mit Syndaktylie aller Extremitaten verbunden, in mehreren 
Fallen auftritt, so muB hier eine gemeinsame Ursache angenommen wer¬ 
den, die dieses Syndrom hervorruft. Der Schadelbau ist durch das teil- 
weise vorzeitige Verwachsen der Nahte bedingt und die Syndaktylie 
mdglich durch die abnorme vorzeitige Verknocherung der entsprechenden 
Knorpel; das ist aber nur eine Vermutung, da wir bis jetzt noch keine 
genauen Kenntnisse iiber die Genesis dieses Syndroms besitzen und nur 
die Zukunft kann uns iiber seine Beziehung zu anderen Knochen- 
dystrophien belehren. 

Crouzon 1 ) beschrieb unter dem Namen Dysostosis cranio-facialis 
hereditaria eine Krankheit bei Mutter und Sohn, bei denen beobachtet 
wurde — in der Stimbeingegend — ein Knochenhocker, Prognatismus, 
krumme Nase, Exophthalmus, Strabismus, Krampfanfalle, hohe Lage der 
Sella turcica, trigono-scapholo-cephalischer Kopf. Nach der Beschrei- 
bung zu urteilen, ist das eine ortliche Dysostosis familiaris gewesen und 
keine allgemeine, wie in meinen Beobachtungen. 

Zu erwahnen sind noch sporadische Falle von Oxy- und anderen 
Cephalien, die durch vorzeitiges Verwachsen der Schadelnahte bedingt 
sind. Nach den literarischen Angaben und eigenen Beobachtungen von 
18 Fallen stehen die sporadischen Oxycephalien uberhaupt in keinem 
Zusammenhang mit der allgemeinen Hyperplasie der Knochen; das wird 
durch das Fehlen einer allgemeinen Verdickung der Knochen, durch die 
oft zu beobachtende Verdiinnung der Schadelknochen und die durch die 

x ) Maladies familiales 1907. 

2 ) La presse inedicale 1912. 


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Dystrophia periostalis hyperplastica familiaris. 


559 


Anamnese festgestellte hauf ige Rachitis, die ihre Spuren bei Erwachsenen 
hinterlaBen, bestatigt. Es ist aber anzunehmen, daB in Zukunft auch 
sporadische Falle dieser Dystrophie zu beobachten sein werden. 

Indem wir die sporadischen Oxycephalien erwahnen, miissen wir 
darauf hinweisen, daB die Erklarung fur die Genese der Sehnerven- 
atrophie, die von Bertolotti 1 ) u. a. stammt, fiir dieses Syndrom kaum 
zutreffend ist. Diese Autoren bringen die Atrophie und die Lordose in 
Zusammenhang. Ich habe aber auf keinem der Rdntgenogramme dieser 
Forscher eine derart kolossale Lordose, wie bei A. Orlow feststellen 
kdnnen, bei letzterem sind aber die Sehnerven vollstandig intakt. 

Zum Schlusse werde ich eine vergleichende Tabelle der Krankheits- 
erscheinungen der gegeniiberstehenden Krankheiten, namlich der von 
P. Marie und der von mir beschriebenen. anfiihren. 


I. DyBtrophia periostalis hypopla- 
stica familiaris (Dysostosis clei- 
do-cranialis): 

1. Langes Offenbleiben der Fon- 
tanellen. 

2. Vorhandensein weiter freier 
Zwischenraume in den norma- 
len Nahten und vieler iibriger 
Nahte, die lange nicht ver- 
wachsen. 

3. Verdiinnung der Schadeldach- 
knochen. 

4. Hydrocephalische Kopfform. 


5. Kyphosis der Schadelbasis. 

6. Flaches Gesicht mit Einsen- 
kimg der Nase. 

7. Niedriger Wuchs. 

8. Unvollstandige Entwicklung 
und Erweiterung der medulla- 
ren Kanale in den Rohren* 
knochen. 

9. Unvollstandige Entwicklung 
der Schliisselbeine. 

10. Familiarer Charakter und An- 
geborensein der Erkrankung. 


II. Dystrophia periostalis hyper- 
plastica familiaris: 

1. Vorzeitiger SchluB der Fon- 
tanellen. 

2. Vorzeitiges Verwachsen der 
Nahte. 


3. Verdickung der Schadeldach- 
knochen. 

4. Kopfform, entsprechend der 
Reihenfolge, in welcher die 
Nahte verwachsen (Oxy-, Akro- 
und andere Cephalien). 

5. Lordose der Schadelbasis. 

6. Hervorspringendes Gesicht 
ohne Naseneinsenkung. 

7. Normaler Wuchs. 

8. UbermaBig massives Knochen- 
geriist; Verdickung der langen 
und kleinen Knochen. 

9. GbermaBige Dicke der Schliis- 
selbeine. 

10. Familiarer Charakter und An- 
geborensein der Erkrankung. 


x ) Iconographie de la Salpetriere 1912. 


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560 W. Dzierzynsky: Dystrophia periostalis hyperplastica famiiiaris. 

Die Ursache der osteogenen Hyperfunktion der Knochenhaut muB 
als nicht genau bekannt anerkannt werden; hochstwahrscheinlich hangt 
sie von irgendwelchen Veranderungen im allgemeinen Stoffwechsel ab, 
die durch abnorme innere Driisensekretion hervorgerufen sind. 

Ob diese Dystrophie sekundare Erscheinungen seitens des Gehims 
infolge der abnormen Schadelentwicklung hervorrufen kann — wird 
die Zukunft zeigen. 

Figuren 1, 2, 3, 4 = Alexander Orlow; 5, 6, 7 = Maxim- Orlow; 8. 9 und 10 
= Wladimir P. 8. 


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Psychiatrische Erfahrungen mit dem Abderhaldenschen 
Dialysierverfahren. 1 ) 

Von 

Siegfried Maass. 

(Aus der Heilanstalt Dosen in Leipzig.) 

(Eingegangen am 3. November 1913 ) 

Das Verdienst, als erster serologische Untersuchungen an Geistes- 
kranken mit Hilfe des Abderhaldenschen Dialysierverfahrens in 
groBerem Umfange vorgenommen zu haben, gebuhrt Fa user. Seit 
der Veroffentlichung seiner ersten Resultate ist kaum ein Jahr 
verflossen, und jetzt (Ende Oktober) liegt schon eine stattliche 
Zahl von nachpriifenden und weiterbauenden Arbeiten vor, die teils 
in Diskussionsbemerkungen und Vortragen, teils in Sonderabhand- 
lungen in den Fachzeitschriften niedergelegt sind. Die Diskusions- 
bemerkungen und Vortrage von Fischer, Brahm, Allers, Willige, 
Roemer, Schroder, Hauptmann und Bumke, und Golla, 
sowie die Abhandlungen von Wegener, Kafka, Neue, Mayer, 
Hussels, Binswanger, Roemer und Bundschuh und Fischer 
diirften neben den mehrfachen von Fa user selber ein vollstandiges 
Verzeichnis der bisherigen Autoren bilden. Abgesehen von den ab- 
weichenden Resultaten von Allers, Brahm und Hauptmann und 
Bumke, die noch aus der ersten Zeit stammen und deren Resul¬ 
tate von denen der ubrigen Autoren wesentlich abweichen, kann man 
sagen, daB Fa users Resultate, von denen er zuletzt in Breslau einen 
umfassenden t)berblick gegeben hat, im Prinzip Lestatigt worden sind. 
Soweit einzelne Arbeiten Abweichungen erkennen lassen, beziehen sich 
diese im wesentlichen nur aujf .die Haufigkeit der bei den einzelnen 
Organen und Krankheitsgruppen gefundenen Fermentbildung, wahrend 
die qualitativen Ergebnisse der einzelnen Autoren die gleichen waren. 
Wesentliche neue Aufschliisse haben die bisherigen Arbeiten dagegen 
noch nicht zu Tage gefordert. In rich tiger Erkenntnis der weittragenden 
und verantwortungsvollen Bedeutung dieses neuen Forschungsgebietes 
ist bisher der Hauptwert auf die Nachpriifung der Fauserschen Be- 

*) Nach einem auf der 19. Versammlung mitteldeutscher Psychiater und Xeu- 
rologen in Jena am 2. November 1913 gehaltenen Vortrage. 


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562 


S. Maass: 


fund© — zugleich als Priifstein der eigenen, eine so wichtige Rolle 
spielenden Technik — gelegt worden. Erwahnenswert ist nur, daB 
Untersuchungen einzelner Krankheitsgruppen sowie mit einzelnen bis- 
her nicht verwendeten Organen zu den durch Fa user bekannten Er- 
gebnissen hinzugetreten sind. Hierher gehOren die interessanten Befunde 
Kafkas bei Stoning der Driisen mit innerer Sekretion, sowie der 
wiederholt bei Dementia praecox gefundene Nebennierenabbau durch 
denselben Autor und der von Prostata bei arteriosklerotischem Irresein 
von Neue gefundene. 

Man wird also den augenblicklichen Stand der mit dem Abder- 
haldenschen Dialysierverfahren fur die Psychiatric festgestellten Er- 
gebnisse dahin formuheren konnen, daB bei Geistesgesunden, reinen 
Fallen manisch-depressiven Irreseins und einfachen psychopathischen 
Zustanden eine durch Fermentbildung nachweisbare Zellstoffwechsel- 
storung eines pathogenetisch in Betracht kommenden Organs bisher 
nicht gefunden ist. Dagegen lassen die mit bestimmten Veranderungen 
des Gehimaufbaues verbundenen Psychosen — die metaluischen, die 
Psychosen des Seniums und die auf chronische Intoxikation zuriick- 
zufuhrenden, die Dementia praecox und die Epilepsie unter bestimmten 
klinischen Voraussetzungen, blutfremde Abbauprodukte des Gehirn- 
stoffwechsels in der Blutbahn durch Fermentbildung erkennen. Bei 
der Dementia praecox lassen sich neben diesen gegen Gehim- 
substanz gerichteten Abwehrfermenten in weitaus der Mehrzahl der 
Falle auch solche auffinden, welche gegen Stoffwechselstdrungen in 
den Geschlechtsdriisen eingestellt sind, unter Wahrung der Geschlechts- 
spezifitat. Bei den mit Storungen der Driisen mit innerer Sekretion in 
Verbindung stehenden Psychosen laBt sich neben der Stdrung des 
Gehimstoffwechsels eine solche dieser Driisen feststellen; so vor allem 
bei den Basedowspychosen oder denen thyreogenen Ursprungs uber - 
haupt, eine Fermentbildung gegen Schilddriise, welche sich in einera 
vorlaufig noch als schwankend angegebenen Prozentverhaltnis auch 
bei der Gruppe der Dementia praecox gefunden hat. Auf Einzelheiten 
wird bei der Besprechung der eigenen Ergebnisse erforderlichenfalls 
zuriickzukommen sein. 

Be vor auf diese naher eingegangen wird, seien einige Bemerkungen 
iiber die angewandte Technik vorausgeschickt. Es erscheint dies 
notwendig, weil bei einer so exaktes Arbeiten erfordemden Methode 
wie dem Dialysierverfahren nur bei der Voraussetzung einer in jeder 
Hinsicht gleichen Technik sicher vergleichbare Resultate zu erwarten 
sind. Wie wichtig aber die genaueste Innehaltung der Vorschriften 
Abderhaldens ist, zeigt der anfangliche Zweifel an der klinischen 
Verwertbarkeit der Methode fur die Diagnose der Schwangerschaft, 
an der Spezifitat der Fermente etc. Die Behauptungen dieser Arbeiten 


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Psychiatrische Erfahrungen mit dem Abderhaldenschen Dialysiervorfahren. 563 

wurden durch spatere Nachpriifungen entkraftet, und fast immer 
scheint falsche Technik der Grund dieser Fehlresultate gewesen zu sein. 
Wie oben erwahnt, finden sich auch in der psychiatrischen Literatur 
der ersten Zeit einige mit den sonstigen Erfahrungen nicht iiberein- 
stimmenden Resultate, welche teilweise vom Autor selber auf technische 
Mangel zuriickgefiihrt werden. Da aber jetzt in fast jeder Arbeit auf 
diese Punkte unter Angabe der besonderen Schwierigkeiten und ge- 
fundenen Fehlerquellen hingewiesen wird, ist auf eine weitere Einheit- 
lichkeit der Resultate durch gleichmaBige Ausmerzung dieser Fehler¬ 
quellen zu hoffen. Dagegen erscheint es nicht zweckmaBig, bevor wir 
iiber eine grOBere Erfahrung verfiigen als es augenblicklich noch der 
Fall ist, auch nur in einzelnen Punkten von der Originalmethode ab- 
zuweichen. Hierher sind die Verwendung kleinerer Serummengen 
(Kafka, Hussels), die Entblutung der Organe (Goudsmit) und Art 
und Zahl der Kontrollen zu rechnen, worauf noch zuriickzukommen 
sein wird. 

Das Verfahren wurde streng nach den in dem physiol. Institut zu 
Halle erlemten Vorschriften ausgefiihrt, die spateren verscharften Vor- 
schriften sofort angewendet, besonders soweit diese die Preparation 
und Priifung der Organe betreffen. Die Blutentnahme wurde bei 
uns fast regelmaBig morgens und in niichtemem Zustande vorgenommen, 
das Serum mit wenigen Ausnahmen innerhalb 24 Stunden verarbeitet. 
Bei der Blutentnahme bedienten wir uns der von La m p6 und Pa pazolu 
und von Roemer gegebenen Vorschriften mit gutem Erfolge. Als 
Serummenge wurden 1,5 ccm angewendet. In einigen in den Tabellen 
vermerkten Fallen, bei denen nur 1,0 ccm Serum genommen werden 
konnte, war das bei friiheren Untersuchungen positive Resultat meist 
negativ, sodaB bei fehlender sonstiger Erklarungsmoglichkeit hierfiir 
vielleicht die geringere Serummenge als Ursache der negativen Reaktion 
angenommen werden muB. Die Angabe Kafkas, daB 1,0 ccm Serum 
vollstandig geniige (auch Hussels nimmt nur 1,0 ccm), kann daher 
von uns nicht ohne weiteres bestatigt werden; es scheint empfehlens- 
wert, hieriiber weitere Erfahrungen zu sammeln. Dagegen ist diese 
Serummenge bei fieberhaften Erkrankungen nach mundlieher Mitteilung 
von Herm Prof. Abderhalden oft geboten, da das Serum — wie wir 
uns in einigen Fallen iiberzeugen konnten — schon an und fiir sich mit 
Ninhydrin reagierende Stoffe enthalt, welche bei dieser geringen Dosis 
dann meist in Fortfall kommen. An Kontrollen setzten wir auBer 
der von jedem Serum noch die des benutzten Organs mit inaktiviertem 
Serum an. Diese Kontrolle ist jetzt mit Recht gebrauchlicher als die 
in der ersten Zeit von uns noch angewandte Organkontrolle mit NaCl, 
weil sie zuverlassiger als letztere ist. Das Dialysat der NaCl-Kontrolle 
hat nur eingeengt verwertbare Bedeutung. Im iibrigen beobachteten 


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564 


S. Maass: 


wir bei gut bereitetem und konserviertem Organ analog der negativen 
Kochprobe auch keine positive Organkontrolle (ebenso Roemer und 
Bundschuh). Dagegen wurde auf die von Kaf ka als ideale Forderung 
aufgestellten und von Hussels (und Roemer und Bundschuh) 
durchgefiihrten weiteren Kontrollen: doppelte Versuchsausfiihrung und 
NaCl-Organkontrolle, verzichtet; bei letzterer aus den schon ange- 
gebenen Griinden, bei ersterer, weil, vorausgesetzt gutes Hiilsenmaterial 
und sonst genaues Arbeiten, die Methode ihre praktische Brauchbarkeit 
bei Innehaltung der oben erwahnten gebrauchlichen zwei Kontrollen 
geniigend bewiesen hat, andererseits Blutokonomie und die Wichtigkeit 
der Verwendung mehrere Organe die Entnahme der hierfiir sonst notigen 
Blutmenge oft unmftglich machen. Dagegen scheint sich nach unseren 
Erfahrungen durch in kiirzeren Zeitraumen wiederholte Nachunter- 
suchungen — die ja auch vom klinischen Standpunkt aus dringend 
notwendig sind — eine ahnliche und gut vergleichbare Kontrolle der 
Einzelresultate erzielen zu lassen. Auch zeigen die vereinzelten paradoxen 
Reaktionen, die Hussels unter seinen Versuchen auffiihrt und auf 
mangelhafte Blutfreiheit der verwendeten Organteilchen bezieht, daB 
man trotz zahlreicher und negativer Kontrollen vor gelegentlichen 
Versuchsfehlern nicht absolut sicher ist. Nach der — moglichst oft — 
vorzunehmenden Peptoneichung sind die Hiilsen besonders gut zu 
wassem; wir beobachteten, mutmaBhch hierauf zuriickfiihrbar, in einer 
Versuchsreihe nur positive Reaktionen, einschlieBlich Kontrollen. 
Neben sonstigem vorschriftsgemaBem Arbeiten muB auf Vermeidung 
von positiven Pseudoreaktionen durch Anfassen der Hiilsen mit den 
Fingern Wert gelegt werden; die Hiilsen werden mit Pincetten gefaBt 
und aus einer Spritzflasche mit dest. Wasser griindlich abgespiilt, bevor 
sie in die Kolbchen gesetzt werden. Das Organ verwendeten wir — 
wde auch Kafka — vorlaufig ohne Riicksicht auf seine histologische 
Struktur; speziell wurde auch keine isolierte Himrinde, sondern das 
Gehirn als Ganzes benutzt. Gegeniiber der miihsamen und in ihrem 
Endeffekt oft gamicht im voraus bestimmbaren (Roemer und Bund¬ 
schuh) Herstellung der Leichenorgane ist aus der Arbeit von Tschud - 
now r sky die Mitteilung der kurzen Haltbarkeit der Placenta bis zum 
Wiederauftreten der Ninhydrinreaktion bemerkenswert, da doch dieses 
Organ lebensfrisch prapariert werden kann. Kafka, Roemer und 
Bundschuh und Fischer weisen auf beachtenswerte Erfahrungen in 
der Verwendbarkeit und Herstellung von Leichenorganen hin, aus denen 
zugleich die groBe Abhangigkeit der Untersuchungen von der Beschaffen- 
heit dieser Organe hervorgeht. Diese Frage bildet ja auch den Kem- 
punkt der Fehlerquellen. Bei unseren eigenen Fehlreaktionen handelt 
es sich fast ausschlieBlich um solche mit Ovarialsubstanz, trotzdem die 
Bereitung dieses Organs scheinbar stets gut gelungen war und die 


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Psychiatrische Erfahrungen mit dem Abderhaldenschen Dialysierverfahren. 565 

Kontrollproben negativ waren. Es bestatigt dies nur wieder, daB man 
durch einzelne, sich erst durch das Resultat als ungeniigend erweisende 
Organteilchen zu falschen Resultaten kommen kann. Mit um so grflBerer 
Freude ware es daher zu begriiBen, wenn sich die in dem letzten Aufsatz 
von Abderhalden gemachten Aussichten iiber die Anwendbarkeit 
von Tierorganen — die in den ausfiihrlichen Versuchen von Fischer 
(auch Neue und Mayer haben einige derartige Versuche gemacht) 
allerdings noch keine Bestatigung erkennen lassen — erfiillen lieBen, 
um die Benutzung von Leichenorganen wenigstens teilweise unnotig 
zu machen. Analog den bei Basedow gemachten Erfahrungen, daB 
solche Schilddriise haufiger als normale abgebaut wird, wurden von uns 
einige Untersuchungen mit normalem und Paralytikergehim bei Kran- 
ken letzterer Art gemacht; es zeigte sich kein wesentlicher Unterschied. 
Der groBte Teil der Organe wurde uns in dankenswertester Weise aus 
dem pathologischen Institut der Universitat (Geh. Rat Marchand) 
zur Verfiigung gestellt. Die von Mayer er6rterte und wohl denkbare 
Befiirchtung der Organfaule in der Hiilse scheint am geringsten zu sein, 
wenn gut entblutete und konservierte Organe verwendet werden, die 
sich ja ganz gut einige Zeit versuchsfertig halten lassen. Bei der Be- 
urteilung der Reaktion ist nie die Farbung in dicker Schicht zu 
vergessen, da schwache Reaktionen, nur durch Halten der Rohrchen 
gegen einen weiBen Hintergrund, oft der Beobachtung entgehen. SchlieB- 
lich sei darauf hingewiesen, daB alle Vorbereitungen (einschlieBhch 
Blutentnahme) und die eigentliche Versuchsausfuhrung zweckmaBig 
in einer Hand hegen; bei unseren Untersuchungen war dies der Fall. 

Dieser Arbeit liegen 213 Untersuchungen bei den verschiedensten 
Geistesstorungen zugrunde. Hierunter befinden sich 33 Falle, bei denen 
die Untersuchung einmal und ofter wiederholt worden ist. Auf die 
Wichtigkeit derartiger Nachuntersuchungen ist von Abderhalden be- 
sonders hingewiesen worden und Fauser, Fischer, Kafka, Mayer, 
Binswanger und Roemer und Bundschuh haben dem bei ihren 
Arbeiten in mehr oder weniger groBem Umfange Rechnung getragen. 
Es ist zu erwarten, daB gerade durch haufigere Untersuchung desselben 
Falles sich Einblicke in die gegenseitige Beziehung und Dauer des ge- 
fundenen Abbaus erzielen lassen, wodurch wieder bisher noch groBten- 
teils vermiBte Erklarungen und Zusammenhange zwischen serologischem 
Befund und klinischem Zustandsbild moglich wurden. Eine groBere 
Erfahrung auf diesem Gebiet kann — wie dies Binswanger fur die 
Epilepsie treffend entwickelt — in der Feststellung der Prognose und 
des therapeutischen Erfolges die klinischen Untersuchungsmethoden 
schatzenswert erganzen. Die Untersuchung ist groBtenteils bei mann- 
lichen Individuen vorgenommen, da von diesen die Blutentnahme 
psvchisch besser vertragen wird und auch ofter ausgefiihrt werden kann 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XX. 3Q 


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566 


S. Maass: 


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als bei Frauen; doeh war besonders bei frischeren und gespannten 
Kranken mit Dem.praec. wiederholt ein ungiinstiger Einf luB der Blut- 
entnahme feststellbar, weil an diese Wahnideen im Sinne der korper- 
lichen Beeintrachtigung gekniipft wurden. 

Die gefundenen Resultate sind nach Krankheitsgruppen in Tabellen- 
form wiedergegeben; hierdurch wird der Uberblick iiber das groBere 
Material erleichtert, die Nachuntersuchungen lassen sich besser ver- 
gleichen. Auf kurze Angabe des klinischen Zustandsbildes bei der 
Untersuchung ist deshalb Wert gelegt worden, um mit einigen Stich- 
worten ein moglichst abgerundetes Bild zwischen klinischem und sero- 
logischem Befund geben zu konnen. Durch Beifiigung der Protokoll- 
nummem lassen sich die eine Versuchsserie bildenden Falle ungefahr 
zusammenstellen. Eine groBere Beriicksichtigung des psychischen Zu- 
standes bei der Blutentnahme bei spateren Arbeiten scheint wiinschens- 
wert; sie findet Ach schon in den Arbeiten von Roemer und Bund- 
schuh und von Fischer. Auf Wiedergabe der Kontrollen wurde ver- 
zichtet; nur die Versuche, wo alle Vorbedingungen erfiillt waren, sind 
wiedergegeben; dagegen sind paradoxe Resultate bei negativen Kon¬ 
trollen mitaufgefiihrt. Es bedeuten: (+) schwach positiv (nur in dicker 
Schicht erkennbar) ;+,+ + > + + + deutlich, stark und sehr stark positiv. 

Nach dem Vorgange von Kafka sind ferner fragliche Resultate 
mit ?, wahrscheinlich positive mit ? + , wahrscheinlich negative mit ? — 
bezeichnet worden. 


Tabelle I. Psychisch intakt. 


i 

Nr. 1 

Protokoll 

Nr. 

Name 

1 

J Gehirn 

Hoden 

Thyreoid 

| Varia 

1 

«2 

M. o’ 

— 

_ 

_ 


2 

82 

K. a* 

— 

— 

< 1-) 


3 

8j 

St. o’ 1 

— 

i — 



4 

99 

F. c? 

-— 

— 


Ovar.: — 

f) 

Of) j 

15- 'f 1 

o- 

1 — 

i — 


6 

102 

W. C T 

— 

! — 

— 


7 

107 

U. r-T 

— 

— 

, — 


8 

113 

A. , T 

: — 

— - 

1 — 


9 

124 

H. o' 

— 

— 

■ _ i 

10 

12f) 

St. cf 


— 

1 

Adren.: — 

11 

131 

1). a* 

/ (H\) 

— 

— i 

12 

2< >8 ! 


\ - 



13 ; 

140 1 

Z. a" 1 


— 

— j 

1 4 | 

144 

W. Y 

— 

— i 

— J 

if) ! 

155 

11. ^ , 

— 

_ I 

_| 


16 1 

If; 7 

Cm. 

— 

— 

— 


17 

1 »>2 

T. .-V 

— 

— 

— 


18 , 

160 

H. , T 

| 


— 


10 

Iff; 

L. 



— 


20 

19 5 

W.T 

— 

; : §&& -: ; 

— 


21 

197 

AI. c* 

— 

— 

— 


22 i 

201 

11. o' 

— 

— 

— 



Go 'gle 


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Psychiatrische Erfahrungcn mit dem Abderhaldenschen Dialysierverfahren. 567 


Bei den 21 normalen Fallen handelt es sich fast ausschlieBlich 
urn Pfleger, a Is gesund geltende und meist jiingere Personen. Wie aus 
der Tabelle ersichtlich, fand sich einmal schwache Fermentbildung 
gegen Schilddriise (2), in Fall 5 eine deutliche gegen Gehim. Die gleich- 
falls schwach positive gegen Gehirn in Fall 15 fiel bei der Wiederholung 
negativ aus und ist jedenfalls auf einen Versuchsfehler zuriickzufiihren. 
In den beiden anderen Fallen lieB sich ein klinischer Grand fur die 
Fermentbildung nicht nachweisen; bei fehlender Nachuntersuchung 
muB die Richtigkeit des Befundes dahingestellt bleiben. Von diesen 
zwei positiven Reaktionen abgesehen, zeigte sich in den ubrigen Fallen 
weder ein Abbau von Gehirn, Hoden und Schilddriise, noch von den 
einmal angewandten Nebenniere und Ovar. Man muB Fa user und 
Kafka beipflichten, daB die Untersuchung einer groBen Zahl von 
Normalfallen zwecks Kontrolle der Technik und Schaffung eines phy- 
siologischen Ausgangsmaterials fur alle Versuche dringend erforderlich 
ist. Die Mitfiihrang wenigstens eines Normalfalles in jeder Versuchs- 
reihe nach dem Beispiel von Roemer ist daher eine berechtigte For- 
derang, die auch von uns seit dieser Zeit innegehalten wird. Soweit 
Untersuchungen an normalen Personen vorliegen, fanden Fa user, 
Roemer und Bundschuh, Kafka (17F.), Lampe und Papazolu 
(30 F). niemals Abbau von Gehim, Keimdriisen, Schilddriise etc., 
wahrend Hauptmann und Bumke so wie Neue gelegentlich Abbau 
einzelner dieser Organe fanden. Doch werden hier Versuchsfehler ver- 
nmtet oder scheinen solche vorzuliegen. 


Tabelle II. Dementia praecox. 
A. Frische Falle. 



Tro- 

a 

i s 

a i s 

2 

o 


Klintaehp 


Nr. 

tokoll | 

Name ii 

® I H 

<v ■ 

fl 


Klinisches Zustandsbild 


Nr. 


O 1 > 


*T3 

Diagnose 




6 

a o 

H 

< 



1 

41 

A. J + + 

j _ 

— 


Katatonie 

Stupor os. 

•> 

42 

( + + + 

j + 

1 


Hebephrenie 

L&ppisch; oft gehemmt und ab- 

3 

120 

R. y 2-4J. V 

— !?+ 

1 



lehnend. 

4 

171 

\ - 

+ +| — 




Unverftndert. 

5 

70 

S. (5 22 J. + 

(+) - 

+ : 


Katatonie 

Stuporos. 

6 

HI 

N.cfl9J. + 


+ i 


Hebephrenie 

Gehemmt und negativiatisch. 

7 

119 

G. rj 27 J. , - 

( + ): 

— , 

— 

Katatonie 

Stuporos. 

H 

130 

K. J' 28 J. ( + ) 

1 | 

— 

(+) 

„ 

Xngstlich, oft impulsiv. 

9 

15G 

B. o' 18 J. ( + ) 

( + )' 

— 


Hebephrenie 

Gehemmt. Halluzinationen und 



1 

i 

| | 



Wahnideen. 

10 

159 

J. 5 1HJ. \ — 

+ 1 



„ 

Gehemmt, ftngsUioh. 

11 

194 

(1,0 Serum) ? 

_ 

— i 



Gleiches Zustandsbild. 

12 

161 

( — 

— | — 

— 


1 

L&ppisch — indolent. 

13 

202 

G. 26 J. l \ — 

1 — | 

— i 



Zahlreiche Halluzinationen und 


1 I 

V 

| 




Wahnideen. 

14 

160 

( — 

:<+> - 

— 


„ 

Maniriert; 8tereotypien. 

15 

IDS 

Sp. >5 20 J. J + 4 

+ + 

+ 


i 

SUlrker ausgesprochen; zahl¬ 



l 

i 

i 


i 

reiche Wahnideen. 








38* 


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568 


S. Maass: 


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(Fortsetzung von Tabelle II.) 


— 

— 

— 

-J_ — 

-7- 



Pro- 

tokoll 

Name 

j 

! 6 
a r s 

® *E 

2 

o 

£ 

£ ■ 

Elinische 

Nr. 

4) 

o 

•o . «t 

& iS 

X! 

H 

•S 

< 

Diagnose j 


Nr. 


+ 

+ + 

(+) 

B. ( 

i 

1 

— 

— — 


— 

+ 

. 

— 

+ i + ! 

t 

— 

? + + 


— 

,< + > - 

i 

+ + 

+ + 


_ 

+ — 


— 

— ! — 


— 

— — 

i + ' 

+ + 

+ , — 

i 

+ + 

+ + ; — 


+ + 

— + 


(+) 

+ | - 

( —! 

<+) 

+ +: — 


+ 

+ 1 — 


— 

+ — 

— 

— 

( + ), - 

i — 

(+) 

+ , — 

, — 

(+) 

( + ) - 

(+) 

— 

( + ) 

(+) 

— 

- - 

— i 

+ 

( + ) 

' — 

— 

— — 

i — 

— 

— ; 

— 

— 

— ’ — 

— 

?— 

— 

■ — 

+ + 

+ <*): - 

+ 

— + 

• — 

+ 

( + ) - 

-! 

+ 

+ ■ 

9_ 

1 

— 

+ — 

- j 

— 

( + ) 


+ 

— — 

?-! 


16 

17 

18 

19 

20 
21 


24 

25 

26 

27 

28 
29 
80 
81 
82 
88 
84 
86 
86 

87 

88 
89 

40 

41 

42 
48 
44 
46 

46 

47 

48 

49 
60 
61 


1 ! G. 

15 j B. £ 

19 I 
29 ! 

46 

165 
211 

20 
163 


106 

82 

86 

48 

121 

66 

102 

96 

97 
99 

103 

109 

146 
168 

147 
166 

148 
167 
114 
208 

89 

2 

98 
129 
112 


Sp.c?22J. 


B.tf f 

(1,0 Serum)) 
R.C? 


M. 20 J. 

w.<jr 

T.tf 




St cJ 29 J. 
H .<3 
EL (5* 

M. cJ 

N. cf 21 J. 
K .<S 
N.tf 

N. aT20 J. <( 
KL (5 


E.$ 

Kl. Q 

R. (3* 21 J. 
W. (S 19 J. 
B. dP27J. 
H.-J 22 J. 
B. (5 


Niere: — jDem. paranoid. 
I Katatonle 


62 

21 

G. 3 

+ + 

+ 

— 



58 

84 

J. (S 

+ 

+ 

— 



64 

85 

B.tf 

+ + 

9 

— 



66 

65 

Br.tf { 

_ 

_ 




56 

168 

+ 

? 

— 

_ 


57 

104 

H.-J 

+ 

+ 

— 


— 

68 

103 

K.tf 

+ 

+ 

— 


— 

59 

101 1 

B.tf 

+ 

— 

— 


— 

60 

100 

Rtf 

+ 

— 

— i 

, — 


61 

101 ! 

K.tf 

+ 

' — 

— 

+ 1 


62 

111 

H.tf 

— 

<+> 

— 

? 


68 

108 

G. tf j 

+ i 

— 

— 

— 


64 

116 ; 

Sch. ^ 

— 

+ 

— 

(+) 


65 

127 

z. tf 1 

(+) 

(+) 


— ' 

— 1 


Hebephrenia 


Eatatonie 


(+) | Hebephrenic 

Dem. paranoid. 

Hebephrenie 
Dem. paranoid. 
Hebephrenie 


Dem. paranoid. 
Eatatonie 
Hebephrenie 
Pfropfhebephr. 


I 

C. Im Endzustand. 

Hebephrenie 


Dem. paranoid. 
Hebephrenie 


Dem. paranoid. 
Eatatonie 


Hebephrenie 


EUnischei Zuatandabild 


Chron. verwirrt. 

Stupords. 

Gleichm&flig lelcht gehemmt 
stumpf, gelegentlich kurze Er- 
regungszust&nde; leldlich in- 
takte Intelligent. 

Chron. verwirrt 

Maniriert stumpf. 

Remission nach Seharlach. 

Eurz vor der Entlassung. 
Stupords. 

Stark maniriert; chron. verwirrt. 

Maniriert, l&pplsch. 

Stumpf, untitig. 

Chron. verwirrt 

N #• 

stumpf, ruhig. 
dement — euphorisch. 

Chron. verwirrt, ablehnend. 
Stumpf — dement. 

Unverftndert 
Chron. verwirrt. 

Unverftndert 
Verwirrt meist stuporos. 
Unverftndert 
Depressiv — ftngstlich. 

Etwas geordneter. 

Stumpf — l&ppisch. 

»» ii 

L&ppisch, gelegentlich erregt 
L&ppisch, indolent 
Periodisch erregt; sonst stumpf. 


Verblddet. 

ii 

Stupords. Dauerzustand. 
Stumpf — dement. 

Verblddet l&ppisch. 
Verblddet ruhig. 

Verblddet l&ppisch. 
Einfdrm. verwirrt. 

Stumpf — dement 
Verblddet. 

Chron. verwirrt. 

L&ppisch — stumpf. 
Maniriert; chron. verwirrt 


Gck igle 


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Psychiatrische Erfahrungen mit dem Abderhaldenschen Dialysierverfahren. 569 

(Fortsetzung von Tabelle II.) 


i Pro- 


E a 1 1 

2 

o 

1 d 1 KUulsche 

Nr.tokoll 
; Nr. 

Name 

i | If 

® o > j 

£ 

>» 
j 5 

2 _, Klinisches Zustandsbild 

Jg Diagnose 1 

. 1 


o a ; o l 

H 

1 < 1 ! 


H. cJ, Re- 
| knit 


2 88 l| 

31 110 | Sp.c f | 

4 : Schr. J21J.| 

61 i e. dP 

i 

6 ! N. <s 


+ 

? — 
+ 

+ 


+ 


+ 


+ 


D. Unklare Fttlle. 

* Dem. praecox 
I Oder: 

| Erschttpfungs- 

. paychose? 


+ i — 

Progr. Paralyse? 

?—' — 

PsychopathieT 

( + ), - 

Hysteric? 

Prostat: 


+ 

Man.-depress. 

i 

Irresein? 


' Depressiv; keine bestlmnite 
I psych. 8t0rung. 


Am Morgen der Entlassung. 
Stump!; leiehte Remission. 
Leicht manlriert, schw&rmerisch. 
Jetzt korrigiert, geordnet, 

Etwas ungeordnet, unzugftnglich. 


Da die Klinik stets den Ausgangs- und Mittelpunkt bei der Erfor- 
schung und Nutzbarmachung neuer Untersuchungsmethoden bilden muB, 
ist unser Untersuchungsmaterial von klinisch sicheren Fallen von De¬ 
mentia praecox in drei Gruppen geteilt worden: In die im Anfang 
oder doch noch akuten Stadium ihrer Erkrankimg stehenden frischen 
Fa lie, in die in gewisser Weise gleichfOrmigen aber prognostisch noch 
nicht absolut infaustenchronischen Falle, und indie Endzustande, 
verblodete oder jahrelang ganz gleichformige Kranke. Da uns aus dem 
pathologischen Institut Ovarialsubstanz reichlich zur Verfiigung stand, 
konnte neben den speziell angewandten Organen: Gehim, Hoden, Schild- 
driise und auch Nebenniere, der Nachprufung der von Fa user gefun- 
denen und von Wegener (in seiner letzten Arbeit auch von Fischer) 
bestatigten Geschlechtsspezifitat bei der Dem. praec. nachgegangen 
werden. Es sei vorweggenommen, daB in den 39 Fallen, in denen beide 
Keimdriisen angesetzt wurden, sich 26 mal (2 mal fraglich) nur ein Abbau 
des gleichgerichteten Organs fand; in den iibrigen 12 Fallen wurden 
beide Keimdriisen nicht abgebaut. Hierunter sind paradoxe Resultate: 
F. 2, 18ff., 23, 30, 45. In alien diesen Fallen ergaben aber Nachunter- 
suchungen eine Korrektur in dem Sinne, daB man riicksichtlich der 
iibrigen eigenen Resultate wie der von Fa user, Wegener, Mayer, 
Fischer und auch von Lamp6 und Fuchs, einen Versuchsfehler als 
Ursache dieser paradoxen Reaktionen annehmen muB .DieGeschlechts- 
spezifitat wiirde also auch aus unseren Versuchen hervor- 
gehen. 

Was den nach den bisherigen Feststellungen im Mittelpunkt der De¬ 
mentia praecox-Frage stehenden Abbau von Gehirn-, Keimdriisen- 
und Schilddriisensubstanz anbetrifft, so haben wir hieriiber fol- 
gendes gefunden: Die 10 frischen Falle lieBen 7 mal Gehim- und 7 mal 


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570 


S. Maass: 


Hodenabbau erkennen. Diese Befunde waren aber nicht konstant nach- 
weisbar, sondern zeigten bei Nachuntersuchungen mehrfache Unter- 
schiede. Im Falle 14 erklart das ausgepragtere klinische Zustandsbild 
den serologischen Befund voUkommen; dagegen erscheint im Fall 12 
das Verschwinden der vorher so starken Gehimreaktion bei ungefahr 
gleichem klinischem Zustande nicht ohne weiteres erklarlich. Ahnliche 
Erfahrungen sind von Kafka gemacht worden. Dabei ist die nahelie- 
gende Vermutung eines Organfehlers fiir Gehim noch die geringste, da 
dieses sehr leicht blutfrei zu erhalten ist. Auch die Entfettung des Or- 
ganes war eine gute. Die haufigere Untersuchung derartiger Falle ist 
daher sehr wiinschenswert. Fall 10 und 12 sind frische Hebephrenien, 
von denen der letztere besonders typisch ist und sich unter unseren Augen 
erst voll entwickelt hat. 1 ) 

Auffallend ist hier bei zweimaliger Untersuchung das Fehlen jeglicher 
Fermentbildung, ein Befund, auf den weiter unten noch naher einzu- 
gehen sein wird. Gleichzeitiger Gehim- und Hodenabbau fand sich nur 
in 4 von 9 Fallen. Fall 2 und 10 lassen einen gewissen Wechsel im Ge¬ 
him- und Hodenabbau erkennen. Schilddriisenabbau fand sich in 3 von 
10 Fallen, also relativ weniger haufig wie nach den Beobachtungen von 
Kafka und Mayer, wahrend Fauser, Fischer, Wegener, Roemer 
und Bundschuh auch nur von gelegentlichem Schilddriisenabbau spre- 
•chen resp. diesen gefunden haben. Fiir die chronischen Falle zeigte sich 
'eine wesentliche Verschiebung des typischen Abbaus nur in dem Sinne, 
daB Gehim weniger haufig als Hoden abgebaut wurde (in 25 Fallen: 
Gehim 15mal, Hoden 20mal). Auch sind die Befunde hier konstanter 
wie bei der akuten Gruppe. Schilddriisenabbau fand sich in 3 von 21 
Fallen. Besonders erwahnenswert sind die Falle 26, 41 und 43, die 
bei zweimaliger Untersuchung keinen Abbau zeigten. Bei 26 handelt 
es sich um eine (nach Scharlach) weitgehend gebesserte und jetzt ent- 
lassene Hebephrenie, 43 ist eine typische und vorwiegend stark gespannte 

*) Wegen seiner serologischen Bedeutung sei kurz die Krankheitsgeschich te 
skizziert. 26jahriger Kutscher; keine hereditare Belastimg, vom Militar wegen 
Leistenbruchs entlassen; seinen Angehorigen und sonstigen Personen als psychisch 
abnorm niemals aufgefallen. Wie sich spater ergab, war er unter dem EinfluB 
imperativer Stinimen (Gottes und seines Stallmeistcrs) nach Leipzig gefahren und 
auf dem Bahnhof wegen seines eigentiimlichen Benehmens (Betens in knieender 
Stellung) aufgefallen. In der jetzt 6 Wochen bestehenden Psychose bietet er fol- 
gendes Bild: anfangs horte er nur die Stimme Gottes, oft imperativen Inhalts. 
Dann kamen die einer Grafin seiner Heimat sowie die von Verwandten hinzu. 
Letztere Personen glaubt er jetzt dauernd hier, unterhalt sich mit ihnen. Oft ver- 
sucht er Befehle auszufiihren, welche ihm halluzinatorisch gegeben werden. In 
letzter Zeit sind korperliche Beeinflussungsideen durch seinen friiheren Stallmeister 
hinzugetreten. Affektlage oft lappisch; Indolent fiir seinen Zustand und seine Um- 
gebung; absolut einsichtslos fiir seine Wahnideen. Im ganzen Verhalten etwas 
stereotyp. Oft psychomotorisch gehommt. 


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Psychiatrische Erfahrungen mit deni Abderhaldenschen DiaJysierverfahren. 571 


Katatonie, 41 eine chronisch verwirrte paranoide Demenz. Ahnliche 
Falle finden sich bei Neue (lmal kein Abbau, 2mal nur solcher von 
Schilddriise bei paran. Demenz), Hussels (eine gehemmte Katatonie) 
und Fa user. Letzterer vermutet als Ursaehe des negativen Befundes 
das Aufhoren der krankhaften Stoffwechselstdrung im Sinne des statio- 
naren Defekts. Kafka nimmt fiir seine Falle mit so gut wie negativer 
Reaktion vielleicht Versuchsfehler durch Benutzung von mehrere Tage 
altem Serum an; auBerdem sind von diesem Autor auch nur 1,0 ccm 
Serum benutzt worden. Da bei unseren negativ reagierenden Fallen 
1,5 ccm Serum, das nicht alter wie 24 Stunden war, verarbeitet wurde, 
fallen diese Fehlermoglichkeiten hier fort. Bei den 13 Kranken im End- 
zustand wurde llmal Abwehrferment gegen Gehim gebildet, 7mal 
solches gegen Keimdriise (2mal fraglich). Schilddriisenabwehrferment 
fand sich in 2 von 7 Fallen, 1 mal fraglich. Bei diesen Kranken war also 
Fermentbildung gegen Gehim haufiger wie gegen Hoden. Auf Neben- 
nierenabbau wurde im ganzen 11 mal untersucht, davon 4 mal mit posi- 
tivem Resultat. Es entspricht dies ungefahr den von Neue, Fischer 
und Kafka gemachten Erfahrungen, der hierauf auch zuerst aufmerk- 
sam gemacht hat. 

Auch wir konnen also bei der Dementia praecox die haufige Ferment¬ 
bildung gegen Gehim, Keimdriise und — wenn auch weniger haufig — 
gegen Schilddriise und Nebenniere bestatigen. Jedoch erscheint eine 
klarere Abgrenzung innerhalb der Grappe nach dem serologischen Er- 
gebnis wie auch besonders eine tjbereinstimmung des letzteren mit dem 
klinischen Zustandsbild aus den bisherigen Erfahrungen noch nicht m6g- 
lich. Vielleicht zeichnen sich die chronischen vorden akuten Fallen durch 
dasZuriicktreten desGehimabbaus aus, doch wieder in zu geringem MaBe, 
um daraus bestimmte Schliisse ziehen zu konnen. Mit Fa user laBt sich 
besonders bei den akuten Fallen ein intermittierender Abbau amiehmen. 
Fausers Auffassung des bei chronischen Fallen zuriicktretenden Ge- 
himabbaus als Ausdruck eines abgelaufenen Defektzustandes laBt sich 
fiir chronische Falle in gewissen Grenzen bestatigen, doch finden wir im 
Endzustand wieder fast ausnahmslos Gehimabbau, und haufiger wie 
solchen von Hoden. Besonders hingewiesen sei noch einmal auf den 
zweimal mit gleichem Resultat untersuchten vOllig negativ reagierenden 
Fall von frischer Hebephrenie (12). Hier miissen doch entsprechend den 
klinischen Feststellungen auch frische Stoffwechselstorungen vorliegen, 
die jedoch nicht nachweisbar waren. Gegeniiber der viel erOrterten 
und sonst ja auch bestatigten differentialdiagnostischen 
Bedeutung des Dialysierverfahrens fiir die Abgrenzung der 
Dem. praec. und des man.-depress. Irreseins scheinen uns 
derartige Reaktionstypen — die natiirlich sorgfaltig weiter 
beobachtet werden miissen — von der groBten Wichtigkeit. 


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572 


;8. Maass: 


Da gera<tie fiietsev Kranki* dJja Idutenttuvium walmhaft vcrarbcdtete, 
konnten woitore Xsrhpnittusgen vorlilufig mefit vorgewtmmen vverdon 
I’liter den nnklureiy Fnlkn wigt dvr erste deii von Fft user hr-rvor- 
gejbohenen oral von K a I k». befct&ttgtvni Abbautyims: Ochirii und Schild- 
dOise, per Fall ist iikht gana klargeaMlt warden und zutae.it: 

oil !>t im*hr in IkdiamlKmgv dock bandeli t-s sMi wnbi cltcr uni pe«i. 
jimepsy 'me tnn eraen Zwtantb Fidl S und 0 

* ( is ; F»U Hi gjaU' 




gwohnteji. Fall 4 \n>i m'K*h wotcrlun zu lx>oW<htvt). 

Tftbclle ifi. ’HanweU'diipPifSSivpfj Irreseltt. 


A. Kiinisoli sicKeto FajJe. 

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iiiroi- KraOkhkit-dur/-J>g*.*imu‘lit Inila-n. -I FSHo -\\ nrtlen riachtmiersueht• 
Sohilddrusenahbao land aiok in Fall 3 uud 0 Bei pmeeWrn’ iat et wcshl 
n*H ; dem ginieitwit'igen PiabftteS- jvgl. dno starfepn T^tsskreasalikiau!) ill 
V'erbiiKJuog zir Itringf-n Ooi k.ly.\oi">a luMideli cy .Och >im kitSep alteroti 
Marin. Iit-i rion: mi. dns'nru'.e*' St<'sru«.itr nnmerbin vorliftgoo kaiui 





Psychiatri8che Erfahrungen mit dem Abderhaldenschen Dialysierverfahren. 573 


Der fragliche Hodenabbau in Fall 9 konnte wegen psychisch schlech- 
ter Reaktion auf die Blutentnahme noch nicht nachgepriift werden, doch 
ist die Diagnose sichergestellt. Ob der bei der 1. Untersuchung positive 
Gehimabbau in Fall 10 auf das manische Zustandsbild im Sinne eines 
temporaren Abbaus (Kafka) zuruckzufiihren ist, kann erst bei der 
Sammlung eines grOBeren Materials entschieden werden. Bei der 2. Un¬ 
tersuchung 8 Tage spater war die Kranke wesentlich ruhiger, die Unter¬ 
suchung negativ. Der positive Ovarialabbau bei der 1. Untersuchung 
des Falles 13 ist wohl ohne weiteres auf Vereuchsfehler zuruckzufiihren. 
Unter den fraglichen Fallen ist bei den beiden ersten, die schon jahrelang 
krank sind, die Diagnosenstellung eine schwierige und zurzeit noch 
nicht entscheidbar; der serologische Befund ist negativ. Der dritteKranke 
— ein Degenerierter mit periodischen manischen Erregungen — ist eben- 
falls negativ. 

Mochten wir uns auch noch wegen der geringen Zahl von Fallen siche- 
ren manisch-depressiven Irreseins, welche von uns untersucht oder in 
der Literatur mitgeteilt sind, Zuriickhaltung im Urteil auferlegen, so 
laBt sich doch soviel sagen, daB bei dieser Krankheit sich eine Ferment- 
bildung, besonders gegen Gehim und Keimdrusen, in der Regel nicht 
nachweisenlaBt. Die Bef unde Fa users und der iibrigen Autoren 
lassen sich in dieser Hinsicht also bestatigen. Dagegen bleibt 
die von Kafka angeregte Frage des temporaren Abbaus — wofiir auch 
Fall 10 sprechen wiirde — noch of fen und weiter zu untersuchen; ebenso, 
ob sonstige, sich der Feststellung durch das Dialysierverfahren entzie- 
hende StoffwechselstOrungen (Fauser) feststellbar sind, entsprechend 
den Gedanken, die Rosenfeld 1 ) in seinem Referat iiber die Beziehungen 
des man.-depress. Irreseins zu kOrperlichen Erkrankungen entwickelt. 

Bei der progressiven Paralyse wurde besonders auf die etwaige 
gleichzeitige Fermentbildung gegen Gehim im Liquor und Serum Wert 
gelegt. Die Resultate sind aus der Tabelle zu ersehen. Von 25 Fallen 
wurde in 23 Gehim in verschiedener Starke abgebaut; darunter einmal 
(17) nur in der Wiederholung. Es handelt sich um typische Paralysen 
mit positiven „vier Reaktionen“; nur Fall 23 lieB im Liquor die fur eine 
organische Himerkrankung typischen Veranderungen vermissen, wah- 
rend er hier leichte Fermentbildung gegen Gehim erkennen laBt. Der 
Kranke wird weiter beobachtet werden. Im Gegensatz zu Fa user und 
Kafka fanden wir bei zwei terminalen Fallen starkste Reaktionen. 
Weitere Untersuchungen haben zu entscheiden, ob dieser an und fur 
sich mogliche Befund oder der von Fauser und Kafka als Unfahigkeit 
zu Fermentbildung vermutete negative Ausfall haufiger vorkommt. Im 
iibrigen entspricht der Ausfall der Reaktion im wesentlichen dem psy- 
chischen Zustand. Bei Fall 17 sind die intellektuellen Fahigkeiten und 
*) Allgem. Zeitschr. f. Psych. 2. 


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574 


S. Maass: 


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Nr. 


1 

2 

8 

4 

6 

6 

7 

8 
9 

10 

11 

12 

18 

14 

15 

16 

17 

18 

19 

20 
21 

22 

28 

24 

25 

26 

27 

28 
29 
80 
81 


Tabelle IV. Progressive Paralyse. 


tokoll 
I Nr. 


I » . 

4 

30 

31 
88 

9 

10 i 

11 

24 
27 
88 
39 

| 40 

164 
60 
88 
87 

195 
122 

117 
116 

176 

187 

188 
12 

149 

118 
57 

196 

25 

26 



Name 


Gehirn 



R. 

3 


E. 

3" 

+ 

F. 

3 

+ 

W. 

3 

+ + + 

K. 

3 

+ 

N. 

3 

+ + 

K. 

3 

V_ 

B. 

3 

+ 

M. 

3 

+ 

Sch.o' 

+ + + 

W. 

3 

! + + + 

K. 

3 

+ + 

D. 


+ + 

D. 

3 

+ 

B. 

3 

+ 

P. 

3 ^ 

(+) 

L. 

3 

(.+) 

B. 

3 

(+) 

H. 

3 

+ 

F. 

L 

j + 

U. 

3 

(+) 

R. 

3 

(+) 

Sch 

-3 

?_ 

K. 

3 

+ 

G. 

£ 

+ + 

A. 

*{ 


M. 

3 

! + 

P. 

3 

! + + 


( + ) 


( + ) 

+ ; 
+ ; 

- i 

+ 

_i 

++ 

+ 

+ 


S 

a 


Liquor 

Dosia 

t 

T2 

es 

Varia 

+ 

dee 

Bemerkung 

> 

O 


Gehirn 

Liquor 





3,0 

Terminal. 


1 

— 

1,6 


— 


— 

1,5 




— 

1,5 




— 

1,6 




— 

1,5 

i 



— 

1,5 

j 



— 

3,0 

Terminal. 



— 

8,5 

Terminal. 


1 

— 

4,0 

Terminal. 


1 

— 

6,5 


+ + 

Thyr.: — 

— 

3,0 





6,0 



Thyr.: + 

— 

5,0 

Terminal 


Thyr.: — 



Intellekt. wenig abgeschwacht. 


Thyr.: — 
Adren.: — 


8,0 

Gleichea Zustandsbild. 

i 



— 

5,0 

i 



— 

4,0 


( + ) 

/ Prostafc.: — 

\ Thyr.: + + 


! 



Thyr.: — 

— 

3,0 



Thyr.: ( + ) 

— 

5.0 




— 

1,5 




— 

3,0 


+ ' 


— 

8,0 

Terminal. 

— 


— 

1,5 

Pseudoparalyse (syph.). 
Remission. Vor der Entlassung 



— 

8,0 

Pseudoparalyse (syph.). 



— 

4.0 

Pseudoparalyse (syph.). 


R. o' 
Ei. Q 
La. J 
K. fc 


3,0 

; Progr. Paral. 




2,5 

j Liquor zu Nr. 

, 8. 

Tab. VII. 

C. 

1,6 

„ i, ,» 

6. 

„ VII, 

B. 

3,0 

„ „ n 

45. 

„ 11, 

B. 


die Kritik leidlich erhalten, bei 25 handelte es sich um eine m&fiige 
Demenz; der Kranke ist entlassen. Unter den angeschlossenen Fallen 
von syphilitischer Pseudoparalyse ist der Kranke A. erwahnenswert, der 
eine weitgehende Remission hat und entlassen werden soil; die ,,vier 
Reaktionen“ sind positiv. Neben Abbau von Gehirn findet sich wieder- 
holt solcher von Keimdriisen und Schilddriise, was die Resultate von 
Neue, Kafka, Mayer, Hussels, Roemer und Bundschuh, Golla 
bestatigt. Dagegen erwahnt Fa user in seinem Breslauer Vortrage nur 
einen (und bezweifelten) Testikelabbau bei Paralyse, und auch Fischer 
hat in seinen neuesten Untersuchungen keinen Hodenabbau bei Para- 


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Psychiatrische Erfahrungen mit dem Abderhaldenschen Dialysierverfahren. 575 


lytikem gef unden. Bei 25 Kranken dieser Gruppe untersuchten wir 
gleichzeitig den Liquor auf Abwehrfermente gegen Gehim. Wahrend 
letztere im Serum derselben Kranken in 23 Fallen nachweisbar waren, 
war dies im Liquor niemals der Fall. Dabei wurden — wie aus der Ta- 
belle ersichtlich — haufig hohe Dosen, bis zu 5,5 ccm Liquor, angewendet, 
auf die Kontrolle wurde bei hohen Dosen in Erwartung der negativen 
Reaktion verzichtet. Unsere 29 negativen Liquorreaktionen bestatigen 
also, dali in diesem unter der gegebenen Versuchsanordnung tatsachlich 
keine Fermentbildung vorzukommen scheint. Eine andere MSglichkeit 
des Nachweises als durch gesteigerte Dosierung scheint vorlaufig aus- 
sichtslos; durch Einengung wiirde der Liquor gleichzeitig inaktiviert 
und auch von der Einengung des Dialysats ist wohl kaum ein positives 
Ergebnis zu erhoffen. In der negativen Reaktion des Liquors 
stimmen demnach alle bisherigen Autoren (Fauser, Kafka, 
Neue, Mayer) iiberein. Der eine positive Fall von Neue wird riick- 
sichtlich des bisher stets negativen Resultats wohl als Versuchsfehler 
aufzufassen sein. 

t)ber Untersuchungen bei Idiotie und Imbezillitat finden sich 
in der bisherigen Literatur so gut wie keine Angaben. Nur Kafka hat 
wenige Falle ausschlieBlicher Idiotie und Imbezillitat untersucht und 
dabei Fermentbildung gegen Gehim und Nebenniere oder Schilddriise 
gefunden; auf dieWichtigkeit des Dialysierverfahrens fur die Erforschung 
und Pathologie der Idiotie wird von Kafka ebenfalls hingewiesen. 
Unser Material umfaBt vorlaufig 8 Falle. Unter diesen sind 3 und 4 aus- 
gesprochene infantilistische Formen mit klinisch nachweisbar stark hypo- 
plastischer Schilddriise. Bei der Mehrzahl der ubrigen ist die Atiologie 
eine encephalitische, bei dem Rest fehlen diesbeziigliche Angaben. Diese 
8 Falle ergaben 4 mal Gehimabbau, 2 mal (Fall 1 nachuntersucht) solchen 
von Hoden und 6 mal deutlichen Schilddriisenabbau. Gehim und Schild- 
driise wurde in 3 Fallen gleichzeitig abgebaut. Die sehr wunschenswerten 
Unterauchungen mit Hypo- und Epiphyse konnten aus Organmangel 
nicht vorgenommen werden. 

Bei den Imbezillen handelt es sich ebenfalls um klinisch ausge- 
sprochene Falle teilweise hochgradigen angeborenen Schwaehsinns mit 
meist zahlreichen Degenerationszeichen. Unter den 19 Unterauchungen 
sind 4 wiederholte. Von diesen 15 Fallen bauten 10 Gehimsubstanz ab, 
einer blieb fraglich. Zweimal blieb der Befund bei der Nachuntersuchung 
konstant, ebensooft wechselte er. Hodenabbau fand sich in 6 von 15 
Fallen und blieb 3 mal zweifelhaft. Der Befund blieb in 3 Nachunter- 
suchungen konstant, in der 4. fraglich. Auf den starken Abbau bei dem 
Kranken mit dysgenitalem Infantilismus (7) sei besonders aufmerksam 
gemacht. Schilddriisenabbau fand sich in 4 von 13 Fallen sicher, 4 mal 
zweifelhaft. 


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Wii’ sehftB also, dad dittfiiv 15 Fjiilfc v«» L iubexUHt&t s?i p t*n 
auBfitj.jFb wit die! ppmeutia praecoj. 

. : er'ktiTiHeiJ liiSfiftri; ftfthirriabtmu fand.sich -ir» »1 mi mewteii Faflen, vvahl 

.'vl» I^*W<'5S , daS *ioh fie.t picbt nur uu» 

;i)ts!cb<>ren<? . ^oudvi-n a‘a!< p.i.tb «mt iia Abjaui U*griffette St*i-• 

rimy.-n <!<•> »>■ lifrn.A'-'ffHwIiScla Immk-lt fA-irm bat Mich ;t|>er <nich llmal 
l<!/Uviiu>g iiA-cltwoit-H! d.ivi.u -itim! t«.i.•.yt?‘*lcrhoH?»f 

| iit< i-uciiuiH/ M.-hc-i this 4. Mai utii'o-tiimni tn <U»r Ibsku^MXJii zu 
Fa »a*:rs 8rtAlpu\ v c S nrtrng wien K>)fl:a auf «iaa Vurkou)mtMi ithuliober 
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iriginal-frap: 


JJN 






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578 


S. Maass: 


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Fermente im Serum und in verschiedener Starke muB entsprechend der 
spezifischen Einstellung jedes einzelne nachweisbar sein, wenn auch viel- 
leicht in verschiedener Intensitat. AuBer im Paroxysmus und dem Inter- 
vall verdient vielleicht auch die praparoxystische Phase (Aura) naheres 
Studium. 

Gegeniiber dem von Fauser, Binswanger-Wegener und uns ge- 
fundenen Gehimabbau bei dementen Epileptikem sind die Resultate 
Fischers auffallend, der nur in einem von 16 Fallen positive Reaktion 
erzielte, trotzdem iiber die Halfte der Falle mehr oder weniger dement 
war. 


Tabelle VII. Varia. 
A. Psychopathic. 



Pro- 

-- 

... - 


rs 

.... _ 



Nr. 

to- 

koll 

Name 

a 

u 

a 

o 

■o 

o 

2 

u 

>» 

Varia 

Klinische Diagnose 

Bemerkung 


Nr. 


O 

W 





1 

SI 

H. 3 18 J. 

— 

— 

<+) 


Degeneratio 

FUrsorgezOgling. Schwer belastet. 

2 

90 

P. 3 16 J. 

— 

— 

— 


>1 

Ftirsorgezogling. 

3 

154 

B. o' 17 J. 

— 

— 

? + 


„ 

Vorbestraft 

4 

08 

H. S 1HJ. 

— 

— 

— 


Psychopathie 

Haltlos. 2 mal Tent, suicid. 

f» 

128 

B. o' 29 J. 

V 

— 

4- 

Adren.: — 

Degeneratio 

Pathol. Ltigner u. 8chwlndler. Alt© 









Hemiplegie nach KopfechuO. 

0 

86 

sell. 3 

— 

— 

— 


M 

Homosexueller. 

7 

150 

M. 3 17 J. 

V 

— 

y 


Psychopathie + Hy. 

Periodische Erregungen. 







B. Alkoholisrnus. 








J. Ohne Psychosc. 


1 

55 

o. (3 

_ 





1 

2 

02 

H. 3 

— 

- 




> Gewalttfitige Gewohnheitatrinker. 







II. Mit Psychosc. 


3 

59 

Kr. 3 

+ 

— 

— 


Alk.-Demcnz 

Stumpf-dement. 

4 

94 

So. 3 

, 4- 

— j 

y 

Niere: — 

Chron. Halluzinose 

Stumpf-euphorisch. 

5 

95 

La. 3 

i +• 

— 1 

— 1 


Korsakoff 

Jetzt stumpf, vergeBlich. 

6 

7 

13 

104 

Lab. 3 { 

9_ 

- 

— 


Chron. Halluzinose 

Stump!; bisweilen reizbai. 







C. Alterspsychosen. 


1 

28 

1 v. 3 

:+ + 


i 

Prostata: 

Dem. senil. 

Korsakoff8ymptome. 

2 

133 

■ c. 3 

i + 


1 

( + ) 

»» >» 

> M 

3 

136 

L. 3 

(+) ! (+) 

1 

( + ) 

ii i» 

Stumpf. 

4 

134 

Or. 3 

+ 

— 



If M 


5 

135 

It. 3 

+ 

( + ) 

— 


4 Paralys. agit. 

Stumpf; auch Korsakoffsymptome. 

6 

iso 

H. 3 

(+)(+) 



Dem. senil. 

Klar und verwirrt wechaelnd. 

7 ' 

61 

Kl. 3 

+ 

— 



Dein. praesen.? 

Einformig lappisch; Potus. 

8 ; 

177 

Ei. (_ 

? 


— 


Encephalomalacie 

Hemiplegie. 






I). 

Organ. Nervenkrankheiten. 

1 

93 

P. 3 

+ 

— 

— 


1 Vorgeschrittene 

Stark dement. 

<> 

91 

: s. 3 

— 


— : 


/ Scleros. mnltipl. 

Zeitweise leicht benommen. 

3 

58 

O. 3 

4- + 




Lues, cerebri 

Z. Z. klini8ch latent. 


Gck 'gle 


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Psychiatrische Erfahrungen mit dem Abderhaldenschen Dialysierverfahren. ^579 

Die in der Tabelle „Varia“ zusammengestellten kleineren Gruppen 
zeigen folgende Ergebnisse. Bei einfachen psychopathischen Zu- 
standen findet sich weder Fermentbildung gegen Gehirn noch gegen 
Keimdriisen, dagegen haufiger gegen Schilddriise. Letzteres steht in 
gewissem Gegensatz zu den Feststellungen anderer Autoren. Wegen 
seines groBen Interesses — hauptsachlich auch in Beziehung zu dem bei 
nicht typischen Praecox-Kranken gefundenen Schilddriisen- und Ge- 
himabbau — verdient diese Beobachtung weitere Nachuntersuchimg. 
Die fragliche Gehimreaktion in Fall 5 ist durch die Hemiplegie erklart, 
Fall 7 ist vielleicht eine beginnende Dem. praec. 

Im Gegensatz zu dem bei einfachem Alkoholismus fehlenden 
Abbau fand sich bei dem in Psychose ausgearteten fast regel- 
maBig Fermentnachweis gegen Gehim (vgl. Tabelle). Ebenso fand sich 
bei den Alterspsychosen (seniler und arteriosklerotischer Demenz) 
fast regelmaBig Gehirnabbau, daneben auch solcher von Hoden und 
Prostata (Neue). Von organischen Nervenkrankheiten zeigte 
sich bei einem hochdementen Kranken mit multipier Sklerose Gehirn¬ 
abbau, ebenso bei einem frischeren Fall von Lues cerebri, der seit einem 
Insult im vorigen Jahre auf Grund der Therapie bis jetzt klinisch latent 
geblieben ist. 

Tabelle VIII. 




Gehirn 


Geschlechtsdrllsen 

SchilddrUse 

Nebenniere 


xz 

eS 

S3 

+ 

? 

— 

N 

+ 

:i 

- 

■ 

95 

S3 

i 

+1 

9 j 

— 

2 

<3 

!+_! 

— 

ormale. 

21 

1 1 

— 

20 

21 

! 

i — 

21 

21 

\ 

— i 

20 




lementia 1 a) frische • • 

10 i 

i 7 

1 

2 

9 

7 1 

— 

2 

10 

3 ! 

— 1 

7 

2 

1 1 

1 

b) chronische . 
)raoco\ | c) Bndau8ta nd 

25 

15 

- 1 

10 

25 

20 

1 — 

5 

21 

3 

— 

18 

5 

3 

2 

13 

11 

— 

2 

13 

7 

2 

4 

n 

i 1 

2 

l 

4 

4 

— 

4 

Zusammen 

48 

1 33 1 

1 

14 

47 

34 

2 

11 

38 1 

8 

l 

29 

11 

4 

| 7 

[an.-depross. Irresein . . 

i° 

I 1 

__ 1 

9 

10 

i 

1 

9 

10 i 

2 

-1 

8 



! 

regressive Paralyse . . . 

29 

26 

— 

3 

18 

i 11 

-1 

7 

7 ’ 

i 

3 

l ~~ ■ 

4 




iiotie. 

8 

4 

' “ 1 

4 

8 

2 


6 

8 

6 


2 




nbozillitat. 

15 

| 10 1 

1 

| 

4 

15 

1 5 

3 j 

7 

13 

4 

1 3 

1 6 


j 


Ipilepsie. 

10 

7 | 


3 

10 

2( + 2) 


6(+2) 

3 

1 1 


2 


1 


sychopathie. 

7 

— 

2 

5 

7 

| _ 

— 

7 

7 

3 

i 1 

' 3 




f oh ne Psych. 

2 

_ 

i 

| 2 

2 

_ 

_ 

2 

2 

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.lkoholisimis < J 



i i 

i 







i 





I mit Psych. 

4 

3 

— 

1 

4 

— 

— j 

4 

4 

1 — 

; 3 


| 











! 



Prostata: 

enile Demenz. 

8 

6 

! 1 

1 

6 

3 

— 

3 

2 

i 

— 

! 2 

4 

1 2 

1 

i 2 


Gegen Gehirn eingestellte Fermente konnten wir also in 
der Mehrzahl der Falle vom Dementia praecox, fast regel- 


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580 


S. Maass: 


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maBig bei der progressiven Paralyse, dann bei der Idiotie 
und Imbezillitat, den Alters psychosen, der E pile psie im An- 
fall und bei Demenz, sowie bei Alkoholpsychosen nach- 
weise n. 

Abwehrfermente gegen Geschlechtsdriisen fanden sich 
ebenfalls in den meisten Fallen von Dementia praecox, so¬ 
wie mehrfach bei der Imbezillitat. Bei der progressiven Para¬ 
lyse, den Alterspsychosen, der Idiotie und der Epilepsie 
wurden sie in beschrankter Anzahl ebenfalls angetroffen. 
Dieses Ferment konnte in 28 Fallen als spezifisch ein- 
gestellt nachgewiesen werden. 

Schilddriisenabbau kam in maBiger Haufigkeit bei De¬ 
mentia praecox und Imbezillitat, sehr oft bei der Idiotie 
vor. Bei einfacher Psychopathie, der Paralyse und der Epi¬ 
lepsie im Anfall bildet er ebenfalls einen gelegentlichen Be- 
f und. 

Nebennierenabbau wurde in beschrankter Zahl nur bei 
Dementia praecox festgestellt, ebenso solcher von Prostata 
bei seniler Demenz. 


Tabelle IX. Gleichzeitiger Abbau. 


Krankheits- 

gruppe 

Zahl 

der F&lle 

Gehirn + 
Geschlechts- 
drilse 

Gehirn, Ge- 
schlechtsdrilse, 
Schilddriise 

Gehirn + 
Schilddriise 

Geschlechts- 
drilse -f 
Schilddriise 

Dementia 

praecox 

! 

| 48 

23 

4 (davon 

3 frische) 

1 

2 


Imbezillitat 15 5 i 2 

Idiotie 8 | 1 i j 3 I 

Gehirn- und Geschlechtsdriisenabbau — in gewisser Kom- 
bination mit solchem von Schilddriise — fand sich als typi- 
sches Bild am haufigsten bei Dementia praecox, nachstdem 
auch bei der Imbezillitat, wahrend die Idiotie hauptsachlich 
eine Kombination von Gehirn- und Schilddriisenabbau er- 
kennen lieB. 

Bei alien anderen Gruppen war kein eigentlicher Typus 
der Fermentbildung erkennbar. 

Nachuntersuchungen ergaben am ehesten konstante Be- 
funde, wo es sich umaltere, chronischeKrankheitsprozesse 
handeltc. 

Bei verandertem Befund war die Ubereinstimmung mit 
dem klinischen Zustandsbild nicht immer klar zu erkennen. 

I in Li q u or cerebrospinalis wurde i n 20 Fallen — da von die 


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Psychiatrische Erfahrungen mit dem Abderhaldenschen Dialysierverfahren. 581 


meisten Paralytiker — auch bei der Verwendung fast der 
vierfachen Dosis niemals eine Fermentbildung gefunden. 

Inwieweit die durch Fermentbildung nachzuweisenden Storungen des 
Zellstoffwechsels der betreffenden Organe fiir die Pathogenese der Psy¬ 
chosen, bei denen sie gefunden werden, bedeutungsvoll oder sogar ver- 
antwortlich zu machen sind, kann jetzt, wo wir erst in der ErschlieBun 
dieses Arbeitsfeldes stehen, noch nicht entsohieden werden. Nur fiir das 
Gehirn laBt sich auf Grund des Dialysierverfahrens ein fiir psychische 
Storungen charakteristisches Vorkommen blutfremder Abbauprodukte 
nachweisen, was auf anderera Wege bereits moglich war (Paralyse, Epi- 
lepsie, Idiotie, Intoxikationspsychosen). Auch die Frage der primaren und 
sekundaren Fermentbildung bei kombiniertem Abbautypus kann erst 
bei groBerer Erfahrung geklart werden. Vielleicht lassen dann auBerlich 
sich ahnelnde Abbautypen einen ganz verschiedenen genetischen Zu- 
sammenhang erkennen. Kaf kas These, daB es zur Bildung von Schutz- 
fermenten gegenGehirn kommt,,,wenn dasselbe durch schwere organische, 
besonders syphilogene Schadigungen affiziert ist oder wenn es durch 
langdauemde oder plotzlich einsetzende und sehr schwer verlaufende 
Stoffwechselstorungen in Mitleidenschaft gezogen wird“, ist nach unseren 
klinischen Anschauungen fiir die Paralyse, die Idiotie und Imbezillitat, 
die Epilepsie, die Involutions- und chronischen Intoxikationsspychosen 
ja ohne weiteres anwendbar. Auch ist bei ihnen eine primare Storung des 
Gehimstoffwechsels teilweise denkbar, fiir die Paralyse nach den Spiro- 
chatenbefunden im Gehirn im Schnittpraparat, Dunkelfeld und Tier- 
versuch wohl sicher anzunehmen. 

Ganz anders scheinen dagegen die Verhaltnisse fiir die Bewertungder 
Abwehrfermente gegen Geschlechtsdriisen zu liegen. Hier ist zuerst 
an deren Bedeutung fiir die Dementia praecox zu denken. Bei dieser 
Erkrankung macht es sich besonders notwendig, die Fausersche Hypo- 
these von der primaren (auf hereditare Eigenschaften zuriickzufiihrende) 
Dysfunktion der Geschlechtsdriisen mit sekundar durch Rindenvergif- 
tung hervorgerufener Dysfimktion der Rinde, auf den realen Boden 
einer systematischen Forschung zu stellen. Es kame also in Betracht 
zu untersuchen, ob sich vielleicht unter physiologischen Bedingungen 
und in gewissen Lebensabschnitten eine Fermentbildung gegen Ge- 
schlechtsdriisen nachweisen laBt. Neben der Menstruation kame hier 
besonders das Pubertatsalter in Betracht. Femer die fortlaufende Beob- 
achtung von in der Pubertat psychisch irgendwie auffallenden Jugend- 
lichen. Den Anstalten mit einem geeigneten Krankenmaterial wiirde 
hier eine dankbare Aufgabe erwachsen ; wir selber beabsichtigen an Fiir- 
sorgezoglingen Untersuchungen dieser Art in groBerem Umfange vor- 
zunehmen. Auch der etwaige EinfluB der personlichen Geschlechts- 
betatigung ware zu beriicksichtigen. Erst bei Schaffung einer physiolo- 

Z. f. (1. g. Neur. u. Psych O. XX. 39 


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582 


S. Maass: 


gischen Basis werden sich dann die Storungen unter pathologischen Ver- 
haltnissen nutzbringend beurteilen und verwerten lassen. Hierbei ist der 
Auffindungetwaigen Keimdriisenabbausim Sinne einerangeborenen 
Storung bei endogener Schwachsinnsbildung nachzugehen. Da 
die Pathologie dieser Krankheitsformen reich an sonstigen Zeichen ge- 
storter oder verkummerter Entwicklung ist, laBt sich eine derartige 
Stoffwechselstoning — wie wir sie in einigen Fallen fanden — wohl den- 
ken. Auch hier waren Untersuchungen an dem groBen Material der An- 
stalten fiir Schwachsinnige freudig zu begriiBen. 

Erst nach mehrweniger praziser Klarung dieser, wie sich sonst noch 
ergebender, Fragen wird man der hormonalen Giftwirkung dieses Keim- 
driiseneiweiBes auf die Himrinde erfolgreich naher treten konnen. Bis 
dahin wird wohl besser von den hypothetischen Erklarungsversuchen bei 
dieser Krankheitsgruppe Abstand genommen. 

Auch bei Paralyse ist von Kafka, Neue, Mayer, Hussels, Roe- 
mer und BundschuhGeschlechtsdriisenabbaugefunden worden,ebenso 
von Neue bei Alterspsychosen. Wir hatten fiir beide Gruppen ahnliche 
Resultate. — Diese Fermentbildung ist bei der Paralyse wohl mit Recht 
im Sinne der Allgemeinerkrankung des Organismus aufzufassen, bei den 
Alterspsychosen als Zeichen der senilen Involution; hier miiBten also 
nebengeordnete Zellstorungen anzunehmen sein, hervorgerufen durch 
allgemein wirkende Gifte oder im ganzen gestorte Stoffwechselvorgange, 
wie dies auch der in der Agone gefundene Abbau zahlreicher Organe 
nahelegt. Demnach miiBte die Stoffwechselstoning der Geschlechtszellen 
bei der Dem. praec. — abgesehen von ihrer noch nachzuweisenden Auf- 
fassung als hereditare — eine ganz andersartige wie die bei den anderen 
Erkrankungen gefundene sein, wenn ihr mit Recht eine hormonale Gift¬ 
wirkung zukame. 

Vielleicht bringt die klinisch-serologische Forschung wie das Tier- 
experiment Klarheit in alle diese Fragen. 

Die Fermentbildung gegen Schilddriise ist eine zu erwartende, wo 
eine Dysfunktion dieser Druse schon klinisch nachweisbar ist. Uber den 
Stoffwechsel dieser Druse in seiner Bedeutung fiir psychische Storungen 
liegen ja auch sonst schon durch die Arbeiten von Walter usw. eine Reihe 
von Feststellungen vor. Die Fermentbildung ist als primare aufzufassen 
bei den Basedowpsychosen und den mit einer Schilddriisenstorung in 
Zusammenhang stehenden Idiotieformen. Bei Paralyse und Involutions- 
psychosen ist ihr Vorkommen im allgemeinen als Ausdruck der Gesamt- 
erkrankung des Organismus zu deuten, wahrend ihre Bedeutung fiir die 
Dein. praec., die Epilepsie und psychopathische Zustande, besonders auf 
das Korrelationsverhaltnis mit Keimdrusenstorungen hin, noch unklar 
bleibt. 

Von ausschlaggebender Bedeutung fiir den pathogenetischen, pro- 


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Original fro-m 

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Psychiatrische Erfahrungen mit dem Abderhaldenschen Dialysierverfahren. 583 

gnostischen und therapeutischen Wert der Fermentbildungen fiir die 
Psychiatrie ist die Frage nach der Spezifitat der Fermente. Ein 
definitives Urteil laBt sich hieriiber noch nicht abgeben, doch ist diese 
Frage in letzter Zeit so weit gefordert, daB nach den jetzt vorliegenden 
Resultaten eher eine spezifische Einstellung der Fermente anzimehmen 
als abzulehnen ist. Hierfiir sprechen die jetzt iibereinstimmend guten 
Resultate aus der Geburtshilfe (Fermentbildung spricht unbedingt fiir 
Schwangerschaft), die Resultate bei der Diagnostik der Geschwiilste, 
sowie die bei Basedow; bei Basedow besonders, daB Schilddriise dieser 
Krankheit viel haufiger als normals abgebaut wird, sowie die auch hier 
bestatigte Geschlechtsspezifitat (La m p6 und F uc hs); fiir letztere haben 
wireinen Beitrag liefem kdnneni Els steht zu erwarten, daB sich die Spe¬ 
zifitat der Fermente aus weiteren Beobachtungen als sicher ergeben wird; 
auch Roe mer und Bundschuh wie Fischer urteilen in diesemSinne. 

Zweck vorstehender Untersuchungen war es, ein grdBeres Material 
der veischiedensten psychischen Erkrankungen auf eine Fermentbildung 
gegen Gehim, Geschlechtsdriisen und Schilddriise hin zu priifen. Die 
sonst noch angewandten Organe wurden nur in bestimmten Fallen be- 
nutzt. Die Resultate entsprechen im wesentlichen denen der anderen 
Autoren. Die bisher bei Idiotie und endogenem Schwachsinn 
noch nicht vorgenommenen Untersuchungen haben fiir letz- 
teren einen auBerlich dem bei Dem. praec. ahnlichen Reak- 
tionstypus ergeben. 

In bezug auf Fermentbildung bei Stoning der Driisen mit innerer 
Sekretion weisen unsere Untersuchungen eine bedauerliche Liicke auf. 
Doch beabsichtigen wir eine weitere Verfolgimg der sich ergeben haben- 
den Richtlinien durchzufiihren. Das sich erschlieBende Gebiet der Patho- 
logie ist zu groB, um alles in den Kreis eigener Untersuchungen ziehen zu 
konnen. Nach den orientierenden Untersuchungen iiber das Gesamt- 
gebiet muB jetzt auch die Detailuntersuchung wie die Priifung von 
Spezialfragen einsetzen. 

Noch ein Wort iiber die moglichen Aussichten fiir die Thera pie; 
ob es sich empfiehlt, therapeutische MaBnahmen auf Grand der bisheri- 
gen Ergebnisse schon jetzt zu treffen, wie dies Fischer bei Dem. praec. 
mit Struma mittels Schilddriisenpraparaten mit scheinbar voriibergehen- 
dem Erfolg getan hat, und Kafka auf Grand der gewonnenen Anschau- 
ungen fiir die Anstalt Friedrichsberg in Aussicht stellt, mag dahin gestellt 
bleiben. Auch Fa user berichtet ja iiber mit gutem klinischen Erfolg 
operierte psychotische Stramakranke. GroBe Verbreitung scheinen diese 
therapeutischen Bestrebungen noch nicht gefunden zu haben. Hierfiir 
fehlen unseres Erachtens auch noch die erforderlichen Unterlagen. 
Fischer driickt sich in seiner letzten Arbeit in dieser Hinsicht ebenfalls 
vorsichtig resp. etwas pessimistisch aus. 

39 * 


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584 S.Maass: PsychiatrischeErfahrungen m.d. Abderhaldenschen Dialysierverfahren. 

Fa user und Kafka versprechen sich von der optischen Methode eine 
,,Sonderung der Spreu von dem Weizen“ und die Klarung vieler schwe- 
bender Fragen. Dem ist wohl beizustimmen. Doch kann nach miind- 
licher Mitteilung von Herm Prof. Abderhalden das Dialysierverfahren 
bei richtiger Ausfiihrung die optische Methode entbehrlich machen; auch 
ist an die groBen Schwierigkeiten zu denken, welche, abgesehen von der 
kostspieligen Apparatur, der notwendigen Herstellung groBerer Pepton- 
mengen aus verschiedenen Organen fur unsere Untersuchungszwecke 
erwachsen wiirden. Eine ausgedehntere Anwendung der optischen Me¬ 
thode und ahnlich groBe Versuchsreihen, wie sie mit Hilfe des Dialvsier- 
verfahrens gewonnen werden k6nnen, diirften wohl auf jeden Fall aus- 
geschlossen sein. 

Herm Prof. Abderhalden in Halle, sowie meinem hochverehrten 
Chef, Herm Geheimrat Lehmann, spreehe ich fiir das der Arbeit ent- 
gegengebrachte Interesse meinen verbindliehsten Dank aus. 


Literaturverzeichnis. 

Siehe in Emil Abderhalden: Abwehrfermente. 3. Auflage. Berlin 1913, 
Julius Springer. 


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Betrachtungen tiber die klinische Symptomatik der 
Poliomyelitis (Heine-Medin) beim Erwachsenen. 

Von 

Assistent Dr. Silvio Canestrini. 

(Aus der k. k. Nervenklinik der Universitat in Graz [Vorstand: Prof. Fritz 

Hartmann].) 

Mit 15 Textfiguren und 1 Tafel. 

(Eingegangen am 28. Oktober 1913.) 

Das epidemische Auftreten der Heine - Medinschen Erkrankung 
zeigt uns so sehr mannigfaltige Krankheitsbilder, daB aus der gewfihn- 
lichen Schilderung in den gangbaren Lehrbiichem iiber Nervenkrank- 
heiten (ausgenommen die neu erschienenen Arbeiten fiber Poliomyelitis 
von Wickmann, Handbuch der Neurologic von Lewandowsky und 
von Eduard Mfiller im Handbuch der inneren Medizin von Mohr 
Staehelin usw.) wohl selten beim Erwachsenen die Diagnose Polio¬ 
myelitis gestellt werden kfinnte. 

,,Die einzelnen Epidemien unterscheiden sich nicht allein durch 
Morbiditat und Mortalitat; auch die klinischen Erscheinungen zeigen 
einen bemerkenswerten Wechsel“ (Mfiller) 1 ). 

Deshalb erscheint es gerechtfertigt die klinische Symjptomatik so- 
wohl der sporadischen als auch der epidemischen Falle speziell der 
atypischen Krankheitsbilder zusammenzustellen, damit diese oft schwer- 
wiegende Diagnose leichter und sicherer gestellt werden kfiime, denn 
die Charcotsche Lehre der Systemerkrankung der Poliomyelitis ist 
weder ffir das Kind noch fur den Erwachsenen zutreffend. DaB bei 
vielen Epidemien den Erkrankungen beim Erwachsenen kein genfigendes 
Augenmerk zugewendet wurde, geht aus vielen Arbeiten fiber dieses 
Thema hervor. Im soeben zitierten Handbuch der inneren Medizin 
von Mohr-Staehelin schreibt Mfiller 2 ) im Kapitel fiber epidemische 
Kinderlahmung folgendes: ,,Der Erwachsene ist zwar nicht absolut 
aber relativ immun.an ausgepragten Formen der Heine-Medin¬ 

schen Erkrankung leidet er jedoch nur ausnahmsweise". 

l ) Eduard Muller, Die Epidemiologie der sog. spinalen Kinderlfthmung. 
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 45 , Heft 3. 

*) Eduard Muller, Handbuch der inneren Medizin v. Mohr-Staehelin. I. Bd., 
S. 807. Berlin, Julius Springer. 


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586 


S. Canestrini: Betrachtungen ilber die klinische Symptomatik 


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Wenn ich 1 ) jedoch aus dem Krankenmateriale der Klinik voni 
Jahre 1908 bis zum Jahre 1911 40 Falle jenseits des 15. Lebensjahres 
zusammenstellen konnte, so erscheint mir der obige Satz fiir unsere 
Epidemie in Steiermark, die besonders im Herbste des Jahres 1909 
jung und alt traf, nicht zutreffend zu sein. 

Bei der Betrachtung, daB viele Poliomyelitiskranke Erwachsene 
auch auf den hiesigen medizinischen Abteilungen und in anderen Spi- 
talem der Stadt Graz und der Provinz untergebracht waren, so diirften 
wir die Zahl 40 als nicht einmal ein Drittel der in den Spitalem unter- 
gebrachten Falle bei Erwachsenen in Steiermark ansehen, ohne die 
groBe Zahl der unerkannten und abortiven Falle zuzurechnen, die 
ebenso beim Erwachsenen wie beim Kinde sehr haufig vorkommen. 

Furntratt 2 ) konnte nach amtlichen Angaben, nachdem diese 
Erkrankung anzeigepflichtig wurde, 433 Falle aus dem Jahre 1908 und 
604 Falle aus dem Jahre 1909 zusammenstellen. Die von uns an Polio¬ 
myelitis behandelten Erwachsenen auf der hiesigen Nervenklinik, stellen 
ein sehr respektables Verhaltnis zu dieser Zahl dar. 


Zusammenstellung narh dem Alter der an Poliomyelitis erkrankten erwachsenen 
Patienten der Grazer Nervenklinik aus dem Jahre 1908—1911. 

Manner: 


Alter (Jahre): 16 

17 18 20 21 

23 

24 1 

26 27 

28 

29 

30 

35 36 

Falle: _ 1 

1 2 ljl 

: 1 

2 

^2 2 

2 

2 

2 

1 I 1 


Ferner kommt noch unter den mannlichen Patienten ein Fall mit 3 V 2 Jahren 
ein Fall mit 6 Jahren, ein Fall mit 10 Jahren und ein Fall mit 12 Jahren dazu 

Frauen: 


Alter (Jahre): 1 16 17 18 20 21 25 ■ 27 29 31 33 35 36 38 42 

Falle: 2 2 T 2 2 1 7 2 111 11 1 

Ferner kamen noch auf unsere Klinik in Behandlung unter den weihlichen 
Patientinnen ein Fall mit 4 Jahren, ein Fall mit 5 Jahren, ein Fall mit 7 Jahren 
und ein Fall mit 8 Jahren. 

Strohmeyer 8 ) konnte in Leibnitz eine 66jahrige Frau an typischer 
Poliomyelitis erkranken sehen und Furntratt (1. c.) berichtet uns von 
einer 56jahrigen und einer 59jahrigen Frau, die am selben Tage an 
Poliomyelitis erkrankten und deren Obduktion am 3. Tage nach der 
Erkrankung die Diagnose bestatigte. 

Aus diesen und unseren Fallen ersehen wir, daB, obwohl dasmittlere 

1 ) D. i. 7% der Jahresaufnahme auf der offenen Station. 

2 ) Furntratt, Die Poliomyelitis in Steiermark in den Jahren 1909, 1910. Mit- 
teilungen d. Vereines d. Arzte in Steierm. 1911, Nr. 3. 

8 ) Strohmeyer, Zur Kontagiositat der Poliomyelitis nach den Erfahrungen 
der Leibnitzer Epidemie. Mitt. d. Ver. d. Arzte i. Steierm. 1911, Nr. 6, S. 270. 


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der Poliomyelitis (Heine-Medin) beim Erwachsenen. 


587 


Alter beim Erwachsenen bevorzugt ist, jedoch kein Alter versehont 
bleibt. 

Ich brauche nicht hinzuzufiigen, daB die Zahl unserer Falle verhalt- 
nismaBig zu gering ist, um eine Statistik daraus ziehen zu konnen. 

Auch von Schulze, RieBler, Wickmann und anderen ist das 
gelegentliche Vorkommen einer epidemischen Poliomyelitis bei Er- 
wachsenen auch pathologisch-anatomisch sichergestellt worden (E. Mul¬ 
ler, 1. c. S. 811). 

Eine neuropathische Anlage, die besonders von Dej6rine und Jo- 
hannesen hervorgehoben wurde, jedoch von Muller (1. c. S. 806) und 
von Wickmann 1 ) bestritten wurde, konnten wir auch bei Erwachsenen 
nicht vorfinden. Im Gegenteil wir sahen gerade die kraftigsten und nicht 
erblich belasteten Personen dieser Krankheit zum Opfer fallen, nur 
eine Patientin litt seit einigen Jahren an Epilepsie. 

Die Angehorigen einer Familie scheinen jedoch manchmal nach jahre- 
langen Zwischenraumen von der Krankheit befallen zu warden. Ich 
kenne eine Familie, bei der zuerst die Tante von zwei Arzten betroffen 
wurde und nach einigen Jahren der eine und nach einer geraumen 
Zeit der andere Neffe von der Krankheit befallen wurden. Ahnliche 
Falle findet man in der Literatur von W'ickmann, Muller, I. Off- 
mann u. a. beschrieben. 

Die Beobachtung von Eichenberg in Hannover und von Muller 
in Marburg, daB speziell Schuhmacherkinder eine Pradilektion fur die 
Heine - Medinsche Erkrankung besitzen sollen, trifft fur die bei uns 
beobachteten Kranken nicht zu, denn unter den mannlichen Patienten 
war kein Schuhmacher vorzufinden (25 Falle). 

Auffallend erscheint mir die Tatsache, auf die mich mein Chef 
Prof. Hartmann aufmerksam machte, daB die weiblichen Kranken 
sehr haufig wahrend der Graviditat betroffen wurden. Unter den 
weiblichen Patientinnen zwischen dem 20. und dem 42. Lebensjahre 
hatten w r ir 14 Kranke, von diesen befanden sich 6 in der Graviditat 
(42% gravid), was sicher eine hohe Zahl darstellt. 

Es konnte dem entgegengehalten werden, daB es sich vielleicht 
bei diesen Fallen um eine Polyneuritis gehandelt haben kann, wie 
dieselbe nicht selten bei und nach der Graviditat vorzukommen pflegt, 
die klinische Symptomatik jedoch und die Obduktion eines Falles 
(Pat. M. M., Fall Nr. 28) bestiitigte die von uns gestellte Diagnose 
einer vorliegenden Heine - Medinschen Erkrankung. Von diesen 
6 Graviden Poliomyelitisfallen befanden sich die iibrigen (auBer der 
Pat. M. M., die sich im 4. Monate der Schwangerschaft befand) am 
Ende der Graviditat (2 Falle im siebenten, 2 im achten und 1 Fall 

x ) Wickmann, Handbuch der Neurologie v. Lewandowsky, n. Band, 1. Teil. 
S. 814. 


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588 


S. Oanestrini: Betrachtungen Uber die klinische Symptoraatik 


im neunten Monate der Schwangerschaft). Es kann mit gewissem Rechte 
hervorgehoben werden, daG das Nervensystem gravider Leute leichter 
sowohl endogenen wie exogenen Noxen unterliegen kann als dasjenige 
nicht gravider 1 ). 

Wickmann beschreibt einen Fall von meningitischer Form der 
Heine-Medinschen Erkrankung wahrend der Gra viditat, wobei 
tonische Krampfe in einem Teil der Schultermuskel und in den Armen 
auftraten, so daG der behandelnde Arzt wegen der Gefahr auf Eklampsie 
eine Fruhgeburt einleitete. 

Unter den atiologischen Faktoren scheint die Verkiihlung eine 
der disponierenden Elemente zu sein und beim Erwachsenen haben 
wir sicher gunstigere Chancen fiir die Bewertung der subjektiven An- 
gaben seitens der Kranken als beim Kinde. 

Wir konnten bei 60% dieser Falle Verkiihlung in der Atiologie 
vorfinden und beinahe die Halfte unserer mannlichen Patienten gaben 
an, dieselbe ware nach schwerer korperlicher Arbeit (hauptsachlich im 
Freien entstanden). ,,Dagegen scheint es als ob anstrengende Arbeit 
wahrend des Initialstadiums gelegentlich einen ungiinstigen EinfluG auf 
den weiteren V r erlauf der Krankheit auszuiiben, bzw. ein Rezidiv hervor- 
zurufen imstande ware“ (Wickmann, 1. c., S. 881). 

Neben der Verkiihlung scheinen auch korperliche Strapazen einen 
giinstigen Boden fiir die Empfanglichkeit des Virus zu schaffen; nach 
Wickmann scheint femer anstrengende Arbeit wahrend des Initial- 
stadiums ungiinstig auf den Verlauf der Erkrankung zu wirken. Bei 
Kindem hob Legart besonders die Erkaltung als wichtiges atiologisches 
Moment hervor. 

Uber die Prodromalerscheinungen konnten wir von den Pa¬ 
tienten selbst oder von den Angehorigen derselben eruieren, daG in den 
meisten Fallen Fieber vorlag und zwar wurden recht hohe Tempera- 
turen, oft bis 40° Fieber, erreicht. 

Was sonst die Prodromalerscheinungen anbelangt, so decken sie 
sich bei Erwachsenen mit denjenigen der Kinder; ich will nur die auf- 
fallende Schmerzhaftigkeit bald im Kopfe, in der Nackengegend, 
femer langs der Wirbelsaule, besonders in der Kreuzgegend, sowie 
langs der Nervenstamme hervorheben; es traten femer SchweiGaus- 
briiche, haufiges Erbrechen neben diarrhoischen Entleemngen hinzu. 
Interessant erscheint die Tatsache, daG Romer und Joseph Diarrhoe 
bei ihren Versuchstieren auch nach intracerebraler Impfung beobachten 
konnten. Nach Krause soli Diarrhoe in zwei Drittel der Falle vor- 
kommen, jedoch soil erwahnt werden, daG bei Newyorker Epidemie 
Obstipation weit haufiger vorkam. Bei der Patientin S.A., Fall 38, war 

*) Es ware iiberhaupt der Miihe wert, bei graviden Affen die ev. leichtere 
Empfanglichkeit des Heine - Med in schen Virus nachzupriifen. 


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der Poliomyelitis (Heine-Medin) beim Erwachsenen. 


589 


durch 2 Tage ein delirantes Zustandsbild bei hohem Fieber vorhanden und 
Furntratt stellte Wutausbriiche fest (nach E. Muller, zit. 1. c., S. 815). 

Da ich in dieser Arbeit den Zweck verfolge, gewisse Eigentumlich- 
keiten im Verlaufe der Heine - Medinschen Erkrankung beim Er¬ 
wachsenen hervorzuheben, so libergehe ich die anderen Prodromal- 
erscheinungen wie katarrhalische Erscheinungen seitens des Respira- 
tionstraktus (Anginen und Bronchitiden) und will zu den Formen der 
beobachteten Lahmungen und zum Verhalten der Reflexe iibergehen. 

Bei der Betrachtung der einzelnen motorischen Ausf allserschei- 
nungen wie dieselben sich uns in den ersten Krankheitstagen boten, 
konnten wir sehr haufig fliichtige Paresen an einem oder dem anderen Him- 
nerven oder an einer Extremitat vorfinden, die nach einem oder zwei 
Tagen mit Hinterlassung einer auffallenden Ermiidbarkeit oft spurlos 
verschwanden. Es ware deshalb auch beim Erwachsenen irrtiimlich 
zu glauben, daB die Heine - Med in sche Krankheit nur das Gebiet 
der spateren paretischen Extremitaten befallen wiirde; in dem MaBe, 
wie wir wissen, daB kein Anted des Zentralnervensystems verschont 
bleiben kann, so zeigt uns die klinische Symptomatik, daB speziell 
in den ersten Tagen vielfaltige funktionelle Storungen seitens der Mo- 
tilitat, der Sensibilitat und der Sinnesorgane aufzutreten pflegen, die 
nach einer Zeitlang zum groflen Teile verschwinden um das klare Bild 
einer Monoplegie oder einer Hamiplegie zuriickzulassen. 

Wir sind deshalb beim Erwachsenen in den meisten Fallen nicht 
berechtigt in den ersten Krankheitswochen z. B. von einer Monoplegia 
dextra inf. zu reden, wahrend viele Symptome hindeuten, daB noch 
andere Gebiete des Zentralnervensystems vom entziindlichen Prozesse 
mit betroffen wurden. 

Was die dauernden Lahmungen der Hirnnerven anbelangt, 
so zeigen dieselben gar haufig eine Beteiligung am krankhaften Prozesse. 
Einmal beobachteten wir bei der Patientin G. F., Fall 26 (S. 613), eine 
Amaurose am linken Auge mit Neuritis optica. Wickmann (1. c. S. 831) 
beschrieb ebenfalls eine Neuritis optica und Te des chi fand bei Polio¬ 
myelitis eine linksseitige Opticusatrophie mit Amaurose. Die mo¬ 
torischen Augennerven erwiesen sich bei unserem Krankenmaterial 
(48 Fallen) sehr haufig betroffen. 

Bei 9 Fallen konnten wir Nystagmus oscillatorius vorfinden. Unter 
diesen Fallen war der Nystagmus nur nach einer Seite zu beobachten; 
beim Patienten E. B., 29 Jahr alt, fanden wir einen ausgesprochenen 
Nystagmus rotatorius vor, einmal war sogar eine konjugierte Blick- 
parese nach rechts (S. A., 24 Jahr alt) vorhanden. Hartmann 1 ) konnte 

J ) Hartmann, Die Symptomatology und pathologische Anatomie der 
Heine-Medinschen Erkrankung. Mitteilungen d. Vereins der Arzte in Steier- 
mark Nr. 10. 1909. 


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S. Canestrini: Betrachtungen tibor die klinische Syraptomatik 


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Fall© mit einseitigem oder beiderseitigem Nystagmus beschreiben. 
Der Oculomotorius sinister war beim Patienten O. R., 6Jahr alt, 
vollkommen paretisch und zwar sowohl der exteme wie der interne 
Anteil. 

Eine Anisokorie war uberdies noch bei 3 Fallen zu konstatieren: 
femer war zweimal eine tragere Reaktion der Pupillen auf Licht ohne 
Betroffensein des Augenfundus nachweisbar. Der Abducens einer Seite 
war in 2 Fallen betroffen. 

Der Facialis war der am oftesten betroffene Himnerv und zwar 
l>ei 18 Fallen (38%). Unter diesen Fallen war der Facialis viermal 
beiderseits betroffen. Beim Patienten P. I., 28 Jahr alt, war das Chov- 
steksche Phanomen am rechten Facialis zu finden. DaB der Facialis 
von den Himnerven am meisten an der Lahmung beteiligt ist, geht 
auch aus den Berichten anderer Autoren hervor und bei der bulbaren 
Form der Affenpoliomyelitis ist nach Wickmann (1. c., S. 830) der 
Facialis am meisten betroffen. Nach Potpeschnigg und Spieler 
gehen die Facialisparesen mit Geschmackstorungen einher; wir konnten 
dagegen nur bei 2 Fallen ausgesprochene Gesch macks toning vorfinden 
und es sind sicher die Erwachsenen leichter auf den Geschmackssinn 
zu priifen als die Kinder. Dies entspricht auch der Erfahrung, dafi 
daB die Chorda tympani nicht mitbetroffen ist wenn die Lasion des 
Facialis oberhalb des Ganglion geniculi ihren Sitz hat. 

Fiirntratt 1 ) konnte aus der steierischen Epidemie 36 Falle vom 
Jahre 1909 einer einscitigen Facialisparese zusammenstellen. 

Wir konnten dagegen in vier Krankheitsfallen eine Diplegia facialis 
beobachten, was als eine groBe Seltenheit bei der Poliomyelitis geschil- 
dert wurde; sie ist unter anderen von Med in und E. Muller beschrieben 
worden. 

Vom Trigeminus war einmal der zweite Ast wesentlich getroffen 
(Z. M., 16 Jahr alt), beim Patienten S. A., 24 Jahr alt, waren alle 3 Aste 
auf der rechten Seite am Erkrankungsprozesse mitbeteiligt und beim 
Patienten R. A., 30 Jahr alt, waren beide Trigemini erkrankt, sowohl 
der motorische wie der sensible Anteil. 

Den Acusticus fanden wir bei keinem unserer Falle am Krankheits- 
prozesse beteiligt. 

Der Glossopharyngeus war doppelseitig in 2 Fallen ergriffen. Den 
Vagus konnten wir ebenfalls in 2 Fallen, die wegen bulbarer Lahmung 
ad exitum verliefen, betroffen sehen. 

Den Hypoglossus endlich fanden wir neunmal paretisch und zwar 
nur einmal beiderseits (V. H., 24 Jahr alt); dieser Kranke war einer der 

*) Fiirntratt, Die Poliomylitis in Steiermark in den Jahren 1909 und 1910. 
Aus den Mitteilungen des Vereines der Arzte in Steiermark, 1911, Nr. 3. 


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der Poliomyelitis (Heine-Medin) beim Erwachsenen. 


591 


friiher erwahnten 2 Falle mit Vaguslahmung; der Hypoglossus war 
demnach bei 19% unserer Falle mitbetroffen. Es ist selbstverstandlich, 
daB in manchen Fallen mehrere Himnerven betroffen waren und daB 
oft gewisse Himnerven nur auf wenige Tage leichte Paresen aufwiesen, 
die spater spurlos verschwanden. Ich glaube diese auffallend hohe 
Zahl von Himnervenbeteiligung auf die leichter zu konstatierende 
Affektion beim Erwachsenen als beim Kinde zuriickzufiihren. Dies 
gilt speziell bei der Priifung der willkiirlichen. Innervation und der 
sensiblen Ausfallserscheinung. 

Das Verhalten der Reflexe wies oft eine auffallende Steigerung 
auch an den betroffenen Extremitaten auf und sehr oft war auch der 
muskulare Tonus derselben erhoht. 

Zum Belege erwahne ich im kurzen die Falle, in denen die Reflexe 
gesteigert vorkamen. Ich will noch einmal betonen, daB es in den meisten 
Fallen dem Symptomenkomplexe der Heine - Me din schen Erkran- 
kung nicht entspricht, wenn wir z. B. von einer Hemiplegie im Ver- 
laufe dieser Erkrankung sprechen, weil mehr oder weniger noch andere 
Partien des Zentralnervensystems betroffen sind, die die Symptomatik 
einer reinen Hemiplegie nicht zulassen. (Siehe z. B. die haufigen Augen- 
muskein und Blasenstorungen und die haufigen motorischen und sen¬ 
siblen Storungen, die im Verlaufe derselben Erkrankung sich wesentlich 
andern.) Wenn ich jedoch bei der folgenden Aufzahlung von einer 
Paraplegie der oberen Extremitaten spreche, so will ich damit nur 
andeuten, daB die Hauptsymptomatik des betreffenden Falles in einer 
Parese der oberen Extremitaten bestand. Die folgende Zusammenstel- 
lung dient einer t)bersicht iiber die Haufigkeit des Vorkommens von 
Reflexsteigerung und von einem positiven Babinskischen Pha- 
nomene, wobei ich die nicht gesteigerten Reflexe des Uberblickes halber 
nicht angefiihrt habe. 

Fall 18. I. F., 10 Jahre alt. Paraplegie der oberen Extremitaten. P.S.R* 
beiderseits klonisch. AS.R. rechts klonisch. Babinski beiderseits positiv. 

Fall 3. M. H., 18 Jahre alt. Meningitische Form. P.S.R. beiderseits gesteigert; 
beiderseits Andeutung von Pat. Klonus. 

Fall 5. M. I., 27 Jahre alt. Monoplegia brachii sinistri. Babinski links leiclit 
positiv. 

Fall 9. E. B., 29 Jahre alt. Paresis spastica sinistra. Brown - Sequard- 
scher Typus. Tonus gesteigert. P.S.R. A.S.R. gesteigert. Links FuBklonus (40 Tage 
nach der Erkrankung waren die Reflexe an der unteren Extremitat nicht mehr 
auslosbar). 

Fall 11. P. Tr., 18 Jahre alt. Parese der rechten oberen Extremit&t und 
Paraplegie leichteren Grades an den unteren Extremitaten (Dynamometer rechts 0, 
links 26 kg) Tricepsreflex rechts gesteigert, Babinski beiderseits positiv. 

Fall 16. P. I., 28 Jahre alt. Paraplegie der oberen Extremitaten, Triceps und 
Periostreflexe beiderseits sehr lebhaft, links starker als rechts, 2 Monate nach der 
Erkrankung Babinski beiderseits positiv. 


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S. Canestrini: Jletrachtungen Uber die klinische Symptomatik 


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Fall 18. S. A., 24 Jahre alt. Pseudobulb&re Form, Babinski beiderseits positiv. 

Fall 22. R. H., 16 Jahre alt. Paraplegic der unteren Extremit&ten. Pat. S. 
links gesteigert, Achilles S.R. links klonisch. 

Fall 26. O. R., 6 Jahre alt. Hemiplegia dextra, Pat. S.R. und Achilles S.R. 
rechts gesteigert. Babinski rechts positiv. 

Fall 35. P. A., 16 Jahre alt. Paraparesis inferior, Pat. S.R. und Achilles S.R. 
links gesteigert. Babinski beiderseits positiv. 

Fall 36. Z. M., 16 Jahre alt. Paraparese der unteren Extremitaten, FuBklonus 
links, Babinski rechts angedeutet. 

Fall 42. Bl. M., 31 Jahre alt Tetraplegie, erst 3 Monate nach der Erkrankung, 
Pat. S.R. gesteigert, Babinski beiderseits positiv. 

Fall 43. M. M., 8 Jahre alt. Paraplegie der unteren Extremit&ten und Pares© 
des rechten Armes, Babinski links angedeutet positiv. 

Fall 45. H. A., 36 Jahre alt. Landrysche Verlaufsform. Paraplegie der un- 
teren Extremitaten, Babinski links positiv, einige Tage sp&ter Babinski beiderseits 
positiv. 3 Monate sp&ter beiderseits FuBklonus. 

Nach dem Gesagten konnten wir bei einem Drittel unserer Falle 
gesteigerte und sogar klonische Reflexe an den betroffenen Extremi¬ 
taten feststellen und in 11 Fallen ein positives Babinskisches Phano- 
men (zweimal nur einseitig angedeutet, dreimal ebenfalls einseitig aus- 
gesprochen und bei sechs Fallen beiderseits). Einen gesteigerten Achilles- 
sehnenreflex beim Fehlen des Pat. S. R. konnte Zap pert haufig 
konstatieren und Wickmann beschrieb einen Fall von Steigerung 
des Kniephanomens und FuBklonus (Munch, med. Wochenschr. 1913). 
Was die SensibilitatsstOrungen anbelangt, so ersieht man aus den 
beiliegenden Tafeln, welche schwere Storungen der Sensibilitatsquali- 
taten oft die Heine - Medinsche Erkrankung zur Folge hat. 

Es soli auch hervorgehoben werden, daB es bei unserer Poliomyelitis- 
epidemie eine groBe Seltenheit war, wenn unter den Initialsymptomen 
beim Erwachsenen nicht liber auffallende Schmerzhaftigkeit dieser oder 
jener Korperpartie geklagt wurde und auf Druck erwiesen sich in den 
meisten Fallen die Nervenstrange schmerzhaft. 

Der Fall 22 (s. Fig. 1, 2, 3, 4) zeigt zum Beispiel Storungen aller Sensibilitats- 
qualit&ten. 

Der Fall 2 (s. Fig. 5,6) zeigt Stoning der Beriihrung und des Unterscheidungs- 
vermogens zwischen Spitze und Kopf der Nadel. 

Fall 35 (Fig. 7 ) stellt hyperalgetische Zoncn als sensible Storungen dar. 

Fall 45 (s. Fig. 8) zeigt Storungen des Unterscheidungsvermdgens zwischen 
Spitze und Kopf der Nadel und des Temperatursinnes. 

Fall 44 (8. Fig. 9) weist gesteigerte Schmerzempfindung und Herabsetzung 
der Warmeempf indung. 

Fall 15 (s. Fig. 10) veranschaulicht die Storungen der Beruhrungsempfindung 
und des Unterscheidungsvermogens zwischen Spitze und Kopf der Nadel. 

Fall 17 (h. Fig. 11) zeigt die Herabsetzung der Beruhrungsempfindung im Ge- 
biete beider Trigemini. 

Fall 9 (s. Fig. 12) stellt die hyperasthetischen Zonen, femer die Partien, in 
denen der Kalte- sowie der W&rmesinn und das Vermogen den Kopf von der Spitz© 
der Nadel zu unterscheiden, herabgesetzt waren. An den unteren Extremit&ten w*ar 
noch bei diesem Falle die Pallasthesie aufgehoben. 


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der Poliomyelitis (Heine-Medin) beim Erwaehsenen. 


593 




Fig. 1. Fall 22. R. H., 16 J. rj, 3. 2. 10. 

Die schrafflerten Partien zelgen keine Bertihmngsempfindung. 



Fig. 2. Fall 22. R. H., 16 J. 8. 2. 10. 

An den einfach schrafflerten Stellen 1st das TJnterscheldungsvermOgen zwischen Kopf und 
Spitze der Nadel herabgesetzt, an den doppelt schrafflierten aufgehoben. 


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S. Canestrini: Betrachtungen Uber die klinische Svraptomatik 




Fig. 8. Fall 22. R. H., 16 J. 8. 2.10. 

Die einfach schrafAerten Stellen zeigen eine herabgesetste ScbmerzempAndung, ferner ist der 
K&lte- und W&rmeBinn aufgehoben. An den doppelt schrafAerten Kdrperteilen ist Schmerz- 

empAndung aufgehoben. 




Fig. 4. Fall 22. E. H n 16 J. 8. 2. 10. 
• Pallaesthesie aufgehoben. 


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der Poliomyelitis (Hoine-Medin) beim Erwarhsenen. 


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Fig. 6. Fall 2. P. M.. 96 J. rj. 28. 6. 09. 

Die schrafflerten Hautstellen zeigen eine Herabsetzung der Bertihrungsempflndung. 



Fig. 6. Fall 2. P. M. 28 J, 80. 6. 09. 

An den schrafflerten Kbrperstellen 1st das VermOgen, die Spltze vom Kopfe der Nadel zu 

unterscheiden, herabgesetzt. 


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der Poliomyelitis (Heine-Medin) beim Erwachsenen. 597 



Fig. 9. Fall 44. R. M., 29 J. £, 11. 10. 09. 
AuffallendeHyperalgeaie Herabaetzung tier W&rmeempflndung. 
an den echraffierten (Nach vorne erstreckt alch dieselbe Bttt- 
Partien. rung an der Innenseite dea rechten Baines 

u nd am ganzen rechten Unterschenkel 
Tom Enie nach abw&rU.) 



Fig. 10. FaU 15. S. Ju. f 28 J. 3, 24. a 10. 

Die einfach schrafflerten Hautpartien weisen eine herabgeaetzte Bertihrungsempflndung auf. 
Die doppelt schrafflerten Partien zeigen kein UnterscheldungavermOgen zwiachen Spitze und 

Eopf der Nade). 

Z. t. d. g. Neur. u. P*ych. 0. XX. 40 


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598 


S. Canestrini: Betrachtungen liber die klinische Symptomatik 


Fall 7 (s. Fig. 13) zeigt 
Herabsetzung der Berilh- 
rung, des Schmerz- und 
des Temperatursinnee. 

Fall 48 (s. Fig. 14)stellt 
eine interessante Stdrung 
des Temperatursinnee dar, 
die in einer verlangsamten 
Leitung von W&rme und 
Kaltereizen sich kundgibt 
und zwar sieht man diese 
Latenzzeit zwischen gesetz- 
tem Reiz und sprachlicher 
Reaktion, die mit einer fiinf- 
tel Sekunde Uhr kontrol- 
lierfc wurde, perifkrwarte 
zunehmen. 


Fig. 11. Fall 17. R. 80 J. 80. 6.11. 
Herabsetiung der Bertlhrungsempllndung. 



fig. 12. Fall 9. E. BL, 28 J. cJ. 6.2.10. 

Hyper&athesie, Kftlte- und W&rmesinn und VermOgen, die Spitie vom Kopfe der Nadel iu 
unterscheiden, herabgesetzt. Pallfiatheaie an den unteren fixtremit&ten aufgehoben. 


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der Poliomyelitis (Heine-Medin) beim Erwachsenen. 


599 



Fig. 13. Fall 7. G. J., 27. J. r?, 22.10. 09. 
BerUhrung, Schmerz und Temperatureinn herabgesetzt. 



Latenzzeit zwi- 
schen Wftnnereiz 
60°Cund8prach- 
licher Reaktion: 

[x X X xl 
lx X X xi 

nach 1 a " 



nach 5" 



Latenzzeit awi- 
sohen K&ltereiz 
0° und sprach- 
licher Reaktion: 

|XX X X 
Ixx XX 

nach Vt" 
v 


nach 1" 



nach 2" 



Fig. 14. Fall 48. M. A. Q, 20.7.12. 


40 * 


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600 S. Canestrini: Betrachtungen Uber die klinische Syraptomatik 

Eine ahnliche Verlangsamung der Leitung fiir den Temperatursinn 
ist meines Wissens bei der Heine - Medinschen Erkrankung noch 
nicht beschrieben worden, wahrend dies bei anderen Prozessen des 
Zentralnervensystems schon bekannt ist. „Auch die Temperatursinne 
brauchen nicht ganz vemichtet zu sein. Sind sie nur geschadigt, so 
zeigt sich das darin, daB nur groBe Temperaturdifferenzen unter- 
schieden werden konnen oder die Leitung veriangsamt ist“ [Lewan- 
dowsky 1 )]. 

Wickmann neigt dazu, die sensiblen Reizerscheinungen auf eine 
Beteiligung der Pia zuriickzufiihren (1. c., S. 858). 

Miiller konnte in nahezu neun Zehntel der untersuchten Falle 
das „klinische Bild der Hyperasthesie“ vorfinden (1. c., S. 823). Nach 
diesem Autor ist vorwiegend die Hinterhomersensibilitat im Sinne 
Striimpels geschadigt (Schmerz und Temperaturempfindung), aus 
unseren Sensibilitatstafeln dagegen ersieht man Lasionen aller be- 
kannten Sensibilitatsqualitaten. 

Was die Funktionen der Blase und des Mastdarms anbelangt, 
so konnte ich bei 11 Kranken unserer 48 Falle Storungen dieser Organe 
nachweisen (23,0%). 

Diese Zahl ist jedenfalls eine ziemlich hohe; unter diesen Fallen 
war immer Retentio urinae et alvi zu beobachten, nur bei einem Kranken 
(Fall 8) trat nach der Retentio eine leichte Incontinentia urinae ein. 

Wir konnten beobachten, daB nur bei 3 Kranken die Incontinentia 
sofort nach Eintritt der Erkrankung einsetzte (Fall 10, 13 und 22). 
Wahrend bei den iibrigen 8 Fallen dieselbe 2—3 Wochen nach der 
Erkrankung auftrat, (Fall 2) 3 Wochen spater, (Fall 8) 5 Wochen 
spater, Fall 9 nach 3 Wochen, Fall 28 nach 5 Tagen, Fall 32 nach 
2 Wochen, Fall 36 nach 2 Wochen, Fall 41 nach 2 Wochen, Fall 45 
nach 2 Wochen. 

Was die Dauer der Ham- und Kotverhaltung anbelangt, so war 
dieselbe meist eine kurze, von 1 Tag bis zu 5 Wochen und wir konnten 
nie eine langerdauemde Storung des Ham- und Blasenzentrums fest- 
stellen; iiberdies gaben noch andere Kranke an, oft nur voriibergehend 
eine Schwierigkeit empfunden zu haben, die Blase zu entleeren. 

Nach den von Fiirntratt (siehe 1. c.) bei der steierischen Epidemie 
abgesandten Fragebogen konnte dieser Autor nur 22 Falle von einer 
Lahmung des Blasezentrums zusammenstellen, was sicher im Vergleiche 
zu der hohen Zahl dieser Storung bei der relativ kleinen Zahl der von 
uns beobachteten Falle eine viel zu niedrige Ziffer darstellt. 

So schrieb Muller bei der Epidemie von Hessen-Nassau ,,nach 
unseren Befunden in Hessen-Nassau gehoren nervOse Blasenstorungen 

*) Lewandowsky, Handbuch der Neurologic. I. Bd., 2. Teil, S. 779. Berlin 
1912, Julius Springer. 


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der Poliomyelitis (Heine-Medin) beim Erwachsenen. 


601 


allerdings zu den gewohnlichsten Krankheitserscheinungen des Friih- 
stadiums. Wesentlich seltener als die Retentio urinae ist die Inconti¬ 
nentia “ (1. c., S. 824). Im Conus medullae wurde unter anderen von 
Syovall und Forstner eine entziindliche Affektion beobachtet. 
Krause und Eduard Muller fanden Blasenstorungen beinahe aus- 
schlieBlich beim Betroffensein der unteren Extremitaten. Was die 
Zirkulationsstorungen im Verlaufe dieser Erkrankung anbelangt, 
so miissen wir unter den Friihsymptomen die Hyperhydrosis hervor- 
heben und hierher gehoren auch wahrscheinlich die unter anderen auch 
von mir beobachteten Exanthemen im Verlaufe dieser Erkrankung. 

Hierher gehort auch der Symptom einer Blutdrucksteigerung in den 
betroffenen Extremitaten, welches Symptom sehr haufig vorzufinden 
war, wenn die eine Korperseite oder die eine Extremitat im starkeren 
Grade betroffen war als die gegenuberliegende. 

Seitdem ich mich mit dieser Erscheinung eingehend beschaftigt 
habe 1 ), konnte ich dieselbe haufig vorfinden (Fall 5, 14, 15, 16, 18, 
21, 34, 37, 38, 40, 44). 

Ich will die Zahlen bei 3 Fallen wiedergeben: 

Fall 40. H. D., 21 Jahre alt. Mit dem Restbefunde oilier sclilaffen 
Lahmung der rechten oberen und leichter Parese der rechten unteren 
Extremitat. 

Erkrankt am 20. Augnst 1909. 


Syatolischer Blutdruck nach Riva-Rocci 

Datum Gel&hmter r. Arm Gesunder 1. Arm Differenz 

2. Nov. 1909 . 102 Hg mm 88 Hg mm +14 Hg mm 

3- „ 1906 96 „ 90 „ „ + 5 „ „ 

4. 1909 104 „ „ 85 „ „ +9 „ „ 

5. „ 1909 100 ,. ,, 90 ,, „ +10 „ „ 

7. „ 1909 96 „ 85 „ +11 „ „ 

15. ,, 1909 92 ,, ,, 87 ,, ,, + 5 ,, ,, 

17. „ 1909 103 „ „ 85 „ +18 „ „ 

20. „ 1909 ...... . 105 „ ,. 93 „ +12 „ „ 


Fall 18. S. A., 24 Jahre alt. Parese des rechten Armes mit dem 
Restbefunde einer allmahlich sich entwickelten pseudobulbaren Form. 

Erkrankt am 15. Dezember 1910. 

Systoliacher Blutdruck nach Becklingsliatisen 


Datum Hechter Arm Ligkcr Arm Differenz 

10. Januar 1911.140 Hg 130 Hg 10 

11. „ 1911.130 „ 120 „ 10 

15. „ 1911.128 „ 120 „ 8 

16. „ 1911.136 „ 130 „ 6 


1 ) C a n e s t ri n i, t v ber neue Symptome der H e y n e - M e d i n sehen Erkrankung. 
Jahrbiicher f. Psych, u. Xeur. 31. 1910. 


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602 


S. Canestrini: Betrachtungen Uber die klinische Symptomatik 


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Systolischer Blutdruck nach Recklingshauaen 


Datum Rechter Arm Linker Arm Differenz 

21. Januar 1911.140 Hg 132 Hg 8 

24. „ 1911.150 „ 150 „ 0 

26. „ 1911.140 „ 140 „ 0 

27. „ 1911.140 „ 140 „ 0 


Ich lasse hier die Krankengeschichte dieses seltenen Falles aus- 
fiihrlich folgen: 

Was die Anamnese unseres 24jahrigen Patienten Sommer betrifft, so sind 
koine Kinderkrankheiten bekannt, war nie Potator und es werden venerische Krank- 
heiten in Abrede gestellt. 

Am 15. Dezeinber 1910 war Pat. mit Holzhacken beschaftigt; er trank in sehr 
erhitztem Zustande einen kalten Most. Noch am selben Tage bemerkte er, daB er 
beim Melken die rechte Hand nicht vollkommen schlieBen konnte. Pat. arbeitete 
in den niichsten 7 Tagen weiter; hackte auch noch Holz, wobei er beobachtete, daB 
er diinnere Gegenstande nicht in der Hand haltcn konnte, weil er die Finger nicht 
aneinanderbrachte. Ober Fiebercrscheinungen ist uns nichts berichtet worden. 
Gleichzeitig verschlechterte sich das Sprachvermogen, indem Pat. beim Sprechen 
mit der Zunge anstieB, woriiber ihn der Vater tadelte, der dies als Unart ansah. 
Das Schlucken ging nebenher ganz gut vor sich. 

Am 23. d. M. ging der Vater mit dem Sohne zum Arzte. Am selben Tage be¬ 
merkte der Vater, daB sein Sohn feste Speisen nicht mehr schlucken konnte und die 
Sprache wesentlich schlechter wurde, jedoch immer noch verstandlich blieb. 

Am 24. d. M. legte sich Pat. zu Bette. 

Seit dem 25. d. M. konnte Pat. nicht mehr sprechen und sehr schlecht schlucken. 
Die Bewegungen im rechten Handgelenke konnten nicht mehr ausgefiihrt werden 
und der rechte Arm war in toto paretisch. 

Am 30. d. M. wurde Pat. vom behandelnden Arzte mit der Sonde kiinstlich er- 
niihrt. Pat. soli vom ersten Kranklieitstag an immer ganz naB von SchweiB ge- 
wesen sein. Schwindel- oder Gehstorungen sollen nie bestanden haben. 

Am 31. d. M. suchte Pat. die Nerve nklinik auf und ich hebe aus dem damaligen 
Status somaticus die Hauptsymptome hervor: Das Sensorium ist vollkommen frei. 
Hautdecken feucht, zeigen keine trophischen Storungen. Die Korpermuskulatur 
in toto, schlaff. Die Austrittspunkte des Trigeminus sind druckschmerzhaft. Der 
Mund ist halb often; kann nicht geschlosscn werden. Die Lidspalten sind mittel- 
gleichweit. Pat. kann die Augen nicht schlieBen. Es besteht eine leichte Blick- 
parese nach rechts. Die Zunge ist feucht, rot, liegt bewegungslos am Zungengrund. 
Der weiche Gaumen ist vollstandig gelahmt und hangt schlaff hemnter. Rachen- 
reflexe sind nicht auslosbar. Pat. kann keine artikulierten Laute von sich geben. 
Das Schluckvermogcn ist aufgehoben. Die Gehorpriifung ergibt beiderseits nor- 
male Verhaltnissc. Die < leruchs- und die tieschmacksprobe ebenfalls. Der rechte 
Arm ist lcicht paretisch. Die Korperbewegungen sind ebenfalls frei; es besteht keine 
Nackensteifigkeit und keine Schmcrzcmpfindung auf Druck. 

Am redden Arme geschehen die Bewegungen kraftlos, und zwar sind die Be- 
wegungen im Handgelenke vollstandig, im Ellbogengelenke sehr stark und im 
Sehultergelenke leicht cingeschrankt. Der Tricepsreflex ist hier auslosbar. Die 
Periostreflexe sind an diesem Arme nicht auslosbar, am linken Arme dagegtm aus- 
ldsbar. Der Tonus der Muskulatur ist herabgesetzt. Der Bauchhautreflex ist beider¬ 
seits auslosbar. An den unteren Extremitaten besteht nichts Pathologisches, 
auBer einem positiven Babinski. 


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der Poliomyelitis (Heine-Medin) beim Erwachsenen. 


603 


Am 14. Januar 1911 trat eine leichte Anisokorie hinzu. Die linke Pupille ist 
weiter als die rechte; es fftllt dabei auf, daB der Pat. willkiirlich weder die Augen 
schlieBen noch die Zahne zeigen karm. Reflektorisch aber kann Pat. die Augen 
schlieBen und im Affekte beim Lachen auch die Zahne zeigen. Ebenfalls konnte 
man eine Einschrankung der willkiirlichen Augenbewegungen feststellen. LieB 
man aber den Pat. einen Gegenstand mit den Augen verfolgen, so konnte man keine 
Blickl&hmung konstatieren. 

Am 21. Januar glich sich die Pupillendifferenz aus und es trat eine leichte 
Hautabschuppung auf. Es bestehen nebenbei auBerst schwere Schluckbeschwerden. 

Die Rontgenstrahlenaufnahme ergibt eine akute Atrophie der kleinen Hand- 
knochen der rechten Hand. 

Die elektrische Untersuchung ergab ausgesprochene qualitative und quanti¬ 
tative Anderung der elektrischen Erregbarkeit an den kleinen Handmuskeln, die 
deutlich atrophisch sind. Im Zusammenhange mit der Atrophie an den kleinen 
Handmuskeln ist im elektrischen Befund ein Beweis vorhanden, fiir eine direkte 
Schadigung der Kerne im peripheren motorischen Neuron zu sehen. 

Wenn wir bei unserem Falle keine unwillkurliche Innervation des 
Facialis vor uns hatten, so muBten wir den betreffenden Fall als eine 
reine Bulbarparalyse betrachten. Da aber hier die unwillkiirlichen Be- 
wegungen groBtenteils intakt sind, so miissen wir den Facialis 
und die anderen bulbaren Kerne als grOBtenteils vom pathologi- 
schen Prozesse nicht betroffen ansehen; dagegen miissen wir eine 
Storung in der Bahn zwischen der motorischen Himrindenzone 
und den Bulbarkemen suchen. Diese Storung kommt auch bei 
zahlreicheren zerstreuten kleinen entziindlichen Herden im Zen- 
trum semiovale vor, wodurch Lasionen der willkiirlichen motori¬ 
schen Bahn entstehen. Jenes Innervationssystem der basalen Ganglien, 
dem unter anderem bekanntlich die Rolle zufallt, die automatischen 
Bewegungen im Korper zu regulieren (im Affektzustand unwillkurliche 
Bewegungen der Mimik hervorzubringen), muB in unserem Falle als 
intakt angenommen werden. In diesem Sinne miissen wir bei unserem 
Falle den KrankheitsprozeB in die Gegend iiber den basalen Ganglien 
nahe der Himrinde lokalisieren. 

Die Anamnese, der Verlauf und der Ausgang dieses Krankheits- 
falles deuten mit einer gewissen Sicherheit hin, daB es sich in dem 
betreffenden Falle um einen encephalitischen Typus der Heine - 
Medinschen Erkrankung handelt, obwohl, wie auch kiirzlich Clark 
und Pierce 1 ) hervorgehoben haben, die Existenz eines wirklich en¬ 
cephalitischen Typus der Poliomyelitis zu erweisen sehr schwer ist. 

Kleinere infiltrative Prozesse der GefaBscheiden am GroBhim wurden 
bei dieser Erkrankung zuerst von Redlich, Harbitz und Scheel 
gefunden; die basalen Teile des Gehimes, speziell die Gegend der Insula 

*) Clark-Pierce, A clinical contribution to our knowledge of Poliomyelitis, 
with cortical involvement. Joum. of nervous and mental Disease 39 ; ref. in Zeitschr. 
f. d. ges. Neur. u. Psych. 5, H. 10. 1912. 


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S. Canestrini: Betrachtungen ttber die klinische Symptomatik 


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Sylvii und die Zentralwindungen wurden speziell von diesen beiden 
letzten Autoren haufig infiltriert vorgefunden. 

Rossi (nach Wickmann zitiert) konnte bei einem Falle den en- 
cephalitischen ProzeB ausgedehnt auf die beiden Lobi frontales, auf 
die innere Flache des Lobulus paracentralis und auf den groBten Teil 
des Balkens finden. 

Fall 16. D. I., 28 Jahre alt. Tetraplegie mit hauptsachlichem Be- 
troffensein der rechten Kbrperhalfte. 


Erkrankt Ende Februar 1910. 

Systolischer Blutdruck nach Riva-Iiocci 
Datum Kechter Arm Linker Arm Differeuz 


30. Marz 1910 . . . 

... 105 Hg 

92 Hg 

13 

31. „ 

1910 . . . 

... 114 „ 

90 „ 

14 

2. April 1910 . . . 

. . . 110 „ 

104 „ 

6 

3. ,, 

1910 . . . 

... 110 „ 

100 „ 

10 

5. „ 

1010 . . . 

... 112 „ 
Rozidive: 

102 „ 

10 

14. April 1910 . . . 

... 140 Hg 

124 Hg 

16 

19. „ 

1910 . . , 

... 134 „ 

114 „ 

20 

22. „ 

1910 . . , 

, . . 130 „ 

112 

18 

30. „ 

1910 . . . 

... 120 „ 

110 

10 


Auffallend ist bei der Rezidive der Heine - Medinschen Erkrankung 
beim Falle 16 der paralell einhergehende Anstieg des Blutdruckunter- 
sehiedes zwischen der gelahmten und der weniger betroffenen Extremitat. 

Die gefundenen eigenartigen Krankheitserscheinungen der relativen 
Blutdruckerhohung in den gelahmten Extremitaten bei Heine- 
Medinscher Erkrankung drangte nach einem Erklarungsversuche 1 ) und 
es erhebt sich in erster Linie die Frage, welche anatomischen Ver- 
anderungen bei den typischen Formen der Heine - Medinschen Er¬ 
krankung, wie sie in dieser Arbeit herangezogen worden sind, zu einer 
Beeinflussung des lokalen Blutdruckes fiihren konnen. Hier kommen 
in erster Linie die Schadigungen der grauen Substanz, besonders der 
Vorderhorner in Betracht. Nach unseren Kenntnissen wiirde die Folge 
einer mit Verletzung der in den vorderen Wurzeln austretenden Con- 
strictoren eine GefaBerweiterung sein miissen, auch dann, wenn nur 
eine teilweise Schadigung erfolgt, weil der Umstand beriicksichtigt 
werden muB, daB die Constrictoren leicht ermiidbar und schneller 
funktionsfahig werden als die Dilatatoren. Die natiirliche Folge einer 
GefaBerweiterung miiBte demnach wohl in einer lokalen Blutdruck- 
senkung gefunden werden. Vorgange, welche aber zu einer lokalen 
Blutdrucksteigerung fiihren konnen, waren in erster Linie Reizvorgange 

A ) Vgl. Canestrini, t)ber neue Symptome bei der Heine -Medinschen Er¬ 
krankung. Jahrb. f. Psych, u. Neur. 31 . 1910. 


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der Poliomyelitis (Heine-Medin) beim Erwachsenen. 


605 


in den spinalen Nerven, Lahmungsvorgange im Bereich der in den 
hinteren Wurzeln verlaufenden Vasodilatatoren und nicht zuletzt die 
Tatsache, daB die GefaBweite des untatigen Muskels eine relativ ver- 
engte ist. Die letzte veranlassende Moglichkeit trifft in den vorliegenden 
Krankheitsfalien ohne weiteres zu und es ware noch zu untersuchen, 
inwieweit auch Reizvorgange an den spinalen Nerven einerseits, 
Lahmungsvorgange im Bereich der Vasodilatatoren andererseits, an 
dem Phanomen der Blutdrucksteigerung beteiligt sein konnen. 

Dazu kommt, daB selbst nach Ausschaltung der Vasoconstrictoren- 
wirkimg der automatische periphere GefaBtonus im Sinne Ostrou- 
moffs 1 ) erhalten bleibt und zur Wirkung kommen kann. 

DaB besonders im Beginne der Heine - Medinschen Erkrankung 
Reizvorgange in den peripheren Nerven in einer groBen Zahl von Fallen 
sich abspielen, steht auBer Zweifel und findet einen Ausdruck nicht 
nur in den klinischen Symptomen von Schmerz, sondem auch in charak- 
teristisch polyneuritischen Symptomen, Erscheinungen, welche auch in 
den vorliegenden Fallen als vorhanden angenommen worden sdnd. 
Lahmungserscheinungen im Bereiche der Vasodilatatorensysteme k5nnen 
einerseits durch Lasion im Riickenmark an uns noch nicht bekannten 
Orten, mit Sicherheit durch Schadigung der sympathischen Ganglien, 
die bei der vorliegenden Erkrankung nicht selten affiziert befunden 
wurden, entstehen. Auch auf diesem Wege ist also eine Schadigung 
der Blutdruckregulierung moglich. 

Aus diesen Uberlegungen geht aber mit zweifelloser Sicherheit her- 
vor, daB wir es bei der lokalen Blutdruckanderung im Verlaufe der 
Heine - Medinschen Erkrankung mit einer Stoning des Reflexbogens 
der Vasomotilitat zu tun haben. 

Die klinische Tatsache, daB in manchen Fallen keine Blutdruck- 
unterschiede zwischen den gelahmten und gesunden Extremitaten zu 
konstatieren sind, nimmt nicht wunder. Sie wird ihre Erklarung in 
der Vielfaltigkeit der Lokalisation des anatomischen Krankheits- 
prozesses imd der moglichen Storungen des komplizierten Regulierungs- 
apparates der GefaBwande finden k5nnen. Man hat es ja im vaso- 
motorischen Reflexapparat mit der Wirkung antagonistischer Systeme 
zu tun, so daB ein verschiedenes Bild von Storungen, ja unter Urn- 
standen sogar ein scheinbarer Mangel von Krankheitsphanomenen, 
namlich durch sich gegenseitiges Aufheben der gesetzten Storungen 
entstehen kann. AuBerdem steht derselbe noch in Abhangigkeit vom 
zentralen Nervensysteme. 

Die Abhangigkeit der Blutdrucksteigerung vom Eintritt der Lah- 
mung, ihre Vermehrung bei Verschlechterung und ihr zweifelloses 
Wiederkehren mit Besserungserscheinungen auf dem Gebiete der mo- 
x ) Archiv f. d. ges. Physiol. II, 244. 1876. 


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S. Canestrini: Betrachtungen liber die klinische Symptomatik 


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torischen Leistungen kann einerseits auf ein gleichsinniges Zuriickgehen 
der anatomischen Schadigungen, nicht minder aber auch auf der Wieder- 
kehr normaler funktioneller Verhaltnisse, normaler Reizanordmmg, 
Reizleitimg und Reflexiibertragung bestehen. 

Nach meinen Erfahrungen mochte ich diesem Phanomen eine prak- 
tische Bedeutung zumessen, insofeme der oft schon vor dem Eintritt 
der motorischen Besserung eintretende Ausgleich der Blutdruckdiffe- 
renzen einen prognostischen Wert gewinnt. Es scheint aus den Beob- 
achtungen hervorzugehen, daB vielfach die Intensitat der Druckdifferenz 
mit der Intensitat der Lahmung einhergeht und daB den von vom- 
herein geringen Druckdifferenzen auch prognostisch giinstigere Lah- 
mungserscheinungen parallel gehen. 

Auf eine Stoning der Zirkulation ist auch die von uns selten beob- 
achtete passagare Schwellimg der hauptsachlich betroffenen Extremi- 
taten zuriickzufiihren, so daB die Extremitaten sich odematos ansahen 
und anfiihlten. 

Als eine Folge von Zirkulationsstorungen konnen femer die 
auch von uns ziemlich haufig beobachteten Exantheme angesehen 
werden, auch wenn man einen EinfluB von im Organismus kreisenden 
Toxinen beriicksichtigen will. 

Ich habe mich in der friiher zitierten Publikation ziemlich aus- 
fiihrlich iiber die Exantheme bei der Heine - Medinschen Erkrankung 
befaBt. Ich will nur hier nochmals hervorheben, daB die Form, Aus- 
breitung und Dauer derselben eine sehr verschiedene war. 

Bei 7 Fallen unseres Krankenmateriales konnten wir ein Exanthem 
feststellen (Falle 2, 7, 10, 27, 42, 48), welches einmal bei Fall 7 (siehe 
Fig. 15) acneahnlich aussah, sonst rosarot aus konfluierenden oder 
vereinzelten runden Flecken bestand und sich gegen die Umgebung 
scharf abgrenzte. Das Exanthem war hauptsachlich iiber der Brust, 
den Armen, der Vola manus und den Unterschenkeln lokalisiert und trat 
gewohnlich nach der ersten Krankheitswoche auf; es zeigte femer eine 
verschiedene Dauer: oft war es nur ein paar Tage, ein anderesmal 
durch 2—3 Wochen sichtbar. Es muB jedoch hervorgehoben werden, 
daB die Zahl der von uns beobachteten Exantheme eine viel zu kleine 
ist im Vergleiche zum Krankenmaterial und dies wird verstandlich bei 
dem Umstande, daB viele von unseren Kranken erst 1 oder 2 Monate 
nach eingetretener Erkrankung die Klinik aufsuchten und daB ich die 
Falle, in denen mir diese Kranken von einem nach der Erkrankung 
durchgemachten Ausschlag berichteten, nicht beriicksichtigte. 

Das Exanthem machte oft einer Hautabschilferung Platz, die wie 
eine Keratosis aussah. 

In jenen Fallen, in welchen wir das Entstehen der Hautabschuppung 
nicht in seinem Anfangsstadium selbst sehen konnten, gaben die Kranken 


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608 


S. Canestrini: Betraclitungen Uber die klinische Symptomatik 


DaB diese Keratosis nicht kiinstlich durch Arzneimittel bedingt ist, 
dafiir spricht der Umstand, daB unsere Kranken mit verschiedenen 
Mitteln behandelt wurden und die Keratosis sich auch an Poliomyelitis- 
fallen anderer Abteilungen und unter anderen therapeutischen Be- 
dingungen feststellen lieB. 

Diese Keratosis ist unter anderem am haufigsten an der Planta 
manus et pedis, manchmal am Vorderarm und am Unterschenkel, 
seltener auf der Brust lokalisiert, dauert einen Monat und es konnten 
bei manchen Erkrankten wahrend dieser Zeit 2—3 sich wiederholende 
Abschuppungen gesehen werden. 

Diese Keratosis fand sich fast in alien Fallen auch an den nicht 
gelahmten Korperteilen. Bei genauerer Betrachtung ersieht man je- 
doch, daB sie in einzelnen Fallen die gelahmte Korperseite bevorzugt, 
in anderen konnte diese Bevorzugung nicht festgestellt werden; in 
keinem Falle jedoch zeigte sich die Hautaffektion in Gebieten, welche 
von der nervosen Erkrankung vollkommen verschont waren. Immer 
konnten in den nicht gelahmten Gebieten, soweit sie die Hautaffektion 
darboten, wenn auch geringe und voriibergehende FunktionsstOrungen, 
wie Abnahme der Muskelkraft, des Muskeltonus, der Reflexerregbarkeit 
oder schleudemde Reflexe konstatiert werden. 

Diese Keratosis sah oft einer Pityriasis versicolor ahnlich. Haufig 
konnte man direkt in Fetzen die Haut entfernen und Tafel XIV (Fall 34) 
veranschaulicht dieselbe an den Handflachen; Eig. 16 (Fall 48) stellt 
eine auffallende Hautabschilferung an den Plantae pedum mit Blaschen- 
bildung dar, die eine Woche nach Eintritt der Erkrankung auftrat. 
Ich habe diese Keratosis als die Folge einer angioneurotischen Stoning 
aufgefaBt (siehe 1. c.) in Anlehnung an die Arbeiten von Kreibich 1 ) und 
Bechterew 2 ), die das Auftreten von Exanthemen und anderer erektiler 
Hautaf fektionen durch Nervenbeschadigungen, die dauemde Reizzustande 
der Vasodilatatoren und dadurch ein gesteigertesReagieren der GefaBe auf 
AuBenreize bzw. eine vermehrte Reizbarkeit der Gewebe bewirken. Diese 
Hautabschilferung bei der Heine-Medinschen Erkrankung kann oft 
als differentialdiagnostisches Zeichen Verwertung finden und ein Collega 
wurde bei einem dunklen Falle von Poliomyelitis durch dieses Symptom 
an der dorsalen Seite des Unterarmes zur richtigen Diagnose geleitet. 

Einige Male sahen wir im Anschlusse an die Keratosis speziell bei 
jugendlichen Personen eine auffallende Behaarung an den betroffenen 
Korperpartien auftreten als eine Folge trophischer Storungen der Haut- 
decken; ferner war bei einem Falle eine Uberpigmentierung an den 
obcren Extremitaten zu sehen. Bei der Epidemie von Newyork (1907), 
konnten 61 Falle von Hauteruptionen zusammengestellt warden. 

*) Kreibich, Die angioneurotische Entziindung. Wien 1905. Deutike. 

2 ) Bechterew, Zitiert im Lehrbuch der Nervenkrankheiten. Oppenbeim. 


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Fall 47 slurb Stand*.- naeh dec Aahmhrn*. auf file Klinik, Fail 19, 
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610 S. Canestrini: Betrachtungen Uber die klinische Symptomatik 

der Landryschen Paralyse. Wenn man mitten in einer Poliomyelitis - 
epidemic sich befindet, so erkennt man viele Krankheitsbilder, die man 
sonst einer anderen Krankheitsgruppe zuweisen wiirde als fiir diese 
Krankheit charakteristisch. Ich bin iiberzeugt, daB eine groBe Anzahl 
der Falle speziell bei Kindem, bei denen die Diagnose Meningitis gestellt 
wird und deren Krankheitsverlauf ein auffallend giinstiger ist, hierher 
geh6ren; die Heilimg bei Meningitis, ausgenommen wenn es sich um 
die epidemische Form handelt, ist ein so seltener Vorfall und doch 
h6rt man nur zu haufig in unserer Gegend von Kranken, deren Anamnese 
besagt, daB sie eine Meningitis iiberstanden haben. Es sei nebenbei her- 
vorgehoben, daB Spieler unter 44 poliomyelitiskranken Kindem bei 
8 derselben typische meningeale Erscheinungen feststellen konnte. „Im 
Einzelfalle vermag allerdings die meningitische Form der Poliomyelitis 
einer echten Genickstarre derart zu entsprechen, daB ohne Kontrolle 
durch die Lumbalpunktion in der Praxis Verwechslungen kaum zu ver- 
meiden sind“ (Muller S. 848). 

Selbst zur Zeit einer Epidemie ergibt sich daraus, daB bei einer 
Nachsuche nach Poliomyelitis verdachtigen Fallen aus dem gesamten 
Krankenmateriale wahrend der Epidemiejahre sich noch eine Reihe 
von offenbar hierher gehOrigen Fallen vorfand. 

Von diesen Erkrankungsfallen war z. B. einmal die Diagnose mul¬ 
tiple Sklerose im Kindesalter gemacht worden (Fall 1), ein anderesmal 
Landry sche Paralyse auf luetischer Basis (Fall 2). Meningoencephalitis 
beim Falle 3, Polyneuritis beim Fall 4 und Neuritis rheumatica beim Falle26. 

Der absolute Beweis natiirlich, daB es sich bei diesen 5 Fallen um 
Erkrankungen auf der Grundlage der Heine - Medinschen Erkrankung 
handelte, kann nicht erbracht w r erden, weil der Exitus bei diesen Fallen 
nicht eingetreten ist und so lange wir noch nicht den Erreger kennen, 
kann uns nur der Obduktionsbefund und die mikroskopische Unter- 
suchung des Zentralnervensystems unzweideutige Klarheit verschaffen; 
jedoch per Analogiam glaube ich mit Recht diese Falle als Erkrankungen 
von Poliomyelitis ansehen zu diirfen. 

Ich lasse im kurzen eine Zusammenfassung der Krankengeschichten 
dieser Falle folgen: 

Fall 1. J. F., 10 Jahre alt. 

Anamnestisch: Am 29. Juni 1909 verkiihlte sich Pat. und hatte danach starke 
Schmerzen im Riicken. 

Pat. suchte die Nervenklinik am 22. August auf. 

Status nervosus: Knochenbau sehr grazil, Muskulatur sparlich, Panic, 
ad ip. sparlich. Hautdecken straff, wenig faltbar. 

Himnerven frei. 

Zunge wird gerade vorgestreckt, zeigt sehr starken grobwelligen Tremor. 

Das Beugen des Kopfes nach riickwarts gelingt nicht, die Wirbelsaule ist auf 
Druck nicht schmerzhaft, nur in der Hohe des II. und III. Halswirbels klagt Pat. 


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der Poliomyelitis (Heine-Medin) beim Erwachsenen. 


611 


iiber Schmerzhaftigkeit; dabei ist eine hohe Stellung der Schulterbl&tter vorhanden. 
Die Stemocleidomastoidei sind kurz gespannt. 

Pat. halt die Hand© fortwahrend in den Phalangen gebeugt, besonders in den 
Gelenken zwischen Grund und Mittelphalange, kann die Finger nioht spreizen und 
nicht strecken. Die starkste Exkursion geschieht am kleinen Finger, weniger am 
IV. und noch weniger am III. Finger. Triceps- und Periostreflexe sind nicht auslosbar. 

Bauchdeckenreflexe auch nicht auslosbar. 

Patellarsehnenreflexe stark gesteigert, starker Patellarklonus beiderseits. 

Achillessehnenreflexe links auslosbar, rechts stark klonisch. 

FuBklonus rechts, links nicht klonisch. 

Plantarreflexe wenig auslosbar. 

Babinski links deutlicher positiv als rechts. 

Die FiiBe werden in deutlicher Supinationsstellung mit Aquinovarusstellung 
gehalten und besonders am rechten FuB ausgesprochener als am linken. Weitere 
Contracturen sind auch in den FuBgelenken vorhanden. 

Keine Sensibilitatsstorungen. 

Muskeltastsinn ist unmdglich zu priifen, da Pat. mit den Fingern keine aktiven 
Bewegungen machen kann. 

Pallasthesie: Das Leitungsvermogen an den Unterarmen und Unterschenkeln 
beiderseits etwas vermindert. 

Decursus: 

23. 9. 1909. Pat. kann jetzt die Finger strecken und alle Bewegungen mit 
den H&nden ausfiihren, was er bis vor kurzer Zeit nicht imstande war, zu tun. 
Desgleichen kann sich Pat. von selbst im Bette aufsetzen, die Beine bewegen, 
jedoch in beschranktem MaBe. Jetzt kann Pat. auch einige Schritte machen, die 
einen breitspurigen Gang zeigen. 

5. 10. P.S.R. beiderseits gut auslosbar. 

Beim Beklopfen der Achillessehne entsteht beiderseits ein FuBklonus, links 
starker als rechts. 

22. 10. Bauchdeckenreflexe auslosbar. 

Plantarreflexe schwachlich. 

Babinski beiderseits vorhanden. 

Leichte SpitzfuBstellung: 

Gang breitspurig, weicht von der Gehlinie ab, zeigt keine Anzeichen eines 
spastischen Ganges. 

Fall 2. P. M., 36 Jahre alt. 

Amnestisch: 6. 6. 1909. 2 Wochen vor dem Eintritt der Lahmung Schiittel- 
froste, Kopfschmerzen, Kreuzschmerzen. Lues negiert. 

20. 6. Status nervosus: Facialis rechts leicht paretisch. 

Facialis sin. leicht paretisch. 

Gehirnnerven sonst frei, auBer einer leichten Abducensparese. 

Fundus normal, VII. sin. leicht paretisch, Morgens Erbrechen. 

Atmen durch die Nase erschwert, Schluckbeschwerden gering. 

Bauchdeckenreflexe fehlen. 

Tricepsreflexe fehlen. 

Periostreflexe fehlen ebenfalls. 

Die grobe Kraft der Strecker an der oboren Extremitat stark vermindert, 
weniger die Beuger. 

Dynamometer beiderseits 15 Kgm. 

Alle Bewegungen geschehen, jedoch schwach. 

Riickenmuskulatur: Lange Riickenmuskeln von schlaffem Tonus links starker 
als rechts. Das Aufsitzen ist ohne Unterstiitzung unmdglich. Keine Atrophie. 


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612 


S. Canestrini: Betrachtungen tlber die klinische Symptomatik 


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An den unteren Extremitaten ist die grobe Kraft herabgesetzt. 

Tonus stark herabgesetzt. 

Grobe Muskelkraft gering. 

Aufheben der Beine zur vorgeBchriebenen Hohe ist nicht moglich, sonst ohne 
Besonderheiten. 

Patellarsehnenreflexe fehlen. 

Ebenso fehlen Achillessehnen-, Plantar- und Zehenreflexe. 

Pallasthesie an den unteren Extremitaten in schwachem Grade vorhanden. 

Vom Knie nach abwarts Beriihrungs- und Schmerzsinn herabgesetzt. Siehe 
Sensibilitatsschema (Fig. 6). 

Stuhl- und Harnverhaltung. 

26. 6. 1909. Linker Mund- und YVangenfacialis deutlich paretischu 

Zunge weicht eine Spur nach links ab. 

Samtliche Reflexe fehlen. 

Pallasthesie an den Knochen der Unterschenkel sehr schwach. 

26. 7. Pat. kann alle Bewegungen mit den oberen und unteren Extremitaten aus- 
fiihren und der Gang ist nicht erschwert. 

Fall 3. M. H., 18 Jahre alt. 

Anamnestisch: Am 12.Mai 1910erkranktePat.unterdenErscheinungeneines 
beginnenden Gehirnleidens, klagte iiber Kopfschmerz und war schlecht aufgelegt, 
bekam nach ca. 8 Tagen Fieber, BewuBtlosigkeit und nach 14 Tagen Nackensteif- 
heit und Krampfe. 

Nebenbei bestand in psychischer Hinsicht ein delirantes Zustandsbild. 

Selbst gibt Pat. an, daB er zu Hause sehr wenig schlief und es ihm haufig vorkam, 
als sei er anderswo. Er sei auch aufgeregt gewesen, wollte das Bett verlassen. 

Alle Sinnestauschungen negiert. 

Status norvosus: 22. 6. 1910. Starker Dermographismus der Haut. 

Die Blickrichtung nach rechts weist einen grobschlagigen Nystagmus auf. 
Hie und da Doppelsehen. 

Zunge wird gerade vorgestreckt. 

Das iinke Gaumensegel ist leieht paretiscli. 

Pupillen mittclweit, reagieren prompt auf Licht und Akkomodation. 

Triceps- und Periost reflexe beiderseits fehlend. 

Patellarsehnenreflexe gesteigert, Andeutung von Klonus. 

Achillessehnenreflexe normal auslosbar, kein FuBklonus. 

Plantarreflexe beiderseits auslosbar. 

Das Gehen ist unsicher, leichtes Abweichen von der Gehlinie nach rechts, ab 
und zu Taurneln. Ausgesprochen schwerer Brach-Romberg. 

20. 7. 1910. Die grobe Kraft der oberen Extremitaten ist immer noch herab¬ 
gesetzt. 

Das Gehen geht auffallend leichter vor sich. 

Der Patellarsehnenreflex ist nicht rnehr klonisch auslosbar. 

Das Rombergsche Phanomen negativ. 

Fall 4. P. M., 23 Jahre alt. 

Anamnestisch: Pat. verkuhlte sich auf einem Jahrmarktsbesuche zu Weill - 
nachten 1909, fiihlte sich darauf durch 14 Tage unwohl, fieberte spa ter, muBte von 
Weihnachten bis Ostern das Bett hiiten. Zeitweise traten Schmerzen am linken 
Beine auf. Er bemerkte nach dem Verlassen des Krankenlagers eine Bewegungs- 
einsehrankung des linken Unterschenkels. 

Stat us ner vos us: 30. (5. 1910. Geliimnerven frei. 

Triceps- und Periostsehnenreflexe nicht auslosbar. 

Grobe Kraft an den oberen Extremitaten ist herabgesetzt. 


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der Poliomyelitis (Heine-Medin) beim Erwachsenen. 


613 


Dynamometer, beiderseits 20. 

Die Muskulatur erscheint an den oberen Extremitaten atrophisch, besonders 
am Adductor poll. Interossei und Tenar beiderseits; die erkrankten Oberarm- 
muskeln zeigen fibrillare Zuckungen geringen Grades. 

Bauchdecken-, Triceps- und Periostreflexe nicht auslosbar. 

Cremasterreflexe ebenfalls nicht auslosbar. 

Patellarsehnenreflexe nicht auslosbar. 

Achillessehnenreflexe nicht auslosbar. 

Kein FuBklonus. 

Babinski negativ. 

Romberg negativ. 

Die Muskulatur an den unteren Extremit&ten erscheint ebenfalls atrophisch, 
und zwar ist die Strecker- und Peronealgruppe beiderseits atrophisch. 

Tastsinn sowie Beriihrungsempfindung vom Knie nach abw&rts herabgesetzt, 
an beiden Beinen, ebenso im Bereiche der N. medianus beiderseits. 

Die iibrigen Sensi bilitatsqualit&ten sind frei. 

9. 7. 1910. Die Bewegungsfreiheit an den kranken Extremitaten hat sich we- 
sentlich gebessert. 

13. 7. Pat. kann gehen und stehen; die Bewegungsfreiheit der unteren Extremi¬ 
taten ist jetzt vorhanden, wahrend sie vor einiger Zeit noch vollstandig fehlte. 

Fall 26. G. F., 42 Jahre alt. 

Anamnestisch: Anfangs April 1908 begannen die Krankheitserscheinungen. 
Pat. klagt liber ein „bamstiges“ Gefiihl sowie Ameisenlaufen in den linken Extre¬ 
mitaten, auch bekommt sie plotzlich Hitzegefuhl in den linken Extremitaten. 
AuBerdem starkes „Kribbeln“ in den Fingem und Zehenspitzen der linken 
Korperhalfte, sowie auch in den Fingerspitzen der rechten Hand. 

Aufnahme auf die Klinik am 18. April 1908. 

Conjunctivalreflexe fehlen. 

Amaurose am linken Auge mit Neuritis optica. 

Rachenreflexe fehlen ebenfalls. 

Zunge gerade vorgestreckt, zittert stark. 

Tricepsreflexe rechts auslosbar, links —, Periostreflexe —. 

Nerv. nadial. und ulnar, im ganzen Verlaufe druckempfindlich. 

Keine Ataxie, kein Intentionszittem. 

Die Beweglichkeit an der linken oberen Ext re mi tat ist herabgesetzt, ebenso 
die grobe Kraft. 

Patellarsehnenreflexe lebhaft. 

Achillessehnenreflexe auslosbar. 

Plantarreflexe vorhanden, Zehenreflexe vorhanden. 

Babinski beiderseits positiv. 

Dermographie deutlich ausgepr&gt. 

Keine Sensibilitatsstonmgen. 

12.5. Die Beweglichkeit an den oberen Extremitaten hat sich auffallend gebessert. 

Babinski spurweise positiv. 

Auch Wickmann (S. 859) hat in der Literatur Falle von Heine - 
Medinscher Erkrankung unter anderen Diagnosen vorgefunden. 

Ich werde im folgenden einen tabellarischen Auszug aus denjenigen 
Krankengeschichten wiedergeben, die friiher nicht beschrieben wurden. 

Erlauterung der Abkiirzungen: r. = rechts; 1. = links; — = fehlend; 
+ = vorhanden; Tric.R. = Triceps-Reflex; Per.R. = Periost-Reflex; Pat.S.R. 
= Patellarsehnenreflex; Ach.S.R. = Achillessehnenreflex. 

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S. Canestrini: Betrachtungen Uber die klinische Symptomatik 


Was die Thera pie unseres Poliomyelitismaterials anbelangt, so 
mochte ich analog wie bei Kindem die vollstandige Ruhe hervorheben, 
solange Reizsymptome noch vorhanden sind. Die Prodromalerscheinungen 
mxiBten natiirlich symptomatisch behandelt werden. 

Wir lieBen femer alien unseren Kranken eine diaphoretische Be- 
handlung zuteil werden: Aspirin oder Diplosal oder Salypirin 3—4 g 
innerlich und HeiBluftapplikation im Bette taglich in der Dauer von 
15—30 Minuten je nach der Reaktion seitens des Zirkulationsapparates. 

Waren die akutesten Symptome voriiber, so applizierten wir noch 
die indifferente Elektrode des galvanischen Stromes bis zu 2,0 MA. 

Erst nach dem Verschwinden aller akuten Reizsymptome oft 6—8 
Wochen nach dem Krankheitsbeginn wandten wir den farradischen 
Strom an und lieBen eine leichte Massage der betroffenen Extremitaten 
folgen. Erst jetzt suchten wir den allgemeinen Tonus der Muskulatur 
durch Strychnin (innerlich oder subcutan), femer durch Arsen und 
Phosphor zu heben. 

Wir konnten sogar nach 2 Jahren auffallende Besserung der Mo- 
tilitat eintreten sehen nach einer sorgfaltig vorgenommenen Massage 
und passiver Bewegung. 

Zusammenfassung. 

In Zusammenfassung dieser Betrachtungen iiber die Heine - 
Medinsche Erkrankung beim Erwachsenen kann gesagt werden: 

1. Es muB gegeniiber einem GroBteil unserer Literatur besonders 
hervorgehoben werden, daB auch nach der Erfahrung der steirischen 
Epidemie die Poliomyelitis nicht nur Kinder, sondem auch eine sehr 
groBe Anzahl von Erwachsenen trifft; kein Alter bleibt verschont, 
obwohl wir zwischen dem 20. und 30. Lebensjahre die groBte Anzahl 
Betroffener zu verzeichnen haben. 

2. Unter den auslosenden Faktoren scheint die Verkiihlung 
eine eminente Rolle zu spielen. Eine neuropathische Anlage war in den 
wenigsten Fallen nachzuweisen. 

3. Unter den weiblichen Patientinnen befanden sich 42% 
wahrend der letzten Monate der Graviditat. 

4. Unter den Prodromalerscheinungen soli starke Schmerz- 
haftigkeit langs des Nackens, Wirbelsaule und Nervenstamme, SchweiB- 
ausbriiche, katarrhalische Affektion des Respirations- und Verdauungs- 
traktus, Fieber und voriibergehende Benommenheit hervorgehoben 
werden. 

5. Unter den Verlaufsformen konnte man auch bei Erwachsenen 
encephalitische, bulbiire, spinale, meningitische und nach Art einer 
Landryschen Paralyse vor sich gehende Fiille beobachten; es erstreckte 


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der Poliomyelitis (Heine-Medin) beim Erwachsenen. 


625 


sich femer der pathologisch-anatomische Sitz der Erkrankung (nach 
der Symptomatik zu beurteilen) auf alle Teile des Zen trainer vensyste ms. 

6. Die Hirnnerven erwiesen sich sehr haufig betroffen, und zwar 
manchmal nur vorubergehend, manchmal durch langere Zeit; am 
haufigsten war der Facialis, 18 Falle (38%), der Hypoglossus in 9 Fallen, 
der Trigeminus in 3 Fallen, der Abducens, Vagus, Glossopharyngeus 
in 2 Fallen, der Opticus und der Oculomotorius in einem Falle betroffen. 

7. Sehr haufig (ein Drittel unserer Falle) waren die Sehnenreflexe 
auch an den betroffenen Extremitaten gesteigert mit oder ohne Klonus 
neben einem haufigen positiven Babinskischen Phanomene. 

8. Storungen der Sensibilitat kamen nur allzuhaufig vor und zwar 
manchmal nur als voriibergehende oft dagegen auf mehrere Wochen 
sich erstreckende Anfallserscheinungen. 

Dieselben zeigten im allgemeinen den spinalen Typus der Lasionen 
der Sensibilitat. Es konnten Storungen der Beriihnmg, als Hyper- 
asthesie, Hypasthesie oder Anasthesie, ferner des Unterscheidungs- 
vermogens zwischen Spitze und Kopf der Nadel, des Schmerzsinnes, 
als Hyperalgesie, Hypalgesie oder Analgesie, des Warme- und Kalte- 
sinnes, der Pallasthesie und der Leitung mittels des elektrischen Stromes 
nachgewiesen werden. Obwohl die Extremitaten die meisten Storungen 
der Sensibilitat aufwiesen, so konnte eigentlich keine groBere Partie des 
Korpers als dauemd verschont beobachtet werden. 

9. Storungen des Blasen- und Mastdarmzentrurns kamen bei 
23% unserer Falle vor; auBer einem Falle von leichter Inkontinenz war 
sonst immer Retentio urinae et alvi vorhanden. Die Dauer dieser 
Storung war auf eine kurze Zeit beschrankt, von einem Tag bis zu 
5 Wochen; langer dauemde Storungen des Blasen- und Mastdarm- 
zentrums konnten wir nicht feststellen. 

10. Unter den Zirkulationsstorungen waren Odeme, Hyper- 
hydrosis, circumscript gerotete Hautpartien, Steigerung des Blut- 
druckes auf der gelahmten Korperseite im Vergleiche zur nicht pa- 
retischen (Blutdruckunterschied bis 20 Hg mm nach Riva-Rocci); 
ferner waren Exantheme und Keratosen der Haut zu sehen, an 
deren Genese jedoch nicht nur die Schadigung der Trophik durch den 
anatomischen ProzeB, sondem auch im Blute zirkulierende Toxine be- 
teiligt sein diirften. 

11. Was den Ausgang unserer Falle betrifft, so haben wir bei 
22,8% der Falle Heilung, bei 63% Besserung, bei 10,2% keine Besse- 
rung und bei 6,1% Exitus letalis zu verzeichnen. 

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S. Canestrini: Betrachtungen tlber die klinische Symptomatik 


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Wochenschr. 1909. 

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— Die Epidemiologic der sogenannten spinalen Kinderlahmung. Deutsche Zeitschr. 

f. Nervenheilk. 45, 3. 

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Wochenschr. 1899. 

— Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 5. Aufl. Berlin 1908. 

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Probst, Ober die Folgen der spinalen Kinderlahmung auf die hoher gelegenen 
Nervenzentren. Wiener klin. Wochenschr. 1898. 

Romer, P. H., Untersuchungen zur Atiologie der epidemischen Kinderlahmung. 
Miinch. med. Wochenschr. 1909. 

— Weitere Mitteilungen iiber experimentelle Affenpohomyehtis. Miinch. med. 

Wochenschr. 1910. 

— und K. Joseph, Beitrage zur Prophylaxe der epidemischen Kinderlahmung. 

Miinch. med. Wochenschr. 1910. 

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osterr. Sanitatewesen 1909. 

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Wochenschr. 1913, Nr. 6. 

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positivem Babinski. Neurol. Zentralbl. 1905. 


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628 S. Canestrini: Betrachtungen iiber die Symptomatik der Poliomyelitis. 


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acuta) in Wien 1908 09. Wiener med. Wochenschr. 1910. 

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Wickmann, Ivar, t)ber die akute Poliomyelitis und verwandte Erkrankungen 
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— Weitere Studien iiber Poliomyelitis acuta. Ein Beitrag zur Kenntnis der Neuro- 

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— t)ber akute PoliomyeUtis und Polyneuritis. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psych. 

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Autorenverzeichnis. 


Allers,R. undJ. M. Sacristan. Vier 
Stoffwechsel vereuche bei Epileptikern. 

S. 305. 

Birnbaum, K. Der Konstitutions- 
begriff in der Psychiatric. S. 520. 

Canestrini, S. Betrachtungen Uber 
die klinische Symptomatik der Polio¬ 
myelitis (Heine-Medin) beim Erwach- 
senen. S. 585. 

Dzierzynsky, W. Dystrophia perio- 
stalis hyperplastica familiaris. S. 547. 

Gorn,W. Gber therapeutische Ver- 
suche mit kolloidalem Palladium- 
hydro xydul („Leptynol u ) bei ver- 
schiedenen Psychosen. S. 358. 

Kauffmann, A. F. Zur Frage der 
Heilbarkeit der Korsakowschen Psy- 
chose. S. 488. 

K r a b b e, K. Beitrag zur Kenntnis der 
Frtthstadien der diffusen Hirnsklerose 
(die perivascul&re Marknekrose). 

S. 108. 

Krueger, H. Beitr&ge zur Klinik der 
Paranoia. S. 116. 

Lapinsky, M. Die latente Form der 
Neuralgie des N. cruralis und ihre 
diagnostische Bedeutung bei den Er- 
krankungen der Organe des kleinen 
Beckens. S. 386. 

Leschke,E. siehe Schiefferdecker und 
Leschke. 

Levinsohn, G. Der optische Blinzel- I 
reflex. S. 377. ! 


L o m e r, G. Ein Fall von zirkul&rer Psy- 
chose, graphologisch gewttrdigt. S. 447. 

Lundsgaard, Chr. Eigenttlmliche 
Verftnderungen im Httckenmarke 
eines Neugeborenen (kongenitale 
Syringomyelic). S. 279. 

Maass, S. Psychiatrische Erfahrungen 
mit dem Abderhaldenschen Dialysier- 
verfahren. S. 561. 

Meyer, M. Klinischer Beitrag zur 
Kenntnis der Funktionen des Zwi- 
schenhims (Encephalitis corporum 
mammillarium). S. 327. 

Pttnitz, K. Beitrag zur Kenntnis der 
Frtihkatatonie. S. 343. 

v. Rad. t)ber Apraxie bei Balken- 
durchtrennung. S. 533. 

Sacristdn, J. M. siehe Allers und 
Sacristdn. 

Schiefferdecker,P. und E. Leschke. 
Gber die embryonale Entstehung von 
Hfthlen im Rlickenmarke mit beson- 
derer Berilcksichtigung der anatomi- 
schen und physiologischen Verha.lt- 
ni8se und ihrer Bedeutung filr die 
Entstehung der Syringomyelic. S. 1. 

S c h i 1 d e r, P. tjber das SelbstbewuBt- 
sein und seine Sttfrungen. S. 511. 

Serobianz, N. A. Untersuchungen 
Uber das Verhalten des Restkoblen- 
stoffs im Epileptikerblute. S. 425. 

* Wittermann, E. Psychiatrische Fa- 
milienforschungen. S. 153. 


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Dio Abteilung dcr ^Zeitschrift fUr die gesamte Nearologie und 
Psychiatrie 44 , die die 

Originalbeitr&ge 

bringt, erscheint in zwangloser Folge, derari, dafl die eingebenden Arbeiten so 
rasch als irgend mOglich, spatestens aber 4—6 Wochen nach Eingang, erscheinen 
kOnnen. Eine Teilung von Arbeiten in verschiedene Hefte soil vermieden warden. 
Zuxn VoretilndDis der Arbeiten and zur Belegung von Befunden wichtige Ab- 
bildungen and Tafeln kdnnen den Arbeiten jederzeit beigegeben werden. 

Die Manuskripta sind ftir den psy chiatriacben Teil an 

Herrn Professor Dr f Alzheimer, Breslau, Auenstrafle 42» 
far den neuroJogischen Teil an 

Herni Professor Dr. Lewandowsky, Berlin W 62, Lutherstrafle 21, 

einzuaenden. Die Autoren der Originalien werden gebeten, ihren Arbeiten ein 
Aotoreferat ftir den Referateteil beizulegen. 

Das Mitarbeiterbonorar betragt M. 40.— filr den Druckbogen Originalien, 
jeder Mitarbeiter erh&it 60 Sonderahdrticke seiner Arbeit unentgeltlich. 

Die Zeitschrift erscheint in Heften von je ea. 8 Bogen* die zu Biinden von 
otwa 40 Bogen (je nach Zahi and Art der beigegebenen Abbildungen) vereiaigt 
werden. 

Der Preis des Bandes betr&gt M. 24.—. Die Erledigung aller nicht* 
redaktionellen Angelegenheiten, die die Zeitschrift betreffen, erfolgt durch die 

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Dzierzyusky, W* Dystrophia periostalis hyperplastica familiaris. (Mit 

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Maas, S, PsyclViatrischo Erfabrongen mit dem Abderhaldenscben Diaimer- 

verfahren ..„,.. 561 

Canestrlni, S* Betraclitimgen liber die klinische Symptomatik der Polio¬ 
myelitis (Ifoine-MeJin) beta Erwachsenon; (Mit 15 Textiignren und 
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