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Full text of "Z Ges Neurol Psychiatr Originalien 1917 37"

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Zeitschrift ffir die gesamte 

Neurologie und Psychiatrie 

Hersuagegeben von 

R. Gaupp M. Lewandowsky H. Liepmann 

TUbingen Berlin Berlin-Herzberge 

W. Spielmeyer K. WUmanng 

MQnchen Heidelberg 

Originalien 

Redaktion 

des psychiatrischen Teiles des neurologischen Teiles 

R. Gaupp M. Lewandowsky 

outer Mitwirkung tod 

W. Spielmeyer | 

Siebenunddrei Bigster Band 

Mit 34 Teztfigoren und 8 Tafein 



Berlin 

Verlag von Julius Springer 
1917 


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Druck der Spamerschcn Ruchdmckerci in Leipzig 


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Inhaltsverzeichnis, 

Seite 

Redlich, Dr. Emil. Uber Encephalitis pontis et cerebelli. (Mit 1 Textfigur 


und 2 Tafeln). 1 

Simons, A. Knochen und Nerv (Kriegserfahrungen). (Mit 1 Textfigur und 

6 Tafeln).36 

Kretschmer, Ernst. Hysterische Erkrankung und hysterische Gewtfhnung 64 
Hellig, Dr. G. Epilepsie und affektive Psychose nach Hirnverletzung . . 92 

Grfinbaum, Dr. A. A. Pseudovorstellung und Pseudohalluzination. Heitrag 

zur Pathopsychologie des Gegenstandsbewufttseins.100 

von Rohden, Dr. Friedrich. Uber die Pathologie der Paralytikerfarailie . 110 
Xonne, Prof. Dr. M. Uber erfolgreichc Suggestivbehandlung der hysteri- 

formen Stbrungen bei Kriegsneurosen.191 

Wagner, Medizinalrat. Die Dienstbeschadigung bei nerven- und geistes- 

kranken Soldaten. (Mit 4 Textfiguren).219 

Cassirer, R. Zur Prognose der Nervennalit. (Mit 6 Textfiguren).245 

Potzl, Dr. Otto. Experinientell erregte Traumbilder in ihren Hezieliungen 

zunn indirekten Sehen. (Mit 19 Textfiguren).278 

Liebermeister, Dr. G. und Dr. Siegerist. Uber eine Neurosenepidemie in 

einem Kriegsgefangenenlager.350 

Kinberg, Olof. Kritische Reflexionen Uber die psychoanalvtischen Theorien 356 
Cimbal, Dr. Walter. Die Zweck- und Abwehrnenrosen als sozialpsyeho- 

logische Entwicklungsforinen der Nervositat.399 

Boas, Kurt. Kritische Bemerkungen Uber den atiologischen Zusammenhang 

zwischen Chorea minor und Syphilis .420 

Herzig, Dr. Ernst. Die Hysteria Ncurose oder Psychose?.452 

Fankhauser, Privatdozent Dr. Ernst. Zu herdforiniger Rindenverudung fuh- 
rende hyaline Degeneration der Gefafte bei progressiver Paralyse. (Mit 
3 Textfiguren) .. 489 


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Zeitschrift fur die gesamte 



Neurologie und Psychiatric 


Herausgegeben von 


K. Gaupp M. Lewandowsky U. Licptnann 

Tlibtnger Berlin Berlin-Herzberge 

W. Spielmeyer K. Wilmanns 

Mdnclifn / Heiilelbfrs 


Origiiialieu 


r llidaktion 

(U*r» paycinatrisclien f cites I des neurolo^ischen Teiles* 

11. Gaupp M. Lewandowsky 

m.ter MitwirkanK ron 

W. Splelinoycr j 


TSiebenunddreiBigster Band. Erstca und zweites Heft 


(Aiisgegebeh am 18. September 1917) 



Berlin 

Verlag von Julius Springer 
1917 













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Die Abteilung tier w Zeitschrift fUr die gesamte Neurologic und 
Psychiatric*, die die 

Originalbeitrage 

bring!, erscheint in zwangloser Folge, derart, daC die eingehenden Arbeiten so 
r&sch als irgend mOglich erscheinen kbnnen. Arbeiten, die nicht lttnger als 
1 2 Druckbogen sind, und solche, welche die Kriegsneurologie be- 
handeln, werden iin Erscheinen bevorzugt. Eine Teilung von Arbeiten in 
verschiedene Hefte soli vermieden werden Zum Verstiindnis der Arbeiten und zur 
Belegung von Befunden wichtige Abbildungen und Tafeln konnen den Arbeiten 
jederzeit beigegeben werden. 

Die Manuskripte sind einzusenden: FUr den psyehiatrischen Teil an 
Herrn Gcneraloberarzt Prof. Dr. R. Gaupp, Tubingen, Nervenklinik, 
ftlr den neurologischen Teil an 

Herrn Prof. Dr. Lewandowsky, Berlin W 62, Lutherstrafie 21. 

Die Autoren der Originalien werden gebeten, ihren Arbeiten ein Autoreferat 
fQr den Referatenteil beizulegen. 

Das Mitarbeiterhonorar betr&gt M. 40.— fttr den Druckbogen Originalien; 
jeder Mitarbeiter erhalt 60 SonderabdrQeke seiner Arbeit unentgeltlich. 

Die Zeitschrift ersclieint in Heften von je ca. 8 Bogen, die zu Biinden von 30 bis 
40 Bogen (je nach Zahl und Art der beigegebenen Abbildungen) vereinigt werden. 

Der Preis des Bandes betragt M 26.—. Die Erledigung aller nicht- 
redaktionellen Angelogenheiten, die die Zeitschrift botreffen, erfolgt durch die 

Verlagsbuchhandlung von Julius Springer, 
Berlin W 9, LinkstraBe 23/24. 


37. Band. Inhaltsverzeichnis. Heft. 

Hedlieli. Emil. Uber Encephalitis pontis et cerebelli. (Mit 1 Tcxtfigur 

und 2 Tafeln). 

Simons. A. Knochen und Nerv (Kriegserfahrungen). (Mit 1 Textfigur und 

6 Tafeln) . -36 

Kretschmer, Ernst. Hysterische Erkrankung und hysterische (Tcwuhnung 64 
Heilig. G. Epilepsie und affektive Psychose nach Hirnverlefczmig .... 92 

Griinbaum, A. A. Pseudovorstellung und Pseudohalluzination. 100 

v. Kolidon. Friedrich. Uber die Pathologie der Paralytikerfamilie .... 110 


Verlag von Julius Springer in Berlin W 9 


Vor kurzem erschien: 

Die Wassermannsche Reaktion 

in ihrer serologiseken Tecknik und klinisehen Bedeutung 
auf Grund von Untersuchungen und Erfahrungen in der Chirurgie 

von 

Dr. med. Erich Sonntag 

Privatdozent und Assistcnt an der chirurgischen Klinik der Universit&t Leipzig 
Mit einem Geleitwort von Gehoimrat Prof. Dr. E. Payr 
Preis M. 6.80 


Zu beziehen durch jede Buchhandlung 


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Uber Encephalitis pontis et eerebelli. 

Von 

Professor Dr. £mil Redlich. 

(Ana der Nervenheilanstalt ,,Maria Theresienschlbssel" in Wien.) 

Mit 1 Textfigur and 2 Tafeln. 

(Eingegangen am 27. Februar 1917.) 

Ich habe in den letzten Monaten unter den der Anstalt zugewieeenen 
Soldaten 4 (resp. 5) Falle mit einem in mancher Beziebung eigenartigen, 
andererseits in vielen Punkten ubereinstimmenden Symptomenbilde zu 
sehen Gelegenheit gebabt. Nach reiflicher Uberlegung erschien mir 
trotz gewisser unverkennbarer Schwierigkeiten die Diagnose einer 
Encephalitis pontis et eerebelli in der Mehrzahl unsere Falle die 
wahrscheinlichste. Eine groBe Stiitze in dieser Annahme bot mir ein 
Fall, den ich vor vier Jahren auf der Nervenklinik von v. Wagner- 
Jauregg gemeinsam mit Dozenten Dr. v. Economo zu beobachten 
Gelegenheit hatte, der klinisch vielfach an unsere Falle erinnerte, und 
wo die Obduktion und die mikroskopiscbe Untersuchung tatsachlich 
den Befund einer Encephalitis pontis et eerebelli ergab. 

Bevor wir an die Besprechung unserer Falle gehen, wird es sich emp- 
fehlen, kurz das, was wir uber encephalitische Herde in der Brucke 1 ) und 
im Kleinhim in kliniseber und anatomischer Beziehung wissen, zu re- 
kapitulieren. Einen verlaBlichen Fuhrer auf diesem Gebiete gibt uns 
die ausgezeichnete Darstellung der Frage in Oppenheim-Cassirers 
Bearbeitung der Encephalitis. Auch bei Vogt, der das Kapitel Ence¬ 
phalitis in Lewandowskys Handbuch bearbeitet hat, finden sich 
viele brauchbare Hinweise. Darum konnen wir uns in folgendem eine 
vollstandige Literaturzusammenstellung ersparen, vielmebr nur jene 
Falle herausheben, die fur uns von besonderer Wichtigkeit sind, resp. 
solche, die erst nach Oppenheim-Cassirer veroffentlicht wurden. 

Encephalitische Herde im Pons und Kleinhim konnen sich, wie 
Ieicht begreiflich, in alien jenen Fallen finden, wo multiple encephali¬ 
tische Herde im Gehim vorhanden sind. Bei der Wernickeschen 

x ) Die Herde konnen sich auch auf die Medulla oblongata, andererseits proxi- 
malw&rts uber die Brucke hinaus ausdehnen, was selbstverst&ndlich symptomato- 
logisch Bedeutung hat, aber pathologisch keine wesentliche Differenz bildet. 

Z. t. d. g. Near. u. Psych. O. XXXVII. 1 


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E. Redlich: 


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Poliencephalitis haeraorrhagica finden sich regelmaBig entziindliche 
Herde im Pons, in der Medulla oblongata und im Grau um den Aquae- 
ductus Silvii. Das Symptomenbild dieser Affektion ist aber so scharf 
umrissen, daB wir hier da von absehen konnen. 

Anders steht dies in manchen Fallen der umschriebenen GroB- 
himencephalitis vom Typus-Strumpell-Leichtenstern und der 
multiplen GroBhimencephalitis, deren klinisches Bild durch das Auf- 
treten groBerer Herde im Pons und Kleinhim sehr wesentlich beein- 
fluBt werden kann. An letztere Lokalisation konnen sich aber auch 
entzundliche Veranderungen im Riickenmark angliedem, wodurch wie- 
der neue Ztige im Krankheitsbild bedingt werden — Encephalomye¬ 
litis resp. Poliencephalomyelitis. Umgekehrt konnen sich bei 
der akuten, infektiosen Poliomyelitis Herde im Gehim, u. a. auch im 
Pons, etablieren, die natiirlich Himnervenlahmungen, Lahmungen 
vom Charakter cerebraler Paresen bedingen. Medin, ich selbst u. a. 
haben schon vor Jahren anatomische Belege dafiir geliefert. Die letzte 
groBe Poliomyelitisepidemie hat unsere Erfahrungen in dieser Richtung 
vielfach vermehrt; ich kann da auf Zappert, Wickmann u. a. ver- 
weisen. 

Wir wissen aber auch, daB der encephalitische ProzeB in relativ 
seltenen Fallen sich isoliert im Mittel-, Hinter- und Nachhim entwickeln 
kann, die eigentliche Encephalitis pontis et cerebelli, die in vieler 
Beziehung ein eigenartiges klinisches Bild bietet. Sie soil uns hier vor 
allem beschaftigen, wobei freilich auch Falle von Encephalitis des GroB- 
hims mit Herden in der Briicke, resp. die Encephalomyelitis vergleichs- 
weise mit herangezogen werden sollen. Dagegen konnen wir von den 
Fallen von Poliomyelitis acuta mit Herden im Gehirn absehen, weil 
sie atiologisch und klinisch doch im wesentlichen von der Pathologie 
der Poliomyelitis beherrscht werden, der Bruckenherd zwar nicht un- 
interessante, aber pathologisch doch bedeutungslose Details dem klini- 
schen Bilde einfugt. 

Die Kasuistik, die uns fur unsere Zwecke zur Verfiigung steht, ist 
nicht klein, aber sie ist verschiedenwertig, weil die Falle in ihrem 
atiologischen und klinischen Bilde und im Verlauf sehr wesentlich von- 
einander abweichen, andererseits aber und vor allem, weil nur ein 
kleinster Teil der Falle anatomisch verifiziert ist, so daB bei manchem 
diagnostische Bedenken am Platze sind. Wir wollen aber im folgenden 
trotzdem zunachst alle Falle heranziehen, die in der Literatur als hier- 
hergehorig betrachtet werden; weitere Erorterungen seien fur spater 
aufgespart. 

Nehmen wir zunachst die reinen Falle von Encephalitis pontis, so 
bringt schon die altere neurologische Literatur manchen Beleg fur unsere 
Frage unter dem Titel „Myelitis bulbi“ (Leyden), „heilbarer 


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L'ber Encephalitis pontis et cerebelli. 


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Bulbarkomplex“, „akute Ataxie“ usw. Abgesehen von 2 Fallen 
von Leyden haben wir vor allem Westphals bekannte Publikation 
zu nennen. Es handelt sich hier um akut nach Variola, resp. Typhus 
einsetzende Krankheitsbilder, die in Heilung oder wesentliche Besserung 
ubergingen. Fall 1 z. B. betrifft eine 47jahrige Frau, bei der im Prodro- 
malstadium einer Variolois Trubung des Sensorium, Sprachstorung, 
spater Zittem des Kopfes, Ataxie der oberen und unteren Extremitaten, 
Unvermogen zu stehen und zu gehen aufrat. Im spateren Verlaufe 
Besserung der Erscheinungen, aber die Sprache blieb noch skandierend, 
monoton, gequetscht, schwer verstandlich, naselnd. Auch bei einem 
zweiten Falle setzten im Beginne einer Variolois Sprachstorungen, 
Storungen der Motilitat, Gedachtnisschwache usw. ein. Im Falle 5 war 
Typhus vorausgegangen; hier standen Sprachstorungen, ruckweise, 
ungeschickte Bewegungen der Hande, schleudemder Gang, Zittem der 
Beine und Schwanken bei geschlossenen Augen im Vordergrunde des 
Krankheitsbildes. 

Weiter gehoren hierher zwei Falle von Etter, die Oppenheim- 
Cassirer zitieren. Der erste Fall betrifft ein 27jahriges Madchen, 
bei dem ohne bekannte Ursachen Sehstorung, Doppeltsehen, Schling- 
beschwerden, Heiserkeit, naselnde Sprache innerhalb von 4 Tagen sich 
f ntwickelten. Spater kamen hierzu Lahmung der Augenmuskeln, des 
Facialis, des Gaumensegels, des Accessorius, dabei naselnde, verlang- 
sarnte Sprache; rascher Riickgang der Erscheinungen in Heilung. 

Im zweiten Falle, einem lojahrigen Knaben, trat Kopfschmerz, 
Brechreiz, Schwindel auf, worauf Fieber mit Erbrcchen, Schlingstorung 
(Angina) hinzutrat. Spater unsicherer Gang, Nackensteifigkeit, beider- 
seitige Facialis- und Hypoglossusparese, Liihmung des Gaumensegels, 
Dysarthrie, Dysphagie, Parese der Stimmbander, Lahmung des Abdu- 
cens, der Hals- und Nackenmuskulatur. Am 11. Tage Exitus. Bei 
der Obduktion fand sich herdwcise Entzundung in der Medulla oblon¬ 
gata. 

3 Falle von Eisenlohr — jugendliche Individuen betreffend — 
schlieBen wieder an Typhus an. Es bestanden hier dysarthrische Sprach- 
storung, Parese des Facialis, des weichen Gaumens und der Zunge, 
Schluckstorungen, Schwache des motorischen V, Schwache der ge- 
samten Muskulatur, dabei Benommenheit des Sensoriums, einmal 
Neuritis optica. Zwei der Falle sind geheilt, einer gestorben. 

In einem Falle von Nauwerc k fand sich nach Influenza eine Ence¬ 
phalitis des Kleinhims, jedoch ist hier das klinische Bild wenig charak- 
teristisch. 

Interessanter ist ein Fall von Bruns, einen I5jahrigen Knaben be¬ 
treffend, der schon in den letzten Wochen gelegentlich uber Kopf- 
schmerzen geklagt hatte. Ein Sturz auf den Kopf hatte zunachst keine 

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£. Redlich: 


Folgeerscheinungen; zwei Tage spater trat Kopfschmerz, Erbrechen 
auf, dann rasche Entwickelung weiterer Erscheinungen. Bei der Unter- 
suchung ist der Patient leicht benommen, es besteht rechtsseitige 
periphere Facialislahmung, Blicklahmung nach rechts, der linke Rectus 
intemus ist auch bei Konvergenz gelahmt, linksseitige Ptosis. Bei 
alien Augenbewegungen deutlicher Nystagmus. Die Sprache ist nasal. 
Hypaathesie und Parasthesie der linken Korperhalfte. Ataxie der linken 
Extremitaten. Im spateren Verlaufe totale Oculomotoriuslahmung 
links, Parese, Ataxie und Anasthesie der linken Korperhalfte. Schwan- 
ken beim Stehen mit geschlossenen Augen, das Schlucken ist erschwert. 
Vom 9. Tage ab Besserung der Erscheinungen; nach mehrmonatigem 
Verlauf bleibt schlieBlich nur noch eine leichte Parese des rechten Fa¬ 
cialis zurfick. 

Bruns erortert die Differentialdiagnose zwischen einem ence- 
phalitischen Herd in der rechten Ponshalfte, im Haubengebiet ge- 
legen, mit leichter Affektion der Pyramidenbahn und fiber die Mittel- 
linie bis in den linken Oculomotoriuskem fibergreifend, und einer 
traumatischen Spatapoplexie im Sinne von Bollinger, neigt 
aber — unseres Erachtens mit Recht — ersterer Annahme zu. 

Unbekannter Atiologie ist ein von Friedmann beschriebener Fall: 
33jahrige Frau, bei der plotzlich Schwindel, Taumeln, Erbrechen, 
Parasthesien der rechten Korperseite und Augenmuskellahmungen 
auftraten. Bei der Untersuchung Schwindel und Erbrechen, zwangsweise 
Rechtsdrehung des Kopfes, Parese des linken Facialis, des sensorischen 
Glossopharyngeus und des sensiblen Trigeminus, Hemianasthesie 
rechts, die Sehnenreflexe rechts gesteigert. Ausgang in vollstandige 
Heilung. Friedmann nimmt einen encephalitischen Herd in der 
linken Ponshalfte an. 

Oppenheim erwahnt einen gemeinsam mit Uhthoff beobachteten 
Fall, wo sich nach Influenza eine doppelseitige Ophthalmoplegie, 
Gaumensegellahmung, Dysarthrie und Tachykardie entwickelt hatten; 
dann ein 12jahriges Madchen, wo ohne bekannten AnlaB in subakuter 
Weise Kopfschmerz, maBige Benommenheit des Sensorium, Lahmung 
des linken Facialis, Hemiplegia dextra, Ataxie beider oberer Extremi- 
taren, Sensibilitatsstorung, Dysarthrie, Horstorung aufgetreten waren. 
Nach mehreren Monaten Ausgang in Heilung. 

Unter Nonnes Fallen gehort sein Fall 7 hierher. Bei einem 45jahri- 
gen Manne hatten sich unter Fieber Kopfschmerz, Schwindel, Erbrechen, 
herabgesetzter Muskeltonus, Rumpfmuskelschwache, cerebellar-atakti- 
scher Gang, Steigerung der Sehnenreflexe entwickelt. Allmahliche 
Besserung, nur blieb eine gewisse Unsicherheit beim Gehen zurfick. 
Sein Fall 8 betrifft einen 28jahrigen Mann; plotzhch unter Fieber 
Dbelkeit, Erbrechen, Delirien, Unvermogen zu stehen, leichte klonische 


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Uber Encephalitis pontis et cere belli. 


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Zuckungen in der Nackenmuskulatur, Schwache der Rumpfmuskulatur, 
Nystagmus, cerebellar-ataktischer Gang, choreatische Muskeltmruhe, 
schlieBlich Heilung. 

Wir erwahnen dann einen Fall von Muratow, einen 29jahrigen 
Mann, -wo nach Fieber akute Sprachstorung, Nystagmus, Diplopie, 
Schluckstorung, Lahmung des rechten motorischen V und leichte 
Schwache der rechtsseitigen Extremitaten aufgetreten waren. Der 
weitere Verlauf ist unbekannt. 

Ein Fall von Berg ist anatomisch belegt; freilich lag hier eine Blu- 
tung im Pons vor, doch glaubt Berg durch den histologischen Befund 
eine entzundliche Grundlage derselben festgestellt zu haben. Bei einem 
24jahrigen Madchen traten zunachst motorische Reizerscheinungen, 
dann Lahmung des rechten Facialis und Oculomotorius neben links- 
seitiger Extremitatenlahmung auf. Tod nach 4 Tagen. 

Der nun folgende Fall von Striimpell ist wieder nur klinisch be- 
obachtet; bei einem 4 1 / 2 jahrigen Madchen trat nach Keuchhusten bei 
freiem Sensorium Sehstorung bis zur Erblindung auf, der ophthalmo- 
skopisch Stauungspapille entsprach (Striimpell halt Neuritis optica 
fur wahrscheinlicher). Von weiteren Symptomen erwahnt Striim pell: 
Einschrankung der Augenbewegungen, reflektorische Pupillenstarre, 
Unvermogen zu stehen, ausgesprochene cerebellare Ataxie; die PSR 
fehlen. Dann allmahliche Besserung des Sehvermogens unter Aus- 
bildung einer Atrophia N. optici, ebenso Besserung der Ataxie, die 
Sehnenreflexe kehren wieder. Striimpell denkt an eine Keuchhusten - 
encephalitis im Bereiche der Vierhiigel. 

Auch der Fall von Gotz ist akut, postinfektios. Ein 33jahriger 
Mann erkrankte fieberhaft (Influenza ?); bald darauf cerebellare Ataxie, 
partielle Oculomotoriuslahmung, Sprachstorung, im Liquor Pleocytose. 
Allmahliche Besserung. 

Endlich aus der letzten Zeit eine Beobachtung von Sztanojevits 
(aus dem Kriege). Bei einem 23jahrigen Soldaten tritt nach Husten 
und Schnupfen mit Fieber (Influenza?) Kopfschmerz, Erbrechen, den 
folgenden Tag Besinnungslosigkeit und Unruhe auf. 4 Tage spater 
ist der Kranke bei der Untersuchung verwirrt, halluziniert. Die beiden 
Augen sind nach links gedreht, konnen nicht nach rechts gebracht 
werden; Konvergenzbewegungen sind erhalten; in den Endstellungen 
Nystagmus. Der Kopf wird standig nach rechts gedreht gehalten. 
Parese des rechten Facialis und des rechten motorischen V. Auf der 
linken Korperhalfte Hypasthesie und Astereognose links, Ataxie der 
linken Extremitaten (die obere ist starker ergriffen als die untere), 
Schwerhorigkeit links zentralen Ursprungs. Beim Stehen Schwanken 
ohne bestimmte Fallrichtung, bcim Gehen mit geschlossenen Augen Ab- 
weichen nach rechts. SchlieBlich Ausgang in Heilung. Sztanojevits 


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£. Redlich; 


nimmt einen Herd in der rechten Schleifengegend mit Beteiligung des 
rechten hinteren Langsbtindels an. 

Von den Fallen, wo neben einem Herd im Pons oder im 
Kleinhirn sich eine GroBhirnencephalitis findet, reap, an- 
genommen wurde, erwahnen wir zunachst einen Fall vonLenhartz, 
Hier traten bei einem 8jahrigen Knaben nach Dysenterie psychische 
Storungen, dann vollstandige Sprachlosigkeit auf. 4Wochen spater fand 
sich komplette Anasthesie, Aphasie, Sphincterenlahmung, Intelligenz- 
storung, Ataxie, anfanglich nur bei Bewegungen der Glieder, spater auch 
des Rumpfes, Nystagmus. Die Sprachstorung besserte sich im Verlaufe 
von Monaten, die Ataxie erst nach einem Jahre. Lenhartz nimmt dis- 
seminierte encephalitische Herde im Gehim, u. a. auch in der Medulla 
oblongata und im Ruckenmark (?) an. 

Ein Fall von Bonhoffer, der anatomisch untersucht ist, ist atio- 
logisch unklar. In subakuter Weise entwickelten sich hier bei einem 
lOjahrigen Knaben eine choreatische Unruhe, Sprachstorung bulbarer 
Natur, statische Ataxie, Adiadochokinesie der rechten Hand, Storung 
der Blickbewegung nach rechts, Herabsetzung des Comealreflexes, 
Babinski. Spater ist die Sprach- und Schluckfahigkeit aufgehoben, 
der rechte Mundfacialis paretisch, es besteht starkes Taumeln beim 
Gehen, Schmerzhaftigkeit der Wirbelsaule. Bei der anatomischen Unter- 
suchung finden sich zahlreiche encephalitische Herde im Stimhim, 
Nucleus caudatus, im Linsenkem und Marklager der Zentralwindungen, 
ebenso im Pons (Kleinhirn?). Im Ruckenmark besteht nur sekundarc 
Degeneration. 

Auch der folgende von Henneberg und auch von Oppenheim 
beobachtete Fall ist durch Henneberg anatomisch untersucht worden. 
Hier hatte sich bei einem 39jahrigen Mann nach einem leichten Trauma 
ein schweres, von Oppenheim als akute multiple Sklerose auf- 
gefaBtes Krankheitsbild entwickelt. Es bestanden psychische Alte- 
rationen, Gangstorung, Parasthesie, Anasthesie und Ataxie im rechten 
Arm, Dysarthrie. Rasche Zunahme aller Erscheinungen, Neuritis optica, 
Sphincterlahmung, schlieBlich Quadriplegie mit Areflexie, Babinski, 
Oppenheim, Bauchmuskelschwache, Sensibilitatsstorungen in den Ex- 
tremitaten. Nach voriibergehender Remission neuerliche Verschlimme- 
rung, Augenmuskellahmungen, Dysphagie, Dysarthrie, Lahmung des 
Facialis, Nystagmus. Tod nach acht Monaten. Henneberg fand Herde 
in der Hirnrinde, im Balken, Pons, Medulla oblongata, die er als encepha- 
litisch auffaBt und von der akuten multiplen Sklerose abtrennen will. 

In gewisser Beziehung ahnlich ist ein Fall von Kramer-Henne¬ 
berg. Bei einem 43jahrigen Mann tritt zunachst linksseitige Hemi¬ 
plegic mit Hemianasthesie auf. Allmahliche Besserung. 3 Jahre spater 
Lahmung des rechten Facialis, Abducens, Oculomotorius, linksseitige 


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t)ber Encephalitis pontis et cerebelli. 


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Hemiplegie und Hemianasthesie. Es findet sich ein grofier Herd im 
Marklager der rechten Hemisphere, ein zweiter im ventralen Teil der 
Medulla oblongata, bis in die Mitte der Brticke reichend, den Henne- 
berg als encephalitisch bezeichnet. Das Riickenmark ist frei. 

Anhangsweise sei erwahnt, daB von Dinkier und Luthje Falle 
mit einer akut sich entwickelnden Ataxie beschrieben wurden, die die 
Autoren als cerebral ausgelost bezeichnen, wogegen unseres Erachtens 
mit Recht schon Schultze sich ausgesprochen hat, der eher an eine 
cerebellare Pathogenese denkt. Ob der von Ebstein beschriebene 
Fall, nach Typhus Ataxie und Sprachstorung, der in ein chronisches 
Stadium iiberging, hierhergehort oder nicht vielmehr zur multiplen 
Sklerose, soli dahingestellt bleiben. 

Als dritte Kategorie von Fallen bringen wir jene, wo neben den 
encephalitischen Herden myelitische Prozesse sich fanden, also Falle 
von Encephalomyelitis. 

Ein von Meyer-Beyer beschriebener Fall zeigt subakuten, schub- 
weisen Verlauf und endigte nach dreimonatiger Dauer letal. Er betrifft 
eine 33jahrige Frau, bei der ohne bekannten AnlaB Kopfschmerz, 
Schwindel, allgemeine Abgeschlagenheit und leichtes Fieber auftraten. 
Dann Parese des rechten Beines mit Parasthesien. Diese Erscheinungen 
schwanden nach 3 Wochen nahezu vollstandig. In einer zweiten Attacke 
trat Lahmung des rechten Armes und des linken Beines, Anasthesie 
beider unteren Extremitaten und der rechten Hand, Giirtelgeftihl auf. 
Nach 14 Tagen verschwinden auch diese Erscheinungen. Wahrend die 
bisherigen Erscheinungen auf das Riickenmark als Locus morbi hin- 
wiesen, traten nunmehr pontine Symptome auf: wechselstandige Lah¬ 
mung der rechtsseitigen Extremitaten und des linken Facialis, rechts- 
seitige Hemianasthesie imd Lahmung des linken sensiblen V, Ge- 
schmackstonmg, Retentio urinae, Abweichen der Augen nach rechts, 
Contractur des linken Masseter. In einem vierten Schube entwickelte sich 
schlieBHch Parese der linksseitigen Extremitaten mit Tremor der oberen. 
Unter Decubitus und Fieber trat der Exitus ein. Bei der Obduktion 
fand sich ein groBer Herd in der linken Ponshalfte und in beiden Teilen 
der Medulla oblongata, der auf dem Wege des linken Brlickenschenkels 
bis in die zentrale Markmasse des Kleinhims sich erstreckte; ein zweiter 
winziger Herd in der auBeren Faserung der rechten Ponshalfte in der 
Nahe des V-Austrittes. AuBerdem mehrere Herde im Riickenmark, und 
zwar in der Halsanschwellung, im Dorsal- und Lendenmark. Histologisch 
fand sich ein etwas ungewohnliches Bild, in dem Leydens epitheloide 
Zellen iiberwiegen, die meist in Haufen beisammenliegen und von einer 
komigen oder feinfaserigen Substanz umgeben sind; an anderen Orten 
sind sie zu Strangen angeordnet. Uberall ist eine starke Beimengung 
von Komchenzellen nachweisbar. Sekundare Degenerationen fehlen. 


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E. Redlich: 


Gleichfalls durch die Obduktion bestatigt ist der Fall von Kaiser. 
Auch hier trat ohne bekannte Atiologie unter subakutem Verlauf bei 
einem 20jahrigen Manne plotzlich Schwindel, Schielen, Doppeltsehen 
auf, dem Schlingbeschwerden, Sprachstdrung, taumelnder Gang folgten. 
Bei der Untersuchung: Leichte Somnolenz, links Ptosis, Blickparese 
nach rechts, schlieBlich Ophthalmoplegia externa. Der linke Facialis 
ist paretisch, es besteht Unvermogen zu schlucken, der Wiirgreflex 
fehlt, die Sensibilitat im Gesicht ist herabgesetzt. Unter rasch zunehmen- 
der Benommenheit, Lahmung des rechten Arms und Unveratandlich- 
keit der Sprache Tod nach 6 Wochen. Bei der Obduktion fand sich 
ausgebreitete Zerstorung der grauen Substanz von der Pyramiden- 
kreuzung bis zum dritten Ventrikel; auch das hintere Langsbiindel, 
die hintere Commissur und der hintere Vierhiigel sind ergriffen. Im 
Riickenmark ist das rechte Vorderhom in der Cervicalanschwellung 
schwer verandert. Histologisch fand sich hier enorme Hyperamie mit 
Blutungen, daneben akute entziindliche Veranderungen mit starker 
Exsudatbildung, auf die weiBe Substanz tibergreifend. 

Ein Fall von Muratow wird atiologisch auf Influenza zuruckgefuhrt. 
Einen Monat nach dieser trat bei einer 30jahrigen Frau Schluckstorung, 
Doppeltsehen, Schwache der unteren Extremitat en auf. Bei der Unter¬ 
suchung Abducenslahmung, Facialisparese rechts, Lahmung und maBige 
Atrophie des linken Masseter, Atrophie der linken Zungenhalfte, 
Lahmung des linken Recurrens. Die linke untere Extremitat ist nahezu 
vollstandig gelahmt, spater ist auch die rechte untere Extremitat ge- 
lahmt. Rechts Sensibilitatsstbrung dissoziierter Art. Der weitere Ver¬ 
lauf ist imbekannt. 

Es folgen 2 Falle, die Oppenheim-Cassirer bringen: 

Ein 15jahriger Knabe bekam Kopfschmerz, leichte Benommenheit, 
etwas Fieber, Ptosis, spater vollstandige Ophthalmoplegia externa, 
naselnde Sprache. 5 Wochen spater findet sich Ptosis bilateralis, Oph¬ 
thalmoplegia externa, Schwache der Orbiculares palpebrarum, Parese 
und Atrophie der Zunge, Dysarthrie, Dysphagie, Lahmung des weichen 
Gaumens, Tachykardie, Parese der Arme, motorische Lahmung der 
kleinen Handmuskeln, die Sehnenreflexe gesteigert. Allmahliche 
Besserung. 

In einem zweiten Falle trat bei einem 38jahrigen Manne unter 
Kopfschmerz Doppeltsehen, 2 Wochen spater Behinderung der Sprache, 
Schluckbeschwerden, Parasthesien im Gesicht und den Fingem auf. 
Bei der Untersuchung findet sich beiderseits Ptosis, schwere Parese 
der beiden Abducentes, leichte Affektion des sensiblen V, Gaumensegel- 
parese, Herabsetzung des Rachenreflexes, Tachykardie; die Sprache 
ist naselnd, der Gang unsicher. Es besteht Romberg und statisch- 
lokomotorische Ataxie der Arme und Beine, leichte Ab^tumpfung der 


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Dber Encephalitis pontis et cerebelli. 


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Sensibilitat der Zehen. Nach einmonatiger Dauer Besserung der Er- 
scheinungen, aber die Patellarsehnenreflexe fehlen noch. 

Ziemlich kompliziert ist endlich ein Fall von Schultze, einen 29- 
jahrigen Mann betreffend, bei dera 6 Tage nach Beginn eines Typhus 
unter Benommenheit Sprachstorung, Stoning des Gehors und der At¬ 
oning dnrch die Nase auftrat. Nach Entfieberung zeigte sich, daB die 
Sprache sehr schlecht ist, der Gang ist stark ataktisch, das Gaumen- 
segel gelahmt. Auch die GliedmaBen sind gelahmt, es besteht Druck- 
empfindlichkeit der Nervenstamme, Storungen der elektrischen Er- 
regbarkeit, die PSR fehlen, daneben Schwerhorigkeit. 

Schultze nimmt eine Polyneuritis an, die er fur die Erscheinungen 
an den unteren Extremitaten verantwortlich macht, auBerdem eine 
Neuritis der N. cochlearis und vestibularis und eine Encephalitis cere¬ 
belli. 

Indem wir uns eine eingehende Besprechung dieses, wie schon ge- 
sagt, verschiedenwertigen Materiales fur spater aufsparen, wollen wir 
nunmehr unsere eigenen Beobachtungen wiedergeben. Wir gehen dabei 
aus den eingangs erwahnten Grtinden am besten von dem zur Ob- 
duktion und mikroskopischen Untersuchung gelangten Fall aus 1 ). 

1. Es handelt sich um einen 20 j&hrigen Mann, der Mitte September 1908 plotz- 
lich mifc schwerer cerebellarer Ataxie erkrankte. Patient suchte einen Arzt auf, 
weil er beim Gehen wie ein Betrunkener schwankte imd sich auf den Beinen un- 
sicher flihlte. Auch klagte er uber Atembeschwerden, die er in die Nase lokalisierte. 
Dabei kein Schwindel, kein Kopfschmerz, kein Ohrensausen. 

Aus der Vorgeschichte des Patienten — die Anamnese war liickenhaft — ist 
nur zu erw&hnen, daB Patient vor 3 oder 4 Jahren Geschwiilste im Rachen hatte, 
die ihm Schlingbeschwerden machten. Er lieB sich diese Geschwiilste operativ 
entfemen. 

Am 25. September 1908 auf die Nervenklinik von Hofr. v. Wagner-Jauregg 
aufgenommen, bot Patient folgenden Status praesens dar: Patient ist mittelgroB, 
gut genahrt. Der Schadel zeigt keine Besonderheiten, ist nirgends druck- oder 
perkussioneempfindlich. Kein Schwindel. Der Kopf nach alien Richtungen frei 
beweglich. Die Pupillen mittelweit, auf Licht und Konvergcnz reagierend. Keine 
Hemianopsie. Fundus normal. Der Cornealreflex beiderseits erhalten. Im Fa- 
cialisgebiet links ein leichtes Zuriickbleiben des Mund facialis beim Zahnezeigen. 
Die Zunge wird gerade vorgestreckt, das Gaumensegel ist symmctrisch innerviert, 
Rachenreflex vorhandcn. Keine Klopfempfindlichkeit der Processus mastoidei. 

Die Untersuchung durch Dozenten Dr. Barany ergibt: Nystagmus rotatorius + 
horizontalis (nach rechts starker als nach links). Beim Blick nach links weicht das 
rechte Auge nach oben ab. Leichte Blickparese nach links. Vestibularapparat 
beiderseits normal erregbar. Gehor normal. Alte Narben an beiden Trommel- 
fellen. 

Die oberen Extremitaten in bezug auf Motilitat, Sensibilitat und Reflexe 
normal. Dynamometer rechts 25, links 28 (Patient ist Linksh&nder). Beim Finger- 
Nasenversuch Ataxie der rechten Hand. 


x ) FUr die tJberlassung desselben bin ich Herrn Hofrat v. Wagner-Jauregg 
zu beBonderem Danke verpflichtet. 


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E. Redlich: 


Bauchdecken- und Cremasterreflexe erhalten, beiderseits gleich. 

An den unteren Extremit&ten beim Kniehackenverauch rechts Jeichte Ataxie. 
Die PSR beiderseits gesteigert, ohne Differenz, ASR beiderseits gleich. Kein 
FuBklonus. FuBsohlenstreichreflex beiderseits plantar. Oppenheim und Babinski 
beiderseits negativ. Andeutung von Romberg, dabei gewisse Tendenz, nach hinten 
zu fallen. Der Gang ist schwankend, taumelnd, breitspurig mit starkem Auf- 
schlagen der rechten Ferse. Beim plotzlichen Stehenbleiben und beim Kehrt- 
machen st&rkeres Schwanken. Beim Vereuch nach einer Linie zu gehen Neigung 
nach rechts abzuweichen. Die Sensibilitat der unteren Extremitaten ohne Storung. 
Seroreaktion nach Wassermann negativ. 

Im Laufe des Oktobera hat sich bei sonst gleichbleibendem Zustande der 
Gang des Patienten etwas gebessert. Hingegen tritt im November Schwindel- 
gefuhl auf. Der Nystagmus ist ausgesprochener, Augenmuskelparesen deutlicher; 
das linke Auge weicht beim Geradeaussehen nach innen ab, das rechte Auge steht 
tiefer als das linke. Patient klagt jetzt liber Doppeltselien. Die Pupillen leicht 
different, die rechte grofler als die linke, beide gut reagierend. Die Parese des linke n 
Facialis etwas deutlicher. Jetzt leichter Intentionstremor der oberen Extremi¬ 
taten. Rechts Babinski positiv, links negativ. Gang stark schwankend. 

Ende November totale Lahmung des rechten Facialis in alien drei Zweigen. 
Das Gaumensegel wird rechts etwas weniger gehoben als links. Die Zunge weicht 
eine Spur nach rechts ab. Fundus normal. 

Die von Dozenten B 4 r 4 n y am 30. November 1908 vorgenommene Unterauchung 
ergab Herabsetzung des Horvermogens rechts, beiderseits Abducensparese, leichte 
Blickparese nach links, Blickparese nach oben. Nystagmus nach links starker als 
nach rechts. Der Vestibularapparat zeigt links eine atypische, aber deutliche Reak- 
tion, am rechten Vestibularapparat keine deutliche Reaktion auszulosen. (Diagnose: 
Rechtsseitige Lasion des Cochlearis und Vestibularis.) 

Am 4. Dezember 1908 ist vermerkt, daB die rechtsseitige Facialisparese 
etwas zuriickgegangen ist. Dagegen klagt Patient jetzt wieder stark Uber Schwindel. 
Am 7. Dezember komplette Ptosis am linken Auge, partielle des rechten Auges. 
Patient liest rechts maBig gut, links nur groBen Druck. Taubheit des rechten Ohres 
fortbestehend. Keine Schluckbeschwerden. Beiderseits Babinski, Bauchdecken- 
reflex erhalten. 

Seit dem 0. Januar leichte Temperaturateigerung. Exitus 28. Januar 1909. 

Die Obduktion ergibt: Ausgedehnte Herde mit Erweichung beider Klein- 
himhemispharen, nach vorne bis in die Vierhiigelgegend reichend. Grau durch- 
scheinender Herd im Halsmark, vorwiegend im Bereiche des Hinteratranges. 

Zahlreiche rezente lobularpneumonische Herde im linken Oberlappen, kleinere, 
ganz frische mit hamorrhagischem Charakter des rechten Unterlappens. Sonst 
kein besonderer Befund. 

Das Praparat wurde in Formol und Miiller-Formol gehartet. Leider ging ein 
Teil der Medulla oblongata verloren, so daB hier eine Liicke in der Beschreibung 
besteht, die aber nach dem sonstigen Befunde und den klinischen Verhaltnissen nicht 
allzu schwer auszufiillen sein diirfte. 

Vom Riickenmark liegen Schnitte aus verechiedenen Partien des Halsmarks, 
des Brust- und Lendenmarks und Sakralmarks vor, die nach Mar chi, Biel- 
schowski, van Gieson und mit der Weigertschen Gliamethode behandelt sind. 

Im Hals- und Brustmark finden sich im Marc hi-Praparat im Vorderstrang, 
sowie im entgegengesetzten Hinterstrang leichte Anhaufungen von Markschollen; 
das Lenden- und Sakralmark ist frei von jeder Degeneration. Die nach den anderen 
Methoden gefarbten Praparate lassen irgendwelche Zeichen von Entziindung im 
Riickenmark vermissen, die Ganghenzellen zeigen stellenweise starkere Tigrolyse. 


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Cber Encephalitis pontis et cerebelli. 


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In den Meningen findet sich ganz vereinzelt und nur stellenweise eine leichte An- 
h&ufung von Lymphocyten 

Im t)bergang vom Ruckenmark zur Medulla oblongata, in der Hohe der Pyra- 
midenkreuzung, finden sich beiderseits in der Gegend der Hinterstrangskeme 
in unregelm&Biger Ausdehnung, zum Teil auf das Seitenhom und den Seitenstrang 
ubergreifend, herdartige Ver&nderungen, die im allgemeinen den spa ter genauer 
zu schildemden entsprechen und zur Rarefikation und Luckenbildung mit Anh&u- 
fung von Fettkornchenzellen fiihren, w&hrend der Zwischenraum von gewucherter 
Glia mit reichlichen, zum Teil amoboiden Gliazellen ausgeflillt ist. In diesen Par- 
fcien sind die Gef&Be stark infiltriert mit Wucherung der Intima- und Adventitial- 
zellen; das perivascul&re Infiltrat strahlt stellenweise deutlich in das Gewebe ein. 
Wahrend die Meningen sonst nur wenig ver&ndert sind, ist iiber dem Seitenstrang 
starkeres Infiltrat zu sehen, speziell um einzelne Gef&Be. 

Ein Teil der Medulla oblongata und der unterste Teil des Pons sind, wie er- 
wahnt, verlorengegangen. Da, wo wir wieder Schnitte vor uns haben, finden wir 
bereits einen groBen, zusammenh&ngenden, scharf abgegrenzten Herd, der in der 
dorsalen Etage der Briicke sitzt, in der rechten Halfte ausgedehnter ist als in der 
linken. Vom Herde sind die Bindearme in ganzer Ausdehnung eingenommen; 
von hier strahlt der Herd dorsalwarts in die hinteren Vierhugel aus, die bis auf die 
peripherstenPartien einbezogen sind. Beiderseits ist auch die laterale Schleife, rechts 
auch der groBte Teil der medialen Schleife zerstort. Dabei handelt es sich nicht 
etwa um sekundare Degenerationen, sondem um herdweise Destruktion des Gewebes 
(Taf. I, Fig. 1). Proximalwarts nimmt der Herd noch weiter an Ausdehnung zu; 
rechts ist nahezu die ganze dorsale Partie der Briicke, speziell der hintere Vier¬ 
hugel, das hintere L&ngsbiindel, der Bindearm, laterale und mediale Schleife, ein 
groBer Teil der Bindearmkreuzung in denselben einbezogen; etwas weniger aus- 
gedehnt ist der Herd auf der linken Seite, wo auch die laterale Schleife zum Teil 
erhalten ist. Die ventralen Partien des Pons, speziell die Pyramidenbiindel sind 
beiderseits nicht nur von groben Ver&nderungen frei gebheben, es fehlen hier auch 
feinere Ver&nderungen. Auch die Gef&Be sind hier frei von Infiltrat, nur eine ge- 
wisse Hyper&mie ist stellenweise zu sehen. 

Der proximale Anteil des hinteren Vierhiigels ist zwar nicht mehr zerstort, 
aber doch deutlich aufgehellt; auch die Gegend des Aquaeductus Sylvii, die friiher 
noch in den Herd einbezogen war, ist jetzt nur mehr im Sinne einer Rarefikation 
des Gewebes mit Glia wucherung ver&ndert; nur stellenweise sind hier kleinste 
Herde noch zu sehen. Dagegen ist rechts noch immer das hintere L&ngsbiindel, 
das dorsale Haubenfeld, die laterale Schleife, die Bindearmkreuzung, das Biindel 
von der Schleife zum FuB, in weniger ausgedehntem MaBe auch links, durch den Herd 
ersetzt. Der ventrale Briickenanteil ist auch hier normal (Taf. I, Fig. 2). Im proxi- 
malsten Anteile der Briicke teilt sich der Herd in der rechten Halfte in zwei Teile, 
einen groBeren, dorsal gelegenen, der auch auf die linke Seite iibergreift, wodurch 
rechts haupts&chlich die Bindearmkreuzung und die mediale Schleife zersttfrt 
sind. Dagegen ist schon ein Teil des hinteren L&ngsbiindels wieder erhalten ge- 
blieben; durch einen schmalen Marksaum von diesem Herd getrennt, liegt auf 
der rechten Seite noch ein Degenerationsfeld in der Hohe des Biindels von der 
Schleife zum FuB, das aber bald wdeder verschwindet. 

Entsprechend der beginnenden Formation des HirnschenkelfuBes ist der 
Herd schon stark verkleinert; er betrifft rechts noch einen Teil des hinteren L&ngs- 
biindels und des distalen Oculomotoriuskerns, gewinnt — unregel m&Big geformt — 
seine groBte Ausdehnung entsprechend der Bindearmkreuzung resp. dem roten 
Kem und der medialen Schleife. Links ist er wesentlich kleiner, beschr&nkt sich 
auf die Gegend der Bindearmkreuzung resp. des roten Kerns, von dem er aber nur 


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E. Redlich: 


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einen Teil umfafit. Der vordere Vierhiigel ist beiderseits frei. Weiter proximalw&rts 
ist der Herd noch weiter eingeengt (Taf. I, Fig. 3). Rechts ist er in zwei Teile ge- 
spalten, einen kleinen dorsalen, der den ventralen Teil des Oculomotoriuskerns und 
einen Teil des hinteren L&ngsbiindels einnimmt, und davon durch einen schmalen 
Markstreifen getrennt, einen groBeren Teil, den roten Kem und dessen Markumhiil- 
lung umfassend. Lateral davon findet sich noch ein kleiner Aufhellungsbezirk, 
auch die Schleife ist stark gelichtet. Der Herd greift auf die linke Seite iiber, 
beschrftnkt sich aber hier auf die medialsten Partien des roten Kerns. Die aus- 
tretenden Oculomotoriusfasem sind durch den Herd unterbrochen, bleiben aber 
durch einige Markschollen angedeutet. Ventral vom Herd sind die Oculomotorius- 
fasern wieder zu sehen, wobei es bei den zur Anwendung gekommenen Methoden 
offen bleiben muB, ob es sich um eine wirldiche Unterbrechung oder nur einen Ver- 
lust der Markscheiden handelt. (Wir beziehen uns hier auf Pr&parate, die mit der 
Weigertschen Markscheidenf&rbung gefarbt sind.) An der Basis ist der rechte 
Oculomotoriusstamm deutlich schm&ler als der linke. Ventral von der Substantia 
nigra finden sich beiderseits normale Verhkltnisse. 

Im weiteren Verlaufe proximalwarts (Taf. I, Fig. 4) beschrfinkt sich der Herd 
auf eine Partie nahe der Mittellinie, rechts ist er ausgedehnter, betrifft haupt- 
sachlich die medialen Abschnitte des roten Kerns und dessen unmittelbare Um- 
gebung in Form einer zackigen Figur, wahrend dorsal davon der Oculomotorius- 
kem imd das hintere Langsbiindel zwar frei sind, aber eingesprengte kleinste 
Herdchen noch enthalten, in denen Nervenfasern fehlen, die Gliazellen geschwellt, 
ihre Fasem vermehrt sind, Der eigentliche Herd endigt schheBhch in der 
Gegend der hinteren Commissur rechts mit einem schmalen Fortsatz lateral vom 
Fasciculus retroflexus. 

Vom Kleinhim ist der groBte Teil der Hemisph&ren und ein Teil des Wurms 
ver&ndert; dabei ergibt sich aber, daB nahezu uberall die Rinde und ein 
schmaler, unmittelbar an dieselbe angrenzender Saum des Markes 
erhalten geblieben sind. Auch die Purkinjeschen Zellen sehen wir, ins- 
besondere am Bielschowskypriiparate, in ihrer Struktur nahezu vollst&ndig intakt. 
Schwer vcrandert ist dagegen die Marksubstanz. Marchipr&parate zeigen hier inner- 
halb ernes leicht faserigen Gewcbes, das reichliche Gef&Be enth&lt, dicht aufge- 
stapelte Markschollen und Kbrnehenzellen, die in rundlichen oder langlich ge- 
streckten, unregclnuiBigen, verschieden groBen Haufen beisammenliegen; auch 
sind stellenweise groBere Liicken zu sehen. Auch im Gewebe dazwischen sind 
uberall feinere und grobere Markschollen und Kornchenzellen zu sehen (Taf.II, Fig. 1). 

DaB innerlialb des Herdes etwa Achsenzyhnder erhalten sind, l&Bt sich auch 
an Bielschowskypriiparaten nicht feststellen. Die unregelm&Big geformten, ver- 
schieden dicken Fasern, die wir in solchen Praparaten sehen, entsprechen augen- 
sclieinlich Gliafasern. 

Wir wollen die Herde des Kleinhims, deren genaueres histologisches Ver- 
halten an H&malaun-Eosin-, van Giesonsehen und Weigertschen Gliapraparaten 
studiert wurde, als Paradigma fiir die pathologisch-histologischen Verfinderungen 
in unserem Falle iiberhaupt verwenden. Das hier Gesagte gilt mit nur quanti- 
tativen Anderungen auch fiir den Herd im Pons usw. Makroskopisch ist der Herd 
sehr scharf abgegrenzt, am Markscheidenpraparat formlich mit dem Locheisen 
ausgeschlagen. Mikroskopisch ist die Grenze natiirlich nicht so scharf, immerhin 
der t)bergang vom Gesunden ins Kranke ein relativ rascher. In dieser t)bergangs- 
zone sehen wir die Gliazellen vermehrt, ihr Protoplasma geschwellt und scharf 
abgegrenzt (Taf. II, Fig. 2, GZ), daneben finden wir auch Zellen vom Astrocyten- 
typus mit reichlichen, derben Fortsktzen. Stellenweise finden sich auch hier, 
selbst abseits vom eigentlichen Herd, GefaBe mit dichten Zellm&nteln (Taf. 11^ 


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tjber Encephalitis pontis et cerebelli. 


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Fig. 2, iG) (soweit erkcnnbar, haupts&chlich Lymphocyten; ob auch Plasmazellen 
Torhanden sind, war bei den zur Anwendung gebrachten F&rbemethoden nicht 
mit Sicherheit zu entscheiden). Von den Gef&Ben ausgehend, strahlt das 
Infiltrat stellenweise ins Gewebe ein (Taf. II, Fig. 2, iGw). Der eigentliche 
Herd hat ein verschiedenes Aussehen. Neben kleineren und groBeren Liicken, 
die durch Gef&Be und Bindegewebe, resp. Glia abgegrenzt sind, findet sich eine 
Felderung des Gewebes, deren Maschen durch parallel angeordnete Gliafasern ge- 
bildet werden, w&hrend der Zwischenraum meist durch dicht aneinander gereihte 
Zellen erfiillt ist. Es handelt sich dabei zum groBen Teil um groBe, rundliche oder, 
wo sie dicht gedr&ngt aneinander stehen, auch polyedrische Zellen mit einem hellen 
Protoplasma, das nicht selten eine wabige Struktur und einzelne Vakuolen auf- 
weist. Im Bielschowskypraparat sind diese Zellen dunkel gekornt. Der Kern der 





Fig. 1. 


Zelle ist meist an die Peripherie geriickt, vielfach halbmondformig oder unregel- 
maBig, gleichmaBig oder dunkel, leicht gekornt. Nicht selten sind zwei, selbst 
mehrere Kerne in einer solchen Zelle zusehen (Fig. 1, E). Kernteilungsfiguren sind 
aber nicht zu sehen (vielleicht mangels geeigneter Farbungen). Die Gliazellen sind 
dort, wo der Zerfall des Gewebes nicht allzu weit vorgeschritten ist, meist groB, 
geschwellt, unregelmaBig, rundlich oder auch langlich, aber mit scharf umrissenen 
Grenzen mit zahlreichen derben Forts&tzen, die sich zum Teil auch zwischen die 
oben beschriebenen groBen Zellen hinein fortsetzen (Fig. 1 , Gl). Weigertsche 
Gliapraparate zeigen, daB es sich tatsachlich um Gliafasern handelt, teils derb 
konturierte, teils solche zarteren Kalibers, die entweder parallel angeordnet sind, 
meist aber in geschwungerjem Verlauf sich unregelmaBig durchkreuzen und ver- 
flechten. Um einzelne Gef&Be findet sich ein deutlicher Gliasaum, der den peri- 
vascuMren Raum vom iibrigen Gewebe scheidet. Sonst sind die Gef&Be in den 
schwer veranderten Partien erweitert, strotzend von Blut gefiillt, zeigen vielfach 


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E. Redlich: 


Wucherung der Intima- und Adventitialzellen, mit Anh&ufung von groBen poly- 
edrischen oder rundlichen Zellen oder von Lymphocyten im Adventitialraum. 
Einzelne dieser Zellen zeigen auch einen gelappten oder halbmondfdrmigen Kern 

(Fig- 1). 

Aus der Hirnrinde warden Partien der vorderen und hinteren Zentralwindung 
der Fissura calcarina u. a. nach Marchi, van Gieson und mit der Weigertsohen 
Gliaf&rbung untersucht. Die Prftparate zeigen auBer einer leichten Hyperftmie der 
oberflftchlichen GefftBe und einer geringfiigigen Hyperplasie der Meningen nichts 
Auff&lliges. 

Bei einem 20jahrigen Mann trat ohne bekannten AnlaB plotzlich 
schwere, nach der Beschreibung unverkennbar cerebeliare Ataxie auf. 
Kurze Zeit darauf bot der Kranke folgende Symptome dar: Nystagmus, 
Blickparese nach links, beim Blick nach oben weicht das linke Auge 
nach oben ab, leichte Bewegungsataxie der rechten oberen und unteren 
Extremitat, ausgesprochene cerebeliare Ataxie mit Neigung nach rechts 
zu fallen. Nach vorubergehender leichter Besserung Zunahme der Augen- 
muskelparesen, Blickparese nach links und oben, Facialisparese links, 
spiiter Lahmung des rechten Facialis, Affektion des rechten Cochlearis 
und Vestibularis, leichter Intentionstremor der oberen Extremitaten, 
beiderseits Babinski. Bauchreflexe erhalten. Der Fundus normal. Tod 
nach 4 1 / 2 Monaten. 

Die Symptome wiesen auf einen Herd im Kleinhirn, mit einer ge- 
wissen Bevorzugung der rechten Hemisphere, vor allem aber im Be- 
reiche der dorsalen Etage der Brucke, der Vierhugel und des 
Hirnschenkels hin (Lahmung des Facialis, einzelner Augenmuskcl- 
nerven, des VIII. Himnerven, Blickparese nach links, auch nach oben); 
von seiten der Pyramidenbahn fehlten anfanglich Symptome ganzlich, 
erst zum SchluB trat beiderseits Babinskisches Phanomen auf. 

Bezuglich der Natur der Lasion konnte an multiple Sklerose, und 
zwar die akute Form derselben, gedacht werden; auffallig war, daB Er- 
scheinungen von seiten des GroBhims (freies Sensorium) und des Riicken- 
marks fehlten, der Nervus opticus bis zum Schlusse normales Verhalten 
zeigte, Pyramidensymptome erst im allerletzten Stadium auftraten 
(Babi ns kisches Phanomen). Die Bauchreflexe waren erhalten geblieben. 
Gegen einen Tumor sprach das Fehlen von Allgemeinerscheinungen, 
vor allem von Kopfschmerz und Perkussionsempfindlichkeit des Scha- 
dels; das Fehlen von Stauungspapille konnte beim angenommenen Sitz 
der Affektion nur bedingt verwertet werden. 

Die Obduktion resp. die mikroskopische Untersuchung ergab nun 
tatsachlich einen ausgedehnten Herd in beiden Kleinhimhemispharen, 
der sich, ahnlich wie im Falle von Meyer-Beyer, formlich syste- 
matisch auf dem Wege der Bindearme in die dorsale Etage der Brucke 
fortsetzte, und der sich proximal bis in die Gegend des roten Kerns, 
distal bis in die Gegend der Pyramidenkreuzung erstreckte. Die Pyra- 


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I’ber Encephalitis ponds et cerebelli. 


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midenbahn ist frei; es erklart dies auch das Fehlen sekundarer Degene¬ 
ration im Seitenstrang des Riickenmarks. Eine leichte sekundare Degene¬ 
ration im Vorderseitenstrang dtirfte wohl auf die Haubenaffektion zu- 
ruckzuffihren sein. Das Gehim, soweit untersucht, ist frei von Herden; 
ausgedebntere, intensivere Herde bestehen jedenfalls nicht. 

Was die Natur des Prozesses anbelangt, so entspricht er vollstandig 
dem Bilde einer Encephalitis, und zwar der sogen. interstitiellen 
oder hyperplastischen, subakuten Form von Payem. Damit 
stimmt vor allem die Wucherung der Glia, kenntlich an Gliazellen und 
Fasem, die Infiltration der GefaBe, auf das Gewebe ubergreifend, auch 
im t)bergang zum gesunden Gewebe reichlich vorhanden. Daneben war 
es auch zu Erweichungsvorgangen, freilich in relativ umschriebenen, 
kleinen Herden, gekommen. Was das histologische Bild vor allem aus- 
zeichnete, war die starke Ansammlung jener eigentumlichen groBen 
Zellen, die nach der oben gegebenen Beschreibung zweifellos mit den 
.,epitheloiden Zellen“, die zuerst von Leyden beschrieben wurden 
und denen Friedmann eine ausschlaggebende Bedeutung fur die 
pathologische Histologie der Encephalitis zuschreibt, identisch sind. 
Es handelt sich urn eine ganz besondere Form von Abraum- oder Fett- 
kornchenzellen; Marchipraparate zeigen, daB hier tatsachlich mit Os¬ 
mium sich schwarz fiirbende Bestandteile abgelagert sind. Friedmann 
legt dabei gegenuber den „degenerativen K6rnchenzellen“ auf den 
aktiven Charakter (Kemteilungsfiguren) das Hauptgewicht. Fried¬ 
mann, ebenso Spielmeyer leiten diese Zellen von den fixen Gewebs- 
elementen, d. h. den Gliazellen ab, wofiir auch in unserem Falle das 
histologische Bild spricht, indent man formlich Ubergiinge von den 
geschwellten, protoplasmatischen Gliazellen zu den cpitheloiden Zellen 
findet. Nissl will die epitheloiden Zellen von den Plasmazellen ableiten, 
Oppenheim-Cassirer und Vogt lassen beide Moglichkeiten zu. 

Nach dem anatomisch-histologischen Befunde moehten wir in un¬ 
serem Falle multiple Sklerose, und zwar auch die akute oder, 
wie Henneberg sagt, maligne Form derselben ausschlieBen. Zu- 
nachst ist darauf hinzuweisen, daB der histologische Befund eigent- 
lich gar nichts mehr zeigt, was an die gewohnliche multiple Sklerose 
erinnem wurde. Wir machen auf die reichlichen, zweifellos entziind- 
lichen Infiltrate, den weitgehenden Zerfall des Gewebes ohne Per- 
sistenz von Achsenzylindem mit Bildung groBerer und kleinerer Lticken, 
das Fehlen aller sklerotischen Herde aufmerksam. Vor allem aber ist 
fur unseren Fall gegenuber der multiplen Sklerose zu betonen, daB es 
sich um einen einzigen groBen, vielleicht durch Konfluenz hervor- 
gegangenen Herd handelt, wahrend im ganzen ubrigen Zentralnerven- 
system gleiche oder ahnliche Herde fehlen. Wollte man solche Falle 
auch noch der akuten multiplen Sklerose einreihen, dann hieBe dies. 


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B. Redlich: 


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die multiple Sklerose vollstandig mit der eigentlichen Eutzundung des 
NervensyBtems zu identifizieren, was unseres Erachtens nicht berech- 
tigt ist. 

UnserFall erinnert mit seinem makroskopischen und mikroskopischen 
Befund in mancher Beziehung an die Schildersche Encephalitis 
periaxialis diffusa oder an einen von mir beschriebenen Fall, der 
klinisch als Tumor cerebri mit weitgehender Remission verlaufen war. 
Gemeinsam ist der Umstand, daB sich ein einziger ausgedehnter Herd — 
dort im GroBhim, hier im Pons und Kleinhim — findet, daB da wie 
dort die Rinde des GroBhims resp. Kleinhims frei bleibt. Auch im 
histologischen Bilde sind, wie ich hier nicht weiter ausfiihren mochte, 
recht weitgehende Ahnlichkeiten. Nur sind in meinem seinerzeit be¬ 
schriebenen Falle die Gliazellen noch starker gewuchert als hier. Sie 
waren dort besonders groB, plump und starr; die Gliafasem noch reich- 
licher, so daB ich damals die Frage, ob es tatsachlich "Obergangsformen 
zwischen Entzundung und Gliom im Zentralnervensystem gebe, 
streifen muBte. Es ist gewiB nicht ohne Interesse, daB auch Fried¬ 
mann auf gewisse Benihrungspunkte zwischen der typischen Ence¬ 
phalitis und gewissen Gliomen und Gliomatosen aufmerksam macht, 
und daB auch Merzbacher meint, daB die Grenzen zwischen Gliom 
und Gliose nicht immer scharfe seien. Jedoch hegt eine weitere Er- 
orterung solcher rein pathologisch-histologischer Fragen auBerhalb 
des Rahmens dieser Arbeit. Wir wollen uns vielmehr jetzt zur Be- 
sprechung unserer bloB klinisch beobachteten Falle wenden, far deren 
Auffassung uns der eben beschriebene Fad gewisse Anhaltspunkte 
lieferte. 

2. 24 jiihriger, lediger Mann, der angibt, friiher stets gesund gewesen zu sein; 
in der Famil : ’..ein Fall einer Nervenkrankheit. Keine veneriflche Affektion, kein 
Potus. Im August 1914 ruckte Patient ins Feld; nach 5 Monaten Kriegsdienst 
kam er wegen Schmerzen auf der Brust ins Spital. Nach zweimonatigem Spital- 
aufenthalt und Gamisondienst ging er im November 1915 bei voller Gesundheit 
zum zweitenmal ins Feld ab. Am 12. April 1916 schlug eine Granate in die Deckung, 
in der sich Patient befand, ein. Obwohl keine ftuBere Verletzung am Kopf gesetzt 
wurde, auch keine Blutung aus Nase, Mund oder Ohren erfolgte, wurde Patient, 
der hingeschleudert und verschiittet wurde, bewuBtlos und soil angeblich zwei 
Mon ate (?) bewuBtlos gelegen sein. Als er erwachte, sei er sehr schwach gewesen 
und habe schlecht gesprochen. Es bestandenheftigerKopfschmerzundSchwindel; 
auch soli Patient echlechter gehort und gesehen haben. Beim Blick in die Feme 
hatte er Doppelbilder. Fieber soli nicht bestanden haben. Der Zustand blieb in 
der Folge station&r. 

Nachdem Patient verschiedene Spitaler passiert hatte, befand er sich im 
Juli 1916 durch einige Zeit auf der Nervenklinik von Hofrat von Wagner- 
Jauregg. Aus der uns giitigst zur Verfiigung gestellten Krankengeschichte ist 
zu entnehmen, daB Patient damals fiur sich krftftig aufstiitzend vom Bette sich 
erheben und einen Moment stehen konnte, daB er aber rasch umzusinken drohte. 
Das Stehen war breitbeinig, Priifung auf Romberg wegen allzu groBer Unsicherheit 


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Dber Encephalitis pontis et cerebelli. 


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des Patienten nicht durchfiihrbar; Gehen war ganz unmdglich. Die Pupillen mittel- 
weit, gleich, reagieren. Es besteht horizontaler Nystagmus. Sprache verlangsamt, 
skandierend, verwaschen. Beim Fingemasenversuch Zittem der Finger und starkes 
Yerfehlen des Zieles. Die Sehnenreflexe gesteigert, kein Babinski. Baucbdecken- 
reflexe lebhaft, Sensibilit&t normal. Beim Kniehackenversuch gleichfalls Verfehlen 
des Zieles. 

Von der Nervenklinik am 10. Juli 1916 zu uns gebracht, bot Patient folgenden 
Eingangsstatus: Er ist mittelgroB, maBig kr&ftig gebaut, von mittlerem Emahrungs- 
zustand. Der Schadel ist normal konfiguriert, nicht klopfempfindlich. Die Pu¬ 
pillen sind mittelweit, gleich, rand, auf Licht und Konvergenz prompt reagierend. 
Die Augenbewegungen frei. Bei Seitenblik nach beiden Seiten tritt grobschlftgiger, 
rotierender Nystagmus auf. Keine Gesichtsfeldeinschrankung. Der Fundus 
normal. Die Gesichtsinnervation ohne Stoning. Die Zunge wird gerade vorgestreckt, 
ist frei beweglich. Phonation gut, der Rachenreflex herabgesetzt. Die Sprache 
deutlich skandierend, verwaschen und verlangsamt. Keine Schluck- oder Kau- 
s toning, der sensible und motorische V normal, Comealreflex beiderseits vor- 
handen. 

Die oberen Extremit&ten in der Motilit&t frei, die motorische Kraft der H&nde 
ziemhch gut, die linke etwas schw&cher als die rechte. Bei Hantierangen der oberen 
Extremitaten ist eine gewisse Ungeschicklichkeit zu bemerken. Bei aufeinander- 
folgenden Bewegungen erfolgen diese langsam (Andeutung von Adiadochokinesie.) 
Oberflachensensibilit&t, Tiefensensibilit&t und Stereognose intakt. Sehnenreflexe 
beiderseits fehlend. 

Beim Sitzen tritt eine Art Wackeln des Oberkorpers auf. 

Die Motilitfit der unteren Extremitaten im Bette frei, die Kraft beiderseits 
gleich. Keine Hypotonie. Beim Kniehackenversuch wird mit dem linken Bein 
das Ziel etwas verfehlt. PSR und ASR beiderseits lebhaft, gleich, kein Babinski, 
Bauchdecken- und Cremasterreflex beiderseits vorhanden, gleich, FuBsohlen- 
streichreflex beiderseits fehlend. 

Hyp&sthesie des rechten Unterschenkels vom Knie nach abw&rts. Tiefen- 
sensibilitat intakt. 

Patient steht mlihselig aus dem Bette auf, steht sehr breitbeinig, bei Fersen- . 
schluB deutliches Schwanken. Beim Gehen wird das linke Bein stark ataktisch 
aufgesetzt, das rechte etwas besser. Immerhin kann Patient kleine SfTOpken zuriick- 
legen. 

Im September klagt Patient viel liber Kopfschmerzen und Schwindel. Der 
Schadel wird jetzt als diffus klopfempfindlich bezeichnet. Die Sprache noch stark 
verwaschen und verlangsamt. 

Das Gehen sehr unsicher, nur mit krftftigster Unterstiitzung moglich. Die 
Kraft des rechten Beines etwas geringer als die des linken. Am linken Bein die 
Bewegungsataxie ausgesprochener als rechts. Die Haut- und Sehnenreflexe wie 
friiher. 

Eine auf der Ohrenklinik von Professor Urbantschitsch vorgenommene 
Ohrenuntersuchung ergibt: „Gochlearis beiderseits normal. Spontaner Nystagmus 
rotatorius nach beiden Seiten. Vestibularis auf der Drehscheibe ubererregbar. 
Kalorischer Nystagmus rein horizontal, schwache, aber typische Reaktions- 
bewegungen. Drehungsnystagmus bei seitlich geneigtem Kopf nur 20 Sekunden, 
mit typischer Reaktionsbewegung.‘‘ 

Im Verlaufe der nachsten Zeit weitere, wenn auch langsame Verschlechterung 
des Zustandes. Eine Mitte Dezember 1916 vorgenommene Untersuchung ergibt: Die 
Pupillen gleich, prompt reagierend, Augenbewegungen frei. Nystagmus beim Blick 
nach rechts, die schnelle Komponente nach rechts. Das Gesichtsfeld beiderseits sehr 

Z. f. d. g. Neur. a. Psych. O. XXXVII. 2 


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18 E. Redlich: 

unregelm&Big eingeengt, der Fundus normal. Die Gesichtsmuskulatur bleibt beim 
Z&hnczeigen rechts eine Spur zuriick. Die Sprache verlangsamt, verwaschen, dabei 
gepreDt und explosiv. Die Uvula steht etwas nach rechts, wird beim Phonieren 
nach rechts gehoben. Der weiche Gaumenreflex etwas herabgesetzt, der Rachen- 
reflex normal. Sensibler und motorischer V intakt, der Cornealreflex links etwas 
schwacher als rechts. Masseterenreflex angedeutet. Kauen und Schlucken ohne 
Stoning. Der Geschmacksinn ohne Stdrung. Die oberen Extremitaten kr&ftig. 

Dynamometer R 34 L 38 
33 38. 

Kein Zittem der vorgespreizten Finger, Fingemasenversuch jetzt gut. 

Reflexe der oberen Extremitaten nicht auezulosen. Zeigeversuch ohne Sto¬ 
ning. Bei feineren Hantierungen Ungeschicklichkeit, besonders in der rechten 
Hand. 

Die unteren Extremitaten im Bett mit guter Kraft beweglich. Beim Knie- 
hackenvereuch beiderseits grobe Ataxie. PSR m&Big lebhaft, rechts starker als 
links (?). ASR m&Big lebhaft, gleich. Bauchdeckenreflexe lebhaft, beiderseits 
gleich, Cremasterreflex sehr lebhaft, gleich, FuBsohlenstreichreflex lebhaft, gleich* 
Kein Babinski. Die Sensibilitat der unteren Extremitaten ohne Storung. Patient 
kann sich ohne besondere Unterstiitzung aufsetzen, sitzt frei im Bett. Beim Versuch 
aufzustehen, muB er sich kraftig stiitzen, kann auch bei breitbcinigem Stehen nicht 
ohne kraftige Stiitze stehen. Beim Versuch, die Fersen zu schlieBen, droht er hin- 
zufallen. Gehen nur mit beiderseitiger, sehr kraftiger Unterstiitzung moglich* 
dabei werden die Beine breitbeinig aufgesetzt und tritt globes Schwanken auf* 

Innere Organe ohne Befund. Im Ham minimale Spuren EiweiB, Indican 
etwas vermehrt, sonst normaler Befund. Seroreaktion nach Wassermann 
negativ. Eine Lumbalpunktion ergibt normale Verhaltnisse in bezug auf Zell- 
und EiweiBgehalt des Liquor. 

Nach einem anscheinend schweren Schadcltrauma traten bei einem 
24 jahrigen, bis dahin gesunden Marine allgemeine Schwache und Sprach- 
storung, Storung des Horvermogens und des Sehens und Doppelbilder 
auf. 3 Monate spater finden wir rotierenden Nystagmus, skandierende, 
verwaschenp, verlangsamte Sprache, leichte Ungeschicklichkeit der 
Hande ohne Intentionstremor, leichte Bewegungsataxie des linken 
Beines, ausgesprochene statische und lokomotorische Ataxie. Im Ver- 
laufe der nachsten Monate allmahliche Progression der Erscheinungen* 
Es tritt leichter Kopfschmerz und Schwindel auf, die cerebellare Ataxie 
nimmt zu, ebenso die Sprachstorung. Der Fundus ist andauemd normal,. 
Bauch- und Cremasterreflexe erhalten, Pyramidenerscheinungen fehlen. 
Die Lumbalpunktion ergibt keine Abweichung von der Norm. 

Das Krankheitsbild hat unverkennbar die groBte Ahnlichkeit mit 
dem der multiplen Sklerose, und zwar mit der subakut sich entwickelnden 
Form. Auffallig ist immerhin, daB der Nervus opticus frei bleibt, daB 
Pyramidenerscheinungen vollstandig fehlen, ebenso Intentionstremor, 
Bauch- und Cremasterreflexe erhalten bleiben, d. h. die Symptome 
weisen ausschlieBlich auf einen Herd im Kleinhirn und Pons, resp. Me¬ 
dulla oblongata hin, wahrend Erscheinungen von seiten des Riickenmarks 
vollstandig fehlen. Moglich, daB diese im weiteren Verlauf noch hinzu- 


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tTber Encephalitis pontis et cerebelli. 


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kommen werden, aber vorlaufig, trotz mehrmonatigem Verlaufe, sind sie 
ausgeblieben. Auch fehlen Remissionen, der Verlauf ist vielmehr dauemd, 
wenn auch langsam progredient. Das spricht gegen multiple Sklerose. 

, Mit Rucksicht auf das in der Einleitung und bei Besprechung des 
Falles 1 Gesagte miissen wir hier mit der Entwicklung einer akut ein- 
setzendeii, spaterhin subakut fortschreitenden Encephalitis pontis et 
cerebelli rechnen, ja diese Diagnose als die wahrscheinlichere bezeichnen. 

3. 37j&hriger, verwitweter Schuhmacher. Patient gibt an, friiher gesund 
gewesen zu sein. Er ruckt‘e im April 1915 zu einer Arbeiterabteilung ein, kam nach 
zwei Monaten mit dieser an die italienische Front. Seine Erkrankung begann im 
Juli 1916. Er fiihrt sie auf ein Trauma zuriick. Er sei damals, um sich vor einer 
Granatexplosion zu decken, in einen Schiitzengraben gesprungen, dabei soli er sich 
mit dem Kopf angeschlagen haben. Er war etwas bet&ubt, aber nicht bewuBtlos* 
In der Folge hatte er Kopfschmerzen in der Stime, Schwindel und merkte, daB er 
schlechter sehe. Anfangs Oktober 1916 hatte er einen Darmkatarrh. 26. Oktober 
1916 bei uns aufgenommen, klagte er uber dauemden Kopfschmerz und dadurch 
bedingte Schlafstorung. Beim Gehen habe er ein unsicheres Gefiihl wie ein Be- 
trunkener. Er sehe schlecht, so daB er nicht lesen konne. Auch die Sprache sei 
etwas schlechter geworden. Er hore auf beiden Ohren schlechter, links sei dies noch 
ausgesprochener als rechts; in den Beinen sei er schwach geworden. Seit einiger 
Zeit bemerke er auch, daB er auf der linken Kdrperh&lfte mehr schwitze als auf 
der rechten Seite. 

Keine venerische Infektion; er hat aus seiner Ehe zwei Kinder. Er ist kcin 
Trinker, aber starker Baucher. 

Patient ist mittelgroB, schw&chlich gebaut, die Muskulatur diirftig. Der 
Sehfidel normal konfiguriert, nicht klopfempfindlich (der groBte horizontale Urn- 
fang 58 cm). Die Pupillen leicht different, die linke kleiner als die rechts, beide 
rund, auf Licht und Konvergenz prompt reagierend. Die Lidspalte links enger, 
links leichte Ptosis. Die Augenbewegungen frei. Beim Bliek geradeaus findet 
sich ein grobschl&giger, horizontaler Nystagmus, der auch in gleicher Intensit&t beim 
Blick nach links und rechts, ebenso beim Auf- und Abwfirtsblicken besteht. Das 
Gesichtsfeld beiderseits normal. Der Fundus normal. Die Gesichtsinnervation 
gleich, kein Facialisph&nomen. Die Zunge ohne Abweichung. Die Phonation gut, 
die Uvula steht etwas nach links, wird beim Phonieren nach links gehoben. Der 
Rachenreflex normal. Die Sprache ohne Stoning. Kauen und Schlucken ohne 
Storung. 

Der Ohrbefund (Dozent Dr. Ruttin) ergibt beziiglich des N. cochlearis leichte 
Lfision. Vestibularis: spontaner zentraler Nystagmus. Atypische Zeigereaktion 
(mit beiden H&nden nach auBen vorbei, keine Anderung bei kalorischer Reaktion). 
Kalorische Reaktion beiderseits typisch, keine Differenz zwischen rechts und links. 
Der otologische Befund spricht am ehesten fur eine zentrale Lfision. 

Der motoriBche und sensible V ohne Storung. Der Comealreflex links viel- 
leicht eine Spur schw&cher als rechts. 

Die oberen Extremit&ten in ihrer Motilitat ohne Storung. Dynamometer: 
R. 25, 1. 18. Beim Fingemasenvereuch beiderseits konstant Danebenfahren. Die 
Sehnenreflexe nicht auszulosen. Beim Zeigeversuch weicht die rechte Hand bei 
der Bewegung von unten nach oben nach rechts ab, bei seitlichen Bewegungen 
nach unten. Die linke Hand weicht bei Vertikalbewegungen nicht ab, dagegen 
bei seitlichen Bewegungen nach unten. 

Die motorische und sensible Funktion der unteren Extremit&ten ohne Storung, 
die Kraft der linken unteren Extremit&t etwas geringer als die der rechten. Beim 

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E. Redlich: 


Kniehackenversuch beiderseits At&xie. Kein Romberg; beim Gehen wird dad 
linke Be in etwas geschont und nachgesetzt. Bei schwierigen Gangarten leichtes 
Schwanken ohne bestimmte Fallrichtung. Diffuse subjektive Hyp&sthesie der 
iinken Korperh&Ifte. PSR und ASR beiderseits vorhanden, gleich. Bauchdecken- 
reflex beiderseits gleich, ebenso der FuBsohlenstreichreflex; der Cremasterreflex 
links etwas schw&cher als rechts. Kein Babinski. 

Wassermann im Blut und Liquor negativ. Der Liquor entleert sich unter 
ziemlich hohem Druck, er ist klar, farblos, enth&lt 7 Zellen im Kubikmiliimeter, 
keine EiweiBvermehrung, Nonne-Apelt negativ. Im Ham Spuren von Albumen, 
sonst negativer Befund. 

Im weiteren Verlauf ist das Verhalten des Patienten ziemlich unver&ndert, die 
Abweichung beim Zeigeversuch erweist sich als nicht konstant. Ziemlich konstant 
ist nur ein Abweichen der Iinken Hand bei vertikalen Bewegungen, und zwar 
nach links. Der PSR ist jetzt rechts etwas starker als links. Beide Augen gehen 
beim Blick nach links nicht ganz in die Endstellung, dabei tritt grober hori- 
zontaler Nystagmus (mit der schnelleren Komponente nach links) auf. Nach 
rechts gehen beide Bulbi gut, dabei wie auch beim Blick geradeaus horizontaler 
Nystagmus. 

Auch dieser Fall hat eine traumatische Atiologie, nur daB die un- 
mittelbaren Folgen des relativ leichten Traumas nicht so schwere waren, 
wie im Falle 2. Die Symptome sind ahnlich wie dort, aber im allgemeinen 
viel durftiger. 4 Monate nach Beginn der Erkrankung finden sich Kopf- 
schmerz, Klagen tiber Sehstorung bei normalem Fundus, horizontaler 
Nystagmus, leichte Lasion des Nervus cochlearis, inkonstante Abwei- 
chungen beim Zeigeversuch, leichte Bewegungsataxie der unteren Extremi- 
taten, leichte cerebellare Ataxie. Pyramidensymptome fehlen, Bauch- 
und Cremasterreflexe sind erhalten, Intentionstremor fehlt. Der Liquor 
zeigt auBer leichter Druckvermehrung keine Abweichung von der Norm. 
Im Verlauf der nachsten Monate keine wesentliche Anderung des Krank- 
heitsbildes, nur scheint sich aUmahlich eine Blickparese nach links aus- 
zubilden. 

Die im friiheren Falle ausgefiihrten diagnostischen Erwagungen 
gelten auch fur diesen Fall; auch hier erscheint uns die Diagnose einer 
Encephalitis cerebelli et pontis mindestens zulassig. Ob die linksseitige 
Sympathicusparese, die unser Kranker darbietet, mit der Grund- 
krankheit zusammenhangt oder ein zufalliger Befund ist, muB dahin- 
gestellt bleiben. 

4. 31 j&hriger, verheirateter Landmann. Vom Patienten, der nicht Deutsch 
spricht und keine Schulbildung genossen hat, ist eine genauere Anamnese nicht 
erh&ltlich. Er erz&hlt, daB er schon seit l&ngerer Zeit, etwa 3 Jahre lang, krank 
sei; die ganze rechte Korperseite und der Kopf habe ihm infolge schwerer Arbeit 
weh getan. Seit Dezember 1915 dient er beim Milit&r, und zwar meist bei einer 
Arbeiterkompagnie. Er hat aber wegen seiner Beschwerden keinen rechten Dienst 
machen konnen, trotzdem habe sich sein Zustand verschlechtert. Jetzt klagt 
Patient iiber schlechtesSehen auf dem rechten Auge, iiber Kopfschmerz in der rechten 
Kopfh&lfte, iiber Schmerzen und Schwfiche in der rechten Korperhalfte. Er konne 
nur langsam gehen. Auch die Sprache habe sich verschlechtert; das Urinieren 


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tJber Encephalitis pontis et cerebelli. 21 

aei erschwert; Stuhl in Ordnung. Eine venerische Affektioh und Potus stellt Pa¬ 
tient in Abrede. Seine Ehe ist kinderlos geblieben. 

Bei der Aufnahme (23. Oktober 1910) wird folgender Status erhoben: Patient 
ist mittelgroB, m&Big kr&ftig gebaut, von mittlerem Em&hrungszustand. Der 
Sch&del ist l&nglich, dolichoceplial, Breitenl&ngenindex 75, sein groBter Umfang 
58Vj cm; auf der rechten Seite ist er diffus klopfempfindlich. Rontgenbefund des 
Sch&dels (Professor Schuller): Sch&deldach hoch, lang und schmal, asymmetrisch, 
4 mm dick. Die Innenfl&che zeigt vertiefte Impressiones, die Basis normal kon- 
figuriert, auch sonst normale Verh&ltnisse. Stirnrunzeln beiderseits gleich, beim 
Z&hnezeigen wird der rechte Mundwinkel nur wenig, der linke fast gar nicht ge- 
hoben, jedoch ist das Verhalten schwankend. Kein Facialisph&nomen. Die Pupillen 
sind mittelweit, gleich, rund, auf Lichteinfall und Konvergenz prompt reagierend. 
Es besteht beiderseits — rechts ausgesprochener als links — eine Ptosis, die aber 
in ihrer Intensit&t sehr wechselt. Beim Blick nach beiden Seiten tritt ein grob- 
schl&giger, rotierender Nystagmus auf. Die Aufw&rtsbewegung beider Augen 
geechieht mangelhaft, auch beim Blick nach abwarts bleibt das rechte Auge etwas 
zuruck. Das Gesichtsfeld ist beiderseits, Unks bis auf etwa 40°, rechts auf 10—20° 
konzentrisch eingeengt. Der Fundus ist normal. Der Comealreflex ist links normal, 
rechts herabgesetzt. 

Ohrbefund (Dozent Dr. Ruttin): Cochlearis normal. Vestibularbefund bis 
auf den bestehenden Nystagmus rotatorius III. Grades nach rechts normal. Der 
Nystagmus ist wahrscheinlich trotz dem vestibularen Charakter ein sogen. optischer. 

Die Zunge weicht beim Vorstrecken nicht ab, ist frei beweglich, ebenso der weiche 
Gaumen. Der Rachenreflex vorhanden, aber schwach, die Sprache ohne Stdrung, 
nur verlangsamt. Der motorische V frei, kein Masseterreflex, keine Schluckstorung. 

Die oberen Extremit&ten ziemlich kr&ftig gebaut, ohne Einschr&nkung der 
Motilit&t. Die Kraft der rechten oberen Extremit&t gegeniiber der linken etwas 
herabgesetzt. Keine spastischen Erscheinungen. Triceps-, Biceps- und Radius- 
reflex links positiv, rechts 0. Beim Fingemasenversuch rechts konstantes Daneben- 
fahren. Hler auch bei sich wiederholenden Bewegungen auff&llige Langsamkeit. 
Beim Bar&nyschen Zeigeversuch weicht die rechte Hand bei der Auf- und Ab- 
w&rtsbewegung nach rechts, bei der Bewegung von auBen nach innen nach oben, 
die linke Hand bei der Bewegung von innen nach auBen nach oben ab, sonst 
normales Verhalten. 

Die unteren Extremit&ten kr&ftig gebaut, ohne Stdrung der Motilit&t. Der 
PSR rechts etwas lebhafter als links, ASR beiderseits gleich, beiderseits leichter 
FuBklonus. Der Bauchreflex rechts 0, links positiv. Cremaster- und FuBsohlen- 
streichreflex beiderseits gleich. Links leichter Babinski. Patient h&lt sich beim 
Stehen und Sitzen nach rechts geneigt, zeigt beim Gehen, das langsam, schleppend 
erfolgt, die Neigung nach rechts zu fallen. Beim Kniehackenversuch rechts etwas 
Danebenfahren, aber keine grobe Ataxie. Die ganze rechte K6rperh&lfte, Gesicht, 
Rumpf und Extremit&ten werden als hyp&sthetisch imd hypalgetisch bezeichnet. 
Tiefensensibilit&t an den Zehen rechts, soweit zu beurteilen, etwas gestort. Die 
inneren Organe ohne Befund. Im Ham auBer leichter Vermehrung des Indicans 
keine abnormen Bestandteile. 

Seroreaktion nach Wassermann negativ. 

Bei der Lumbalpunktion entleert sich unter m&Bigem Druck eine klare, farb- 
loee Flussigkeit. Sie enth&lt 3 Zellen im Kubikmillimeter, bei einer zweiten Punk- 
tion 7 Zellen, EiweiB etwas vermehrt, dagegen Nonne-Apelt negativ. Wassermann 
im Liquor negativ. 

W&hrend der zweimonatigen Beobachtung ist beim Patienten ein auff&lliges 
peychisches Verhalten zu verzeichnen; er ist sehr apathisch, teilnahmlos, in seinen 


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E. Redlich: 


Bewegungen sehr verlangsamt, halt sich moist abseils von den anderen, beteiligt 
eich nur wenig an den Gespr&chen anderer, erkl&rt aber, er sei immer so ge- 
wesen. 

Die nach rechts geneigte Haltung des Patienten wird immer deutlicher. Beim 
Stehen und Gehen ist der Kopf stark nach rechts geneigt, der Rumpf fallt formlich 
nach rechts hinuber. Nach wie vor klagt Patient iiber Kopfschmerz, besonders 
auf der rechten Seite. Die Einschr&nkung der Beweglichkeit der Augen nach auf- 
und abw&rts ist deutlicher, auch geht beim Blick nach rechts das rechte Auge nicht 
ganz in die Endstellung. Rotatorischer Nystagmus. Die Reflexe der oberen Ext re¬ 
mits, ten sind links etwas lebhafter als rechts, hingegen der PSR und ASR rechts 
lebhafter als links. Links Babinski. Der Bauchdecken- und Cremasterreflex rechts 
fehlend, links sehr schwach. Der Zeigeversuch wie friiher. Beim Gehen, beim 
Kehrtmachen ausgesprochene Neigung nach rechts zu fallen. Sonst der Zustand 
unverftndert. (Im Laufe der n&chsten Zeit bleibt der Zustand station&r.) 

Dieser Fall ist viel symptomenreicher als die vorhergehenden und 
gibt diagnostischen Uberlegungen in anderer Richtung Raum. tTber 
Ursaehe und Beginn der Erkrankung ist bei dem Kranken nichts Ver- 
laBliches zu erfahren. Immerhin ist anzunehmen, daB die Krankheit 
schon seit langerer Zeit, angeblich seit 3 Jahren, besteht. Es finden sich 
Kopfschmerz und Perkussionsempfindlichkeit des Schiidels rechts, 
leichte psychische Anomalien (?), Nystagmus, Blickparese nach oben, 
zum Teil auch nach unten, konzentrische Gesichtsfeldeinschrankung 
bei normalem Fundus, leichte Parese des linken Facialis; der Comeal- 
reflex ist rechts herabgesetzt. Es bestehen weiters Anomalien des Zeige- 
versuchs, leichteste Pyramidenerscheinungen rechts und links (Steigerung 
des Patellarreflexes und Herabsetzung der Hautreflexe rechts, links- 
seitiger Babinski); die Bauchreflexe sind erhalten; dabei besteht aus¬ 
gesprochene cerebellare Ataxie mit Neigung nach rechts zu fallen. Liquor 
im wesentlichen normal. 

Wir haben hier zweifellos eine Affektion im Kleinhirn, speziell der 
rechten Hemisphere, sowie im Pons zu erwarten, daneben besonders mit 
Rucksicht auf die Blickparese nach auf- und abwarts auch an eine Affek¬ 
tion der Vierhtigel zu denken. Auch die Pyramidenbahnen sind beider- 
seits nicht ganz frei. 

Gegeniiber den fruheren Fallen soli aber in diesem die Krankheit 
schon seit 3 Jahren bestehen. Gegen multiple Sklerose sprechen die 
schon oben wiederholt angefuhrten Bedenken, speziell das Fehlen von 
Ruckenmarkssymptomen, das Freibleiben des Nervus opticus, der 
dauernd progressive Verlauf ohne Remission usw. Dies, sowie der aus¬ 
gesprochene Kopfschmerz, die Perkussionsempfindlichkeit der rechten 
Schadelhalfte lassen die Annahme eines Tumors der Pons- und Klein- 
himgegend nicht von der Hand weisen. DaB Stauungspapille fehlt, 
ist bei der vorauszusetzenden groBen Ausdehnung des Herdes etwas 
auffallig. Der Rontgenbefund weist leicht vertiefte Impressiones digitatae 
auf, was immerhin fur eine Druckerhohung sprache. 


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tjber Encephalitis pontis et cerebelli. 


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Mit Rticksicht auf die anderen Falle muB aber auch hier an Encepha¬ 
litis pontis et cerebelli gedacht werden. Auffallig ist die lange Dauer 
(s. tibrigens den Fall von Henneberg-Kramer). 

5. 43 j&hriger, verKeirateter Schuhmacher. Patient gibt an, frliher gesund 
gewesen zu sein. Venerische Affektion wird in Abrede ge6tellt. Er hat 5 Kinder, 
die gesund sind, vorher 1 Abdrtus. Kein Potator, m&Biger Raucher. Schon vor 
4 oder 5 Jahren soil Patient schlechter als friiher gesehen haben, trag deshalb eine 
Brille. Er riickte anfangs August 1914 ein; am Tage seiner Pr&sentierung soli er 
sich sehr aufgeregt haben. Am Morgen dieses Tages war er n&mlich Augenzeuge 
des Selbstmordes der Frau eines eingeriickten Reservisten, die sich, nachdem sie 
von ihrem Manne sich verabschiedet hatte, unter die Rader des davonfahrenden 
Zuges warf. Dazu kam der schwere Abschied von seiner Familie. Er bekam plotz- 
lich einen Schwindelanfall, begann zu taumeln und zu wanken; Sehen und Sprechen 
von diesem Augenblick an schlecht. Er taumelte und schwankte beim Gehen so 
stark, daB er fur betrunken gehalten wurde. Seither sind Schwindel, schwankender 
Gang, Seh- und Sprachstorung station&r geblieben, trotzdem machte er Dienst 
im Etappenraum. Am 12. Juni 1916 trat infolge der Kriegsstrapazen bei einem 
Ruckzuge eine Verschlechterung seines Zustandes auf, doch machte Patient bis 
zom 12. September 1916 Dienst. 

Bei der Aufnahme am 23. September 1916 klagte Patient liber Schwindel- 
anfalle, schlechtes Sehen, schwankenden Gang. Im linken kleinen Finger habe er 
kein rechtes Gefiihl, er sei wie tot. Die linke Hand schlafe ofters ein. Auch merkt 
er eine gewisse Gedachtnisschwache. Die Untersuchung ergibt: 

MittelgroBes, kraftig gebautes Individuum von mittlerem Emahrungszustande; 
Patient ist bei ausgebreiteter Kahlkopfigkeit schon stark ergraut. Der Schadel 
normal konfiguriert, nicht klopfempfindlich. Rontgenbefund des Schadels normal. 
Die Pupillen untermittelweit, gleich, die linke etwas entrundet. Die Lichtreaktion 
beiderseits vorhanden, links etwas schlechter als rechts. Die Konvergenzreaktion 
beiderseits normal. Das Gesichtsfeld ergibt rechts leichte, links etwas ausgesproche- 
nere konzentrische Einengung. 

Die Untersuchung auf der Augenklinik von Hof rat Professor Dimmer ergibt 
folgenden Refund: „Beim Blick geradeaus besteht kein Nystagmus. Beim Blick 
nach rechts zeigt das linke Auge starke Einschrankung der Adduction, dabei tritt 
rechts Nystagmus auf, Beim Blick nach links zeigt das rechte Auge Einschr&nkung 
der Adduction (etwas weniger als das linke), am linken Auge tritt Nystagmus auf, 
und zwar ist der Nystagmus bei geringer Abduction starker als bei starker Adduc¬ 
tion. Beim Blick nach oben deutliche Bewegungseinschr&nkung, links mehr als 
rechts. AuBerdem tritt beim Blick nach oben vertikaler Nystagmus auf. Um 
welchen Heber des Auge es sich handelt, l&Bt sich nicht genau feststellen. Die 
Parese besteht sowohl bei Adduction wie bei Abduction. Die Bewegung nach unten 
ist normal. Beim Blick nach rechts und links bestehen gekreuzte Doppelbilder. 
Die Doppelbilder sollen angebhch auch bei SchluB eines Auges nicht verschwinden. 
Die Konvergenz ist stark beschrankt, anscheinend aber nicht mehr als die ent- 
sprechenden Bewegungen beim Blick nach der Seite. Akkommodation dem Alter 
entsprechend. Links besteht eine disseminierte Chorioiditis alteren Datums (Tbc. ?, 
Lues?). Die linke Pupille ist in der temporalen Halfte etwas bl&sser.“ 

Cornealreflex beiderseits vorhanden, gleich. Der linke Facialis im Mundast 
etwas weniger gut innerviert als der rechte. Die Zunge weicht beim Vorstrecken 
nicht ab. Die Phonation gut, der Rachenreflex fehlend, keine Schluck- oder Kau- 
beschwerden. Motorischer und sensibler V intakt. Leichter Masseterreflex. Die 
Sprache leicht verwaschen, sonst nicht charakteristisch, kein Silbenstolpern. 


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E. Redlich: 


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Ohrbefund (Ohrenabteilung des k. u. k. Garnisonspitals I): Horsch&rfe fur 
Fliistersprache rechts 6 in, links 6 m. Ohrenspiegelbefund ann&hernd normal. 
Der spontane Nystagmus ist nicht vestibular. Beide Vestibularapparate 
sind normal erregbar. Der bei der Vestibularprufung auftretende subjektive 
Schwindel wird mit dem spontan auftretenden nicht identifiziert. 

Die oberen Extrerait&ten von normaler Kraft- und Exkursionsweite. Kein 
Intentionstremor. Reflexe beiderseits gleich. Leichte Hypasthesie des vierten 
Fingers links. Tiefensensibilit&t, Lageempfindung, Lokalisationsvermogen, Stereo- 
gnose intakt. Beim Fingernasenversueh rechts deutliche Ataxie. Beim Zeigeversuch 
weicht die rechte Hand bei der Bewegung von auBen nach innen nach oben ab. 
Links ist bei der Bewegung nach auBen starkes Abweichen nach oben. Sonst 
inkonstantes Verhalten. 

Die unteren Extremit&ten krftftig gebaut. Motilit&t imd Sensibilitftt der unteren 
Extremit&ten ohne Storung. Keine Bewegungsataxie derselben. FSR und ASR 
beiderseits vorhanden, gleich, ohne klonische Ph&nomene. Bauchdecken-, 
Cremaster- und FuBsohlenstreichreflex beiderseits vorhanden, gleich, kein 
Babinski. Bei Fersen- und AugenschluB kein grobes Schwanken. Der Gang breit- 
beinig, deutlich schwankend, bei schwierigen Gangarten deutliches Abweichen 
nach links. Beim Gehen hftlt Patient die linke obere Extremitat auifallig steif. 

Der HerzspitzenstoB nicht sicht- oder fiihlbar, Herzd&mpfung normal. Tone 
rein, etwas dumpf. Keine Akzentuierung des zweiten Aortentones. Arterie weich, 
nicht geschlangelt. Puls 78. Blutdruck normal (Riva-Rocci 130). Rontgeno- 
logischer Befund (Dr. Kreuzfuchs): Leichte Verziehung des Herzens. Die Aorta 
in leichterem Grade elongiert und leicht dilatiert, besonders die Aorta descendens. 

Im Ham auBer Spuren von Aceton, Acetessigs&ure und Indican normaler 
Befund. Seroreaktion nach Wassermann negativ. Die Lumbalpunktion ergibt 
einen Druck von 160 mm Wasser (nach Kronig). Der Liquor klar, wasserhell, 
enthalt 4 Zellen im Kubikmillimeter, EiweiB- und Globulingehalt normal. 

Im weiteren Verlauf zeigt der Befund leichte Verschlechteiung, die lokomoto- 
rische Ataxie ist deutlicher, bei raschem Umdrehen besteht eine zunehmende Nei- 
gung, nach links zu fallen. Die Sprachstorung ist etwas deutlicher. Links Babinski. 

Ein neuerlicher Ohrbefund der Ohrenklinik von Hofr. Urbantschitsch 
(Dozent Dr. Ruttin) ergibt : Cochlearbefund beiderseits normal. Kalorische und 
Drehreaktion innerhalb der durch die Lfthmungen gegebenen Beweglichkeits- 
grenzen normal, fur kalorische Reize vielleicht herabgesetzt, fiir Drehen eher er- 
hoht. Zeigereaktionen richtig, Fallreaktion richtig. Keine Aufhebung der Augen- 
muskellkhmung durch die Vestibularreaktion, d. h. keine Beeinflussung der will- 
kiirlichen Augenbewegungen. Es ist daher keine L&sion des Labyrinths bzw. seiner 
zentralen Bahn anzunehmen. 

Wieder ein an die friiheren Falle erinnemdes Symptomenbild: 
Klagen liber schlechtes Sehen mit konzentrischer Gesichtsfeldeinschran- 
kung, Augenmuskelparesen, zum Teil konjugierten Blickparesen ent- 
sprechend, Nystagmus, leichte Sprachstorung, leichte Bewegungsataxie 
der rechten Hand mit Anomalien der Zeigereaktion, deutliche cerebellare 
Ataxie mit Neigung nach links abzuweichen. Der Liquor zeigt an- 
nahernd normale Verhaltnisse, der Nervus opticus ist links in der tempo- 
ralen Halfte leicht abgeblaBt, zeigt Reste von Chorioiditis, sonst normale 
Verhaltnisse. Keine Pyramidenerscheinungen (nur zuletzt links Babinski) > 
die Hautreflexe erhalten. Keine sicheren Anhaltspunkte fiir Lues. 
Auch hier ware die Annahme einer subakuten Encephalitis pontis 


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Uber Encephalitis pontis et cerebelli. 


25 


et cerebelli naheliegend. Aber die Anamnese unseres Falles ergibt etwas 
Besonderes. Patient gibt prazise an, daB seine Erkrankung unmittelbar 
nach einer zweifellos heftigen Aufregung sich eingestellt habe. Es soli 
sofort ein Schwindelanfall aufgetreten sein, Patient begann zu taumeln 
und zu wan ken. Seit dieser Zeit soli er krank sein; im weiteren Ver- 
laufe, auch wahrend der mehrmonatigen Beobachtung in unserem Spital, 
zeigt der Zustand eine leichte Verschlimmerung. 

Oppenheim-Cassirer erwahnen auch Gemutsbewegungen in 
der Atiologie der Encephalitis pontis; der Vorgang aber, wie ihn Patient 
schildert, legt die Annahme eines vascularen Prozesses nahe, etwa einer 
Thrombose der Basilaris, resp. ihrer in den Pons aufsteigenden Aste. 
Fur eine solche Annahme sprache — Oppenheim-Cassircrs Hin- 
weis beriicksichtigend — der Umstand, daB Patient, trotzdem er erst 
43 Jahre alt ist, schon iiber sein Alter senesziert ist, daB im Rontgen- 
bilde die Aorta etwas elongiert und leicht dilatiert ist, besonders in 
der Aorta descendens. Sonst fehlen freilich sichere Zeichen von Atherose, 
der Blutdruck ist normal. Gegen einen vascularen ProzeB spricht aber 
andererseits vielleicht der Umstand, daB schwere Allgemeinerschei- 
nungen im Beginne, wie sie bei Erweichungs- und Blutungsprozessen 
im Pons und in der Medulla oblongata zu erwarten stunden, in unserem 
Falle fehlten. Der Schwindel, das Taumeln haben mehr den Charakter 
von Lokalsymptomen. Auch der Fortschritt des Leidens wahrend der 
folgenden Zeit spricht eher fur eine Encephalitis. 

So bleibt also in diesem Falle die Diagnose einer subakuten En¬ 
cephalitis gegeniiber der eines vascularen Prozesses (Erweichung) offen. 

Man wird es uns hoffentlich nicht verargen, wenn wir auf einem so 
schwierigen und im wesentlichen doch noch wenig gekannten Gebiete—die 
Zahl der hierher gehorigen Beobachtungen ist ja, wie wir gesehen haben, 
keine allzu groBe — nicht mit aller Prazision uns auszusprechen wagen. 
Andererseits ist das Symptombild, das unsere nicht obduzierten Falle 
darboten, wie schon erwahnt, doch ein eigenartiges und in vieler Be- 
ziehung iibereinstimmendes, so daB es uns gestattet sein moge, unsere 
Falle, wenn auch mit Reserve, zu verwerten, wenn wir nunmehr daran 
gehen, unter Benutzung der in der Literatur niedergelegten Falle das 
Krankheitsbild der Encephalitis pontis et cerebelli zusammenfassend 
darzusteUen. 

Was die Atiologie betrifft, so ist zunachst zu sagen, daB die Mehr- 
zahl der Falle jugendliche Individuen betrifft. AuBer einer nicht un- 
betrachtlichen Zahl von Kindem finden sich vor allem Kranke in den 
20er und 30er Jahren, doch sind auch Falle bekannt, die in den 40er 
Jahren standen. Dariiber hinaus kommt die Krankheit nur ganz verein- 
zelt vor. Nach dem Geschlecht iiberwiegen Manner weitaus iiber Frauen. 


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E. Redlich: 


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Unter den ais Ursachen der Krankheit anzuschuldigenden Momenten 
sind, insbesondere fur die akuten Falle, in erster Linie akute Infek¬ 
tionskrankheiten zu nennen, sei es, daB die Erscheinungen im 
Verlaufe der Infektionskrankheit selbst, mitunter sogar in den ersten 
Stadien derselben auftreten, oder aber, was das Haufigere ist, erst nach 
, Ablauf derselben; in anderen Fallen liegt zwar keine bekannte Infek¬ 
tionskrankheit vor, aber der akute, fieberhafte Verlauf der Encephalitis 
kann den Eindruck einer eigenartigen Infektionskrankheit maehen 
(Oppenheim). Das Gesagte gilt sowohl fiir die Falle reiner Encepha¬ 
litis pontis, wie fur die mit einer Encephalitis des GroBhims kombi- 
nierten und fiir die Encephalomyelitis. Nicht geklart ist noch die Frage, 
wie die akuten Infektionskrankheiten die Encephalitis auslosen, ob 
durch Ansiedlung der Infektionstrager im Gehim selbst oder durch 
Toxinwirkung u. a. 

Von den Infektionskrankheiten, die in Betracht kommen, sei in 
erster Linie Typhus genannt, z. B. in den Fallen von Westphal, 
Eisenlohr, Liithje, Schultze. Variola war in mehreren Fallen von 
Westphal, Keuchhusten in einem Falle von Strlimpell voraus- 
gegangen. Wahrend der groBen Influenzaepidemie, die vor mehreren 
Jahren herrschte, sind Falle von Encephalitis vielfach beschrieben 
worden, darunter auch solche mit dem Sitz in der Briicke und im Klein- 
him. Hier sind die Falle von Nauwerck (Encephalitis cerebelli), 
Muratow (1), Oppenheim-Uhthoff zu nennen; auch Sztano- 
jevits spricht von Influenza in seinem Falle. Im zweiten Falle von 
Etter ging Angina, bei Lenhartz eine leichte Dysenterie voraus. 

Von fieberhaft verlaufenden Fallen ohne bekannte Atiologie nennen 
wir die Falle von Muratow (2), Nonne (7 und 8), Oppenheim- 
Cassirer, Gotz. Auch Wurst- und Fleischvergiftung sollen nach 
Oppenheim-Cassirer Encephalitis bedingen konnen. 

Mit Rucksicht auf unsere Falle 2 und 3 muB die Frage einer trail- 
raatischen Auslosung der Encephalitis pontis et cerebelli erwogen 
werden. Oppenheim-Cassirer,diediesenPunkteingehendbesprechen, 
weisen zunachst auf die bekannten, fiir die histologische Klarstellung 
der Encephalitisfrage so wichtigen experimentellen Arbeiten liber die 
Atz- und Stichencephalitis (also traumatische Formen) von Ziegler, 
Coen, Friedmann, Pfeifer, Lhermitte, Schaffer u. a. hin; auch 
nach klinischen und anatomischen Beobachtungen konne an der Be- 
deutung von Schadeltraumen fiir die Atiologie der nicht eitrigen En¬ 
cephalitis nicht gezweifelt werden. Die Pathologie dieser Falle seifreilich 
noch nicht geniigend klargestellt. Es ware moglieh, daB das Trauma 
nur einen Locus jninoris resistentiae schaffe, welcher Infektionstragem 
als Ansiedelungsort diene. Auch Vogt laBt Traumen in der Atiologie 
der nicht eitrigen Encephalitis gelten, speziell infolge der damit zu- 


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t)ber Encephalitis pontis et cerebelli. 


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sammenhangenden schweren Sch&digung der Zirkulation 1 ). Man wird 
unseres Erachtens auch an traumatische Gewebsschadigungen und einen 
-dadurch gesetzten Reizzustand denken miissen. 

Von den Fallen von Encephalitis pontis sei, abgesehen von dem er- 
wahnten Brunsschen Fall (2 Tage nach einem leichten Schadeltrauma 
Einsetzen der Erscheinungen), noch ein Fall von Leyden genannt, 
wo das Trauma freilich nicht den Schadel traf; dann der Fall von 
Oppenheim-Henneberg (39jahriger Mann, leichter Sturz auf das 
Becken und die Wirbelsaule. Einige Wochen spater Unsicherheit beim 
Gehen und Stehen; fortab weitere Entwickelung der Erscheinungen). 

Unter unseren Fallen wird von den Kranken 2 und 3 ein Schadel¬ 
trauma atiologisch beschuldigt. Fall 2 befand sich in einer Deckung, 
in die eine Granate einschlug, wodurch er verschiittet wurde. Er soli 
danach angeblich 2 Monate (?) bewuBtlos gewesen sein. Nach dem Er- 
wachen aus der BewuBtlosigkeit Einsetzen der Erscheinungen und pro¬ 
gressive Entwickelung derselben. Fall 3 erzahlt, er sei, um sich vor einer 
einschlagenden Granate zu schiitzen, in einen Schiitzengraben gesprun- 
gen, wobei er sich mit dem Kopf angeschlagen habe. Zunachst ver- 
spiirte er nichts Besonderes, aber in der Folge stellten sich Kopf- 
schmerz, Schwindel, Sehstorung usw. ein. In beiden Fallen ist freilich 
langerer Frontdienst mit seinen Schadlichkeiten vorausgegangen, der 
vielleicht ebenso wichtig ist. Es ware interessant, ob auch anderwarts 
bei Feldzugsteilnehmem mit und ohne Schadeltraumen ahnliche Sym- 
ptomenbilder beobachtet wurden. Gerade mit Rucksicht auf die uns 
hier besonders interessierende Differentialdiagnose gegeniiber der mul- 
tiplen Sklerose muB freilich erwahnt werden, daB wir, gleich anderen 
Autoren, bei Soldaten, die im Felde waren, eine nicht unbetrachtliche 
Zahl von Fallen multipier Sklerose gesehen haben, zum groBen Teil bei 
Kranken, die vorher angeblich ganz gesund gewesen sein sollen. Bei 
^wei von diesen Kranken, die unter rascher Progredienz der Erschei- 
nungen starben, ergab die mikroskopische Untersuchung, daB nebst 
Herden mit alien Zeichen der akuten multiplen Sklerose auch ausge- 
sprochen sklerotische, also altere Herde sich fanden. Dies laBt es als 
wahrscheinlich erscheinen, daB hier — in alien solchen Fallen ? — wahr- 
scheinlich doch nur ein akuter Schub bei einer latent gewesenen 
multiplen Sklerose vorlag. 

Oppenheim-Cassirer erwahnen, daB Kalischer fur seinen Fall 
Gemixtsbewegungen anschuldigt; hier lag aber auch Dberanstrengung 
und Nicotinismus vor. Prazise Angaben uber heftige Geniiitsbewegungen 
als Ursachen der Krankheit macht unser Fall 5, wo, wie oben erwahnt, 
freilich die Diagnose gegeniiber einem vascularen ProzeB schwankt. 

Sehr ausfiihrlich ist die Frage der traumatischen Encephalitis neuestens von 
Bor chard behandelt worden, der auch die Liteiatur zrFarrmengcttellt hat. 


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E. Redlich: 


Endlich gibt es Falle, ohne bekannte Atiologie, z. B. ein Fall von 
Etter (1), Berg u. a.; speziell gilt dies fur die Falle mit subakutem 
Verlauf (ein Fall von Meyer-Beyer, Kaiser, Oppenheim, Bon- 
hoffer, Kramer-Henneberg, unser Fall 1 und 4). 

Versuchen wir es nun auf Grand unseres gegenuber Oppenheim- 
Cassirer erweiterten Materials die Symptomatology der Encephalitis 
pontis et cerebelli festzulegen, so wird diese nattirlich in jenen Fallen, 
wo die Veranderangen sich auf Pons und Cerebellum beschranken, ver- 
schieden sein von jenen, wo die Encephalitis pontis neben einer GroBhim- 
encephalitis sich findet, oder wo entzlindliche Veranderangen im Riicken- 
mark sich hinzugesellen. Letzteres Symptomenbild haben Oppenheim- 
Cassirer in nmstergultiger Weise zusammengestellt (1. c., S. 68), so daB 
darauf verwiesen werden kann. 

Bei den Fallen reiner ,,Bulbarmyelitis“ wird es nattirlich auch da von 
abhangen, wie weit proximal- und distalwarts vom Pons sich die ent- 
ztindlichen Erscheinungen erstrecken. Auch nach der Richtung hin 
lassen sich Differenzen in der Symptomatologie der Falle statuieren, 
je nachdem sich die Veranderangen auf die dorsale Etage der Briicke 
beschranken, was nicht selten ist, oder auch die ventralen Anteile der 
Briicke einbezogen sind. Im ersteren Falle finden sich ausschliefllich 
Himnervenerscheinungen resp. cerebellare Symptome, im letzteren 
kommen dazu noch Pyramidensymptome. 

Im einzelnen ergibt sich, daB im Gegensatz zur Strumpell-Leich- 
tensternschen Form der Encephalitis und der Wernickeschen 
Poliencephalitis haemorrhagica in unseren Fallen das Sensorium 
frei bleibt, speziell bei den subakuten Fallen (s. u. a. unsere Falle 1, 
3 und 5). Unser Fall 4 zeigt gewisse psychische Eigentumlichkeiten ; 
er ist auffallig still, apathisch, behauptet freilich, immer so gewesen 
zu sein. Bei den akuten, fieberhaften Fallen ist gelegentlich leichte 
Benommenheit der Kranken verzeichnet, z. B. in den Fallen von Eisen- 
lohr, Bruns, Muratow u. a. Der Fall von Sztanojevits, der gleich- 
falls fieberhaft verlief, war durch 4 Tage verworren, halluzinierte, war 
tiberhaupt durch langere Zeit psychisch nicht ganz frei. In den Fallen 
von Kombination mit GroBhimencephalitis ist dagegen, wie nicht weiter 
ausgefuhrt zu werden braucht, wiederholt Benommenheit des Sensorium 
verzeichnet. 

Einen groBen und wichtigen Platz in der Symptomatologie der 
Encephalitis pontis nehmen Symptome von seiten der Augen ein. 
Vorweg sei bemerkt, daB der Nervus opticus selbst — wieder im Gegen¬ 
satz,zur GroBhimencephalitis — nahezu stets frei bleibt ; nur vereinzelt 
sind Affektionen des Nervus opticus verzeichnet, z. B. bei Eisenlohr 
(Neuritis optica), Striimpell (Stauungspapille?), Oppenheim- 
H enneberg (Neuritis optica); aber hier liegt keine reine Bracken- 


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Uber Encephalitis pontis et cerebelli. 


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encephalitis vor, sondem Kombination mit GroBhimencephahtis. 
Trotzdem klagen die Kranken vielfach iiber Sehstorungen, z, B. ein 
Fall von Etter, wo Oppenheim wie in zwei Fallen eigener Beobach- 
tung auf den Vierhiigel als Ursache derselben denkt. Unsere Falle 4 
und 5 klagten gleichfalls trotz negativem Augenspiegelbefund iiber Seh- 
storungen und hatten eine ziemlich betrachliche konzentrische Ge- 
sichtsfeldeinschrankung. 

Wichtiger noch als Sehstorungen sind solche von seiten der A ugen - 
muskeln. Merkwiirdigerweise finden wir Nystagmus nicht immer 
angegeben, wahrend in alien unseren fiinf Fallen Nystagmus, horizontaler 
oder rotatorischer, bestand. Die Ohrenarzte, die unsere Falle untersuch- 
ten, erklarten diesen Nystagmus nicht als vestibularen, sondem zentralen 
oder optischen Ursprungs. Hingegen sind Augenmuskellahmungen 
ein ganz gewohnliches Symptom, was bei der Lage der hier in Betracht 
kommenden Zentren und Bahnen in den gerada am haufigsten be- 
troffenen Abschnitten der Briicke resp. des Himschenkels begreiflich 
ist. Teils handelt es sich um Lahmungen einzelner Augenmuskeln, 
B. des Abducens (Etter 2, Muratow, unsere Falle 1, 4) — ein Fall 
von Oppenheim hatte beiderseitige Abducensparese — oder es liegt 
partiellc Oculomotoriuslahmung vor (Etter 1, Gotz, Oppenheim- 
Henneberg). Die Augenmuskellahmungen konnen sich ausbreiten, so 
<laB es zu einer kompletten Ophthalmoplegia externa kommen kann 
(Kaiser, Bruns, Oppenheim, Kalischer). Von besonderem Inter¬ 
Base sind assoziierte Augenmuskelparesen, die wiederholt be- 
schrieben sind, z. B. seitliche Blicklahmung, die wir auf eine Affektion 
des hinteren Langsbiindels (siehe unseren anatomischen Befund) zuriick- 
fiihren, z. B. im Brunsschen Falle im Anfangsstadium, dann bei Bon- 
hoffer, Sztanojevits. Von unseren Fallen hatte der erste eine Blick- 
parese nach links, bei Fall 3 ist sie in der letzten Zeit angedeutet. 
Fall 5 hat eine Erschwerung der Augenbewegungen nach aufwarts, 
wahrend bei Fall 4 die Augenbewegungen nach aufwarts nahezu auf- 
gehoben, nach abwarts stark eingeschrankt sind, Storungen, die wir 
auf eine Affektion des gleichfalls haufig ergriffenen Vierhugels zurlick- 
zufiihren haben. 

Auch andere Hirnnervenlahmungen sind, wie aus den topo- 
graphischen Verhaltnissen begreiflich, haufig. Facialisparese oder kom- 
plette Lahmungen des Facialis sind wiederholt beschrieben worden, z. B. 
von Meyer-Beyer, Etter, Bruns, Oppenheim, Friedmann, 
Muratow u. a. Im zweiten Falle Etters sind beide Faciales gelahmt, 
in unserem Falle 1 ist erst der linke, spater der rechte Facialis paretisch, 
im Falle 4 ist die Parese nur angedeutet. 

Auch den Trigeminus, sowohl den sensiblen, wie den motorischen 
(letzteren seltener) finden wir z. B. bei Eisenlohr, Muratow, Bruns, 


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E. Redlich: 


Friedmann, Sztanojevits als beteiligt angegeben, den Acusticus. 
bei Oppenheim, Schultze, Sztanojevits, in unserem Fall 1 (in 
einem spateren Stadium, und zwar Vestibularis und Cochlearis) und in 
leichtem Mafie auch bei Fall 3. 

Seltener sind andere Hirnnervenaffektionen, z. B. des Hypoglossus- 
bei Etter (2), Oppenheim (beiderseitig), Muratow (hier auch der 
Recurrens), Accessorius (Etter), Vagus (z. B. Tachykardie in mehreren 
Fallen von Oppenheim, Atemstorungen), des Glossopharyngeus 
(Lahmung des weichen Gaumens bei Oppenheim, Friedmann). 

Zu den gewohnlichen Erscheinungen, wie bei Herden in der Medulla 
oblongata tiberhaupt, gehoren in unserem Symptomenbilde S prac fa- 
sto™ ngen, z.B. im Falle von Westphal, der von einer skandierenden, 
naselnden, schwer verstandlichen Sprache spricht, Eisenlohr (Dys- 
arthrie), Etter, Bruns, Muratow, Oppenheim (Dysarthrie), 
Bonhoffer (bulbar). In unserem Falle 2 ist die Sprache skandierend, 
verlangsamt, verwaschen, im Falle 4 ist sie leicht gestort. Schling- 
und Schluckbeschwerden erwahnen Eisenlohr, Etter, Bruns, Mu¬ 
ratow, Oppenheim, Oppenheim-Henneberg, Bonhoffer. Auch 
hier bedarf es keiner weiteren Auseinandersetzung liber die Bedeutung- 
dieser Symptome. 

Formlich dominierend im Symptomenbild unserer Falle sind atak- 
tische Storungen; schon die in fri'iheren Arbeiten vielfach wieder- 
kehrende Bezeichnung „akute Ataxie" weist darauf hin. Diese Ataxie 
hat ausgesprochen cerebellaren Charakter, liegt doch in vielen Fallen 
eine Affektion des Kleinhims selbst oder seiner Bahnen zum GroBhim 
(Bindearm usw.) vor. Dabei handelt es sich teils um Bewegungs- 
ataxie der Extremitaten, wie z. B. in den Fallen von Westphal, 
Oppenheim, Bruns, Bonhoffer, Sztanojevits und in einzelnen 
unserer Falle. Vor allem aber besteht meist ausgesprochene statisch- 
lokomotorische Ataxie cerebellaren Typus, mitunter mit Hinweis auf 
eine Kleinhimhemisphare (Neigung zum Abweichen und Fallen naeh 
einer Seite). Es gilt dies von den Fallen von Westphal, Oppenheim, 
Nonne, Bruns, Bonhoffer, Gotz, Sztanojevits und alien 
unseren Fallen, wo auch vielfach Storungen beim Bdranyschen Zeige- 
versuch bestehen. Auch Adiadochokinesie wird vereinzelt erwahnt. 

Die Affektion der Schleife und ihrer zentralen Fortsetzungen pragt 
sich nicht selten durch Hemianasthesie aus (Meyer-Beyer, Bruns, 
Friedmann, Oppenheim-Henneberg, Sztanojevits). Greift 
der ProzeO auch noch auf die Pyramidenbahn iiber, so tritt auch Extre- 
mitatenlahmung mehr oder minder intensiver Art hinzu. Selbstverstand- 
lich sind diese Symptome, wie fur Bruckenaffektionen charakteristisch, 
gekreuzt zu den Himnervenlabmungen z. B. im Falle von Meyer- 
Beyer, Berg, Oppenheim, Friedmann, Bonhoffer. Bei 


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Ober Encephalitis pontis et cerebclli. 


3r 


Oppenheim-Henneberg findet sich schlieBUch Tetraplegie (freilich 
mit Fehlen der Sehnenreflexe). Vereinzelt werden auch motorische 
Reizerscheinungen beschrieben, z. B. eine Art choreatisoher Unruhe 
(Westphal, Nonne, Berg, Bonhfiffer). Nonne erwahnt auch 
Rumpfmuskelschwache. 

Bezuglich der Diagnose wird in den ganz akuten Fallen, speziell 
solcben mit GroBhimencephalitis, Meningitis in Betracht zu ziehen 
sein. Darfiber hat schon Oppenheim in seinen Arbeiten fiber die 
Encephalitis grtindlichen AufschluB gegeben; in entsprechenden Fallen 
wild man wohl auf die Lumbalpunktion nicht verzichten konnen. In 
unseren Fallen ergab sie, in parenthesi bemerkt, annahemd normale 
Verhaltnisse. 

Den groBten Raum in den differentialdiagnostischen tJberlegungen 
nimmt bei den subakuten Fallen die multiple Sklerose, speziell in 
ihrer akuten Form, ein. Wir haben schon anlaBlich der epikritischen 
Bemerkungen fiber unsere Falle diese Frage ausreichend besprochen 
and weisen nochmals auf folgende Momente hin: Die Encephalitis 
pontis entwickelt sich akut oder subakut, geht in relativ kurzer Zeit 
in Heilung oder einen mehr stationaren Zustand fiber oder ffihrt ad 
exitum. Remissionen fehlen hier in der Regel (nur bei Meyer-Beyer, 
bei Henneberg - Kramer und Oppenheim-Henneberg ist ein 
Verlauf in Schfiben angegeben); freilich konnen auch bei der akuten 
multiplen Sklerose Remissionen mangeln. Benommenheit des Sensorium, 
Opticusveranderungen fehlen nahezu konstant, spastische Erscheinungen 
sind selten, wie fiberhaupt Pyramidenerscheinungen und spinale Sym- 
ptome in den reinen Fallen vodstandig fehlen konnen, ebenso Intentions- 
tremor. Die Bauch- und Cremasterreflexe sind meist erhalten. 

Bezfiglich vascularer Prozesse (Blutungen und Erweichungen) kann 
auf Fall 5 (S. 25) verwiesen werden. DaB auch Tumoren der Brficke 
in Betracht kommen konnen, haben wir anlaBlich der Besprechung 
unseres Falles 4 (S. 22) erwahnt. Es kann, um Wiederholungen zu 
vermeiden, auf das dort Gesagte verwiesen werden. 

t)berbdcken wir zum SchluB noch den Verlauf der Fade, so lassen 
sie sich zwanglos in zwei Gruppen teden. Die Mehrzahl der Fade, spezied 
jene, die an akute Infektionskrankheiten anschlieBen oder mit 
Fieber verlaufen, zeigen einen akuten Verlauf. Innerhalb weniger Tage 
entwickeln sich die Erscheinungen, um entweder nach relativ kurzer Zeit, 
Tagen oder Wochen — das ist die Minderheit — letal zu endigen 
oder nach Wochen, mitunter erst nach Monaten in Hedung fiberzugehen 
oder mit Defekt zu heden. Diese Hedung wird bei der Annahme ver- 
standlich, daB bei der Auslosung der Symptome in solchen Fallen of fen- 
bar weniger Zerstorung der nervosen Elemente, als vielmehr Blutungen,. 
Zirkulations8torungen, Odem u. a. in Betracht kommen. Fredich ist. 


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E. Redlich: 


zu betonen, daB in der groBten Mehrzahl der Fade keine Nachrichten 
liber das weitere Schicksal der Falle vordegen, so daB die Moglichkeit 
spaterer Verschdmmerungen oder der Obergang in multiple Sklerose 
nicht ganz von der Hand zu weisen ist. 

Zur ersten Kategorie — d. h. den akut verlaufenden, letal endigenden 
Fallen — gehoren die von Eisenlohr (nach Typhus), Etter (2, Angina), 
Nauwerck (Influenza), Borg (unbekannte Atiologie) beschriebenen. 
Zur zweiten Gruppe — akut verlaufend, mit Ausgang in Hedung oder 
wenigstens weitgehende Besserung — gehoren atiologisch geordhet 
Fade nach Variola (Westphal), Typhus (Westphal, Eisenlohr, 
Lflthje, Schultze), Dysenterie (Lenhartz), Influenza (Oppenheim. 
Sztanojevits), Keuchhusten (Strumpell), fieberhafter Verlauf ohne 
bekannte Atiologie (Etter, 1, Nonne, Muratow, Gotz, Oppenhei m). 

Ein anderer Ted der Fade aber zeigt, wie erwahnt, subakuten Ver¬ 
lauf ; hier entwickelt sich die Krankheit admahlich in Tagen oder Wochen, 
Auch hier kann nach wochen-, selbst monatelangem Bestande Hedung 
eintreten (Fade von Bruns, Oppenheim), wobei fredich angesichts 
des Fehlens weiterer Nachrichten manchmal diagnostische Zweifel nicht 
ganz abzuweisen sind. Unsere Fade, die noch in Beobachtung stehen, 
zeigen z. T. vorlaufig eine, wenn auch langsame Progression. Bei den 
subakuten Fallen ist aber in einer relativ nicht unbetrachtlichen Zahl 
nach wochen- oder monatelangem Verlauf (ganz vereinzelt nach Jahren) 
Exitus eingetreten, so daB die Diagnose anatomisch festgestellt ist. 
Wir haben diese Fade schon oben erwahnt und steden sie hier nochmals 
zusammen; es sind dies die Beobachtungen von Meyer-Beyer, Kaiser, 
Bonhoffer, Oppenheim-Henneberg, Kramer-Henneberg und 
unser Fad 1. Auffadig ist, daB die Mehrzahl dieser Fade zu den atio¬ 
logisch ungekl&rten gehort (eigenartige Infektion?). 


Nach AbschluB obiger Arbeit kam noch der folgende Fad zur 
Beobachtung; er gleicht dem Fad 2 symptomatologisch nahezu voll- 
standig; atiologisch geht er gleichfalls auf ein Schadeltrauma zuruck. 
Das beim Fad 2 Gesagte gdt also auch fiir ihn. 

0. 30j&hriger, lediger Infanterist; eingeriickt am 2. Januar 1916, kam er am 
2. Mai 1916 an die Isonzofront. Am 13. August 1916 wurde er von einer Granate 
versohtittet, er war acht Stunden bewuBtlos. Blutung aus Mund, Ohr oder Nase 
fehlte. Aus der BewuBtlosigkeit erwacht, bemerkte Patient die Stoning der Sprache 
und des Ganges. Anfangs konnte er gar nicht sprechen und die Beine iiberhaupt 
nicht bewegen. Spftter besserten sich diese Erscheinungen. Auch hatte er anfangs 
Kopfschmerz und Schwindel, die sich sp&ter verloren. Ebenso bestanden Schmerzen 
im ganzcn Korper, besonders in den Beinen. 

Patient ist friiher immer gesund gewesen; er ist m&Biger Raucher und Trinker, 
niemals geschlechtskrank gewesen. Er hat nur sehr wenig Schulbildung genossen; 
eine Abnahme seiner freilich geringen Kenntnisse hat er seit seiner Erkrankung 
nicht bemerkt, jedoch sei das Gedachtnis schwacher geworden. 


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tjber Encephalitis pontis et cerebelli. 


33 


Heredit&r keine Belastung. 

Patient ist iibermittelgroB, m&Big kr&ftig gebaut, von durftigem Emahrungs- 
zustand. Der Schadel normal konfiguriert, nicht klopfempfindlich. Das Sensorium 
frei, die Auffassung von Fragen ist erschwert. Beide Pupillen mittelweit, gleich, rund, 
auf Lichteinfall und Konvergenz prompt reagierend. Die Augenbewegungen sind 
frei; bei extremer Blickrichtung nach links deutlicher, leicht rotatorischer Nystag¬ 
mus; beim Blick nacb rechts ist der Nystagmus nur angedeutet. Das Gesichts- 
feld bei grober Prufung frei. Der Augenspiegelbefund (Augenabteilung des k. u. k. 
Gamisonspitals II) normal. 

Der rechte Mundfacialis etwas schlechter innerviert als der linke. Das Gaumen- 
segel wird beim Phonieren gut gehoben, die Uvula steht in der Mitte. Der Rachen- 
reflex ist herabgesetzt. Die Zunge frei beweglich, ohne Zittem. Beim Schlucken 
von Fliissigkeit leichte Storung (Patient muB etwas nachschlucken), aber kein 
Regurgitieren der Fliissigkeit. Die Sprache ist stark verlangsamt, gepreBt, leicht 
explosiv, dabei deutlich n&selnd und dysathrisch, so daB das Gesprochene nur sehr 
schwer verstandlich ist. Der sensible und motorische V ohne Storung, der Corneal- 
reflex beiderseits vorhanden, gleich. Der Ohrbefund beiderseits normal, sowohl was 
den Cochlearis als den Vestibularis betrifft, auch der Kehlkopfbefund normal. Die 
oberen Extremit&t-en frei beweglich, der Hftndedruck beiderseits schwach, rechts 
vielleicht noch etwas schwacher als links. Die vorgespreizten Finger zeigen kein 
Zittem, beim Fingemasenvereuch gewisse Ungeschicklickkeit, links auch An- 
deutung von Intentionstremor. Die Sehnenreflexe beiderseits gleich. Die Ober- 
fl&chen- und Tiefensensibilitat der oberen Extremitaten ohne Storung. Aufge- 
fordert, mit der einen Hand bei geschlossenen Augen den Daumen der anderen 
Hand zu finden, erfolgt dies beiderseits mit grobem Danebenfahren. Beim B4r&n y- 
schen Zeigeversuch weicht die linke Hand bei der Aufw&rtsbewegung konstant 
nach links ab, sonst normale Verhaltnisse. Die Diadochokinesie beiderseits ge- 
stort; aufeinanderfolgende Bewegungen konnen nur langsam ausgefiihrt werden, 
rechts noch weniger gut als links. Die Bauchdeckenreflexe vorhanden, links eine 
Spur schwacher als rechts. Der Cremasterreflex beiderseits vorhanden, gleich, 
FuBsohlenstreichreflex rechts starker als links. Rechts leichter Babinski, links 0. 
Die Motilit&t der unteren Extremitaten ohne grobe Storung, die Kraft beiderseits 
gering, aber gleich. Bei passiven Bewegungen ist rechts etwas groBerer Wider- 
stand zu iiberwinden als links. Beim Kniehackenvereuch beiderseits deutliche 
Bewegungsataxie. Der PSR rechts starker als links, ASR beiderseits gleich. 

Patient kann sich im Bette allein aufsetzen, das Aufstehen gelingt jedoch nur 
mit kraftiger Unterstiitzung, dabei steht Patient sehr unsicher mit stark nach vom 
geneigtem Kopf. Auch das Gehen ist sehr unsicher, nur mit kraftigster Unterstiitzung 
raoglich. Sich selbst iiberlassen, droht Patient hinzufallen, ohne daB sich eine be- 
stimmte Fallrichtung feststellen laBt. Die Sensibilitat ist frei. 

Die inneren Organe und der Urinbefund ohne Besonderheiten. Wassermann 
im Serum negativ. 


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Z. f. d. g. Neur. u. Psych. Orig. XXXVII. 


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B. Hedlieh, Encephalitis pontis et cerebelli. 

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Tafel I. 



ru. n. 



Fig. 4. 


Verlag von Julius Springer in Berlin. 


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Verla* von Julius Springer in Berlin. 

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Tafel II. 


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Z. f. d. fg. Near, u Psych. Orig. XXXVII. 


Fig. 1. 


Redlich. Encephalitis pontis et cerebelli. 




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Original fro-m 

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Ober Encephalitis pontis et cerebelli. 35 

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Wickmann, Handbuch der Neurologie. Bd. II, S. 855. 


Nachtrag. 

Nach Fertigstellung der Korrektur ist ein Aufsatz von Dr. v. Eco- 
nomo fiber Encephalitis lethargica (Wiener klin. Wochenschrift 
1917, S. 581) erschienen, in dem der Autor das gehaufte Auftreten von 
Fallen von Poliencephalomyelitis in Wien in der letzten Zeit beschreibt; 
und wo er eine eigenartige, der Poliomyelitis acuta nahestehende, mit 
ihr aber nicht identische Infektionskrankheit annimmt (inzwischen hat 
Wiesner auch den Erreger gefunden und Impfungen auf Affen mit 
Erfolg durchgeffihrt). 

Zu ihren Symptomen gehoren auBer der beherrschenden Schlaf- 
sucht u. a. Augenmuskellahmungen, Paresen anderer Himnerven und 
cerebellare Ataxie, die auf Herde im Pons und Medulla oblong., reap. 
Kleinhirn zurtickzufuhren sind. Daneben beschreibt er mehrere Falle, 
die er als Encephalitis pontis auffaBt und die sich unseren Fallen 
in gewisser Beziehung nahem. 


Erklarung der Figuren auf Tafel I und II. 

Tafel I. 

Figurenbezeichnung im Text. 

Tafel H. 

Fig. 1. Schnitt aus dem Kleinhirn (Marchif&rbung). m Molekularschicht, k Korner- 
schicht, h Herd mit sehr reichlichen Fettkomchenzellen. 

Fig. 2. Schnitt aus dem Kleinhirn (abseits vom encephalitischen Herde); van 
Giesonf&rbung. M Molekularschicht, K Komerschicht, Gl geschwellte 
Gliazellen, %G Infiltration um ein GeffiB. 


3 * 


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Knochen und Nerv (Kriegserfahrungen). 

Von 

A. Simons (Berlin). 

Mit 1 Textfigur und 6 Tafeln. 

(Eingegangen am 24. Januar 1917.) 

I. Knochenschwund bei psychogenem Bewegungsausfall. 

• Seit l x / 2 Jahren achte ich auf das Verhalten des Knochens im 
Rontgenbild nach Kriegsverletzungen des Nervensystems. Unter alien 
klinischen Beobachtungen und Rontgenplatten sind aber nur wenige, 
die auf die Frage der Abhangigkeit des Knochens vom Nerven- 
system Antwort zu geben scheinen. Denn mit den peripheren Nerven- 
verletzungen, dem groBeren Teil jeder Kriegserfahrung, verbinden sich 
zu oft schwere Knochenbriiche, Weichteilverletzungen, Eiterungen, 
grobe Gelenkschadigungen und Pseudarthrosen, die schon an sich den 
Knochen verandem konnen [Sudeck 1 ), Kienbock 2 ), Exner 3 )]. 
Manchmal unterstiitzt den Knochenschwund noch ein langdauernder Ver- 
band oder ein Erysipel wahrend der Wundheilung. Wer einmal Osteo¬ 
myelitis, Knochentuberkulose, Arthritis gonorrhoica gehabt hat, der hat 
vielleicht schon vor einer Nervenverletzung Knochenschwund. Denn 
die Empfindlichkeit des Knochens ist groB, wenigstens sieht man im 
Rontgenbild ofter nur an ihm Veranderungen, oder fruher und 
langer als an anderen Geweben. „Die akute Knochenatrophie ist 
mit Rontgenstrahlen nichts weniger als selten nachzuweisen, viel¬ 
leicht sogar in alien Fallen, wo an einer Extremitat ein heftiger 
Entzundungs- oder ReizungsprozeB irgendeiner Art auch 
nur durch mehrere Wochen besteht.“ (Kienbock a. a. 0.) Der 
Schwund tritt nach Verletzungen der Knochen, Weichteile, Gelenke 
und der Nerven aus unbekannten Griinden nicht immer auf. Man sagt 

*) P. Sudeck, Arcbiv f. klin. Chir. ChirurgenkongreB 1900; Fortschritte 
auf dem Gebiet der Rontgenstrahlen 3 (1899/1900), 5 (1902); Deutsche med. 
Wochenschr. 1902, Nr. 19. 

2 ) R. Kienbock, Wiener med. Wochenschr. 1901, Nr. 28f.; Wiener klin. 
Wochenschr. 1903, Nr. 3, 4. 

3 ) A. Exner, Fortschritte a. d. Gebiete der Rontgenstrahlen € (1902/1903). 


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A. Simons: Knochen and Nerv (Kriegserfahrungen). 


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dann gewohnlich, die Veranderungen sind zu gering, oder bei der 
Untersuchung schon verschwunden. Beweisen kann man das nicht. 
Aber selbst wenn der Knochenschwund nach verschiedenen Ein- 
wirkungen Gesetz ware, mtiBte man erst einmal feststellen, wie lange 
er nach Abheilung aller klinischen Storungen und vblliger Wiederher- 
stellung der Funktion nachweisbar bleibt. Bei vbllig geheilten 
psychogenen Lahmungen findet man ihn noch nach Mo- 
naten, vielleicht noch langer, wenn man nachuntersucht. Natiirlich 
ist er dann meist schon geringer. Ich habe ihn sogar nach Jahren ge- 
sehen, so nach SchuBverletzung des FuBes, alter Osteomyelitis, ob- 
wohl der Mann langst wieder vollen Dienst im Felde getan hatte. Bei 
einer spateren Peronaeuslahmung z. B. ist dann die Beurteilung des 
Knochenschwundes, dem man nicht den Anted des Knochenschusses 
und der Nervenverletzung ansieht, erschwert. 

Demnach ist die Ursache des Knochenschwunds nach Kriegsver- 
letzungen des Nervensystems oft schwer oder gar nicht zu erkennen. 
Mit der Knochenatrophie aus alien moglichen Ursachen wird nicht ge- 
niigend gerechnet. Ich komme darauf bei der Besprechung der Literatur 
zuriick. Fiir die Beziehungen zwischen Knochen und Nerv 
sind daher nur die seltenen Kriegsbeobachtungen beweisend, 
bei denen auBer der organisch oder funktionell bedingten 
nervosen Betriebsstorung keine weiteren groben Schaden 
jetzt und friiher auf den Knochen wirkten. Die Verwertung 
der Rontgenbilder bei peripheren Nervenverletzungen wird dadurch 
stark beeintrachtigt. Sehr wertvoll waren Erfahrungen an Kranken, 
die mir mit ihren Rontgenplatten der beratende Orthopade General- 
oberarzt Prof. Kolliker in einem orthopadischen Lazarett bereitwillig 
zur Verfiigung stellte. 

Die Rontgenbilder, die ich gesammelt habe, waren natiirlich meist 
Aufnahmen der Hande, Vorderarme und FiiBe, selten der groBen 
Gelenke und proximalen Rohrenknochen. Die Feststellung, wie weit 
sich eine starkere Knochenschadigung proximal verbreitet, war meist 
ausgeschlossen, denn sie erfordert die Aufnahme des ganzen Gliedes 
beiderseits. Das vertragt sich schlecht mit der gebotenen Sparsamkeit 
im Plattenverbrauch. Deshalb war auch die Priifung, wie rasch oder 
langsam sich der Knochen erholt, nur wenige Male moglich. 

Man soli stets beide Seiten aufnehmen, denn es gibt ja kein abso¬ 
lutes MaB der Knochenstruktur. Grobere Veranderungen sind zwar auch 
bei Aufnahme nur einer Seite leicht zu erkennen. Oft sind sie aber ge¬ 
ring und werden nur durch den Vergleich mit der gesundenJSeite richtig 
beurteilt. Ist der Schwund beiderseits gleich stark und nur gering, 
so wird man den Vergleich mit Knochen eines gleichaltrigen und 
annahemd gleichgebauten Menschen brauchen. Die Betrachtung der 


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A. Simons: 


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FuBknochen schien mir erheblich schwieriger als die der Hand. Die 
verschiedenen BelastungsverhSltnisse schaffen verschiedene Struktur- 
bilder, die noch in weiten Grenzen normal sind. Dazu kommt die normal 
groBere Durchlassigkeit mancher Knochenteile (laterale Halfte des 
Cuboid) und manches andere, das man in den ,,Grenzen des Normalen 
und Anfange des Pathologischen im Rontgenbilde“ [A. Kohler 1 )] an- 
gegeben findet. Die Platten wurden alle vor dem Lichtkasten betrachtet. 
Seine Verdunkelung und Aufhellung durch einen Rheostaten ist nfitzlich. 
Oft erkennt man noch feine Anderungen der Rnochenstruktur und 
sieht ,,korperlicher“ durch eine groBe Lupe. Sie erspart dann stereo- 
skopische Bilder. Alle Aufnahmen sind von Rontgenologen oder erfah- 
renen Laborantinnen gemacht worden und damit die richtige Ein- 
stellung der geeigneten Rohre, entsprechende Beleuchtungsdauer und 
-starke und Vermeidung anderer Fehlerquellen gesichert. Manche 
Kranke mit erheblichen Contracturen der Fingergelenke oder starkem 
Zittem sind nicht aufzunehmen. Ebensowenig gelangen FuBaufnahmen 
bei hysterischen Streckcontracturen der Kniegelenke. 

Die Platten, fiber die ich berichte, haben dem Rontgenologen an 
der Mfinchener Universitatsklinik, Herm Th. Gebhardt, vorgelegen. 
Er kannte nicht die klinischen Erscheinungen und meine Aufzeich- 
nungen fiber die Rontgenbilder. In der Auffassung aller Platten be- 
stand voile Cbereinstimmung. Die Nachprtifung durch einen erfahre- 
nen Unparteiischen ist manchmal wertvoll, denn ftir den, der Knochen- 
schwund erwartet, ist die Versuchung groB, ihn auch in zweifelhaften 
Fallen festzustellen. Ich danke Herm Gebhardt besonders ftir seine 
stets bereite Unterstfitzung. 

Will man aus der Platte einen SchluB ziehen, der fiber die bloBe 
Feststellung einer Knochenveranderung hinausgeht, so genfigt nicht 
der Rontgenbefund und einige Satze der Krankengeschichte. Die 
Abhangigkeit des Knochens vom Nervensystem grfindet 
sich ja klinisch vor allem auf die begleitenden Muskelatro- 
phien, vasomotorischen, trophischen Storungen, auf ,,be- 
sondere“ Reize infolge unvollstandiger Nervendurchtren- 
nung u. a. m. Gerade wegen dieser Behauptungen sind gelegentlich 
genauere klinische Angaben notig, deren Vergleich untereinander und 
mit dem Rontgenbefund erst Schlfisse erlaubt. Das gilt vor allem ffir 
die psychogenen Zustande. Bei peripheren Lahmungen, Hemiplegien 
laBt sich das Klinische viel ktirzer sagen. 

Vererbte und erworbene Eigenschaft des Knochengewebes, 
Alter und allgemeiner Ernahrungszustand, Beschaffenheit 
der inneren Organe, besonders der Bintdriisen, wirken meines 

*) 2. Auflage 1915. 


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Knochen und Nerv (Kriegserfahrungen). 


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Erachfcens auch auf Entstehung und Verlauf der Atrophie. 
Fur die theoretischen Vorstellungen sind nor male Rontgenbefunde 
bei dem gleichen klinischen Zustande besonders zu beriicksichtigen. 

All© Kxanken wurden mehrfach neurologisch von mir untersucht 1 ) 
und langere Zeit beobachtet. 

Meist lagen vorher nur chirurgische Befunde vor. Man muB sie genau 
durchsehen, denn sie enthalten gewohnlich die Angaben, die fur die 
Beurteilung von Knochenveranderungen mit zu verwerten sind. Waren 
dort die Eintrage unvoUstandig oder zu kurz, so wurde die Beobach- 
tung nicht verwertet, mochten die Knochenveranderungen noch so 
deutlich sein. 

Ich bericht© zunachst iiber Knochenbefunde bei psycho- 
genen Lahmungen und Contracturen, weil hier bei richtiger 
Wahl der Kranken mehr oder weniger alle auBeren Ursachen 
fehlen, die Knochenschwund bedingen konnen. 

Beobachtung M. 

39 Jahre, Artillerist; im Beruf: Metzger. 

M. soli Anfang Oktober 1914 durch den Luftdruck einer Granate im Augen- 
blick des Abfeuems beiseite geschleudert sein. Er habe 23 Tage nichts mehr ge- 
hort, dann sei das Gehor besser geworden. 

Seine Hauptklagen auBer der Horetorung zunachst Kopfschmerzen und 
Schwindel. Er wurde sofort indie Heimat verlegt, und in verschiedenen Lazaretten 
nahmen die Beschwerden zu. Gegen die Schmerzen Aspirin und Morphium ver- 
geblich versucht. 

Ohren&rztlicher Befund (21.1. 15): „Keine Mittelohrerkrankung. Trommel- 
fell beiderseits intakt. Links Taubheit, rechts nur lautes Schreien ver- 
standen und die auf den Knochen aufgesetzte Stimmgabel 4 Sekun- 
den gehort.“ 

27. L 15. Heftige Kopfschmerzen, wiederholt Erbrechen, starker SchweiB- 
ausbruch, Nackenstarre, Cberempfindlichkeit am Kopf und Nacken, nachts 38,2°, 
Puls 90. 

28.1.15. Normale Temperatur, vollige Somnolenz, die mehrere Tage an- 

hftlt. 

7.2. 15. Benommenheit geringer. Vollige schlaffe L&hmung dee rechten 
Armes. 

8. II. 15. Er 6ffnet die Augen. Es wird eine Akkommodationsl&hmung fest- 
gestellt. In den folgenden Tagen weitere Aufhellung des BewuBtseins. 

Am 15. II. 15 kann die Hand ein we nig bewegt werden; iibrige Arm- und 
Akkommodationslahmung unverandert. 

23. IV. 15. Gleicher Zustand, keine Hautempfindung. 

14. VL 15. Ohrenbefund: „Vollige Taubheit, auch auf dem rech¬ 
ten Ohr. Die auf den Knochen aufgesetzte Stimmgabel wird nicht 
mehr gehort. Bei der unklaren Anamnese und dem eigentumlichen, unaufge- 
klarten Krankheitsverlauf laBt sich iiber die mutmaBhche Ursache nichts Naheres 
sagen.“ 

1 ) Andere Untersucher sind namentlich erwahnt, eigene Befunde als „neu- 
rologische Untersuchung“ angefuhrt. 


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A. Simons: 


1. VII. 15. L&hmung des rechten Oberarms und Akkommodationsl&hmung 
wie friiher. 

20. VII. 15. Wassermann positiv. 

„Es sind also wahrscheinlich die Ver&nderungen im Gehororgan, 
die die Taubheit zur Folge hatfcen, auf friiher iiberstandene Lues 
zuriickzufiihren. Die L&hmung des rechten Armes bzw. meningi- 
tischen Ersoheinungen, die seinerzeit bestanden, waren wohl durch 
umschriebene Leptomeningitis verursacht. 44 

14. IX. 15. Erste Salvarsaneinspritzung. 

15. IX. 15. Sehr heftig auftretende Kopfschmerzen nach der Einspritzung, 
Temperatur 38,5°. 

21. IX. 15. Der Kranke verweigert die zweite Einspritzung wegen der starken 
Kopfschmerzen nach der ersten. Psychischer Zustand nicht ganz normal. 

27. IX. 15. Ohrenunterauchung: „Gehorpriif ungsbefund seit der letz- 
ten Untersuchung nicht geandert. Die Ertaubung beruht zweifel- 
io8 auf spezifischen Degenerationsprozessen im Innenohr. 44 „Menin- 
gitis luetica; vollige Taubheit, Besserung nicht zu erwarten. 44 

22. IX. 15. Schlufibefund: Hechter Arm noch vollig gel&hmt. Nur die 
Finger konnen ein wenig bewegt werden. Kopf ziemlich gut beweghch. 
Nur noch selten Kopfschmerzen. Akkommodationsl&hmung noch vor- 
h an den. Auch diese L&hmung ist ebenso wie die L&hmung des rechten Armes 
auf spezifische Ursache zuriickzufuhren. Meningitis luetica. Vdllige Taub¬ 
heit. Besserung nicht zu erwarten. D. u. entlassen. 

4. X. 15. Befund: Zunge feucht, leicht belegt, gerade. An den Himnerven 
normaler Befund. Sprache nach Art von Schwerhorigen laut, ohne Akzent, 
ebenm&Big, monoton, aber ohne motorische Stoning. Foetor ex ore. Gang: 
o. B. Hechter Arm h&ngt schlaff herab, wird aktiv nicht bewegt. Finger aktiv 
nicht beweglich. Riickenhaut der Finger glatt und gl&nzend. Rechte 
Hand stark cyanotisch, linke weniger stark. Oberarmmitte rechts 
24 cm, links 26 cm, Unterarm rechts 24 cm, links 26 cm. Tiefe Stiche 
werden nirgends empfunden. Tricepsreflex rechts auslosbar, fehlt links. Radius- 
reflex links vorhanden, fehlt rechts I ). Pupillen rund, gleich, mittelweit, reagieren 


*) Fehlen der Reflexe habe ich bis jetzt nur bei organischen Verfinderungen 
(Polyneuritis, Poliomyelitis, periphereNervenverletzung mit aufgelagerter Hysteric) 
gesehen. Manchmal hatte ich auch bei rein psychogenen schlaffen L&h- 
mungen groBe Schwierigkeit, Reflexe auszulosen, aber nur an den 
Armen. Es gelang dann fast immer bei Jendrassik der anderen Hand 
oder gleichzeitigcr Faradisation des gesunden Armes durch einen 
anderen. Sehr selten habe ich wie Oppenheim u. a. bei psychogener Schw&che 
oder L&hmungen des Armes dauerndes Fehlen des Radius-, des Supinator-, einmal 
auch des Tricepsreflexes gesehen. Ich erinnere mich nur an vier Kranke unter 
Tausenden. Hier lag aber zweimal ein GewehrschuB in den Oberarm 
oder den Unterarm nahe dem Ellbogengelenk und ein Knochenbruch 
vor. Es fehlten nach den frtiheren Krankengeschichten Zeichen einer peripheren 
L&hmung, und auch die genaue neurologische Untersuchung konnte sie nicht nach- 
weisen, aber es war nach der SchuBrichtung und dem Knochenbruch 
durchaus moglich, daB es sich urn direkte oder indirekte Erschiitte- 
rung des Radialis, der jazum Knochen inengster Beziehung steht, gehandelt 
hat. Bei Schiissen nahe und distal dem Ellbogengelenk kann es sich ebenfalls 
um Femwirkung auf Aste, die in dieser Gegend in den Brachioradialis eintreten, 
handeln. 


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Knochen and Nerv (Kriegserfahrungen). 


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auf Licht. Akkommodation in der N&he etwas trAge. Kniereflex beiderseits gleicb, 
etwas lebhaft. Kein Romberg, dabei leichtes Lidzwinkern. Geringes fein- 
schlAgiges Zittem der linken Hand. GedAchtnis erhalten. Innere Organ© ohne 
Veranderungen. 

28. X. 15. Beiderseits stark© Bauch* und Armreflexe. 

29. X. 15. HypAsthesie der rechten K6rperhAlfte. Elektrisch reagieren die 
Muskeln auf beide Strome. Die verschiedensten Entlarvungsversuche in bezug auf 
Geh5r und LAhmung sind ergebnislos. 

An diesem Tage wurde mir der Kranke zum eraten Male gezeigt. WAhrend 
der Fragen sah er zu Boden. Er gab sich nicht die geringste Mlihe vom Munde 
abzulesen, und schrie mich an. Nach der Untersuchung war die angenommene 
Meningitis luetica auszuschlieBen. Es handelte sich ausschlieBlich um psycho- 
gene doppelseitige Taubheit und psychogeno schlaffe rechtsseitige 
Armlahmung. 

Ich versuchte die Taubheit durch Schwindel und Erbrechen nach 
kraftigen otocalorischen Reizen zu beeinflussen. 

6. XL 15 (Stabsarzt van Bebber). Stimmgabelbefund (Luft- und Knochen- 
leitung) nicht zu erheben, da Patient angibt, iiberhaupt nichts zu h5ren. Auch 
gibt Patient an, die Erschiitterungen, die eine groBe Stimmgabel zweifellos 
au8hbt, wenn sie auf den SchAdel aufgesetzt wird, nicht zu empfinden. Beim 
Katheterismus fAllt auf, dafi an der rechten Seite das Einfuhren des Katheters 
ohne jegliche Reflexerregbarkeit moglich ist, wAhrend links der Rachenreflex 
deutlich ist. Die otocalorimetrische Prufung ergibt eine gesteigerte Erregbarkeit 
der Vorhofsorgane. 

Starker Schwindel, Brechreiz. Nachmittags mehrfach Erbrechen. Der Kranke 
brach wiederholt auch noch am folgenden Tage und muBte liegen. 

10.1. 16. Hort wieder! 

6. II. 16. Er versteht jetzt KonversationsgesprAche. 

12. II. 16. Gleiches Befinden. 

Am 16. II. 16 neurologische Untersuchung: Er war nie nervos und ist auch 
nicht nervos belastet. Die Mutter starb an Zuckerkrankheit. 

Er schildert sehr anschaulich sein Erwachen a us der hysterischen 
Lahmung. Am 19. XII. 15 schlief er nachts schlecht und hatte ein Ge- 
ffihl, als ob lauter Nadeln im Arm sich bewegten. Seit dieser Zeit 
hat sich die Bewegung in dem liber ein Jahr (seit 8.1. 15) gelAhmten 
Arme von Tag zu Tag gebessert. 

Am 10.1.16 schrie er plotzlich beim Waschen des Geeichtes (Angabe 
des SanitAtsgefreiten) und merkte, daB er wieder horen konnte. Es wurde 
ihm schwindlig. Er legte sich ins Bett, hatte Brechreiz und horte 
sofort auf beiden Ohren. Er war AuBerst erregt. Er lief zum Stations- 
aufseher und seinen Kameraden und teilte ihnen freudig mit, daB er wieder hore. 
Das gleiche berichtete er seinen Angehorigen. „Ich habe geheult vor lauter Ver- 
gniigen.“ Er schrieb sofort 21 Briefe, auch an die friiher behandelnden Arzte, 
um ihnen die Wiederkehr des Gehors mitzuteilen. Bei der Schilderung stehen 
ihm die TrAnen in den Augen. — Die Taubheit bestand 348 Tage. — Appetit und 
Schlaf sollen noch schlecht sein. Er schlAft schwer ein, und dann hochstens drei 
Stunden. 

Befund: Hysterischer Gesichtsausdruck. Flustersprache beider¬ 
seits auf 5 m gehort, trotzdem dauemd laute Stimme; er will aber stets 
laut gesprochen haben. Der linke Arm und die linke Schulter, die etwas tiefer 
als die rechte steht, mABig abgemagert. Starke Abmagerung des ganzen 
rechten Armes. Er ist RechtshAnder. MaBe: 17 cm oberhalb Olecranon rechts 


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A. Simons: 


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26 V 2 cm > links 29 cm. Unterarm 12 cm unterhalb Olecranon rechts 22 cm, links 
24 cm. GroBter Handumfang ohne Daumen rechts 20,5 cm, links 21 ,5 cm. Der Tonus 
im rechten Arm (Gelenke, Muskeln) erheblich herabgesetzt. Der Arm isfc vollig 
schlaff und fallt wie tot herunter und pendelt einige Zeit. Er wird aktiv 
im Ellbogen bis 90° gehoben, hierbei spreizen sich zittemd etwas die Finger. 
Die Nagel an der rechten Hand gebuckelt. Die Riickenhaut der Fin¬ 
ger etwas gl&nzend und glatt. Der rechte Handriicken etwas blasser als der 
linke. Die Hand ist wahrend der Untersuchung beiderseits gewohnlich warm und 
Bchwitzt auch nach seiner Angabe sonst nicht starker. Zurzeit H&nde gleich 
trocken. Puls beiderseits gleich, ziemlich klein, regelm&Big, 84. Die rechte 
Hand und der rechte Arm waren bis zum Einsetzen der Besserung 
eiskalt und meist blau. Eine grobere Abmagerung der Zwischenknochen- 
r&ume nicht vorhanden. Nur die Muskeln des Daumens und Kleinfingerballens 
etwas abgemagert. Die Hand wird aktiv bis in die Armachse unter Zittem und 
Spreizen der Finger gebracht, dabei kommt es auch zu zahlreichen iiberm&Bigen 
und zwecklosen An- und Entspannungen der Arm-, Rumpf- und Gesichtsmuskeln. 
Der zwischen die Finger eingefiihrte Finger des Untersuchers wird schwach ge- 
driickt. Hfindedruck schwach. Die Hand kann wegen geringer Schrumpfung der Ge- 
lenkkapsel nicht vollig geschlossen, die 2. Fingerglieder nur unter Schmerzen bis 90° 
gebeugt werden. In den Daumengelenken besteht keine Contractur. 
Im Grund- und Endgelenk der iibrigen Finger sind die Contracturen 
sehr gering. Die rechte Schulter wird keine Spur gehoben, der Arm nur um 
wenige Grad aktiv abduziert. Schulter- und EUbogengelenk passiv nach alien 
Richtungen beweglich. Der Arm kann passiv im groBen Bogen schwingen. Die 
passiv entfemte und gehaltene Schulter wird keine Spur der Mittellinie gen&hert. 
Armreflexe beiderseits stark gesteigert. Ausgesprochene diffuse Hypasthesie fur 
alle QualitHten am ganzen rechten Arm und der iibrigen rechten Korperseite ein- 
schlieBlich der Schleimh&ute. Wiirgreflex vorhanden. AuBer einer beiderseits 
gleich starken Steigerung der Haut- und Sehnenreflexe normaler Befund am 
Nervensystem. 

Rontgenbild: 6 . II. 16. Sehr starke gleichmaBige Atrophie aller 
Handknochen und des distalen Endes des Vorderarmes, auch deut- 
licher Corticalisschwund (Tafel III). 

4. HI. 16. Allgemeines Befinden gut. Beweglichkeit im rechten Arm ge- 
bessert. 

4. IV. 16. Er gibt an, sich bereits vorwiegend an den Gebrauch der linken 
Hand gewohnt zu haben. 

5. IV. 16. Neurologischer Untersuchungsbefund: Kopf etwas nach rechts 
geneigt gehalten. Lfthmung des rechten Armes unverftndert. Der in der Schulter 
erhobene Arm fallt auf energisches Zureden nicht mehr wie tot her¬ 
unter und wird aktiv l&ngere Zeit gehalten. Wenn man den rechten Arm bis 
zur Horizontalen erhebt, macht er mit der Hand wippende Bewegungen. „Wenn 
ich den Arm ausstrecken tu, macht es vom von selber.“ Gleichzeitig sieht man 
ein Zittem in den Muskeln des rechten Armes, so daB der Arm sich in einem dauem- 
den leichten Schiitteln befindet, sowie er aufgefordert wird, eine Bewegung aus- 
zufiihren oder den Arm in einer passiv bestimmten Stellung zu halten. Der Arm 
kann rechtwinklig im Ellbogen gebeugt gehalten werden, wird aber vom Unter- 
sucher leicht wieder heruntergedriickt. Dei* Arm kann auch schwach gestreckt 
werden. Wenn die Hand des Untersuchenden gednickt wird, was ebenfalls nur 
ganz unvollkommen geschieht, gerat der ganze Arm ins Wackeln. Beim Versuch 
eine Faust zu machen, schiitteln die Finger. Die Hand ist blasser als die gesunde. 
Die Erregbarkeit der Gef&Be etwas erhoht. Sehr lebhafte, beiderseits gleiche Arm- 


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Knochen und Nerv (Kriegserfahrungen). 


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reflexe. Beim Beklopfen des Radius zuckt der ganze Biceps. Zeitweise ist 
wahrend derselben Untersuchung der Reflex nur schwach und un- 
deutHch auszulosen, aber bei Ablenkung (Faustdruck der gesimden Hand) in 
alter Starke hervorzurufen. Mechanische Muskelerregbarkeit am ganzen Ann 
sehr gesteigert. Beklopfen an irgendeiner Stelle lost umfangreiche Zuckungen 
aus. Am Arm keine Temperaturdifferenz gegeniiber dem gesunden. Wahrend 
der Untersuchung Schiitteltremor im rechten Bein und in den rechten Brust- 
muskeln. Das Schiitteln im rechten Bein ist so stark, daB Patellarklonus auf- 
tritt. Das linke Bein wird nur passiv mit erschiittert. Erst nach l&ngerem Stehen 
kommt es zu rhythmischem Zittem auch in den Streckmuskeln des linken Beines. 
Reflexe an den Beinen beiderseits gleich gesteigert. Ein paar klonische Zuckungen 
in der Achillessehne auszulosen, ebenso ein sich rasch erschopfender Patellar¬ 
klonus. FiiBe kiihl, nicht feucht. Lebhafte Bauchreflexe, kein Schwitzen. Erst 
st&rkerer Druck auf den Hoden lost Schmerzempfindung aus. Heute starke Hypal- 
gesie des ganzen Korpers, rechts starker als links. Die Nadel l&Bt sich uberall 



Schrift der rechten Hand. 
Fig. l. 


fcief einstechen. Nasenreflex und Comealreflex rechts fehlend, links sehr schwach. 
Wurgreflex stark herabgesetzt. Puls 90 im Liegen. Voile Kraft in beiden Beinen 
und linkemArm. Keine Ubererregbarkeit im VII, kein Grfife. Erregbarkeit der 
Gef&Be und Pilomotoren erhoht. Die Achselhohlen schwitzen nicht wahrend der 
Untersuchung. Schmerzgefiihl fiir starkste faradische Reize im rechten Arm er- 
loschen. Normale elektrische Erregbarkeit aller Nerven und Muskeln. Er iBt 
und schreibt seit liber 1 Jahr mit der linken Hand; Figur 1 zeigt die Schrift der 
rechten Hand kurz nach Wiederkehr der Bewegung. 

9. IV. 16. D. u. entlassen. 

Beobachtung Br. 

24 Jahre, Infanterist; im Beruf: Bauer. 

26. VH. 16. Weichteilverletzung am linken Unterarm (Granatsplitter). Ein- 
schuB: Daumenseite, 4 cm oberhalb des distalen Radiusendes. Der Splitter liegt 
10 cm schrag ulnarwarts unter der Haut, wird durch Hautincision entfemt. 
In der EinschuBwunde blutet eine Arterie stark. Unterbindung, keine Nach- 
blutung. Arteria radialis intakt. Keine Knochen- und Gelenkverletzung 
(auch im Rontgenbild). Glatte Wundheilung. 

Am 23. VIII. 16 Urlaub, in dem sich die jetzige Handhaltung ent- 
wickelte. 

26. X. 16 neurologische Untersuchung: Rechtshander. Guter Er- 
nfihrungszustand. Keine nervose Belastung. Vor dem Kriege nie nervos. Friiher 
nie Verletzimgen der Armknochen und Gelenke. 


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Hautnarben am Unterarm gut verschieblich. Rein Knochenbruch, auch 
nicht im Rontgenbild. GroBe Gelenke frei. Linker Radialpuls sehr schwach zu 
ftthlen. Die linke Hand leicht extendiert. Die Finger dauemd zur Faust ein- 
geschlagen, der gestreckte Daumen ist auf das Grundglied des Zeigefingers 
gepreBt. Bedeutender Muskelwiderstand gegen das Offnen der Hand, das 
vollkommen gelingt; hierbei schmerzhafte Abwehrbewegungen und Stohnen 
ohne besondere Pulsbeschleunigung. Alle Fingergelenke passiv frei, nur 
das zweite Gelenk des ftinften Fingers beiderseits in angeborener Contractur- 
stellung. tjbelriechender HandschweiB unter der dauernd geschlossenen Hand. 
An den N&geln nichts Bcsonderes. Haarwachstum an Unterarm und Hand durch 
Massage vermehrt. Keine vasomotorischen und sekretorischen Storungen. Die 
Haut des Handrlickens durch viele B&der etwas dtinner und deshalb mehr blau- 
rot als rechte. Armreflexe beiderseits gleich und schwach. Die Achselhohlen beider¬ 
seits feucht. Keine besondere SehweiBabsonderung w&hrend der Untersuchung. 
Er schwitzt angeblich sonst sehr stark. Die passiv ausgestreckte Hand wird auf 
dem Oberschenkel gelegentlich ausgestreckt gehalten. In den ausgestreckten 
H&nden kein Zittcrn. Vasomotorische Reaktion am Rumpf leicht gesteigert. 
Von Fingerbewegungen gelingt nur unter Zittem und Schiitteln des rechten Armes 
Abduction des Daumens und Zeigefingers, unter starkem Mitbewegen des ganzen 
Korpers. Unter zahlreichen und uberfliissigen Innervationen entfemter Muskel- 
gruppen werden auch die Endglieder und librigen Fingerglieder etwas gebeugt. 
Der Rumpf wird dabei weit nach vorn gebeugt. Die passiv in die Hand ge- 
brachten Finger werden mit voller Kraft darin gehalten, w&hrend 
der aktive HandschluB kaum gelingt. Die elektrische Untersuchung zeigt 
normales Verh&ltnis der Arm- und Handmuskeln. Psychogene Schwache und 
Hypasthesie im ganzen linken Arm mit starker Hypalgesie und Thermhypasthesie. 
W&hrend der Untersuchung gebraucht er die rechte Hand nicht, dagegen wird 
gelegentlich beobachtet, daB er die Hand erst schlieBt, wenn er beim Arzt ein- 
tritt. Auf dem Gang und w&hrend des Anziehens bleibt die passiv geoffnete Hand 
bei Ablenkung gelegentlich sehr kurze Zeit offen. 

Reflexe an den Beinen lebhaft, beiderseits gleich, ohne FuBklonus. Him- 
nerven normal, Augenbrauen miteinander verwachsen. Nasen- und Homhaut- 
reflexe beiderseits stumpf. Leichte Protrusio bulbi. Etwas hoher Gaumen. Schild- 
drUsen leicht vergroBert. Geringes Lidflattem. Keine t)bererregbarkeit im VII. 
Kein Romberg. Reine Herztone. 

Diagnose: Psychogene Contractur der linken Hand und psychogene Arm- 
schw&che nach StreifschuB des Vorderarmes. 

Rontgenbild: 26. X. 16. (2 Mon ate [!] nach Entwicklung der Con¬ 
tractur): Deutliche Atrophie aller Handknochen, die Netzstruktur 
der Kopfchen s&mtlicher Grundglieder verwaschen, ebenso die 
Zeichnung in den proximalen und distalen Teilen der Finger¬ 
glieder 2 bis 5 (s. Tafel IV). 

Beobachtung Sch. 

21 Jahre, Infanterist; im Beruf: Monteur. 

19. HI. 15. Quetschung des rechten MittelfuBes durch Minenverschuttung, 
sonst keine Verletzung. In verschiedenen Lazaretten behandelt. Einige Monate 
zur Arbeitsleistung beurlaubt. 

Vor Weihnachten 1915 verspiirte er im rechten Arm w&hrend der 
Arbeit einen starken Krampf, der Arm sei wie steif stehcngeblieben. 


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Knochen und Nerv (Kriegserf&hrungen). 45 

Der Hammer fiel ihm aus der Hand und auf den linken Daumen und quetschte 
ihm das Endglied. 

Von da ab nur leichtere Arbeit mdglich. Seit dieser Zeit habe er schwere 
Gegenst&nde nicht mebr heben konnen, wiederholt sei ihm der Arm wfthrend der 
Arbeit steif stehengeblieben, zuietzt im Juni 1916. Friihere Verletzungen 
des Armes (Knochen, Gelenke) oder Entziindungen liegen nicht 
vor. — Die Htade sollen im Winter stets leicht erfroren sein; seit Jahren schliefe 
die rechte Hand leichter ein als die linke. Bisher keine Schwftche und Schmerzen 
im Arm oder Bein. Leidet an kalten FiiBen. Hautverfftrbungen bisher nicht be- 
obachtet. 

Auf nahmebefund des Lazaretts: 6. VI. 16. Guter Ernahrungszustand, 
inner© Organe normal. Puls regelm&Big, 66, links wie rechts. Stark gesteigerte 
Haut- und Sehnenreflexe, kein pathologischer Reflex, Himnervenbefund normal. 
Leichtes Lidflattern, Schwanken bei geschlossenen Augen, Zittem der gespreizten 
Finger, bei langerem Stehen allgemeines Muskelzittern, starkes vasomotorisches 
Nachroten am ganzen Korper. Bis zur Mitte des rechten Oberarmes Gefuhl fur 
feinere Beriihningen, Stiche, Temperatur aufgehoben. 

Rechter Vorderarm und rechte Hand kalt. Rechte Hand starker 
blaulich als die linke. Hand und Finger leicht geschwollen, Hand- 
bewegungen frei, Fingerstrecken unbehindert. Bei FaustschluB bleiben 
die Finger 3 cm von der Hohlhand entfemt. Alle Daumenbewegungen ungestort. 
Klagt iiber starke Schmerzen im linken Ellbogengelenk. Passive Bewegungen im 
Ellbogengelenk frei, aktiv nur unter Schmerzen vollst&ndig. Bewegungen im 
Schultergelenk unbehindert. Latissimus druckempfindlich. 

Krankheitsbezeichnung: Blaues Handodem. 

Verordnung: Faradisation, Massage. 

8. VI. 16. Handodem heute vormittag vdllig verschwunden. Er gibt an, 
daB heute vormittag die Schwellung imd Verf&rbung der Hand plotzlich nach- 
gelassen habe und in kurzer Zeit vollig verschwunden sei, er habe jetzt wieder 
voile Kraft im rechten Arm und in der rechten Hand. Die Gefiihlsstorung am 
rechten Arm fehlt. Die Hand ist ebenso warm wie die gesunde, hat dieselbe Farbe 
und gehorige Kraft. 

12. VI. 16. Odem wieder aufgetreten, und zwar ebenso wie friiher geschildert. 

20. VI. 16. Odem unverandert. 

21. VI. 16. Heute nachmittag sei die Hand wieder ganz warm, die Schwellung 
wiirde wohl jetzt zuriickgehen. — Odem wie friiher, die Hand ist aber abends 
lebhaft rot, fast braunlich gefftrbt, fuhlt sich sehrwarm und heiBer ab die gesunde an. 

28. VI. 16. Hand seit heute wieder kalt und blau. 

26. VII. 16. Zustand unverandert. 

15. VIII. 16. Handschwellung wie bisher, gelegentlich starker. 

8. IX. 16. Neurologische Untersuchung: Leidet viel an kalten Handen 
und FuBen, schon in der Friedenszeit. Will als Kind stets ruhig gewesen sein, 
kein Bettnassen, kein Nachtwandeln, kein Sprechen im Schlaf, aber sichere An- 
gaben kann er nicht machen; nie Krampfe, nie Migrane; Vater Trinker, Mutter 
und 3 Geschwister nicht nervos; sehr ungluckliche Familienverhaltnisse. Schildert 
die Entstehung der Schwache und des Odems wie in der Krankengeschichte an- 
gegeben. 

Er schont den Arm seit Weihnachten 1915 und benutzt ihn iiber- 
haupt nicht seit 4. VI. 16. Er ist Rechtshander. Der Arm blieb pldtzlich 
stehen, vorher keine seelbchen Erregungen. Er weiB keine Ursache, „es kam 
so“. Ab und zu konnte er den Arm noch einmal hochheben. Jede Behandlung 
erfolglos. 


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Klagt heute liber heftige Schmerzen in der ganzen rechten Hand, Arm und 
Schulter. WeiBwerden der Finger hat er nie beobachtet. 

Befund: Ausgesprochen hysterischer Gesichtsausdruck. Linke Pupille und 
Lidspalte spurweise weiter ala die rechte. Augenbrauen verwachsen. Das untere 
Augenlid verl&uft beiderseits etwas nach oben auBen. Ab und zu Stimrunzeln 
und andere Ausdrucksbewegungen. Gesicht nicht auffallend gerdtet, nur die Ohren 
stark rot und heiB. Nasen- und Comealreflex lebhaft. M&Bige Hyperasthesie 
im V. Himnerven frei. GroBter Halsumfang 35. Schilddriise kaum vergroBert. 
Kein Grftfe, Facialis mechanisch nicht ubererregbar. Der rechte Arm wird an den 
Thorax adduziert gehalten und ist nur unter lebhaften Schmerz&uBerungen in der 
Schulter und im Ellbogengelenk zu biegen. Tricepsreflex beiderseits gesteigert. 
Radiusreflex beiderseits gleich. Die rechte Hand ist heute wieder m&Big geschwollen, 
etwas kiihler als die linke, blaurot und feucht. Kein eigentliches Odem, Haut 
kaum eindriickbar. Die Arme gleich warm. Gestern war die Hand eiskalt und der 
Arm distal zunehmend ktihl. Kiinstliche weiBe Flecken gleichen sich rasch aus. 
Auch die h&ngende linke Hand ist leicht blaurot. 

Puls 84—90, rechts etwas kleiner als links, doch ist auch die Gegend iiber 
dem Handgelenk etwas geschwollen. Die Fingern&gel blaB, an der rechten Hand 
rosa. An den N&geln nichts Besonderes. 


Umfang der Hand iiber Grundgelenk.rechts 21,5 cm, links 21 era 


Daumenendglied 
Grundglied des Zeigefingers 
„ „ III. Fingers 

IV 

»*■*■*• *» 

V 

»» »* * • *» 


7,5 

8 

7.5 
7 

6.5 


7 

7 

7 

6 

6 


Die Sehnen iiber dem Handgelenk treten rechts nicht hervor. 

Ober Handgelenk.rechts 18 cm, links 17 cm 

Vorderarmwulst.. 25,5 „ „ 25 „ 

Mitte des Oberarmes. „ 25 „ „ 25 „ 


Die blaue, kiihle, etwas geschwollene rechte Hand wird .15 Minuten mit 
kaltem Wasser bespiilt, danach ist sie 1 / 2 cm dicker und k&lter, es treten rote 
Flecken auf. 

Ab und zu kommt in die rechte Hand ein schnell- und grobschlagiges Zittem. 
Im Unterarm und rechter Hand Hypalgesie. Auf leichte Nadelstiche in die Finger- 
beere entleert sich sofort Blut von gewohnlicher Farbe in raschen Tropfen. Das 
gleiche bei Stichen in den Handriicken. Diffuse grobe psychogene Schwache 
des ganzen Arms. Handdruck aktiv fast aufgehoben. Beim Versuch die Finger 
zu beugen, Grimassieren imd krampfhafte, zwecklose Innervationen fast aller 
Korpermuskeln (Rumpfbeugen, Einziehen der Bauchmuskeln, Beinstreckung 
usw.). 

Am iibrigen Korper keine Gefiihlsstoningen. Lebhafte vasomotorische 
Reaktion ohne Quaddelbildung. Schwitzt nicht bei der Untersuchung. Bauch- 
reflexe beiderseits sehr lebhaft. 

Sehnenreflexe an den Beinen beiderseits gesteigert. Kein FuBklonus. Nor- 
maler Zehenreflex. 

Er stiitzt sich beim Gehen auf das rechte Bein mit entsprechender Becken- 
senkung, angeblich wegen Schmerzen im linken FuB. Die Wirbels&ule im Brust- 
und Lendenteil wird beim Gehen nach rechts ausgebogen. Es sollen Schmerzen 
in der Hacke beim Gehen bestehen. Keine kalten und verf&rbten FiiBe. Die Beine 
konnen bei vorniibergebeugter Wirbels&ule vollkommen durchgedriickt werden. 


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Knochen und Nerv (Kriegserfahrungen). 


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Der Arm wird dauemd, auch beim An- und Ausziehen, an den Rumpf adduziert 
gehalten und nicht beniitzt. 

Rontgenbild 27. X. 16. Deutliche Aufhellung des distalen Endes 
der Unterarmknochen, aller Handknochen. Netzstruktur weit- 
maschiger, grober. Im ganzen mittelstarke Atrophie (s. Tafel V). 

Diagnose: Hysterischer Charakter. Psychogene Gangstorung, Schwftche 
und Bewegungseinschrankung des ganzen linken Armes. HandQdem. 

13. IX. 16. Keine Besserung, als arbeitsverwendungsfahig entlassen. 

Beobachtung R. 

21 Jahre, Pionier; im Beruf: Arbeiter. 

Stammt aus gesunder Familie, nie krank. Fiel am 4. XI. 15 beim Bauen von 
Drahthindemissen angeblich auf die Hand, die linken Finger hingen sofort 
nach dem Fall herab und konnten wie das Handgelenk aktiv vor 
Schmerzen nicht bewegt werden. Kein Knochenbruch, keine Schwel- 
lung der Hand. Lag 6 Tage im Kriegslazarett S. Bereits 8 Tage nach der 
Verletzung findet sich folgender Eintrag in dem Krankenblatt eines Heimats- 
lazaretts: 12. XI. 15. „Etwas oberhalb der Mitte der Streckseite des lin¬ 
ken Handgelenks befindet sich eine kirschgroBe, harte kugelige 
Geschwulst, die anscheinend stark druckschmerzhaft ist. Sie l&Bt sich unter 
der Hand leicht gegen diese verschieben, h&ngt aber mit den tieferen Gewebs- 
schichten zusammen, bei Beugung und Streckung der Hand bewegt sie sich mit. 
Aktive Bewegung und Streckung im Handgelenk ist nur leicht beschr&nkt. 

Krankheitsbezeichnung: Ganglion der Strecksehne der linken Hand. 
Druckverband.“ 

24. XI. 15. Exstirpation eines typischen Ganglions der Strecksehne des 
Mittelfingers, das nur aus graugelblichem, granulationsahnlichem Gewebe besteht. 
11 Tage Schienenverband. Glatte Wundheilung. 

21. XII. 15. Daumenbewegungen frei, Fingerbeugung kraftlos, Streckung 
unmdglich. — Taglich Massage und Elektrisieren. 

25. VI. 16. Klagt iiber Bewegungsstorung des 2. bis 4. Fingers, Schmerzen 
im Handgelenk. Befund (25. VI. 16 Lazarett L.): t)ber der Mitte der Streck¬ 
seite des linken Handgelenks eine 4 1 / 2 cm lange, 1 / 2 cm breite, iiberall ver- 
schiebliche Narbe, unter der ein elastischer, verschieblicher kirschgroBer Knoten 
fiihlbar ist. 

Beurteilung (Lazarett L.): „Es liegt eine auf Inaktivitat beruhende Be- 
wegimgshinderung im Handgelenk und eine Bewegungsbeschrankung der Finger- 
grundgelenke durch die Narbe vor, dazu kommt die psychogene Bewegungsstorung. 
An den inneren Organen normaler Befund.“ Der Kranke ist auch von Kauf- 
mann behandelt. „Da der Fall sich keineswegs zur t)berrumpelung eignet, wird 
angefangen, methodisch Bewegungsiibungen zu machen. Der Kranke hilft aber 
absolut nicht mit. Er windet sich unter dem nur mittelkraftigen elektrischen 
Strom vor angeblichen Schmerzen.** 

5. VII. 16. Absolut keine Besserung, deshalb Bettruhe. 

18. VII. 16. Die Finger werden im Grundgelenk spontan gestreckt, wenn 
auch nicht vollkommen, die Beugung gelingt vollig. Darf jetzt aufstehen. 

22. VIII. 16. Entlassung zur Ersatztruppe. 

Neurologische Untersuchung 28. X. 16: Rechtshander, guter Er- 
nahrung8zustand. — Er gibt an, trotz energischer elektrischer Behandlung nicht 
gebessert zu sein, er sei eine Viertelstunde lang taglich mit starken Stromen be¬ 
handelt worden, er habe vor Schmerzen gebriiUt und sei mehrfach vom Stuhl 


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heruntergefallen. Nachdem er dann 14 Tage im Bett gelegen hatte, 
fiihlte er Schmerzen im linken Bein, das Gehen ist seitdem zusehends 
schlechter geworden. Die linke Hand sei gleich naoh dem Fall efcwas k&lter 
und leicht geschwollen gewesen. tJber die Farbe macht er keine bestimmten An- 
gaben. Nachdem er „auf die Hand gefallen“ sei, standen sofort die Finger 2, 3, 4 
leicht gebeugt und vollkommen adduziert und wurden vor Schmerzen nicht 
bewegt. Seit der Verletzung konne er die Finger „iiberhaupt nicht mehr“ heben. 
— Ausgesprochen hysterischer Gesichtsausdruck. Er stiitzt sich beim Gehen auf 
das rechte Bein, daB das Zimmer drohnt. Der Rumpf wird vomiibergebeugt ge- 
halten. Es besteht keine Verbiegung der Wirbels&ule nach irgendeiner Seite. Beide 
Beine werden vollkommen durchgedruckt. Augenbrauen verwachsen, Himnerven 
frei. Pupillen von gewohnlicher Weite. Puls beiderseits gleich, 108. Umfang des 
Handgelenks beiderseits 18 cm. Vorderarmwulst rechts 27, links 26. Oberarm- 
mitte beiderseits 27 cm. Linke Hand nirgends geschwollen, eine Spur blaurot am 
Handriicken und in der Beugefl&che. Der Handriicken deutlich kftlter als rechts, 
ebenfalls die Finger und die Beugefl&che der Hand. Handgelenk nach alien 
Richtungen frei beweglich. Der ganze Arm etwas kiihler als der rechte, beson- 
dera der Unterarm. Armreflexe beiderseits gleich lebhaft. In der rechten Hand 
voile Kraft. Die linke Hand wird um die Hand des Untereuchers nicht ge- 
schlossen, der leere FaustschluB etwas kr&ftiger, aber im ganzen mangelhaft. In 
den Fingergelenken keine Spur von Steifigkeit. Die 5 cm lange Narbe fiber dem 
Handriicken ist mit der Unterlage nirgends verwachsen, sie geht genau von der 
Handgelenkslinie in der Handriicken weite nach oben f ingerw&rts. Eine Beschran- 
kung der Fingergelenke durch die Narbe, die in einer Krankenge- 
schichte erw&hnt ist, ist schon nach dem Verlauf der Narbe ausgeschlossen. 
Beide H&nde schwitzen wahrend der Untersuchung, die linke etwas mehr als 
die rechte. GroBter Handumfang ohne Daumen links 21 cm, rechts 22 cm. Zwi- 
schenknochenrfiume leicht eingesunken. Beim Versuch die Finger zu strecken, 
bleiben der 2., 3., 4. Finger vollig adduziert und im ganzen 30° gebeugt. S&mt- 
liche Fingerglieder bleiben ungeffthr in derselben Achse stehen. Beim Versuch 
die Finger zu spreizen, wird bloB der 5. Finger steif in alien Gliedem gestreckt 
abduziert, und gleichzeitig abduziert sich der Daumen. Hand aus der Wagerechten 
aktiv bis 145° gebeugt, die gesunde bis 105°. Passive Beugung links gelingt nur 
bis zu einem Winkel von 143° infolge heftigen Muskelwiderstandes. Hierbei tritt 
die verachiebliche Sehnenscheide des Extensor hervor. Er leistet bei diesen passiven 
Bewegungen heftigsten Widerstand. Mini male Kraft der kleinen Handmuskeln, 
nur Adduction des Daumens etwas kr&ftiger. In der Ruhe ist die linke Hand 
leicht adduziert. Psychogene Gefiihlsstorung der linken Hand (Hypalgesie fur 
Nadelstiche, Hyp&sthesie fur Beriihrung und Temperatur). Elektrisch normale 
Verh&ltnisse in alien Arm- und Handmuskeln. Lebhafte Haut- und Sehnen- 
reflexe. Beim Erheben des linken Beines Andeutung von Tremor fiir wenige Se- 
kunden, aber voile Kraft. Beim Erheben des FuBes macht der erhobene FuB 
gegen Widerstand des Untersuchers grobe zuckende und schiittelnde Be¬ 
wegungen, das gleiche bei Zehenbewegungen. Psychogene Schw&che beim 
Herabdrucken des FuBes. Hypalgesie am ganzen Korper einschlieBlich der 
Schleimh&ute. 

Rontgenbild am 29. VII. 16. (Verletzung 4. XI. 15.) Keine Knochen- 
verletzung. Sehr deutliche Aufhellung der linken Fingerknochen, 
zum Teil mit Verdiinnung der Corticalis; die Netzstruktur tritt 
deutlich hervor. Die Kopfchen der Grundglieder sind aufgehellt, 
und auch die Basis etwas heller als rechts. Geringe aber deutliche 
Aufhellung der Handwurzelknochen und etwas auch der distalen 


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Tafel IIT. 











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Z. f. (1. (?. Neur. u. Psych. Oriff. XXXVII. 



A. Simons, Knochon mul Norv (Kri<* 


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Tafel IV 




















Yerlag von Jiiliun Springer in Merlin. 


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Knochen und Nerv (Kriegserfahrungen). 40 

Vorderarmknochen, aber hier sehr gering. Rechte Hand normal 
(s. Tafel VI). 

Beurteilung: Hysterischer Charakter. Grobe peychogen© Bewegungs- 
beschr&nkungen der linken Hand und psychogene Gangstorung. 

Beobachtung St. 

21 Jahre, Armierungssoldat; im Beruf: Bierbrauer. 

Am 12. XI. 14 durch GewehrschuB am linken Arm verwundet; bald danach 
Schmerzen in den Fingem. Im Rontgenbild keine Kugel und Knochenverletzung 
eichtbar. In verschiedenen Lazaretten behandelt. AuBer operativer Entleerung 
©ines bel&nglosen Abscesses „um das Ellbogengelenk herum“ sind keine Eingriffc 
vorgenommen worden. Wundheilung p. sec. Anfang Januar „gute Heilung“ 
und am 1. IV. 15 garnisonverwendungsf&hig zum Ersatztruppenteil entlassen. 
Im M&rz 1910 kam er ins Feld, meldete sich aber Anfang April wieder krank. 
Am 3. IV. 16 wurde er wieder in ein Lazarett aufgenommen. 

Dort wurde eine hysterische Schw&che des linken Armes und der Hand und 
eine leichte Medianusverletzung festgestellt. Bei gewohnlichen Verrichtungen 
(Anziehen, Kartoffenschalen) wurde die link© Hand nie benutzt. Zeitweise 
wurde sie in Pfotchenstellung und Ulnarabduction gehalten. Es bestand Anftstheeie 
im ganzen linken Arm, zunehmende K&lte vom Ellbogen abw&rts, Cyanose der 
Hand. Alle versuchten MaBnahmen, auch die Behandlung mil sinusoidalem Strom 
und Hypnose, versagten. Nach versprochenem Urlaub wurden die Finger einmal 
etwas bewegt. Gelegentlich wurden auf Zureden voriibergehend der Mittel-, Ring-, 
Kleinfinger aktiv vollig und der Zeigefinger etwas gebeugt. 

20. X. 16. Neurologische Untersuchung: Rechtsh&nder. Guter Er- 
n&hrungszustand. An den inneren Organen regelrechter Befund. Hysterischer 
Gesichtsausdruck. Gesicht im ganzen etwas st&rker gerotet, feucht. Am linken 
Oberarm uber dem unteren Teil des Biceps an seiner Innenseite eine 4 cm lange, 
l 1 /* cm breite quere EinschuBnarbe. Am Oberarm hinten innen am Condylus 
lateralis abw&rtsziehend eine 6 cm lange, bis zu 2 1 /* cm breite, stellenweise mit 
der Unterlage verwachsene AusschuBnarbe. In der Ellenbeuge eine schr&g ver- 
laufende, 3 cm lange Operationsnarbe. Bewegungen im Schultergelenk 
frei, Streckung des Ellbogens aktiv bis 105° (also nur sehr geringer Streck- 
defekt infolge Schnittnarbe iiber dem Lacertosus fibrosus), passiv vollst&ndig. 
Beugung aktiv bis zum spitzen Winkel von 80°, passiv bis 70°. Im Ell¬ 
bogen kein Knacken, kein ErguB. Pronation des Vorderarms frei, Supi¬ 
nation um die Halfte eingeschran kt. Grundgelenk des zweiten Fingers 
schwach versteift. 

Grobe Atrophie des linken Vorderarms und der linken Hand. 


UmfangmaBe: 


links 

rechts 

Oberarmmitte. 

. . . 

24,5 

25,5 

Vorderarmwulst. 

* . . 

23,5 

25 

Mittelhand ohne Daumen 

. . . 

19 

21 


Linker Oberarm kiihler als der rechte, Unterarm sehr kalt, Hand 
eiskalt, in alien Segmenten gleiohmaBig. Der linke Radialpuls er- 
heblich kleiner als der normal voile rechte, weich, regelmftBig. Hand zur- 
zeit in mittlerer Fallhandstellimg, radialw&rts etwas angezogen. Daumen voll- 
kommen der Mittelhand angelegt. Samtliche Finger in der Handachse in den 
Endgliedem leicht gebeugt, besonders der 2. Finger. Der 5. Finger etwas abduziert, 
Endglied 2 1 / 2 cm von der Ulnarseite des 4. Fingers entfemt. Endglied des 4. Fingers 
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVII. 4 


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A. Simons: 


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von dem des dritten 1 cm, Endglied des 2. Fingers von dem des 3. wenige Millimeter 
entfernt. Die ganze Hand etwas feucht. Thenar in der Gegend des Abductor 
und Hypothenar abgemagert. Starke vasomotorische Storungen am 
ganzen 2. und 3. Finger. Der 3. Finger blaurot, Endglied des 4. und 5. Fingers 
ziemlich rot. Am Daumen keine vasomotorischen Storungen. Ein 3 Sekunden 
dauemder Druck auf die Fingerbeeren erzeugt eine rote Druckstelle vom Um- 
fange des driickenden Fingers. Der Rest der Kuppe wird schneeweiB. Der 
Hof ist nicht so blafl, wenn der Arm vorher bereits einige Zeit senkrecht erhoben 
war. Ein Ansgleich der vasomotorischen Storungen ist am erhobe- 
nen Arm nach 10 Minuten noch nicht erfolgt und tritt am h&ngen- 
den Arm andeutungsweise erst nach einigen Minuten ein. 

Die an der Fingerbeere beschriebene Zirkulationsstorung ist im Daumen- 
endglied am schw&chsten. Die blassen Stellen durch Druck auf die Dorsalseite 
des Endgliedes gleichen sich auch im erhobenen Arm sehr rasch und wie auf der 
gesunden Seite a us. 

Die linke Hand schwitzt im Medianusgebiet etwas st&rker als im Ulnaris- 
bezirk, im ganzen nur so stark, daB die Haut feucht schimmert. Die SchweiB- 
sekretion betrifft auch noch die mediale Seite der Daumenbeugefl&che. Die Haut 
der Handfl&che leicht marmoriert. Der erete Zwischenknochenraum leicht ab¬ 
gemagert, die iibrigen etwas st&rker als die rechten eingesunken. Kleinfinger- 
ballen abgemagert. 

Vorderarmwulst in rechtwinkliger Beugestellung des Unterarms, 10 cm 
unterhalb Olecranon, links 23 cm, rechts 26 cm, Handgelenkumfang rechts 
17V 2 cm, links 17 cm. Handumfang ohne Daumen iiber den Grundgelenken 
gemessen links 20 cm, rechts 22 cm. 


Die Finger sind erheblich abgemagert. 


Grundglied des Daumens. 

r. 7,5 

1. 7,0 Endglied r. 7,0 

1. 6,0 

1. Glied 

„ 2. Fingers. 

„ 7,0 

„ 7,0 

>* ft 6,5 

tt 6,0 

1. „ 

>» ,, . 

„ 7,0 

7,0 

>* „ 6,0 

„ 5,0 

1. „ 

» 4. „ . 

„ 7,0 

„ 7,0 

** tt 6, / 

„ 5,0 

1. 

» 5. ,, . 

.» 6,0 

.,6,0 

tt tt 6,1 

„4,7 


Das zweite und dritte Glied des 2. Fingers, der im Gnmdgelenk leicht ver- 
steift ist, etwas zugespitzt, aber unverkiirzt. Die Nfigel sind gebuckelt und etwas 
quergerieft, der 2. und 3. Fingemagel wachsen rasch, der 4. und 5. etwas lang- 
samer. Er schneidet links die N&gel alle 8 Tage, rechts alle 14 Tage bis 3 Wochen. 
Glanzhaut am 2. und 3. Finger, Gelenkfalten verstrichen, sonst keine trophischen 
Storungen. Nach l&ngerem Aufenthalt im warmen Zimmer werden der 2. und 
3. Finger etwas w&rmer; die grobe Temperaturdifferenz ist aber noch nach einer 
Stunde deutlich. 

Die linke Hand h&ngt leicht herab, die Strecksehnen iiber dem Handriicken 
springen schwach hervor, Daumen angelegt, Pfotchenstellung. Pronation gar 
nicht, Supination kaum beschr&nkt. Handgelenk passiv frei beweglich. Hand 
wird aktiv sehr schwach gegen passiven Widerstand bis zur Wagrechten gehoben. 
Fingerstreckung vollkr&ftig. Handbeugung ziemlich kr&ftig. Alle Bewegungen 
der kleinen Daumenmuskeln moglich mit schwach vemngerter Kraft. Einzel- 
bewegungen der Finger werden nicht ausgefiihrt; alle Finger werden in den Grund¬ 
gelenken langsam gleichzeitig gebeugt, die Beugung des 4. und 5. Fingers i6t dabei 
kraftig; die Beugung der Endglieder geschieht in gleicher Weise und mit demselben 
Kraftverhaltnis. DaB die Spreizung und Adduction der Finger im Ulnarisgebiet 
normal, im Medianusgebiet etwas schw&cher moglich ist, wird nur aus dem ent- 
sprechenden Muskelwiderstand erschlossen, der der Einfiihrung des Fingers des 
Untersuchers in die adduzierten Grundglieder entgegengesetzt wird. Endglieder 


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Knochen und Nerv (Kriegserfahrungen). 


51 


werden bei gebeugtem Grundglied langsam auf energisches Zureden voll und ziem- 
Kch kr&ftig gestreckt. 

Die Armreflexe beiderseits von gewohnlicher Starke. Kalt am ganzen linken 
Arm nicht gefiihlt, ebenfalls grobe Pinselberiihning. Keine Abwehrbewegungen 
auf tiefe Nadelstiche und starken sinusoidalen Strom in Arm und Hand, das Ge- 
sicht bleibt unbeweglich. 

Elektrisch: Partielle EaR. im Medianusgebiet in alien kleinen Hand* 
muskeln, doch ist die direkte Erregbarkeit im Ulnarisgebiet weniger herabgesetzt 
als im Medianusgebiet. W&hrend der elektrischen Untersuchung wird die SchweiB- 
sekretion der linken Hand erheblich starker als rechts und im Medianusgebiet 
etwas st&rker als im Ulnarisgebiet. Keine sicheren qualitativen Ver&nderungen, 
wenn die Hand geniigend warm ist. Im Biceps keine elektrischen Ver&nderungen. 
RadiaHs intakt. 

21. X. 16. Neurologische Untersuchung: Vasomotorieche, sekre- 
torische, Temperaturverh&ltnisse wie gestern. Radialpuls im erhobenen Arm nicht 
zu fuhlen, im hftngenden sehr schwach. Die Hand wird im H&ngen rasch blaurot. 

Die zeitlichen Angaben iiber den Ausgleich kiinstlicher vasomotorischer 
Storung an den Fingerkuppen haben nur bedingten Wert, da sie im stark geheizten 
Raume beobacbtet wird, w&hrend unter Witterungseinflussen und kalten Tagen 
die^Storung erheblich l&nger dauem wiirde. 

20. X. 16. Rontgenbild: Starke diffuse Atrophie in den distalen 
Enden der Vorderarmknochen und s&mtlicher Handknochen. Keine 
Verletzung des Oberarmknochens (s. Tafel VII). 

25. X. 16. Heute wieder sehr starke Cyanose und ganz schwacher Radial¬ 
puls. 

Krankheitsbezeichnung: Grobe psychogene Parese des linken Armes 
und der Hand, teilweise bis zur Akinesie. Geringe Medianus- und Ulnarissch&digung. 
Radialpuls sehr klein (direkte Gef&Bverietzung oder -einengung in der Ellbeuge 
durch Narbe?). 

Beobachtung Ln. 

29 Jahre, Musketier, Rechtsh&nder. 

Am 1. X. 14 durch Schrapnellkugeln verletzt an mehreren Stellen, u. a. am 
linken Arm. Die Hand hing zun&chst herunter (Commotio n. radialis ? plexus ?). 

Aufnahmebefund der medikomechanischen Abteilung (ordin. 
Arzt Dr. Reiss): An der Streckseite des linken Vorderarms unterhalb des linken 
Ellenbogens kleinerbsengrpBes N&rbchen an der Beugeseite. Dicht unterhalb der 
EUenseite markstiickgroBe EinschuBnarbe, 6 cm unterhalb dieser Narbe eine klein- 
erbsengroBe Narbe. Femer an der Innenseite des Oberarms in der unteren H&lfte 
der Bicepsfurche eine 9 cm lange Operationsnarbe. Alle Narben am Arm frei 
verschieblich. Die Hand sei anfangs blau gewesen und habe gehangen. Linker 
Arm im ganzen abgemagert. 

Oberarmmitte.links 27,5 cm, rechts 30,5 cm 

Vorderarmwulst .... „ 25,75 „ „ 27,75 „ 

Die Haut der linken Hand und der Fingerriicken glatter als rechts. Der 
4. und 5. Nagel etwas runder. Die passive He bung im Schultergelenk stoBt auf 
Widerstand, gelingt bis Schulterhohe, aktiv wird der Arm nur spurweise zu heben 
vereucht unter starker Anspannung der Antagonisten. Im Ellbogengelenk aktive 
und passive Streckung bis 130°, aktive Beugung unter groben Zitterbewegungen 
his 90°, passiv unter Widerstand normal moglich. Die aktiven Drehbewegungen 
des Vorderarms gering, die passive Pronation etwas beschr&nkt. Supination 
frei, dabei ebenfalls aktiver Muskelwideretand. Hand beugung passiv frei, Hand- 

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52 A. Simons: 

iiberstreckung unter aktivem Widerstand 1 / 3 moglich. Seitlich© Handbewegungen 
ebenfalls mit Widerstand ziemlich ausgiebig, aktive Beugung nur gering, ebenfalls 
die Uberstreckung und die seitlichen Bewegungen. Die gestreckten Finger und 
der Daumen werden aktiv nur wenig bewegt, schlieBlich konnen die Finger bis 
zur halben Faust gebeugt, etwas gespreizt und zusammengefiihrt, der Daumen 
mit wenig gebeugtem Endglied etwas eingeschlagen werden; passiv sind Finger 
und Daumen gegen aktiven Widerstand vdllig beugbar. SchlieBlich gelingt der 
Nachweis, daB der Arm sich im Schultergelenk passiv 45° iiber Schulter- 
hohe erheben laBt und auch aktiv kurze Zeit in jeder Hohenlage fest- 
gehalten wird. Von hysterischen Zeichen finden sich herabgesetzter Schleim- 
hautreflex, gesteigerte Haut- und Sehnenreflexe, erhohte mechanische Muskel- 
und Vasomotorenerregbarkeit. Medikomechanisch behandelt bis 13. IX* 15. 

Abgangsbefund am 13. IX. 15: Linker Arm h&ngt im Ellbogen gebeugt 
herab. Hand und Finger blaurot, glatter. Auch der Vorderarm kiihler, keine 
Nagelver&nderung. Deutliche Abmagerung des ganzen rechten Armes, nicht nach 
Muskelgruppen. 

Mittelhandumfang . . . links 22 cm, rechts 23,5 cm 

Vorderarmwubt .... „ 26 „ „ 28 „ 

Oberarmmitte. „ 28 „ „ 29,25 „ 

Alle aktiven Finger- und Handbewegungen werden nur andeutungsweife 
ausgefuhrt, bei den passiven Hand- und Fingerbewegungen muB man Muskel- 
widerstand uberwinden und hat das Gefiihl von Muskelspannung, am deutlichsten 
bei der passiven Fingerbeugung , die schlieBlich vdllig gelingt, aber Schmerz- 
AuBerungen hervorruft. Die Vorderarmdrehungen konnen aktiv und passiv 
ziemlich gut ausgefuhrt werden, im Eilbogengelenk aktiv und passiv Streckdefekt, 
anscheinend reell von 60°, Beugung aktiv anscheinend muhsam bis 90°, passiv 
ann&hemd vollstAndig. Im Schultergelenk aktiv keine Beweglichkeit, passiv 
starker Muskelwiderstand, nach dessen Uberwindung man ziemlich gute Drehungen 
und Armhebungen bis liber Schulterhohe erzielen kann. Das Hautgeftihl am 
ganzen linken Arm leicht herabgesetzt, linker groBer Brustmuskel und Hnke 
Schulterblattmuskulatur leicht geschwAcht. Mechanische Muskelerregbarkeit er- 
hoht. Dermographismus ziemlich anhaltend. Puls langsam, regelmaBig, linker 
Radialpuls ein wenig abgeschw&cht. Schleimhautreflexe abgeschwAcht, linke 
Armreflexe erhoht, beide Achselhohlen schwitzen, kein auffallendes Zittem. Druck- 
schmerzpunkt an der linken Brustwarze. Lebhafte Haut- und Sehnenreflexe am 
ganzen Korper. Himnervenbefund normal. Psychisch teilnahmlos. Ich habe 
den Kranken wiederholt gesehen. Der objektive Befund entsprach dem in der 
medikomechanischen Abteilung (ordin. Arzt Dr. Reiss) erhobenen. Der Mann 
war ein schwerer Hysteriker, der keine Spur gebessert wurde. Der elektrische 
Befund war vollkommen normal. Welche Operation im Oktober 1914 sofort 
nach seiner Verwundung vorgenommen wurde, habe ich trotz aller Nachforschung 
nicht feststellen konnen. Bereits einen Tag nach seiner Einlieferung von dem 
Schlachtfelde fand sich aber in der Krankengeschichte der Eintrag: „12 cm lange, 
zugenahte Wunde an der inneren Flftche des linken Oberarms. Fiinfmarkstuck- 
groBe Fleischwunde an der Beugeseite direkt unter dem Eilbogengelenk, das 
frei beweglich ist. Aktive Beweglichkeit der Hand ist nicht vorhanden. Passiv 
konnen Pronationen ausgefuhrt werden. “ Dieser sofortige Eingriff spricht fiir 
eine GefftBverletzung. 

Die Wundbehandlung (mit Verbandwechsel) scheint normal verlaufen zu 
sein, wenigstcns finden sich in der Krankengeschichte keine anders zu deutenden 
Angaben, z. B. Fieber oder Eiterung. 

Krankheitsbezeicknung: Hysterische schwere Parese des linken Armes. 


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Z. f. ( 1 . g. Xeiir. 11. Psych. Orig. XXXVII. 



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Z f. cl. g. Neur. U. Psych. Orip. XXXVII. 



A. Simons, Knorhon und X(*rv (Kricgserfahrungcn). 


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Knochen and Nerv (Kriegserf&hrungen). 


53 


9. VIII. 15. Rdntgenbild: Deutliche Atrophie in alien Teilen, am 
st&rksten in alien Phalangen, Kopfchen der Grundglieder; geringere 
Verftnderungen an der Basis der Grundglieder; Aufhellung der 
Handwurzel- und des distalen Endes der Vorderarmknochen (siehe 
Tafel VTII). 


Beobachtung Lc. 

23 Jahre, Musketier; im Beruf: Arbeiter. 

31. VIII. 15. GewehrschuB in den rechten Unterschenkel. Schuflbruch der 
Tibia. Kein Gipsverband. Schienenverband; 14 Tage spftter „ Tibia fest". Glatter 
Wundverlauf. 

1. XI. 15. FuB steht etwas in Spitz- und KlumpfuBstellung. Beim Gehen 
setzt er den rechten FuB besonders mit der Kleinzehenseite auf. Bewegung im 
rechten FuBgelenk und alien Zehengelenken fast gftnzlich gehindert. Passiv ist 
die Bewegung in den Zehengelenken frei, im rechten FuBgelenk stark eingeschrftnkt. 
Keine Gefiihlsstorungen. 

25. III. 16. Er erhalt orthop&dischen Stiefel mit redressierender AuBenschiene. 
Gang etwas gebessert, bewegt sich ohne Stock 1 / 2 Stunde. 

1. IV. 16. Arbeitsverwendungsfahig entlassen. 

14. X. 16. Xeurologische Untersuchung: Innere Organe regelrecht, 
guter Emahrungszustand. Rechtsh&nder. Friiher keine Krankheiten oder Ver- 
letzungen, die auf den Knochen wirken. Er tragt seit 3 / 4 Jahren wegen „sicherer 
L&hmung des Xervus peronaeus und wahrscheinlich des X. tibialis" einen ortho- 
padischen Schuh mit Scarpascher Schiene, durch den der Gang gebessert wird. 

Befund: Keine Zeichen einer Xervenverletzung, aber ausgesprochene 
hysterische KlumpfuBhaltung, enormer Widerstand beim Versuch, ihn aus 
der Haltung herauszubringen, unter klonischen Zuckungen des FuBes aber 
zu uberwinden. Keine Gelenkversteifung, passiv alle Bewegungen frei. Zehen- 
beugung und -streckung mit voller Kraft und in normalem Umfang, aktive 
FuBstreckung unter Zitterbewegungen beschr&nkt moglich. Beide FiiBe 
schwitzen, der rechte starker als der linke, keine Temperatur- und vaso- 
motorischen Storungen. Falscher FuBklonus beiderseits, stark gesteigerte 
Sehnenreflexe an den Beinen, psychogene Hypasthesie im rechten Bein und rechten 
Rumpf bis zum Rippenbogen. Bei nochmaliger Uberprufung der FuBbewegungen 
bei derselben Untersuchung schwache aktive Zehenbeugung und -streckung, 
sonst keine aktive FuBbewegung zu erzielen. Unwesentliche Atrophie des rechten 
Beines durch Xichtgebrauch (— 1 cm an Oberschenkel und Wade), geringe Knochen- 
verdickung an der verletzten Stelle (+1,2 cm), keine Beinverkiirzung, Knie- 
gelenke frei beweglich, etwas starkeres Xachroten bei Hautreizen am Rumpf, 
gesteigerte Bauch- und Armreflexe, sonst normaler Befimd. 

Beurteilung: Seit mindestens 3 / 4 Jahren psychogener KlumpfuB rechts 
nach GewehrschuB durch den rechten Unterschenkel. 

Rdntgenbild 21. IX. 16: Deutliche gleichmaBige Aufhellung aller 
FuBgliederknochen; die Grundknochen, die Sesambeine unter dem 
ersten Grundknochen stark aufgehellt, ebenfalls die Kopfe aller 
Grundknochen, so dafl die Struktur kaum noch zu erkennen ist. Die 
Gorticalis ist ebenfalls etwas verschmalert. Starke Aufhellung der 
ubrigen distalen FuBknochen. Auch hier die Corticalis verdiinnt, 
besonders deutlich im Mittelglied der groBen Zehe. Im unteren 
Tibiadrittel kleiner Callus, keine Frakturlinie. Starke Atrophie der 
Tibia und Fibula distal und proximal vom Callus. v 


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A. Simons: 


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Beobachtung Sch. 

29 Jahre, Oberleutnant, im Beruf: Fabrikant. 

25. VIII. 14. Am linken Ellbogen, 5 cm von der Spitze nach der Daumen- 
seite zu, zweimarkstiickgroBer EinschuB. GeschoBentfemung; glatte Heilung. 

Rontgenbefund (12. IX. 15): „Eine groBere und eine Menge ganz kleiner 
Metallsplitter in der Metaphyse der Ulna. Angeheilte Absprengung eines 
dreieckigen Keiles, dessen Basis das Olecranon bildet. 44 

18.1. 15. Neurologischer Befund (Dr. Hezel): „In diesem Falle liegt eine 
Stoning in der Beugung des 2. bis 5. Finger vor, welche sich aus 2 Komponenten 
zusammensetzt: 

1. aus einem Spasmus der Fingerstrecker, 

2. aus einer L&hmung des Beugers der Endphalangen, des Flexor digitorum 
profundus. 

In geringerem Grade isfc vielleicht auch die Portion des Flexor digit, sublimis 
beteiligt fur den 4. und 5. Finger. Ob diese Stoning der Beugemuskeln von einer 
Muskel- oder von einer Nervenverletzung herriihrt, die dann eine ganz partielle 
sein miiBte, ist nicht leicht zu entscheiden. GroBe Nervenstamme sind nicht ver- 
letzt, es kann sich also nur um einen Muskelast handeln. Der Kranke soil mir 
die Rontgenaufnahme noch zuganglich machen. Ich werde versuchen, ob mich 
die Einsichtnahme in das Rontgenbild etwas weiter bringt, danach werde ich 
Ihnen nochmals berichten, evtl. auch den Kranken nochmals untersuchen. 44 

22.1.15. Neurologischer Befund (Hezel): „Bei der Untersuchung des Herm 
Oberleutnant Sch. finde ich: 

1. eine spastische Contractur der Fingerstreckmuskeln, 

2. des Flexor digitorum profundus in seinen Anteilen fiir 4. und 5. Finger, 
welche weder faradisch noch galvanisch erregbar sind. 

Diese Anteile sind aber nicht im Zustande schlaffer Lahmung, sondern zeigen 
ebenfalls eine gewisse spastische Spannung. Ich vermute, daB die gel&hmten 
Muskelanteile nicht durch Nervenverletzung, sondern durch GefaBverletzung, 
durch Isch&mie erzeugt sind und rate deshalb zunfichst nicht zu einer Operation, 
sondern zu orthopadischer Behandlung, namentlich griindlicher, tiefgreifender Mas¬ 
sage der ulnaren Halfte der Beugeseite des Vorderarmes, damit der gesch&digte 
tiefliegende Muskel beeinfluBt wird. 44 

8. II. 15. Neurologischer Befund (Hezel): „Bei Oberleutnant Sch. hat die 
bisherige Massage und Gymnastikbehandlung die eigentiimliche Lahmung im 
Flexor digitorum profundus, welche ich fiir eine reine Muskelstorung, wahr- 
scheinlich zirkulatorischer Natur hielt, bereits gebessert. Der Muskel ist 
jetzt auch elektrisch wieder erregbar. Das spricht ganz entschieden fiir die Richtig- 
keit obiger Auffassung. Es laBt sich nun erwarten, daB bei geniigend langer Dauer 
der eingeleiteten Behandlung vollige Wiederherstellung erreicht wird. Deshalb 
ware es sehr bedauerlich, wenn die Behandlung am 22. d. M. abgebrochen werden 
miiBte, ohne daB bis dahin der voile erreichbare Erfolg erzielt ware, was wenig 
wahrscheinhch ist. Verlangerung der Kurdauer ware deshalb sehr empfehlenswert. 44 

27. II. 15. Lahmungserscheinungen in der linken Hand in geringem Grade 
gebessert, aber noch nicht geheilt. Wird zur Fortsetzung der orthopadischen 
Behandlung ungeheilt zur Truppe entlassen. 

Neurologischer Untersuchungsbefund (5. IX. 16): Guter Emahrungszustand, 
Rechtshander. 

Es.fallt sofort die krampfhafte Adduction aller in samtlichen Gelenken 
gestreckten Finger auf. Die Finger stehen fast in der Richtung der Handachse. 
Es fehlcn alle vasomotorischen Storungen; die Temperatur beider Hande ohne 
Unterschied. Radialpuls beiderseits gleich. 


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Knochen und Nerv (Kriegserfahrungen). 


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Leichte Atrophie der Haut der Finger, keine Atrophic der kleinen Hand- 
muskeln. Nur der Kleinfingerballen ein wenig abgemagert. Passive Bewegungen 
im Handgelenk und in alien Fingergelenken frei. Es gelingt passiv ohne Sehwierig- 
keiten, die Fingerendglieder in die Vola zu bringen. Bedeutende Gegenspannung 
bei alien passiven Bewegungen des 2. bis 5. Fingers. Aktive Daumenspreizung, 
lange Daumenflexoren und kleine Daumenmuskeln vollkomraen kr&ftig. Auch 
die iibrigen kleinen Handmuskeln wirken vollkommen. Oberfl&chlicher Beuger 
vollkrftftig, ebenfalls tiefer Beuger II, III. Bei diesen Bewegungen Hyperinner¬ 
vation bis zum Zittem in den linken Armmuskeln. Es ist kein Zweifel, daB die 
2. und 3. Fingerglieder psychogen an der Beugung behindert werden. Es kommt 
dabei zu einem Schiitteltremor der Hand. Er driickt die Hand des Untersuchers 
mit kaum gebeugten Grundgiiedem, wahrend er aktiv die bis zu 45° passiv ge- 
beugten Finger mit voller Kraft halten kann. Ein in die Hand gelegtes Stuck 
Gummi wird nicht von den Fingem beriihrt. Die Finger bleiben in krampfhafter 
Stellung mit einem Schiitteltremor der Hand, und zwar mit gebeugten Endgliedern 
des 4. und 5. Fingers 1 cm vom Gummi entfemt stehen. Nach Entfernung des 
Gummis werden die Finger volfcg bis in die Hand passiv gebracht und dort mit 
voller Kraft festgehalten. 

Der Unterarm im ganzen etwas abgemagert, Haarwachstum kiinstlich etwas 
vermehrt (Massage, Bader usw.). Keine Gefliblsstorungen an der Hand und im 
Unterarm. Wahrend der Untersuchung halt er dauernd die Hand auch im Hand¬ 
gelenk krampfhaft gebeugt. In den gespreizten Fingem links ein fein- und schnell- 
scblagiges Zittem. 

In den Hand- und Armmuskeln keine Schwache. Armreflexe beiderseits 
gleicb lebhaft. 

Keine Veranderungen des Nagelbettes. Auch keine anderen trophischen 
Storungen. Kein starkeres Schwitzen. Ellbogengelenk bis 55 ° beugbar, vollkommen 
streckbar. Oberarm links 26 cm, rechts 27 cm, Vorderarmwulst links 2574 cm, 
rechts 26 V 2 cm, uber dem Handgelenk beiderseits 16 cm. 

3. X. 16 ins Feld. 

Rdntgenaufnahme 10. IX. 16: Das linke Ulnakopfchen etwas auf- 
gehellt. Die Netzstruktur ist in dem linken Ulnakopfchen deutlicher 
als in dem rechten; distaler Teil des Radius verwaschen, ebenfalls 
verwaschen ist die Struktur aller Mittelhandknochen, proximaler 
Teil der Grundglieder ohne sicheren Unterschied gegeniiber der ge- 
sunden Seite; deutlichere Aufhellung in den distalen Kopfchen der 
Grundglieder mit Ausnahme des Daumens, ferner in samtlichen 
Fingerghedern. In den aufgehellten Teilen ist die Netzstruktur 
deutlich starker als auf der gesunden Seite. 

Krankheitsbezeichnung: Psychogene Bewegungsbeschrankung der Fin¬ 
ger. Eine ischamische Muskellahmung als Ursache der Parese ist jetzt auszu- 
schliefien, weil der Radiuspuls beiderseits gut und gleich zu fiihlen ist und die 
Muskeln die normale Konsistenz haben. 

Beobachtung B. 

20 Jahre, Schlachter, Rechtshander. 

14. X. 16. Mutter, Schwester epileptisch. Als Kind nicht nervos, keine 
Krampfe. Mit 17 Jahren nervenkrank (viel Schwindel und Schwarzwerden vor 
den Augen). 

1913 3 Monate in L., wurde geheilt entlassen. 

Am 14. V. 16 schlug eine Granate in seiner nachsten Nahe ein. Er wurde 
bewuBtlos fortgetragen und kam in ein Feldlazarett. Dort lag er 4 Tage. Die 


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A. Simons: 


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linken Finger sollen bereits damals etwas gebogen gewesen sein. Dann Ver- 
legung in ein Reservelazarett nach Deutschland, wo durch passive Bewegungen 
die Hand geheilt wurde. Im Juli entwickelte sich dann der jetzige Zustand der 
Hand und des Beines. Er bekam damals beim Ersatzbataillon „allgemeine Kr&mpfe“ 
von nicht epileptischem Charakter. 

Mitte Juli 1910 wurden die Finger der linken Hand krummer und es trat im 
linken Bein ein Gefiihl auf, als ob die Sehnen zu kurz w&ren. Er konnte nicht mehr 
mit dem Beine recht zutreten und meldete sich krank. Seit der Zeit soil die Hand 
so geblieben sein. Im September 1916 kam er wieder ins Feld, meldete sich aber 
wegen heftiger Kopfschmerzen, Schwindel beim Biicken, Schwarzwerden vor den 
Augen und einem Gefiihl, als ob das Blut in den Kopf strome, krank. Keine Be- 
klemmungen, keine Angst, kein Erregungszustand. Damals wurde objektiv Lid- 
flattern, Pseudo-Romberg, H&ndezittem und allgemeine Hyperfisthesie fest- 
gestellt. 

12. X. 10. Neurologische Untersuchung: Die linke Hand im Handge- 
lenk eisern fixiert, steht in der Achse des Vorderarmes, ebenso die Grund- 
glieder. Die iibrigen Glieder sind schw&cher oder st&rker gebeugt, nur der 
Daumen vollig gestreckt und adduziert. Der 2. und 3. Finger, die vollkommen 
adduziert sind, sind leicht auseinander zu bringen. Auch in den iibrigen Fingem 
gegen passive Bewegungen kein besonderer Widerstand. Die Fingerbeugecon- 
tractur laBt sich nur unter Schmerzen und mit ziemlich erheblicher Kraft voriiber- 
gehend ausgleichen. Kaum sind die Finger gestreckt, so schnellen sie fast so- 
fort in dieselbe Lage. Bei willkiirlichen Innervationen der rechten kleinen Hand- 
muskeln kommt es zu starker Adduction des linken kleinen Fingers. 

Keine vasomotorischen und keine sekretorischen Storungen, keine Temperatur- 
differenzen. Radialpuls beiderseits gleich, keine Gefiihlsstdrungen. Armreflexe 
beiderseits gleich gesteigert. Im linken Arm eine geringe Steifigkeit bei alle% Be¬ 
wegungen. Es besteht auch eine leichte tonische Contractur im Ellbogengelenk 
infolge von „Schmerzen“, sie spielt aber gegenliber der der Hand und Finger keine 
Rolle. 

Er geht mit stark ausw&rts rotiertem Bein, stiitzt sich auf das rechte Beckon. 
Das Bein wird dabei adduziert und im Kniegelenk gebeugt gehalten. Der FuB 
wird zuerst mit der Ferse aufgesetzt und nicht richtig abgewickelt. Er schont. 
den VorderfuB. Der FuB ist beim Gehen 45° nach auBen gedreht. Er kann beide 
Beine militarisch vollig durchdriicken. Maflige Contractur im Kniegelenk. FuB 
und Zehen nach alien Richtungen frei beweglich. Keine Gefuhlsstorung im Bein. 
Beiderseits gesteigerte Sehnenreflexe. Kein Klonus. Ausgesprochene psychogene 
Schw&che bei alien FuB- und Zehenbewegungen. Die Zehen werden iiberhaupt nicht 
gebeugt, statt dessen wird das gestreckte Bein mit dem Becken steif in die Hohe 
gezogen. Peronaeus wirkt vollkraftig, Tibialis anticus miihsam. Erheben des 
FuBes mit guter Kraft. Keine vasomotorischen und sekretorischen Storungen 
im Bein. Temperatur beider Beine gleich warm. Lebhafte Bauchreflexe. Weite 
Pupillen. Normaler Nervenbefund und heftige Ausdrucksbewegungen, sehr hftufig 
AufreiBen der Lider, Stimrunzeln, nervose Sprache. 

Gesicht gerotet, geringes Lidflattem. Keine Protrusio bulbi, Schilddruse 
nicht vergroflert, vasomotorische Erregbarkeit etwas erhoht. Es besteht ausge- 
sprochener Wille zur Gesundheit. Seit der Aufnahme in das hiesige Lazarett 
(10. X. 16) t&glich fortschreitende Besserung durch Massage, Elektrisieren, Ma- 
schineniibungen und stundenlange Schienenverbande zur Beseitigung der Con¬ 
tractur. 

Das Rontgenbild 12. X. 16 (ungefahr 3 Monate nach der allm&hlichen Ent- 
wicklung der Contractur) ergibt vollkommen normale Verhaltnisse der Hand-, 
FuB-, Vorderarm- und Unterschenkelknochen. 


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Knochen und Nerv (Kriegserfahrungen). 


57 


Beobachtung O. 

32 Jahre, Bergmann, Rechtsh&nder, unverletzt. 

Geht angeblich seit Mai 1914 mit leichter linksseitiger Kniecontractur. War 
stets aufgeregt, &ngstlich, schreckhaft. Vater soil nervos gewesen sein. 

20 . IX. 16. Er stiitzt sich beim Gehen auf das rechte Bein. Geht spreizbeinig* 
linkes Bein etwas auswarts gedreht, im Knie gebeugt, linker FuB mit Innenkante 
aufgesetzt. Beide Beine werden im Stehen vollkommen durchgedriickt. Linkes 
Knie auch im Liegen leicht gebeugt gehalten. Linke Achillessehne fehlt (Ischias 
1915), iibrige Reflexe gesteigert. Alle Gelenke einschlieBlich des linken Kniegelenkes 
jmssiv frei bewegiich. Keine Muskelspannung bei Bewegungen im Kniegelenk. 
Linksseitige Hemihyp&sthesie fur Xadelstiche. Keine Pulsbeschleunigung, kein 
Zittern, keine Steigerung der vasomotorischen Erregbarkeit. Normaler Him- 
nervenbefund. 

Rontgenbild: Keine Ver&nderungen in den Kniegelenken und 
FuBknochen. 

Diagnose: Psychogene Gangstorung. Kniecontractur beim Gehen 1 ). 

Beobachtung P. 

22 Jahre, Pionier, Rechtshander; im Beruf: Kammermusiker (Cellist). 

27. X. 16. Bisher nicht im Felde; im Oktober 1914 „Schmerzen im rechten 
Arm und Bein 44 , 5 Monate im Lazarett behandelt. 1. IV. 15 „dienstuntauglich 4t 
entlavssen. 29. V. 16 „felddienstfahig“ eingezogen. Am 27. VI. 16 traten wieder 
Schmerzen im linken Oberarra ein. Im Oktober 1916 als „gamisonverwendungs- 
fahig 44 entlassen. 

Bisherige Diagnose: „Rezidivierender Gelenkrheumatismus, Sehnenscheiden- 
cntziindung, Neuritis N. ulnaris mit nachfolgender Parese der linken Hand. 4t 

27. X. 16. Xeurologische Untersuchung: Klagt zur Zeit liber L&hmung der 
linken Hand (Fallhand, Unmoglichkeit des Faustschlusses und aller Fingerbe- 
wegungen), die seit August 1916 sich allmahlich entwickelt habe. In 
den letzten Wochen vor dem Einsetzen der L&hmung ziemlich aufgeregt durch 
Fliegerangriffe und andere Eindriicke, die die Festung bringt. Seit 1909, wo er 
den Musikerberuf ergriff, stets nervos. Keine Zeichen von Nervositat im Kindes- 
alter, nur der Vater nervos, kein Trinker, Eltem nicht blutsverwandt, ein Bruder 
nervos. Zeitweise Besserung der Handlahmung durch B&dergebrauch. In den 
letzten Wochen besonders starke Verschlechterung der Hand, seit 2 bis 3 Monaten 
ist die Hand kalt. Klagt dauemd iiber heftige Kopfschmerzen seit Juni und ist 
angeblich wegen Schwindels mehrfach umgefallen. Schwitzt leicht. Friiher nie 
kalte Hande und FiiBe. 

Gelenkrheumatismus 2 ) nach seiner Schilderung unwahrscheinlich (nur einen 

1 ) Bei psychogenen starken Kniecontracturen, die auch im Liegen nicht er- 
schlafften, habe ich nach den Empfehlungen K. Goldsteins wiederholt bei 
Hj^sterikern im Atherrausch durch Pflaster markierte Scheineinspritzungen in der 
Xahe des Gelenka ohne jeden Erfolg vorgenommen. Der Kranke sah nach dem 
Erwachen das schlaffe Bein, hinkte aber sofort nach Verlassen des Tisches^ 
mancher sogar noch st&rker, „denn die Xarkose hat mir geschadet 44 . Ich hebe 
das gegeniiber den Erfolgen K. Goldsteins hervor. 

2 ) Gelenkrheumatismus wird immer wieder angenommen, wo nur psychogene 
Schmerzen und Bewegungsbeschrftnkung in einem oder mehreren Gelenken vor- 
liogen. Besserung durch Aspirin beweist da natiirlich auch nicht „echtcn“ Gelenk- 
i heuraatismus. 


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A. Simons: 


Tag nicht ftrztlich beobachtetes Fieber, keine Schwellungen). Guter Em&b rungs- 
zustand. Rechtsh&nder. 

Vorderarmwulst.rechts 20 cm, links 24,75 cm 

GroBter Handumfang ohne Daumen . . „ 22 „ „ 22,5 „ 

Keine Verletzungen am linken Arm. Alle Gelenke passiv ohne Knir- 
schen frei beweglich, nirgends Reiben, Knacken. Fallhand, totale 
Lahmung der linken Hand und aller Finger, kiinstliche Vermehrung des 
Haarwachstums am Handriicken (Massage, Bader). Linke Hand kiihler als die 
rechte, leicht blaurot auf dem Handriicken und im Handteller. Handteller nur 
wenig feucht. Puls nicht beschleunigt, regelm&Big, links etwas schwacher als 
rechts (normale Differenz). Druck auf die blauen Stellen erzeugt sofortige Bl&sse, 
die sich ebenso rasch wie rechts ausgleicht. An den Nageln nicht Auffallendes. 
Auf alle Aufforderungen, Hand und Finger zu bewegen, erfolgt allein eine An- 
spannung der Beuger des Unterarms. Reflexe an beiden Armen schwach und 
gleich. Hypasthesie am ganzen linken Arm und Hand, vollige Analgesic. Die 
elektrische Untersuchung ergibt normalen Befund. Er benutzt die linke Hand 
wahrend der Untersuchung in keiner Weise. Gesteigerte Haut- und Sehnen- 
reflexe am Korper, beiderseits gleich. Am hnken Rumpf mit Ausnahme des Ge- 
sichts Hypasthesie und Hypalgesie. Pupillen beiderseits mittelweit, gleich. Augen- 
brauen gehen ineinander iiber. Lebhafter Nasenschleimhaut- und Comealreflex. 
Befund an Himnerven regclrecht. Schilddriise weich, gleichmaBig vergroBert, 
groBter Halsumfang 37 cm. Keine Protrusio bulbi, leichtes Lidflattern. Vaso- 
motori8che Erregbarkeit nicht erhoht, schwitzt nirgends bei der Untersuchung. 
— Keine besonderen Verbiegungen der Wirbelsaule und besonderen Stigmen. 

Diagnose: Hysterische Handlahmung links 1 ). 

28. X. 16. Linke Hand wieder vollig imbeweglich, leicht blaurot, schwitzt 
nicht. Puls 114 bis 120, beiderseits sehr klein und gleich. 

Rontgenbild: Beiderseits normale Knochenstruktur. 

Beobachtung Bi. 

30 Jahre, Kutscher, Rechtshander. 

Ende Januar 1915 FleischschuB im linken Oberarm, ohne Knochen- und 
Nervenverletzung. Gute Wundheilung. In den nachsten Wochen allmahliche 
Entwicklung eines linksseitigen Daumeneinschlages. Er lag damals in der Hei- 
mat. Ende Mai 1915 ins Feld entlassen, nachdem der Daumen durch elek¬ 
trische Behandlung geheilt war. Im Felde wurde der Daumen wieder einge- 
schlagen. 

Am 15.1. 16 leichter Hufschlag gegen das linke Ellbogengelenk. 3 Wochen 
Lazarettbehandlung. Keine Knochenverletzung. Lag in verschiedenen Lazaretten 
bis August 1916. War nie nervos und ist auch nicht nervos belastet. Seit Anfang 
des Krieges im Feld; hat viel erlebt. 

Neurologischer Befund 25. X. 16: Er benutzt die linke Hand nicht 
auBer einigen flektierenden Bewegungen des 2. bis 5. Fingers. Der Daumen bleibt 
bei alien Bewegungen der Hand und Finger eingeschlagen und ist im Endglied 
rechtwinklig gebeugt, 

Der Daumen laBt sich ohne Widerstand aus der Beugestellung herausbringen 
und wird dann ziemlich langsam in die alte Stellung gebracht. 

Sehr selten gelingt es, durch starke Ablenkung den Einschlag des Daumens 
zu verhindem. 


x ) Nachtrag bei der Korrektur: Seit 18. XI. 16 bewegt er wieder von selbst 
die Hand. 


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Knochen und Nenr (Kriegserfahrungen). 


59 


Radialpnls beiderseits gleich. Keine Temperaturdifferenz, vasomotorischen 
und sekretorischen Storungen an der Hand. Linker Vorderarm deutlich kuhler, 
Oberarm etwas starker ala der rechte. 

In den ausgestreckten Fingem kein Zittem. Kleine und groBe Gelenke des 
token Armes frei beweglich. Die Finger konnen aktiv gespreizt werden. Auch 
keine Daumenbewegung fallt aus, wenn der Daumen passiv in die entsprechende 
Stellung gebracht wird. Nirgends Schwache. Beim FaustschluB wird der Daumen 
unter den ubrigen Fingern gehalten. Lebhafte Armreflexe. Auch mit dem Band- 
maB ist nirgends Atrophie nachzuweisen. Lebhafte Haut- und Sehnenreflexe am 
ubrigen Korper. Links Hcmihyp&sthesie, besonders stark fiir den faradischen 
Strom. Keine Pulsbeschleunigung. Vasomotorische Erregbarkeit etwas erhoht. 
Pupillen mittelweit. Kein Lidflattern. Himnerven frei. Schilddriise normal. 
Nirgends Stigmen. 

Mit starksten faradischen Stromen spannen sich nur die Extensorensehnen 
des Daumens an. Das Grundglied wird abduziert, aber die ubrigen Daumen- 
glieder krampfhaft gebeugt gehalten. Sonst elektrisch vollkommen normaler Befund. 

Diagnose: Psychogener Daumeneinschlag (Aggravation?). 

Rontgenbild: Normale Knochenstruktur beidcrseits. 

Aus den mitgeteilten Krankengeschichten und den Tafeln 1 ) geht 
mit aller Sicherheit hervor, daB sich auch bei rein psychogenen 
Lahmungen und Contracturen ein Knochenschwund ent- 
wickelt. Er kann eben angedeutet, schwach, sehr stark sein, ein- 
zelne oder alle aufgenommenen Knochen betreffen. Deutliche Ver- 
anderungen finden sich schon nach 2 bis 3 Monaten (Tafel IV, V). 
Wann der nach langerer Zeit gefundene Knochenschwund begonnen 
hat, wie lange er in gleicher Starke bestand, ist ohne Aufnahmen aus 
fruherer Zeit nicht zu bestimmen. Er konnte natiirlich ebenso friih 
aufgetreten sein, wie bei den Infanteristen Br. und Schi. (Beob- 
achtung 2, 3). Normale Knochenstruktur entwickelt sich 
nach volliger Heilung wechselnd rasch. Sitz und Starke 
der Veranderung entspricht nicht der sensiblen Versorgung 
des Knochens, ebensowenig dem Grad der vasomotorischen 
Storung, der Gewebsschwellung und der psychogenen Ge- 
fuhlsstorung. Der Schwund tritt nicht immer auf. Passive, 
monatelang griindlich vorgenommene Bewegungslibungen und Massage 
scheinen ihn nicht zu beeinflussen. Von zwolf Kranken hatten ihn acht; 
bei zweien war allerdings der Knochen verletzt. Der eine (Lc.) hatte 
einen ohne Gipsverband rasch und gut geheilten SchuBbruch des 
nnteren Tibiadrittels. Der Umfang des rechten Unterschenkels an der 
Verletzung8stelle durch den Knochencallus betrug + 1,2 cm. Acht 
Wochen nach der Verletzung entwickelte sich der psychogene Klump- 
iuB. Bei dem anderen (Sch.) fand sich ein Schragbruch der Ulna an 
ihrem oberen Ende, der 18 Tage nach der Verletzung im Rontgenbild ge- 

J ) Tafeln sagen weniger als Platten, die photographisch nicht 
wiedergegeben werden konnten. Ich vcrweise daher besonders auf 
den Plattenbefund in den Krankengeschichten. 


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A. Simons: 


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heilt war. Bei beiden glatter Wundverlauf, keine Weichteil- und Gelenk- 
verletzung. Die Muskelabmagerung des weniger gebrauchten Glied- 
teiles war gering (bis — 1 cm). Die Hand stand sofort, der FuB 2 bis 
3 Wochen nach der Verletzung vollkommen zur Verfiigung, wenn nicht 
ihr Gebrauch aus anderen Griinden eingeschrankt worden ware. Der 
Knochenschwund am FuB war starker als an der Hand. Das erklart 
sich vielleicht aus dem starkeren Bewegungsausfall und der groBeren 
Empfindlichkeit der FuBknochen gegeniiber Funktions- 
storungen. 

Darf nun die Knochenatrophie bei den beiden Kranken sic her auf 
den hysterischen Bewegungsausfall bezogen werden ? Vergleicht man ihre 
Knochenverletzungen mit den entsprecbenden Beobachtungen S udec ks 
und Kienbocks 1 ), dann sieht man gleich, wie hochgradig dort 
die klinischen Storungen waren, bei denen meist erst nach Monaten, 
manchmal sogar nach Jahren Knochenatrophie festgestellt wurde. Das 
klinische Bild der Falle Sudecks und Kienbocks laBt sich auch 
nicht entfemt mit diesen Briichen vergleichen. Man hatte danach 
ohne weiteres das Recht, die Ursache des Hand- und FuBknochen- 
schwundes der beiden Hvsteriker nicht auf die langst ausgeheilte distale 
Knochenverletzung zu beziehen, wenn der SehuB auf den Knochen 
ebenso stark wirkte wie ein Sturz oder Fehltritt. In Wirk- 
lichkeit ist die lebendige Kraft des Geschosses groBer, wie klinische 
Beobachtungen und besonders Sektionen beweisen. Man muB also 
mit einer starkeren inneren Knochenschadigung rechnen, auch wenn 
man auBerlich nur einen einfachen Bruch oder kleinen LochschuB sieht. 
Die Verhaltnisse liegen hier ahnlich wie bei Hirnschiissen. 
wo man nach verhaltnismaBig leichten Verletzungen noch 
nach ein bis zwei Jahren deutliche Ausfalle der Merkfahig- 
keit, des Rechnens, der Wortfindung und anderer hoherer 
geistiger Leistungen beobachtet. Wichtig fur die Beurteilung des 
Knochenschwundes in diesen beiden Fallen ist noch, daB beide wenige 
Wochen nach der Verletzung bereits Hand und FuB nicht mehr richtig 
oder gar nicht gebrauchten. Lc. hatte bereits 8 Wochen nach der Ver¬ 
letzung einen KlumpfuB, und Sch. hielt dauemd die Finger in Streck- 
stellung. Der Knochenschwund, der also zunachst eine Folge des 
Schusses war, konnte uberhaupt nicht verschwinden, weil der 
Gebrauch des Gliedes durch den sehr bald einsetzenden 
psychogenen Bewegungsausfall verhindert wurde. Ich be- 
ziehe daher den Knochenschwund bei Lc. und Sch. nicht auf den 
hysterischen Bewegungsausfall. 

0 Sudeck (Fall 2 bis 10), Fortschritte auf dem Gebietc der Rontgcnstrahlen 
5, Seite 277 (1901/1902). — Kienbock, Wiener med. Woehensehr., Nr. 34, Beob- 
achtung 10 und 11. 


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Z. f. <1. h . Xeur. u. Psych. drip. XXXVII. 



A. Simons, Knochen und Xcrv (Kriogsorfiihrungcn). 


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Tafel VII 





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Z. f. d. g. Xeur. «. Psych. Orig. XXXVII. 

















































































































A. Simons, Knoclu»n und Xcrv (Kriegsorfahrungen). 


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Tafel VIII 



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Verlag von Julius Springer in Berlin. 

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Enochen und Nerv (Kriegserfahrungen). 


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Bei der Beobachtung 5 (St.) lag auBer der schweren hysterischen 
Bewegungsbeschrankung eine geringe, in der Hauptsache sensible 
nnd vasomotorische Schadigung des Medianus und Ulnaris (vgl. Kranken- 
geschichte) vor. Sie macht aber keine Knochenveranderung, wie ich 
spa ter zeigen werde. 

Der Pionier R. (Beobachtung 4) gab an, „auf das Handgelenk ge- 
fallen“ zu sein. Man hort das beinahe so oft, wie „Verschuttung“, 
„Gelenkrheumatismus“ und „Ischias“. Hatte man sich nur auf den 
R. verlassen, so war vielleicht die Knochenatrophie auch Folge der 
,,Gelenkerschiitterung“ (4. XI. 15), wenn auch leichte Gelenk- 
verletzungen nur ausnahmsweise Knochenschwund hervorrufen 
(Sudeck, Kienbock). Aus den Krankenblattem des R. ergibt sich 
aber, wie so oft, daB die Angaben iiber Verletzungen falsch sind. Denn 
6 bis 8 Tage nach einer akuten Gelenkverletzung findet man kein kirsch- 
groBes hartes, frei verschiebliches Ganglion, Fehlen aller Schwellungen 
und ein frei bewegliches Handgelenk. Da Ganglien auch ohne Gelenk¬ 
verletzung entstehen und ein fruherer Unfall nicht bekannt ist, ist die 
Knochenatrophie auch hier reine Folge der psychogenen Lahmung. 

Den „scheckigen“ oder fleckigen Schwund habe ich bei den bisher 
beschriebenen Aufnahmen nie und im ganzen recht selten gesehen. 
Sudeckfand ihn unter 17 Beobachtungen auch nur dreimal (Beobach- 
tung 1, 5, 11 am a. O. Bd. V). Der Schwund in Flecken wird schein- 
bar ofter bei entziindlichen Prozessen (Panaritien, Phlegmonenu.a.m.) 
gefunden, er kommt aber auch nach reinen Knochenverletzungen 
vor. Er gehort jedenfalls nicht unbedingt zur Diagnose der ,,akuten“ 
Atrophie. Uber seine Entstehung und anatomische Grundlage gibt es 
nur Vermutungen. Kienbock weist darauf hin, daB fleckige Auf- 
hellung und Rarefikation entweder einzeln oder zusammen, sich gegen- 
seitig durchdringend, vorkommen. 

Die Beobachtungen Lc. und Sch. waren nicht beweisend wegen 
der Knochenverletzungen. Es bleiben aber noch verschiedene Falle 
iibrig (M., Br., Schi., St. und L.), bei denen keine Knochen¬ 
verletzungen vorlagen und alle anderen auBeren Einflusse, 
die seine Struktur verandem, f ehlte n. Es handelt sich also um Knochen¬ 
schwund nur aus inneren Grunden. 

Nonne 1 ) hatte schon vor 14 Jahren eine hysterische Para¬ 
plegia inferior und eine Monoplegia sinistra superior radiographisch 
untersucht. ,,In beiden Fallen handelte es sich um eineri iiber 
ein Jahr alten Schulfall hysterischer kompletter motorischer und 
sensibler Lahmung. Die Haut der gelahmten Extremitaten war 

*) Nonne, Uber radiographisch nachweisbare akute und chronische „Knochen- 
atropbie“ (Sudeck) bei Nervenerkrankungen. Fortschritte auf dem Gebiete 
der Rontgenstrahlen S, Seite 293 (1901/1902). 


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62 


A. Simons: 


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livide und kalt, die elektriache Erregbarkeit einfach herabgesetzt, 
soweit ea der Vermehrung des Leitungswideratandea entsprach. Die 
Rontgenaufnahme der Unterschenkel-, FuB- und Zehenknochen in 
dem einen, der Vorderarm-, Hand- und Fingerknochen in dem anderen 
Fall zeigte nichts von der Norm Abweichendes. Dieser normale 
Knochenbefund in Fallen von Hysterie, bei denen schon so 
lange alle motorischen und sensiblen Funktionen ausgefallen 
war.en, stellt ein gewichtiges Argument gegen die Auffassung 
derjenigen dar, die nur in der Inaktivitat reap, dem Fort- 
fallen der funktionellen motoriachen und aenaiblen Reize 
die Uraache der Sudeckachen Knochenatrophie aehen wol- 
len“ (Nonne a. a. O.) 1 ). 

Seitdem hat man den Knochen bei der Hyaterie vergeasen. Der 
Knochenachwund bei paychogenen Lahmungen und • Contracturen 
(ohne andere Verletzungen dea auageachalteten Gliedteila) iat aber mehr 
ala ein Symptom; er atellt vor allem wieder die Frage: Inaktivitats- 
oder „neurotische“ (reflektoriache) Knochenatrophie? Darin liegt 
seine allgemeinere Bedeutung. Ich korame darauf erat nach Mit- 
teilung der Befunde bei anderen Zustanden zurfick. Dann wird auch 
der negative Befund mitaprechen und aich ergeben, ob zwiachen 
,,akuter“, ,,reflektorischer“ und ,,Inaktivitataatrophie“ tiberhaupt ein 
Gegenaatz beateht. — 

Abgeachloaaen Herbat 1916. 

Nachtrag. 

Nonne hat in aeinem Referat „Neurosen nach Kriegaverletzungen^ 
auf der dieajahrigen Kriegatagung deutacher Nervenarzte in Munchen 
auch Knochenachwund im Rontgenbild ala Nebenbefund bei zwei 
funktionellen Lahmungen gezeigt. Er erklarte ausdrticklich, der Be¬ 
fund hatte ihn ao tiberrascht, daB er den Rontgenologen befragte, ob- 
nicht ein Plattenfehler vorlage. Ich habe iiber meine Befunde, die durch 
die Demonstration Nonnea beatatigt werden, auf deraelben Tagung kurz. 
benchtet*), auch auf den Gegenaatz zu den herrachenden Vorstellungen 
fiber Knochentrophik hingewiesen. Sie werden durch die Demonstration 
Nonnes beatatigt. 

Nonne antwortete mir auf meine Bitte um kurzen klinischen 
Befund der beiden Kranken und die Frage, ob auch eine Knochen- 
verletzung, auf die dann die Atrophie zu beziehen aei, fehle 
(26. XI. 16): ,,Bei dem Fall mit der Atrophie des FuBea, bei dem 

*) Von mir durch Sperrdruck horvorgehobcn. 

*) Vgl. Verhandlungen der 8. Jahresversammlung 1917 und Neurol. Centr&l- 
blatt 1916. 


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> 

Knochen und Nerv (Kriegserfahrangen). 

das klinische Bild der ,Reflexlahmung‘ (Oppenheim) an der ge- 
samten unteren Extremitat bestand, batte eine Fraktur der Fibula 
bestanden. Ausgesprochene Knochenatrophie des gesamten 
FuBskeletts und der beiden Unterschenkelknochen. Die 
Lahmung batte zirka ®/ 4 Jahre bestanden. Heilung auf psychischem 
Wege. In dem Fall der Knochenatrophie der Handwurzel 
handelt es sich um eine ,Reflexlahmung‘ (Oppenheim) der rechten 
oberen Extremitat, die wenige Tage vor der Einstellung des Kranken 
aufgetreten war, und zwar im AnschluB an ,anstrengendes Rudem‘1 
Heilung der Lahmung durch Suggestion in Hypnose. Restieren von 
paretischer Schwache der gesamten betreffenden Extremitat." 

Die Knochenatrophie nach dem Fibulabruch muB ebenso beurteilt 
werden, wie meine nicht beweiskraftigen eigenen Beobachtungen 
(Fall Lc., Sch.). Die Veranderungen der Handwurzelknochen bei dem 
andem Fall Nonnes sind aber eindeutig bestimmt, wenn friihere 
Hand- und Gelenkverletzungen ausgeschlossen sind. 

Weitere Beobachtungen bis Juli 1917 — der Druck der Arbeit hat 
sich aus auBeren Grunden verzogert — haben nichts Neues ergeben. 


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Hysterische Erkrankung und hysterische Gewohnung. 

Von 

Ernst Kretschmer (Tubingen), 

d. Z. ordin. Arzt der Nervenstatlon Res.-Laz. Mergentheim 
(Chefarzt Stabsarzt Dr. MeiOner). 

(Eingegangen am 19. Mai 1917.) 

Es soil hier das Grenzgebiet zwischen ,,Hysterie“ und ,,Aggra- 
vation“, zwischen Nichtkonnen und Nichtwollen behandelt werden, 
wo es dem Arzte obliegt, den Teil eines Symptombildes, der dem freien 
Willen des Patienten erreichbar ist, abzuschatzen gegen den anderen, 
der, eigentlich krankbaft, als automatischer Nervenvorgang ablauft. 
Auf diesem medizinischen Gebiet leiden wir nicht sowohl unter der 
mangelnden Einsicht in das innige Verwobensein beider Komponenten 
— des Nichtwollens und Nichtkonnens — in vielen und gerade in den 
praktisch wichtigsten hysterischen Zustandsbildem, als vielmehr unter 
einer gewissen Verschwommenheit und Begrifflosigkeit, die es auch dem 
gewissenhaften Begutachter oft nur erlaubt, zu einem mehr gefiihls- 
maBigen als objektiv belegbaren Urteil zu kommen. 

Die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer grundsatzlichen Tren- 
nung zwischen all den Formen nervos minderwertiger Veranlagung, 
die zu hysterischen Reaktionen disponiert sind — nennen wir sie hier 
der Einfachheit halber „hysterisch“ — und bestimmten, auf psychische 
Einwirkungen entstehenden Reaktionsformen, die wir wiederum als 
hysterisch bezeichnen, also die Trennung zwischen ,,hysterischer“ Ver¬ 
anlagung und hysterischer Erkrankung hat sich weithin durchgesetzt. 
Die eine Seite dieser Erkenntnis, namlich daB hysterische Reaktionen 
haufig auch auBerhalb „hysterischer“ Anlage, zum Beispiel unter ent- 
sprechender Erlebnisstarke beim relativ Gesunden vorkommen, ist 
durch die Kriegserfahrungen neu bestatigt. Fiir unsere jetzige Betrach- 
tung ist nur die andere Seite wichtig, namlich, daB die echte hysterische 
Erkrankung, also eine automatisch unwillkiirliche Storung des Nerven- 
betriebs, nicht die einzige Reaktionsform ist, die dem hysterisch Ver- 
anlagten zur Verfiigung steht. Dem Neuropathen dieser Art steht viel¬ 
mehr, je nach dem Grade seiner ethischen Erziehung und den auBeren 
Umstanden, als Schutzapparat fiir seine geringere Tiichtigkeit ini 
offenen Lebenskampf die ganze Skala der Ausweichmechanismen von 
der bewuBten Simulation iiber die hypochondrische Gewohnung bis 


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E. Kretschmer: Hysterische Erkrankung und hysterische Gewohnung. 65 


zur ,,Flucht“ in die auBerbewuBt wirkende Krankheit offen. Ja diese 
ganze Skala, mit EinschluB der vollen Simulation, ist mit gewissen 
naheliegenden Einsclirankungen eben nur dem hysterisch Veranlagten 
leicht zuganglich. Dem vollsinnigen Menschen ist eine langdauemde 
und komplizierte Simulation durch seine kraftigen natiirlichen Lebens- 
impulse ebenso erschwert, wie er durch seine Klugheit vor plumper 
Augcnblickssimulation geschiitzt ist; dem Hysteriker dagegen ist die 
Vortauschung einer Krankheit durch seine die Automatisierung von 
Willensvorgangen begiinstigende Nervenbeschaffenheit erleichtert. Wir 
konnen also praktisch (mit Ausnahme besonders zwingender auBerer 
Konstellationen) die Krankheitsvortauschung, da wo sie einzeln auf- 
tritt, vorwiegend als Symptom hysterisch minderwertiger Veranlagung 
auffassen. Die Simulation steht als scheinbar freieste Willenshandlung 
in demselben nahen Abhangigkeitsverhaltnis zu bestimmten psychischen 
Anomalien, wie auf anderem Gebiet etwa der Selbstmord. Theoretisch 
ist diese Ansicht wohl unwidersprochen; praktisch aber besteht immer 
wieder die Neigung, die Differentialdiagnose zwischen ,,Hysterie“ und 
„Simulation“ so zu behandeln, als ob auf der einen Seite eine fest be- 
grenzte Krankheitseinheit, auf der anderen eine vollkommen normale, 
rein moralisch zu bewertende Willkiirhandlung stiinde und nicht viel- 
mehr Simulation, hypochondrische Einbildung und neurologisch greif- 
bare Hysterie drei Sprossen aus derselben Wurzel der „hysterisch“ 
minderwertigen Anlage waren. Es muB daher von vornherein klar 
formuliert werden: 

Der Nachweis hysterischer Veranlagung und hysterischer 
Begleitsymptome im Befund beweist (nach AusschluB 
einer organischen Erkrankung) nichts fiir eine echte hyste¬ 
rische Erkrankung. Dieser Nachweis ist vielmehr ebenso 
wichtig fur die Diagnose ..Simulation 14 und „falsche Ge¬ 
wohnung 44 . 

Damit kommen wir zu unserer eigentlichen Aufgabe, namhch der 
Begriffsbestimmung und diagnostischen Abgrenzung der drei Haupt- 
gruppen, die aus unserem Stoffgebiet gebildet werden sollen: der 
hysterischen Erkrankung, der hysterischen Gewohnung 
und der hysterischen Vortauschung. 

Der mittlere Begriff der hysterischen Gewohnung ist hierbei das 
Wesenthche, weil er nach beiden Seiten hin der Abgrenzung bedarf 
und im klinischen Sprachgebrauch bisher nicht gelaufig ist. Es gilt 
hier die Gruppe hysterischer Erscheinungen klar abzusondem, die nicht 
als Vortauschung, ebensowenig aber als Krankheit im praktischen Sinne 
des Wortes aufgefaBt werden darf. Auf den Begriff der Aggravation 
brauchen wir nicht besonders einzugehen, weil er, sofern er nicht als 
unklarer Sammelausdruck fur das ganze Grenzgebiet gebraucht wird, 

Z. t d. g. Neur. n. Piych. O. XXXVII. 5 


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E. Kretschmer: 


einfach eine teilweise Vortauschung bedeutet. Als hysterische Er- 
krankung bezeichnen wir alle diejenigen Storungen, die 
keinen direkten Konnex mit der Willenssphare haben; 
als hysterische Gewohnung (oder genauer als falsche Gewohnheit 
auf Grund hysterischer Anlage) alle Anomalien, die bei subjek- 
tiver Krankheitsiiberzeugung objektiv, wenn auch viel- 
leicht erschwert, dem direkten Willen zuganglich sind; als 
hysterische Vortauschung endlich solche, bei denen die ehrliche Krank- 
heitsiiberzeugung mehr oder weniger vollstandig fehlt. 

Wir bestimmen also den Grad, bis zu dem eine hysterische Anomalie 
Krankheitswert besitzt. Von diesem Gesichtspunkt muB der andere, 
namlich die Frage nach dem Grad des Gesundheitswillens klar 
getrennt werden. Es liegt auf der Hand, daB auch die echteste hyste¬ 
rische Erkrankung einem schlechten Gesundheitswillen ihre Lebens- 
kraft verdanken, wie umgekehrt, daB eine hysterische Gewohnung 
vorwiegend nur auf Angstlichkeit und Urteilsfehler beruhen kann. 
Sagt doch nicht einmal der Nachweis bewuBter Simulation iiber den 
Grad des Gesundheitswillens direkt etwas aus, wenn man bedenkt, 
daB nicht so selten eine Vortauschung mehr aus ,,Liebe zur Kunst“, 
als mit bewuBter ZweckmaBigkeit ausgefiihrt wird. Ein klares prak- 
tisches Urteil werden wir bekommen, wenn wir an jeden Fall beide 
MaBstabe: den des Krankheitswertes und den des Gesundheitswillens 
gesondert anlegen und in der Diagnose beides unvermischt zum Aus- 
druck bringen. 

Im iibrigen braucht wohl kaum betont zu werden, daB die Be- 
zeichnung ,,echte Krankheit“ in dieser Abhandlung nur relativ im 
Gegensatz zur Gewohnung gebraucht wird, daB damit keine Stellung- 
nahme zu mehr psychologischen oder physiologischen Theorien in der 
Hysterielehre beabsichtigt ist. Ebensowenig zielt die Abstufung des 
Krankheitswertes zwischen Erkrankung und Gewohnung auf einen 
Unterschied in der Leichtigkeit der Heilung auf suggestivem Wege; 
sie bezieht sich vielmehr lediglich auf die Mitbeteiligung des bewuBten 
Willens am hysterischen Symptombild und damit auf die praktische 
Frage der Zurechnungsfahigkeit. 

Wie unterscheiden wir nun klinisch eine hysterische Erkrankung 
von einer hysterischen Gewohnung ? Nehmen wir einige gelaufige Ent- 
stehungs- und Entwicklungstypen einfacher psychogener Korpersto- 
rungen: 

Fall I. a) Vor dem Musketier A. schlagt eine Granate ein; ein Splitter streift 
seine rechte Hand, von diesem Augenblick an hat er einen schnellen rhythmischen 
Schiitteltremor des rechten Armes. 

b) Der Musketier B. hat eine druckempfindliche Streifschuflnarbe an der linken 
Schulter. Ein friiherer Arzt hatte ihm gesagt, daB die Armnerven verletzt seien. 
Bei einem mehrtagigen groBen Reisemarsch mit voller Packung spurt er unter 


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Hysterische Erkrankung nnd hysterische Gewflhnung. 


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dem Druck des Tomisterriemens auf die Narbe, daB der linke Arm immer schwa- 
cher wird, bis npch einigen Tagen der Arm vollig gelahmt, schlaff und blaurot 
herunterh&ngt 

c) Der Dragoner C. erkrankt durch Infektion im Stalldienst an einer schweren 
Blutvergiftung und liegt viele Wochen bei groBer Schwache ruhig zu Befct. Wie 
er das erstemal wieder aufzustehen versucht, bemerkt er, daB beide Beine emp- 
findungslos und gelahmt sind. 

Fall IL a) Der Armierungssoldat D. bekommt bei der Schanzarbeit bei nasser 
Witterung rheumatische Schmerzen im rechten Knie mit etwas Schwellung und 
Fieber. Er legt das Bein im Bett ganz still in halber Beugeatellung; aktive und 
passive Bewegung des Knies geht glatt, macht aber Schmerzen. 

b) Die objektiven rheumatischen Symptome sind nach einigen Tagen ver- 
schwunden. Da Pat. subjektiv keine Besserung angibt, wird er weiter behandelt. 
Er liegt dauemd im Bett und halt das rechte Bein stets sorgfaltig in halber Beuge- 
stellung fixiert. Als er nach einigen Wochen nachuntersucht werden soli, leistet 
er beim Versuch, das Knie zu strecken, mit seinen Oberschenkelbeugem zahen, 
aktiven Widerstand, wobei er eine mehr lebhaft ausdrucksvolle, als sehr tiefgehende 
SchmerzauBerung von sich gibt. Auch auBerhalb des Bettes humpelt er stets mit 
gebogenem rechtem Knie unter fliichtigem Aufsetzen der FuBspitze und auBereter 
Schonung des rechten Beines umher. Auf wiederholten, sehr eneigischen Befehl 
streckt er unter sichtlicher Anstrengxing das Knie und bewegt es ein paarmal 
richtig, um dann sofort in die alte Stellung zuriickzukehren. 

c) Einige Wochen spater ist die SchmerzauBerung nur noch oberflachlich 
konventionell, die motorische Stellung aber unverandert hartnackig. 

d) Pat wird noch langere Zeit exspektativ mit Bettruhe behandelt. Nach 
einem Monat ergibt der Streckversuch am rechten Knie einen gleichmaBig 
elastischen zahen Widerstand der Beuger, der dem Pat keine Miihe macht und 
von dessen Aufmerksamkeit unabhangig ist. Auch nachts im Schlaf bleibt die 
Beugestellung fixiert Pat. vermag das Bein mit aller Kraft nicht zu strecken. 
Nach weiteren zwei Monaten findet sich vielleicht eine absolut harte, unbewegliche 
Beugecon trac tur. 

An diesen Beispielen konnen wir die beiden Hauptentstehungs- 
typen und auch die Eigenart der daraus hervorgegangenen verschie- 
denen klinischen Gruppen anschaulich entwickeln. Die drei Falle der 
Gruppe I sind vielfach voneinander verschieden: Der Schiitteltremor 
des ersten ist apoplektiform unter akutester Schreckwirkung entstan- 
den, die Monoplegie des zweiten subakut im Verlauf einiger Tage unter 
einem leichten, anhaltenden Unlustreiz, die Paraplegie des dritten mit 
imbestimmbarem Beginn wahrend eines chronischen, erschopfenden 
Krankheitslagers. Wesentlich gemeinsam ist aber alien drei Fallen, 
daB schon ihr erster Beginn auBerhalb der Sphare des bewuBten Willens 
liegt. Der Patient verhalt sich rein passiv gegeniiber einer Stoning, 
die von seinem KSrper Besitz ergreift, er ist Zuschauer bei einem Natur- 
vorgang, von dessen Wurzeln in seinem Seelenleben er keinen Begriff 
hat. Der klinischen Form selbst, unter der die Storung auftritt, wohnt 
keine direkte ZweckmaBigkeit gegeniiber der auslosenden Schadigung 
inne, und endlich ist diese Ausdrucksform so, daB sie weder von dem 
Gegenwillen des Erkrankten ohne weiteres bezwungen, noch von dem 

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E. Kretschmer: 


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Willen eines Gesunden vdllig nachgeahmt werden kann, also eine Funk- 
tion des Nervenapparates darstellt, die von seinen physiologischen 
Funktionsmoglichkeiten wesentlich verschieden und deshalb diesen 
gegeniiber neurologisch prazis abgrenzbar, etwas spezifisch Krankhaftes 
ist. Alle hysterischen Storungen, die diese beiden Haupt- 
merkmale der unwillkiirlichen Entstehung und der neu- 
rologischen-Begrenzbarkeit aufweisen, bezeichnen wir als 
primare hysterische Erkrankung. 

Ein anderes Bild geben die verschiedenen Entwicklungsphasen des 
Falles II. Das Stadium a) stellt eine leichte korperliche Erkrankung 
dar, die eine zweckmaBige Schutzstellung eines bestimmten Korperteils 
zur Folge hat. Diese Stellung ist ebenso absichtbch wie objektiv be- 
rechtigt und bietet noch kein neurologisches Interesse. Desto wichtiger 
ist dagegen das Stadium b) und c). Wir sehen hier auf zwei verschie¬ 
denen Stufen, wie unter der scheinbar gleichbleibenden auBeren Aus- 
drucksform einer einfachen physiologischen Zweckhandlung sich deren 
beide Komponenten: die sensible Ursache (der Gelenkschmerz) und 
deren motorischer Effekt (die Beugestellung) allmahlich dissoziieren. 
Die Tatsache, daB im Stadium b) der echte organische Gelenkschmerz 
psychogen fixiert in ein leeres hysterisches Schmerzschattenbild iiber- 
gegangen ist, ist fiir unsere Betrachtung zunachst nicht wesentlich. 
Dagegen ist folgendes von Bedeutung: in der Zeit, wo der Schmerz 
an Echtheit, vielleicht auch an subjektiver Wichtigkeit, abgenommen 
hat, wo er aus etwas wirklich Empfundenem zur formelhaften Geste 
geworden ist, bis er zuletzt vielleicht abblaBte und ganz verschwand, 
hat die motorische Fixation, urspriinglich nur die beherrschte Dienerin 
des Schmerzes, eine eigene, wesenhafte Selbstandigkeit gewonnen. 
Hier braucht es als Zwischenglied keinerlei absichtlicher Vortauschung 
oder Ubertreibung; die Emanzipation untergeordneter psychophysischer 
Mechanismen von dem bewuBten Zweck oder Affekt, dessen Ausdruck 
sie urspriinglich gewesen waren, ist etw’as echt Hysterisches. Und doch 
handelt es sich auf der anderen Seite auch noch nicht um eine Krank- 
heit. Wenn ein Schulkind in dem falschen, aber subjektiv unmittel- 
bar empfundenen Gefiihl, so besser schreiben zu kOnnen, zu einer schiefen 
Korperhaltung kommt und nachher Miihe hat, diese eingeschliffene 
Innervation seiner Korpermuskulatur mit seinem Willen wieder zu 
beseitigen, so wird es niemand einfallen, dieses Kind als krankzu bezeich¬ 
nen. Genau diesel be psychische Konstellation haben wir bei unserem 
Armierungssoldaten im Stadium b) und c): Ein falsches, aber sub¬ 
jektiv reales Gefiihl, daraus entsprungen eine urspriinglich zweckvolle 
Haltungsanomahe, die durch Einschleifung ihrer motorischen Bahn 
allmahhch sich vom Willen zu emanzipieren beginnt. Der Unterschied 
liegt nur in der psychischen Konstitution, die in beiden Fallen der Ab- 


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Hysterische Erkrankung und hysterische Gewohnung. 


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weichung zugrunde liegt: Dort kindliche Unreife, hier hysterische Ver- 
anlagung; auch die letztere aber bedeutet so wenig eine Krankheit, 
wie ein enger Brustkorb eine Tuberkulose bedeutet. 

Damit ist nacb beiden Seiten hin der Begriff der hysterischen Ge- 
wohnung deutlich umschrieben. Eine Gewohnung, wie die vorliegende, 
die unmittelbar aus dem Physiologischen entspringt, bezeichnen wir 
als primare hysterische Gewohnung, die der primaren hysteri¬ 
schen Erkrankung sowohl durch ihre Entstehung in der Willens- 
sphare, wie durch ihre, im Formkreis des physiologisch 
Moglichen liegende Symptomatik entgegengesetzt ist. Ihr Ge- 
biet erstreckt sich von dem Beginn der Loslosung eines Nervenvorgangs 
von seiner natiirlichen Ursache bis zu seinem volligen Ausscheiden aus 
dem Willensbereich, wobei zwischen der Phase b), wo das Abbild der 
Ursache noch ins Zustandsbild hineinragt, und der Phase c), wo die 
Ursache in der Hauptsache geschwunden ist, nur ein Gradunterschied 
besteht. Haufig bleibt es auch bei der Phase b). Die Differentialdiagnose 
des Zustandsbildes der primaren hysterischen Gewohnung stiitit sich 
gegeniiber der hysterischen Erkrankung darauf, daB sie auch vom Ge- 
sunden wohl einige Zeit lang nachahmbar ist, daB sie auf energischen 
Befehl oft voriibergehend korrigiert werden kann, daB also neurologische 
Abnormitaten (das heiBt Nervenmechanismen, die auBerhalb des physio¬ 
logisch Moglichen liegen) fehlen. — Das Stadium d), wo aus der Ge¬ 
wohnung ein hysterischer Spasmus, das heiBt eine echte Erkrankung 
entstanden ist, bedarf keiner gesonderten Besprechung. Diese sekun- 
daren hysterischen Erkrankungen auf Grund hysterischer Ge¬ 
wohnung unterscheiden sich nur durch ihre Entstehungsweise, aber 
nicht mehr durch ihre Symptomatik von der primaren hysterischen 
Erkrankung, und sind praktisch dieser gleichzuachten. — 

Mit unserem Fall II haben wir nur die wichtigste Entwicklungsform 
der hysterischen Gewohnung, namlich die Entstehung aus einer Zweck- 
handlung betrachtet; es geniigt, darauf hinzuweisen, daB auch die 
Affektausdrucksbewegungen Ausgangspunkt' fiir hysterische GewOh- 
nungen werden konnen; denken wir nur an das Blinzeln, Zusammen- 
schrecken, Taumeln, Keuchen, Zittem, wie es alte Kriegsneurotiker 
so oft bei entsprechendem AnlaB gewohnheitsmaBig hervorbringen, bei 
Willensanspannung aber unterdriicken konnen. AuBer solchen Affekt- 
reflexen geben auch rein biologische Reflexe manchmal Gewohnungen 
ab, sofem sie in der Willenssphare gelegen sind: gewohnheitsmaBiges 
Husten, Rauspem u. dgl. — ,,Lazaretthysteriker“ wie in dem Beispiel II, 
das heiBt Soldaten, die ihre Hysterie erst im Lazarett ausgebildet haben, 
liefem zwar einen besonders groBen Teil der hysterischen Gewohnungen, 
doch entstehen solche haufig genug auch direkt im Frontdienst, so etwa 
ein gewohnheitsmaBiges Hinken aus FuBschonung bei iiberanstrengen- 


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E. Kretschmer: 


dem Reisemarsch, eine merkwiirdige Rumpfhaltung nach Prellung im 
Kreuz. 

Aua dem bisher Gesagten ergibt sich der verschiedene Krankheits- 
wert, den wir den einzelnen klinischen Ausdrucksformen der Hysterie 
beimessen konnen. Als hysterische Krankheiten werden wir ins- 
besondere anerkennen den echten hysterischen Schiitteltremor, 
den echten hysterischen Spasmus und die echte schlaffe 
Lahmung. Dabei werden wir einen Schiitteltremor als echt krank- 
haft nur dann mit Sicherheit ansprechen, wenn er rhythmisch und be- 
standig ist; auf die viel haufigeren inkonstanten und atypischen Schiittel- 
formen werden wir spater zu sprechen kommen. Ob es sich um echten 
Spasmus oder (dies ist wiederum das Haufigere) um gewohnheitsmaBige, 
willkiirliche Muskelspannung handelt, ist schon nach Gesichtsausdruck 
und Mitarbeit anderer Korpermuskeln beim passiven Bewegungsver- 
such meist leicht zu entscheiden; der echte Spastiker, sofem er nicht 
starken Schmerz empfindet, sieht diesem meist so gelassen zu, als ob 
ein frdmder Gegenstand vor seinen Augen bewegt wiirde. Von einer 
echten schlaffen Lahmung, wie sie besonders als Mono-, Hemi- und 
Paraplegie auftritt, werden wir nur sprechen diirfen, wenn wir eine eini- 
germaBen bestandige und deutlich palpable Muskelatonie festetellen 
kdnnen; Analgesie und Cyanose werden als Begleitsymptome selten 
vermiBt werden. Von diesen echten Lahmungen sind die „abulischen“ 
Schwachezustande bestimmter GliedmaBen grundsatzlich zu unter- 
scheiden; sie haben keinen Krankheitswert im Sinne unserer Definition; 
sie sind unvollstandig, durch Stimmung und auBeren Befehl meist stark 
variabel und entbehren objektiver neurologischer Symptome. Aus der 
groBen Zahl der gewohnheitsmaBigen, zum Teil auch direkt gemachten 
Ungeschicklichkeiten der Bewegung sind die viel selteneren echten 
Innervationsentgleisungen auszusondern, die unter den Begriff 
,,Krankheit“ fallen. Die Grenze der Krankheit reicht hier so weit, 
als das gleichmaBige Ansprechen der Muskeln innerhalb des physio- 
logischen Verbandes der 'Muskelgruppe oder die Zusammenarbeit der 
engsten Antagonisten gestort ist. Wo, wie bei den gewQhnlichen pseudo- 
ataktischen Gang- und Haltungsstorungen nur die grobe Zusammen¬ 
arbeit der in sich richtig funktionierenden groBen Muskelverbande 
mangelt, da ist ein Vergleich mit echten Koordinationsstorungen nicht 
am Platz; es handelt sich dann nicht um neurologische Abnormitaten, 
sondern um gewohnheitsmaBig fixierte falsche Willensrichtung. Der 
Lbungsversuch zeigt in diesen letzteren Fallen, daB die falschen Be- 
wegungen und Stellungen bei detaillierter Anleitung schon in der ersten 
Sitzung vom Patienten auf dem direkten Willenswege korrigiert werden 
kdnnen. Eine besonders schwierige Gruppe bilden die Tics; auch diese 
sind in dem Grad der Krankhaftigkeit sehr ungleichwertig. Auf der einen 


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Hysterisehe Erkrankung and hysterische Gewohnung. 


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Seite stehen die blitzartigen, brettharten Kontraktionen von sonst 
nur in groBerem Verband gebrauchten Einzelmuskeln, zum Beispiel 
b eider Stemocleidomastoidei, sodann Bewegungsformcn, die durch 
ihre Heftigkeit, Ausgiebigkeit, groCe Ausbreitung oder durch ihre 
bizarre Kombination aus dem Rahmen des willktirlich Erzeugbaren 
oder auch nur Angewohnbaren (wohl zu unterscheiden von der psychi- 
schen Ansteckung auf reflektorischem Weg) entschieden herausfallen, 
und die wir unbedenklich zu den echten Krankheiten zahlen diirfen. 
Ihre Nachahmung ist hochstens voriibergehend moglich, miihsam und 
geradezu erschopfend. Ganz ahnlich wie der hysterische Spasmus 
dokumentieren sie ihre Echtheit durch die oft erstaunliche Objektivitat 
und Seelenruhe, mit der die Patienten unter scheinbaren Gesten hochster 
Erregung das Gesprach mit dem Arzt fortsetzen, so sehr es ihnen durch 
heftige Muskelzuckungen erschwert ist; sie unterscheiden sich dadurch 
in sehr pragnanter Weise von den Schauspielhysterikem, die ohne die 
monotone GesetzmaBigkeit der Ticbewegungen einzuhalten, vor dem 
Arzt in den wildesten Bewegungsaufruhr: Zittem, Schlottem, Tanzen, 
Schnattem, Hiipfen und Keuchen, ausbrechen, die ihre gewaltsamen 
Muskelproduktionen gerade oft psychisch durch ein recht aufgeregtes 
Gehaben zu unterstreichen suchen und deren Leiden in seinem Krank- 
heitswert nicht niedrig genug veranschlagt werden kann. Ebensowenig 
wird man die leicht nachahmbaren kleinen Facialis- und Schultertics 
usw. der Kriegsneurotiker den Krankheiten zurechnen wollen; sie ent- 
stehen sehr leicht durch Gewohnung, gehen flieBend in die schon be- 
sprochene Gruppe gewohnheitsmaBiger Affektreflexe tiber und sind zu- 
dem praktisch meist belanglos. Wenn man beide diagnostischen Kri- 
terien: den Nachahmungsversuch und den Vergleich zwischen rein 
somatischer Muskelerregung und begleitendem psychischem Ausdruck 
zu Hilfe nimmt, so wird es meist schon ohne langere psychiatrische 
Beobachtung der Gesamtpersonlichkeit gelingen, die echt krankhaften 
Tics aus der Menge fahrlassiger Angewohnheiten und gewohnheits¬ 
maBiger hysterisch posierender Aufmachungen auszusondern. 

Soweit die wichtigsten hysterischen Erkrankungen. Viele hysterische 
Gewohnungen haben wir bei ihrer Differentialdiagnose schon gestreift, 
so besonders die abulischen Schwachezustande und die hypo- 
chondrischen Schutzstellungen. Der wichtigste konkrete Repra- 
sentant der hysterischen Gewohnung ist die Dysbasie in ihren unend- 
lich vielen Formen (hysterische Gangstorungen, die durch wirkliche 
Lahmung, wirklichen Spasmus oder echte motorische Reizerscheinungen 
bedingt sind, scheiden aus dem so umgrenzten Begriff der Dysbasie 
aus). Wir unterscheiden Dysbasien, die sich auf die Einbildung oder 
den realen Rest eines bestimmten Einzelleidens stutzen; eine der haufig- 
sten, die pseudo-arthritische, haben wir oben als Paradigma besprochen; 


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E. Kretschmer: 


sie kann auBerst groteske Formen annehmen. Ebenso bekannt ist die 
pseudo-ischiadische, die die Schutzstellungen der echten Ischias kari- 
kiert und die pseudotraumatische, die Wunden, Narben und schmerz- 
hafte Quetschungen zum Ausgangspunkt hat. Die allgemeinen, doppel- 
seitigen Dysbasien, die eine solche spezieile Grundlage nicht erkennen 
lassen, haben zum Teil ebenfalls in gewissen hypochondrischen Vor- 
stellungen ihren willensmaBigen Ursprung: die mehr pseudoparetischen 
in der Vorstellung hilfloser Schwache, die mehr pseudospastischen in 
der Einbildung schmerzhafter Schonungsbediirftigkeit u. dgl., zum Teil 
sind sie als hysterische Gewohnheitsreste (s. u.) aufzufassen. Das 
Zustandsbild der vollen Astasie - Abasie ist von unserem Standpunkt 
aus betrachtet nichts Einheithches. Ein betrachtlicher Teil der Falle 
gehort rein ins psychiatrische Gebiet; in der Art, wie sie zum Beispiel 
bei schweren Entartungshysterien auftritt, ist sie ein psychotisches 
Symptom, das sich viel mehr nach Analogieder schizophrenen Bewegungs- 
storungen, als in neurologischem Zusammenhang behandeln laBt. In 
dieser Arbeit ist aber nur von den hysterischen Alltagserkrankungen die 
Rede, wie sie auf Grund bestimmter auBerer E rlebnisse bei leichteren 
Psychopathen entstehen. Wo Astasien bei solchen Gelegenheitshysteri- 
kem sich finden, da sind sie, meist auf Grund von Diagnosen- und Be- 
handlungsfehlem, als hypochondrische Gewohnungen entstanden. Auch 
nach ihrer therapeutischen Reaktionsweise zahlt diese Gruppe zu den 
Gewohnungen. Wer den Versuch macht, Hysteriker vorzugsweise mit 
einfacher t)bung zu behandeln, der kann beobachten, wieviel naher 
auch die schwere Abasie des Gelegenheitshysterikers der Willenssphare 
liegt, als etwa ein Spasmus oder Schiitteltremor. Wo der Gesundheits- 
wille leidlich ist, da erstaunen wir immer wieder dariiber,. wie verhalt- 
nismaBig rasch und muhelos die Abasie durch sachgemaBe Belehrung 
und Anleitung sich beseitigen laBt, wahrend wir bei den hysterischen 
Rrankheiten mit dem Appell an den Willen nur unter starkster An- 
spannung desselben oft auf indirektem Weg zum Ziel kommen oder zu 
unbewuBt wirkenden SuggestivmaBnahmen greifen miissen. — Die 
hysterischen Gewohnungen im Bereich der oberen GliedmaBen bediirfen 
keiner gesonderten Besprechung; sie sind den Gehstorungen analog. 
Es soil besonders an die haufigen Gewohnheitslahmungen nach Trauma 
oder fixierendem Verband, an die zahllosen hysterischen Uberlagerungen 
organischer Hand- und Armparesen erinnert werden. 

Dagegen ist iiber hysterische Rumpfhaltungen, speziell das 
Gehen mit wagrechtem oder vorgebeugtem Rumpf noch ein Wort zu 
sagen. Sie pflegen in bewuBter Weise aus einem Lumbago, einer Riicken- 
verletzung, der Einbildung einer Riickenmarksschadigung als hypo¬ 
chondrische Schutzstellungen zu entspringen, und zeigen auch im klini- 
schen Zustandsbild die Ziige der hysterischen Gewohnung. Der groBen 


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Hysterische Erkrankung und hysterische GewOhnung. 73 

Mehrzahl nach sind sie auch in ihren grotesken Formen nichts anderes 
als einfache Gewohnungen. Eine kleine Gruppe der Haltungsstorungen 
zeigt jedoch eine t)bergangsform in sekundare Erkrankung, die bisher 
noch nicht beriihrt wurde. Sie kommt natiirlich auch bei anderen 
hysterischen Gewohnungen einmal vor, doch scheint sie mir bei den Hal¬ 
tungsstorungen verhaltnismaBig haufig. Bekommen wir einen solchen 
Patienten in spaterem Stadium in Bekandlung und versuchen in ge- 
wohnlicher Weise mit t)bung zu beginnen, so stoBen wir manchmal auf 
eine sehr tiefgehende und starre psychische Fixierung des motorischen 
Komplexes. Wir versuchen vorsichtig den Rumpf passiv aufzurichten. 
Meist schon ehe wir dabei iiberhaupt eine Bewegung ausgefiihrt haben, 
kommen (und zwar auch bei sonst ganz ruhigen und verstandigen 
Patienten) Zeichen echter psychischer Erregung zum Vorschein: der 
Patient zittert und keucht nicht nur unter heftiger SchmerzauBerung, 
er wird auch blaB und schwitzt, seine Gesichtsziige werden starr, er 
antwortet nicht mehr recht, er gleitet zu Boden, verfallt in einen echten 
hysterischen Anfall oder in einen Dammerzustand. Dieser Reaktions- 
typus ist selten im Verhaltnis zu den theatralischen Abwehr- und 
Schmerzausdriicken der reinen Gewohnheitshysteriker, die den energi- 
schen Befehlen des Arztes rasch zu weichen pflegen. Wo dagegen die 
psychische Verankerung so stark ist, wie wir sie eben geschildert haben, 
da stehen wir wieder einem automatisierten psychischen Mechanismus 
gegentiber, den -wir direkt von der Willensseite aus hochstens ganz all- 
mahlich und behutsam angreifen konnen. Diese kleine Gruppe der 
sersiblen Fixationen, wie wir sie kurz nennen wollen, muB demnach 
den sekundaren hysterischen Erkrankungen zugerechnet werden. 

Damit ist das Wesenthche iiber den Krankheitswert sensibler 
hysterischer Storungen (wir sprachen bisher absichthch nur von den 
motorischen) schon vorweggenommen. Die therapeutische Erfahrung 
zeigt, daB hysterischen Schmerzen ein selbstandiger Krankheits¬ 
wert in der ganz iiberwiegenden Mehrzahl der Falle nicht zukommt. 
Oft genug finden wir hinter den Klagen gar keinen subjektiv realen 
Schmerz, sondem bewuBte Vortauschung, gewohnheitsmaBiges Jam- 
mern, im besten Fall Schmerzerinnerungsbilder, die den Patienten aus 
seinen hypochondrischen Schutzgewohnungen nicht herauskommen 
lassen. Aber auch dort, wo wir die subjektive Schmerzrealitat zu be- 
zweifeln keinen AnlaB haben, zeigt uns der t)bungsversuch, der immer 
unser bester Fiihrer in der psychischen Beurteilung des Hysterikers 
ist, daB der Schmerz immer mehr abblaBt, je mehr es uns gelingt, die 
motorischen SchutzmaBnahmen zu iiberwinden. Durch die einfache 
Willenseiziehung, wie sie mit der motorischen t)bung verbunden ist, 
wird auch der Schmerz mit beseitigt: er wird vergessen oder nur noch 
gewohnheitsmaBig ohne subjektive Wichtigkeit vorgebracht. Dies 


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74 


E. Kretschmer: 


beweist, daB der gewbhnliche hysterische Schmerz nicht eine neuro- 
logisch verselbstandigte Funktionsstorung des psychophysischen Appa- 
rats darstellt, wie etwa ein echter hysterischer Tremor oder Spasmus, 
sondern daB er als eine oberflachliche psychische Einstellung nach Ana¬ 
logic der motorischen Gewohnungen aufzufassen ist. Er ist eine Ge- 
wohnung der Auimerksamkeit, wie jene Gewdhnungen des Willens sind. 
Wir konnen daher kurz sagen: Hysterischer Schmerz ist an und 
fiir sich niemals eine Krankheit; er kann Krankheitswert 
nur gewinnen durch hysterisch-motorische oder hysterisch- 
psychotische Storungen, die sich an ihn anheften. Letztere 
haben wir unter dem Namen ..sensible Fixationen“ schon besprochen. 
Die Differentialdiagnose ist auch in dieser Richtung leicht zu formu- 
lieren: Wo nicht durch arztliche Inangriffnahme der Schmerzstelle 
emstliche BewuBtseinsveranderungen, sei es in Form eines hysterischen 
Erregungs- oder Dammerzustandes, sei es in Form eines echten (nicht 
nur spielerischen) hysterischen Anialls ausgelost werden, da liegt keine 
sensible Fixation, sondern gewbhnlicher hysterischer Schmerz oder 
hysterische Schmerzeinbildung vor, die beide den Wert einer Krankheit 
nicht besitzen. 

Schwere Anasthesien, die auch einem kraftigen elektrischen Strom 
standhalten, sind kaum isoliert, sondern wohl nur in Gesellschaft anderer 
emsthafter Storungen, besonders der schlaffen Lahmung, zu beobach- 
ten; sie gehoren durch ihre unbewuBte Entstehung und ihre neurolcr- 
gische Greifbarkeit mit den hysterischen Erkrankungen zusammen. 
Alle ubrigen sind entweder habituelles Stigma degenerativer Ver- 
anlagung oder fluchtige und leicht beeinfluBbare Storungen, die keinen 
Krankheitswert besitzen. 

Was oben iiber den hysterischen Schmerz gesagt wurde, gilt in er- 
hohtem MaB von den diff useren MiBemp findungen, wie sie fast 
jeder Hysteriker reichlich anzugeben hat. Wo wir auBerhysterische emst- 
hafte Funktionstorungen: Migrane, Neuralgie, basedowartige Herzneu- 
rosen, greifbare Dyspepsien usw., andererseits psychiatrisch manifeste 
tiefgehende Erregungs- und Verstimmungszustande vermissen, dahandelt 
es sich bei den Kopfschmerzen, den Schwindel- und Beklemmungsgefiihlen, 
den Magensensationen, den Schlafstorungen, derVerdrieBhchkeit, Mattig- 
keit und allgemeinen Schwache nicht um Krankheiten, sondern um ge- 
wohnheitsmaBige Beobachtung belangloser habitueller Unlustgefiihle, 
die dadurch groBe subjektive Wichtigkeit und groBen EinfluB auf die 
Lebensfiihrung erlangen, aber bei gutgesinnten Patienten durch Willens- 
erziehung auf ihre wahre Stellung als kleine neuropathische Minderwertig- 
keiten zuriickgedrangt werden konnen. Anderenfalls konnen hypochon- 
drische Willensentspannung oder querulatorische Einstellung auf die 
Rente, die zuerst freiwillig angenommene Gewohnungen sind, im Lauf 


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Hysterische Erkrankung und hysterische GewOhnung. 75 

der Jahre genau wie eine hysterische Schutzstellung sich so auto- 
matisieren, daB ihr Trager nicht mehr Herr uber sie ist, sondem als 
erne Art Geisteskranker mit psychiatrisch greifbaren Affektstorungen 
und Wahnvorstellungen vor uns steht; es ist derselbe Vorgang, der 
aus der Simulation eines hysterischen Haftlings eine Haftpsychose 
machen kann. 

So verlockend es ware, den Unterschied zwischen Gewohnung und 
Erkrankung in den psychiatrischen Teil der Hysterie hinein zu ver- 
folgen, so miissen doch in diesem neurologischen Zusammenhang einige 
Andeutungen geniigen. Auf dem Grenzgebiet der hysterischen 
Anfalle konnen wir vier Gruppen bilden, die in ihrem Krankheitswert 
stark voneinander abweichen: Die Anfalle der gemiitsschwachen De- 
bilen, der Erschopften und affektiv Erschiitterten, der Infantilen und 
endhch der Degenerierten. Die Anfalle der gemiitsschwachen De- 
bilen, korperlich und geistig Verkiimmerten, sind oft symptomarm 
mit wenig Aufmachung und ziemlich tiefer BewuBtseinstriibung ver- 
bunden, bestehen meist in stereotyper Weise von einem Jugenderlebnis 
an durch viele Jahre hindurch und konnen sich von auBeren Anlassen 
weithin emanzipieren. Sie sind echt krankhaft. Dasselbe gilt von den 
Anfallen der Erschopften und affektiv schwer Erschiitterten. 
Wir finden jetzt im Krieg bei dieser Gruppe vielfach besonders tiichtige 
Menschen von nicht ganz robustem Nervensystem, die oft mit Aus- 
zeichnung unter starker Willensanspannung lange Zeit an der Front 
gestanden sind, bis allmahliche Aufreibung oder plotzlicher AffektstoB 
sie seelisch, und dann meist in nachhaltiger Weise zum Versagen brachte. 
Ihre Anfalle sind oft heftig und langdauemd, von psychischen Sympto- 
men, szenisch traumhaftem Erleben, dammerhaftem Handeln, jahen 
AffektstoBen begleitet, eingeleitet oder gefolgt; auch in der Zwischen- 
zeit sind diese Patienten psychisch nicht frei, vielmehr hastig, gespannt, 
angstlich oder explosiv. Ihre Anfalle sind wie ihr ganzer psychischer 
Zustand dem EinfluB des Willens wenig zuganglich; sie sind der Aus- 
druck einer echten, emsthaften Schadigung des Nervensystems. Viel 
skeptischer sind die Anfalle der Infantilen zu betrachten; ihrtypischer 
Verlauf ist meist etwa so: eigensinnige, schlecht erzogene, temperament- 
voile junge Leute reagieren nach ihrer militarischen Einziehung oft 
auf ganz einfache Anlasse: Tadel des Feldwebels, Neckerei der Kame- 
raden, bestenfalls auf eine einschlagende Granate mit ihrem ersten hyste¬ 
rischen Anfall: BewuBtseinstriibung gering, heftiges Strauben und Hin- 
ausschlagen schon bei leichtem Anfassen, lebhafte, doch harmlose un- 
geregelte Bewegungsfolgen, Weinen oder Zomausdruck ohne schwere 
Explosionen. In der freien Zwischenzeit sind die Patienten launisch 
und kitzlig, wie ein junges Pferd, von lenkbarer Stimmung, bei unbe- 
merkter Beobachtung harmlos und vergniigt, haufig lebhafte Vaso- 


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E. Kretschmer: 


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motoriker. Die Anfalle sind durch jede Kleinigkeit beliebig oft auszu- 
losen und einer energischen Disziplinierung zuganglich. Sie verdienen 
so wenig den Namen einer Krankheit, wie die motorischen Affektent- 
ladungen unerzogener psychopathischer Kinder oder die Ohnmachten 
nervoser Damen. Sie entwickeln sich auf der Grundlage der hysteri- 
schen Veranlagung rasch zu schlechten Gewohnheiten, zu einem will- 
kommenen Mittel, sich jeder unangenehmen Situation eindruckavoll 
zu entziehen, nicht selten auch bis zur bewu 13ten Vortauschung. — Bei 
den Degenerativen sind zwei Typen gut zu unterscheiden; die einen 
sind schwer belastete, ans Psychotische streifende Naturen von dusterem 
Gemiit, dauemd erhohtem affektivem Tonus und starker Explosivitat. 
Sie leiden unter ihrem Zustand, suchen ihn zu verbergen, sich zu be- 
herrschen; sie bemuhen sich, gegen den Arzt korrekt zu sein, und sind 
in guten Stunden dankbar und zuganglich. Ihre Anfalle stehen meist 
im Zusammenhang mit schweren, unter BewuBtseinstrubung einher- 
gehenden Affektentladungen. Sie sind selbstverstandlich krankhaft 
und verdienen, wo der Krieg eine Mitschuld hat, ausgiebige Rente. 
Ganz anders die moralisch Minderw'ertigen, die Degenerativen im engeren 
Sinn. Ihr Auftreten ist bekannt: sie w r arnen gleich Arzt und Personal 
vor ihrer Reizbarkeit, sie sind ,,die besten Menschen, wenn man sie 
in Ruhe laBt“, sie suchen durch herausfordemden, miirrischen, unge- 
zogenen Ton zu imponieren, sie handeln und hetzen. Anfalle und ner- 
vose Reizbarkeit sind vielfach schon vor dem Krieg nachzuweisen. 
Ihre hysterischen Anfalle, wie ihre Verstimmungen und reaktiven 
Wutzustande miissen bekannthch sehr vorsichtig beurteilt werden. 
Auch wo bei den Anfallen eine nachweisbare tiefere BewuBtseinstrubung 
eintritt, sind sie doch vielfach willkiirlich bedingt, sofern die Patienten 
AlkoholgenuB oder Streit und Erregung aufsuchen, sich dann gewohn- 
heitsmaBig so in den Affekt hineinsteigem, bis, wie sie wissen, der An- 
fall eintritt. Ihr psychischer Gesamtzustand und damit auch die An¬ 
falle sind willensmaBig wohl zu beeinflussen. Hier ist der Disziplinie- 
rungsversuch von groBem diagnostischem Wert. Die Anordnung, den 
Patienten, sobald Zeichen von Erregung auftreten, sofort bis zur volligen 
Beruhigung in die Einzelzelle zu verbringen, oder eine langere Verlegung 
in Einzelzimmer unter volliger Bettruhe und arztlicher Ignorierung 
vermag scheinbar psychotisch schwer Explosive dieser Art in wenigen 
Tagen so vollig zu verwandeln, daB auBer der habituellen Reizbarkeit 
und moralischen Minderwertigkeit nichts zurUckbleibt; auch die An¬ 
falle schwinden mit. Solche Erfahrungen zeigen am besten, wie wenig 
bei den motorischen und psychischen Anfallen dieser Gruppe Krank¬ 
heit, wieviel teils bewuBte Berechnung, teils hysterische Gewbhnung, 
jedenfalls aber Willensvorgang ist. 

Zusammenfassend laBt sich also sagen: Der Krankheitswert 


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Hysterische Erkrankung und hysterische GewOhnung. 


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hysterischer Anfalle wird bestimmt einmal nach dem zu- 
grunde liegenden Geisteszustand und sodann nach der Tiefe 
der BewuBtseinstriibung. Von einer hysterischen Krankheit diirfen 
wir mit Bestimmtheit nur sprechen, wo die Anfalle in einer emsthaft 
geschadigten seelischen Verfassung wurzeln oder wo die BewuBtseins- 
triibung im Anfall so stark ist, daB sie auch kraftigen sensiblen Unlust- 
reizen standhalt. Auch im letzteren Falle kann es sich noch um eine 
artifizielle Krankheit handeln, wie in Gruppe 4, die nicht anders zu 
bewerten ist, als das absichtliche AufreiBen einer empfindlichen Wunde. 
Die Beurteilung der vielen Falle, die nicht unter die besonders mar- 
kanten Typen fallen, die wir hier herausgegriffen haben, erfolgt nach 
denselben Gesichtspunkten. 

Es bleibt noch eine wichtige Gruppe hysterischer Gewohnungen 
nachzuholen. Wir sprachen bisher von den primaren hysterischen Ge¬ 
wohnungen, die schon mit ihrem Ursprung in die Willenssphare hinein- 
reichen. Ebenso nun, wie aus einer hysterischen Gewohnung eine sekun- 
dare hysterische Erkrankung entstehen kann, ebenso kann eine ur- 
spriinglich echte Erkrankung sekundar zur Gew6hnung 
werden. Zum Beleg dieser Ansicht dient folgende auffallige klinische 
Tatsache: Es ist unserer therapeutischen Bemuhung gelungen, ein schwer 
kr ankh aftes hysterisches Symptombild aus der Erstarrung zu losen, in der 
es sich vielleicht seit Monaten befunden hat. Der Patient ist dariiber auf- 
richtig froh, iibt willig weiter und macht rasche Fortschritte. Die Stoning 
ist bis auf einen geringen Rest zuriickgegangen, der nach dem bisherigen 
Tempo in wenigen Tagen geheilt sein miiBte. Da stockt plotzlich die 
Heilung; der Patient iibt nur noch mechanisch und ohne Fortschritt, er 
■wird murrisch und unbequem imd ist durch keinen Arzt und auf keine 
Weise mehr vorwartszubringen. Den Rest der Storung, und wenn es nur 
betonte subjektive Klagen sind, nimmt er mit zum Ersatztruppenteil, 
vor die Kommission und in die Heimat. Dieser Vorgang ist auBer- 
ordentlich typisch, er laBt sich zwar durchaus nicht bei alien Patienten, 
aber doch hundertfach beobachten, besonders wenn wir mit erziehenden 
Ubungsmethoden behandeln, aber auch in Form leichter Rezidive bei 
Patienten, die durch starke einmalige Suggestion zunachst scheinbar 
vollig geheilt sind. Derselbe Patient, der vielleicht in mehrstiindiger 
Sitzung seine Willenskraft so aufs auBerste anzuspannen vermochte, 
daB er dadurch einen veralteten Muskelspasmus seines Beines iiber- 
wand, derselbe Patient ist nun nicht mehr imstaiide, ein leichtes Hinken, 
das zuruckblieb, zu unterdriicken; ein Mann, der den heftigsten Schiittel- 
tremor durch gewaltsame t)bung seiner Muskeln erfolgreich bekampfte, 
versagt gegeniiber einem geringen Wackeln seiner Beine, das ihn nun 
jedesmal befallt, wenn er arztlich betrachtet wird. Es liegt auf der 
Hand, daB nicht die Kraft des Krankheitsprozesses es sein kann, die die 


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E. Kretschmer: 


vollige Ausheilung verhindert — denn ein Defektzustand liegt nicht 
vor und wo die t)berwindung einer schweren Funktionsstbrung gelingt, 
da miiBte die iibungsmaliige Beseitigung des kleinen funktionellen Uber- 
bleibsels ein Kinderspiel sein. Hier gibt es nur eine Erklarung: In die 
glatte Ausheilung eines zunachst echt krankhaften, automatisch ner- 
vdsen Zustandes hat eine Willenskomponente storend eingegriffen* 
Dieselbe Verschwisterung von bewuBtem Willen und nervbser Selbst- 
tatigkeit, wie wir sie zu Beginn als das Wesen der hysterischen Gewdh- 
nung ausfiihrlich besprochen haben, nur in umgekehrter Anordnung. 
Die automatische nervose Bahnung ist nicht mehr selbstherrlich, aber 
noch gut eingeschliffen und kann nun nach MaBgabe des Willens in Be- 
trieb erhalten werden. Mit anderen Worten: die urspriingliche Krank- 
heit wird nun sekundar als Gewohnung weitergefiihrt. Auch hier ist 
vielfach von Vortauschung, das heiBt von absichtlicher Hervorbringung 
von Symptomen nicht die Rede; sondem ein Rest der ursprunglich 
krankhaften Symptome lauft weiter, weil der Wille des Kranken, der 
ihn miihelos ausschalten konnte, an dieser Ausschaltung nicht mehr 
interessiert ist, ihn vielmehr als eine fahrlassige Gewohnheit bestehen 
laBt. Gerade so, wne beim Vollsinnigen nach Gipsverband eine moto- 
rische Schwache so lange zuriickbleiben kann, als er sie nicht mit seinem 
Willen beseitigt. 

Wir kbnnen diese sekundaren Gewohnungen am besten als 
hysterischen Gewohnheitsrest bezeichnen. Hierher gehoren ins- 
besondere die vielen atypischen und inkonstanten veralteten Zitter- 
formen, das unregelmaBige Wackeln und Zucken sonst leidlich geheilter 
alter Kriegsneurotiker, wie auch das schnelle rhythmische Schiitteln, 
das nur bei gegebenem AnlaB, besonders bei arztlicher Untersuchung^ 
durch die Aufregung erleichtert, hervortritt. Auf diesem Wege kann 
eine krankhaft automatische hysterische Motilitatsstorung wieder in 
die Sphare des willkiirlich Nachahmbaren, also in den klinischen Form- 
kreis der primaren hysterischen Gewohnung iibergehen, eine spastische 
Contractur kann zum einfachen schonenden Hinken, eine schlaffe Ltih- 
mung zum abulischen Schwachezustand, ein Tic zur fahrlassigen Schreck- 
und Verlegenheitsbewegung werden. Notwendig ist diese klinische Um- 
formung aber nicht. Es liegt in der Sache, daB der hysterische Gewohn¬ 
heitsrest auch die Formen der hysterischen Krankheit in modifizierter^ 
abgeschwachter Art beibehalten kann, weil eben eine sonst dem Willen 
unzugangliche Bewegungsform durch die vorherige Krankheit noch so- 
gut gebahnt ist, daB sie nun auch durch aktive oder fahrlassige Mit- 
beteiligung des Willens weiter in Gang gesetzt werden kann. Fur die 
Diagnose: ,,hysterischer Gewohnheitsrest 14 ist also nicht in erster Linie 
das klinische Symptombild, sondem vielmehr die Entstehungsweise 
maBgebend. Wir konnen so formulieren: Hysterischer Gewohn- 


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Hysterische Erkrankung and hysterische Gewohnung. 


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heitsrest ist uberall dort anzunehmen, wo von einer hyste- 
rischen Erkrankung ein kleinerer Teilzustand zuriick- 
bleibt, der in seiner Hartnackigkeit zu dem groBeren, wil- 
IensmaBig iiberwundenen Krankheitsteil in keinem Ver- 
haltnis steht. Bei vorwiegender Ubungsbehandlung (auch viele 
wertvolle Suggestivmethoden haben eine starke Ubungskomponente^ 
kann die Diagnose des Gewohnheitsrestes fast immer exakt gestellt 
werden, well wir hier das zur Uberwindung der Krankheit gebrauchte 
MaB von Willenskraft gut beurteilen konnen. Bei vorausgegangener 
reiner Suggestivtherapie werden wir durch nachtraglichen Ubungs- 
versuch meist zu einem Urteil kommen; dasselbe gilt von Fallen, die wir 
spater zur Begutachtung bekommen, ohne sie behandelt zu haben. 
Ein solcher freundlich und energisch einige Zeit fortgesetzter tlbungs- 
versuch gibt uns auf alle Falle guten Einblick in die Einstellung der 
Gesamtpersonlichkeit und damit auch die Moglichkeit sicherer klini- 
scher Bewertung. 

Die Frage, ob es sich beim Zuriickbleiben dieser hysterischen Rest- 
zustande nicht um unterbewuBte Hemmungsmechanismen handeln 
konne, mochte ich bestimmt verneinen. Erstens halte ich die Annahme 
unterbewuBter Vorgange, soweit es sich nicht um klare hysterische 
Krankheiten, das heiBt um willensmaBig unerklarbare Dinge handelt* 
fiir eine uberflussige Hilfsvorstellung, nur geeignet, das feste Urteil, 
das wir zur Behandlung und Begutachtung des Hysterikers so not' 
wendig brauchen, zu verwirren. Vor allem aber widerspricht eine solche 
Annahme in unserer Frage der Erfahrung, die wir uns jetzt an den groBen 
Serien der Kriegshysteriker in schlussiger Weise bilden kSnnen. Zeigen 
die Hysteriker, die im letzten Stadium ihrer Behandlung steckenbleiben ^ 
etwa das Bild von Leuten, die ohne ihr bewuBtes Zutun gehemmt sind f 
die um ihre vollige Genesung sich bemiihen und doch nicht mehr vor- 
wartskommen konnen ? Durchaus nicht. Vielmehr beobachten wir^ 
wie sie gleichzeitig mit dem Stillstand des Heilungsvorgangs sich in 
ihrer psychischen Stellung zum Arzt verandem, wie sie uns allmahlich 
miBmutig und verdrossen ansehen, uns ausweichen und eine groBe 
Empfindhchkeit gegen dieselben freundlichen Anleitungen zeigen, die 
sie bisher selbstverstandlich aufnahmen; dieses Stadium ist ofters durch 
gereizte und gekrankte Beteuerungen des ehrlichsten Gesundheits- 
willens gekennzeichnet, die ganz spontan und unmotiviert abgegeben 
werden — ein besonders verdachtiges Symptom. Kurz, das Bild des. 
genesenden Hysterikers, der zuletzt im Gewohnheitsrest steckenbleibt, 
ist nicht das eines Menschen, der nicht kann, sondern ganz klar und ein' 
fach eines solchen, der nicht mehr mit ganzem Herzen will. 

Damit konnen wir uns von der Bestimmung des Rrankheitswertes, 
die uns bisher beschaftigte', der anderen Halfte unseres Problems, der 


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E. Kretschmer: 


Diagnostik des Gesundheitswillens zuwenden, die wir im letzten 
Abschnitt schon beriihrt haben. Der Gesundheitswillen wird teils auf 
direktem Weg aus der Betrachtung des Symptombilds, teils indirekt 
aus den Behandlungsresultaten erschlossen. Wir verstehen unter dem 
Gesundheitswillen die innerliche personliche Stellung des Hysterikers 
zu seiner Krankheit. Wir konnen, ohne auf die bekannten Triebfedem 
einzugehen, die den hysterischen Gesundheitswillen beeinflussen, vier 
Grade desselben unterscheiden. Sicherlich gibt es eine kleine Gruppe 
von Hysterikem mit zugleich gutem und aktivem Gesundheits¬ 
willen, das heiBt von solchen, die die Genesung nicht nur wiinschen, 
sondern ihr auch von selbst willenskraftig zustreben; ich sah er3t neu- 
lich einen solchen, der eine zum zweitenmal im Frontdienst eingetretene 
schwere Armlahmung durch riicksichtslose selbstandige t)bung in drei 
Wochen zur Heilung brachte, um sich sofort wieder zur Front zu melden. 
Viel haufiger ist der gute aber fahrlassige Gesundheitswille, 
der die Genesung zwar fiir wiinschenswert halt, ihr aber nicht mit dem 
lebhaften Instinkt des Vollsinnigen aktiv zustrebt, sondern sich treiben 
laBt und vor kleinen Hindemissen unlustig wird. Der Typus, der uns 
diagnostisch besonders bescbaftigt, ist der fahrlassig schlechte Ge¬ 
sundheitswille; hier wird die Krankheit nicht mehr als Fremdkorper, 
sondern als ein Bestandteil der Personlichkeit empfunden; der Kranke 
fiihlt sich in seiner Krankheit zu Hause und will darin nicht gestort 
werden; die hysterischen Symptome werden vielleicht willensmaBig unter- 
strichen, doch noch nicht gerade mit klarer Absicht ubertrieben und 
vermehrt. Wo eine energische arztliche Behandlung einsetzt, kann das 
einfache Gewahrenlassen der Krankheit in bewuBten Widerstand gegen 
die Genesung, je nachdem in Verbindung mit Vortauschungsversuchen. 
also in den aktiv schlechten Gesundheitswillen iibergehen; viel 
seltener ist die von vomherein planmaBige Vortauschung. 

Die direkte Diagnose des Gesundheitswillens ist gewohnlich nicht 
schwer. Allerdings unter einer Voraussetzung: namlich daB wir vom 
ersten Augenblick an die Seele des diagnostisch zweifelhaften Hysterikers 
als ein subtiles psychiatrisches Objekt betrachten, das um keinen Preis 
in Unordnung gebracht werden darf. Nichts ist vielfach vom Stand- 
punkt des exakten Diagnostikers aus verfehlter, als einem zweifelhaften 
Hysteriker zum Zweck seiner (jberrumpelung ohne sichere Beweise 
gleich zu Anfang ein arztliches MiBtrauensvotum ins Gesicht zu schleu- 
dem; dieser beliebte Uberrumpelungsversuch gelingt meist nicht, wohl 
aber bringt er in dem Patienten einen kraftigen Daueraffekt hervor, 
der uns weiterhin seine psychischen Innenvorgange griindlich verdeckt. 
Ebenso wirkt der kalte inquisitorische Ton, der dem Patienten schon bei 
der ersten Untersuchung sagen soli, daB er dem Arzt nichts vormachen 
kann und die allzu straffe Betonung militarischer Formen. Wo wir 


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Hysterische Erkrankung und hysterische GewOhnung. 


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uns dagegen grundsatzlich bei jedem zweifelhalten Patienten duroh 
freundliche Objektivitat zunachst einen unvoreingenommenen und un- 
getrubten Seelenzustand herstellen, da kdnnen wir ihm mit der experi- 
mentellen Ruhe des Chemikers unser Reage ns, einen sachkundigen, 
freundlichen und nachdriicklichen t)bungsversuch zusetzen. Dabei 
fallen aus der groBen Masse der Hysteriker, die einigermaBen willig 
mitgeht, zwei immer wiederkehrende Typen aus. Der eine ist der 
schwatzhaft-uneinsichtige, der obne unfreundlich zu werden, bald 
die einleuchtendsten und popularsten arztlichen Argumente gelaufig 
iiberhdrt und jeden emsthaften Appell an seinen Willen mit einer Flut 
geschwatziger Klagen und Einwande pariert; der Gesprachston dieser 
Art ist eine betonte treuherzige Biederkeit; dfters ist echte geistige Be- 
schranktheit bei diesem Typus zu finden. Viel haufiger ist es der Aus- 
druck miirrischer Unejirlichkeit, der auf die Diagnose des schlechten 
Gesundheitswillens fiibrt. Die Unfahigkeit des Durchschnittsmenschen, 
geheimgehaltene Affekte wirklich gut zu verbergen, kommt hier be- 
sondera zum Vorschein. Die Patienten dieser Art driicken in ihrem 
auBeren Auftreten wider Willen aus, daB sie in dem Arzt ihren natiir- 
lichen Feind sehen, gegen den sie sich zu wehren und zu verbergen 
haben. Sie zeigen in Gegenwart des Arztes wenig Mienen- und Ge- 
bardenspiel, bringen miirrische, zwar viele, aber karge, trotz ihrer Be- 
tonung unlebendige Klagen; sie driicken sich gern weg, wenn sich der 
Arzt auf der Station zeigt, vor allem aber haben sie einen unfreien 
Blick; dieses bekannto Symptom ist so charakteristisch, daB wir, wenn 
wir uns bei der Besprechung dem Patienten gegeniiber etwas erhbht 
setzen, bei exakter Beobachtung dfters 10 Minuten vmd langer nichts 
von seinen Augen zu sehen bekommen. Dieser Habitus ist, sobald wir 
eine tiefergehende psychopathische Verstimmung durch Vorgeschichte 
und unbemerkte Beobachtung auf der Station ausgeschlossen haben, 
fur schlechten Gesundsheitswillen fast pathognomonisch. Er ist oft 
gleich bei der ersten Untersuchung vorhanden und kann spater durch 
erfolgreiche arzthche Erziehung verschwinden. Oder er kann auch erst 
nach einem kurzen Anlauf scheinbarer WiUigkeit hervortreten. Im 
iibrigen ist es, wie wir schon beim hysterischen Gewohnheitsrest hervor- 
hoben, uberhaupt fiir das Versagen des Gesundheitswillens beweisend, 
wenn wahrend des ruhigen Fortschreitens der Behandlimg beim nicht 
peychotischen Hysteriker unmotiviert Symptome von Empfindlicl^- 
keit imd Verstimmung dem Arzt gegeniiber zum Vorschein kommen. 
In Zweifelsfallen wird zur Klarung der Diagnose, um zufallige falsche 
Einstellungen auszuschlieBen, die Verlegung zu einem andern Arzt 
erforderlich. 

Die angefiihrten psychischen Symptomgruppen des schwatzhaften 
Vorbeihdrens, der miirrischen Unfreiheit vmd der motivlosen 

Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XXXVII. 6 


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E. Kretschmer: 


Empfindlichkeit (sie liefien sich wohl noch vermehren) sind fur die 
Diagnose ,,schlechter Gesundheitswille“ um so beweisender, als sie sich. 
oft schon bald mit Symptomen des aktiv schlechten GesundheitswiUens: 
heimlichen groben Unterlassungen in der anbefohlenen Therapie, Un- 
botmaBigkeiten bei der t)bung, Beschwerden iiber MiBhandlung, Auf- 
hetzung der Kameraden kombinieren. Man wird nicht einwenden 
wollen, da8 das Dinge seien, die in der ,,hysterischen Psyche“ liegen 
und die der Arzt als krankhaft mit hinnehmen miisse. Dieses Vorurteil, 
noch mehr die bloBe Angstlichkeit, am Ende doch einem wirklich 
Kranken unrecht zu tun, hat mit die Hauptschuld daran, daB wir so 
selten in Krankenblattem und auch in Gutachten ein prazises, mit 
Griinden gestiitztes Urteil iiber den Grad des GesundheitswiUens finden. 
Dieser wunde Punkt, die aUzu lange fortgefiihrte Unschlussigkeit der 
Arztewelt dariiber, was wir beim Durchschnittshysteriker nach aUge- 
meiner Ubereinkunft noch als krankhaft, was als verantwortlichen 
Willensvorgang gelten lassen woUen, kommt in der Frage des Gesund- 
heitswillens geradeso storend, wie in der Frage des Krankheitswertes 
zum Vorschein. Je mehr wir durch den Krieg Uberblick iiber groBe 
Serien von Hysterikem und Ubung in ihrer Behandlung bekommen, 
desto sicherer konnen wir sagen, daB die Gelegenheitshysteriker (im 
Gegensatz zu dem psychisch schwer miBbildeten Entartungshysteriker), 
die uns in der Militar- und Unfalltatigkeit fast ausschlieBlich beschaf- 
tigen, zwar vielfach Leute sind, denen der aktiv gute Gesundheits- 
MUe fehlt, die oft versteckte Charakterschwache und vielerlei klei- 
nere personliche Unzulanglichkeiten bieten; aber doch andererseits 
wieder Leute, die sich der Mehrzahl nach vom Arzt, bald zogemd, 
bald willig auf den Weg zur Heilung schlieBlich mitnehmen lassen. 
Nur der kleinere Teil zeigt die oben besprochenen groben Abweichungen 
des Affektausdrucks und der Handlungsweise. Und wenn wir nun die 
psychischen Eigentiimlichkeiten dieser kleineren Gruppe, der Schwatz- 
haften, der Unfreien, der Empfindlichen usw., die wir mit einer sorg- 
faltigen psychiatrischen Analyse aus reinem Hysterikermaterial ge- 
winnen konnen, kritisch betrachten, so entdecken wir, daB sie nun 
eben gar nichts Psychiatrisches an sich haben. Sind das nicht ganz die- 
selben seelischen Bilder, die nach dem Volksmund ein schlechtes Ge- 
wissen verraten, von denen jeder erfahrene Richter oder Schulvorstand 
weiB, daB sie die auBeren Spuren sind, wo der bewuBte WiUe keine 
geraden Wege geht? Wo wir aber die physiologischen auBeren Sym- 
ptome haben, da miissen wir auch annehmen, daB ihnen die physiolo¬ 
gischen Affekt- und Willensvorgange im Innern entsprechen. Wer be- 
haupten wollte, daB bei psychischen Bildem dieser Art noch unter- 
bcwuBte Vorgange, Hemmungen und Sperrungen, kurz etwas hysterisch 
Krankhaftes vorlage, der wiirde seine Ansicht erst zu beweisen haben. 


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Hysterische Erkr&nkung and hysterische Gewbhnung. 


83 


Die indirekte Diagnostik des Gesundheitswillens aus dem 
Behandlungsresultat, wie sie aus der direkten Diagnostik sich ableitet, 
kann der Natur der Sache nach nur auf die hysterischen GewOhnungen 
Anwendung finden. Es liegt auf der Hand, daB es Fall 3 hysterischer 
Krankheit, z. B. schwere Lahmungen geben wird, die auch bei ehrlicher 
WiUensanstrengung des Patienten einmal nicht heilen, eben weil der 
direkte Konnex mit der Willenssphare fehlt, ur.d der Suggestiverfolg 
nicht in der Hand des Patienten liegt; dies wird auch durch die Er- 
fahrung bestatigt, wenn auch die Mehrzahl der HeilungsmiBerfolge 
bei kranken Hysterikem (nach sachkundiger Behandlung eventuell 
durch verschiedene Arzte) auf Rechnung des schlechten Gesundheits- 
willens zu setzen ist; die schweren, rein psychiatrisch zu wertenden 
Entartungshysterien schlieBen wir immer aus unserer Betrachtung 
aus. Man wird also die Tatsache, daB eine hysterische Erkrankung nicht 
heilt, niemals fur sich als Beweis schlechten Gesundheitswillens be- 
trachten diirfen. t)berhaupt hat die Diagnose des Gesundheitswillens 
gegeniiber hysterischen Erkrankungen, mit Ausnahme vielleicht des 
groben aktiven Widerstands gegen die Behandlung, praktisch ein ge- 
ringeres Interesse, weil hysterische Erkrankungen eben nun echte, 
zweifelsfreie Krankheiten und damit eo ipso rentonbediirftig sind. 

Ganz anders die hysterischen Gewohnungen. Hier lassen sich aller- 
dings nur die Resultate der (Jbungstherapie mit voller Sicherheit ver- 
werten, weil kraftige SuggestivmaBnahmen auch einmal einen Schlecht- 
willigen mitreiBen, andererseits einen Willigen kalt lassen konnen. 
Durch den als wissenschaftliches Experiment im groBen an Hunderten 
von Gewohnheitshysterikem durchgefuhrten t)bungsversuch bekom- 
men wir unter diesen folgende Gruppen, fiir deren erste ich ein charakte- 
ristisches Beispiel aus meinem Krankenmaterial gebe. 

Unteroffizier S., nerv6s erregbar, sehr freundlicher, offener Charakter, 
lag seit 12 Monaten ganz angebessert in verachiedenen Lazaretten. Er hatte 
im Februar 1916 sich eine akute Ischias des rechten Beines zugezogen, die nach 
den Krankenblattem schon seit Monaten der Hysterie Platz gemacht hatte, 
und konnte seither nur wenige Schritte mehr am Stock gehen. Er schleppte das 
rechte Bein, das er in alien Gelenken steif hielt, in Strcckstellung nach und trat 
nur mit der Ferse auf, weil ihm Beriihrung des VorfuBes Schmerzen machte. 
Kribbeln im ganzen Korper, Erregbarkeit, Zittem, Schlafstorung, Schwindelanfalle, 
vdllige Arbeitsunfahigkeit. — Befund: Keine Ischiassymptome mehr, Hypalgesie 
des ganzen rechten Beins mit AusschluB der vordercn FuBsohle. — Behandlung: 
Pat. wird aufgeklart, daB es sich nur um eine zuruckgebliebene Gewohnung handle, 
und in einer Sitzung von etwa 10 Minuten iiber jede Einzclheit der FuB- und Bein- 
bewegung beim normalen Gehakt unter Demonstration und Mitubung genau 
belehrt. Er iibt selbstandig weiter. Am ubemaehsten Tag war der Gang im Zimmer 
normal; nach 8—10 Tagen waren die Schmerzen in der FuBsohle verschwunden. 
Nach wenigen Wochen machte er mehrstundige FuBmarsche; die nervosen All- 
gemeinbeschwerden waren bis auf einen Rest von Schlafstdrung verschwunden. 
Pat. war sehr vergniigt und dankbar. So ist es auch geblieben. 

6 * 


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E. Kretschmer: 


Eine Suggestivheilung kommt hier nicht in Frage. Der Patient 
war bei seiner Ankunft psychisch herabgestimmt und setzte aui den 
neuen Behandlungsversuch begreiflicherweise keine Hoffnung auf Hei- 
lung mehr. Er war mit zwei ahnlichen Zimmerkameraden zusammen. 
Bei der Behandlung wurde jede suggestive Aufmachung vermieden 
und nach der erstcn Sitzung die Einubung im wesentlichen dem Pa- 
tienten selbst iiberlassen. 

Die Gruppe, die durch diesen Fall reprasentiert ist, konnen wir als 
hysterische Gewohnung infolge Urteilsfehlers bezeichnen. 
Der Gesundheitswille ist gut. Ein etwas hypochondrisch veranlagter 
Neuropath kommt lediglich durch die Selbsttauschung, immer noch 
an Ischias zu leiden, zu einer schweren Dysbasie mit groben, hysterischen 
Sensibilitatsstdrungen, einer Dysbasie, die sich durch viele Monate 
unverandert halt, sein psychisches Wohlbefinden aufs schwerste beein- 
trachtigt und seine Arbeitsfahigkeit aufhebt. Im 12. Monat nach der 
Erkrankung heilen die motorischen und sensiblen Storungen mvihe- 
los nach einmahger griindlichster Aufklarung und Anleitung in wenigen 
Tagen. Die AuBerung des Patienten nach der Heilung: „Wenn man 
mir das vorher gesagt hatte, hatte ich schon lange gesund sein kdnnen“, 
trifft den wirklichen Sachverhalt. Falle dieser Art (sie sind nicht iso- 
liert) sind fur die wissenschaftliche und praktische Beurteilung der 
hysterischen Gewdhnungen von grundsatzlicher Bedeutung. Einmal 
beweisen sie den tiefen nosologischen Unterschied zwischen Gewohnung 
und Erkrankung; bei einem Schiitteltremor, bei einer schlaffen Lahmung 
werden wir niemals durch einfache Belehrung, sondem immer nur 
durch kraftige Suggestion oder durch intensivste Willensanspannung 
therapeutisch zum Ziel kommen. Sie beweisen bundig, daB bei der 
hysterischen Gewdhnung an und fiir sich weder tiefere neurologische 
Betriebsstdrungen noch ratselhafte Seelenvorgange im Spiel sind. Die 
reine, von seiten des Gesundheitswillens ungetriibte hyste¬ 
rische Gewohnung stellt sich dar als eine durch Urteilsfehler 
hervorgerufene und durch Einubung gefestigte falsche Ein- 
stellung des Willens (Motilitatsstorung) und der Aufmerk- 
samkeit (Sensibilitatsstorung) bewuBter Art, also als ein 
psychophysischer Vorgang, der mit entsprechenden physiologischen 
Gewdhnungen (ich erinnere an unser Beispiel von der Schiefhaltung 
des Schulkindes) alle wesenthchen Merkmale gemeinsam hat. Ware 
dem nicht so, dann ware die Beseitigung auf dem einfachsten physiolo¬ 
gischen Wege undenkbar. — Der kleine Rest, der aus dem Rahmen 
der physiologischen Gewdhnung herausfallt, sind die leichten konstitu- 
tionellen Minderwertigkeiten des Neuropathen: der Mangel an dem 
robusten Instinkt, der beim Gesunden nachhaltige Tauschungen iiber 
das eigene korperliche Befinden verhindert, und die bekannten Labili- 


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Hysterische Erkrankung and hysterische GewOhnang. 85 

taten der sensiblen und motorischen Innervation, vermdge deren die 
eigentliche Gewdhnung mit Hypalgeeien, affektiv ausgeldstem Muskel- 
zittem n. dgl. iiberlagert werden kann, also mit Dingen, die wir auch 
sonst beim Neuropathen unter Alltagsreizen hundertfach beo bach ten, 
ohne ihn deshalb „krank“ zu heiBen. 

Die auffallenden therapeutischen Erfahrungen, die wir an dieser 
Gruppe der reinen, durch Urteilsfehler bedingten hysterischen Gewbh- 
nungen machen, fiihren nun alsbald zu der Frage: weshalb heilen 
nicht alle hysterischen GewOhnungen bei derselben Behandlung so 
glatt wie jene aus ? Allerdings heilen die meisten Falle bei einfacher 
Ubungstherapie, nur gerade nicht immer so rasch und so vollstandig. 
Wir brauchen langere geduldige Anleitung, Ofters ein energisches An- 
treiben, es mischen sich kleine Stockungen und Verstimmungen ein, 
wir sehen kein lebendiges, freudiges Interesse, kein selbstandiges Vor- 
anarbeiten, kurz wir finden diejenigen Symptome, die fiir den fahr- 
lassig guten oder auch fiir den fahrlassig schlechten, aber noch erzieh- 
baren Gesundheitswillen charakteristisch sind. Diese Gruppe umfaBt 
den groBen Hauptteil aller hysterischen GewOhnungen. Wir bringen 
sie endlich zu einer vollstandigen, oder doch zu einer praktisch ge- 
niigenden Heilung; gerade von diesen Patienten werden am SchluB 
gem kleine Gewohnheitsreste: leichtes Hinken bei quantitativ tadel- 
loser Gehfahigkeit oder auch nur eigensinnige subjektive Klagen bei 
objektiv feststellbarem Wohlbefinden hartnackig festgehalten, durch 
die sie aber in Berufsarbeit und LebensgenuB objektiv nicht emsthch 
behindert sind. 

Halten wir fest: der iiberwiegende Teil der Gewohnheitshysteriker 
heilt nach unsem Erfahrungen ohne speziellen therapeutischen Apparat 
einfach durch Erziehung und t)bung, genau entsprechend der Erlemung 
einer kbrperlichen Kunst im gewohnlichen Leben, auf dem physiolo- 
gischen Willenswege. Wir beschranken uns auch bei dieser Frage auf 
die Gelegenheitshysterien, die auf der Grundlage leichterer psycho- 
pathischer Minderwertigkeit erwachsen, also unter AusschluB der er- 
heblich Schwachsinnigen, der schweren Entartungshysteriker und 
Psychotischen, deren Gewbhnungen nicht als solche, sondem als 
psychiatrische Teilsymptome zu werten sind. Wie aber stellen wir 
uns zu dem therapeutischen Rest von Gewohnheitshysterikem, der 
nach Heilung der groBen Masse und nach Abzug der psychisch Gescha- 
digten ungeheilt auf unserer Abteilung zuruckbleibt ? Sie zeigen psychia- 
trisch dieselbe Konstitution, sie zeigen genau denselben neurologischen 
Refund wie jene Geheilten, sie wuiden genau mit derselben freundlichen 
Geduld und nachdriicklichen Energie angeleitet. Weshalb also heilen 
sie nicht? Hier ist es an uns, ohne Umschweife den einzig moglichen 
SchluB zu ziehen: hier kann nicht bloB ein hypochondrisch angstlicher. 


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E. Kretschmer: 


hier kann nicht blofi ein fahrlassiger, hier muB vielmehr ein direkt und 
bewuBt schlechter Gesundheitswide vorliegen (schlechter Gesundheits¬ 
wide ist iibrigens nicht mit schlechten Motiven identisch). Wenn wir 
wirklich gewissenhaft alle therapeutischen Moglichkeiten, eventuell 
unter Arztwechsel und Wechsel der Behandlungsmethode, erschbpft 
haben, dann triigt uns dieser SchluB nicht. Denn die Leute, die auf 
diese Weise ubrigbleiben, sind dieselben, die auch die direkten Sym- 
ptome des schlechten Gesundheitswillens darbieten. Es darf nicht 
irremachen, daB auch von dieser Gruppe noch ein einzelner einmal 
unter kraftiger Massensuggestion und daB natiirlich mancher durch 
Hinfall der Ursachen seines schlechten Willens nachtraglich doch noch 
heilt. Es geniigt die Feststellung, daB der Patient zu der Zeit, als er 
in unserer Behandlung stand, einen nachweisbar schlechten Gesund- 
heitswillen hatte. Denn dies ist klar: es gibt eine Grenze, wo das 
Recht des Hysterikers, speziell des Gewohnheitshysterikers, auf Be¬ 
handlung ein Ende findet. Nicht jeder Dysbatiker, dem der schlechte 
Wille auf der Stim geschrieben steht, kann verlangen, daB sich die 
ersten facharztlichen Autoritaten um ihn bemiihen, oder daB der Arzt, 
dem er zwei Monate lang die dargebotene Hand ausschlug, ihn unter 
Aufbietung eines betrachtlichen Bruchteils seiner Zeit in vier Monaten 
doch noch zur Heilung bringt. 

Wir formuderen also unsere Diagnose so: wo sich bei einer hy- 
sterischen Gewohnung in gciibter facharztlicher Behand¬ 
lung mit den direkten psychologischen Ausdrucksformen 
mangelhafter Willens- und Gewissensechtheit die Unheil- 
barkeit verbindet, da ist das prazise Urteil: „hysterische 
Gewohnung mit schlechtem Geaundheitswille n“ auszu- 
sprechen. Diesen Begriff der hysterischen Gewohnung mit schlechtem 
Gesundheitswillen brauchen wir, um das zu Beginn gestellte Problem 
einer brauchbaren Differentialdiagnostik zwischen Hysterie und Si¬ 
mulation und die daran hangenden wichtigen sozialmedizinischen 
Fragen befriedigend losen zu konnen. 

Die praktische Frage, auf die sich unsere Untersuchung zuspitzt, 
ist die: sollen war nach altem Herkommen fortfahren, die Gruppe hy- 
sterischer Stbrungen, die wir soeben als hysterische Gewohnungen ab- 
gegrenzt haben, in der Rentenbegutachtung als Krankheiten zu disku- 
tieren ? Sollen wir den leicht psychopathisch veranlagten Menschen, 
die ihre Trager sind, diese Dinge, die aus ihrem bewuBten Widen ent- 
springen, die sich in den Ausdrucksformen des Willensbereichs bewegen 
und vor adem deren Beseitigung nur eine Widensfrage ist, soden wir 
ihnen diese Dinge als Krankheit anrechnen? Allerdings werden auch 
heute schon die hysterischen Gewohnungen nicht einheitdch gewertet.. 


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Hysterische Erkrankung und hysterische GewOhnung. 


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sie werden nicht alle und nicht von aUen Arzten als voile Krankheit 
behandelt. Aber eben in dieser mangelnden Einheitlichkeit liegt die 
Unmoglichkeit des jetzigen Zustandes. Bei gleichem Untersuchungs- 
befund erklart der eine Arzt: Hysterie ist eine Krankheit, sie hat als 
Krankheit dieselben Rentenanspriiche wie jede andere, der zweite 
Arzt macht an dieser Rente einen Abstrich, den er padagogisch begriin- 
det und gefiihlsmaBig abschatzt, wahrend der dritte sich auf den Stand- 
punkt stellt: ich finde nicht geniigend objektive Svmptome, der Mann 
aggraviert, er ist strafbar und nicht rentenberechtigt. Dieser Zustand 
der Desorganisation hat sich dadurch sehr entschieden gebessert, 
daB die Mehrzahl der Nervenarzte iibereingekommen ist, Hysterikem 
grundsatzlich niedere Renten zu geben und diese, wenn das Gesetz es 
zulaBt, womoglich in Kapitalabfindung zu vervvandeln. Ist aber durch 
diesen KoruprorrpB, wenn er sich durchsetzt, eine Lage geschaffen, bei 
der wir uns vollstandig beruhigen konnen ? Ist dadurch der Hysterisie- 
rung weiter Volksteile, der Massenerziehung zur Begehrlichkeit, Willens¬ 
schwache und Vortauschung sicher vorgebeugt? Diese Sicherheit fehlt 
so lange, als es iiberhaupt der Willensschwache und der Vortauschung 
noch in groBerem Umfang moglich ist, unter der Flagge der Krankheit 
zu segeln. Solange es auch Hysterikern notorisch zweifelhaftester Echt- 
heit immer wieder gelingt, nach dem Grundsatz ,,in dubio pro reo“ zu- 
letzt eine Rente von 10—20% zu erhalten, da ward diese kleine Rente 
erfahrungsgemaB gerade geniigen, um ihrer Willensschwache den Kry- 
stallisationspunkt zu geben, sie wird auch in Kapital umgewandelt ge¬ 
rade geniigen, um hundert ahnliche Psychopathen anzulocken und das 
Gemeinwohl um groBe Summon an Geld und Arbeitskraft zu schadigen. 
Und nach dieser Seite hin ist das ,,dubium %t bei unserer jetzigen Dia- 
gnostik allzu haufig vorhanden. 

Unsere Differentialdiagnostik zwischen Hysterie und Si¬ 
mulation ist unzureichend, weil schon die Fragestellung: Hysterie 
oder Simulation (bzw. Aggravation) verfehlt ist. Die Frage: ist dieser 
Mann hysterisch oder tauscht er vor, kann in dieser Form an sich schlecht 
gestellt werden, weil Vortauschung ohne Hysterie eben selten ist. Wir 
sollten aber auch iiberhaupt nicht mehr fragen: wie weit 
tauscht dieser Hysteriker seine Symptome vor? sondern: 
wie weit ist dieser Hysteriker fiir seine Symptome mit 
seinem Willen haftbar? Und zwar aus folgenden Grunden. 

Auch wo wir gefiihlsmaBig auf Grand arztlicher Menschenkenntnis 
den gegriindetsten AnlaB zu der Annahme haben, daB ein Hysteriker 
aggraviere oder simuliere, da konnen wir nur dann unser Urteil prak- 
tisch wirklich nutzbar machen, wenn wir aus bestimmten Handlungen 
desselben den exakten Beweis fiir unsere Diagnose fiihren konnen, das 
heiBt nur dann, wenn er sich in seiner Vortauschung grobe BloBen 


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E. Kretschmer: 


gibt. Das tut er aber haufig nicht, ganz abgesehen davon, daB das 
planmaBige Spfiren nach Vortauschungsversuchen mit einer vomehmeren 
Auffassung arztlicher Tatigkeit unvereinbar ist und das notwendige 
Vertrauen zwischen dem Arzt und der Gesamtheit seiner Patienten 
zerstfirt. Selbst wenn es uns einmal gelingt, einen Mann der Temperatur- 
falschung, einer artifiziellen Verletzung, einer vorgetauschten Seh- oder 
Hfirstfirung zu tiberftihren, so haben wir damit nur bewiesen, daB er 
eben diese Einzelheit vorgetauscht hat, nicht daB er genereller Simu¬ 
lant ist; dieserSchluB ware um so unvorsichtiger, als es sich eben meist 
um deuthche Hysteriker handelt, die neben den vorgetauschten auch 
wirkliche Beschwerden haben kfinnen. Dabei sind aber diese groben 
Vortauschungen nicht einmal die sozial gefahrlichen; sie verlocken 
unter gewohnlichen Verhaltnissen meist nur Individuen von stark 
minderwertiger geistiger Struktur zur Nachahmung und sind durch 
arztliche Wachsamkeit und Schulung des Personals aul enge Grenzen 
beschrankt. 

Wie wollen wir aber einem Dysbatiker, solange er nicht plump aus 
derRolle fallt, nachweisen, ob er sich sein Hinken bona fide angewOhnt 
hat, oder ob er es aus Berechnung iibt, beziehungsweise ob ihm aus der 
anfangs mit absichtlicher Willensanspannung produzierten Vortau- 
schung eine leicht geiibte Gewohnheit geworden ist, wie es bei dem 
zur Automatisierung veranlagten Nervensystem des Hysterikers wohl 
haufig vorkommt? Wie wollen wir aus dem Jammem, das ein miB- 
gelaunter alter Bentenhysteriker liber seine VergeBlichkeit, seine 
Kopfschmerzen, seine Schwindelanfalle anhebt, herausfinden, was da¬ 
von auf absichtliche Ubertreibung, was auf physiologische Faulheit 
und Willensschwache, was etwa auf subjektiv ehrhche Hypochondrie 
zurtickgeht ? Man wird mir einwenden, daB wir hier auf die psychische 
Beurteilung der Gesamtpersonlichkeit zurfickgreifen werden, in der 
Art, wie wir es oben bei der Diagnose des Gesundheitswillens ausgeffihrt 
haben. Aber auch dieses Hilfsmittel versagt, wenn wir es dazu ver- 
wenden wollen, die Aggravation und Simulation, das heiBt die absicht¬ 
liche Vortauschung von dem zu sondem, was wir oben als hysterische 
Gewohnung mit schlechtem Gesundheitswillen bezeichnet haben. Der 
Gewohnheitshysteriker, der, sei es aus eigensinniger Willensschwache, 
sei es aus unlauteren Motiven nicht gesund werden will und der Simu¬ 
lant, dem die Vortauschung zu einer hysterischen Gewohnung ge¬ 
worden ist, gehen so flieBend ineinander fiber und sind in ihren psycho- 
logischen Ausdrucksformen so eng verwandt, daB der Versuch, eine 
brauchbare klinische Grenze zwischen ihnen zu ziehen, dauemd hoff- 
nungslos ist. Und hierin, das heiBt in der absoluten Un moglich- 
keit, zwischen der Aggravation und der hysterischen Ge¬ 
wohnung mit schlechtem Gesundheitswillen eine Grenze zu 


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Hysterische Erkranknng und hysterische GewOhnung. 


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ziehen, liegt die grundsatzliche Unhaltbarkeit der Fragestellung: 
Hysterie oder Simulation beschlossen. Der schwere moralische Vorwurf, 
der in der Diagnose der Aggravation, das heiBt der teilweise bewuBten 
Vortauschung liegt, kann jedesmal, wo wir ihn auszusprechen versucht 
sind, auch einen Gewohnheitshysteriker treffen, der mbglicherweise 
ohne geradezu unlautere Motive handelt. Wir kdnnen zwar den schlechten 
Gesundheitswillen diagnostisch fassen, aber meist nicht mit Sicherheit 
die Motive, die sich hinter ihm verbergen. Der gewissenhafte Arzt kann 
zwar 6fters einen Aggravationsverdacht, aber selten die prazise Diagnose 
..Aggravation 41 aussprechen, die praktisch allein von durchgreifendem 
Nutzen ware. So ist er immer wieder zur Kapitulation gegenuber 
Rentensuchem verdammt, deren zweifelhafte moralische Echtheit er 
zwar herausfiihlt, gegen die ihm aber die exakten diagnostischen 
Waffen fehlen. Das ist die Lage, aus der wir mit der Fragestellung: 
Hysterie oder Vortauschung nie herauskommen. Sie ist unserem wissen- 
schaftlichen Bedurfnis wie unserem sozialen Pflichtgefiihl gleich un- 
ertraglich. 

Stellen wir nun die Frage: Wie weit ist der Hysteriker fur seine 
Symptome mit seinem Willen haftbar ? so wird uns zunachst die Tat- 
sache in Erstaunen setzen, daB diese Form der Fragestellung fur alle 
andero Ausdrucksformen der psychopathischen Minderwertigkeit, so- 
weit sie ein soziales Interesse haben, schon langst als selbstverstandlich 
gilt. Wir messen in der gerichtlichen PsychiatrieundinderRenten- 
begutachtung mit zwei verschiedenen MaBen. Weshalb setzen wir einen 
leichten Psychopathen, der einen perversen Trieb oder eine Affektauf- 
wallung nicht mit seinem Willen unterdriickt, ins Gefangnis, wahrend 
wir den leichten Psychopathen, der seine hysterischen Gewbhnungen 
nicht unterdriickt, mit einer Rente belohnen ? Auf beiden Seiten stehen 
dieselben Entschuldigungsgriinde, die sich aus der Schwache des psycho¬ 
pathischen Willens und aus der Starke der abnormen psychopathischen 
Instinkte ergeben; auf beiden Seiten steht gebieterisch die Forderung 
des Selbstschutzes der Gesellschaft gegen iiberwuchemde Schadigungen 
durch den psychopathischen Einzelwillen. Dieser Forderung sind wir 
als forensische Gutachter gegenuber dem kriminell reagierenden Psycho¬ 
pathen willig gefolgt. Soli der hysterisch reagierende Psychopath allein 
das voile Privileg fvir seine unsozialen Instinkte genieBen? 

Dabei ist das Problem auf dem Gebiet der Rentenhysterie viel ein- 
facher. Wir sind nicht zu einer unserem wissenschaftlichen Denken 
widerstrebenden Bestrafung des Psychopathen gezwungen, es handelt 
sich nur darum, daB wir ihn fiir verantwortliche Willensmangel nicht 
geradezu belohnen. Und die Entscheidung der Verantwortlichkeit, 
das heiBt der Grenze, bis zu der der Psychopath fiir seine Storungen 
mit seinem Willen haftet, ist hier leichter, weil wir den flieBenden 


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so 


E. Kretschmer: 


Grenzen, die die psychiatrische Abschatzung psychopathischer Seelen- 
mangel in quantitativer Beziehung notgedrungen hat, in der Mehrzahl 
der Falle die exakten MaBstabe der neurologischen Untersuchung hin- 
zufiigen konnen. Die psychologische Analyse, vor allem aber der Ubungs- 
versuch zeigt, wo wir die Verantwortlichkeitsgrenze zu ziehen haben. 
Fur alle die Storungen, die erfahrungsgemaB stets bei gutem Willen 
des Patienten auf dem Wege physiologischer WiUensiibung heilbar sind, 
also fiir alle hysterischen Gewohnungen, konnen und miissen wir den 
Hysteriker selbst verantwortlich machen. Wenn er aus psychopathischem 
Eigensinn oder aus unlautem Motiven trotz bester Anleitung nicht 
diese Storungen beseitigen will, so wird billigerweise er und nicht die 
Gesellschaft die Folgen zu tragen haben. Die Allgeraeinheit hat ein 
Interesse daran, daB auch die Arbeitskraft des Gewohnheitshysterikers 
mit alien arztlichen Mitteln wieder geweckt und nutzbar gemacht wird, 
sie hat aber kein Interesse daran, wenn dieser Versuch fehlschlagt, den 
schlechten Gesundheitswillen durch Geldgaben noch weiter zur Bliite 
zu bringen. Hier ist der Punkt, wo die Humanitat inhuman wird, wo 
die scheinbare Wohltatigkeit dem schwachen psychopathischen Willen 
seine beste Prothese raubt, namlich den harten Zwang des Lebens- 
kampfes. Aus diesen Erwagungen ergibt sich die praktische Folgerung: 
Die hysterische Gewohnung ist behandlungs-, aber nicht 
rentenbediirftig. 

Sobald wir diesen Grundsatz annehmen, haben wir die Grenze zwi- 
schen Krankheit und Nichtkranklieit dort festgelegt, wo sie wirklich 
ist, namlich nicht zwischen Hysterie und Vortauschung, sondem zwi- 
schen hysterischer Erkrankung und hysterischer Gewohnung. Wenn 
wir den Begriff der hysterischen Gewohnung in unsere Diagnostik 
einfiihren, so haben wir nicht mehr notig, verfangliche moralische 
Werturteile auszusprechen, wo wir eine Rente fiir unberechtigt halten, 
sondem wir konnen mit ruhiger Objektivitat jedem Hysteriker das 
geben, was ihm gebuhrt: dem hysterisch Kranken Behandlung und 
notigenfalls Rente, und dem Gewohnheitshysteriker mit erziehbarem 
Gesundheitswillen Behandlung, wahrend wir die ganze Gruppe, die 
die Gewohnheitshysterie mit schlechtem Gesundheitswillen, die Aggra¬ 
vation und die Simulation umfaBt, nach erfolglosem Behandlungsver- 
such der Erziehung durch den Lebenskampf uberlassen konnen. Die 
Differentialdiagnose zwischen Gewohnung mit schlechtem Gesundheits¬ 
willen und Simulation ist damit ausgeschaltet, weil sie uns unter dem 
Gesichtspunkt der Rentengewahrung nicht mehr interessiert und sonst, 
da Bestrafung des hysterischen Simulanten im allgemeinen nicht in 
Frage kommt, kein emsthaftes praktisches Interesse mehr hat. Wir 
haben an die Stelle eines grundsatzlich unlosbaren diagnostischen 
Problems eine diagnostische Grenzfiihrung gesetzt, die der einzigen 


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Hysterische Erkrankung und hysterische Gewohnung. 


91 


•erkennbaren und einigermaBen scharfen Trennungslinie im Hysterie- 
gebiet entspricht, die Grenze zwischen den willkiirlich erzeugbaren 
Ausdrucksformen und denjenigen, die nachweisbar den Bereich will- 
kiirlicher Innervationsm6glichkeiten iiberschreiten, also zwischen hy- 
sterischer Gewohnung und hysterischer Erkrankung. Die Grenzlinie 
ware damit so weit nach innen geriickt, daB der Versuchung zur Vor- 
tauschung die wesentlichen praktischen Moglichkeiten entzogen waren. 

Damit waren natiirlich nicht alle Schwierigkeiten beseitigt; diese 
liegen vorwiegend auf der psychiatrischen Seite, in der Unmoglichkeit, 
die quantitative Abschatzung seelischer Mangel nach einer exakten Skala 
vorzunehmen. Wir wiirden in manchem Grenzfall, wo eine hysterische 
Gewohnung in Schwachsinn oder in starker nervoser Erregbarkeit all- 
zusehr verankert ist, in dubio pro reo zu entscheiden ha ben. Dies gilt 
insbesondere von den schweren Abasien und den schweren Storungen 
der Rumpfhaltung, die zwar grundsatzlich zu den Gewohnungen ge- 
horen, die aber doch dem psychisch vollwertigeren Hysteriker erfah- 
rungsgemaB auf dieDauer nicht liegen und in ihrer grotesken Beschwer- 
lichkeit deshalb zum groBen Teil ein Reservat der Schw r achsinnigen, 
Entarteten und psychisch Geschadigten sind, wo sie dann mehr als 
psychiatrisches, denn als neurologisches Symptom zu werten sind. Die 
groBe Masse der Gewohnheitshysteriker aber, wie sie einen betracht- 
lichen Teil der neurologischen Rentenbegutachtungsfalle ausmachen, 
sind leichte Psychopathen mit geringem objektivem Korperbefund. Fiir 
diese alle, fiir das Heer der Dysbatiker, der abulisch Muskelschwachen, 
der verstimmten Hypochonder mit ihren objektiv mangelhaft begriin- 
deten korperlichen Allgemeinbeschwerden, gewisser infantiler und 
degenerativer Anfallhysteriker und besonders fiir die vielen Hysteriker, 
wo sich die Arbeitsscheu und Willensschwache an den hysterischen 
Gewohnheitsrest, an alte Zitter- und Ticspuren anheftet, fiir diese 
alle konnte ohne Bedenken eine Einigung dahin angestrebt werden, 
daB wir sie unter dem Namen „hysterische Gewohnungen** aus dem Kreis 
rentenbediirftiger Krankheiten nicht nur subjektiv gefiihlsmaBig in 
vielen Einzelfalien, sondem grundsatzlich ausscheiden. Dies wiirde 
ebenso einer vertieften wissenschafthchen Erkenntnis, wie einem 
dringenden praktischen Bediirfnis entsprechen. 


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Epilepsie und affektive Psychos© nach Himyerletzung. 

Von 

Dr. G. Heilig, 

Stabsarzt d. L. 

(Aus dem Reservelazarett Kosten [Posen].) 

(Eingegangen am 30. Juni 1917.) 

Krankengeschichte. 

J. wurde am 21. X. 1915 durch einen SchrapnellschuB an der linken Kopf- 
seite verwundet. Er wurde in mehreren Lazaretten behandelt, muflte jedoch 
Mitte Juli 1916 in eine Irrenanstalt iiberfiihrt werden, weil bei ihm seelische 
Storungen aufgetreten waren. Von dieser Anstalt wurde J. am 24. X. 1916 in die 
Geisteskrankenabteilung unseres Lazarettes verlegt. Aus den Krankengeschichten 
der anderen Lazarette sind im wesentlichen folgende Angaben iiber den Verlauf 
des Falles zu entnehmen: 

„18 cm lange und 3 cm breite Schadelverletzung im Bereich der linken Schlafe, 
iiber dem linken Ohr verlaufend. Knochen ausgedehnt zertriimmert. Gehim 
quillt hervor. Nach Entfemung mehrerer Knochensplitter allmahliche Heilung 
der Wunde. Eine anfangliche Hemiparese bildet sich aUm&hlich bis auf eine 
Parese des rechten Armes zuriick. 

Am 14. IV. 1916 trat zum erstenmal ein epileptischer Krampfanfall auf, 
dem in der Folgezeit noch mehrfach Schwindelanfalle und auch Krftmpfe folgten. 
Seit Mitte Mai 1916 wurden jedoch die epileptischen Anfalle seltener, und erst 
vom 12. VIII. 1916 an kamen dann in Abstanden von einigen Wochen noch mehr¬ 
fach Anfalle zur Beobachtung.“ 

In der relativ anfallfreien Zeit traten nun psychische Storungen, die friiher 
nie bestanden hatten, auf. Es heiBt dariiber in der beziiglichen Krankengeschichte: 

„Seit Anfang Juli zeigte J. ein verschlossenes, trauriges Wesen. Er wurde 
miBtrauisch gegen seine Kameraden und begann am 7. VII. 1916 plotzlich un- 
ruhig zu werden und die Wahnvorstellung zu auBern, er solle bestraft werden* 
weil er einen Unteroffizier nicht gegriiBt habe. Gleichzeitig gab er an, er habe 
gehort, daB er erschossen werden solle. Seitdem lebhafter, trauriger Affekt, der 
zeitweise zur Verzweiflung mit Weinen und Handeringen sich steigert. Bedroht 
einen Krankenwarter: er werde ihn mit einem Messer kalt machen, wenn er noch 
einmal zu ihm ins Zimmer komme.“ 

Bemerkenswert ist, daB J. am 7. VII. 1916, dem Zeitpunkt, von dem an die 
psychischen Storungen besonders deutlich einsetzten, noch einmal innerhalb der 
oben erwahnten relativ anfallfreien Zeit einen schweren epileptischen Krampf¬ 
anfall hatte. Es heiBt dariiber: 

„Wird morgens laut schluchzend in der Zimmertiir stehend gefunden, wie er 
einem Kameraden vorjammert, er solle bestraft werden, weil er eine Ehrenbezeu- 
gung unterlassen habe. Das Weinen geht in einen krampfhaften Zustand iiber* 
er wird bewuBtlos auf sein Bett getragen und liegt etwa 20 Minuten in Krampfen. 
Zuckungen der Beine und Arme werden beobachtet, besonders nach der linken 


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G. Heilig: Epilepsie und affektive Psychose nach Hirnverletzung. 93 


Seite hin, zuletzt haupts&chlich solche des Kopfes. Das Gesicht verf&rbt sich blau- 
rot, die Z&hne sind krampfhaft aufeinandergepreBt, Pupillen reaktionslos, Puls 
beschleunigt, schuappende Bewegungen des Mundes. Beim Aufwachen aus dem 
Anfall weint und jammert J., er solle totgeschossen werden. Musik, die er von 
ferae hort, bezeichnet er a Is fiir ihn bestimmte Sterbemusik.“ 

Der Zustand ftngstlicher Erregung halt in den folgenden Tagen unverandert 
an. J. ist von dem Gedanken, daB er erschossen werden soil, nicht abzubringen. 
Auch vereinzelte Beziehungsideen werden geauBert. So meint er, daB er von den 
Kameraden miBaehtet und ausgelacht wurde. Am 11. Juli 1910 erfolgte die 
tJberfiihrung des Kranken in die Irrenanstalt. 

Hier ist der Befund in den naohsten Wochen im wesentlichen ganz derselbe: 
Repressive Wahnideen, Beziehungsideen, angstliche Erregung. Anfang August 
scheint eine gewisee Beeserung der psychischen Storung einzusetzen, und am 
12. August 1916 tritt zum erstenmal wieder ein typischer epileptisoher Anfall 
mit tonisch-klonischen Zuckungen auf beiden Korperh&lften und kurzdauemder 
BewuBtlosigkeit auf. Vorher keine Aura. 

Von jetzt an traten die Anfalle wieder entschieden ofter, in Abstanden von 
wenigen Wochen, auf, gleichzeitig aber nahmen die akuten psychischen Sym- 
ptome, insbesondere die angstliche depressive Erregung, an Intensitat ab. An Stelle 
der angstlichen Erregung drangten sich nun andere psychopathologische Symptome 
in den Vordergrund und wurden etwa von Mitte September ab immer deutlicher. 
Der Kranke wurde von Stimmen belastigt, ohne daB er indessen in seinen motori- 
schen AuBerungen und in seinem gesamten Verhalten viel auf diese Stimmen zu 
reagieren schien. Er beschaftigte sich vielmehr und arbeitete ganz fleiBig. 

Am 24. X. 1910 wurde J., wie erwahnt, in unser Lazarett aufgenommen. 
Die hier gefiihrte Krankengeschichte will ich etwas genauer mitteilen: 

GroBer, schlanker Mann in leidlichem Ernahrungszustand. An den inneren 
Organen keine Abweichungen von der Norm. 

t)ber das linke Scheitelbein und die linke Halfte des Stimbeins verlauft an- 
naherad horizontal eine 15 cm lange Weichteilknochennarbe, die in ihrer ungefahr 
mit dem Stephanion zusammenfallenden Mitte einen fast talergroBen Knochen- 
defekt mit Kirnpulsation aufweist. 

Pupillen regelrecht, ebenso Augenhintergrund. 

Deutliche Facialisparese rechts. Zunge weicht nach rechts ab. Die Sprache 
ist etwas schwerf&llig, leicht bradylalisch. 

Die grobe Kraft der rechten Hand ist deutlich herabgesetzt. Besonders be- 
steht die Parese im rechten Zeigefinger. Pat. kann den Federhalter nicht fassen, 
sondem muB mit der linken Hand nachhelfen. Alle feineren Sachen (Streichholz 
anstecken, Anziehen usw.) macht er mit der linken Hand. Er gibt an, daB er 
schon friiher, vor der Verwundung, manches links gemacht habe (Ambidexter?). 

Es besteht eine ausgesprochene stereognostische Storung der rechten Hand. 
Die Sensibilit&t ist im ubrigen normal. 

Bauchdeckenreflexe rechts deutlich schw&cher als links. 

Geringe motorische Schw&che im rechten Bein. Gang rechts leicht paretisch. 
Knieeehnenreflexe etwas gesteigert, rechts vielleicht mehr als links. Kein Babinski. 

Bei seelischer Erregung (z. B. bei der Untersuchung) tritt ein leichtes Zittem 
im ganzen Korper auf, das am deutlichsten an der rechten Hand wahmehmbar ist. 

In psychischer Hinsicht ist Pat. still und in sich gekehrt. Er gibt nur 
langsam Auskunft. Im ubrigen ist zun&chst nichts Auff&lliges an ihm zu bemerken. 
Gelegentlich l&chelt er allerdings eigentiimlich vor sich hin. 

31. X. 1916. Epileptiformer Anfall. Beginn (nach Aussage des Kranken- 
w&rters) mit Deviatio conjug. bulb, et capitis nach rechts (?). Zuerst tonischer, 
dann klonischer Verlauf. Die anfangs auf den Kopf beschr&nkten Kloni greifen 


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G. Heilig: 


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dann auf den ganzen K6rper iiber. Augen weit offen. Tiefe BewuBtlosigkeit. 
Nach dem Anfall geht Urin ab. Dauer des Anfalls fast sieben Minuten. Vorher 
angeblich sensible Aura im Hinterkopf. 

10. XI. 1916. Gibt heute zu, daB er „friiher 44 Akoasmen hatte. Behauptet^ 
jetzt Krankheitseinsicht dafiir zu haben. 

17. XI. 1916. Berichtet, daB er nachts am rechten Bein stark geschwitzt 
habe, am linken nicht. „Ich glaubte, es k&me ein Anfall/ 4 

1st heute wesentlich gesprftchiger als sonst und berichtet iiber Sinnestfiuschun- 
gen. Er hort, daB unter den Kameraden einer ist, der seine Gedanken immer 
nachspricht. WeiB nicht, wer es ist. Der Betreffende spricht, was er, Pat., machen 
will. „Wenn ich etwas machen will, spricht der andere es schon im voraus. 44 AuBer- 
dem lachen die anderen liber ihn. Alles, was die Kameraden sagen, bezieht sich 
auf ihn. Der andere sagt: „Er wird einen Anfall bekommen! 41 und &hnliches. Ala 
er auf der Station oben (im ersten Stock) war, horte er eine Stimme von untenr^ 
„Du bekommst jetzt einen Anfall! 44 Was er selbst nachts getr&umt, das wurde 
am anderen Morgen durchgesprochen, das horte er noch einmal. Die Stimme macht 
ihm auch Vorwiirfe, daB er sich so viel Gedanken macht. Befragt, ob es nicht 
Einbildung sei, antwortet er, er konne es nicht sagen, ob es Wirklichkeit sei. Er 
habe es jedenfalls deutlich gehort, daB iiber ihn gesprochen worden sei. Es war 
wie ein Gespr&ch, das er eben noch verstehen konnte. Auch wenn er sich mit 
einem Kameraden unterh&lt, hort er manchmal die Stimme nebenbei. 

Die Urteilsf&higkeit ist ersichtlich etwas gering. Keine Systematisierung. 
Keine eigentlichen Verfolgungsideen. 

Nachtraglich gibt Pat. noch an, daB er in der Irrenanstalt, in der er sich 
vor der Aufnahme in unser Lazarett befand, durch Landarbeit und Besch&ftigung 
abgelenkt werden konnte, so daB er eine Zeitlang von den Stimmen weniger be- 
l&stigt wurde. Damals bestimmten die Stimmen seine Willenshandlungen. Bei- 
spielsweise forderten sie ihn auf, Beschwerden beim Arzt einzureichen und der- 
gleichen. Er widerstand aber immer noch und unterlieB es, sich zu beschweren, 
auch auf den Rat der Pfleger hin. 

Einmal horte er dort auch die Stimme einer Stationspflegerin aus der Kiiche, 
„er solle einen Anfall bekommen 44 . Femer sagte dieee Stimme, er solle sich be¬ 
schweren, sonst werde er erschossen, und die Kosten, tausend oder dreitausend 
Mark („ich kann mich nicht sicher erinnern, ob tausend oder dreitausend Mark 44 )> 
miis8e sie, die Pflegerin, zur H&lfte mit ihm tragen. 

In jener Anstalt hat auBerdem ein alter Patient, der an Anf&llen litt, alle 
seine Gedanken im voraus gewuBt und hat iiber ihn gelacht. Bei dieser Angabe 
zeigt Pat. etwas Affekt; er macht Affektbewegungen mit der rechten Hand. 

Im allgemeinen waren die Stimmen beeintr&chtigenden, fur den Pat. ungiin- 
stigen Inhalts. 

Besonders hervorzuheben ist, daB alle psychischen Storungen erst nach der 
Verwundung auftraten. 

18. XI. 1916. Gegen Abend epileptiformer Anfall. Kloni, zuckende Dreh- 
bewegungen des Kopfes und Korpers herdwArts, nach links. Maximal weite, 
lichtstarre Pupillen. Nachher Strecktonus. Dauer des Anfalls zwei bis drei Minuten. 

30. XI. 1916. Pat. wird als dienstunbrauchbar nach Hause entlassen. 

Epikrise. 

Vergegenwartigen wir uns noch einmal in Kiirze den Verlauf des 
hier mitgeteilten Falles. Es handelt sich um einen Menschen, der fruher 
nie emsthafte Krankheiten durchgemacht und insbesondere nie an 


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Epilepsie und affektive Psychose nach Him verletzung. 


95 


ciner geistigen Storung gelitten hat. Im Oktober 1915 erleidet er eine 
Verletzung der linken Himhemisphare mit davon abhangiger rechts- 
seitiger Hemiparese. Mitte April 1916 tritt ein ereter epileptischer An- 
fall auf, dem weitere Anfalle folgen. Die Anfalle werden dann seltener. 
Anfang Juli 1916 machen sich die ersten paychischen Storungen be- 
merkbar, die sich im AnschluB an einen noch einmal am 7. Juli 1916 
auftretenden Anfall zu einem achweren angstlichen Erregungazuatand 
auswachaen. Dieae Erregung klingt bia gegen Anfang Auguat 1916 
allmahlich ab, dafiirtreten aber Gehorshalluzinationen auf. Am 12.VIII. 
1916 wird der Kranke dann zum erstenmal wieder von einem Anfall 
betroffen, dem weiterhin noch andere folgen. 

Wir haben ea also hier zu tun mit einer Verkntlpfung von epilep- 
tischen Anfallen und psychischen Storungen, beide entstanden im An¬ 
schluB an eine Verletzung des linken GroBhima, und zwar in der Gegend 
der Zentralwindungen und des Schlafenlappens. Auf Grund dieses 
Sachverhalts werden wir uns eine doppelte Frage vorzulegen haben, 
einmal die Frage nach etwaigen ursachlichen Beziehungen der Ver¬ 
letzung zu dem epileptischen Zustandsbild einerseits und zu den psycho- 
tischen Storungen andererseits und zweitens die Frage nach derMoglich- 
keit eines kausalen Zusammenhangs zwischen diesen beiden Sympto- 
mengruppen aelbst, der Epilepsie und der Psychose. 

Ehe wir an den Versuch einer Losung dieaer Fragen herangehen, 
wollen wir die genannten Symptomengruppen im einzelnen genauer 
betrachten. Was zunachst die epileptischen Anfalle betrifft, so war 
ihr Verlauf jedesmal ein ganz typischer, das heiBt, ein solcher Anfall 
war von einem genuin-epileptischen nicht zu unterscheiden. Niemais 
wurde ein Beginn der Zuckungen in einer umschriebenen Muskelgruppe 
mit weiterem Fortschreiten auf andere Abschnitte der Korpermuskulatur 
entsprechend der anatomischen Verteilung der Bewegungszentren in der 
GroBhimrinde (Jackson-Typus) beobachtet. Das einzige bemerkena- 
werte Moment, das in dieser Hinsicht gelegentlich zutage trat, waren 
zuckende Drehbewegungen des Kopfes und Korpers nach der linken 
Seite, also nach der Seite der Himverletzung hin. 

Die Psychose gliedert sich sehr deutlich in drei Abschnitte. Sie be- 
gann mit anfangs nicht sehr ausgesprochenen, aber nach wenigen Tagen 
schon deutlicher werdenden Prodromalsymptomen in den ersten Tagen 
des Juli 1916. Der Kranke wurde verschlossen, traurig und miBtrauisch. 
Es war also eine affektive Storung in der Art, wie wir sie etwa im Be¬ 
ginn einer Melancholie haufig zu beobachten Gelegenheit haben. Ab- 
gesehen von dem lebhaften depressiven Affekt tauchten vereinzelte 
Wahnvorstellungen, vorzugsweise solche des Verfolgungswahns, auf* 
An dieaen nur iiber wenige Tage sich erstreckenden Abschnitt der 
Psychose schloB sich ein langdauemder Zustand schwerer paycho- 


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96 


G. Heiiig: 


tischer Erregung an, der durch einen neuen epileptischen Anfall ein- 
geleitet wurde. Es ware jedoch sicher nicht richtig, diesen Zustand 
ohne weiteres aus dem schweren Anfall am 7. Juli 1916 heraus veretehn 
zu wollen, etwa im Sinne eines postepileptischen Dammerzu&tandes. 
Denn die genauere Beobachtung hatte ergeben, daB vielmehr der 
schwere psychische Erregungszustand schon kurz vor Auftreten des 
Anfalls eingesetzt hatte. (Vgl. die obige Krankengeschichte.) Die 
angstliche Erregung steigerte sich immer mehr und ging direkt in den 
epileptischen Anfall fiber. Nach Ablauf des auffallend lange (etwa 
zwanzig Minuten) dauemden Anfalls hielten sich dann die psychischen 
Storungen in der Folgezeit fast unverandert auf der Hohe. Es handelte 
sich in dieser Zeit vorzugsweise um angstliche motorische Erregung und 
fortwahrendes Jammem. Der Kranke auBerte zahlreiche depressive 
Wahn- und Beziehungsideen und bot geradezu das Bild einer soge- 
nannten Angstpsychose (Wernicke). Sinnestauschungen waren in 
dieser Zeit nicht nachzuweisen. Die Art, wie der epileptische Anfall 
aus einer schweren affektiven Erregung heraus erwuchs, erinnert sehr 
lebhaft an die sogenannte Affektepilepsie. Bemerkenswert war auch 
die unverhaltnismaBig lange Dauer des Anfalls und sein gleichmaBiges, 
wenn auch ziemUch plotzliches t)bergehen in den gleichen angstlichen 
Erregungszustand, aus dem er erwachsen war. In diesen Beziehungen 
weicht dieser Anfall entschieden von den vorher und nachher beobach- 
teten ab, die, wie schon hervorgChoben wurde, sich im wesentlichen 
nicht von einem genuin-epileptischen unterschieden. Der zweite Ab- 
schnitt der Psychose zeichnet sich endlich noch dadurch aus, daB in 
ihm weiterhin keine epileptischen Anfalle beobachtet wurden. Anfang 
August 1916 ging dieser Abschnitt allmahlich in den dritten und letzten 
fiber. Er war dadurch gekennzeichnet, daB die schweren psychischen 
Storungen, insbesondere die angstliche Erregung, mehr und mehr 
zurficktraten und schlieBlich ganz verschwanden. Statt dessen stellten 
sich aber Gehorshalluzinationen ein, und zwar im wesentlichen solche 
anklagenden Inhalts, also im Sinne der vorher abgelaufenen angst¬ 
lichen, depressiven Erregung. Die Wahnideen, die Verfolgungsvor- 
stellungen traten jedoch mehr und mehr zurfick. In diesem dritten 
Abschnitt der Psychose stellten sich auch wieder die epileptischen 
Anfalle ein, und zwar zuerst am 12. August 1916. Sie schienen die Ten- 
denz zu einem allmahlichen Anwachsen ihrer Haufigkeit zu haben. 
Die Akoasmen des Kranken waren durch gewisse Eigenttimlichkeiten 
ausgezeichnet. Auf ihren vorzugsweise anklagenden, ffir den Kranken 
ungunstigen Inhalt wurde schon hingewiesen. Sie trugen ffir den Kran¬ 
ken das Geprage der Realitat. Trotzdem aber — und dies erscheint 
wichtig — bestand eine ziemlich ausgesprochene Krankheitseinsicht. 
Diese Krankheitseinsicht ging so weit, daB der Kranke auf Befragen 


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Epilepsie und affektive Psychose nach Hirnverletzung. 


97 


gelegentlich sogar daran zweifelte, ob die Stimmen Wirklichkeit seien. 
DaB sie Einbildung seien, bestritt er indessen ganz entschieden. In 
diesen Beziehungen erinnerten die Stimmen kliniech an gewisse Pseudo- 
halluzinationen, wie sie bei manchen zum manisch-depressiven Irre- 
sein gehorigen Zustandsbildern bisweilen beobachtet werden. 

Was nun die Genese des ganzen Krankheitsbildes betrifft, so werden 
die epileptischen Anfalle wohl fraglos als eine Folge der Gehimverletzung, 
beziehungsweise der auf sie folgenden Narbenbildung im Gehim, anzu- 
sehen sein. Derartige Beobachtungen sind ja im Kriege auBerordentlich 
haufig gemacht worden. Nach meiner Erfahrung sind sogar diejenigen 
Formen traumatischer Epilepsie, die das Geprage der genuinen tragen, 
haufiger als die Falle von Rindenepilepsie (Jackson-Typus). Eine ge¬ 
wisse Beziehung der Anfalle zu dem Orte der Verletzung scheint aller- 
dings in unserem Fall, wie schon hervorgehoben wurde, insofem vorzu- 
liegen, als gelegentlich die im ganzen Korper und besonders im Kopf 
auftretenden KJoni nach dem Gehimherd hin gerichtet waren, also 
eine zeitweise Ausschaltung odcr wenigstens Hemmung des linkshimigen 
Zentrums fur die kontralaterale Korper- und Kopfmuskulatur und ein 
dadurch bedingtes Cberwiegen des rechtshimigen Antagonistenzen- 
trums angenommen werden muBte. Nicht unwesentlich fur das Ver¬ 
st andnis des Auftretens epileptischer Anfalle bei unserem Verwundeten 
— und zwar gerade des Auftretens solcher Anfalle, die ganz uberwiegend 
den Charakter genuin-epileptischer, tpugen, — erscheint mir der Umstand, 
daB der Patient nach seinen eigenen bestimmten Angaben schon vor 
seiner Verwundung und vor der dadurch.bedingten maBigen Lahmung 
der rechten Hand viele Hantierungen mit der linken Hand vemchtete, 
daB also bei ihm, wenn auch keine ausgesprochene Linkshandigkeit, 
so doch sicher ein gewisser Grad von Ambidextrie bestand. Bekanntlich 
haben neuere Untersuchungen ergeben, daB zwischen Linkshandigkeit 
(besonders auch Linkshandigkeit in der Blutsverwandtschaft) und 
genuiner Epilepsie gewisse atiologische Beziehungen bestehn 1 ). Fiir 
diese Auffassung scheint auch unser Fall zu sprechen. Er ware in dieser 
Hinsicht dann so zu verstehen, daB eine Disposition zur Erkrankung 
an epileptischen Anfallen schon vor der Verwundung vorlag und in 
einer Neigung zur Linkshandigkeit einen gewissen auBeren Ausdruck 
fand, daB aber erst die Narbenbildung nach der Him verletzung die 
epileptischen Anfalle bei einem dazu disponierten Individuum unmittel- 
bar verursachte. 

Schwieriger als die Beantwortung der Frage nach der Entstehung der 
Anfalle ist der Nachweis eines ursachlichen Zusammenhanges und vor 
allem der Art eines solchen Zusammenhanges zwischen der Verletzung 

J ) G. Heilig und G. Steiner, Zur Kenntnis der Entstehungsbedingungen 
der genuinen Epilepsie. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 9, 633. 1912. 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVII. 7 


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98 


G. Heilig: 


und der Psychose. Per Umstand, daB der Kranke friiher, vor der Ver¬ 
letzung, nie an geistigen Storungen gelitten hatte, und femer das Auf- 
treten der seelischen Storungen im Zusammenhang mit all den anderen 
krankhaften Erscheinungen, die sich auf dem Boden der Himverletzung 
entwickelten, spricht jedoch sehr dafiir, daB auch die Psychose als 
solche letzten Endes auf die Himverletzung zuriickzufuhren ist. Wenn 
man die Gegend der Verletzung beriicksichtigt, so liegt, da ja das 
Schlafenhim sicher in Mitleidenschaft gezogen war, die Moglichkeit 
nicht allzu fern, daB im Verlauf des Heilprozesses der Wunde imd der 
Bildung der Himnarbe Reizungsvorgange im Bereich der Horsphare 
sich abspielten. Hierauf konnten dann die Sinnestauschungen auf dem 
Gebiete des Horsinnes bezogen werden. Diese Erklarung scheint mir 
an Wahrscheinlichkeit zu gewinnen im Hinblick auf den eigenttim- 
lichen Charakter der Sinnestauschungen. Bei den Gehorshalluzinationen, 
wie wir sie sonst im Verlauf von Geistesstbrungen beobachten, fehlt 
ja ftir gewohnlich jede Krankheitseinsicht. Die Sinnestauschungen er- 
wachsen so vollkommen aus dem inneren psychischen Leben heraus, 
sie sind so innig verflochten mit der psychischen Gesamtstorung, daB 
eine Kritik ihnen gegeniiber gar nicht aufkommt, ganz abgesehen von 
der machtigen Wirkung des Realitatsgefuhls. Nicht allzu selten ent- 
wickeln sich Sinnestauschungen auch erst nach oder gleichzeitig mit dem 
Auftreten von Wahnideen. Beispielsweise glaubt der Kranke sich ver- 
folgt, und schlieBlich hort er auch die Stimmen seiner Verfolger. In 
unserem Falle aber sehen wir, dafi der Verwundete, wenigstens bis zu 
einem gewissen Grade, doch in den Gehorstauschungen etwas seinem 
psychischen Leben Fremdes empfindet. Man kann aus dicser Tatsache 
schlieBen, daB der Entstehungsort der Akoasmen weniger im Bereich 
der hochsten psychischen Funktionen zu suchen ist, als vielmehr in den. 
Zentren der Himrinde, in denen die Sinnesreize des Gehors sich in Ge- 
horsempfindungen umsetzen, also im Bereich der Horsphare desSchlafen- 
lappens. Dieser Abschnitt der Himrinde aber war, wie wir sahen, 
zweifellos von der Verletzung mit betroffen, beziehungsweise von der 
Narbenbildung in Mitleidenschaft gezogen. 

Wie aber steht es mit den anderen psychopathologischen Erschei¬ 
nungen, die unser Verwundeter bot? Sie bestanden, wie gesagt, im 
wesentlichen in einer depressiven angstlichen Erregung, also in einem 
Krankheitsbild, das unter anderen Umstanden ohne weiteres zu der 
groBen Gruppe des manisch-depressiven Irreseins zu rechnen gewesen 
ware. Unsere Kenntnisse iiber die organischen Grundlagen dieser 
groBen Gruppe von seelischen Storungen sind zwar noch sehr diirftig. 
AuBerordentlich viel Umstande und Beobachtungstatsachen deuten 
jedoch darauf hin, daB eine ganz ausschlaggebende Rolle in der Ent- 
stehung ditser Krankheitsbilder Anderungen in der GefaBversorgung 


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Epilepsio und affektive Psychose nach Himverletzung. 9^ 

des Gehirns, kurz: Zirkulationsstorungen zukommt. Andererseits aber 
liegt es auf der Hand, daB, ebenso wie bei anderen Organen des mensch- 
Uchen Korpers, so auch im Gehim bei der Heilung einer Verletzung und 
der damit verbundenen Narbenbildung Veranderungen und Umwal- 
zungen in der GefaBversorgung sich vollziehen, und mogen diese Ver¬ 
anderungen auch nur lokaler Natur sein, sie werden sich doch immerhin 
bei den Zirkulationsverhaltnissen des Gehirns bemerkbar machen. Es 
sei in diesem Zusammenhang auch auf die Tatsache hingewiesen, daft 
gerade im Anschluft an Gehimverletzungen ganz auffallend haufig 
affektive Storungen zur Beobachtung kommen. Ich selbst habe in 
diesem Kriege bei zahlreichen Gehimverletzten mit Rindenlahmungen 
der verschiedensten Art in einem sehr hohen Prozentsatz der Falle 
affektive Veranderungen feststellen konnen, vor allem eine hochgradige 
Weinerlichkeit, Uberempfindlichkeit, Affektlabilitat vorzugsweise nach 
der depressiven Seite hin usw. 1 ) Im Hinblick auf unsere Anschauungen 
von den organischen Ursachen solcher affektiven Storungen liegt 
die Annahme besonders nahe, auch in diesen Erscheinungen die Folgen 
von Veranderungen der Zirkulation im Gehim, die durch die 
Heilung der Wunde bedingt sind, zu sehen. Nach den hier vorge- 
tragenen Anschauungen erklart sich nun auch bei unserem Falle die 
eigentumliche Vermischung epileptischer mit affektiven Storungen 
ohne Schwierigkeit. Und dies gilt nicht nur von dem gesamten Verlauf, 
den das Krankheitsbild nahm, sondem auch, wie mir scheint, von jenem 
von den ubrigen epileptischen Anfallen des Kranken abweichenden, an 
Affektepilepsie erinnemden Anfall, der das zweite, das Hohestadium 
der Psychose einleitete. 

Falle wie der hier mitgeteilte sind zweifellos selten. Aber nicht 
nur die Seltenheit ist es, die unslnteresse fur sie abnotigt; sie lassen uns 
auch tiefere Einblicke in den Zusammenhang zwischen organischen 
Veranderungen des Gehirns und funktionellen Storungen, funktionellen 
Psychosen tun. Fur die letzteren organische Grundlagen zu finden, ist 
keine ausschlieBliche Aufgabe der Anatomie und Histopathologie des 
Gehirns, auch klinische Beobachtungen und klinische Analyse von 
Krankheit8bildem vermogen ihr Teil dazu beizutragen. 

*) G. Heilig, Kriegsverletzungen des Gehims in ihrer Bedeutung fiir unsere 
Kenntnis von den Himfunktionen. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 33, 433. 
1916. 


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PseudovorsteUung and Pseadohalluzination. 

fleitrag zur Pathopsychologie des GegenstandsbewuBtseins. 

Von 

Dr. A. A. Griinbaum, 

Privatdozent fiir experim. Psychol, an der raed. Fakult&t der Univeralt&t Amsterdam. 

(Eingegangen am 20 . April 1917.) 

Bei Erorterung des Problems: welches sind die wesentlichen psycho- 
logischen Unterschiede zwischen der Wahmehmung und der reprodu- 
zierten Vorstellung?, wird des ofteren auf die Halluzinationen hinge- 
wiesen, d. i. auf reproduzierte Inhalte, welche trotz des groBtenteils 
zentralen Ursprungs, den vollen Wirkhchkeitscharakter der Wahmeh¬ 
mung besitzen. Der entgegengesetzte Fall einer komplizierten Wahr- 
nehmung, die trotz der peripheren und normal-geniigenden Empfindungs- 
komponente uns als eine bloBe und blasse Vorstellung anmutet, ist 
meines Wissens kaum diskutiert worden. 

In der Literatur sind beschrieben einerseits bloBe Lockerungen in 
der Auffassung der auBeren Welt, bei welchen, infolge der Storung der 
nichtsinnlichen BewuBtseinsfunktionen die empfindungsmaBig normal 
vermittelten Eindriicke ihren Sinn als Gegenstande verlieren. In diesen 
Zustanden erlebt man den sinnlichen Eindruck aber immer noch als einen 
auBeren Wahmehmungsgegenstand, der bloB nicht diejenige Bedeutung 
hat, welche ihm auf Grand der Erfahrangs- und Denkzusammenhange 
zukommt. Andererseits kann die Lockerang des GegenstandsbewuBtseins 
auch so weit gehen, daB, wie manche Psychologen berichten konnen, 
der sinnliche, peripher erregte Eindruck dem BewuBtsein als ein bloBer 
Zustand, als ein noch nicht objektiviertes Etwas gegeben ist*). Der 
Eindruck wird dabei aber iiberhaupt ohne jegliche feste gegenstandliche 
Form erlebt, also weder als Wahmehmung, noch als Vorstellung. Beide 
Falle kommen somit nicht in Betracht bei der Frage nach der Um- 
kehrang des auBeren Eindruckes in ein vorstellungsmaBiges Erlebnis. 

Nur in den kiinstlichen Bedingungen des Experiments bei tachisto- 
skopischer Darbietung sehr schwacher Lichtreize geschieht es in einer 
geringen Anzahl der Falle, daB der objektive Eindruck subjektiviert 

Vgl. dazu A. Messer, Empfindung und Denken. 1908, S. 40f. und meine 
Bemerkungen in „Untersuchungen iiber die Funktionen des Dcnkens und des Ge- 
d&chtnisses“ I. Arch. f. d. ges. Psychol. 36, S. 314 f. 


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A. A. Grtlnbaum: Pseudovorstelluug and Pseudohailuzination. 101 


word, d. h. die Versuchsperson glaubt bei einer wirklichen Reizung bloB 
eine reproduzierte Vorstellung von dem Eindruck zu haben 1 ). Diese 
Subjektivierung der Sinneseindriicke wurde aber meines Wissens beob- 
achtet nur bei sehr schwachen und sehr primitiven Eindriicken, die fur 
unsere Erfahrung weder in Form von Wahrnehmungen noch in Form 
von Vorstellungen von groBer Bedeutung sind. In der bekannten 
Erscheinung, daB bei der sich entfemenden Militarmusik man schlieB- 
lich nicht weiB, ob die Tone wirklich noch gehort oder bloB vorgestellt 
werden, handelt es sich auch nur um solche gegenstandlich-primitive 
und sinnlich-elementare Reize, die zur komplizierten psychischen 
Arbeit, wie sie durch einen Wahmehmungseindruck mit einem Male 
angeregt wird, keinen AnlaB bieten konnen. 

Aus meiner neueren Erfahrung glaube ich dagegen liber einen Fall 
von vorstellungsmaBiger Erscheinung einer komplizierten Wahmehmung 
berichten zu konnen. Nach einem Tage voll Ermiidung muBte ich abends 
im Konzert sitzen und ein mich keineswegs anregendes Musikstiick 
(inter einem sehr langweiligen Dirigenten anhoren. Da verfiel ich in 
den vielen bekannten Zustand eines Halbschlafes, in welehem man die 
ganze auBere Situation noch beherrscht, die Tone aber nur wie hinter 
einer dicken Wand hort. Nachdem ich kurze Zeit die Augen geschlossen 
hielt, blickte ich zum Orchester hinauf und hatte dabei das sonderbare 
Erlebnis: das Bild des Orchesters war mir plotzlich ohne einen be- 
stimmten raumlichen Abstand, ohne bewuBte Distanz zum Leib-Ich ge- 
geben. Auch die Erscheimmg der GroBe der gesehenen Gegenstande war 
auBerst eigentumlich: die Dimensionen der Figuren schienen andere zu 
sein als bei der gewohnlichen Betrachtung von dem gegebenen Abstand 
aus. Trotzdem war ich weder durch „GroBer-“ noch durch „Kleiner- 
sein“ frappiert. Die ganze Erscheinung hat mich dabei aufdringlich 
als eine bloBe, aber sehr lebhafte Vorstellung angemutet. 

Die positive Unbestimmtheit der raumlichen Charaktere des vi- 
suellen Bildes, das die Erscheinung beherrschte, scheint mir auch fur die 
Natur der gewohnlichen Vorstellungen wesentlich zu sein. Stelle ich mir 
z. B. die ,,Nachtwache“ von Rembrandt vor, so kann ich keinesfalls be- 
haupten, daB die Dimensionen der Figuren im Vorstellungsbilde uberein- 
stimmen mit, oder groBer bzw. kleiner sind als die wirklichen Dimensionen, 
die mir aus dem Studium des Kunstwerkes bekannt sind. Ich kann 
in diesem wie in ahnlichen Fallen bloB aussagen, daB die Figuren im 
Vorstellungsbilde eine unbestimmte, wenn auch eine wirkliche 
Ausdehnung besitzen. Ahnliches ist zu sagen iiber den Abstand des 
visuellen Bildes vom Leib-Ich. Wird die Versuchsperson nicht explizite 

*) Vgl. 0. Kiilpe, Ober Objektivierung und Subjektivierung der Sinnescin- 
driicke. Wundts Philosoph. Studien, B. 19, und meine Bemerkungen dazu 
a. a. O., S. 322. 


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102 


A- A. Grtlnbaum: 


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ausgefragt liber die Lokalisation der Einzelvorsteilungen und liber ihren 
Abstand von den Augen und bestehen dariiber keine besonderen Instruk- 
tionen, so wird der visuell reprasentierte Gegenstand meistens zwar 
im Raume vor dem Beobachter lokalisiert; die Lokalisation bleibt aber 
mehr oder weniger unbestimmt, wobei es sich nicht bloB um ein momen- 
tanes Nichtsehenkonnen, wo das Bild sich befindet, handelt, sondem 
urn ein positives sicheres Wissen um die dem Bilde selbst anhaftende 
Unbestimmtheit seiner Raumlichkeit 1 ). Diese Raumlichkeit der Vor- 
stellungen, ,,subjektiver Vorstellungsraum ££ genannt, wird traditionell 
meistens als ein „innerer ££ Raum beschrieben, der prinzipiell von dem 
Wahmehmungsraume verschieden ist, wobei diese Verschiedenheit ge- 
rade eine Kluft zwischen Wahmehmungs- und Vorstellungscharakter 
bedeutet 2 ). 

Es liegt m. E. gar kein Grund vor, den Vorstellungsraum in ein 
,,Innen ££ zu versetzen, welches dem „AuBen“ des Wahrnehmungsraumes 
entgegengesetzt ist. In meinem Erlebnis, das eine wirkliche Wahrnehmung 
in einem auBeren Raum war, genligte, daB die raumliche Bestimmtheit 
dieses auBeren Raumes wegfiele, damit mir das Bild trotz seiner wahr- 
genommenen Lebhaftigkeit einer bloBen Vorstellung zu gleichen schien. 
Das einzige, was beide Raume unterscheidet, ist nur die Unbestimmt¬ 
heit der Distanz und der Dimensionen in dem Vorstellungsbilde. 

Diese Verbindung der raumlichen Unbestimmtheit mit dem Vor¬ 
stellungscharakter wurde mir in meinem Erlebnis besonders klar, sobald 
ich mich durch einen willkurlichen Ruck aus meinem Zustande in das 
voile Wachen versetzt habe. Ich erlebte jetzt namlich den Ubergang 
zum vollen Wahmehmungscharakter aLs eine lebhafte raumliche Um- 
ordnung im ganzen Bilde: Ich erlebte, wie plotzlich zwischen mir und 
dem Orchester eine wirkliche ausgepragte Distanz gebildet war, und wie 
die Figuren ihre naturlichen ErscheinungsgroBen wiedergewonnen 
haben. Damit befand ich mich wieder in der vollen Wahrnehmung und 
ich wuBte zugleich, daB ein Moment vorher dies alles anders gewesen ist. 
In meinem Erlebnis wurde somit der psychische Inhalt nur mit dem 
Moment ,,objektiviert“, als er durch eine plotzlich eingetretene raumliche 
Distanzierung zu meinem Leib-Ich sich demselben anschaulich gegeniiber- 
gcstellt hatte. 

0 Bei Feststellung der Vorstellungstypen wurde im Vorstellungsbilde ahu- 
liche positive Unbestimmtheit der Farbenqualitaten beobachtet. „Allgemeine“ 
Vorstellungen. wenn sie anschaulich sind, konnen blo!3 aus solchen unbestimmten 
Inhalten bestehen, die gerade, weil sie unbestimmt sind, verschiedene Gegenst&nde 
re prase n t i e re n konnen. 

2 ) Am piagnantesten ist diese These vertreten bei K. Jaspers. Allgemeine 
Psychopathologie 1913, S. 36, und Zur Analyse der Trugwahrnehmungen. Zeitschr. 
f. d. ges. Xeur. u. Psych. 6, 479, wo gesagt wird: „Aus dem einen Raum in den 
anderen gibt rs kcincn Obergang, sondem nur einen Sprung.“ 


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Pseudovorstellung und Pseudohalluzination. 


103 


Auch in unserer librigen Erfahrung haben alle psychischen In- 
halte, die raumlich-anschaulich geformt sind, immer einen mehr oder 
weniger ausgepragten gegenstandlichen Charakter. Dieser Charakter, 
der auch den nichtraumlichen psychischen Gebilden zukommen kann, 
ist am ausdriicklichsten reprasentiert und typisiert durch die An- 
schauung im Raume. Solange es sich um gegenstandliche Vorstellungen 
handelt, die im Raume orientiert sind, wie das z. B. visuelle Bilder 
sind, kann ihnen a priori keine andere Raumlichkeit zukommen, 
als die, welche uns anschaulich primar gegeben ist, namlich die Raum- 
lichkeit der Wahmehmung. Nur wenn die Raume der Vorstellung imd 
der Wahmehmung sich nicht prinzipiell unterscheiden, sondem bloB 
verschiedene Bestimmtheit derselben Art darstellen, ist es moglich, 
daB Vorstellungsinhalte als Wahmehmungen auftreten und Wahr- 
nehmungsmaterial als Vorstellung erscheint. 

Diejenigen Eindriicke, die von Xatur aus eine riiumlich unbestimmte 
Wahmehmung liefem, werden wahrscheinlich gerade aus diesem Grunde 
am leichtesten als subjektive Erscheinungen aufgefaBt. Die von S t u m pf 
so genannten Gefiihlsempfindungen, die mehr als Gefuhlszustande; 
denn als gegenstandlich abgegrenzte Empfindungen sich geben, die 
Gelenk-, Muskel- und Organempfindungen, der ganze Komplex der 
Erlebnisse, die zu den sog. Gemeingefuhlen wie Hunger, Durst usw. 
beitragen, werden als bloB diffuse Zustande erlebt in unmittelbarem 
Zusammenhange damit, daB ihnen keine raumliche Bestimmtheit im Er- 
lebnis zukommt. Weiter wird die Subjektivierung der einfachen opti- 
schen Reize bekanntlich nur bei sehr schwachen Reizen beobachtet. 
Diese Schwache des Reizes ist aber gerade ein begiinstigendes Moment 
fur die Erschwerung der raumlichen Lokalisationen. Ebenso geht die 
relativ leichtere Subjektivierung der akustischen Eindriicke Hand in 
Hand mit dem Urastande, daB diesen Empfindungen eine sehr diffuse 
raumliche Lokalisierung eigen ist. Somit ordnet sich mein Orchester- 
erlebni8 einerseits in die Reihe der mehr oder weniger bekannten Be- 
ziehungen. Es bildet aber andererseits als eine ungewohnte frappante 
Beobachtung einen AnlaB zur Korrektur der traditionellen Lehre von 
dem spezifisch subjektiven Charakter des Vorstellungsraumes. 

Auch von anderer Seite werden wir zusolcher Korrektur gemahnt. 
In einer neuen Untersuchung von Segal 1 ) wird mit groBem Nach- 
druck darauf hingewiesen, daB die Protokolle der Versuchspersonen 
iiber Vorstellimgserlebnisse die voile Identitat der Lokalisationserleb- 
nis^e in der Vorstellung und in der Wahmehmung erkennen lassen. 
,,Der Vorstellungsraum ist ein fragmentarisch gegebener realer Raum.“ 
(S. 408.) Worm aber besteht dieser Fragmentcharakter ? Dariiber laBt 

J ) J. Segal, t)ber das Vorstellen von Objekten und Situationen. Stutt¬ 
gart 1916. 


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104 


A. A. Grtlnbaum: 


sich Segal nicht naher aus. Aber nur auf Grund der klaren Einsicht, 
da 13 es die positive Unbestimmtheit der Dimensionen und der Distanz 
vom Ich ist, wird es verstandlich, wieso ,,die Objekte, die zuerst 
in einem Vorstellungsraume vorgestellt werden, allmahlieh durch das 
Hinzuvorstellen ihrer Umgebungsbestandteile in den realen Raum 
liberzugehen scheinen.“ (S. 406 f.) Das Hinzuvorstellen der raumlichen 
Umgebung bringt namlich mit sich die mehr oder weniger deutliche 
Herausarbeitung der raumlichen Beziehungen des Vorstellungsgegen- 
standes zu dieser Umgebung und somit ein gewisses Bestimmterwerden 
seiner Raumlichkeit, wodurch nach meiner Auffassung der Wahr- 
nehmungscharakter charakterisiert -wird. 

Das beschriebene Orchestererlebnis scheint mir auch in einer anderen 
Richtung auf eine Neuorientierung der Lehre von den Unterschieden 
der Wahmehmung und Vorstellung hinzuweisen. Man nimmt gewohnlich 
an, da!3 der Gegenstand der Wahmehmung darin ohne irgendwelche 
Vermittelimg gegeben ist, daB er leibhaftig und selbstgegenwartig da ist, 
mit anderen Worten objektiv erscheint. In der Vorstellung dagegen ist 
ihr Gegenstand phanomenologisch selbst gar nicht da: er ist nicht leib¬ 
haftig, sondem nur durch das Vorstellungsbild reprasentiert, mit anderen 
Worten, der Gegenstand ist bloB subjektiv vorgestellt 1 ). Dokumentiert 
sich dieser Gegensatz der Wahmehmung und der Vorstellung, dieses 
prinzipielle Gegenuberstellen von ,,Objektiv“ und ,,Subjektiv“ als 
phanomenologischer Data auch in meinem Orchestererlebnis? Hier 
war der Gegenstand in alien seinen Details gegeben, die meine mo- 
mentane Wahmehmung vermitteln konnte; er w r ar naturlich auch 
selbstgegenwartig in derselben AufdringUchkeit, die uns von dieser 
Erscheinungsweise des Gegenstandes in jeder Wahmehmung sprechen 
laBt. Ich wuBte auch nebenbei, daB ich das Orchester selbst und 
nicht bloBe Vision vor mir habe. Und trotzdem hatte mich mein 
Erlebnis nicht als eine direkte Wahmehmung, sondem lebendig als 
eine Vorstellung angemutet. Es bildete somit s. z. S. eine phanomeno- 
logische Vermittelungsstation zwischen der guten Wahmehmung und 
einer guten Vorstellung. Durch die unzweifelhafte Selbstgegenwart 
des Gegenstandes trug mein Eindmck den Charakter der Wahmehmung; 
durch sein unmittelbares Wesen wie durch jene unbestimmte Raumlich¬ 
keit war er als eine Vorstellung erlebt. Wir sehen daraus, daB die Leib- 
haftigkeit des Gegenstandes zwar notwendig da sein muB, um den 
Charakter einer guten Wahmehmung zu konstituieren, daB aber dieses 
Merkmal allein noch nicht geniigt, um das Wesen der Wahmehmung 
im Gegensatz zu der Vorstellung zu bilden. Und da dieses Merkmal 
auch in dem vorstellungsmaBigen Erlebnis vertreten ist, so kann dies 
Moment der Leibhaftigkeit nicht wesentlich sein fur die Wahmehmung 

') Vgl. Jaspers a. a. 0. 


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Pseudovorstellung und Pseudohalluzination. 


105 


als solche, sondern ist es vielleicht bloB fur die Wahmehmung insofern 
sie mit der Vorstellung ahnlich ist, d. h. fur die anschauliche Gegebenheit 
des Gegenstandes iiberhaupt. 

Durch mein Erlebnis werde ich ubrigens darauf aufmerksam, daB 
in den gewohnlichen lebhaften Vorstellungserlebnissen die Gegenstande 
eigentlich auch leibhaftig und selbstgegenwartig gegeben werden konnen. 
So in den stark affektiv gefarbten Vorstellungen, in den lebhaften 
Phantasien, in Tagestraumen lebt man sich an den Gegenstanden 
ebenso a us, wie in den entsprechenden Wahmehmungssituationen. Das 
Sprachgefuhl zwingt uns dabei den treffenden Ausdruck auf, daB man 
sich in solchen Vorstellungen verliert. (Nebenbei bemerkt ein Bild aus 
der Raumwahmehmung!) Auch Segal hebt hervor, daB die bloBen 
Vorstellungen, wie er sagt, den Wahmehmungscharakter haben (a. a. O. 
S. 428 ff.). Er meint damit, wie die Protokolle zeigen, nichts anderes 
als die Selbstgegenwart des Gegenstandes in der Vorstellung. Im 
anderen Sinne ist es natiirlich unangebracht, von dem Wahmehmungs¬ 
charakter der Vorstellung zu sprechen. Denn einerseits, wie wahr- 
nehmungsahnlich uns auch eine Vorstellung zu sein scheint, sie ist als 
solche noch immer ganz deutlich akzentuiert durch ihr natiirliches 
Milieu als ein Gebilde, das nicht eine wirkliche Wahmehmung ist. 
Andererseits aber, wenn den Wahmehmungen und den Vorstellungen der- 
selbe Wirklichkeitscharakter zukommt, sollten wir doch nicht nur von 
dem durchgangigen Wahmehmungscharakter der Vorstellungen, sondern 
auch umgekehrt von dem habituellen Vorstellungscharakter der Wahr- 
nehmungen sprechen. Wollen wir daher nicht zu viel sagen, so kann nur 
vom gleichen Gegenstandscharakter beider gesprochen werden. Wenn 
ich daher von der Selbstgegenwart des Gegenstandes auch in der Vor¬ 
stellung spreche, so hebe ich dabei hervor, daB im Gegensatz zur Wahr- 
nehmung die Leibhaftigkeit des Vorstell ungsgegenstandes durch ein 
Wissen um die Art der momentanen psychischen Betatigung mehr oder 
weniger ausdrucklich begleitet ist. Auch in dem Orchestererlebnis hatte 
ich trotz des phanomenalen Vorstellungscharakters das Wissen, daB 
ich mich noch in der Wahmehmungssituation befinde. Worauf dieses 
Wissen sich aufbaut, versuche ich weiter anzudeuten. Wir konnen aber 
schon jetzt sehen, daB dieses Wissen nicht in der Natur der Vorstellung 
oder der Wahmehmung als solche r begriindet ist. Unter gewohnlichen 
Umstanden kann man auch einer Traumvorstellung, wenn dabei 
kein Wissen um die psychische Situation mitgegeben ist, nicht ,,ansehen“, 
daB sie getraumt wird, so daB sie als getraumte sich nur beim Vergleich 
mit dem Wachzustand herausstellt. Ebenso hat eine Wahmehmung, 
abgesehen von der psychischen Funktion, ihren besonderen Charakter 
nur beim Vergleich mit der Vorstellung und umgekehrt. Die phano- 
menologischen Charaktere beider sind voneinander nicht prinzipiell 


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106 


A. A. Grilnbaum: 


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geschieden, im Gegenteil, sie gehoren prinzipiell zueinander, da der 
eine Charakter nur im Lichte des unmittelbaren Vergleiches mit dem 
anderen zur volligen KJarheit kommt. 

Sind die Wahrnehmung und Vorstellung voneinander prinzipiell 
nicht geschieden, so sind sie naturlich immer noch verschieden durch 
das Wissen um die psychische Funktion, um die momentane Betatigungs- 
art. Diese Verschiedenheit findet ihren Ausdruck in einer Struktur, die 
jch an einem anderen Orte versncht habe, ausfiihrlich herauszuanaly- 
sieren 1 ). Hier bringe ich daher bloB die Resultate dieser Analyse: Danach 
unterscheidet sich der Wahrnehmungs- und Vorstellungsakt von- 
einander durch die Art der Beziehung zwischen dem Inhalt und Gegen- 
stand des momentanen Erlebnisses: in der direkten Wahrnehmung 
haben wir eine feste und intime Verbindung zwischen dem psychischen 
Inhalt und dem intendierten Gegenstand, derart, daB im unmittelbaren 
Erlebnis selbst kein AnlaB zur Trennung des Gegenstandes und des 
Inhaltes vorliegt. In der Vorstellung ist dagegen dieser Zusammenhang 
infolge der Inkongruenz des momentanen Inhaltes und des intendierten 
Gegenstandes gelockert, so daB der letzte als ein bloB gemeinter gegeben 
ist, wodurch eine Distanzierung zwischen Inhalt und Gegenstand im 
Erlebnis selbst sich herausbildet. Auf dieser phanomenologischen 
Distanzierung baut sich dann das Wissen um die momentane psychische 
Situation, um die Art des Aktes auf. 

Diese hier vorgetragene Lehre findet in meinem Orchestererlebnis 
eine Erganzung in der Sphare der psychischen Wirklichkeit und wird 
dadurch zugleich verifiziert. Es wurde namlich schon erwahnt, daB 
die gegenstindliche Charakteristik am eindrucksvollsten durch An- 
schauungsgegenstande im Raume reprasentiert wird. Je vollkommener 
deren Anschaulichkeit, d. h. je ausgcsprochener und bestimmter der 
Raumcharakter, desto gegenstandlicher, desto objektiver daher wird 
uns der Inhalt unseres Erlebnisses erscheinen miissen, mit anderen 
Worten, desto weniger wird uns der Erlebnisinhalt als unser eigener Zu- 
stand anmuten. Nun driickt sich die Bestimratheit des Raumcharakters 
in der anschaulichen Distanzierung zum Leib-Ich und in der damit 
verbundenen ausdriicklichen Auffassung der Dimensionen des Gegen¬ 
standes aus. Die ,,Subjektivierung“ des Erlebnisinhaltes, seine Auf¬ 
fassung als ,,Ichzustand*‘ driickt sich dagegen in der auftretenden 
phanomenologischen Distanzierung zwischen diesem Inhalt und dem 
intendierten Gegenstand aus. Der Zusammenhang zwischen dem Be- 
stimmterwerden der Raumanschauung und der „Objektivierung“ des 
Erlebnisinhaltes kann daher in dem Satz formuliert werden, daB, je 
groBer die anschauliche Raumdistanzierung zwischen Ich 

] ) J. c. Kap. IV, Inlialt, Gegenstand und Funktion usw. S. 31 If. 


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Pseudovorstellung und Pseudohall uzination. 


107 


und Gegenstand, desto kleiner die phanomenologische 
Distanzierung zwischen Gegenstand und Inhalt. 

Dieser Satz von dem reziproken Verhaltnis zwischen der Bestimmt- 
heit der anschaulich-raumlichen und der phanomenologischen Distan¬ 
zierung behalt seine Giiltigkeit auch fur diejenigen pathologischen 
Erlebnisse mit anschaulich gegenstandlicher Intention, die einen anderen 
Ureprung haben als die gewohnlichen Wahmehmungen und Vorstel- 
lungen. So z. B. in den wahmehmungsmaBigen Halluzinationen, die 
keinen adaquaten Ursprung in den momentanen Reizen aufweisen, 
geht der bloB reproduzierte Inhalt phanomenologisch vollig in den ver- 
meintlichen Gegenstand auf. Gleichzeitig sehen wir, daB der Inhalt 
trotz seines zentralen Ursprunges aus der ,,bloBen Vorstellung“ in der 
Auffassung des Halluzinanten die maximale raumliche Bestimmtheit 
gewinnt. In meinem Orchestererlebnis ist das umgekehrte Verhaltnis 
verwirklicht gewesen. Die raumliche Unbestimmtheit des Erlebnisses 
brachte mit sich trotz des Ursprungs aus den peripheren Reizen eine 
Ahnlichkeit des Erlebnisses mit bloBen Vorstellungen und somit auch 
eine Distanzierung zwischen Inhalt und Gegenstand. 

Wenn ich am Anfang und auch jetzt mein Erlebnis als ein Gegen- 
stiick zu den Halluzinationen hingestellt habe, so bedarf dies zum SchluB 
noch einer gewissen Einschrankung. Denn in meinem Erlebnis war, 
wie erwahnt, trotz des Vorstellungscharakters noch immer das BewuBt- 
sein um die wirkliche (Wahmehmungs)attitude vorhanden. Man darf 
daher dies Erlebnis, strenggenommen, nur einer' Pseudohalluzination 
gegeniiberstellen, denn nur in dieser Abart der Halluzinationen trotz 
aller Merkmale einer Wahmehmung immer noch ein Wissen um die 
wirkliche (Vorstellungs)attitudei erlebt wird. Mein Erlebnis mochte ich 
daher in strenger Analogie und bei Mangel eines kiirzeren und pra- 
gnanteren Namens als eine „Pseudovorstellung“ bezeichnen. 

Von der erkannten Struktur dieser Pseudovorstellung werden sich 
auch die Pseudohalluzinationen besser verstehen lassen. In diesen Ge- 
bilden nach dem Zeugnis Kandinskys ,,werden die Bilder (1.) scharf 
nach auBen projiziert und scheinen auf diese Weise vor den Augen zu 
stehen, (2.) sind aber zugleich in keinem Verhaltnis zum schwarzen 
Sehfeld der geschlossenen Augen" 1 ). In unserer Anschauung lassen sich 
beide Angaben kaum vereinigen. Denn wir fanden bis jetzt in der 
Struktur unserer Raumanschauung keine Moglichkeit fur eine Pro- 
jektion nach auBen, die ausgeschlossen bleibt von der raumlichen Ein- 
ordnung und Beziehung zu alien anderen Inhalten, die in demselben 
Raum lokahsiert sind. In meiner Pseudovorstellung haben wir aber 
kennen gelemt, daB dieselbe Raumlichkeit. die unseren Wahr- 

x ) Kandinsky, Kritische und klinische Beobachtungen ini Gebicte der 
Sinnestftuschungen. Berlin 1885. S. 44f. 


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108 


A. A. Grllnbaum: 


nehmungen zukommt, in gewissen Hinsichten ihre Bestimmtheit ver- 
lieren kann. Von hier aus wird uns verstandlich werden wie eine 
raumliche Projektion nach aufien, ohne andere raumliche Beziehungen, 
atattfinden kann. Denn wir wissen jetzt, dafi eine vollige Bestimmt¬ 
heit der Wahmehmung im Hinblick auf die Richtung der Projektion 
keinesfalls braucht verbunden zu werden mit der Bestimmtheit nach 
anderen Dimensionen. Das Bild in meiner Pseudovorstellung blieb 
immer noch raumlich, wenn auch seine Distanz vom Leib-Ich und seine 
frontale Ausdehnung unbestimmt erschienen. Gerade dann, wenn das 
Bild in diesen Richtungen vollig unbestimmt wird, kann es nicht zu 
den anderen Wahmehmungen in bestimmte raumliche Beziehung gesetzt 
werden. Denn eine bestimmte raumliche Beziehung zu jenen raumlich 
bestimmten Gebilden setzt auch bei dem anderen Relationsglied dieselbe 
raumliche Auspragung voraus. Diese fehlt aber in der Pseudohalluzi- 
nation ebenso wie in der Pseudovorstellung. Das raumliche Milieu der 
Pseudohalluzination und der guten Wahmehmung ist dasselbe, nur ist 
es in der ersten nach einigen Richtungen degeneriert, und nur darum 
kann zwischen beiden keine Vermittelung in diesen Richtungen statt- 
finden. Dagegen in der Hinsicht der raumlichen Richtimg ,,vom Be- 
obachter weg“ ist das Milieu der Pseudohalluzination nicht abgebrockelt, 
so dafi der Patient dieselbe ebenso wie die Wahmehmung nach aufien 
lokalisiert. 

Dafi bei der Pseudohalluzination immer noch, ebenso wie in 
meiner Pseudovorstellung von dem wirklichen Raume die Rede ist und 
nicht von einem ganz subjektiven „inneren“ Raum, wie in der psycho- 
pathologischen Literatur des ofteren angenommen wird, ergibt sich 
nicht nur aus meinen obigen Uberlegungen, sondem auch aus den An- 
gaben des Patienten von Kandinsky. Derselbe spricht von Abstanden 
des pseudohalluzinatorischen Bildes vom ,,Ich“ und schatzt sie in ver- 
schiedenen Zeiten von 0,4 bis 6,0 m ein. Er lokalisiert seine Bilder am 
liebsten in der Entfemung seines deutlichsten Sehens. Zwar spricht der 
Rranke Dolinin dabei von inneren Augen und dafi er die Bilder vor 
diesen inneren Augen zu sehen glaubt. Er meint das aber nicht bildlich, 
nicht als Augen des Geistes, sondem ganz wortlich als ein Paar leibliche 
Augen, die „hinter den aufieren sich befinden“. Die Annahme dieses 
hinteren Augenpaares ist fur den Patienten augenscheinlich ein Ausweg, 
eine Annahme, um zu verstehen, wieso ein Gegenstand, der leiblich im 
Raume gesehen wird, trotzdem weder mit den anderen Gegenstanden 
im Gesichtsfeld seiner Augen, noch mit dem Augenschwarz dieser Augen 
in irgendwelche raumliche Beziehung gebracht werden kann. Fur uns ist 
aber diese Annahme der hinteren Augen nur ein Hinweis mehr auf die 
auch in der Pseudovorstellung vorliegende Dekadenz der pseudohalluzi¬ 
natorischen Raumlichkeit nach einigen Richtungen. Das pseudohalluzi- 


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Psoudovorsteliung und Pseudohalluzination. 109 

natorische Bilcl ist aber trotzdem in der einzigen Raumlichkeit — in dem 
natiirlichen ,,auBeren“ Raura aller unserer Anschauungen — gelegen. 
DaB den pseudohalluzinatorischen Bildem trotz aller Wahrnehmungs- 
merkmale der voile Charakter der auBeren Wirklichkeit fehlt, bemht 
einzig und allein auf dem Umstand, daB ihre Raumlichkeit die Unbe- 
stimmtheit der vorstellungsmaBigen Erlebnisse — der Vorstellungen 
wie der Pseudovorstellungen — aufweist. So gewahrt uns der Einblick 
in die Struktur der Pseudovorstellung auch ein neues ,,Verstandnis l< 
des Wesens der Pseudohalluzinationen. 




tjber die Pathologic der Paralytikerfamilie. 

Von 

Dr. Friedrich von Bohden, 

ordentl. Arzt. 

(Aus dor Landesheilanstalt Nietleben b. Halle [Direktor Prof. Dr. Pfeifer].) 

(Eingegangen am 15. April 1917.) 

Seitdem E. Mendel 4 *) im Jahre 1888 durch seine erste Veroffent- 
lichung fiber das konjugale und familiare Auftreten von Tabes und 
Paralyse die Aufmerksamkeit auf die Gefahren gelenkt, denen die An- 
gehorigen von Tabikem und Paralytikem ausgesetzt sind, hat diese 
ffir das Schicksal ganzer Familien bedeutungsvolle Frage zahlreiche 
Bearbeitungen erfahren. Das Ziel der Untersuchungen war verschieden, 
entsprechend dem jeweiligen Stand des arztlichen Wissens fiber die 
Atiologie dieser spatsypbilitischen Erkrankungen des Nervensystems. 
Die Mehrzahl der Arbeiten aus der vorserologischen Ara, die von Fisc fi¬ 
ler 10 ) und Suntheim 72 ) in ausftihrlicher Weise kritisch gesichtet 
wurden, beschrankt sich im wesentlichen auf eine Zusammenstellung 
zahlreicher Falle familiarer und juveniler Tabes und Paralyse, wobei 
im Vordergrund des Interesses stand einerseits die atiologische Klarung 
dieser Erkrankungsformen, andererseits die Entscheidung der Frage: 
Gibt es eine Lues nervosa? 

Die Entdeckung der Wassermannreaktion war nun auch auf 
diesem Forschungsgebiet von richtunggebender Bedeutung. Sie erst 
eroffnete die Moglichkeit, bei Beantwortung der schwebenden Fragen, 
unter Verzicht auf Hypothesen und theoretische Spekulationen, lediglich 
mit Hilfe experimenteller und klinischer Erfahnmgen Licht in das 
Dunkel der syphilogenen Familienerkrankungen zu bringen. Der 
Wassermannreaktion gelang es, die zerstorende Wirkung der Syphilis 
bei den Angehorigen ihrer Opfer bis ins zweite und dritte Glied zu ver- 
folgen und den verschlungenen Wegen der luischen Infektion und Ver- 
erbung auch dort nachzugehen, wo diese klinisch nicht mehr in Er- 
scheinung treten. 

Als Beitrag zur Bedeutung der Wassermannreaktion und zugleich 
zur Illustration der tragischen Spatfolgen der Syphilis seien hier aus 
der Literatur drei Beispiele erwahnt: 


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F. v. Rohden: t)ber Paraiytikerfamilien. 


Ill 


Ein Mann mit typischer progressiver Paralyse und positiver Wasser- 
mannreaktion leugnet mit groBter Bestimmtheit eine syphilitische In- 
fektion und weiB auch glaubhaft darzulegen, daB er niemals auBer- 
ehelichen sexuellen Verkehr gehabt hat. Bei der Untereuchung erweist 
sich die Ehefrau zunachst frei von subjektiven Krankheitserscheinungen. 
Wie kommt also der Mann zu seiner Paralyse? Die Antwort gibt die 
Wassermannreaktion: Das Blut der Frau reagiert ebenfalls positiv. 
Und nun kommt es heraus, daB die Frau vor ihrer Verheiratung einen 
Brautigam hatte, von dem sie seinerzeit syphilitisch infiziert worden 
war. Der Ehe entstammen zunachst zwei gesunde Kinder, dann zwei 
lebensunfahige Frtihgeburten und schlieBlich ein zur Zeit der Unter- 
suchung zehnjahriger Knabe mit positiver Wassermannreaktion und 
infantiler progressiver Paralyse. „In tragischer Weise war demnach 
die wassermannpositive, aber sonst gesund gebliebene Mutter die 
Krankheitsvermittlerin zwischen dem syphilitischen Brautigam einer- 
seits und dem paralytischen Gatten und Sohn ihrer Ehe anderseits“ 
[Mendel und Tobias 44 )]. 

Nonne 53 ) erwahnt u. a. folgende Falle von Syphilis congenita in 
dritter Generation: Der Vater, der mit 19 Jahren Lues akquiriert hatte, 
unterzog sich ein Jahr nach der Verheiratung einer Schmierkur wegen 
eines Ausschlags an den Beinen. Seine zur Zeit der Untersuchung 
I5jahrige Tochter, die im ereten Jahre der Ehe geboren wurde, leidet 
an progressiver Paralyse auf dem Boden einer Erbsyphilis. Sie wird 
von einem 15jahrigen Knaben geschwangert und bringt ein Kind zur 
Welt, das zwar keine Zeichen angeborener Syphilis aufweist, wohl aber 
eine positive Wassermann- und Luetinreaktion. 

Bei einem 15jahrigen Madchen mit nervosen Beschwerden und 
korperlicher und geistiger Adynamie war am Nervensystem objektiv 
nichts zu finden, dagegen zeigte sich bei ihr eine positive Wassermann- 
und Luetinraktion. Der Vater leugnete Lues und erwies sich auch 
bei der klinischen und serologischen Untereuchung als frei von Syphilis, 
(Wassermann im Blut negativ). Wie war hier die positive Wassermann¬ 
reaktion der Tochter zu erklaren? Nahere Nachforechungen ergaben, 
daB der Vater der Mutter an Lues gelitten mid an Paralyse gestorben 
war. Die daraufhin auch bei der Mutter angestellte und positiv aus- 
fallende Wassermannreaktion deckte den Zusammenhang zwischen der 
Lucs des GroBvatere und der Enkelin auf. 

An derartig schweren und theoretisch wie klinisch interessanten 
Fallen syphilogener Familienerkrankungen ist die Literatur iiberreich. 
Auf ihre Zusammenstellung kann hier um so mehr verzichtet werden, 
als Raven 80 ) noch vor kurzen eine gute Ubersicht gegeben hat. AuBer- 
dem wurde eine Statistik, die sich lediglich auf diese gehauften und aus- 
gesucht schweren familiaren Nervenerkrankungen stutzte, naturlich zu 


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112 


F. v. Rohden: 


ganz falschen Resultaten gelangen. Tatsachlich sind in der vorsero- 
logischen Ara Arbeiten erschienen, die den unheilvollen EinfluB der 
Paralyse auf die Deszendenten dadurch bewiesen zu haben glaubten, 
daB ausnahmslos schwere Falle aus der Literatur aneinander gereiht 
wurden [Wahl 76 )]. Znr Kritik dieser und ahnlicher Veroffentlichungen 
erwahnen Junius und Arndt 29 ) mit Recht eine Bemerkung Sem- 
pers 68 ), wonach das Bild, welches Wahl uns von den Deszendenten 
der Paralytiker gibt, das schrecklichste Schauspiel ira Gebiete der 
Pathologie der Geisteskrankheiten sein wurde, wenn wir nicht wiiBten, 
auf welche Weise Wahl zu seinem Ergebnis gelangt ist. 

Um ein richtiges Bild von den Gesundheitsverhaltnissen in den 
Familien spatsyphilitischer Nervenkranken zu erhalten, ist es not- 
wendig, ein Material zu bearbeiten, das sich nicht aus ausgesuchten, 
besonders interessanten Fallen zusammensetzt, sondem das aus syste- 
matischer Durchforschung der Familien wahllos aneinandergereihter 
Paralytiker und Tabiker gewonnen wurde. 

Diese Forderung erfiillt die von Plaut 65 ) und Nonne 51 ) in die 
Psychiatrie eingefiihrte serologische Familienforschung. Es wurden 
von diesen Autoren in systematischer Weise Gatten und Kinder von 
Syphilitikem jeden Stadiums auf Lues untersucht. Eine Auswahl der 
Falle fand hierbei nicht statt. Der eingeschlagene Weg erwies sich als 
gangbar. Nach Nonne feiert die Wassermannreaktion gerade auf diesem 
Gebiete, wo die Verhaltnisse, wie oben gezeigt wurde, sehr kompliziert 
liegen konnen, die meisten Triumphe. Indessen wird man sich bei ailer 
Wertschatzung der Reaktion nicht verleiten lassen, ihre Bedeutung 
und Leistungsfahigkeit zu iiberschatzen. Es darf nicht vergessen werden, 
daB das Wesen der Wassermannreaktion noch immer nicht eindeutig 
geklart ist. Im wesentlichen stehen sich hier zwei Anschauungen gegen- 
uber: Nach der einen muB auf Grund experimenteller Untersuchungen 
und empirisch gewonnener Tatsachen die positive Wassermannreaktion 
als ein Symptom aktiver Syphilis aufgefaBt werden, [Lesser, Blaschko, 
Neisser, Boas 1 )]. Diese aktive Bewertung der Wassermannreaktion 
setzt die Anwesenheit virulenter Spirochiiten im Blut voraus [Haupt¬ 
mann 18 ), Plaut 56 ), Trinchese 73 ), Forster 11 )]. Seitdem es gelungen 
ist, auch bei Tabes und Paralyse den Nachweis virulenter Spirochaten 
zu erbringen, scheint diese Theorie an Boden gewonnen zu haben. 
Ncch neuerdings hat Rudolf Muller 47 ) auf Grund seiner Erfahrur.gen 
an einem enormen Material von 150 000 untersuchten Fallen die Frage 
der Abhangigkeit der positiven Wassermannreaktion von der Anwesen¬ 
heit von Spirochaten bejaht. Von einer zweiten Gruppe von Autoren 
wird dieser ursachliche Zusammenhang bisher entschieden vemeint. 
Sie sind der Meinung, daB eine positive Reaktion aktive Lues noch 
nicht zu beweisen brauche. Schmidt 66 ) 66 ) vertritt sogar die An 


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Uber Paralytikerfamilien. 


113 


sohauung, daB positive Wassermannreaktion nicht durch die Toxine 
der Spirochaten, sondem durch Antitoxine bedingt sei und daher 
unter Umstanden eine Immunitat gegen Lues beweisen konne, eine 
Auffassung, gegen die noch kiirzlich Muller 48 ) sehr energisch auf- 
getreten ist. Da es uber den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinaus- 
gehen wlirde, auf das Fur und Wider dieser Anschauungen naher ein- 
zugehen, verweise ich auf die grundlegende Monographic liber die Wasser¬ 
mannreaktion von Boas 1 ). 

Auf Grand eigener klinisch-serologischen Erfahrangen neige ich der 
aktiven Bewertung der Wassermannreaktion zu. Es wlirden also alle 
Falle mit positiver Wassermannreaktion auf eine Spirochateninfektion 
zuriickzufuhren sein, einerlei ob klinische Zeichen einer Lues vorhanden 
sind oder nicht. Negativer Ausfall der Reaktion beweist dagegen nichts 
gegen stattgefundene Infektion und gegen das Vorhandensein eines 
luischen Leidens. Bekanntlich verlieren fast die Halfte aller Syphihtiker 
im Stadium der Spatlatenz die Reaktion. Frlihwald 14 ) fand sogar 
eine negative Wassermannreaktion bei 3 latent-syphilitischen Kranken, 
die Spirochaten im Blut hatten. In letzter Zeit ist man schlieBlich 
angesichts der widerspruchsvollsten Resultate bei Untersuchungen ein 
und desselben Serums in verschiedenen Instituten soweit gegangen, 
der Reaktion iiberhaupt jede Zuverlassigkeit abzusprechen [Heller 19 ) 
und Freudenberg 13 )]. Dieser Auffassung hat jetzt der Entdecker der 
Reaktion selbst aufs entschiedenste widersprochen. Es gelang Wasser- 
mann 77 ) ohne weiteres, an der Hand von Untersuchungen, die unter 
den schwersten Bedingungen angestellt wurden, von neuem zu be¬ 
weisen, daB seine Reaktion bei gleichmaBiger Durchflihrung vollig 
iibereinstimmende Resultate erzielt. Alle Ergebnisse, die bei ein und 
demselben Seram ein verschiedenes Resultat hefem, sind demnach auf 
ungleichmaBiges Arbeiten oder auf Verwendung ungleichmaBig ein- 
gestellter Reagenzien zuriickzufuhren. 

Aus alledem ergibt sich fiir die Familienforschung folgende grund- 
satzliche Stellung der Wassermannreaktion gegeniiber: Bei Beurtei- 
lung der Gesundheitsverhaltnisse in Paralytikerfamilien ist 
die Wassermannreaktion in diagnostischer, prognostischer 
und therapeutischer Beziehung zwar ein sehr wichtiges 
Symptom; sie erhalt jedoch eine irgendwie entscheidende 
Bedeutung erst im Rahmen des klinischen Gesamtbildes. 

Im folgenden soil nun eine kurze Ubersicht liber die bisherigen Resul¬ 
tate der systematischen Durchforschung von Syphilitikerfamilien gegeben 
werden, soweit sie mit serologischen Untersuchungen verbunden war. 

Schon die erste Veroffentlichung von Plaut 66 ) aus dem Jahre 1909 
gab wertvolle Aufschliisse liber das familiare Auftreten der Syphilis. 

Z. f. d. g. Neur. a. Psych. O. XXXVII. 8 


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114 


F. v. Rohden: 


Plaut untersuchte a lie Kinder syphilitischer Eltem klinisch und 
serologisch, und konnte so als erster das Verhaltnis der gesunden zu 
den syphilitisch infizierten Kindem festlegen. Von seinen 52 serologisch 
untersuchten Kindem zeigten 44% der Falle eine positive Wassermann- 
reaktion. Neben volliger Gesundheit und schweren organischen Er- 
krankungen des Zentralnervensystems, wie juveniler Paralyse, fanden 
sich alle Grade des Schwachsinns mit und ohne Motilitatsstorungen 
und eine auffallend groBe Zahl Psychopathen. — Dieser ersten Mit- 
teilung lieB Plaut in Gemeinschaft mit Goring. 58 ) zwei Jahre spater 
eine weitere Arbeit folgen liber umfangreiche Untersuchungen an Kin¬ 
dem und Ehegatten von 54 mannlichen und weiblichen Paralytikem. 
Nut in 38% dieser Familien ergab sich ein negativer Luesbefund bei 
samtlichen Angehorigen; in 62% der Falle war bei mindestens einera 
der Angehorigen die Wassermannreaktion positiv. Von den 38 serologisch 
untersuchten Miittem reagierten nur 32% positiv. Indem die Autoren 
auBer Miittem mit positiver Wassermannreaktion und mehreren Aborten 
auch noch solche als sicher infiziert betrachten, die zwar selbst zur Zeit 
der serologischen Untersuchung negativ sind, jedoch positiv reagierende 
Kinder haben, erhalten sie eine Infektion der Frauen in 64% der Falle. 
Was die Deszendenz betrifft, so waren 20% Aborte oder Totgeburten, 
27% Kinder starben meist im friihen Alter, wahrend 53% zur Zeit der 
Untersuchung noch am Leben waren. Von den untersuchten 100 Kindem 
erwiesen sich 55% als gesund und 45% als korperlieh oder psychisch 
oder auf beiden Gebieten geschadigt. Der Prozentsatz der Kinder mit 
positiver Wassermannreaktion betragt auf die Gesamtzahl der Kinder 
berechnet 32%, auf die Zahl der pathologischen Kinder berechnet 71%. 

Unabhangig von Plaut hat die serologische Familienforschung 
durch Nonne und seine Schuler Hauptmann und Raven die wert- 
vollste Forderung erfahren. Zuerst untemahm es Hauptmann 18 ), 
das vielseitige, von Non ne in Krankenhaus und Privatpraxis beobachtete 
Material einer kritischen Sichtung zu unterziehen. Seine serologischen 
Untersuchungen an 43 Familien beriicksichtigen auBer den Angehorigen 
von Paralytikem auch solche Familien, deren Glieder an Syphilis des 
Zentralnervensystems erkrankt sind. Noch einen Schritt weiter geht 
Raven 80 ) in seiner Arbeit liber „Serologische und klinische Unter¬ 
suchungen an Syphilitikerfamilien“ (1914). Er stlitzt sich dabei auf 
die von Nonne 51 ) bereits in seinem Wiener Vortrag liber die Lues- 
Paralysefrage veroffentlichten Famihenprotokolle (Naturforscherver- 
sammlung 1913). Neben den Familien von 42 Paralytikem, 26 Tabikem 
mid 11 Cerebrospinalsyphilitikem werden von Raven die Gesundheits- 
verhaltnisse in 5 Famihen behandelt, bei denen die Lues das Nerven- 
system noch nicht ergriffen hat. Mit den gmndlegenden Ergebnissen 
dieser beiden Arbeiten werden wir uns noch eingehend zu befassen haben. 


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I’ber ‘Paralytikerfamilien. 


115 


Das gleiche gilt von der aus der Wiener Schule hervorgegangenen Arbeit 
von Schacherl 68 ), der iiber umfangreiche serologische und klinische 
Untersuchungen an Paralytiker-, Tabiker- und Luetikerfamilien berichtet. 

Haskell 17 ) findet unter 140 anscheinend nicht selbst untersuchten, 
sondem nur statistisch zusammengestellten Fallen von Paralyse die 
Ehegatten der Paralytiker in 38,2% syphilitisch infiziert. Bei den 
meisten verlauft die Krankheit als Lues latens ganz unbemerkt; nur eine 
ganz verschwindende Zahl von ibnen wurde behandelt. Steril waren 
die Paralytikerehen in 32,6% der Falle, und zwar machte die Paralyse 
der Frau die Ehe of ter steril als die Paralyse des Mannes. Von den 
86 Ehen waren 45,3% kinderlos. Unter 167 Geburten fanden sich 
42 Fehl- und Friihgeburten. Von 123 lebendgeborenen Kindem starben 
20 vor dem 11. Lebensjahre. Bis zu 25% der Kinder hatten manifesto 
Lues, bei einer etwa ebenso grolien Anzahl fanden sich Degenerations- 
symptome und psychopathische Neigungen ohne positive Wassermann- 
reaktion. 

Von Lesser und Carsten 36 ) wurden 35 Familien untersucht, in 
denen Kinder mit Keratitis parenchymatosa vorkamen. Von den 

30 Vatem, darunter 1 Paralytiker und 4 Tabiker, hatten 70%, von den 

31 Miittem sogar 74% eine positive Wassermannreaktion. Nur 4 von 
diesen Miittem wuBten etwas von einer syphilitischen Infektion. Unter 
den 89 untersuchten Kindem erwiesen sich 32 (36%) als gesund und 
57 (64%) als syphilitisch infiziert. Von den letzteren zeigten 29 Stigmata 
kongenitaler Syphilis, bei weiteren 17 war die Keratitis parenchymatosa 
das erste und einzige klinische Symptom angeborener Lues. SchlieBlich 
fanden sich noch 11 klinisch gesunde Kinder, die nur durch das Vor- 
handensein einer positiven Wassermannreaktion als syphilitisch er- 
kannt werden konnten. 

Jolowicz* 8 ) laBt 1916 einen kurzen Bericht erscheinen iiber 33 Lue¬ 
tikerfamilien, deren Angehorige er bereits in den Jahren 1911/12 auf 
das Vorkommen von Wassermannreaktion untersucht hatte. Eine 
korperliche Untersuchung fand nur bei einzelnen Personen statt. Unter 
den 29 Paralytikerfamilien reagierte in 12 Famihen (41,4%) mindestens 
1 Mitglied im inaktiven Seram positiv. Die positiven Resultate im 
aktiven Seram (Sternsche Modifikation) mitgerechnet, erhoht sich 
die Zahl der infizierten Famihen auf 17 = 58,6%. AuBerdem konnte 
festgestellt werden, daB noch 9 Jahren nach der primaren Infektion 
eine Ubertragung der Syphilis auf die Ehefrau oder durch die Frau 
auf die Kinder stattfindet. 


Meine eigenen Erfahrangen stlitzen sich auf 70 Paralytikerfamilien. 
Das Material ist gewonnen aus systematischen Untersuchungen der 
Angehorigen von Paralytikem, die in den letzten 4 Jahren in der Landes- 

8* 


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116 


F. v. Rohden: 


heilanstalt Nietleben zur Aufnahme gelangten und groBtenteils auch 
hier verstarben. Am Leben sind von den Paralytikem nur noch 9. 
Die veroffentlichten Falle bilden nur einen Teil, etwa ein Drittel der 
in diesem Zeitraum hier verpflegten Paralytiker. Fur die Untersuchung 
kamen natiirlich nur die verheirateten Kranken in Betracht. AuBer- 
dem gelang es durchaus nicht in alien Fallen, die Angehorigen der ver¬ 
heirateten Paralytiker zur Untersuchung zu bekommen. Einsichts- 
losigkeit und Angstlichkeit war nicht selten der Hinderungsgrund. Im 
allgemeinen jedoch schienen die Frauen Verstandnis zu haben fiir die 
Bedeutung der rechtzeitigen Erkennung einer etwa erfolgten t)ber- 
tragung der Lues auf sich selbst und ihre Kinder. 

Die Zahl der paralytischen Frauen ist auffallend gering. Es sind 
nur 8, also 11% der Gesamtzahl der paralytischen Ehegatten. Da 
auBerdem die Manner meist im Felde stehen, konnte nur in einem einzigen 
Fall der Ehegatte einer paralytischen Frau untersucht werden. Aus 
demselben Grunde fehlen auch so gut wie alle mannlichen Nachkonimen 
iiber 18 Jahre. Die Untersuchungen muBten also nach dieser Richtung 
hin unvollstandig bleiben. 

Die 70 Familien stammen ihrer sozialen Stellung nach vorwiegend 
aus den unteren Schichten. Es handelt sich in der Hauptsache um An- 
gehorige von Arbeitem, Handwerkem und kleinen Beamten. Die durch 
Kriegsverhaltnisse ganz besonders bedrangte wirtschaftliche Lage 
dieser Familien darf wohl bei der Beurteilung der Gesundheitsverhalt- 
nisse der Frauen und Kinder nicht ganz auBer acht gelassen werden. 

Es wurde schon oben betont, daB eine Auswahl unter den Paraly¬ 
tikem, sei es nun hinsichtlich des Stadiums und der Erkrankungsform, 
sei es in bezug auf besonders auffallende Krankheitsverhaltnisse bei 
den Angehorigen, schon deshalb unterbleiben muBte, um von vomherein 
die Moglichkeit einer willkiirlichen Beeinflussung des Untersuchungs- 
materials auszuschalten. Eine Auswahl war nur insofem berechtigt, 
als alle auch nur einigermaBen zweifelbaften Formen von Paralyse als 
ungeeignet auszuscheiden hatten. Bei den veroffentlichten Fallen kann 
daher die Diagnose auf Grund einer zum mindesten mehrmonatigen 
Anstaltsbeobachtung in Verbindung mit den einschlagigen klinischen 
und serologischen Untersuchungsmethoden als gesichert gelten. Soweit die 
Paralytiker zur Sektion kamen (— und das geschah fast stets—), wurde 
die Diagnose auBerdem noch pathologisch-anatomisch bestatigt*). Es 
konnte daher auch in den nachfolgenden Protokollen von der Wiedergabe 
der Krankengeschichten im einzelnen, soweit sie die Paralytiker selbst be- 
trafen, Abstand genommen werden. Anders natiirlich bei den Angehorigen: 

*) Die Autoritiit unseres Prosektors (Prof. Dr. Brodmann) berechtigt zur 
Annahme, daB es sich bei den zur Sektion gc-langenden Fallen um einwandfrcie 
Paralyse gehandelt hat. 


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Uber Paralytikerf&milien. 


117 


Hier war in jedem Fall der wesentliche Untersuchungsbefund, sowie 
der Ausfall der serologischen Blutuntersuchung im Protokoll wieder- 
zugeben. Da die Untersuchungen der Frauen und Kinder nur gelegent- 
lich ihrer Besuche bei den Angehorigen in der Anstalt vorgenommen 
werden konnten, muBte leider auf die Lumbalpunktion bei ihnen ver- 
zichtet werden. 

Die Ausfuhrung der Wassermannreaktion hatte in entgegenkom- 
raendster Weise das Untersuchungsamt des Hallenser hygienischen In- 
stituts (Leiter: Privatdozent Dr. Schurmann) ubemommen, wofiirich 
aucb an dieser Stelle meinen verbindbchsten Dank sage. Neben der 
Originalmethode wurde in den meisten Fallen die von Margarete 
Stern 6 ® -71 ) angegebene Modifikation angesetzt, deren Wesen be- 
kanntlich in der Benutzung des im menschlichen Serum vorhandenen 
naturlichen Komplements an Stelle des Meerschweinchenkomple- 
ments besteht. Das Serum wird daher nicht inaktiviert. Meirows k y 40 ), 
Schlimpert - Vosswinkel 64 ), Bruck 2 ) und Jolowicz 28 ) sind mit 
der Methode zufrieden, dagegen meinen Lesser 32 ), Kleinschmidt 30 ) 
u. a., daB sie unspezifische Resultate gibt. Wenn man sich streng an 
die von Stern gegebenen Einschrankungen und VorsichtsmaBregeki 
halt, stellt sich nach meinen eigenen Erfahrungen die Modifikation dar 
als eine willkommene Verfeinerung der Originalmethode, die in einzelnen 
Fallen auch dort, wo mit Hilfe der Wassermannreaktion komplement- 
bindende Substanzen nicht mehr nachgewiesen werden konnen, eine 
positive Reaktion ergibt. Natiirlich darf diese Methode, worauf auch 
Stern immer wieder hinweist, nur neben der Wassermannreaktion 
verwandt werden. 

W r as die Starkebezeichnung der Wassermannreaktion betrifft, so 
konnte von der Anwendung der ublichen quantitativen Skala — an- 
gedeutet, schwach, stark oder sehr stark positiv — abgesehen werden, 
da es uns hier lediglich auf den qualitativen Ausfall der Reaktion 
ankam. Als positiv wurden nur diejenigen Seren bezeichnet, bei denen 
eine Hemmung auch bei der starksten Verdtinnung der reagierenden 
Komponenten einwandfrei festzustellen war. Unter den in den Pro- 
tokollen mit einem einfachen 4* -Zeichen versehenen Reaktionen finden 
sich also nur solche, die vom hygienischen Institut mit ++ (positiv), 
+ (stark positiv), + + + + (sehr stark positiv) bezeichnet werden. 
War die Hemmung der Hamolyse nur andeutimgsweise (+) vorhanden 
— und das war in einer groBen Reihe von Seren der Fall — so wurde, 
um ganz sicher zu gehen, von der Einreihung dieser Reaktionen unter 
die positiven Falle abgesehen. Noch vorsichtiger verfuhr ich bei der 
Bewertung der Sternschen Modifikation. Auch hier wurden zunachst 
alle nur angedeuteten Reaktionen als negativ bezeichnet. Zeigte sich 
aufierdem nur bei der Sternschen Modifikation eine Hemmung, bei 


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118 


F. v. Rohden: 


der Originalmethode dagegen nicht, so wurde nach Vorgang von Stern 
ftir die mittleren Werte (+ + , + + +) die Bezeichnung zweifelhaft (+) 
gewahlt und nur die vollkommene Hemmung (+ + ++) als positiv 
gerechnet. 

Vergleichsweise seien hier die Ergebnisse der Originalmethode und 
der Sternschen Modifikation einander gegenubergestellt. Unter 
137 Seren, die sowohl inaktiv (Wassermann), als auch aktiv (Stern) 
untersucht werden konnten, fand sich eine Ubereinstimmung der beiden 
Resultate in 120 Fallen (88%). In 17 Fallen (12%) war die Sternsche 
Modifikation positiv, die Originalmethode negativ. Von diesen 137 Seren 
der Paralytikerangehorigen reagierten positiv nach Wassermann 
24 = 18%, nach Stern 41 = 30%. Diese Zahlen stimmen sehr gut 
mit den von Jolowicz 28 ) angegebenen iiberein. Er fand in 89% eine 
Ubereinstimmung der inaktiven und aktiven Methode. In 9% der Falle 
war die Reaktion nach Stern positiv, nach Wassermann negativ. 
Das umgekehrte Verhaltnis — Stern negativ, Wassermann positiv — 
lag bei 2% der Seren vor. Unter unseren Seren fehlte dieser Reak- 
tionstypus ganz. SchlielJlich konnte Jolowicz bei den Angehorigen der 
Paralytiker gegeniiber unseren 30% in 31% der Falle eine positive 
Sternsche Modifikation beobachten. 


Bei der Untersuchung zeigte sich, daB in einer Reihe von Fallen 
samtliche Paralytikerangehorigen gesund waren. Demgegeniiber standen 
die Familien, die syphilitisch bedingte Erkrankungsprozesse entweder 
bei den Ehegatten allein, oder bei diesen und ihren Kindem aufwiesen. 
SchlielJlich fanden sich noch in vereinzelten Fallen pathologische Ver- 
anderungen bei Kindem, deren Mutter weder klinisch noch serologisch 
Anhaltspunkte ftir eine Infektion erkennen lieBen. Bei dieser Sachlage 
ergab sich zwanglos folgende iibersichtliche Gruppeneinteilung: 

I. Ehegatten und Kinder pathologisch. 

II. Ehegatten pathologisch — Kinder normal oderfehlend. 

III. Ehegatten normal — Kinder pathologisch. 

IV. Ehegatten normal — Kinder normal oder fehlend. 

I. Gruppe. 

Ehegatten und Kinder pathologisch. 

(Protokoll 1—30.) 

1. Sch. 

Mann: Geboren 1872. Lues 1896. Heirat 1893. Beginn der Krankheit 1913. 
•Seit 1914 in Anstaltspflege. Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1876. Infektion unbekannt. Starke Kopfschmerzen, Schwin- 
delanfftlle, taubes Gefiihl in den Reinen. 


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Uber Paralytikerfarailien. 


119 


Objektiv: Ungleiche, entrundete Pupillen; L. R. fast ©rloschen, C. R. prompt 
und ausgiebig. Patellar- imd Achillessehnenreflexe schwach, links < rechts. 
Romberg + • Sensibilitatsstorungen an Brust und Beinen. Wa +, Stem +. 
Diagnose: Tabes dorsalis incipiens. 

Geburten: 

1. 1893 — Tochter: Mit 7 Monaten an „Kr&mpfen“ gestorben. 

2. 1894 — Tochter: 1898 an Scharlach gestorben. 

3. 1895 — Tochter: Mit 11 Monaten an „MagenkataiTh“ gestorben. 

4. 1897 — Fehlgeburt im 7. Monat. 

5. 1898 — Fehlgeburt im 6. Monat. 

6. 1899 — Tochter: Totgeboren mit Blasen am ganzen Korper. 

7. 1901 — Tochter: Mit 11 Stunden gestorben. 

8. 1906 — Tochter: Entrundete, ungleiche Pupillen. Reflektorische Pupillenstarre. 

Luesverdachtige Narben am Hals. Imbezill. Besucht Hilfsschule. Wa+ 

9. 1909 — Sohn: Scaphoide Scapulae. Gute Schulzeugnisse. Wa +, Stem +. 

2. Sch. 

Mann: Geboren 1857. Infektionstermin unbekannt. Heirat 1882. Beginn 
der Anstaltspflege 1914. Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1859. Infektion unbekannt. Seit einigen Jahren ziehende 
G liederschmerzen. 

Objektiv: Enge, entrundete, ungleiche Pupillen. Reflektorische Pupillen¬ 
starre. Patellar- und Achillesreflexc schwach, I < r. Romberg: Lidflattern. Wa — 
Stern —. 

Diagnose: Tabes dorsalis imperfecta. 

Geburten: 

1. 1882 — Tochter: Pupillen 1 > r. Reflektorische Pupillentr&gheit. Patellar- 

ref lexe gesteigert. Wa —, Stem -—. 

2. 1883 — Sohn: Angeblich gesund; im Felde. (Nieht untersucht.) 

3. 1884 — Sohn: Angeblich gesund; gefallen. 

3. 1891 — Sohn: Angeblich gesund; gefallen. 

5. 1893 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stern —. 

6. 1902 — Tochter: Mit 19 Stunden gestorben. 


3. H. 

Mann: Geboren 1870. Infektionstermin unbekannt. Heirat 1898. Beginn 
der Anstaltspflege 1911. Gestorben 1914. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1872. Infektion unbekannt. Kopfschmerzen; pelziges Gefuhl 
und Ameisenlaufen auf dem Riicken. 

Objektiv: Pupillen 1 > r, links entrundet und reflektorisch starr. Patellar- 
reflexe gesteigert. Lidflattera. Wa —, Stem +. 

Diagnose: Lues cerebrospinalis. 

Geburten: 

1. 1899 — Sohn: Subjektiv gesund. Objektiv: Patellarreflexe erloschen. W'a—, 


Mann: Geboren 1858. Infektion 1879 (?). Schmierkur. Heirat 1884. In 
Anstaltspflege seit 1911. Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1863. Infektion unbekannt. Subjektiv ohne Beschwerden. 


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120 


F. v. Kohden: 


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Objektiv: Pupillen 1 > r, rechts entrundet. L. R. r < 1. Patellarrefk-xi* 
r > 1. Achillesreflexe 0. Lidflattern. Wa—, Stern _f : . 

Diagnose: Lues cerebrospinalis. 

(Job uric n: 

1. 1884 — Tochter: Mit 5 Tagen gestorben an „Kinnbackenkrampf“. 

2. 1885 — Sohn: Angeblich gesund; im Felde. (N. u.) 

3. 1886 — Sohn: Angeblich gesund; im Felde. (N. u.) 

4. 1890 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa—, Stem—. 

5. 1892 — Sohn: Mit 8 Monaten gestorben an Brechdurchfall. 

6. 1894 — Sohn: Mit 8 Monaten gestorben an Gehimkr&mpfen. 

7. 1897 — Tochter: Bleichsiichtig, kranklich. (X.u.) 

8. 1902 — Sohn: Scaphoidc Scapulae. Mydriasis. L. R. rechts trager und weniger 

ausgiebig als links. Wa —, Stern : n. 

5. M. 

Mann: Geboren 1868. Lues 1900. Heirat 1892. Wegen „Ruckenmarks- 
leiden“ in Oeynhausen behandelt. Beginn der Anstaltspflege 1915. Gestorben 1915. 
Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1868. Infiziert vom Mann 1900. 

Objektiv: Leichte Deraenz imd Euphorie. Enge, entrundete Pupillen. L. R. 
und 0. R. erloschen. Achillessehnenreflex 0. Romberg +• Wa +* Stem -f. 
Diagnose: Paralysis progressiva incipiens. 

Kommt */* Jab** nach der Untersuchung wegen ausgesprochener progressives 
Paralyse zu uns in Anstaltspflege. 

Geburten: 

I. Vor der Infektion: 

1. 1893 — Tochter: Subjektiv und objektiv normal. Wa —, Stern —. 

2. 1894 — Sohn: Subjektiv und objektiv normal. Wa —, Stern —. 

II. Nach der Infektion: 

3. 1901 — Fehlgeburt im 8. Monat. 

4. 1905 — Tochter: Patellar- und Achillesreflexe erloschen. Romberg +• Sca- 

phoide Scapulae. Wa —. 

5. 1906 — Sohn: Scaphoide Scapulae stark ausgepragt. Wa—, Stern —. 

6. B. 

Mann: Geboren 1877. Lues 1906. Heirat 1906. Beginn der Anstaltspflege 1916. 
Gestorben 1917. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1884. Kurz nach der Heirat roter Ausschlag am ganzen Kdr- 
per. 1906 Schmierkur. Klagt iiber Schwindelgefiihl und Kopfschmerzen. 

Objektiv: Pupillen weit, r > 1. L. R. r > 1. Patellarreflexe schwaeh* 
Achillesreflexe lebhaft. Wa -f * Stem +. 

Diagnose: Lues cerebrospinalis. 

Geburten: 

1. 1906 — Fehlgeburt im 6. Monat. 

2. 1907 — Fehlgeburt im 7. Monat. 

3. 1910 — Sohn: Mydriasis. L. R. links sehr trage und wenig ausgiebig. Wa —• 

Stern —. 

7. H. 

Mann: Geboren 1876. Lues 1895. Heirat 1901. Schmierkur und Hg-Injek- 
tionen. Beginn der Anstaltspflege 1916. Gestorben 1917. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1877. Infektion unbekannt. Koine Besehweiden. 


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Uber Paralytikerfamilien. 


121 


Objektiv: Rcchte Pupille verzogen. Reflektorische Pupillentragheit. Pa¬ 
tellar- und Achillesreflexe gesteigert. Lidflattern. VVa +, Stern +. 

Diagnose: Lues cerebrospinalis. 

Geburten: 

1. 1902 — Tochter: Mit 2 Jahren laufen gelemt. Fruher 8ehr schreckhaft und 

„anfallig“. Nachtwandeln. Klinisch frei. Wa —, Stern -f. 

2. 1903 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stern —- 

3. 1906: — Tochter: Hatte einen schicfen Mund; 1915 an Ohreiterung und Gehirn- 

krampfen gestorben. 


8. H. 

Mann: Geboren 1873. Lues 1894. Heirat 1911. Beginn der Anstaltspflege 
1914. Verstorben 1916. f 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1891. Infektion unbekannt. Klagt liber Kopfschmerzen und 
Schlaflosigkeit. 

Objektiv: Mydriasis, 1 > r. Links reflektorische Pupillentragheit. Patellar- 
und Achillesreflexe lebhaft gesteigert. Starker feinschlagiger Tremor der Hande. 
Bei Romberg Lidflattern. Wa —, Stern +. 

Diagnose: Pupillen- und Reflexanomalien. 

Geburten: 

1. 1912 — Tochter: 4 Tage nach der Geburt groBe eitrige Blasen am ganzen 
Korper. A Jetzt sehr lebhaft und nervos. Wa—, Stern ±. 

9. Tr. 

Mann: Geboren 1865. Lues 1899. Heirat 1892. Hg-Kur. Beginn der An- 
staltsbehandlung 1915. Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1867. Vom Mann infiziert 1900. Roter Ausschlag am ganzen 
Korper. Klagt liber allgemeine Schw&che, Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. 

Objektiv: Pupillen r > 1. L. R. trage und wenig ausgiebig. Patellarreflexe 
lebhaft gesteigert, r > 1. Facialis r > 1. Wa —, Stern i. 

Diagnose: Pupillen- und Reflexanomalien. 

Geburten: 

I. Vor der Infektion: 

1. 1893 — Sohn: Angeblich gesund. Im Felde (N. u.) 

2. 1894 — Sohn: Angeblich gesund. Im Felde. (N. u.) 

3. 1896 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stern —. 

II. Nach der Infektion: 

4. 1906 — Sohn: Zart, unterentwickelt, angstlich. Degenerationsstigmata. (Wa. 

nicht gemacht.) 

10. Sch. 

Mann: Geboren 1865. Heirat 1889. Lues 1899. Behandlung 1899: 3—4 
Schmierkuren. Beginn der Anstaltspflege 1915. Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1866. Vom Mann infiziert 1899. Roter Ausschlag, Glieder- 
schmerzen. Zugleich mit dem Mann Schmierkuren. Jetzt keine Beschwerden. 

Objektiv: Rechte Pupille entrundet. Reflektorische Pupillentragheit rechts. 
Wa +, Stern +. 

Diagnose: Pu pillen ano malien. 

Geburten: 


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122 


F. v. Rohden: 


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Vor der Infektion: 

1. 1890 — Tochter: Schlief nach der Infektion des Vatera bei diesera im Bett 

und bekam gleichzeitig mit der Mutter einen roten Ausschlag am gan- 
zen Korper. Klagt jetzt liber Kopfschmerzen und „Nervosit&t“. — 
Objektiv: Patellarreflex links sehr lebhaft, rechts schw&cher. Achil- 
lesreflex 1 > r. Tremor der H&nde +• Bei Romberg starkes Lidfiat- 
tem. Wa +, Stem +. 

2. 1895 — Tochter: Mit 1 Jahr an Gehimentziindung gestorben. 

3. 1898 — Tochter: Subjektiv gesund. — Objektiv: Patellar- und Achillesreflexe 

sehr lebhaft gesteigert. FuBklonus -f. Wa —, Stem —. 

Xach der Infektion: Koine Geburten. 

11, K. 

Mann: Geboren 1867. Heirat 1889. Lues 1892. Mit Hg-Injektionen und 
Schmierkur behandelt. Seit 1911 in Anstaltspflege. Gestorben 1915. 
Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1866. Infektion vom Mann: Kurz nach der Heirat „roter 
Ausschlag “ am Hals. Keine Klagen. 

Objektiv: Ungleiche, entrundete Pupillen. L. R. hnks wenig prompt und 
ausgiebig. Am Hals luesverd&chtige Narben. Wa +, Stem -f. 

Diagnose: Pupillenanomalien. 

Geburten: 

1. 1888 — Sohn: Angeblich gesund. Im Felde gestorben. 

2. 1889 — Sohn: Angeblich gesund. Im Felde gestorben. 

3. 1892 — Totgeburt. 

4. 1893 — Totgcbuit. 

5. —6. 1895—1896: 2 Fehlgeburten im 3. Monat. 

7.—12. 1897—1904: 6 Kinder, alle mit Geschwtiren am Korper geboren; im 
5.—7. Monat gestorben. 

13. 1905 — Tochter: Mydriasis. Linke Pupille sehr wenig ausgiebige L. R. Sca- 

phoide Scapula. Wa +, Stem + . 

14. 1906 — Totgeburt. 

12. M. 

Mann: Geboren 1870. Lues 1891. Heirat 1895. Hg-Injektionen 1896. Beginn 
der Erkrankung 1908. In Anstaltspflege seit 1912. Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1872. Infektion kurz nach der Heirat, sehr starke Kopfschmer¬ 
zen und viele Beschwerden. 1896 nach der 2. Fehlgeburt mehrere Hg-Injektionen. 

Objektiv: Rechte Pupille entrundet und groBer als links. Reflektorische 
Pupillentr&gheit rechts. Wa +, Stern +. 

Diagnose: Pu pillenanomalien. 

Geburten: 

1. 1896 — Fehlgeburt im 4. Monat. 

2. 1896 — Fehlgeburt im 5. Monat. 

3. 1897 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

4. 1900 — Tochter: Bekommt einen hysterischen Krampfanfall wahrend der 

Untersuchung. Wa —, Stem —. 

5. 1902 — Tochter: Mit 3 Tagen an „Wassersucht“ gestorben. 

6. 1903 — Tochter: Bettnassen. Sehr schwach in der Schule. Wa —, Stern —. 

7. 1905 — Fehlgeburt (Traubenmole). 

8. 1906 — Fehlgeburt im 3. Monat. 

9. 1908 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stern —. 

10. 1912 - Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa—, Stern—. 


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Uber Paralytikerfamilien. 


123 


13. B. 

Mann: Geboren 1863. Lues 1898. Heirat 1900. In Anstaltspflege seit 1915. 
Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1874. Infektion unbekannt. Keine Beschwerden. 
Objektiv: Linke Pupille entrundet und enger als rechte. Wa —, Stern +. 
Diagnose: Pupillenanomalien. 

Geburten: 

1. 1901 — Sohn: Subjektiv gesund. Objektiv: Rechte Pupille entrundet. L. R. 

trftge und wenig ausgiebig. Patellar- und Achillessehnenreflexe leb- 
haft gesteigert. Wa —, Stem +. 

2. 1902 — Sohn: Mit l l / 2 Jahren Kr&mpfe. Jetzt gesund. Wa—. 

3. 1904 — Sohn: Als kleines Kind Kr&mpfe. Mit 2 1 / t Jahren laufen gelemt. Wa —. 

4. 1905 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —. 

14. M. 

Mann: Geboren 1868. Lues 1897. Heirat 1897. Schmierkur 1899. Beginn 
der Anstaltspflege 1914. Gestorben 1917. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1878. Kurz nach der Heirat vom Mann infiziert. 1899 Sehmier- 
kur. Keine Klagen. 

Objektiv: Lidspalte r > 1. Pat^llarreflexe 1> r. Wa -f. 

Diagnose: Reflexanomalien. 

Geburten: 

1. 1898 — 7-Monatskind, starb nach 2 Wochen. 

2. 1899 — Totes 7-Monatskind, mit Blasenausschlag am ganzcn Korper. 

15. G. 

Mann: Geboren 1881. Lues 1901. Heirat 1904. Beginn der Anstaltspflege 
1913. Gestorben 1913. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1881. Infektion unbekannt. Keine Klagen. 

Objektiv: Mydriasis. Reflektorische Pupillentr&gheit. Patellar- und Achilles¬ 
sehnenreflexe r > 1. Wa —, Stem —. 

Diagnose: Pupillen- und Reflexanomalien. 

Geburten: 

1. 1903 — Fehlgeburt. 

2. 1904 — Tochter: Sehr klein und schmachtig. Starke Kopfschmerzen. Von 

Geburt an beschr&nkt. Linke Pupille weit, rechte Pupille eng und ent¬ 
rundet. L. R. beiderseits wenig ausgiebig, besonders links. Wa —, 
Stem —. 

3. 1905 — Sohn: Mit 8 / 4 Jahren an Brechdurchfall gestorben. 

4. 1906 — Fehlgeburt. 

5. 1907 — Tochter: Blasses, zartes Aussehen. Schw&chlich. Zungenfehler. Pa- 

tellarreflexe 1 > r. Wa —, Stern —. 

6. 1908 — Fehlgeburt. 

7. 1908 — Sohn: Sehr klein und unterentwickelt. Lernt sehr sehwer. Kurz nach 

der Geburt ein groBblasiger Ausschlag. Abducenslahmung rechts. Ska- 
phoide Scapulae. Wa —, Stem —. 

8. 1909 — Tochter: Mit a / 4 Jahren an Lungenentziindung gestorben. 

16. H. 

Mann: Geboren 1875. Zwischen 1896—1904: 6—7 Schmierkuren. Heirat 1904 
Erste Wa-Untersuchung 1911 positiv. Seitdem etwa 10 Neosalvarsaninjektionen. 


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124 


F. v. Rohden: 


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Die in den folgenden Jahren Omal wiederholte WaR. im Blut und Liquor wurde 
. nur 2 mal voriibergehend negativ. Beginn der Anstaltspflege 1915. Gestorben 1915. 
Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geb. 1887. Infektion unbekannt. Klagt liber Kopfschmerzen und 
Schwindelgefiihl. 

Objektiv: Mydriasis. L. R. sehr wenig prompt und ausgiebig. Facialis r > 1. 
Tremor der H&nde +. Romberg: Lidflattem. Wa —, Stern —. 

Diagnose: Pupillen- und Innervationsanomalien. 

Geburten: 

1. 1905 — Tochter: Pupille r > 1. Rechte Pupille etwaa entrundet, reagiert auf 
I . Licht weniger ausgiebig ala links. Wa —•, Stem —. 


Mann: Geboren 1862. Infektionstermin unbekannt. Seit 1913 in Anstalts- 
pflege. Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1864. Heirat 1885. Infektion unbekannt. Keine Beschwerden. 
Objektiv: Ungleiche, entrundete Pupillen. L. R. tr&ge, 1 < r. Patellar- 
reflexe lebhaft gesteigert. Wa —, Stem —. 

Diagnose: Pupillen- und Reflexanomalien. 

Geburten: 

1.—4. 1886—1890: In den ersten Tagen und Monaten an „Zahnkr&mpfen“ gest. 

5. 1891 — Tochter: Angebtich gesund. (N. u.) 

6. 1893 — Tochter: Angeblich gesund. (N. u.) 

7. —12. Naeh 1894 6 Kinder friih gestorben. 

13. 1 Fehlgeburt im 8. Monat. 


18. B. 

Mann: Geboren 1875. Lues 1899. Heirat 1904. Beginn der Erkrankung 1912. 
Seit 1916 in Anstaltspflege. 

Diagnose: Paralysis progressiva incipiens. 

Frau: Geboren 1884. Infektion unbekmnt. Keine Beschwerden. 
Objektiv: Reflektorische Pupillentrfigheit. Wa —, Stern —. 

Diagnose: Pupillenanomalien. 

Geburten: 

1. 1904 — Sohn: Als Kind Stimmritzenkrampf. Sehr schmaler und hoher Gau- 

men. L. R. links weniger prompt und ausgiebig als rechts. Wa —, 
Stem —. 

2. 1916 — Tochter: Bei der Geburt Blasenausschlag am ganzen Korper. Pupillen. 

weit. Ref lektorische Pupillentrfigheit links. Wa —, Stem —. 

3. 1908 — Tochter: Keine Zeichen von Lues. Wa —, Stem —. 

4. 1912 — Fehlgeburt im 5. Monat. 

5. 1914 — Fehlgeburt im 3. Monat. 

19. B. 

Mann: Geboren 1884. Lues 1905 ( ?). Heirat 1908. Seit 1915 in Anstaltspflege. 
Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1887. Infektion unbekannt. Klagt uber Kopfschmerzen und 
„Krftmpfe“. 

Objektiv: Hysteriforme Krampfanfalle. Patellar- und Achillesreflexe sehr 
lebhaft gesteigert. Wa —, Stem —. 

Diagnose: Reflexanomalien. 


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Uber Paralytikcrfamilien. 


125 


Geburten: 

1. 1909 — Sohn: Zartes, blasses Aussehen. „Nervos“, ftngstlich. Patellarreflexe 

gesteigert. (Wa nicht gemacht.) 

2. 1913 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. (Wa nicht gemacht.) 

20. W. 

Mann: Geboren 1876. Lues 1902. Heirat 1905. Seit 1916 in Anstaltspflege. 
Gestorben 1917. 

Diagnose: Paralysis progressiva incipiens. 

Frau: Geboren 1881. Infektion unbekannt. Keine Beschwerden. Klinisch 
frei. Wa —, Stern +. 

Diagnose: Lues latens. 

Nach 3 monatiger Behandlung mit Salvarsan und Quecksilber Wa —, Stem —. 
Geburten: 

1. 1906 — Tochter: Klinisch frei. Wa +, Stem +. 

2. 1911 — Sohn: Klinisch frei. Wa —, Stem +. 

Nach Behandlung wie bei der Mutter zeigen beide Kinder Wa —, Stem —. 

21. S. 

Mann: Geboren 1874. Lues 1894. Schmierkur 1894. Heirat 1906. Beginn 
der Erkrankung und Anstaltspflege 1914. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1883. Infektion unbekannt. Klagt liber Kopfschmerzen und 
Schwindelanfalle. 

Objektiv: Klinisch frei. 1914 Wa —, Stern ±. 1915 Wa —, Stem i. 

1916 Wa—, Stern -f. 

Diagnose: Lues latens. 

Geburten: 

1. 1907 — Fehlgeburt ini 4. Monat. 

2. 1909 — Tochter: 6 Wochen nach der Geburt eitriger Blasenausschlag am ganzen 

Korper. Blasses, zartes Aussehen. Luesverd&chtige Narben am Hals. 
Indolente Inguinaldriisen. Scaphoide Scapulae. Sehr schwache Pa¬ 
tellarreflexe. Reizbar, launisch. Wa —, Stern ±. 

3. 1910 — Sohn: Mit 1 / 4 Jahr eitrige Geschwlire am ganzen Korper. Mit l / 2 Jahre 

,,Krampfe“. BlaB und schwachlich. Luesverdachtige Narben. Sca¬ 
phoide Scapulae. Wa—, Stern i. 

22. G. 

Mann: Geboren 1869. Lues 1896. Seit 1912 in Anstaltsbehandlung. Gestor¬ 
ben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

1. Frau: Heirat 1893. Gestorben 1909 am Puerperalfieber. 

Geburten: 

1. 1894 — Tochter: Soil stets krtinklich gewesen sein. 1912 an Gehimhautent- 

ziindung gestorben. 

2. 1897 — Tochter: Sehr klein, ungesundes Aussehen. Angeborene Hiiftgelenk- 

luxation. Sattelnase. Mydriasis. Wa +, Stern -f- 

3. 1902 — Tochter: Sehr zart und unterentwickelt. Wa -f, Stern +. 

4. 1904 — Sohn: Schwachlich, unterentwickelt. Stottert. Besehrankt. Lernt in 

der Schule sehr schwer. Wa +, Stem +. 

5. 1906 — Sohn: Sehr blasses, zartes Aussehen. Wa +> Stern 

0. 1909 — Sohn: Ganz unterentwickelt, korperlich und psvchisch. Wa +» 
Stem -j-. 

7.—10. 4 Fehb und Totgcburten z wise hen den lebenden Kindern. 


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126 


F. v. Rohden: 


2. Frau: Geboren 1879. Heirat 1910. Infektion unbekannt. Klagt fiber 
,,Nervoeit&t“. 

Objektiv: Ungleiche, entrundete Pupillen. L. R. links tr&ge. Wa —, Stem —. 
Geburten: 0. 

23. S. 

Mann: Geboren 1858. Infektionstermin unbekannt. Seit 1915 in Anstalts- 
pflege. Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1873. Heirat 1901. Gestorben 1915 an Lungentuberkulose. 
(N. u.) 

Geburten: 

1. 1902 — Sohn: Blasses, zartes Aussehen. Henkelohren. Scaphoide Scapulae. 

L. R. r < L Wa —, Stem ±. 

2. 1904 — Sohn: Bettn&sser. Henkelohren, hoher Gaumen. Scaphoide Scapulae. 

Schreckhaft. Wa —, Stem 

3. 1908 — Sohn: Angstlich, n&chtliches Aufschrecken. Henkelohren. Scaphoide 

Scapulae. Patellarreflexe sehr lebhaft. Tremor +. Wa —•, Stern —. 

24. H. 

Mann: Verschollen. 

Frau: Geboren 1867. Lues 1896. Seit 1914 in Anstaltspflege. Gestorben 1915. 
Diagnose: Dementia paralytica. 

Geburten: 

1. 1899 — Tochter: Angeblich gesund, Wa +. (Laut Mitteilung einer Leipziger 
Anstalt, in der das M&dchen untergebraeht ist.) 

25. K. 

Mann: Gestorben 1910 an Lungentuberkulose. 

Frau: Heirat 1909. Infektionstermin unbekannt. Seit 1916 in Anstaltspflege. 
Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Geburten: 

1. 1909 — Tochter: Unterentwickelt, schw&chlich, skrofulos. Strabismus. Im- 
bezill. Wa +, Stem +. 

26. H. 

Mann: Geboren 1864. Lues 1898 (?). Heirat 1899. Beginn der Anstaltspflege 
1914. Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1873. Infektion 1899, sofort nach der Heirat (1899) roter 
Ausschlag am ganzen Korper, nicht behandelt. Hat keine Beschwerden. 
Objektiv: Pupillen und Reflexe ohne Befund. Wa +• 

Geburten: 

1.—6. 1900—1907: 6 Kinder, in den ersten Tagen und Wochen an Darmstorungen 
und Krftmpfen gestorben. 

7. 1909 — Sohn: Bei der Geburt und in den ersten Lebensjahren normal Beginnt 

seit einiger Zeit in der Schule aufzufalien, das Ged&chtnis versagt im- 
mer mehr, gibt sinnlose Antworten, redet wiires Zeug, klagt fiber 
Kopfschmerzen, f&llt h&ufig hin. — Objektiv: Somatisch bis auf 
scaphoide Scapulae normale Verhaltnisse. Wa +* Psychisch: Deut- 
liche Intelligenz- und Gedachtnisstorungen. 

8. 1910 — Fehlgeburt. 


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Uber Paralytikerfamilien. 


127 


27. W. 

Mann: Geboren 1875. Lues 1898. Heirat 1895. Beginn der Erkrankung 1914. 

Seit 1916 in Anstaltspflege. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1875. Infektionstennin unbekannt. Hat vor 2 Jahren an 
starken Nervenschmerzen im Gesicht gelitten. Mehrere Salvarsaninjektionen. 
Gegenw&rtig keine Beschwerden. 

Gbjektiv: Pupillen und Reflexc ohne Befund. Auch sonst kein Zeichen 
von Lues. Wa +> Stern +. 

Geburten: 

Vor der Infektion: 

1. 1895 — Sohn: Bei der Geburt gestorben. 

Xach der Infektion: 

2. 1898 — Sohn: Psychisch und moralisch minderwertig. In Fursorgeerziehung. 

(N.u.) 

3. 1899 — Tochter: Rachitis. Skrofulose. Linke Pupille sehr tr&ge und wenig 

ausgiebige L. R. Wa —, Stern —. 

4. 1902 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stern —. 

5. 1905 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

6. 1907 — Tochter: Mit 1 Jahr an Brechdurchfall gestorben. 

7. 1908 — Fehlgeburt. 

28. K. 

Mann: Geboren 1873. Lues 1897. Ausgiebig behandelt. Heirat 1902. Beginn 
der Erkrankung und Anstaltspflege 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1874. Infektion unbekannt. 

Subjektiv: gesund. Objektiv: Pupillen 1 > r, links nicht ganz rund. 
L. R. links trage und wenig ausgiebig. Patellar- und Achillessehnenreflexe leb- 
haft gesteigert. Romberg: Lidflattem. Wa —> Stem —. 

Diagnose: Pupillen- und Reflexanomalien. 

Geburten: 

1. 1903 — Sohn: Von Kindheit an sehr zapplig, nervos, aufgeregt und j&hzomig. 

Mittelm&fliger Schuler. — Objektiv: BlaB. Scapula scaphoidea stark 
ausgepr&gt. Patellar- und Achillessehnenreflexe lebhaft gesteigert. 
FuCklonus. Wa —* Stern —. 

2. 1908 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stern —. 

29. Sch. 

Mann: Geboren 1867. Lues 1890. Beginn der Erkrankung und Anstalts¬ 
pflege 1916. Gestorben 1917. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: I. Ehe 1897: 1900 an Unterleibsleiden gestorben. 

Frau: II. Ehe 1902: WeiB nichts von Infektion. 

Subjektiv: Gesund. 

Objektiv: Pupillen sehr weit. L. R. sehr tr&ge und wenig ausgiebig. Reflexe 
lebhaft. Wa -f, Stem +. 

Diagnose: Pupillenstorungen. 

Geburten: I. Ehe: 

1. 1898 — Tochter: Subjektiv gesund. Objektiv: Ungleiche Pupillen, 1 < r. 

L. R. links sehr tr&ge. Wa —. 

2. 1899 — Tochter: Klein gestorben. 

II. Ehe: 1907 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa -—, Stem—. 


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128 


F. v. Rohden: 


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30. F. 

Mann: Geboren 1865. Lues 1889. Schmierkur. Heirat 1895. Beginn der 
Krankheit und Anstaltspflege 1916. Gestorben 1917. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1872. Seit Jahren krftnklich. Ziehende Schmerzen in den 
Gliedem. 

Objektiv: Pupillen 1 > r. Facialiszucken. Rcflexe o. B. Wa —, Stem —. 

Diagnose: Pupillenstorungen. 

Geburten: 

1. 1896 — Tocbter: Klagt iiber rheumatische Beschwerden, Kopf- und Riicken- 

schmerzen und Ohnmachtsanf&lle. Trigeminusdmckpunkte schmerz- 
haft. Klopfempfindlichkeit des ganzen Kopfes. Patellar- und Achilles- 
reflexe sehr lebhaft. FuBklonus. Wa —, Stem —. 

2. 1896 — Fehlgeburt. 

3. 1897 — Tochter: Angeblich gesund. (N. u.) 

4. 1898 — Tochter: Mit 1 1 / 2 Jahren an Krampfen gestorben. 

5. 1899 — Sohn: \ 

6. 1900 — Tochter: > Angeblich gesund. (N. u.) 

7. 1903 — Tochter: J 

8. 1904 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stern —. 

9. 1905 — Sohn: Angeblich gesund. (N. u.) 

10. 1906 — Sohn: Mit 10 Wochen an Kr&mpfen gestorben. 

11. 1910 — Sohn: Angeblich gesund. (X. u.) 

Wir haben es hier mit einer Gruppe von Familien zu tun, bei denen 
die verheerende Wirkung der Syphilis am deutliehsten in Erscheinung 
tritt. Nehmen wir z. B. den typischen Fall der Familie Sch. (Prot.- 
Nr. 1): Der Mann, bis dahin frei von Lues, heiratet mit 21 Jahren und 
zeugt zunachst 3 gesunde Kinder, die allerdings im Laufe der ersten 
vier Lebensjahre Kinderkrankheiten zum Opfer fallen. Im vierten Jahre 
der Ehe infiziert der Mann sich syphilitisch. Die nachste Folge ist, 
daB die alljahrliehe Konzeption zum erstenmal ausbleibt. In den 
3 nachsten Jahren folgen 2 Fehlgeburten und eine syphilitische Tot- 
geburt, endlich im 5. Jahr nach der Infektion ein zwar ausgetragenes, 
jedoch lebensunfahiges Kind, das sehon nach 11 Stunden stirbt. Erst 
nach 5jahriger Pause, also 10 Jahre nach dem Primaraffekt, wird das 
erste lebensfahige Kind geboren, ein Madchen, das jetzt 11 Jahre alt 
ist und deutliche Zeichen eines syphilogenen Nervenleidens, verbunden 
mit angeborenem Schwachsinn aufweist. Dann folgt nach weiteren 
3 Jahren zum SchluB ein Sohn mit positiver Wassermannreaktion im 
Blut und scaphoiden Schulterblattern, die nach Graves 15 ) und Re ye 61 ) 
ein Zeichen kongenitaler Lues sein sollen. Der Vater erkrankt 4 Jahre 
nach der Geburt des letzten Kindes an Paralyse und stirbt nach 2 Jahren. 
Bei der Mutter macht sich jetzt eine beginnende Tabes bemerkbar. 

Neben dieser schwersten Form familiarer Syphilis sind in dieser 
Gruppe auch solche Familien vertreten, in denen Frauen und Kinder 
klinisch anscheinend gesund geblieben sind; nur der positive Ausfall 


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tJber Paralytikerfamilien. 


129 


der Wassermannreaktion deutet darauf hin, daB eine Infektion auch 
hier stattgefunden hat (Prot.-Nr. 20 u. 21). Zwischen diesen beiden 
Grenzfallen sehen wir Paralytikerangehorige mit den verschiedensten 
Graden und Erscheinungsformen syphilitischer Infektion. Eine Sonder- 
stellung nimmt Fam. 10 ein: Hier erfolgte die Infektion des Ehegatten 
10 Jahre nach der Heirat, nachdem schon 2 ursprimglich gesunde Kinder 
geboren waren. Zur Zeit der Untersuchung lassen sich bei der alteren 
Tochter ebenso wie bei der Mutter krankhafte Veranderungen syphi- 
litischen Ursprungs verbunden mit positiver Wassermannreaktion nach- 
weisen. Es stellt sich heraus, daB die Tochter kurz nach Infektion des 
Vaters bei diesem im Bett geschlafen und gleichzeitig mit der Mutter 
einen roten Ausschlag am ganzen Korper bekommen hatte, der damals 
auch sofort mit Quecksilbersalbe behandelt worden war. 

Zu dieser I. Gruppe, die also dadurch charakterisiert ist, daB die 
nichtparalytischen Ehegatten und mindestens eines der Kinder in 
jeder Familie pathologische Veranderungen syphilogener Natur auf- 
weisen, gehoren 30 von 70 untersuchten Familien, also 43%. In diesen 
30 Familien konnten 27 sekundar infizierte weibliche Ehegatten unter- 
sucht werden. Hiervon hatten 15 ein syphilogenesNervenleiden; 8 weitere 
zeigten Reflex- und Pupillenstdrungen bei negativem serologischen 
Befund; umgekehrt fand sich in 4 Fallen eine positive Wassermann¬ 
reaktion ohne irgendwelche klinischen Erscheinungen. Im ganzen war 
bei 19 Frauen die Syphilis serologisch nachweisbar. Die Zahl der Gravi- 
ditaten, die aus der Zeit nach Infektion des paralytischen Ehegatten 
stammen, betragt in dieser Gruppe 139. Davon sind Fehl- und Tot- 
geburten 28, in den ersten Lebensjahren starben 40 Kinder. Am Leben 
sind zur Zeit noch 71, von denen 59 zur Untersuchung gelangten. Unter 
ihnen waren 17 = 29% gesund und 42 = 71% pathologisch. Die Ge- 
sundheitsverhaltnisse der Frauen und Kinder im einzelnen sollen weiter 
unten (S. 148ff.) zusammenhangend besprochen werden. 

II. Gruppe. 

Ehegatten pathologisch — Kinder normal Oder fehlend. 

(Protokoll 31—51.) 

31. P. 

Mann: Geboren 1875. Lues 1896. Schmierkur. Heirat 1904. Seit 1912 in 
Anstaltsbehandlung. Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1876. Infektion unbekannt. Leidet an Kopfschmerzen und 
„GliederreiOen“. 

Objektiv: Bechte Pupille entrundet, r < 1. Beohts reflektorische Pupillen- 
tragheit. Patellarreflexe schwach, 1 < r. Acbillesreflexe erloschen. Romberg +. 
Tremor +. Wa —, Stem —. 

Diagnose: Pupillen- und Reflexanomalien. Tabes dorsalis (?). 

Z. t d. g. Near. a. Psyoh. O. XXX VIL 9 


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13© 


F. v. Rohden: 


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i , Geburten: 

1 . 1906 — Sohn; Angeblich gesund (X. u.) 

2. 1911 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa—, Stern—. 

3; 1913 — Tochter: Angeblich gesund. (X. u.) 

32. M. 

Mann: Geboren 1863. Lues 1888. Seit 1913in Anstaltspflege. Gestorben 1915. 
Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1863. Infektion unbekannt. Leidet seit mehreren Jahren 
an sehr starken Kopfschmerzen, Schwindelanf&llen und „Magenkr&mpfen“. 

Objektiv: Rechte Pupille eng, entrundet, auf Licht und Konvergenz starr. 
Linke Pupille weiter, schwache L.- und C. R. Facialisdifferenz, r > L Patellar- 
reflex r > 1. Romberg +. Wa +, Stem +. 

Diagnose: Tabes dorsalis imperfecta. 

Geburten: 

1888 — Sohn: Angeblich gesund. Im Feld. 

33. K. 

Mann: Geboren 1879. Lues 1900. Beginnder Anstaltspflege 1916. Gest. 1916. 
Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau; Geboren 1877. Heirat 1901. Infektion unbekannt. Klagt iiber ziehende 
Schmerzen in den Beinen. 

Objektiv: Reflektorische Pupillentr&gheit. Patellarreflexe sehr lebhaft. 
Wa +. 

Diagnose: Pupillen- und Reflexanomalien. 

Geburten: 

1. 1904 — Fehlgeburt im 3. Monat. 

2 . 1905 — Tochter: Mit 8 Monaten nach Hasenschartenoperation gestorben. 

3. 1906 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

34. P. 

Mann: Geboren 1862. Lues 1902. Heirat 1887. Seit 1915 in Anstaltspflege. 
Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1863. Infektion unbekannt. Klagt iiber ,schlechte Augen“. 
Objektiv: Sehr enge, ungleiche, entrundete Pupillen. L. R. erloschen. 
C. R. +. Wa +, Stem -f. 

Diagnose: Pupillenanomalien (Tabes dorsalis imperfecta?) 
Geburten: 

I. Vor der Infektion: 

1. 1889 — Sohn: Angeblich gesund. Ertrunken. 

2 . 1890 — Tochter: Wegen Epilepsie in Anstaltsbehandlung. Gestorben 1912. 

3. 1893 — Tochter: Angeblich gesund. (X. u.) 

4 . 1894 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

5. 1897 — Sohn: Gesund. Wa—, Stem—. 

6 ‘. 1898 — Todhter: Mit 1 y 2 Jahren an Brustfellentziindung gestorben. 

7. 1899 — Sohn: Mit 6 Jahren an Blinddarmentzundung gestorben. 

II. Xach der Infektion: 

8 . 1906 — Sohn: Mit 9 Wochen gestorben. 

35. Z. 

. j- Mann: Geboren 1880. Lues 1901. Behandelt. Heirat 1909. Seit 1915 in 
Anstaltsbehandlung. Gestorben 1915. 

. Diagnose: Dementia paralytica. 


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Uber Paralytikerfamilien. 


131 


Frau: Geboren 1881. Infektion unbekannt. 

Objektiv: Patellar- und Achillesreflexe lebhaft gesteigert. Wa—, Stern +. 
Diagnose: Reflexanomalien. 

Gebnrten: 

1. 1910 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —. 

2. 1911 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. (Wa nicht gemacht.) 

3. 1914 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. (Wa nicht gemacht.) 

36. Sch. 

Mann: Geboren 1880. Lues 1902. Behandelt. Heirat 1910. Seit 1914 in 
Anstaltspflege. Gestorben 1917. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1881. Infektion unbekannt. Keine Beschwerden. 
Objektiv: Pupillen sehr eng. L. R. wenig ausgiebig. Patellarreflexe lebhaft. 
Wa —, Stem —. 

Diagnose: Pupillen- und Refle xanomalien. 

Geburten: 

1. 1911 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. # 

2. 1914 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —. 

37. J. 

Mann: Geboren 1884. Lues 1905. Heirat 1908. Beginn der Anstaltspflege 1914. 
Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1886. Infektion unbekannt. Keine Beschwerden. 
Objektiv: Pupillen 1 < r. Reflektorische Pupillentrfighcit. Wa—, Stem—■. 
Diagnose: Pupillenanomalien. 

Geburten: 

1 . 1908 — Fehlgeburt im 3. Monat. 

2 . 1909 — Fehlgeburt im 4. Monat. 

3. 1910 — Totgeburt. 

4. 1913 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. (Wa nicht gemacht.) 

5. 1914 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. (Wa nicht gemacht.) 

38. H. 

Mann: Geboren 1877. Infektionstermin vor der Heirat. Heirat 1900. Seit 
1914 in Anstaltspflege: Gestorben 1914. 

Diagnose; Dementia paralytica. 

Frau; Geboren 1873. Infektion unbekannt. Leidet seit mehreren Jahren an 
anfallsweise auftretenden starken Kopf- und Magenschmerzen. 

Objektiv; L. R. sehr tr&ge und wenig ausgiebig. Romberg +. Reflexe o. B. 
Wa — v Stem —> , 

Diagnose: Pupillenstorungen. 

Geburten: 

1 . 1900 -— Sohn: Angeblich gesund. (N. u.) 

2. 1901 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

3. 1903 — Tochter: Mit 5 Wochen gestorben. 

39. W. 

Mann: Geboren 1857. Heirat 1882. Lues 1902. Seit 1913 in Anstaltspflege. 
Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1862. Vom Mann infiziert 1902. GroBes eitemdes Unter- 
8 chenkelgeschwur 1903. Seit 4 Jahren sehr starke Kopfschmerzen. Ameisenlaufen 

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F. v. Rohden: 


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an H&nden und Fii&en. In den letzten Jahren mehrere Schmierkuren und Salvars&n- 
injektionen. 

Objektiv: Enge, ungleiche, entrundete Pupillen, r < L Rechte reflektorisohe 
Pupillenstarre, links reflektorisohe Pupillentrftgheit. Patellarreflexe erloschen. 
Aohillessehnenreflexe rechte +, links —. Sensibilit&tsstorungen. Wa —, Stem —. 
Diagnose: Tabes dorsalis. 

Geburten: 

I. Vor der Infektion: 

1. 1883 — Sohn: Gestorben 1892 an Diphtherie. 

2. 1888 — Tochter: Gestorben 1892 an Diphtherie. 

3. 1892 — Sohn: Angeblich gesund. Im Feld. (N. u.) 

4. 1893’— Fehlgeburt. 

5. 1900 — Fehlgeburt. 

II. Nach der Infektion: 0. 

40. K. 

Mann: Geboren 1875. Lues 1901. Heirat 1905. Beginn der Erkrankung 
1914. Anstaltspflege 1916. Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geb. 1877. Seit 1914 in Anstaltspflege. Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Geburten: 0. 

41. 0. 

Mann: Geboren 1879. Lues 1905. Hg-Injektionen. Heirat 1905. Beginn der 
Anstaltspflege 1914. Gestorben 1914. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1886. Vom Mann infiziert 1905. Ab und zu lanzinierende 
Schmerzen in den Beinen. 

Objektiv: Pupillen r < L Reflektorisohe Pupillenstarre. Fehlen des linken 
Achillessehnenreflexes. Wa +• 

Diagnose: Tabes dorsalis imperfecta. 

Geburten: 0. 

42. T. 

Mann: Geboren 1884. Lues 1902. Mehrere Schmierkuren. Seit 1916 in An¬ 
staltspflege. Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1890. Heirat 1908. Infektion unbekannt. Klagt fiber Mat- 
tigkeitsgefiihl* Ameisenlaufen in den Fingem, ziehende Schmerzen in den Knien- 
Objektiv: Pupillen o. B. Patellarreflexe erloschen. Achillessehnenreflexa 
rechts 0, links sohwach. Romberg: Lidflattem. Wa —, Stem —. 

Diagnose: Reflexanomalien (Tabes dorsalis inoipiens?). 

Geburten: 0. 

43. F. 

Mann: Geboren 1867. Lues 1886 (?). Heirat 1900. Seit 1914 in Anstalts¬ 
pflege. Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1872. Infektion unbekannt. Seit 4 Jahren migr&neartager 
S timkopfschmerz. 

Objektiv: Rechte Pupille nicht ganz rund, r < L Reflektorisohe Pupillen- 
trfigheit. Patellarreflexe lebhaft, r > 1. Achillesreflexe schwach. Psychisch keine 
Zeichen fiir Paralyse. Wa +, Stem +. 

Diagnose: Lues cerebrospinalis. 

Geburten: 0. 


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tjber Paralytikerfamilien. 


133 


44. W. 

Mann: Geboren 1876. Heirat 1899. Lues 1902. Salvarsan 1910. Seit 1915 
in Anstaltspflege. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Fran: Geboren 1875. Infektion unbekannt. Keine Beschwerden. 
Objektiv: Pupillen sehr weit, r > L L. R. trfige und wenig ausgiebig, be- 
Bonders links. Patellarreflex links lebhaft gesteigert, rechts normal. Wa —, Stem— 
Diagnose: Reflex- nnd Pupillenanomalien. 

4 Gebnrten: 0. 

45. P. 

Mann: Geboren 1873. Lues 1902. 2 Schmierkuren und Hg-Injektionen. 
Sehr „nervos“. 

Objektiv: Entrundete, ungleiche Pupillen. Reflektorische Pupillentrfigheit, 
beeonders rechts. Reflexe und Sensibdit&t o. B. Wa —, Stem —. 

Diagnose: Pupillenanomalien. 

Frau: Geboren 1876. Heirat 1908. Vom Mann infiziert 1908. Seit 1916 in 
Anstaltspflege. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Geburten: 0. 

46. Sch. 

Mann: Geb. 1882. Lues 1904. Mehrere Quecksilberkuren 1904. Salvarsan 
und Hg 1912. Seit 1914 in Anstaltspflege Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1883. Heirat 1909. Infektion unbekannt. Seit 1910 groBe 
„Nervosit&t“, Unruhe, Kopfeehmerzen und Angstgefiihl. 

Objektiv: Patellar- und Achillessehnenreflexe sehr lebhaft. Keine Zeichen 
fur Lues. Wa —, Stem —. 

Diagnose: Neurasthenische Beschwerden und Reflexanomalien. 
Geburten: 0. 

47. W. 

Mann: Geboren 1866. Infektionstermin unbekannt. Heirat 1893. Seit 1916 
in Anstaltspflege. Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: 1903 an Uterus-Ca. gestorben. 

Geburten: 

1 . 1894 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

2 . 1896 — Tochter: Angeblich gesund. (N. u.) 

3. 1899 — Sohn: Angeblich gesund. (N. u.) 

48. G. 

Mann: Nicht aufzufinden; nach den Akten Landstreicher und AlkohoHker. 
Frau: Geboren 1880. Heirat 1907. Infektionstermin unbekannt. Beginn der 
Anstaltspflege 1913. Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Geburten: 

1. 1908 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

2. 1911 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

49. K. 

Mann: AlkohoHker. 1904 gestorben durch Suioid. 

Frau: Geboren 1859. Heirat 1881. Infektion unbekannt. Seit 1914 in An¬ 
staltspflege. Gestorben 1917. 

Diagnose: Dementia paralytica. 


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F. v. Rohden: 


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Geburfcen: 

1. 1882 — Sohn: Im Feld/ Angeblich gesund. Wa r-. 

2. 1 Fehlgeburt. 

3. 1889 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

50. K. 

Mann: Geboren 1856. Angeblich gesund und rtistig. (N. u.) 

Frau: Geboren 1861. Heirat 1880. Infektionstermin unbekannt. Beg inn 
der Anstaltspflege 1912. Gestorben 1913. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Geburten: 

1. 1884 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

2. 1885 — Tochter: Kopfschmerzen, „nerv5s“. Objektiv: Gesund. Wa—, Stem—. 

Ihre zwei Kinder von 3 und */ 4 Jahren gesund. Keine Zeichen von Lues. 

51. O. 

Mann: Heirat 1885. Lues 1892. 1896 an unbekannter Krankheijt ge¬ 

storben. 

Frau: WeiB nichts von Infektion. Beginn der Erkrankung 1915. Seit 1916 
in Anstaltspflege. Gestorben 1917 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Geburten: 

Vor der Infektion: 

1. 1886 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —. 

Nach der Infektion: 0. 

In die II. Gruppe wurden 21 Familien aufgenommen, bei denen eine 
Erkrankung der nichtparalytischen Ehehalfte festgestellt werden konnte, 
wahrend die Kinder von nachweisbaren pathologischen Veranderungen 
freigeblieben w^ren oder iiberhaupt ganz fehlten. Zur Untersuchung 
gelangten 1 mannlicher und 15 weibliche Ehegatten. Syphilogene 
Nervenleiden waren in 9 Fallen anzunehmen, und zwar einmal Paralyse, 
dreimal Tabes in verschiedenen Stadien, einmal Lues cerobrospinalis 
und in 3 Fallen isolierte Pupillen- oder Reflexstorungen syphilitischer 
Atiologie. Die ubrigen 8 Ehegatten zeigten Pupillen- und Reflexanom&lien 
bei negativer Wassermannreaktion. Von den 21 Familien sind 10 steril 
geblieben. Die ubrigen 11 haben es nach der Infektion des paralytischen 
Ehegatten im ganzen zu 31 Graviditaten gebracht, eine bemerkenswert 
niedrige Zahl. Hiervon sind noch in Abzug zu bringen 5 Fehl- und 
Totgeburten und 3 friihverstorbene Kinder, so daB zur Zeit der Unter¬ 
suchung nur 23 Kinder noch am Leben waren, von denen 16 untersucht 
wurden. Die 16 Kinder erwiesen sich, soweit sich feststellen lieB, als 
gesund. Bei 5 konnte allerdings die Frage, ob nicht doch eine syphi- 
litische Infektion stattgefunden hat, serologisch leider nicht nach- 
gepruft werden. 


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Uber. Paralytikerfamilien. 


135 


III. Gruppe. 

Ehegatten normal — Kinder pathologisch. 

(Protokoll 52—54.) 

52. N. ' 

Mann: Geboren 1864. Lues vor 1891. Heirat 1891. Beginn der Erkrankung 

1913. Seit 1916 in Anstaltspflege. Gestorben 1917. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1865. Infektion unbekannt. Keine B&schwerden. 
Objektiv: Keine Zeichen von Lues. Wa—, Stern—. 

Geburten: 

1. 1891 — Fehlgeburt im 5. Monat. 

2. 1892 — Totgeburt. 

3. 1894 — Toohter: 1915 2 Salvarsail- und 20 Hg-Injektionen. Damals und auch 

jetzt keine Beschwerden. — Objektiv: Pupillen entrundet. L. R. recbts 
fast erloschen, links sehr scbwach. Patellar- und Achillesreflexe rechts 
schwach, links sehr lebhdft. Wa —•, Stem +. Diagnose: Tabes 
dorsalis incipiens. 

4. 1900 — Totgeburt. 

53. W. 

Mann: Geboren 1875. Infektionstermin unbekannt. Heirat 1899. Seit 1916 
in Anstaltspflege. 

Diagnose: Paralysis progressiva incipiens. 

Frau: Geboren 1877. Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund. 
Wa —> Stem —. 

Geburten: 

1. 1900 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

2. 1908 — Sohn: Mydriasis. Scaphoide Scapulae stark ausgepr&gt. Wa — t 

Stem —. 

54. K. 

Mann: Geboren 1867. Lues 1896. Heirat 1896. Beginn der Anstaltspflege 
1912. Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1875. Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund. 
Wa —, Stem —. 

Geburten: 

1. 1897 — Fehlgeburt im 5. Monat. 

2. 1898 — TocKter: Hat in der Schule sehr schwer gelemt. Geistig zuriickgeblie- 

ben. Somatisch o, B. Wa —, Stem —. 

3. 1900 — Sohn: Mit 4 Monaten an „Kr&mpfen“ gestorben. 

4. 1905 — Fehlgeburt im 5. Monat. 

Wir haben es hier, wie von vomherein angenommen werden konnte, 
mit der bei weitem kleinsten Gruppe zu tun. DaB in vereinzelten Fallen 
die Mutter von kongenital-syphilitischen Kindem sich als klinisch und 
serologisch gesund erweisen wiirde, war nach den Erfahrungen von 
Hauptmann, Raven und Schacherl wohl zu erwarten. Wahrend 
indes die genannten Autoren unter 86 Familien 15 fanden, bei denen diese 
Verhaltnisse vorlagen, konnten wir nur in 3 von 70 Familien diesen 


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136 


F. v. Rohdeta: 


Befund bestatigen. Unter den 10 Graviditaten, die aus diesen 3 Familien 
hervorgingen, zahlen wir 5 Fehl- und Totgeburten, sowie 1 fruhver- 
storbenes Kind. Es leben also noch 4 Kinder, von deneh 3 pathologische 
Veranderungen aufweisen. In 1 Fall (Fam. 52) konnte bei einer 22 jahrigen 
Tochter, bei der sexuelle Infektion auszuschlieBen war, eine beginnende 
Tabes dorsalis auf kongenital-syphilitischer Basis festgestellt werden. 
In den beiden anderen Familien fand sieh je 1 Kind mit somatischen oder 
psychischen Degenerationszeichen bei negativem Ausfall der Wasser- 
mannreaktion. 


IV. Gruppe. 

Ehegatten normal — Kinder normal oder iehlend. 

(Protokoll 55—70.) 

55. H. 

Mann: Geboren 1867. Heirat 1897. Lues 1906. Schmierkur 1907. Beginn 
der Anstaltspflege 1914. Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1873. Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund. 
Wa —, Stem —. 

Geburten: 

I. Vor der Infektion: 

1. 1899 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

2. 1903 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa—, Stem—. 

II. Nach der Infektion: 0. 


56. St. 

Mann: Geboren 1879. Lues 1900. Heirat 1910. Beginn der Erkrankung 1911. 
Seit 1916 in Anstaltspflege. Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund. Wa —■, Stem —. 
Geburten: 

1. 1910 — Tochter: Gesund, keine Zeichen von Lues. (Wa nicht gemacht.) 

2. 1913 — Tochter: Gesund, keine Zeichen von Lues (Wa nicht gemacht.) 


57. St. 

Mann: Geboren 1876. Lues 1897 (?). Heirat 1899. Beginn der Anstaltspflege 
1913. Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1877. Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund. 
Wa —, Stem —. 

Geburten: 

1. 1900 — Sohn: Gesund. Keine Zeichen von Lues. Wa —, Stem —. 

2. 1901 — Tochter: Angeblich gesund. (N. u.) 

3. 1903 — Tochter: Angeblich gesund. (N. u.) 

4. 1905 — Tochter: Gestorben mit 7 Monaten an unbekannter Krankheit. 

5. 1907 — Sohn: Mit eitrigem Blasenausschlag am Kopf geboren. Mit 8 Monaten 

an „Kopfkrftmpfen“ gestorben. 


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137 


Uber Par&lytikerfamilien. 


58. B. 

Mann: Geboren 1868. Lues 1888 (?). Heirat 1805. Beginn der Erkrankung 
1912. Seit 1916 in Anstaltspflege. Gestorben 1917. 
l)iagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1873. Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund. 
Wa —, Stern —. 

Geburten: 

1. 1896 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa—, Stem—. 

2. 1898 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

3. 1902 — Tochter: Mit 3 Monaten an „Zahnkrftmpfen“ gestorben. 

4. 1904 — Fehlgeburt. 

5. 1911 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Keine Zeichen von Lues. 

(Wa nicht gemacht.) 


59. Sch. 

Mann: Geboren 1869. Infektionstermin unbekannt. Heirat 1904. Seit 1916 
in Anstaltspflege. Gestorben 1917. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1875. Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund. 
Wa —•, Stem —. 

Geburten: 

1. 1904 — Sohn: Gesund. Wa —, Stem —. 

2. 1908 — Sohn: Gesund. Wa —. Stem —, 


60. A. 

Mann: Geboren 1883, Lues 1903. Heirat 1912. Seit 1916 in Anstaltspflege. 
Gestorben 1917. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1890. Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund^ 
Wa —, Stem —. 

Geburten: 

1913 — Sohn: Gesund. Keine Zeichen von Lues. (Wa nicht gemacht.) 

61. H. 

Mann: Geboren 1881. Lues 1900. Heirat 1906. Beginn der Anstaltspflege 
1914. Gestorben 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1883. Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund. 
Wa —, Stem —. 

Geburten: 

1908 — Tochter: Angeblich gesund. 1914 an Diphtherie gestorben. 

62. R. 

Mann: Geboren 1871. Lues 1896. Schmierkur. Heirat 1898. Beginn der 
Erkrankung 1914. Seit 1916 in Anstaltspflege. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1877. Infektion unbekannt. Subjektiv: Keine Beschwerden. 
Objektiv: Gesundes Nervensystem. Wa—, Stem—. 

Geburten: 

1899 — Fruhgeburt im 8. Monat. Nach 8 Wochen an allgemeiner Schwache gest. 


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138 F. v. Rohden: 

i 

63. K. 

Mann: Geboren 1879. Lues 1900: Heirat 1908. Beginn der Anstaltspflege 
1916. Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

. Frs^u: Geboren 1886. Infektion unbekannt. 

Subjektiv: Klagen iiber Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit. 

Objektiv: Gesundes Nervensystem. Wa—, Stem—. 

Geburten: 

1. 1908 — Fehlgeburt im 3. Monat. 

2. 1911 — Bauchhohlenschwangersch&ft. 

64. Sch. 

Mann: Geboren 1875. Lues 1895. Heirat 1912. Beginn der Anstaltspflege 
1915. Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1877. Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund. 
Wa —, Stem —. 

Geburten: 0. 

65. M. 

Mann: Geboren 1859. Heirat 1888. Lues 1897. Beginn der Erkrankung 1910. 
Seit 1916 in Anstaltspflege. Gestorben 1916. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1862. Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund. 
Wa —, Stem —. 

Geburten: 0. 

66. Sch. 

Mann: Geboren 1869. Infektionstermin unbekannt. Heirat 1899. Beginn 
der Erkrankung und Anstaltspflege 1915. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1872. Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund. 
Wa —, Stem —. 

Geburten: 0. 

67. S. 

Mann: Geboren 1879. Lues 1905. Heirat 1906. Seit 1916 in Anstaltspflege. 
Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1884. Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund. 
Wa —, Stem —. 

Geburten: 

1. 1907 — Fehlgeburt im 3. Monat. 

2. 1907 — Sohn: Mit 10 Wochen an „Kr&mpfen“ gestorben. 

3. 1909 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. (Wa nicht gemacht.) 

68. M. 

Mann: Geboren 1884. Infektion unbekannt. Heirat 1909. Beginn der Er¬ 
krankung 1915. Seit 1916 in Anstaltspflege. 1916 gestorben. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1885. WeiB nichts von Infektion. Subjektiv und objektiv 
gesund. Wa —Stem —. 


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Cber Paralytikerfamilien. 


139 


. Geburten: ' " 

1. 1911 — Sohn: Subjektiv und objektiv normal. Wa—, Stem—. 

2. J912 — Fehlgeburt. 

09. O. 

Mann: Geboren 1876. Lues 1898. Heirat 1900. Beginn der Erkrankung 
und Anstaltspflege 1910. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1880. WeiB nichts von Infektion. Subjektiv und objektiv 
gesund. Wa —, Stem —. 

Geburten: 

1. 1900 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

2. 1902 — Sohn: Mit 4 Wochen an Kopfkr&mpfen gestorben. 

3. 1903 — Fehlgeburt in der 6. Woche. 

4. 1904 — Tochter: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stem —. 

5. 1905 — Tochter: Mit 4 Wochen an Kr&mpfen gestorben. 

6. 1906 — Sohn: Friihgeburt im 8. Monat, gestorben. 

7. 1907 \ 

8. 1913 > 3 Fehlgeburten. 

9. 1914 J 

10. 1915 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. (Wa nicht gemacht.) 


70. H. 

Mann: Geboren 1808. Lues unbekannt. Heirat 1893. Beginn der Krankheit 
und Anstaltspflege 1916. Gestorben 1917. 

Diagnose: Dementia paralytica. 

Frau: Geboren 1806. Infektion unbekannt. Subjektiv und objektiv gesund. 
Wa —. Stem —. 

Geburten: 

1. 1894 — Tochter: Mit 2 Wochen gestorben. 

2. 1895 — Sohn: Soldat. Subjektiv und objektiv gesund. (Wa nicht gemacht.) 

3. 1897 — Sohn: Mit 1V 2 Jahren an Kr&mpfen gestorben. 

4. 1899 — Sohn: Subjektiv und objektiv gesund. Wa —, Stern —. 

5. 1900 — Abort im 3. Monat. 

In 16 von 70 Familien erwiesen sich also die Angehorigen der Para- 
lytiker klinisch und serologisch frei von syphilitischen oder degenerativen 
Veranderungen. Also nur in 23% der Falle bleibt der schadi- 
gende EinfluB der Syphilis auf den primar infizierten Ehe- 
gatten beschrankt. Bringt man noch in Abzug die 7 Familien, in 
denen die Kinder entweder fehlen oder vor der Infektion des Vaters 
geboren wurden, so hatten wir im ganzen nur 9 Familien, bei denen 
Schadigungen der Angehorigen zur Zeit der Untersuchimg nicht 
nachweisbar waren. Im einzelnen blieben von den 16 untersuchten 
Familien 4 steril, in einer kam es nur zu Fehlgeburten, in 2 wei- 
teren starben die Kinder friih. Es bleiben also ubrig 8 Familien mit 
39 Graviditaten. Darunter sind 10 Fehlgeburten und 11 fruhver- 
storbene Kinder. Von den 18 lebenden wurden 16 untersucht und 
gesund befunden. Es ist allerdings zu bemerken, daB bei 6 Kindem 


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140 


F. v. Rohden: 


die serologische Untersuchung nicht vorgenommen werden konnte, so 
daB sich mdglicherweise das Besultat noch verschlechtert. Die beiden 
anch klinisch nicht untersuchten Kinder sollen nach Angabe der Eltem 
gesund sein. 

Vor der kritischen Besprechung unserer Untersuchungsergebnisse 
soil eine tabellarische Zusammenstellung der gewonnenen Resultate 
gegeben werden. Hiermit verbunden wird eine schematische tlbersicht 
iiber das aus der Literatur gewonnene Material, soweit es sich um klinisch 
und serologisch genau untersuchte Paralytikerfamilien handelt. In 
Betracht kommen hierffir nur die serologischen Familienuntersuchungen 
von Hauptmann 18 ), Raven 60 ) und Schacherl 63 ). Plaut und 
Goerings 58 ) wertvolle Beitrage konnen in dieser Zusammenstellung 
leider nicht verwertet werden, da sie in ihrer Arbeit auf die Mitteilung 
der anamnestischen und klinischen Daten im einzelnen verzichtet 
haben. 

Die im folgenden tabellarisch aufgefuhrten Protokolle fiber 70 eigene 
und 86 fremde Paralytikerfamilien (s. Seite 141 ff.) stellen ein nach ein- 
heitlichen Gesichtspunkten untersuohtes und geordnetes Krankenmate- 
rial dar, sodaB es wohl berechtigt erscheint, allgemeine Schlfisse hieraus 
zu ziehen. Es wird sich zeigen, daB die Autoren im einzelnen zwar zu 
zahlenmafiig natfirlich nicht ganz tibereinstimmenden Schlfissen gelangen, 
daB jedoch das aus den 4 Arbeiten gewonnene Gesamtresultat mit den 
Einzelergebnissen sehr wohl in Einklang zu bringen ist. 

Ftir die tabellarische Ubersicht wurde wieder die Gruppeneinteilung 
gewahlt. Es erwies sich als undurchftihrbar, das von Hauptmann 
und Raven angewandte Einteilungsprinzip zugrunde zu legen, und 
zwar in der Hauptsache deshalb, weil von mir nur Paralytikerfamilien, 
von Hauptmann und Raven dagegen neben diesen auch Familien 
ohne syphilogene Nervenkrankheiten in Gruppen eingeordnet werden 
muBten. Zu der IV. Gruppe — Ehegatten und Kinder normal — liefem 
Hauptmann und Raven keine Beispiele. Sie haben ausdrficklich 
von der Veroffentlichung der Protokolle fiber Familien, bei denen samt- 
liche Angehorigen somatisch und serologisch gesund sind, abgesehen. 
Raven fand unter 117 Syphilitikerfamilien 27, die diesen Voraus- 
setzungen entsprachen; Hauptmann gibt neben seinen 43 kranken 
Syphilitikerfamilien die Zahl der gesunden leider nicht an. In der 
IV. Gruppe sind daher nur Schacherls und meine Familien ver- 
treten. 

Die 156 Paralytikerfamilien setzen sich nun zusammen aus 17 Fallen 
von Hauptmann, 27 von Schacherl, 42 von Raven und 70 eigenen. 
Innerhalb der einzelnen Gruppen sind die gleichartigen Erkrankungen 
der sekundar infizierten Ehegatten nach Moglichkeit zusammengestellt. 


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Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



tJber Paralytikerfamiiien. 141 


Grippe I. Ehegatten and Kinder pathologisch*). 


ii a* 

Anftor 

u.Prot.- 

Hr. 

Mann 

Frau 

Belrat 

Infek 

3 

a 

ftlon 

I 

Geburten 


Bo5 

Paralyse 

15 

Paralyse 1 

16 

92 

00 

00 

Tor Inf.: 98, 94 1 Nnch Inf.: 0IA 

106 organ.) 1061 

2 

16 

Paralyse 

12 

Tabes + 

99 

98 

— 

1061 4 Kinder nicbt untersuebt 

8 

Bn 24 

Paralyse 

12 

Tabes (?) 

91 

— 

— 

|Pj j§ beide frtth gestorben 

4 

Seha7 

Paralyse 

14 

Tabes 

. — 

— 

— 

[96] |98 oTBT+ 1 f0Tj [06] 

5 

8cha 14 

Paralyse 

Tabes 

; — 

— 

i — 

|6i o. B. + | 

1 


14 






6 i 

Rol 

Paralyse 

18 

Tabes + 

94 

96 

i — 

Vorlnf.: 98f91t96t i Nnch Inf.: 97A 
96A 99A 01 + | 06 org. + | |09 +[ 

7 ! 

Ro2 

Paralyse 

14 

Tabes 

I 

[ 82 

— 

— 

|B2 org.| [88] 84+ 911 » 081 

8 

8chal8 

Paralyse 

14 

Lues cerebro¬ 
spinal. + 

— 

98 

— 

A A A | 07 org. + l [10] 

9 

| Bo8 

Paralyse 

11 

Lues cerebro¬ 
spinal. + 

98 



199 org. | 

10 

Bo 4 

Paralyse 

11 

Lues cerebro¬ 
spinal. + 

84 

— 

— 

84t [86] [86100 92t 94+ [97] | 02 org. + j 

11 

Bo 6 

Paralyse 

16 

Lues cerebro¬ 
spinal + 

06 

06 

06 

06A 07A 110 org. | 

12 

Bo 7 

Paralyse 

Lues cerebro- 

01 

96 

— , 

[02 o. B. + | 08 06+ 08 



16 

spinal + 





18 

8cha27 

Pup.-Befl. + 

14 

Paralyse 

— 

00 


A A A A Aft | 08 org. + | 

14 

Bo 8 

Paralyse 

14 

Pup.-Bell. + 

11 

94 

— 

n*+l 

15 

Bo 9 

Paralyse 

15 

Pup.-BefL ± 

92 

99 

— 

Vorlnf.: [96] [94] 90 [ Nnch Inf.: [061 

16 

Ral8 

Paralyse 

12 

Pup. 4- | 

88 

94 

— 

Vorlnf.:8990: Nnch Inf.: [SQ jST+i 

17 

Bol9 

Paralyse 

18 

Pup. + 

— 

— 

— 

fOt] 05 

18 

Ha 9 

Paralyse 

11 

Pup. + 

— 

— 

— 

m m [Ni [N] [nj+ 

19 

Schal 

Paralyse 

Pup. + 

02 

98 

— 

1 04 org. + | A tt 



14 






20 

SchalO 

Paralyse 

14 

Pup. + 

- 

— 

01 

AAA [JO] Q|] 

21 

Schall 

Paralyse 

14 

Pup. + 

— 

— 

— 

A A A 198 orgT| 100 org. | 

22 

Bo 10 

Paralyse 

15 

Pup. + 

89 

99 

99 

Vor Inf.:* | 90 or*. + | 96+ [98 org. | 

28 

Boll 

Paralyse 

11 

Pup. + 

89 

92 

92 

Vor Inf.: 88+ 89+ : Nach Inf.: 92A96A 
96A +++ + + + | 05 org. + | 06A 

24 

Bo 12 

Paralyse 

08 

Pup. + 

95 

91 

95 

96A 96A 97 [Wj 02+ [06] 06A 06A 08 12 

25 

Bo 18 

Paralyse 

15 

Pup. + 

00 

98 

— 

| 01 org. 4 - | 02 04 05 

26 

Bo 29 

Paralyse 

16 

L Frau: 1900+ 
IL Frau: Pup. + 

97 

02 

90 

— 

I. Ehe: 198 org. | 99+ : n. Bhe: 07 


*) Erkl&rung der Abkiirzungen siehe S. 143, 146 und 147. 


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Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 










142 


F. v. Rohden 


Gruppe I (Fortsetzung). 


Lfd 

1 Autor 




Infektion 

-——--===== 

Nr 

1 u.Prot. 

Mann 

Frau 

o 

a 

c 

1 3 

Geburten 

Nr. 



X 

a 

X 

2 

t *i 

1 , • > • 

27 

Ro 14 

Paralyse 

14 

Refl. 4 

97 

I 97 

97 

98f 99f 

28 

Ro 15 

Paralyse 

13 

Pup.-Refl. 

04 

01 


as A 104 org. 105 f 06A 107 org. | 08 A fb8l 09f 

29 

Rol7 

Paralyse 

13 

Pup.-Refl. 

85 

— 

— 

86t 87 1 88 1 90 + [91] [93] 91 + ttttt A 

30 

Ro28 

Paralyse 

16 

Pup.-Refl. 

02 

97 

— 

[03] 08 

( 

31 

Ra21 

Paralyse 

10 

Pup. 

— 

95 

— 

E [N] A A ' 

82 

Ra 17 

Pup. 

Paralyse 

13 

— 

88 

— 

rsrj |9T| 98 tttttt a A A A 

33 

Scha 27 

Pup. 

Paralyse 

— 

95 

_ 

A , 05 org. | [08] 




14 




34 

Scha29 

Pup. 

Paralyse 

14 


96 

— 

A 103 org.] 

36 

Ro 16 

Paralyse 

Pup. 

04 

96 

— 

! 05 org. | 

36 

Ro 18 

,5 


1 

04 

99 


_ 4 . . 

, Paralyse 

Pup. 

— 

Ok org. | | 06 org. j (8 12A 14 A 

87 

Ro20 

12 

Paralyse 

16 

Pup. 

95 

89 

J- 

9019C A [97] 98+ [1WI] [00] [03] 01 [06] 06+[10] 

i 

38 

Ro22 

Paralyse 

12 

1.09 Puerperalf.f 
II. Pup. 

93 

lu 

• 

96 

_ 

I. Ehe: <91+ j»7 + | A A A A joFTj ,01 +| 

|06 + 09 5 n. Rbe: — 

39 

Ra ‘22 

Paralyse 

12 

Ren. 

98 

92 

— 

+ [W] |011 [oil fuo] + 

40 

41 

Ro 19 

Paralyse 

15 

Refl. 

08 

I 

— 

— ! 

' 001(13) ; 

1 

Ra 72 

Paralyse 

0. B. 4 

00 

95 


uo org. 4 | 1 

42 

Ra73 

12 

o. B. + 1 

i 

95 

91 


Paralyse 

13 


+ + + + + A !wj org.;! 00 ; 03 ] 0111 07 org. +++- 

_ { | 4 

43 

Ra 74 

Paralyse 

0. B. 4 

— 


*7— 

1 Paralyse 41 1 • 



11 





j 1 

44 

Ra75 

Paralyse 

0. B. 4 

-r 

- 

— 

Lues cerebro-spln. 4 t 02 

46 


Paralyse 

13 





j 

Ra76 

0. B. 4 

*— 


— 

07 0. B. 4 | | 08 0. B. 4 I 10 







- 1 

46 

Ra77 

Paralyse 

0. B. 4 


— 

— 1 

A 107+] 



10 





47 

Ra78 

Paralyse 

0. B. 4 

oo 1 

-L j 

— 1 

f 01 foTj 

48 

Ha 28 

11 



92 



Paralyse 

11 

Paralyse 

11 

0. B. 4 


— 

! 97 0. B. 4 | 100 0. B. 4 | 

40 

Ha 80 

0. B. 4 


01 

— 

t A A (Pj 

60 

61 

Ha 31 j 

Paralyse 

11 

o. B. 4 


96 

— 

Vor Inf.: [STi 91 : Nacli Inf.: fUTt 

Ha 35 

Paralyse 

y 

o. B. 4 


■*“ 

96 

02 org. ) 

62 

Scha 5 

Paralyse 

14 

o. B. 4 


96 

. 1 

— 

[06 +] [08] 


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Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA J 




143 


t)ber Paralytikerfarailien. 


Gruppe I (Fortsetzung). 


LfcV 

Nr. 

| Autor 



* i 

Infektion 1 


u.Prot.- 
1 Nr. 

Mann 

Frau 

a 

a 

5 

a 

Frau 

Geburten 









53 

Ro20 

Paralyse 

o. B. + 

05 

02 

— 

00 o. B. + | (11 o. B. + | 



10 






54 

Ro21 i 

Paralyse 

o. B. + 

00 

94 

— 

07 A ;09 ±1 flO ±| 



14 






55 

Ro26 

Paralyse 

o. B. + 

99 

98 

99 

00 f 011 02 f 03 f 05 f 07 f ffO+] 10 A 



14 





56 

Ro27 

Paralyse 

o. B. + 

95 

m 

__ 

Vor Inf.: 95f Nach Inf.: [W\ 



14 





199 org. | 02 05 07 f 98 A 

57 

1 RatS 

Paralyse 

94 Puerperal- 


90? 

— 1 

Hj [n] [n] 



12 

fleber + 




58 

Ra85 

Paralyse 

11 Herzfehlerf 

I 88 

— 

— 

93 org. 1 f 



12 






50 

Scha 4 

Paralyse 

nicht untersucht 

! — 

98 


| 09 org. + | (12) 



14 





60 

SchalO 

Paralyse 

|nicht untersucht 

' — 

93 

1 _ 

A | 03 org. 4- | 



14 






61 

Ro23 

1 Paralyse 

; 15 Tuberk. + 

01 

— 

I — 

W±] 04 ±| fowl 



15 






G2 

Ro24 

Versehollen 

Paralyse 

! - 


90 

99 o. B. 4- | 




14 





63 

Ro26 

10 Tuberk. f 

Paralyse 

09 

— 

i _ 

09 4-| 




10 

1 





Uber Autor und Protokollnummer gibt in der tabellarischen tjbersicht 
die zweite senkrechte Reihe Auskunft (s. Seite 141 ff.). In der dritten 
und vierten Rubrik sind die Befunde bei den Ehegatten zusammen* 
gestellt. Auf den ersten Blick ist zu erkennen, daB die Paralyse bei 
den Mannem bei weiten iiberwiegt: Den 134 paralvtischen Mannern 
stehen gegenliber nur 21 paraiytische Frauen und 2 Ehepaare mit kon- 
jugaler Paralyse. Die serologisch positiven Falle unter den Paralytiker- 
angehorigen sind dureh ein +- bzw. +-2eichen hinter der Krankheits- 
bezeichnung kenntlichgemacht. Wo also dieses Zeichen bei den Angehorigen 
fehlt, ist die Blutuntersuchung negativ ausgefallen. Bei den Paralytikem 
selbst erubrigte sich in diesem Zusammenhange die Hervorhebung des 
jeweiligen Ergebnisses der Blut- und Liquoruntersuchung. Aus der 
fiinften und sechsten senkrechten Reihe sind die Jahreszahlen fur 
Heirat und Infektionsterrain von Mann und Frau zu entnehmen. Der 
Zeitpunkt des Ausbruchs der Paralyse bzw. des Beginns der Anstalts- 
pflege ist in der dritten Reihe mitvermerkt. In der letzten Rubrik sind 
samtliche Graviditaten in chronologischer Reihenfolge aufgefuhrt. Alle 
kranken Kinder werden hier dadurch kenntlich gemacht, daB ihr 
Geburtsjahr, und soweit dieses nicht bekanht, der Buchstabe P um- 
randet ist. 


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Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 




144 


F. v. Kohdeo: 


Gruppe n. Ehegatten pathologiseh — Kinder normal oder fehlend. 


Lfd. 

Nr. 

Autor 
u. Prot- 
Nr. 

Mann 

Frau 

Heirat 

Infel 
a 1 

iJ 

ctlon 

0 

& 

Geburten 

64 

Bo 40 

Paralyse 

16 

Paralyse 

14 

06 

01 

— 

i 

i- 

66 

Bji8 

Paralyse 

11 

Tabes + 

— 

— 

— 

1- 

i 

66 

Hal 

Paralyse 

11 

Tabes + 

97 


— 

l A 

67 

Ha 2 

Paralyse 

08 

Tabes + 

— 

, — 

— 

— 

68 

Ha 8 

Paralyse 

09 

Tabes + 

— 

98 

— 

A 

60 

Bo 82 

Paralyse 

18 

Tabes + 

88 

88 

— 

[88] 

70 

Boil 

Paralyse 

14 

Tabes + 

06 

06 

06 

r 

71 

Bo 89 

Paralyse 

18 

Tabes 

82 

02 

02 | 

Vor Inf.: 88f 88f [92] 98A 00A 

Nach Inf.: — 

72 

Bo 61 

Tabes 96 f 

Paralyse 

16 

86 

92 

1 

Vor Inf.: 86 \ Nach Inf.: — 

78 

Bal 

Paralyse 

12 

Lues cerebi + 

91 

92 

— 

tt AkOl 

74 

Ha 4 

Lues eerebri + 

Paralyse 

11 

— 

— 

1 _ 

[At 

76 

Bo 48 

Paralyse 

14 

Lues cerebro- 
spin. + 

00 

i 

— i 

i — 

76 

Ba7 

Paralyse 

18 

Pup.-Befl. + 

04 

06 

— 

tt09f 

77 

Ba8 

Paralyse 

12 

Pup.-BefL + 

00 

91 1 

1 

A 

78 

Bo 88 

Paralyse 

16 

Pup.-Befl. + 

01 

00 

— 

04A 06 f 06 

79 

Ba 14 

Paralyse 

11 

Pup. + 

01 

— 

— 

02 06 A 

60 

Ha6 

Paralyse 

11 

Pup. + 

— 

OS 

— 

— 

61 

Ha 7 

Paralyse 

11 

Pup. + 

— 

90 

— 

tft A A A(N) 

62 

Scha28 

Pup. + 

Paralyse 

14 


1 — 

— 

A 06 

68 

Bo 84 

Paralyse 

16 

Pup. + 

87 

02 

— 

Vor Inf.: 89f 90f [93] 94 97 98 f 90r 
Nach Inf.: 06f 

64 

Bal2 

Paralyse 

11 

Befh + 

— 

— 

_ 

t 06 f A 

66 

Bo 86 

Paralyse 

16 

Beil + 

09 

01 

— 

10 (11) (14) 

66 

Bo 81 

Paralyse 

12 

Pup.-Befl. 

04 

96 

— 

[06] 11 [18] 

67 

Bo 86 

Paralyse 

14 

Pup.-Befl. 

10 

02 

— 

11 14 

88 

Bo 44 

Paralyse 

16 

Pup.-Befl. 

99 

02 

— 

— 

69 

8cha 15 

Paralyse 

14 

Pup. 


| 02 

i 


09(11) 


Digitized by 


Gck igle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Uber P&ralytikerfamilien, 
Gruppe II (Fortsetzung). 


145 


Lfd. 

Nr. 

Autor 

u.Prot.- 

Nr. 

Man p 

Frau 

Heirat 

Infel 

1 

ction 

I 

Geburten 

90 

! 

Ro87 

Paralyse 

14 

Pup. 

06 

05 

— 

08A 06 A 10A (18) (14) 

91 

j Ro38 

Paralyse 

14 

Pup. 

00 

— 


(oo) oi oet 

92 1 

1 Bo46 

Pup. 

Paralyse 

16 

08 

02 

— 

— 

93 

| Ro42 

Paralyse 

16 

Bell. 

08 

02 

— 

— 

94 

Ro46 

Paralyse 

14 

Bell. 

09 

04 

— 

— 

95 1 

I Ra 54 

! 

Paralyse 

12 

o. B. + 

92 

; - 

— 

— 

96 1 

1 Ra55 

Paralyse 

10 

o. B. + 

| 

91 

; os 

i 

03 

Vor Inf.: N N N Nach 

97 

! Ra56 

Paralyse 

11 

o. B. + 

■ 

— 

i 96 

1 

j 

PH PH PH PH A 

98 

Ra 57 

1 

Paralyse 

11 

o. B. + 

- 

91 

i 


A f N N N 

99 

Ra58 

1 

Paralyse 
• 10 

o. B. + 

04 

83 

i 



100 ; 

Ra59 

Paralyse 

09 

o. B. + 

10 

| 01 

— ' 

f — 

101 

Ra60 

Paralyse 

12 

o. B. + 

97 

93 

l 

— 

j 

1 

102 

RaGl 

i Paralyse 

10 

o. B. + 

! 

j 06 

I — 

1 — 

A IN] + t 

103 

Ka65 

o. B. + 

Paralyse i 
13 

08 

07 

1 

j 

A A A A 

104 i R»«7 

1 

o. B. + 

Paralyse 

06 

86 j 

00 

— | 

i Vor Inf.: N • Nach Inf.: 

105 

Ha 18 

Paralyse 

11 

o. B. + 


94 

_ 

95 99 f f 

106 

1 Ha 20 

1 

Paralyse 

11 

o. B. + 


j 

_ 

— 

107 

! Ha 21 

Paralyse 

U 

o. B. + 


! 92 

j 

N N N 

108 ' Ha 32 

Paralyse 

10 

o. B. + 


i i 

_ 1 

! 

08 

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Scha21! 

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Paralyse 

14 

o. B. + 

— 

01 1 

l 

; 1 

— I 

A [07] 

110 Ba62 

I 

111 j Ba66 , 

112 Ro47 ! 

Paralyse 

11 

Phtbise f 

Paralyse 

16 

verunglOokt 

Paralyse 

12 

08 gestorben 
Uterus-Ca 

1 

!4 

i 

_ I 

Vom 
Man- 
ne. 
in flz. 

NNNftttt 

AAA 

94 [96] [99] 

113 

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1 ; 

verschollen 

Paralyse 

13 

07 1 

— ; 

— 

08 11 

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Ro 49 j 

04 Suizid 

Paralyse 

14 

81 

— 

— 

[82] A 89 

116 

Ho 60 

1 

nicht untersucht 

1 

Paralyse 

12 

80 

— 

— 

84 85 


Z. f. 

d. g. Neur. u. Ps; 

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ych. 0. mm 




10 


Digitized by Gougle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 







146 


F. v. Rohden: 


Digitized by 


Gruppe in. Ehegatten normal — Kinder pathologisch. 


lid. 

Nr. 

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u. Prot- 
| Nr. 

Mann 

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a 

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Paralyse 

10 

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— 

— 

— 

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117 

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Paralyse 

11 

normal 

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91 

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Paralyse 

10 

normal 


— 

— 

93 A [94] 96 [SB] fOT) 

119 

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Paralyse , 

11 

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97 

99 

— 

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Paralyse 

13 

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Paralyse 

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— 

— 

A A A A A A f |Paralyse + | f 

122 

Ha 13 

Paralyse 

? 

normal 


— 

— 

| Tabes + 

128 

Ha 14 

Paralyse 

? 

normal 

— 

— 

— 

194 o. B. + 1 N N N N N 

124 

Scha2 

Paralyse 

14 

normal 

— 

— 

— 

| 00 org. + | 05 

126 

Scha9 

Paralyse 

14 

normal 

— 

88 

— 

® 100] 

• 

126 

Scha 12 

Paralyse 

14 

normal 

— 

94 

— 

A A A 1 99 org. + 106 org. | 107 o. B. + | 

127 

Scha18 

Paralyse 

14 

normal 

99 

— 

87 

A A f f f ftooTg.] 

128 

Scha 24 

normal 

Paralyse 

14 

— | 

— 


A A |10 +| 

129 

Scha 25 

normal 

Paralyse 

14 



01 

f 101 org. 

130 

Scha 81 

[normal] 

Paralyse 

14 

— 



[07 6. B. + l 

181 

Ro52 

Paralyse 

16 

normal 

91 

, vor 
' 01 


91 A 92 A |94 Tabes + | 00 A 

132 

Ro63 

Paralyse 

16 

normal 

| 99 

— 

— 

oo rw] 

183 

Ro64 

Paralyse 

12 

normal 

1 

96 

96 


97 A 98 00 f 06 A 


Im einzelnen wurden folgende Abkurzungen gewahlt: 

03 = im Jahre 1903 geborenes, klinisch und serologisch gesundesKind. 
[03 = dasselbe mit somatischen oder psychischen Degenerations- 
stigmata, WaR negativ. 
j03 +| = dasselbe, WaR positiv. 

103 org. | = Kind mit organischen Veranderungen im Bereich des 
Z. N. S., WaR negativ. 

103 org. +; = dasselbe, WaR positiv. 


03 o. B. +| = KindohneklinischeSymptome, jedoch mit WaR positiv 


03 A = Fehl- oder Totgeburt. 

03 f = 1903 geborenes Kind, das in den ersten Lebensjaliren stirbt. 


Go<jgle 


Original from 

UNIVERSITY OF MINNESOTA'" 



Ober Paralytikprfamilien. 147 


Gnippe IY. Ehegatten normal — Kinder normal oder fehlend* 


Lfd. 

Nr. 

Alitor 

CLProt- 

Hr. 

Mann 

Frau 

Heirat 

Infeli 

a 

a 

« 

a 

:tion 

1 3 

£ 

Geburten 

184 

Scha8 

Paralyse 

14 

normal 

— 

i 

_ 

— 

A A A X X 

135 

Scha17 

Paralyse 

i u 

normal 


95 

— 

A 08 

i::r, 

Scha20 

Paralyse 

14 

[normal] 

— 

04 

— 

A 04 

137 

Scha 28 

normal 

Paralyse 

14 



— 

07 

138 

Scha 30 

normal 

Paralyse 

14 


— 

06 

A t [11] 

1351 

RaSH 

Paralyse 

12 

normal 

i ~~ 

97 

- 

A [K] [N] (>'] 

140 

Ra89 

Paralyse 

07 

normal 

95 

91 

— 

t t (Frtihgeburten) 

141 

Ro56 

Paralyse 

16 

normal 

1 

10 

00 

i 

(10) (18) 

14*2 

Ro59 

Paralyse 

16 

normal 

04 ! 

— 


04 08 

143 

Ro0O 

Paralyse 

16 

normal 

12 

1 

03 

— 

(18) 

144 

Ro67 

Paralyse 

16 

normal 

06 

05 

— 

07 A 07 f (09) 

145 

Ro68 

Paralyse 

15 

normal 

09 

— 

- 

11 12A 

14li 

Ro57 

Paralyse 

13 

normal 

5)9 

97 

— 

00 [01] [03] 06 + 07f 

14 ! 

Ro58 

Paralyse 

16 

normal 


— 

— 

96 98 02f 04A (11) 

14* 

Ro69 

Paralyse 

16 

normal 

i 

00 

98 

— 

00 02 + 03A 04 05 + 06 + 07A 13A 14A (15) 

1451 

Roo5 

Paralyse 

14 

normal 

97 

00 

— 

Vor Inf.: 99 03 : Xach Inf.: — 

150 

Ro63 

Paralyse 

16 

normal 

08 

i 

00 

— 

08 A 11 A 

151 

Ro62 

Paralyse 

16 

i normal 

98 

5)6 

1 

i _ 

99 + 

15*2 

Ro61 1 

i 

Paralyse 

15 

normal 

i 

00 

00 

1 

— 

08 f 

153 | Ro64 

Paralyse 

15 

normal 

1*2 

5)5 

— 

— 

154 

| Ro65 ' 

Paralyse 

10 

normal 

88 

5)7 

— 

— 

155 

S Ro66 

Paralyse 

15 

normal 

99 

1 

! 

— 

— 

150 

i Ro 70 

Paralyse 

16 

1 

i i 

normal 

93 

i 

1 

1 

! 


94f (96) 97 + 99 OOA 


Das Geburtsjahr ohne Spezialzeichen, bzw. der Buchstabe N be 
deuten also klinisch und serologisch normale Kinder. Wo die nach 
Angabe der Eltem gesunden Kinder nicht untersucht werden konnten, 

10* 


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UNIVERSITY OF MINNESOTA 





148 


F. v. Rohden: 


wurde ihr Geburtsjahr mit eckigen Klammem [03] versehen. Bunde 
Klammem (03) deuten an, daB die Blutuntersuchung unterbleiben 
muBte. _ 

Es sollen jetzt die Gesundheitsverhaltnisse zunachst bei den Ehe- 
gatten der Paralytiker im Zusammenhang besprochen werden. 

In den 70 Familien eigener Beobachtung gelangten mit Ausnahme 
der Paralytiker selbst 1 mannlicher und 61 weibliche Ehegatten zur 
Untersuchung. Die 8 fehlenden waren verschollen oder bereits ge- 
storben (an Tabes, Tuberkulose, Suicid). Von den untersuchten 62 Ehe¬ 
gatten waren 43 = 70% mit mehr oder weniger schweren krankhaften 
Storungen behaftet, 19 = 30% waren psychisch, somatisch und sero- 
logisch normal. 

Unter den 43 kranken Ehegatten fanden sich 23 mit syphilogenen 
Oerebrospinalleiden. Veranderungen im Gebiet des Zentralnervensystems 
ohne nachweisbar syphilitische Basis zeigten 16, und 4 hatten umgekehrt 
eine positive Wassermannreaktion ohne klinisehe Zeichen von Lues. 

Was im einzelnen zunachst die weitaus groBte Gruppe der 23 Ehe¬ 
gatten mit syphilogenen Oerebrospinalleiden betrifft, so fanden sich 
an Erkrankungsformen: 

2 Falle von Paralyse, 

5 „ „ Tabes (davon 2 mit neg. WaR), 

5 ,, ,, Lues cerebrospinalis, 

3 ,, „ isolierten Pupillen- und Reflexanomalien *), 

6 ,, ,, ,, Pupillenanomalien, 

2 ,, „ „ Reflexanomalien. 

In einer zweiten Gruppe konnen wir alle die Ehegatten zusammen- 
fassen, bei denen Storungen im Bereich des Zentralnervensystems ohne 
nachweisbare syphilitische Atiologie vorliegen. Es sind das: 

7 Falle von isolierten Pupillenanomalien, 

3 „ „ ,, Reflexanomalien, 

6 „ ,, ,, Pupillen- und Reflexanomalien. 

Betrachten wir demgegenuber die Befunde bei Hauptmann, 
Raven und Schacherl! Sie konnten in 86 Paralytikerfamilien 78 Ehe¬ 
gatten untersuchen; davon waren nur 20 ganz gesund. Der Prozent- 
satz der Normalen ist hier also etwas kleiner, namlich 26% gegenuber 
30% bei mir. Unter den kranken Ehegatten fanden sich 25 mit syphi¬ 
logenen Nervenkrankheiten, also im Verhaltnis etwas weniger als bei 
meinen Familien. Bedeutend kleiner ist bei ihnen die Zahl der Kranken 
mit Pupillen- und Reflexanomalien bei negativer syphilitischer Genese, 

*) In alien Fallen, wo Him- oder Riickenmarkssymptome isoliert auftreten. 
wurde auf eine bestinunte Diagnose verzichtet. 


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UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Ober Paralytikerfamilien. 


149 


namlich nur 6. Dagegen weisen 27 Ehegatten bei fehlendem klinischen 
Befund eine positive Wassermannreaktion auf. Unter den 23 syphi- 
logenen Nervenkranken waren: 

8 Falle von Tabes dorsalis (davon 3 mit neg. WaR), 

3 ,, ,, Lues cerebrospinalis, 

3 ,, „ Pupillen- und Reflexanomalien, 

10 „ „ isolierten Pupillenstorungen, 

1 Fall von isolierter Reflexstorung. 

Zur besseren tJbersicht iiber die Gesundheitsverhaltnisse bei den 
Ehegatten werden die eigenen Ergebnisse und die der drei Autoren 
vergleichsweise in einer Tabelle zusammengefaBt: 

Tabelle I. 


Gesundheitsverhaltnisse bei den Ehegatten von paralyfcischen Kranken. 



1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

«. 

7. 

Autor 

Unter- 

Buchte 

Ehe¬ 

gatten 

Davon 
Lues ZNS. 

Pup.- u. 
Reflex¬ 
anomalien 
Wa. - 

Klinisch 

frei 

Wa. + 

Gesamtzahl 
Wa. + 

Gesamtzahl 
der Patho- 
logischen 

Gesamtxahl 

der 

Nor male n 

1. Hauptmann 
11. Raven . . . 

17 

38 

7 

10 

3 

8 

17 

15 

26 

15 

; 30 

2 

8 

III. Schacherl . 

23 

8 

3 

2 

8 

i3 ; 

10 

i.—in. 

IV. Rohden . . 

78 

62 

25=32% 

23=37% 

6=8% | 
16=26% 

27=34% 

4=7% 

49=63% 

26=42% 

58=74% 

43=70% 

20=26% 

19=30% 

I.—IV. 

140 

48=34% j 

22=15% | 31=23% 

75 = 54% | 

101 =n% 

39=*8% 


Was ist nun aus diesen Zahlen und Befunden zu entnehmen? Sie 
liefem ein eindruckliches und dtisteres Bild von den Gefahren, denep 
der ursprunglich gesunde Gatte in der Ehe mit einem Paralytiker aus- 
gesetzt ist. Von 140 Ehegatten waren zur Zeit der Untersuchung klinisch 
oder serologisch krank 101, vollig gesund dagegen nur 39. In Prozent- 
zahlen ausgedriickt: 72% pathologische und 28% normale Ehe¬ 
gatten. Also nur etwas mehr als der vierte Teil war frei geblieben von 
nervosen oder serologischen Anomalien. AuBerdem ist noch zu bedenken, 
daB es sich bei unseren Untersuchungen lediglich um Stichjiroben zu 
einem beliebig von uns gewahlten Zeitpunkt handelt. Wenn man diese 
Frauen im Auge behalten und nach einem Zeitraum von einigen Jahren 
erneut untersuchen konnte, wiirde sich, worauf auch Plaut-Goering 
hinweisen, eine weitere Verschlechterung der Gesundheits¬ 
verhaltnisse ergeben. Denn zweifellos ist damit zu rechnen, daB bei 
einer Reihe von Ehefrauen eine bereits im Keime vorhandene konjugale 
nervose Lues erst einige Jahre nach der Untersuchung manifest wird 
(vgl. S. 159). 

DaB das Verhaltnis der gesunden zu den kranken Ehegatten bei 
den einzelnenAutoren, die unabhangig voneinander ein seiner Zusammen- 


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UNIVERSITY OF MINNESOTA 






150 


F. v. Rohden: 


setzung und gesellschaftlicher Stellung nach sehr verschieden geartetes 
Paralytikermaterial bearbeitet haben, innerhalb gewisser Grenzen 
schwankt, ist selbstverstandlich, andert aber nichts an der von alien 
Unterauchern ubereinstimmend festgestellte Tatsache, daB die Zahl 
der kranken Ehegatten die der gesunden bei weitem iiberwiegt. Der 
niedrigste Prozentsatz der gesund gebliebenen Ehegatten findet sich 
bei Hauptmann mit 12% und bei Raven mit 21%. Demgegeniiber 
zahlt Schacherl unter seinen Fallen 43% Normale. Meine eigenen 
Untersuchungen mit 30% gesunden Ehegatten nahem sich am meisten 
dem Mittelwert von 28%. Die Differenz in den Ergebnissen von Ha u pt - 
mann und Raven einerseits und Schacherl und mir andererseits 
erklart sich im wesentlichen daraus, daB jene Autoren im Gegensatz 
zu uns unterlassen haben, solche Familien in die Berechnung aufzu- 
nehmen, bei denen sich sowohl der zweite Ehegatte, als auch samtliche 
Kinder als gesund erwiesen (vgl. S. 140). Es leuchtet ein, daB durch 
dieses Verfahren der Prozentsatz der kranken Ehegatten und Kinder 
entsprechend erhoht wird. Indessen handelt es sich hier offenbar um 
verhaltnismaOig so geringe Zahlen, daB die Gesamtberechnung durch 
ihr Fehlen so gut wie unbeeinfluBt bleibt. Stellt man namlich meine 
62 Ehegatten der Gesamtsumme der von den drei Autoren untersuchten 
78 Ehegatten gegeniiber, so nahem sich von beiden Seiten die Prozent- 
satze der gesunden Ehegatten — hier 26% dort 30% — dem Mittel¬ 
wert von 28% bis auf eine minimale, innerhalb der Fehlergrenzen 
liegende Differenz. 

Hier ware nun die Frage zu erortem, welche krankhaften Erschei- 
nungen bei den Ehegatten der Paralytiker in atiologischem Zusammen- 
hang mit der Krankheit des primar infizierten Gatten stehen. Unter 
der Voraussetzung, daB auBerehelicher Geschlechtsverkehr nicht statt- 
gefunden hat, wird eine sichere familiare Infektion in alien den Fallen 
anzunehmen sein, wo der urspriinghch gesunde Ehegatte ein syphi- 
logenes Nervenleiden aufweist. Das sind, wie Tabelle I zeigt, bei den 
drei Autoren 32% und bei mir 37% der untersuchten Falle. DaB 
in 5 von 48 Fallen eine positive Wassermannreaktion bei einmaliger 
Untersuchung nicht gefunden werden konnte (vgl. S.^148 u. 149), spielt 
hierbei keine Rolle. Ausschlaggebend ist hier die klinische Diagnose 
der Tabes. Anders ist dagegen der negative serologische Befund bei 
den Ehegatten zu bewerten, die auBer isolierten Pupillen- und Reflex - 
anomalien irgendwelche subjektiven oder objektiven Symptome einer 
beginnenden Tabes vermissen lassen. Von diesen Kranken, die in meinem 
Material wesentlich starker vertreten sind, als bei den drei Autoren, 
und im Durchschnitt 15% aller untersuchten Ehegatten ausmachen, 
laBt sich nur so viel mit einiger Bestimmtheit sagen, daB es bei wieder- 
holter serologischer Blutuntersuchung und insbesondere bei der Haupt - 


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Uber Paralytikerfamilien. 


151 


mannschen Auswertungsmethode des Liquors zweifellos gelungen 
ware, in einer Reihe von Fallen die luische Natur dieser nervosen Aus- 
fallserscheinungen aufzudecken. AuBerdem wird man bei einer weiteren 
Anzahl dieser Kranken mit der Moglichkeit zu rechnen haben, daB eine 
Infektion zwar stattgefunden hat, daB jedoch mit den Primar- und 
Sekundarerscheinungen auch die Wassermannreaktion im Blut spontan 
zur Ausheilung gelangt ist. 

Was ubrigens die isolierten Pupillenstorungen betrifft, so hat schon 
Nonne 82 ) darauf hingewiesen, daB man diese Anomalien haufiger 
linden wird, wenn man die Ehegatten und Deszendenten von syphi- 
litisch Infizierten regelmaBig untersuchen wiirde. Unter unseren 140 Ehe¬ 
gatten sind isolierte Pupillenphanomene in 23 Fallen vertreten, und 
zwar 16mal mit positivem und 7mal mit negativem serologischen Blut- 
befund. Dieses Symptom ist prognostisch von groBer Bedeutung. Man 
wird sich in jedem einzelnen Falle die Frage vorlegen miissen, ob es 
das Zeichen einer ausgeheilten oder einer beginnenden Lues cerebri ist, 
oder aber, ob eine Tabes oder Paralyse ihre Schatten vorauswirft [Dre y- 
fus 8 ), Bumke 4 )]. 

Eine Klasse fiir sich bilden die in einer dritten Rubrik zusammen- 
gefaBten Ehegatten, deren Blut nach Wassermann positiv reagiert, 
ohne daB die korperliche Untersuchung eine Manifestation der syphi- 
litischen Erkrankung erkennen lieBe. Es handelt sich hier um die sog. 
Lues latens, um eine Form der Syphilis, die kdrperlich keine greifbaren 
Organveranderungen setzt, die sozusagen versteckt verlauft. Erst der 
positive Ausfall der Wassermannreaktion erweist die jeder sonstigen 
Untersuchungsmethode sich entziehende latent verlaufende Lues 
(Hubert). Man hat die Lues latens auch aufgefaBt als Periode relativer 
Toleranz fur das Virus [Graves 18 )]. Diese Luesform kann ein Jahr- 
zehnt hindurch und langer latent verlaufen, um sich dann plotzlich, 
insbesondere bei Kindern, klinisch zu offenbaren [Lesser 88 )]. Unter 
den Paralytikerangehorigen sind nun die latenten Syphilitiker gar 
nicht so selten vertreten. Es macht sich allerdings ein Unterschied in 
der Za.M der Falle bei Hauptmann und Raven einerseits und bei 
Schacherl und mir andererseits geltend. Wahrend Schacherl unter 
13 pathologischen Ehegatten nur 2, ich selbst unter 43 nur 4 fand, 
bei denen diese Erkrankungsform vorliegt, bildet sie bei Hauptmann 
und Raven einen auffallend hohen Prozentsatz der Untersuchungen, 
namlich 25 von 45. Es wiirde also einem Prozentverhaltnis von 11% 
bei Schacherl und mir, ein solches von 55% bei Hauptmann und 
Raven gegenuberstehen. Der Grund fur diese auffallende Differenz 
ist nicht ganz ersichtlich. Wenn auch unter 140 Fallen vereinzelte 
serologische Fehldiagnosen, und zwar weniger nach der positiven als 
nach der negativen Seite vorgekommen sein mogen, so ist der Unter- 


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152 


F. v. Rohden: 


schied doch zu groB, als daB er eine zureichende Erklarung in den 
Fehlerquellen der Wassermannreaktion selbst finden konnte. Auch 
eine feinere serologische Methodik bei Hauptmann und Raven an- 
zunehmen, liegt kein Grund vor. Im Gegenteil, ich glaube durch die 
Anwendung der Sternschen Modifikation als Erganzung der Original- 
methode im hoheren MaBe als jene Autoren in der Lage gewesen zu 
sein, alle Sera, in denen syphilitische Toxine kreisen, als infiziert tat- 
sachlich auch zu erkennen. Als Erklarung fur die widersprechenden 
Befunde bleibt schlieBlich noch die Annahme einer verschiedenen Be- 
wertung der Wassermannreaktion. Wie schon oben gesagt (vgl. S. 117), 
wurden von mir nur diejenigen Sera als positiv bezeichnet, bei denen 
eine ganz deutliche und vollig einwandfreie Hemmung der Hamolyse 
vorlag. Blieb trotz Wiederholung die Wassermannreaktion nur ange- 
deutet oder zweifelhaft — also die vom hygienischen Institut in Halle 
mit einem + versehenen Resultate — so wurde das Serum vorsichts- 
halber negativ bewertet. Dementsprechend ist auch die Gesamtzahl 
meiner positiven Reaktionen mit 42% bei den untersuchten Ehegatten 
geringer als die der ubrigen Untersucher (63%). Wenn ich allerdings 
die nur angedeuteten Reaktionen auch zu den positiven rechne, er- 
hoht sich der Prozentsatz meiner positiven Falle auf 57%. 

Kommen wir zuriick auf die Ehegatten mit positiver Wassermann¬ 
reaktion und negativem klinischen Befund! In der vorserologischen 
Ara wurden diese anscheinend vollig gesunden Frauen, soweit sie syphi¬ 
litische Kinder hatten, als Collesche Mutter bezeichnet. Das Collesche 
Gesetz sagte nun aus, daB solche Mutter gegen Syphilis immun blieben 
und weder von ihren syphilitischen Kindem beim Stillen noch von 
syphilitischen Mannem infiziert werden konnten. Mit Hilfe der Wasser¬ 
mannreaktion konnte indessen Lesser 33 ) bei einem Teil der Colleschen 
Mutter die erfolgte syphilitische Infektion serologisch nachweisen. Ihre 
Immunitat erklart sich daher ohne weiteres aus der bestehenden la- 
tenten Syphilis. AuBerdem zeigen Leasers umfangreiche pathologisch- 
anatomischen Untersuchungen, daB wir nur mangels zureichender 
klinischer Untersuchungsmethoden bisher noch nicht in der Lage waren, 
bei diesen Frauen die durchgemaehte Syphilis auch an Organverande- 
rungen zu erkennen. Er fand, daB bei ca. 50% der Leichen von latenten 
Syphilitikern in den Organen frische syphilitische Veranderungen vor- 
lagen, die in den allermeisten Fallen bei Lebzeiten nicht diagnostiziert 
wurden. So war unter 30 Fallen von Lebergumma kein einziger intra 
vitam erkannt worden [zitiert nach Boas 1 )]. Die relativ groBe Anzahl 
von positiven serologischen Befunden bei klinisch noch nicht diagnosti- 
zierbarer Organlues wird in bester Weise durch diese pathologisch- 
anatomischen Untersuchungen geklart. 

Wir kommen zu dem Ergebnis: Eine sic here konjugale Infektion 


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Ober Paralytikerfamilien. 


153 


liegt vor in ail den Fallen, wo eine positive Wassermannreaktion nach- 
weisbar ist, d. h. also nicht nur bei Ehegatten mit syphilogenem Nerven- 
leiden, sondem auch bei den latent syphilitischen Frauen, die trotz 
des positiven serologischen Befundes somatisch gesund erscheinen. 
Femer sind mit groBer Wahrscheinlich keit durch den paralytischen 
Ehegatten als infiziert zu betrachten die relativ seltenen Falle von 
isolierten Pupillen- und Reflexanomalien bei negativem Ausfall; der 
Wassermannreaktion. Es laBt sieh also sagen, daB die 72% patho- 
logischer Ehegatten zum weitaus groBten Teil ihre krankhaften Er- 
scheinungen der Syphilis des paralytischen Gatten verdanken. 

Plaut und Goering nehmen auch dort eine wahrscheinliche 
konjugale Infektion an, wo die Frau zwar klinisch und serologisch ge¬ 
sund war, jedoch Kinder mit kongenital-syphilitischen Zeichen auf- 
wies oder wiedefholt abortiert hatte. In unserer Gruppe III (Ehegatten 
normal — Kinder pathologisch) sind 6 Frauen und 2 Manner vertreten, 
die diesen Voraussetzungen geniigen. In alien 8 Fallen ist bei mindestens 
einem der Kinder die Wassermannreaktion positiv; daneben bestehen 
zum Teil die schwersten syphilogenen Cerebrospinalleiden — zweimal 
Tabes und einmal Paralyse. In 2 Familien kommen auBerdem mehr 
als 3 Fehlgeburten vor. 

Wie ist nun bei diesen 6 zweifellos auch als Collesche Mutter zu 
bezeichnenden Frauen die negative Wassermannreaktion zu beurteilen ? 
Es gibt hier wieder drei Moglichkeiten. Erstens: Die Frauen sind von 
8yphilitischer Infektion frei geblieben. Zweitens: Wir haben es hier 
mitVersagem der Wassermannreaktion zu tun. Drittens: Es liegt eine 
spontan ausgeheilte Syphilis vor. Nehmen wir den ersten Fall an, 
so wiirde es sich bei den Kindern um eine paterne oder spermati- 
sche Infektion handeln. Entgegen der Auffassung Matzenauers, 
der eine paterne Syphilistibertragung nicht anerkannte, ist heute auf 
Grand der experimentellen Syphilisforschung anzunehmen, daB das 
Sperma der Syphilitiker infektios ist. Eine Frau kann also von einem 
syphilitischen Mann ein Kind konzipieren, ohne selbst infiziert zu werden. 
Der Foetus ist dann nur vom Vater her syphilitisch. Dabei kann die 
Mutter sekundar von der von ihr getragenen syphilitischen Frucht 
infiziert werden — choc en* retour — sie m u B es aber keineswegs 
[Nonne 50 ), Lesser und Carsten 35 ), Heller 19 )]. Jedenfalls ist mit 
der spermatischen Syphilisiibertragung zu rechnen. Man wird daher 
diese Erklarungsmoglichkeit fur den negativen serologischen Befund 
bei den 6 Muttern unter Umstanden in Betracht zu ziehen haben. Die 
zweite Moglichkeit, daB ein Versager der Wassermannreaktion vor- 
liegt, ist natiirlich niemals auszuschheBen. Am wahrscheinlichsten ist 
jedoch die Annahme einer spontanen Ausheilung der Lues. Es wurde 
wieder von Lesser 83 ) gezeigt, daB in den ersten Jahren nach Geburt 


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154 


F. v. Rohden: 


eines syphilitischen Kindes die Wassermannreaktion bei den Muttem 
immer positiv ausfallt. Hiemach waren wir berechtigt, bei diesen 8 Ehe- 
gatten trotz des negativen serologischen Befundes eine familiare In- 
fektion anzunehmen. Die Gesamtzahl der infizierten Ehegatten wiirde 
rich also um 8 vermehren und die Zahl der tatsachlich „Normalen“ 
entsprechend verringem. Wir hatten dann 109 pathologische und nur 
31 normale Ehegatten. Das wiirde einem Verhaltnis von 78% Kranken 
gegeniiber 22% Gesunden gleichkommen. 

Nachdem wir im vorhergehenden einen Einbhck in die Gesundheits- 
verhaltnisse bei den Ehegatten paralytischer Kranken gewonnen haben, 
gelangen wirnunmehr zur Besprechungder quantitativen und quali- 
tativen Beschaffenheit der Paralytikerdeszendenz. 

Die eingehendsten Untersuchungen iiber die quantitati ven Ge- 
burtsverhaltnisse in Paralytikerfamilien verdanken wir Junius 
und Arndt 29 ). Sie haben an einem sehr umfangreichen Zahlenmaterial 
— es standen ihnen die Krankengeschichten von 1312 paralytischen 
Mannem und 557 paralytischen Frauen der Anstalten Dalldorf und 
Buch zur Verfiigung — eine auBerordentlich ernste Gefahrdung der 
Paralytikerdeszendenz festgestellt. Wenn rich auch unsere Zahlen 
nicht im entfemtesten hiermit vergleichen lassen, so haben sie doch 
demgegeniiber den Vorzug eines nach einheitlichen Gerichtspunkten 
personlich untersuchten Materials, wahrend Junius und Arndt ihr 
Urteil griinden mussen auf mehr oder weniger sorgfaltig aufgenommene 
Anamnesen alter Anstaltskrankengeschichten, also schwerlich auf ein 
einwandfreies statistisches Vergleichsmaterial. Die Ergebnisse dieser 
ihrem Ursprung nach ganz verschiedenen Untersuchungsreihen gehen 
denn auch im einzelnen etwas auseinander, wenngleich im ganzen ge- 
nommen unsere Zahlen ebenso wie die von Junius und Arndt die 
wesentlichste Tatsache, namlich die Tendenz zum Aussterben der 
Famihen von Paralytischen, deutlich erkennen lassen. 

Zunachst sollen wieder die eigenen Ergebnisse zum Vergleich mit denen 
der 3 Autoren tabellarisch zusammengestellt werden. (Vg. S. 155 Tab. II.) 

Junius und Arndt hatten aus ihren Krankengeschichten gefunden, 
daB die Zahl der kinderlosen Ehen von’Paralytikern sehr viel groBer 
ist als bei der gesunden Bevolkerung, und zwar war dies in viel hoherem 
MaBe der Fall, wenn die Frau, als wenn der Mann der paralytische Teil 
der Ehe war. Sie zahlten namlich unter den Ehen der paralytischen 
Manner 29—33%, unter denen der paralytischen Frauen 47—49% kinder- 
lose, wahrend die kinderlosen Ehen der Gesamtbevolkerung Berlins 
nur etwa 16—20% aller Ehen ausmachen. Bei der geringen Zahl unserer 
paralytischen Frauen ist es nicht angangig, diese von den paralytischen 
Mannem getrennt zu betrachten. Ich stiitze daher meine Berechnungen 


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Uber Paralytikerfamilien. 


155 


Tabelle II. 


Quantitative Geburtsverhaltnisse in Paralytikerfamilien. 



1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6. 

7. 

Autor 

Zahl der 
Fami- 
lien 

Davon 

steril 

Kiuderlos 

Zahl der 
Gravidi- 
t&ten 

Davon Fehl- 
und Tot¬ 
geburten 

FrUh 

gestorben 

Am Leben 

I. Hauptmann 

17 

3 

6 

43 

8 

8 

27 

II. Raven . . . 

42 

5 

12 

153 

35 

44 

74 

III. Schacherl . 

27 

— 

— 

84 

33 

9 1 

42 


i 

i 

i. + ii. 





i.—in. 

! 86 

■ — 

18=30% 

280 

76=27% 

61=22% 

143=51% 

IV. Rohden . . 

1 70 

1 13 = 19% 

16=23% 

219 

48=22% 

55=25% 

116=53% 

I.—IV. 

j 156 

— 

— 

| 499 

1 124=25% 

116=23% 

|*59=5*% 


auf die Gesamtzahl der Paralytikerfamilien. Hiernach waren 30% der 
Ehen bei Hauptmann und Raven und 23% von meinen eigenen 
Fallen zur Zeit der Untersuchung ohne lebende Deszendenz. Unsere 
Werte erreichen also kaum das Minimum der von Junius und Arndt 
bei paralytischen Mannern gefundenen Prozentzahlen und bleiben um 
die Halfte hinter denen der paralytischen Frauen zuriick. Auch die 
Anzahl der absolut sterilen Ehen ist bei uns kleiner: Wir finden 19% 
im Vergleich zu 23—36% bei Junius und Arndt, wogegen die Un- 
fruchtbarkeit flir ganz Deutschland nach Mendel auf 10—15% be- 
rechnet wird. Besser stimmen unsere Zahlen iiberein mit denen von 
Hirschl 22 ) (17,7%) und Kraepelin 31 ) (17,9% Unfruchtbarkeit in 
Paralytikerfamilien). Ubrigens fand Kraepelin flir beide Geschlechter 
die gleichen Prozentzahlen. 

Deutlicher wird die quantitative Gefahrdung der Paralytikerdeszen- 
denz, wenn man den Prozentsatz der Fehl- und Totgeburten berechnet. 
Junius und Arndt fanden 29—42% Fehl- und Totgeburten, wir 
selbst 22—27%. Demgegenuber erreicht die Zahl der Aborte und tot- 
geborenen Kinder bei der Gesamtbevolkerung kaum die Halfte dieser 
Werte (5—15%). Fast ebenso hoch ist die Kindersterblichkeit in den 
ersten Lebensjahren (22—25%), so daB zur Zeit der paralytischen Er- 
krankung der Eltern nur 51—53% aller Friichte noch am Leben sind 
(bei Junius und Arndt 46—49%). Die Kinderzahl einer paralytischen 
Ehe berechnet sich demnach im Mittel auf 1,7 lebende Kinder (1,5—2,8 
bei Junius und Arndt), wahrend die durchschnittliche Kinderzahl 
aller Berliner Ehen 3 Kinder betragt [Prinzing 59 )]. Indem also die 
eheliche Fruchtbarkeit in Paralytikerfamilien fast um die Halfte hinter 
der Norm zuriickbleibt, ist die Tendenz zum Aussterben gegeben. 
Unsere 316 Eltern haben es insgesamt nur zu 259 lebenden Kindern 
gebracht. Die paralytischen Ehen hinterlassen also weniger Nach- 
kommen, als die Zahl der Eltern betragt, mit andcren Worten: Sie 
streben dcm Aussterben zu. 


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156 


F. v. Rohden: 


Nach diesem kurzen Uberblick iiber die quantitativen Geburts- 
verhaltnisse wenden wird uns der Frage zu, wie der iiberlebende Para- 
lytikernachwuchs klinisch und serologisch geartet ist. 

Eine vergleichende tabellarische Zusammenstellung der von den 
drei Autoren und mir gewonnenen Resultate erleichtert die Ubersiclit. 

Tabelle III. 

Qualitative Geburtsverh&ltnisse in Paralytikerfamilien. 


“=3 


Autor 

1. 

Unter- 

suchte 

Kinder 

2. 

Organische Erkrankung 
des Z.N.S. 

3. 

Somat. oder psychische 
Degenerationaatigmata 

4. 

Kliniech 

frei 

Wa. + 

5. 

Geaarnt- 

zahl 

Wa. 4- 

6. 

Geaamtaahl 
der Patho- 
logiechen 

7. 

Oesamizal 

der 

Normak J 

Wa. + 

Wa. — 

Wa. + 

Wa.— 

l. Hauptmann 

24 

1 

i 

1 

5 

3 

5 

ii 

13 

II Raven .| 

56 

4 

3 

3 

20 

2 

9 

32 

23 

\l\.Schacherl .. 

33 

7 

8 

2 

5 

4 

13 

26 

- 8 I 

I.—HI. 

113 

12=11% 

12=11% 

6=5% 

30=26% 

9=8% 

i 27 =24% 

69=61% 

44=39^ 

IV. Rohden. ... 

95 

5=5,2% 

111=11.5% 

113=13.6% 

12=12,6% 

4=4,2% 

1 22=23% 

45=47% 

50= 53^ 

I.—IV. 

208 

40 = 

19,2% 

61 = 29,3% 

13=6,3% 49=23,5% 

I*. 

II 

w 

tra 

| 94 = 43 ( ; 


Hieraus ist zu entnehmen, daB von 208 untersuchten Kindem 94 
(45%) normale klinische und serologische Verhaltnisse boten, wahrend 
bei 114 Kindem (55%) Abweichungen von der Norm vorlagen. Es 
zeigt sich hier also ein geringes Uberwiegen der kranken Kinder. Aus- 
gesprochener tritt die Differenz zwischen normalen und pathologischen 
Kindem in Erscheinung, wenn man die Befunde der drei Autoren von 
meinen eigenen gesondert betrachtet. Hauptmann, Raven und 
Schacherl berichten zusammen liber 113 Kinder, unter denen die 
kranken mit 61% bei weitem uberwiegen. Im Gegensatze hierzu sind 
von meinen 95 untersuchten Kindern 5 mehr gesund als krank. Die 
Erklarung flir diese abweichenden Ergebnisse ist zum Teil wieder darin 
zu suchen, daB Hauptmann und Raven eine ganze Reihe gesunder 
Ehegatten und Kinder, namlich alle Familien, die in unsere Gruppe IV 
gehoren, bei der Berechnung auBer acht gelassen haben (vgl. S. 140). 
Auch Schacherl erwahnt ihrer nur 3, wogegen mein Material 16 Kinder 
aus der IV. Gruppe umfaBt. Eine exakte Vergleichung der von jenen 
Autoren und mir gefundenen Zahlenwerte ware nur moglich, wenn die 
Kinder der IV. Gruppe bei der Berechnung ganz allgemein unberuck- 
sichtigt gelassen werden konnten. Geschieht dies, so nahem sich aller- 
dings die Prozentsatze sehr wesentlich. Das Verhaltnis ware dann 
folgendes: 

Bei den drei Autoren: Unter 110 Kindern 41 = 37% normal, 
69 = 63% pathologisch. 

Bei mir: Unter 79 Kindern 34 = 43° 0 normal, 45 = 57% patho¬ 
logisch. 


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tlber Paralytikerfamilien. 


157 


Diese Werte, die nur als Verhaltniszahlen von einiger Bedeutung 
sind, geben natiirlich kein richtiges Bild vom tatsachlichen Gesundheits- 
stand. Will man sich uberhaupt bei der Beurteilung der qualitativen 
Beschaffenheit von Paralytikerangehorigen auf Prozentzahlen stiitzen, 
so muB man selbstverstandlich alio untersuchten Ehegatten und Kinder 
bei der prozentualen Berechnung beriicksichtigen, und darf nicht die 
„ge8unden“ Familien, die, wie sich gezeigt hat, einen durchaus nicht 
unwesentlichen Teil, namlich etwa 25% der Gesamtsumme bilden, 
einfach auBer acht lassen. Burch ein solches Verfahren wird naturlich 
die wahre Sachlage in willkiirlicher Weise verschleiert, und das Resultat 
nach der ungiinstigen Seite hin verschoben. 

Auf Grund dieser tJberlegungen ist der SchluB wohl erlaubt, daB 
das Verhaltnis von 47% pathologischen zu 53% normalen Kindem 
der Wirklichkeit naher kommt, als die aus Ravens und Schacherls 
Untersuchungen zu errechnenden Zahlenwerte von 59—73% patho¬ 
logischen gegen nur 27—41% gesunden Kindem. Diese Auffassung ge- 
winnt um somehr an Wahrscheinlichkeit, als auch unter Hauptmanns 
Paralytikerkindem etwas mehr normale (13) als pathologische (11) 
vertreten sind, trotzdem auch er die gesunden Paralytikerfamilien nicht 
einmal mitgezahlt hat. Wenn man auch dem engen Spielraum der 
Hauptmannschen Zahlen Beweiskraft nur bedingt zuerkennen wird, 
so sind sie doch insofem bemerkenswert, als sie dem von mir gefun- 
denen Verhaltnis ganz genau entsprechen. DaB aus Paralytikerehen 
fast ebenso viel pathologische als normale Deszendenten hervorgehen, 
beweisen auBerdem Plaut und Goerings Untersuchungen. Sie fan- 
den namlich unter 100 Kindem 45 gesunde und 55 kranke, also pro- 
zentual genau das gleiche Zahlenverhaltnis wie das Endergebnis der 
Tabelle III. 

Wir konnen also sagen: Die iiberlebenden Kinder aus 
Paralytikerehen sind ungefahr zu gleichen Teilen nor¬ 
mal und pathologisch. Bei Hauptmann und mir uberwiegen 
etwas die Gesunden, bei Raven, Schacherl, Plaut - Goering 
die Kranken. 

Sehen wir uns die Art der pathologischen Veranderungen bei den 
Paralytikerkindem etwas naher an! 

In Tabelle III habe ich die Kinder in drei Gruppen eingeordnet: 
Die erste umfaBt Kinder mit organischen Erkrankungen im Bereich 
des Zentralnervensystems, die zweite Kinder mit somatischen oder 
psychischen Degenerationsstigmata, die dritte latent syphihtische 
Kinder. Die beiden ersten Gruppen zerfallen in zwei Untergruppen, 
je nachdem der serologische Befund positiv oder negativ ist. 

In der ersten kleinen Untergruppe hatten wir also 5 Kinder mit 
organischen Defekten auf syphilitischer Basis. Sie stammen aus den 


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158 


F. v. Rohden: 


Familien Nr. 6, 10, 23, 25, 131 *). In 4 Fallen sind also auch die Miitter 
an einem syphilogenem Nervenleiden erkrankt; das von alien am schwer- 
sten geschadigte Kind aus Familie Nr. 131 hat dagegen eine klinisch 
und serologisch gesunde Mutter. Es handelt sich hier um Kinder mit 
Pupillen- und Reflexstorungen bei positiver Wassermannreaktion. 
Drei von ihnen (Familie Nr. 10, 23, 25) zeigen nur leichte Pupdlen- 
anomalien. Ob bei dem Kinde aus Familie Nr. 6, das neben ent- 
rundeten, ungleichen Pupillen und reflektorischer Pupillenstarre noch 
erhebbche iritellektuelle Defekte aufweist, eine juvenile Paralyse in 
Entwicklung begriffen ist, konnte bei einmabger Untersuchung nicht 
entschieden werden. Dagegen lassen die Erscheinungen bei der 22 jahri- 
gen Tochter aus Familie Nr. 131 mit groBer Wahrscheinlichkeit auf 
eine inzipiente Tabes dorsabs schbeBen. 

Vergleichen wir hiermit die 12 Kinder der entsprechenden Unter- 
gruppe bei den drei Autoren. Sie bilden 11% der untersuchten Kinder, 
im Gegensatz zu 5,2% bei mir. Auch die Erkrankungsformen sind 
schwerer. Unter den Kindem befinden sich 2 mit juvender Paralyse 
(Nr. 43, 121), je eins mit Tabes dorsabs (Nr. 122) und Lues cerebrospi- 
nabs (Nr. 44). Auch das Kind aus Famibe Nr. 126 kommt fur die Dia¬ 
gnose der Tabes in Betracht, viebeicht auch das aus Fa mili e Nr. 60. In 
den iibrigen 6 Faden haben wir isoberte Pupiben- und Reflexstorungen 
sypbditischer Atiologie, zum Ted in Verbindung mit angeborenen psy- 
chischen Defekten. 

Wir konnen also feststeden, daB von 208 untersuchten Paralytiker- 
kindern nur 2 mit Sicherheit an juvender Paralyse erkrankt sind, also 
noch nicht einmal 1%. Herrmann 20 ) fand unter 124 Kindem von 
Paralytikem aus der Kraepelinschen Klinik 4mal juvende Paralyse. 
Das ist im Vergleich mit uns immerhin ein relativ hoher Prozentsatz. 
ganz zu schweigen von den 11% paralytischen Kindem, von denen 
Wahl 78 ) berichtet. Diese auffallenden Unterschiede erklaren sich 
daraus, daB Wahl, worauf auch Junius und Arndt hinweisen, den 
Fehler gemacht hat, bei der Untersuchung der Paralytikerdeszendenten 
von diesen und nicht von den Aszendenten auszugehen. Es ist natiirlich 
etwas anderes, ob man zufadig entdeckte Fade juvender Paralysen, 
bei deren Eltem erst nachtragbch die Paralyse festgestellt wird, der 
Berechnung zugrunde legt, oder ob man von den paralytischen Aszen¬ 
denten ausgeht, und nun unter vielen anderen Erkrankungsformen bei 
den Kindem auch hier und da einen Fad von jugendbcher Paralyse auf- 
findet. Im ersten Fad erhalt man eine ganz einseitige Anhaufung juvender 
Paralytiker, deren Aszendenten schon an Paralyse gehtten haben, wah- 
rend doch die Fragestellung lautet: In welchem MaBe lauft die Deszen- 

*) Diese und die folgenden Zahlen beziehen sich auf die laufenden Num- 
mem der tabellarischen Gesamtiibersicht (vgl. S. 141 ff). . 


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t)ber Paralytikerfamilien. 


159 


denz der Paralytiker Gefahr, ebenfalls an Paralyse zu erkranken ? Diese 
praktisch wie theoretisch gleich bedeutungsvolle Frage kann natiirlich 
auch im Wege der iiblichen einmaligen Sprechstundenuntersuchung 
nicht entschieden werden. Hier wird auBerdem eine weitere Fehler- 
quelle offenkundig, mit der man bei Beurteilung der qualitativen 
Beschaffenheit der Paralytikerdeszendenz zu rechnen hat. Nach Be- 
rechnung von Junius und Arndt betragt die Dauer der Paralytiker- 
ehe vor Aufnahme des kranken Ehegatten in die Anstalt im Durch- 
schnitt 12 Jahre. Die Kinder werden sich also zur Zeit der Unter- 
suchung hochstens in der ersten Halfte des zweiten Jahrzehnts 
befinden, d. h. in einem Alter, in welchem die Friihformen von 
Paralyse entweder noch gar nicht oder nur in den ersten Anfangen 
vorhanden sind. Ganz allgemein ist bei alien Kindern, die das 10. Lebens- 
jahr noch nicht uberschritten haben, mit der Moglichkeit eines spateren 
Auftretens von Erkrankungsformen auf kongenital-syphilitischer Basis 
zu rechnen. Die einmalige Untersuchung der Kinder wahrend des An- 
staltsaufenthalts des paralytischen Elters wird also nur einen Bruchteil 
der moglicherweise noch zur Entwicklung gelangenden neurotischen 
und psychotischen Erkrankungen, einschlieClich der juvenilen Paralyse, 
erfassen. Die gefundenen Zahlen fur die Haufigkeit der Er¬ 
krankungen von Paralytiker kindern konnen also nur als 
untere Grenze der tatsachlich schon vorhandenen und 
spater noch sich entwickelnden Storungen betrachtet 
werden. Das gleiche gilt fur die Ehegatten der Paralytiker: Auch 
bei ihnen werden eine Reihe latent vorhandener Affektionen unter 
der Schwelle der klinischen Diagnostizierbarkeit liegen und erst bei 
wiederholten Untersuchungen im Laufe der Jahre festgestellt werden 
konnen. Hieraus ergibt sich als Forderung fur die Erforschung der 
Gesundheitsverhaltnisse bei Paralytikerangehorigen eine jahrelang fort- 
gesetzte sorgfaltige Beobachtimg und Untersuchung. Je langer sie unter 
arztlicher Kontrolle bleiben, um so mehr wird die Zahl der tatsach¬ 
lich gesunden Kinder und Ehegatten zusammenschrumpfen. 

Kehren wir zuriick zu den Kindern mit organischen Storungen des 
Nervensystems! Neben den syphilogenen Nervenerkrankungen be- 
obachten wir hier nervose Affektionen organischer Natur, bei denen eine 
syphilitische Atiologie im Blutserum nicht nachweisbar ist. Das schlieBt 
natiirlich nicht aus, daB es sich trotzdem um kongenital-syphilitische 
Kinder handelt. Es wird jetzt wohl allgemein der Standpunkt ver- 
treten, daB positive Wassermannreaktion zwar ein wichtiges Zeichen 
fur Erbsyphilis sei, daB jedoch ein negativer serologischer Befund nichts 
gegen kongenitale Syphilis beweist (Kraepelin). Nonne 60 ) meint, 
daB vielleicht die Luetinreaktion berufen ist, diese Liicke auszuftillen. 
Man wird sich hier wohl Plauts 55 ) Auffassung anschlieBen konnen, 


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160 F. v. Rohden: 

wonach die Scheidung in syphilitische und nichtsyphilitisehe Kinder, je 
nach dem Ausfall der Wassermannr eaktion, nur im beschrankten MaBe 
angangig sei. Die positiv reagierenden Kinder sind zweifellos als in- 
fiziert anzusehen, dagegen laBt sich nicht beurteilen, inwieweit die 
negativen Kinder luesfrei sind. 

Zu dieser zweiten Untergruppe gehoren im ganzen 23 Kinder, das 
w&ren immerhin 11% der untersuchten, und 20% der pathologischen 
Kinder. Unter den nervosen Storungen kommen hauptsachlich wieder 
isolierte PupiUen- und Reflexanomalien vor, dann auch Innervations- 
storungen der Augenmuskeln, Facialisdifferenz. Romberg. Z. B. sind 
bei der jetzt 12jahrigen Tochter in Familie Nr. 1 die Patellar- und 
Achillessehnenreflexe erloschen und Romberg stark positiv. Das Kind 
in Familie Nr. 9 hat erloschene Patellarreflexe, ebenfalls bei subjektiver 
Gesundheit imd negativer Wassermannreaktion. Bei anderen Kindern 
sind die nervosen Anomalien verbunden mit subjektiven Beschwerden 
und allgemeinen somatischen und psychischen Entwicklungsstorungen. 
Die 13jahrige Tochter aus Familie Nr. 28 ist sehr klein und schmachtig 
und von Geburt an beschrankt. Sie klagt liber starke Kopfschmerzen, 
die Pupillen sind ungleich und entrundet, die Lichtreaktion trage und 
wenig ausgiebig. Ahnliche Verhaltnisse liegen bei den Kindern der 
Familie Nr. 36 vor. 

Alle Kinder, bei denen als Zeichen der Keimschadigung somatische 
und psychische Degenerationsstigmata isoliert auftreten, die also frei 
sind von organischen Veranderungen des Nervensystems, habe ich in 
einer zweiten groBen Gruppe, die mehr als die Halfte aller pathologischen 
Paralytikerdeszendenten umfaBt, untergebracht. Es gehoren hierzu im 
ganzen 61 von 114, da von 19 mit positiver Wassermannreaktion. Diese 
Kinder nahem sich mehr oder weniger dem Typus des zuerst von Four¬ 
nier beschriebenen korperlich und geistig zuriickgebliebenen kongenital- 
syphilitischen Kindes. Die Vorgeschichte ist meist sehr diirftig und 
enthalt wenig charakteristische Anhaltspunkte. Bei meinen 25 Kindern 
konnte ich nur 6mal „Ausschlag“ bei oder kurz nach der Geburt notieren, 
3mal Krampfe, lmal Chorea, 2mal Stimmritzenkrampf, 2mal ,,spat 
laufen gelernt“, 2mal Bettnassen. In 14 Fallen fanden sich deutliche 
Wachstumsstorungen, blasses, zartes Aussehen, Unterentwicklung und 
Infantilismus, kurz allgemeine korperliche Minderwertigkeit und Lebens- 
schwache, wie sie auch Hochsi nger 23 ) 24 ) als charakteristisch fiir Kinder 
syphilitischer Eltem beschreibt, Veranderungen, die er auf toxische 
Gewebsschadigungen zuriickfuhrt. Luesverdachtige Narben lagen nur 
bei 2 Kindern vor. Es scheint also fiir Haut- und Schleimhaut- 
affektionen eine relative Immunitat zu bestehen, eine Beobachtung, 
die auch darin zum Ausdruck kommt, daB die Infektion bei den Frauen 
der Paralytiker in den allermeisten Fallen latent verlauft. Viel haufiger 


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( her Paralytikerfamilien. 


161 


waren dagegen Knochen- und Knorpelveranderungen: 25mal warden 
Schadeldeformitaten, Hydrocephalus, Sattelnase, Verkruppelungen des 
auBeren Ohres, abnorme Schmalheit und Hohe des Gaumens, Rachitis und 
Scapula scaphoidea (allein bei 15 Kindern) vorgefunden. tJber die 
klinische Bedeutung dieser zuerst von Graves beschriebenen Schulter- 
blattdeformitat (Konkavitat des inneren Randes) besteht noch keine 
Einigkeit. Raven konnte sie unter 58 Kindern 31mal mehr oder 
weniger ausgesprochen feststellen. Schacherl, der sie ebenfalls nicht 
selten vorfand, verwertet sie nicht, weil ein Vergleich mit nicht syphi- 
litischem Kinder material keine wesentliche Differenz ergeben hatte. 
Hutchinsonsche Zahne konnte ich bei keinem der Kinder beobachten, 
ebensowenig Keratitis interstitialis und Taubheit. Auf die geringe 
Verwertbarkeit der Hutchinsonschen Trias bei der Diagnose der 
Lues congenita ist schon wiederholt hingewiesen worden. Nach Plaut 56 ) 
kann die erste Kindheitsperiode diese wichtigen Kriterien iiberhaupt nicht 
bieten, weil der Hutchi nsonsche Zahn der zweiten Dentition angehort, 
und auch die beiden anderen Symptome entwickeln sich nach Heub¬ 
ner 21 ) erst zwischen dem 1. und 12. Lebensjahr. Auch von Hoch- 
singer werdendie Hutchinsonschen Zahneals ganz uncharakteristisch 
bezeichnet. 

AuBer somatischen Degenerationsstigmata liegen bei den Kindern 
dieser Gruppe die verschiedensten Grade und Formen nervoser und 
psychischer Entwicklungshemmungen vor. Nach Hochsinger ist die 
Gefahr ftir kongenital-syphilitische Kinder, nervenkrank zu werden, 
ganz besonders groB. Er erwahnt 208 langer als 4 Jahre beobachtete 
Sauglinge, von denen 43% trotz Behandlung spater nervenkrank wurden. 
Es bestatigt sich hier wieder die alte Fourniersche Lehre, daB der 
hereditar Syphilitische von Hause aus ein nervoser Mensch sei und alle 
Zeichen der Nervositat an sich trage. Auch Junius und Arndt fanden 
in ihrer groBen Statistik, dafl nahezu aus einem Drittel aller Paralytiker- 
ehen nerven- und geisteskranke Bander hervorgehen. Diese Kinder 
bilden 12,5% der gesamten Paralytikerdeszendenz. Dabei ist wieder 
zu beriicksichtigen, daB die Entwicklung der eigentlichen Psychosen 
und Neurosen, ebenso wie die der juvenilen Paralyse, vom Alter der 
Kinder abhangig ist. Ein Urteil daruber, wie viele von den Paralytiker- 
kindern nerven- und geisteskrank werden, wird man sich erst ver- 
schaffen konnen, wenn die Kinder das Pradilektionsalter dieser Krank- 
heiten, das jenseits der Pubertat liegt, uberschritten haben. Erst wenn 
die Kinder liber die Reifezeit gesund hinauskommen, haben sie einige 
Sicherheit, dauemd gesund zu bleiben. 

Die nervosen und psychischen Entartungen treten nun bei unseren 
Kindern in Erscheinung entweder in Einzelsymptomen, wie Kopf- 
schmerzen, Konvulsionen, Inkontinenz der Blase, Sprachstorungen, 

Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XXXVII. H 


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162 


F. v. Rohden: 


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Stottem, Somnambulismus, oder in ausgesprochenen Nerven- und 
Geisteskrankheiten. Das Vorkommen von kongenitaler Tabes und 
Paralyse wurde schon bei den Kindem der ersten Gruppe besprochen. 
Hier haben wir es in der Hauptsache zu tun mit angeborenen geistigen 
Schwachezustanden in Form von Debilitat und Imbezillitat (in 6 Fallen), 
oder mit krankhaften Veranderungen, die sich erst im spateren Kind- 
heitsalter entwickeln und sich in einem Stillstand oder Riickgang der 
geistigen Entwicklung dokumentieren (Kraepelin). AuBer der in- 
tellektuellen Schwache machen sich bei diesen Kindem oft Charakter- 
veranderungen bemerkbar: Sie sind angstlich, weinerlich, reizbar, auf- 
geregt, widerspenstig, schwer erziehbar und neigen zu Wutanfalien 
und nachtlichem Aufschrecken. In Einzelfallen steht auch die sittliche 
Minderwertigkeit im Vordergrund des Krankheitsbildes. Auch neur- 
asthenische und hysterische Komponenten fehlen nicht. In einem 
Fall konnte. ich bei einem 17jahrigen Made hen ausgesprochene Hysterie 
mit Krampfanfalien feststellen. Dagegen fehlen in meinem Material 
die Dementia-praecox-Formen. 

Diese somatischen und psychischen degenerativen Veranderungen 
sind nun durchaus nicht immer mit positiver Wassermannreaktion 
kombiniert. Bei 25 Kindem dieser Gruppe fand ich 13mal einen posi- 
tiven serologischen Befund, die drei Autoren unter 36 Fallen nur 6mal. 
Wenn die Kinder mit negativer Wassermannreaktion womoglich auch 
auBerlich keine Zeichen kongenitaler Lues zur Schau tragen, liegt 
die Annahme nahe, daB die somatischen und psychischen Defekte 
nicht auf eine Keimschadigung durch das syphilitische Vims, sondem 
auf hereditare, mit der Lues nur in lockerem Zusammenhang stehende 
Einfliisse zUruckzufiihren seien. Wenn auch diese Moglichkeit besonders 
nach der neuesten Arbeit von Hiibner tiber kongenitale Lues jeden- 
falls nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist, so darf doch anderer- 
seits nicht auBer acht gelassen werden, daB der negative Ausfall der 
serologischen Untersuchung es keineswegs ausschlieBt, daB die Kinder 
wirklich Syphilis in sich bergen, zum mindesten aber zu einer friiheren 
Zeit syphilitisch waren, und daB schon damals unter dem direkten 
EinfluB des Virus die Schadigungen zustande gekommen sein konnen 
(Plaut). 

In einer dritten Gmppe habe ich schlieBlich alle jene mehrfach ge- 
nannten latent syphiUtischen Kinder untergebracht, die bei vollstiindiger 
subjektiver und objektiver Gesundheit eine positive Wassermann¬ 
reaktion aufweisen. Es gehoren hierzu im ganzen 13, also nur etwas 
iiber 6% aller untersuchten Kinder. Es ist von ganz besonderer 
Wichtigkeit, das Schicksal dieser anscheinend gesunden Paralytiker- 
deszendenten zu verfolgen. Lesser meint, daB die latente Syphihs 
sich bei diesen Kindem jederzeit klinisch dokumentieren konne, sei 


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t'ber Paralytikerfamilien. 


163 


es durch eine syphilitische Augenaffektion, sei es durch nervose Sto- 
rungen. Auch Kraepeli n vertritt den Standpunkt, daBdieParalytiker- 
sproBlinge mit den serologischen Zeichen der Paralyse, jedoch ohne 
irgendwelche paralytischen Krankheitssymptome auf klinischem Ge- 
biet, in Gefahr schweben, nach Ablauf der gewohnlichen Frist an jenem 
Leiden zu erkranken. Der Zeitpunkt der luisehen Manifestation liegt 
zwar meist in der ersten Kindheit. Als Grenze, bis zu der Erkrankungen 
auf kongenital-syphilitischer Basis auftreten konnen, wird das 30. L«ebens 
jahr angegeben. Indessen sind in der Literatur auch mehrfach Falle 
eines spateren Auftretens der Lues hereditaria tarda beschrieben worden. 
Muller 46 ) beobachtete den Beginn einer Paralyse bei vorhandener 
kongenitaler Lues erst im 42. Lebensjahr. 

Fassen wir die Ergebnisse unserer Untersuchungen bei Paralytiker- 
kindem zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Von 208 Kindern sind 
04 = 45% normal und 114 = 55% pathologisch. Von letzteren haben 
40 organise he Erkrankungen des Zentralnervensystems; das sind 35% 
der pathologischen Kinder und 19% der Gesamtsumme. 61 Kinder 
weisen somatische und psychische Degenerationsstigmata auf; das sind 
54% der pathologischen Kinder und 29,3% der Gesamtsumme. SchlieB- 
lich haben 13 eine positive Wassermannreaktion bei negativem klinischen 
Befund; das sind 11% der pathologischen Kinder und 6,3% der Gesamt¬ 
summe. Im ganzen ist bei 49 Kindern die Wassermannreaktion im 
Blut positiv; das sind 43% der pathologischen Kinder und 23,5% der 
Gesamtsumme. Zu dieser letzten Zahl muB iramer wieder bemerkt 
werden, daB die Wassermannreaktion zwar ein wichtiges Zeichen fur 
Erbsyphilis ist, daB jedoch negative Wassermannreaktion nichts gegen 
Lues beweist. Trotz dieser Einschrankung behalt die Serodiagnose 
gerade auf diesem Gebiet ihre groBe Bedeutung. Durch sie ist ervviesen, 
daB kongenitale Lues weit haufiger ist, als klinische Erscheinungen an- 
zunehmen erlauben. Sie kann, wie wir gesehen haben, auch dann vor- 
liegen, wenn keinerlei Stigmata der Erbsyphilis nachweisbar sind. 


Indem wir die Mannigfaltigkeit der Symptome uberblicken, die bei 
Paralytikerkindem nachgewiesen werden konnten, drangt sich die 
Frage auf, worm die letzte Ursache fiir diese Schadigungen zu suchen 
sei. Bei dem heutigen Stand der Lues - Paralyse - Frage kann von 
vornherein als ausgeschlossen gelten, daB eine besondere originate Dis¬ 
position, auf deren Basis nach Naecke 49 ) die Paralyse sich entwickeln 
soil, als atiologischer Faktor fiir die Entstehung der krankhaften Ver- 
anderungen bei der Paralytikerdeszendenz entscheidend in Betracht 
kommt. Die Naeckesche Theorie kann schon durch die auch an 
unserem Material nachzuweisende Tatsache widerlegt werden, daB 
die Kinder der Paralytiker ganz gesund bleiben, wenn sie vor Erwerbung 

11 * 


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F. v. Rohden: 


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der elterlichen Syphilis gezeugt wurden. Von den 15 in diese Gruppe 
gehorenden Kindern erwiesen sich alle ohne Ausnahme als klinisch und 
serologisch normal. Es wird sich daher im wesentlichen um die Frage 
handeln, ob die Paralyse fur sich allein imstande ist, Schadigungen 
der Nachkommenschaft hervorzurufen, oder ob die der Paralyse in 
jedem Fall vorausgegangene Syphilis der Eltem die Ursache der 
schlechten Gesundheitsverhaltnisse der Kinder ist. 

Was zunachst die Paralyse betrifft, so wiirde sie nur in de n Fallen mit 
den Erkrankungen der Kinder in atiologischen Zusammenhang ge- 
bracht werden konnen, wo die Zeugung nach dem Ausbruch der Krank- 
heit erfolgte. In der Annahme, daB die Paralyse bereits vor dem Auf- 
treten der ersten paralytischen Symptome im Keime vorhanden, wenn 
auch noch nicht in Erscheinung getreten war, wird man a priori der 
Paralyse einen entartenden EinfluB auch auf die Kinder einraumen 
konnen, die in diesen praparalytischen Jahren zur Welt kamen. Die 
Zahl dieser kurz vor und nach Ausbruch der Paralyse geborenen De- 
szendenten ist nun auffallend gering. Von den 208 untersuchten Kindern 
war, soweit sich feststellen IieB, nur eins nach Ausbruch der Paralyse 
und zwar 4 Jahre spater geboren (Familie Nr. 24). Bei zwei weiteren 
fallt das Geburtsjahr mit dem Erkrankungsjahr des Vaters zusammen 
(Nr. 24, 87). Im ersten und zweiten Jahr vor Ausbruch der Paralyse 
wurden je 5 Kinder geboren, im dritten Jahr vorher 6. Einen atiolo¬ 
gischen EinfluB der Paralyse auch bei den 4 und mehr Jahre vor Krank- 
heitsbeginn gezeugten Kindern anzunehmen, liegt wohl kein Grund 
vor. Wir hatten also im ganzen 19 Kinder, bei denen es von vornherein 
nicht ausgeschlossen erscheint, daB die Paralyse selbst fiir etwaige Er¬ 
krankungen verantwortlich zu mac hen ist. Wie steht es nun mit den 
Gesundheitsverhaltnissen dieser Kinder? 

Nach der Annahme von Scholtens und Obersteiner (zit. nach 
Junius und Arndt), daB die Paralytikerkinder um so mehr gefahrdet 
sind, an nervosen und psychischen Storungen zu erkranken, je naher 
dem Ausbruch der Paralyse sie gezeugt wurden, miiBten sich fur diese 
19 zum mindesten wesentlich schlechtere Gesundheitsverhaltnisse er- 
geben, als fiir die 189 friiher geborenen Kinder. Aus unseren Unter- 
suchungen ergibt sich nun gerade das Gegenteil. Das Verhaltnis der 
gesunden zu den kranken Kindern ist folgendes: 


3 Jahre vor Ausbruch der Paralyse wurden geboren: 

2 

pathol. 

4 norm. Kinder 

3 ft ft tt »• >« tt 

1 

ft 

4 „ 

1 *» ft *9 ft *» M ft 

0 

ft 

5 ,, M 

Im Jahre des Ausbruchs „ 

0 

tt 

** ft •» 

4 „ nach Ausbruch „ ,, „ „ 

0 

tt 

1 normal. Kind. 


Also samtliche 8 ein Jahr vor Ausbruch der Paralyse und spater 
geborenen Kinder sind klinisch und serologisch gesund. Von den 11 


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165 


aus dem zweiten und dritten vorparalytischem Jahre stammenden 
Kindern waren 8 gesund und nur 3 zeigten geringe pathologische Ver¬ 
anderungen. Dagegen sind von 189 Deszendenten, deren Zeugungs- 
termin mindestens 4 Jahre vor Beginn der elterlichen Paralyse liegt, 
111 pathologisch imd nur 78 gesund. Hier ware also der Prozentsatz 
der pathologischen Kinder 60%, dort etwa 15%! Der Unterschied ist 
zu groB, als daB er durch irgendwelche Zufalligkeiten und Fehlerquellen 
der Untersuchungsmethoden erklart werden konnte. Es muB vielmehr 
schon aus diesen Zahlen geschlossen werden, daB die Paralyse an 
sich. fur die Nachkommen nicht gefahrlich ist. Unterstiitzt 
wird diese Auffassung durch die Mitteilung von Plaut-Goering, 
daB von 8 Kindern, die aus den praparalytischen Jahren stammen oder 
von bereits erkrankten Vatem gezeugt waren, kein einziges neurologische 
und psychische Besonderheiten verdachtiger Art aufwies. 

Welcher Art sind nun die pathologischen Veranderungen bei den 
drei kranken von den 19 Kindern? Das im zweiten Jahr vor Ausbruch 
der vaterlichen Paralyse geborene Kind (Familie Nr. 14) hatte nach 
Beschreibung der Mutter bei der Geburt, die 18 Jahre nach der Infektion 
des Vaters und 1 Jahr nach der Heirat erfolgte, einen spezifisch-luischen 
Hautausschlag. Zur Zeit der Untersuchung ist das 4jahrige Kind sehr 
lebhaft und nervos, zeigt jedoch auBer einer positiven Wassermann- 
reaktion im Blut keine pathologischen Symptome. Die beiden aus dem 
dritten praparalytischen Jahre stammenden Kinder wurden von Raven 
untersucht. Das eine (Familie Nr. 46), 10 Jahre alt, ist unterentwickelt, 
blaB und hat einen stark positiven serologischen Befund, das andere 
(Familie Nr. 120), 3 Jahre alt, hat oft Hautausschlage und Ohnmachts- 
anfalle, die Pupillen sind etwas entrundet, Wassermannreaktion negativ. 
Bei dem zweiten Kind ist der Infektionstermin des paralytischen Vaters 
nicht bekannt, bei dem dritten liegt er wahrscheinlich 13 Jahre zuriick. 
Somit ergibt sich, daB bei 2 von den Kindern eine serologisch nach- 
weisbare kongenitale Lues vorliegt, und daB bei dem 3. Kind mit nega- 
tiver Wassermannreaktion auf Grund der Erscheinungen eine Erb- 
syphilis mit groBer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist. Wenn iiber- 
haupt, wiirde also die Paralyse des Vaters in alien drei Fallen Folgen 
gehabt haben, die sich von denen der Syphilis selbst durchaus nicht 
unterscheiden. 

Wir hatten also folgenden Tatbestand: Fur die weitaus meisten Kin¬ 
der mit pathologischen Veranderungen — es handelt sich um 98% -— 
kommt die Paralyse als atiologisches Moment schon deshalb nicht in 
Frage, weil sie in der Regel erst viele Jahre, zum mindesten aber 4 Jahre 
nach der Geburt der Kinder in Erscheinung tritt. In den drei Fallen, 
wo bei der nahen zeitlichen Beziehung zwischen klinischem Beginn 
der elterlichen Paralyse und Zeugung der Kinder eine Abhangigkeit 


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F. v. Rohden: 


der kindlichen Erkrankung von der vaterlichen Paralyse nicht ohne 
weiteres ausgeschlossen werden kann, beobachten wir bei den Kindern 
Entartungsformen, die sich in nichts von den pathologischen Verande- 
rungen kongenital-syphilitischer Kinder unterscheiden. Da nun die 
Eltern, wenigstens soweit sie Paralytiker sind, friiher sicher eine syphi- 
litische Infektion durchgemacht haben, kann es keinem Zweifel unter- 
liegen, daB alle bei der Paralytikerdeszendenz nachzuweisenden krank- 
haften Symptome der elterlichen Syphilis ihre Entstehung verdanken 
konnen. BeidieserSachlageerscheintesdenndoch weit ungezwungener, 
die Paralyse als ursachlichen Faktor iiberhaupt auszuschal- 
ten und statt dessen die Syphilis der Eltern ganz allgemein 
fur die Erkrankungen derKinder verantwortlich zu machen. 

Diese Auffassung wiirde an Wahrscheinlichkeit gewinnen, wenn 
nachgewiesen werden konnte, daB Zahl und Art der pathologischen 
Veranderung bei Paralytikerkindem sich nicht wesentlich unterscheidet 
von denen der Tabikerkinder. Die Verhaltnisse hegen ffir beide Teile 
insofem gleich, als sowohl die tabischen wie die paralytischen Eltern 
friiher Syphilitiker waren. Etwaige Erkrankungen bei den Deszendenten 
konnen also in beiden Fallen in Beziehung gesetzt werden zu 
der Lues der Erzeuger. Wenn sich zeigen lieBe, daB einerseits die nach 
Ausbruch der elterlichen Tabes geborenen Kinder ebenso wie die ent- 
sprechenden Paralytikerkinder gesund sind, daB andererseits die Ge- 
burts- und Gesundheitsverhaltnisse der z wise hen syphilitischer In¬ 
fektion und Beginn der Tabes gezeugten Deszendenten ungefahr die 
gleichen sind wie dort, so muBte hieraus wieder gefolgert werden, daB 
die Tabes ebensowenig wie die Paralyse fiir die Entartung der Deszen¬ 
denten verantworthch zu machen ist, sondern die ihnen gemeinschaftlich 
zugrunde hegende Syphilis. 

Bei Erorterung dieser Frage kann ich mich leider nicht auf eigene 
Erfahrungen sttttzen, da die Zahl der von mir untersuchten Tabiker- 
famihen zu unbedeutend ist, als daB ihr Beweiskraft zugesprochen 
werden diirfte. AuBerdem handelt es sich bei meinen 5 Famihen urn 
Tabesformen, die nicht eindeutig genug sind, weil sie samtlich mit 
Psychosen kombiniert waren. Dagegen steht uns in den Arbeiten von 
Hauptmann, Raven und Schacherl ein fiir unseren Zweck insofem 
sehr geeignetes Material zur Verfugung, als Paralytiker- und Tabiker- 
familien hier nach einheitlichen Gesichtspunkten und mit gleichen 
Methoden untersucht wurden. AuBerdem sind wir liber die Gesund¬ 
heitsverhaltnisse der nach Beginn der elterlichen Tabes geborenen 
Kinder durch die Untersuchung von Sandberg hinreichend unter- 
richtet. Was zunachst die letzteren betrifft, so stimmen nach Sandberg 
(zit. nach Junius-Arndt) die Literaturangaben dahin iiberein, daB 
diese Kinder keinerlei Degenerationserscheinungen darbieten, sich einer 


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t'ber Paralytikerfamilien. 


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guten Gesundheit erfreuen, und daB ihr Geisteszustand und ihre In- 
telligenz tadellos ist. Auchdie von ihr befragten Neurologen (Raymond, 
Babinski, Frankel u. a.) hatten einstimmig ihr Urteil dahin ab- 
gegeben, daB nach ihren Erfahrungen die Tabikerkinder immer gesund 
und frei von Degenerationszeichen waren. Sie selbst verffigt fiber 
Untersuchungen an Kindern aus 21 Tabikerfamilien. „Es ergab sich, 
daB diese Kinder frei waren von alien Zeichen erblicher Degeneration, 
und daB sie das Aussehen und die Zeichen einer vollkommenen Ge¬ 
sundheit darboten. Die Kinder waren nicht nur korperlich gut ent- 
wickelt, sondem in der Mehrzahl der Falle zeigten sie auch gute in- 
tellektuelle Fahigkeiten.“ Die Ursache des guten Gesundheitszustandes 
der wahrend der Tabes geborenen Kinder ftihrt Sandberg darauf 
zurfick, daB die schadlichen Folgen der syphilitischen Infektion der 
Eltem sich bei diesen Kindern im allgemeinen nicht mehr geltend 
machten, weil sie oft viele Jahre nach dem Zeitpunkt der elterlichen 
Infektion gezeugt waren. Im Gegensatz dazu trafe man in der Zeit 
vor Beginn der Tabes bei diesen Eltern neben Aborten und Totgeburten 
auch auf kranke Kinder. 

Die Richtigkeit dieser Anschauung wird von unseren drei Autoren 
durch ihre Befunde an 66 Tabikerfamilien bestatigt. Die quantitativen 
und qualitativen Geburtsverhaltnisse der von ihnen untersuchten 
Tabiker- und Paralytikerkindem werden in Tabelle IV vergleichsweise 
gegenfibergestellt: 

Tabelle IV. 

Quantitative und qualitative Geburtsverh&ltnisse in Paralytiker- 

und Tabikerfamilien. 



l. 

2. 

3. 

4. 

5. 

6 . 

7. 

8 . 

9. 

10. 

11 . 


Zahl 
der Fa- 
milien 

Ge- 

burten 

Davon 
Fehl- 
u. Tot- 
geburt. 

Ge- 

gtorben 

Am 

Leben 

Davon 

unter- 

sucht 

Davon 

Nor- 

male 

Patho- 

logische 

Davon 

organ. 

Erkrg. 

deg 

Z. N.S. 

Somat. 

Oder 

psych. 

Deg.- 

Stigm. 

Klin. 

frei 

Wa -f- 

. 

I. Paralyti- 
kerkinder 

86 

280 

76 

61 

143 

113 

44 

69 

24 

36 

9 

II. Tabiker¬ 



I 









kinder ... 

66 

244 

92 

34 

118 

82 

33 

49 

16 

22 

11 

Prozent. Ver- 
h&ttms v. IslI 

_ 

_ 

27:38 

22:14 

51 : 48 


39:40 

61:60 

35:33 

52:45 

13:22 


Diese Zahlen sprechen ffir sich. Sie gewinnen fibrigens an Bedeutung 
durch den Umstand, daB sie mit den von Mendel und Tobias 44 ) ge- 
fundenen Werten gut tibereinstimmen. Diese Autoren berechnen 
namlich fur Tabikerehen 40% lebende Kinder, ffir Paralytikerehen 
48%. Vergleichsweise machen die lebenden Kinder in tuberkulosen 
Ehen 60% und in gesunden Ehen 70% samtlicher Graviditaten aus. 
Wie skeptisch man auch, und zwar mit vollem Recht, dem Wert von 


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168 


F. v. Rohden: 


Statistiken und Prozentsatzen im allgenjeinen gegeniiberstehen mag, so 
sind die Zahlen der Tabelle IV doch so eindeutig, daB es wohl erlaubt 
erscheint, folgende Schliisse aus ihnen zu ziehen: 

1. Die Zahl der tiberlebenden Kinder ist bei Paralytikem und 
Tabikem die gleiche, namlich etwa die Halfte der Geburtenzahl. 

2. In Paralytikerfamilien kommen verhaltnismaBig etwas weniger 
Fehl- und Totgeburten vor als in Tabikerfamilien; dafiir sterben von 
den Paralytikerkindem entsprechend mehr im jugendlichen Alter. 

3. Das Verhaltnis der normalen zu den pathologischen Kindem 
ist bei Paralytikem und Tabikem ebenfalls das gleiche: Etwa */ 6 Normale 
stehen s / 6 Pathologischen gegeniiberf 

4. Die Ubereinstimmung erstreckt sich zum Teil auch auf die Er- 
krankungsform. Organische Veranderungen des Zentralnervensystems 
mit oder ohne positive Wassermannreaktion finden sich in beiden Fallen 
bei 2 / e der pathologischen Kinder. 3 / a , und zwar etwas mehr Paralytiker- 
als Tabikerkinder, zeigen somatische und psychische Degenerations- 
stigmata mit oder ohne positive Wassermannreaktion. Der Rest von 
etwa 1 / 6 , und zwar weniger Paralytiker- als Tabikerkinder, erweist sich 
bei negativem klinischen Befund als sypbilitisch infiziert. 

Mit anderen Worten: Die Paralytiker- und Tabikerdeszen- 
denz zeigt quantitativ und qualitativ eine auffallende 
Ubereinstimmung, die ihre zureichende Erklarung nur 
findet in der Annahme einer einheitlichen Atiologie. Also 
nicht Paralyse und Tabes als solche sind fur die Schadigung 
der Kinder verantwortlich zu machen, sondern ihre ge- 
meinsame Ursache, die Syphilis. Die Kinder, die zwischen In- 
fektionstermin und Ausbruch der Tabes und Paralyse gezeugt wurden, 
erwiesen sich nach den Zahlen von Hauptmann, Raven und Scha- 
cherl in etwa 60% pathologisch; dagegen sind alle nach Beginn der 
Tabes und Paralyse geborenen Kinder nach Sandbergs und den 
eigenen Untersuchungen gesund, und zwar nur deshalb, weil die toxische 
Wirkung der elterlichen Syphilis im allgemeinen nicht iiber einen 
gewissen Zeitraum hinausreicht und sich um so weniger bei den Kindern 
bemerkbar macht, je weiter sich ihre Zeugung vom Zeitpunkt der 
elterlichen Infektion entfemt (s. auch S. 174). 

Hiermit ware auch die lebhaft umstrittene Frage einer Beantwortung 
entgegengefiihrt: Welche Paralytikerkinder sind am meisten gefahrdet, 
diejenigen, deren Geburt in die Nahe des Beginns der elterlichen Paralyse 
fallt oder nicht vielmehr die Kinder, die mehr oder weniger kurze 
Zeit nach der syphilitischen Infektion der Eltern gezeugt wurden ? 
Diese Frage hat neben ihrer praktischen Wichtigkeit auch groBes theo- 
retisches Interesse. Es liegt auf der Hand, daB unsere Vorstellung von 
der Bedeutungslosigkeit der Paralyse als solcher fur die Entstehung von 


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tiber Paralytikerfamilien. 


169 


Erkraiikungen der Deszendenten erschiittert wiirde, wenn sich nachweisen 
lieBe, daB wesentlich die in den letzten Jahren vor dem Manifest werden 
der Paralyse geborenen Kinder erkranken. Tatsachlich wird von Schol- 
tens 67 ) und Obersteiner 64 ) diese Lehre vertreten. Sie sind der Mei- 
nung, daB man krankhafte Erscheinungen bei Paralytikerkindem im 
allgemeinen um so eher erwarten kann, je naher die Zeugung dem Aus- 
bruch der Krankheit liegt. Scholtens fand, daB von 49 weniger als 
10 Jahre vor dem Ausbruch der Paralyse geborenen Kindem 24, das 
sind 48,9%, an nervosen Storungeii litten, wahrend von 88 Kindem, 
die 10 und mebr Jahre vor Beginn der Paralyse geboren waren, nur 
12 = 13,6% Anomalien des Nervensystems hatten. Zu vollkommen 
entgegengesetzten Resultaten gelangt Semper 68 ), der als am meisten 
gefahrdet diejenigen Kinder bezeichnet, die in einem vom Beginn der 
Paralyse entfemten Zeitpunkt, also in den ersten Jahren der Ehe ge- 
zeugt wurden. Er fand unter ihnen sehr haufig Fehl- und Totgeburten, 
Todesfalle im friihesten Alter und hereditar-syphilitische Erkrankungen. 
Der Prozentsatz der gesunden Kinder dieser Periode war auffallend 
gering (4 auf 33 Schwangerschaften = 12%). In einer zweiten Periode, 
die einige Jahre von der syphilitischen Infektion entfernt ist und sich 
bis zum Beginn der Paralyse erstreckt, wuchs der Prozentsatz der ge¬ 
sunden Kinder ganz augenscheinlich (14 auf 27 Schwangerschaften 
= 52%). Auch Junius und Arndt, denen diese Angaben entnommen 
sind, sind geneigt, der von Semper vertretenen Meinung beizupflichten. 
Raven schlieBlich konnte zeigen, daB in der Reihenfolge der Graviditaten 
die ersten und zweiten und auch noch die dritten Kinder am meisten 
gefahrdet sind, wogegen dann die Zahlen schnell abnehmen, und nament- 
lich die schwereren Erkrankungsformen nur noch ausnahmsweise vor- 
kommen. 

Die Griinde fiir die Entwicklung der offenbar haltlosen Scholtens- 
Obersteinerschen Lehre sind nicht ganz ersichtlich. Sicher ist nur 
so viel, daB die von Scholtens gewahlte Gruppeneinteilimg der Kinder, 
je nachdem sie mehr oder weniger als 10 Jahre vor Beginn der Paralyse 
geboren wuirden, ganz willkurlich ist und schon deshalb zu Trugschliissen 
fiihren muB. Es laBt sich leicht an meinem Kindermaterial zeigen, 
daB man zu den widersprechendsten Ergebnissen gelangt, wenn man 
die Scholtenssche Einteilungsgrenze auch nur um ein Jahr nach 
oben oder unten verschiebt. AuBerdem ist sehr wahrscheinlich, daB 
Scholtens in die Gruppe der langer als 10 Jahre vor Ausbruch der 
elterlichen Paralyse gezeugten Kinder auch diejenigen aufgenommen 
hat, die auch schon vor dem Zeitpunkt der elterlichen Syphilisinfektion 
geboren und nur aus diesem Grunde gesund geblieben sind. Am be- 
denklichsten indessen scheint mir, daB das von Scholtens gewahlte 
Einteilungsprinzip, indem es vom Paralysebegir.ii seinen Ausgang nimmt, 


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170 


F. v. Rohden: 


sich auf einen ganz unbestimmten Zeitbegriff grlindet. Was wissen 
wir denn heutzutage liber den Zeitpunkt des Ausbruchs der Paralyse? 
Wenn es heiBt: Die Paralyse beginnt im Durchschnitt 10—15 Jahre 
nach der syphilitisohen Infektion [Wollenberg 74 )], so wird damit 
im Grunde doch nur gesagt, daB wir mifc Hilfe unserer klinischen und 
serologischen Untersuchungsmethoden die paralytische Erkrankung bis- 
her wenigstens in der Regel nicht vor dem zehnten Jahre nach Invasion 
der Spirochaten in den Organismus diagnostizieren konnen. Uber den 
Zeitpunkt des Beginns der pathologischen Gehirnprozesse oder — wenn 
ich mich so ausdrucken darf — liber das Alter, das die Spirochaten erreicht 
haben miissen, ehe sie in der Himrinde ihre spezifisch-paralytischen 
Veranderungen beginnen konnen, darliber wissen wir doch noch so gut 
wie nichts. Da liegt es denn doch weit naher, bei der Entscheidung der 
vorliegenden Streitfrage nicht den Ausbruch der Krankheit zum Aus- 
gangspunkt zu nehmen und von dort riickwarts zu schreiten, sondem 
statt dessen von dem meistens exakt festzulegenden Infektionstermin 
auszugehen. Um nun einen Vergleich zu haben, fur welche Kinder 
die Gefahr zu erkranken am groBten ist, habe ich das IntervaJl zwischen 
Infektionstermin und klinischem Beginn der Paralyse fur jede Familie 
zu berechnen versucht und dann die Kinder in zwei Gruppen eingeteilt, 
je nachdem sie in der ersten oder zweiten Halfte des paralytischen 
Inkubationsintervalls, wie ich diesen Zeitraum nennen mochte, 
geboren wurden. Bei dieser Einteilung war noch folgendes zu beachten: 
Da die Syphilis des Vaters, um zum Kind zu gelangen, fast immer den 
Umweg liber die Mutter machen muB, war in den Fallen, wo der Vater 
sich vor der Heirat infiziert hatte, nicht der Infektionstermin des Vaters, 
sondem der der Mutter als Ausgangspunkt fur die Berechnung zu wahlen. 

Wird nun dieses Einteilungsprinzip zugrunde gelegt, so erhalt man 
folgendes Bild: 

I. In der ersten Halfte des Inkubationsintervalls (postin fek- 
tiose Periode) wurden gezahlt: 

1. Tot- und Fehlgeburten: 49 — 32%. 

2. Friih verstorbene Kinder: 39 = 26%. 

3. Pathologische Kinder: 46 = 31%, davon 17 = 37% mit po- 
sitiver Was8ermannreaktion und 20 = 43% mit nervosenStorungen. 

4. Normale Kinder: 17 =11%. 

II. In der zweiten Halfte des I n kubationsintervalls (prapara- 
lytische Periode) wurden gezahlt: 

1. Tot- und Fehlgeburten: 13 = 19%. 

2. Friih verstorbene Kinder: 11 = 16%. 

3. Pathologische Kinder: 18 = 25%, davon 10 = 55% mit po- 
sitiver Wassermannreaktion und 6 = 33% mit nervosen Storungen. 

4. Normale Kinder: 28 = 40%. 


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t'ber Paralytikerfamilien. 


171 


Diese Zusammenstellung zeigt wohl in eindeutiger Weise, daB die 
Zahlen fiir Tot- und Fehlgeburten, sowie fur friih verstorbene und 
pathologische Kinder aus der postinfektidsen Periode die entsprechen- 
den Zahlen der praparalytischen Periode sowohl absolut als auch relativ 
zum Teil erheblich ubertreffen. Jm Gegensatz hierzu bilden die gesunden 
Kinder aus der ersten Halfte nur 11%, die der zweiten Halfte dagegen 
fast die vierfache relative Zahl, namlich 40% aller Graviditaten. Diese 
Zahlen stimmen tibrigens sehr gut mit den Semperschen Angaben 
iiberein (S. 169). Die groBere Gefahrdung der aus dem ersten Zeit- 
abschnitt stammenden Deszendenten gegentiber denen des zweiten 
tritt zahlenmaBig noch deutlicher in Erscheinung, wenn man die Fehl¬ 
geburten und gestorbenen Kinder aus der Berechnung ausschaltet. 
Dann hatten wir unter den 63 lebenden Kindern der ersten Periode 
73% pathologische und nur 27% normale, wahrend von den 46 Kindern 
der zweiten Periode nur 39% pathologisch und 61% normal sind. Das 
Verhaltnis der kranken zu den gesunden Kindern ware 
dort also etwa */ 4 : x / 4 , hier dagegen 2 / 5 : */ 5 . Allerdings darf 
bei der zahlenmaBigen Beurteilung der Gesundheitsverhaltnisse nie 
auBer acht gelassen werden, daB die den praparalytischen Jahren 
entstammenden Kinder im allgemeinen das 10. Lebensjahr noch nicht 
uberschritten haben, im Gegensatz zu den Kindern des postinfek- 
tiosen Zeitraums. Sie werden daher zum Teil nur deshalb gesund 
sein, weil bei ihnen infolge ihres jugendlichen Alters eine Reihe von 
degenerativen Veranderungen tiberhaupt noch nicht zur Entwicklung 
gelangt sein konnen (vgl. S. 159). 

Nicht ohne Bedeutung scheint mir iibrigens zu sein, daB bei den 
pathologischen Kindern des praparalytischen Zeitabschnitts in 55% 
der Falle eine positive Wassermannreaktion nachgewiesen werden 
konnte. Dabei soli auf die Beobachtung, daB diese Kinder also ver- 
haltnismaBig haufiger serologisch erkranken als die der postinfek- 
tiosen Periode — diese namlich nur in 37% der Falle — nur hinge- 
wiesen werden, ohne zunachst aus diesem bemerkenswerten Gegensatz 
irgendwelche Schlusse ziehen zu wollen. Da namlich bei der Kleinheit 
der vorliegenden Zahlen Willkurlichkeiten und Fehlerquellen nicht 
mit absoluter Sicherheit auszuschlieBen sind, muB mit der Moglich- 
keit gerechnet werden, daB dieser Befund, fiir den eine Erklarung bisher 
noch nicht gegeben werden kann, kein tatsachlicher, sondern ein zu- 
falliger ist. Ganz verkehrt ware es daher auch, aus dem Verhaltnis von 
37% positiven serologischen Resultaten auf der einen Seite zu 55% 
auf der anderen, eine groBere Gefahrdung der spater geborenen Kinder 
abzuleiten. Denn wesentlicher als die Zahl der positiven Reaktionen sind 
bei unseren Untersuchungen die klinischen Befunde. Und diese lassen 
doch deutlich genug erkennen, daB in der Zeit vor Beginn der Paralyse 


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172 


F. v. Rohden: 


im Verhaltnis fast viermal mehr gesunde Kinder gezeugt werden, ala 
in den Jahren nach der Infektion. Wohl aber wird man aus der Tat- 
sache, daB den praparalytischen Jahren iiberhaupt noch positiv reagie- 
rende Kinder entstammen, folgern durfen: Die von einer Paralyse 
bedrohten Syphilitiker sind auch in den Jahren, die dem 
Infektionstermin sehr fern und dem Ausbruch der Krank- 
heit entsprechend nahe liegen, Trager virulenter Spiro- 
chaten, die beim t)bergang in den kindlichen Organismus 
noch spezifiseh syphilitische Erscheinungen, u. a. verhalt- 
nismaBig haufig eine positive Wassermannreaktion her- 
vorzurufen vermogen. 

Hier erhebt sich mm die Frage: 1st der Paralytiker nur in der Zeit 
zwischen Infektionstermin und Paralysebeginn, also wahrend der 
floriden und latenten Luesstadien Spirochatentrager, oder ist er es 
etwa auch noch nach Ausbruch der sog. metasyphilitischen Erkrankungs- 
form? Mit anderen Worten: Wie lange ist der Syphilitiker, der 
spater Paralytiker wird, als infektios anzusehen? Nur 
wahrend der Dauer des paralytischen Inkubationsinter- 
valls oder auch noch nach Beginn der Paralyse? 

DaB die Paralytiker im primaren und sekundaren Stadium der Lues 
wie alle Syphilitiker ihre Frauen und Kinder infizieren konnen, liegt 
auf der Hand und bedarf keiner naheren Begriindung. Wohl aber 
bleibt zu erortem, wie es sich mit der Infektiositat verhalt, nachdem 
die aktive Lues in das latente und metasyphilitische Stadium iiber- 
gegangen ist. 

Schon Fournier 12 ) hatte das falsche medizinische Dogma be- 
kampft, daB die Lues in ihren spateren Stadien bei Fehlen des Primar- 
affekts und der Sekundarsymptome nicht ubertragbar sei. Nachdem 
man einmal auf das Schicksal der Frauen und Kinder jener Syphilitiker, 
die auBerlich wahmehmbare Krankheitserscheinungen nicht darboten, 
aufmerksam geworden war, wurde die Infektionsmoglichkeit wahrend 
der Latenzperiode offenkundig. In der Tat wissen wir jetzt auf Grund 
umfangreicher klinischer imd experimenteller Erfahrungen, daB die 
Luiker auch nach Abklingen ihrer floriden Erscheinungen virulente 
Spirochaten in ihrem Organismus beherbergen und daher noch jahre- 
lang fur ihre Angehorigen ansteckungsgefahrlich sein konnen. H u bert 26 ) 
stellte fest, daB unter 130 latent syphilitischen Frauen 75% von einer 
Infektion iiberhaupt nichts wuBten. Diese Beobachtung keimzeiohnet 
die Haufigkeit einer Ansteckung durch auBerlich symptomlose Manner. 
Trinchese 73 ) berichtet uber 6 Falle von Lues latens bei Mannern, 
die bis auf positive Wassermannreaktion subjektiv und objektiv vollig 
gesund waren. Trotz geniigender Behandlung und trotzdem die Heirat 
erst 3—5 Jahre nach dem Infektionstermin stattgefunden hatte, wurden 


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Ober Paralytikerfamilien. 


173 


samtiiche Frauen infiziert und gebaren syphilitische Kinder. AuBerdem 
konnte Trinchese zeigen, daB auch im Stadium der Spatlatenz die 
Infektiositat weiterbestehen oder nach zeitweiliger Unterbrechung 
plotzlich wieder aufflackern kann. Er erwahnt u. a. den Fall eines 
latenten Luikers, der nach griindlicher Behandlung imd nach Ver- 
schwinden aller krankhaften Erscheinungen, mit Ausnahme einer 
positiven Wassermannreaktion, 8 Jahre nach der Infektion mit Er- 
laubnis des behandelnden Arztes heiratete. Die im Laufe der nachsten 
3 Jahre geborenen beiden Kinder waren klinisch und serologisch ge- 
sund, ebenso die Frau, deren Blut nach jeder Entbindung untersucht 
worden war. Zehn Monate nach Geburt des dritten Kindes, also un- 
gefahr 12 Jahre nach Infektion des Mannes, bekam die Frau eine 
typische Roseola und stark positive Wassermannreaktion. Die Frau 
war also, nach Art der Erscheinungen zu urteilen, seit ganz kurzem 
infiziert, und dies zu einer Zeit, wo der Mann kein anderes Symptom als 
eine positive Blutreaktion aufwies. Dieser Fall von Spatubertragung 
bei latenter Lues steht nicht vereinzelt da. Zum Beispiel beobachtete 
Fournier einen Syphilitiker, der noch nach 13 Jahren kontagios war. 
Delbanco berichtet von einer Frau, die von ihrem Mann noch 14 Jahre 
nach der Infektion syphilitisch angesteckt wurde. Levig sah die Geburt 
eines totfaulen Kindes sogar 20 Jahre nach dem Infektionstermin des 
Vaters [zit. nach Nonne 61 )]. 

Eine experimentelle Stiitze fanden diese Beobachtungen in dem 
zuerst von E. Hoffmann 28 ) gefiihrten Nachweis virulenter Spiro- 
ehaten wahrend der Latenzperiode der Lues. Hoffmanns positive 
Resultate mit dem Blut und Lumbalpunktat latenter Syphilitiker 
wurden bestatigt von Uhlenhuth und Mulzer 74 ), Neisser, Friih- 
wald 14 ) u. a. Auch mit Sperma konnten vereinzelt positive Erfolge 
erzielt werden [Finger und Landsteiner, Mulzer 48 ) u. a.]. 

AUe diese klinischen und tierexperimentellen Beobachtungen, die 
das Vorhandensein virulenter Spirochaten und damit die Infektions- 
moglichkeit bei Lues latens beweisen, gelten zunachst nur fur Syphi¬ 
litiker, deren Krankheit nicht in das Endstadium der Metalues iiber- 
geht. Wo dies geschieht, wo es sich also um latente Luiker handelt, 
die schlieBlich Paralytiker und Tabiker werden, liegen in bezug 
auf die Ansteckungsfahigkeit prinzipiell die gleichen Ver- 
haltnisse vor. DaB z. B. die Ehegatten der Paralytiker nur in den 
seltensten Fallen von der stattgefundenen Infektion spater etwas wissen, 
— namlich nur 10 weibliche Ehegatten unter unseren 156 Familien — 
hatten sie mit den Frauen der latenten Syphilitiker gemeinsam. Ebenso 
wie dort kann ferner auch hier, wie unsere Befunde an Frauen und 
Kindem gezeigt haben, in jedem Stadium der Latenzperiode die Lues 
auf die Angehorigen iibertragen werden. In 21 Fallen sicherer konjugaler 


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F. v. Rohden: 


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Infektion war es moglich, den Abstand zwischen primarer Infektion 
des paralytischen Ehegatten und sekundarer Infektion der ursprtinglich 
gesunden Frau zu berechnen. In 17 von diesen Fallen lag das Intervall 
unter 6 Jakren. Zweimal war die Ubertragung 8 Jahre (Familie Nr. 85 
und 96) und je einmal 9 bzw. 12 Jahre (Familie Nr. 77 und 54) nach 
der Primarinfektion erfolgt. Dann finden sich allerdings noch zwei 
Frauen mit positiver Wassermannreaktion, deren Heirat erst 17 bzw. 
21 Jahre (Familie Nr. 14 und 99) nach der Infektion des Mannes statt- 
fand. Hier ist indessen nicht auszuschlieBen, daB die Frauen sich nicht 
schon vor der Heirat infiziert haben, und daB auch die Syphilis des 
Kindes nicht vom paralytischen Vater, sondem von einer auBerehelichen 
Infektion der Mutter herrtihrt. Fur die lange Dauer der Infektiositat 
spreehen femer unsere Erfahrungen an den Kindem dieser Frauen. Schon 
die Tatsache, daB in derzweiten Halfte der paralytischen Inkubationszeit 
noch relativ haufig Kinder mit positiver Wassermannreaktion ge- 
boren werden, war charakteristisch. Da namlich das Intervall 
zwischen Infektion und Paralyseausbruch bei unseren Familien im 
Durchschnitt 16 Jahre ausmacht, so stammen tiber ein Drittel 
— genau 10 von 27 oder 37% — samtlicher sicher syphilitischen 
Kinder aus einer Zeit, wo die vaterliche Infektion langer 
als 8 Jahre zuriickliegt. Im einzelnen waren bei der Geburt in 
3 Fallen 10 Jahre seit der Ansteckung des Vaters verflossen, bei 2 Kin¬ 
dem 11 Jahre, bei einem Kind 12 Jahre und bei 4 Kindern 13 Jahre. 
Hiermit stimmt tiberein die Angabe von Plaut und Goering 68 ), daB 
unter ihren syphilitischen Paralytikerkindern je eines 9 bzw. 12 Jahre 
nach der Infektion des Vaters gezeugt war. Hiernach scheint also 
in der Nahe des 13. Jahres nach dem Primaraffekt eine ge- 
wisse Grenze zu liegen, tiber die hinaus die Infektiositat 
des latenten Syphilitikers nur ausnahmsweise in Erschei- 
nung tritt. Dabei ist ein zeitlicher Unterschied in der Dauer der 
Ansteckungsfahigkeit, wie ihn Bruhns 8 ) und Jolowicz 28 ) annehmen 
mochten, je nachdem die Syphilitiker an Metalues des Zentralnerven- 
systems erkranken oder nicht, an unserem Material jedenfalls nicht 
erkenntlich. 

Das Ergebnis unserer t)berlegungen laBt sich in folgende Satze 
zusammenf assen: 

1. Die Syphilitiker, die spater an Paralyse erkranken, 
sind bis weit in die Latenzperioden hinein Spirochaten- 
trager, und unterscheiden sich in dieser Eigenschaft grund- 
satzlich nicht von Syphilitikern, die frei von „metaluischen“ 
Erkrankungsformen bleiben. 

2. Wahrend der ganzen Dauer des paralytischen Inku- 
bationsintervalls, das im allgemeinen 10—15 Jahre, bei meineit 


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( ber Paralyti kerfamilien. 


175 


Fallen durchschnittlich 16 Jahre betragt, kann die Syphilis auf 
Gatten und Kinder iibertiagen werden. 

Unter diesen Voraussetzungen ist es sehr wahrscheinlich, daB bei 
den von einer Paralyse bedrohten Luikern die serologische 
Untersuchung stets positiv ausfallen wird. Auch nur ein ge- 
ringer Prozentsatz negativer Reaktionen bei Kranken im prapara- 
lytischen Stadium ware jedenfalls auffallend gegenuber der Tatsache, 
daB bei manifester Paralyse mit einem Prozentsatz von fast 100% 
positiver Reaktionen gerechnet werden kann. 

Natttrlich bedarf unsere Vorstellung von den serologischen Ver- 
haltnissen in den vorparalytischen Jahren noch der Nachprufung. Es 
wird wohl nur in den seltensten Fallen moglich sein, die klinische Vor- 
geschichte eines Paralytikers vom Zeitpunkt der Infektion bis zum 
Ausbruch der Krankheit liickenlos zu erhalten. Da auBerdem der In- 
fektionstermin der meisten jetzt lebenden Kranken in eine Zeit fallt, 
die dem Beginn der Wassermannara in der Psychiatrie (1909) um 
5—10 Jahre vorausgeht, so wird das serologische Bild eines wesent- 
lichen Teiles der paralytischen Vorbereitungszeit tiberhaupt noch nicht 
bekannt sein konnen. Unter meinen eigenen 70 paralytischen Ehe- 
gatten, von denen kaum 10% vor ihrer Anstaltsaufnahme serologisch 
untersucht worden waren, fand sich nur ein einziger, der langer als 
3 Jahre vor Ausbruch der Krankheit sein Blut in regelmaBigen Ab- 
standen hatte untersuchen lassen (Familie Nr. 35). Trotz energischer 
Quecksilber- und Salvarsanbehandlung blieb hier die Wassermann- 
reaktion in Blut und Liquor mit ganz voriibergehenden Schwankungen 
positiv. 

Natiirlich ist dieser Einzelfall nicht geeignet, die auch praktisch wich- 
tige Frage zu entscheiden, ob tatsachlich alle Syphilitiker, die schlieBlich 
der Paralyse verfallen, dadurch Charakterisiert sind, daB bei ihnen der 
serologische Befund stets positiv ist. Erst eine systematische Durch- 
forschung der Paralytikeranamnesen wird hier Klarheit verschaffen. 
Heute scheint nach den Befunden bei den Angehorigen nur so viel ge- 
sichert, daB die Paralytiker vom Zeitpunkt der Spirochaten- 
invasion bis zum Beginn der Krankheit ihre Infektiositat 
nicht verlieren. 

Was erfolgt nun, wenn schlieBlich das als infektios anzusehende 
Latenzstadium in Paralyse ubergeht? Verschwinden dann plotzlich 
die Spirochaten aus dem Blut, trotzdem die Wassermannreaktion fast 
in 100% positiv bleibt? Mit anderen Worten: Haben wir es bei der 
Paralyse tatsachlich mit einer Metalues, d. h. mit einer nicht in- 
fektiosen syphilitischen Nachkrankheit zu tun? Kann also der 
Paralytiker nach Ausbruch seiner Krankheit fur seine Angehorigen 
als nicht ansteckungsgefahrlich gelten ? 


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F. v. Kohden: 


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Hier laCt uns nun die klinische Erfahrung bisher wenigstens 
noch im Stich. Nonne 61 ) befindet sich im Irrtum mit der Annahme, 
daB die Resultate der serologischen Familienforschung ein weiteres Glied 
in der Beweiskette seien, daB Paralyse und Tabes echte syphilitische 
Erkrankungen, also noch aktive Lues darstellen. Von ausgedehnten 
Erfahrungen liber die Haufigkeit der Infektion von Paralytiker- und 
Tabikerangehorigen, wie Nonne meint, kann nicht die Rede sein. 
In Wirklichkeit hat die serologische Familienforschung bisher lediglich 
festgestellt, daB die noch nicht einem metasyphilitischen Nervenleiden 
zum Opfer gefallenen latenten Luiker ihre Angehorigen anstecken 
konnen. Dagegen ist ihr noch nicht gelungen, den Nachweis fiir das 
Fortbestehen der Infektiositat auch nach Ausbruch der Tabes und 
Paralyse zu erbringen. Das ist natiirlich scharf auseinanderzuhalten. 
Tatsachlich findet sich auch unter den von Nonne und seinen Mit- 
arbeitern Hauptmann und Raven veroffentlichten Familien- 
geschichten keine einzige, aus der einwandfrei eine nach Beginn der 
Paralyse erfolgte Infektion der Angehorigen hervorginge. Es liegt in 
der Natur der Sache, daB iiber das Schicksal dieser Frauen und Kinder 
noch so gut wie nichts Sicheres bekannt ist und auch nicht bekannt 
sein kann. Denn mit dem Beginn der Krankheit, die doch heutzutage 
meist mit der Anstaltsaufnahme zusainmenfallt, kanp die Ehe des 
Paralytikers hinsichtlich der weiteren Zeugungsmoglichkeit als beendet 
angesehen werden; und die wenigen Kinder, die wirklich noch nach 
Ausbruch der Paralyse geboren werden, sind jedenfalls viel zu jung, 
als daB Endgiiltiges in bezug auf Diagnose und Prognose bei einer Unter- 
suchung festgelegt werden konnte, die noch zu Lebzeiten des Erzeugers 
stattfindet. Junius und Arndt stellen daher mit Recht die Forderung, 
diese Kinder mindestens 1—2 Jahrzehnte im Auge zu behalten, ehe 
man entscheiden dtirfe, ob sie wirklich gesund bleiben, oder ob sich bei 
ihnen in den Pubertatsjahren nicht doch noch eine Lues hereditaria 
tarda entwickelt. 

Unter diesen Umstanden erscheint es erklarlich, daB die Ansichten 
der Autoren liber den Gesundheitszustand der von manifesten Para- 
lytikern und Tabikern gezeugten Kinder weit auseinandergehen. 
Wahrend Scholtens 87 ) und Obersteiner 64 ) eine besonders schwere 
Gefahrdung gerade dieser Deszendenten beobachtet haben wollen, 
stellen ihnen Mendel 41 ), Plaut und Goering 68 ), Trinchese 78 ) u. a. 
eine nicht unglinstige Prognose. Letzterer konnte z. B. bei 9 positiv 
reagierenden Tabikern, die erst nach Erscheinen der ersten tabischen 
Symptome geheiratet hatten, nietoals Infektion der Frau feststellen. 
In samtlichen Fallen blieb Wassermannreaktion und klinischer Befund 
bei den Frauen vollstandig negativ. Die Kinder wurden lebend und 
gesund geboren. 


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Uber Paralytikerfamilien. 


177 


Der Fall, daft auch ein Paralytiker nach Ausbruch der Krankheit 
noch heiratet, iat praktisch wohl auszuschlieften. Dagegen kommt es 
in seltenen Fallen vor, daft in den Jahren unmittelbar nach Ausbruch 
der Paralyse noch Kinder geboren werden. Junius und Arndt fanden 
unter ihren fast 2000 lebenden Paralytikerkindem mu* 25, die entweder 
wahrend der schon bestehenden Paralyse oder hochstens ein Jahr vor 
ihrem Beginn geboren waren. Nahezu alle diese Kinder, die allerdings 
— und das ist wieder sehr wesenthch — das zweite Lebensjahr noch 
nicht uberschritten hatten, waren, soweit anamnestische Angaben und 
klinische Untersuchungen vorlagen, anscheinend gesund. Serologische 
Nachprufungen der Befunde haben freilich in keinem Fall stattgefunden. 
Ausdriicklich wird jedoch von den Autoren hinzugefiigt, daft neben 
den zahlreichen gesunden Kindern sich auch einige kranke fanden. 
Beispielsweise erwahnen sie einen Fall, wo ein beim Beginn der Paralyse 
geborenes Kind bei der Geburt einen Ausscblag hatte. Ein zweites 
Kind aus derselben Familie, das ein Jahr vor der Erkrankung des Vaters 
geboren wurde, konnte mit 2 Jahren noch nicht sprechen Und war 
bestandig unrein. Ich selbst verfiige, wie bereits an anderer Stelle er- 
wahnt (vgl. S. 164), unter meinem Material von 189 Paralytiker- 
deszendenten uber 8 Kinder, die hochstens ein Jahr vor dem klinischen 
Beginn der Paralyse und spatestens 4 Jahre nachher zur Welt gekommen 
waren. Alle 8 erwiesen sich als klinisch und serologisch gesund. Plaut 
und Goering berichten ebenfalls uber 8 Kinder, von denen 5 nach 
Erkrankung des Vaters, 3 langstens 1 Jahr vorher geboren wurden. 
Auch hier zeigte keines neurologische oder psychische Besonderheiten 
auffallender Art. Zwei werden als etwas erregbar, eins als ungemein 
jahzomig und widerspenstig geschildert. Korperlich waren sie alle 
recht gut entwickelt. Es darf allerdings nicht unbemerkt gelassen werden, 
daft das alteste von diesen 16 Kindern erst 6 Jahr alt war. Also bei 
keinem war die Moglichkeit des Auftretens einer kongenitalen Lues 
in einem spateren Stadium der Entwicklung auszuschlieften. Aufterdem 
ergab die serologische Untersuchung bei den Plaut - Goeringschen 
Kindern einen sehr wichtigen Befund: Drei dieser Kinder hatten namlich 
eine eindeutig positive Wassermannreaktion, ein viertes Kind eine 
zweifelhafte Reaktion. Die Autoren glauben nun, diese serologischen 
Befunde durch Infektion von der Mutter erklaren zu miissen. Denn 
es sei kaum damit zu rechnen, daft wahrend der Entwicklung der Para¬ 
lyse noch eine Infektion seitens des Vaters stattgefunden habe. Ich 
bin anderer Ansicht. Es besteht meiner Meinung nach von vornherein 
durchaus keine Veranlassung zur Annahme, daft die ein Jahrzehnt 
und langer zweifellos wirksame Infektiositat des Syphi- 
litikers in dem Augenbliok plotzlich verschwindet, wo die 
latente Form der Lues in ihre paralytische Manifestation 
Z. f. d. g. Near. u. Psych. O. XXXVII. 12 


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F. v. Rohden: 


iibergeht. Im Gegenteil, nach Noguchis umwalzenden Befunden, 
welche Tabiker und Paralytiker als Trager virulenter Spirochaten 
erkennen lieBen, wird man mit der Moglichkeit zu rechnen haben, 
daB die Spirochaten sich nicht nur im Gehirn, sondern 
auch im Blut dieser sogenannten Metasyphilitiker auf- 
halten, und daher auch auf die Angehorigen iibertragen 
werden konnen. 

Tatsachlich ist es der experimentellenForschung gelungen, den 
Beweis fiir die Ansteckungsfahigkeit des Paralytikerblutes zu erbringen. 
Als erster konnte Graves 16 ) im Jahre 1913 iiber die gelungene Infektion 
des Kaninchenhodens durch Blut je eines Falles von Taboparalyse 
und inzipienter Paralyse berichten. Es kam hier zur Ausbildung eines 
Primaraffekts mit nachfolgenden Sekundarsymptomen. Die Punktion 
des Hodens nach 48 bzw. 66 Tagen ergab massenhafte Spirochaten, 
die von Noguchi als Spirochaeta pallida erkannt wurden und auch 
bei Uberimpfung auf andere Kaninchen sich als hochvirulent erwiesen. 
Gleichzeitig mit Graves gelang auch Lavaditi 86 ) 87 ) der Spirochaten- 
nachweis im Blut eines Paralytikers, der seit 15 Jahren syphilitisch 
war. Das Blut wurde mehreren Kaninchen unter die Scrotalhaut einge- 
spritzt und erzeugte bei einem von ihnen Hautveranderungen, in denen 
zahlreiche Spirochaten gefunden wurden. Mit diesem Virus konnten 
ebenfalls weitere positive Uberimpf ungen erzielt werden. Uber die 
Infektiositat des Liquors cerebrospinalis bei Paralytikern machte 
Mattauschek 38 ) im Jahre 1914 in der Gesellschaft der Arzte in Wien 
eine kurze Mitteilung: Unter 4 Paralytikern ohne akute Erscheinungen 
waren 2, deren Liquor bei Kaninchen Syphilis hervorrief. Eine gleich- 
zeitige Blutimpfung blieb zunachst erfolglos. Mattauschek hatte 
schon auf Grund dieser Versuche den Eindruck, daB Tabiker und Para¬ 
lytiker bezuglich der Ubertragungsmoglichkeit ihrer syphilitischen Er- 
krankung auf Tiere sich nicht wesentlich von Syphilitikern entfemen. 
Kurze Zeit spater berichtete derselbe Autor 39 ) auch iiber gelungene 
Blutverimpfungen in einem relativ ziemlich hohen Prozentsatz von 
Tabes und Paralyse. Die antisyphilitische Behandlung setzte die Viru- 
lenz des Blutes und Liquors herab. Mattauschek schlieBt aus diesen 
Versuchen, daB die Deszendenz nicht nur bei frischer Lues der Eltem, 
sondern auch bei Tabes und Paralyse gefahrdet ist. SchlieBlich konnten 
auch Volk und Pappenheim 76 ) sowie Zaloziecki 80 ) iiber positive 
Impfergebnisse von Paralytikerliquor berichten. 

Angesichts dieser experimentellen Beweise eriibrigt es sich, auf jene 
Tatsachen naher einzugehen, die vor Noguchis Spirochatenent- 
deckung im Paralytikerhim die Hypothese von der Infektiositat des 
Paralytikerblutes stiitzen muBten. Ich meine einerseits die Ergebnisse 
der Serodiagnostik, aus denen eine Reihe von Forschern ohne weiteres 


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Ober P&r&lytikerfamilien. 


179 


den SchluB zogen, daB die Paralytiker Spirochatentrager sind (vgl. 
S. 112); andererseits jene bekannten vergeblich versuchten Syphilis- 
inokulationen bei 9 Paralytikem. Als Erklarung ftir den negativen 
Ausfall jener Versuche war in Analogic mit Neissers Erfahrungen 
am Affen der Gedanke jedenfalls sehr naheliegend, daB die Reinfektion 
nur deshalb nicht gelang, weil die Ptiralytiker noch Spirochatentrager, 
also aktive Syphilitiker sind. Auf Grund dieser Erfahrungstatsachen 
war Plaut 58 ) noch im Jahre 1913 in seinem Referat fiber die Lues- 
Paialyse-Frage zur Bejahung der Frage gelangt: Besteht noch Syphilis, 
wahrend die Paralyse sich abspielt ? 

Nachdem dann vollends der Nachweis virulenter Spirochaten 
sowohl im Gehim wie im Blut gelungen war, konnte die Theorie von 
der Paralyse als einer nicht infektiosen syphilitischen Nachkrank- 
heit (Metasyphilis) nicht mehr aufrechterhalten werden. Das gleiche 
gilt von der noch kfirzlich von Trinchese 73 ) vertretenen Anschauung, 
daB bei Paralyse und Tabes die Krankheitsprozesse sich ausschlieBlich 
in einem vollstandig abgeschlossenen Korperteil, dem Nervensystem, 
abspielen, und daB die tibrigen Gewebe und Organe bereits immunisiert 
und nicht mehr imstande seien, Krankheitserreger zubewirten. Beim 
heutigen Stand der experimentellen Forschung spricht 
alles dagegen, daB bezfiglich der Ansteckungsfahigkeit 
ein grundsatzlicher Unterschied bestehen sollte zwischen 
den latenten paralytischer Vorstadien und der manifesten 
Krankheit. Vielmehr mfissen wir jetzt annehmen, daB in beiden 
Zeitabschnitten — wenn auch nicht im gleichen MaBe — ftir die An- 
gehorigen Gefahr besteht, syphilitisch infiziert zu werden und zwar 
deshalb, weil Paralytiker und Tabiker auch nach Ausbruch 
ihrer Krankheit noch aktive Syphilitiker sind. 

Damit wtirde Ehrlichs Hypothese vom Wesen der Para¬ 
lyse eine experimentelle Sttitze erhalten haben. In seinen letzten bio- 
logischen Betrachtungen fiber das Wesen der Paralyse*) bekennt er 
sich zu der Auffassung, daB es sich bei dieser Krankheit nicht um die 
Folgeerscheinung einer syphilitischen Infektion, sondem um einen 
aktiven InfektionsprozeB handelt. Paralyse und Tabes sind 
also keine Metasyphilis im Sinne von Nachkrankheiten, die direkt 
nichts mehr mit Spirochaten zu tun haben, sondem Manifestationen 
aktiver Spatsyphilis [Erb 7 ) 8 )], Spirillosen des Hirns und 
Rfickenmarks [Nonne 61 )]. Theoretisch und experimentell 
unterscheidet sich also der Paralytiker in der Ubertragungs- 
moglichkeit der Lues nicht wesentlich vom Syphilitiker. 
Der klinische Beweis steht allerdings noch aus, daB die Paralytiker- 
spirochate, ebenso wie die des noch nicht paralytischen latenten Luikers 
auch unter den natfirlichen Bedingungen des Coitus, sei es nun auf dem 

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F. v. Rohden: 


Blutwege oder mit dem Sperma [Nonne 60 )] in den anderen Ehegatten 
und den Foetus gelangt. Denn bei den vier von Plaut und Goering 
erwahnten positiv reagierenden Kindem, die nach Ausbruch der Para¬ 
lyse geboren wurden, liegen die Verhaitnisse doch nicht klar genug, 
um diese Befunde unbedingt als klinisch beweiskraftig ansprechen zu 
konnen. Indessen wird eine systematisch fortgesetzte Familienforschung 
zweifellos auch hier zum Ziel gelangen, nachdem erst einmal die Schwierig- 
keiten erkannt sind, die dem klinischen Nachweis der Infektiositat 
von Paralyse und Tabes im Wege stehen. Mehr Aussicht auf Erfolg 
als Nachforschungen in Paralytikerfamilien verspricht hier allerdings 
die Untersuchung der Angehorigen von Tabikem, weil bei letzteren 
die Gelegenheit, nach Ausbruch der Krankheit noch Kinder zu zeugen, 
doch nicht in dem MaBe erschwert ist, wie bei Paralytikem, zumal 
sogar eine Steigerung der Geschlechtserregbarkeit voriibergehend als 
Krankheitssymptom bei Tabes auftreten kann. 

Auch nach anderer Richtung stehen der Familienuntersuchung noch 
weite Forschungsgebiete offen. Ich denke z. B. an die Klarung der 
Biologie des Paralysevirus. DaB die Spirochaten eine quan¬ 
titative Anderung ihrer pathologischen Eigenschaften im Laufe der 
Jahre erfahren, glaube ich an den Befunden bei den Paralytikerkindem 
nachgewiesen zu haben. Ich erinnere nur an die Beobachtung, daB 
der postsyphilitischen Periode 73% pathologische Kinder entstammen, 
dem praparalytischen Zeitraum dagegennur 39% (vgl. S. 171). Dieses 
Zahlenverhaltnis steht im auffallenden Gegensatz zu der klinischen 
Erfahrungstatsache, daB die Mehrzahl der Paralytiker im allgemeinen 
sehr leichte Primar- und Sekundarerscheinungen durchmachen. Dieser 
Gegensatz laBt sich vielleicht folgendermaBen formulieren: 

Die Friihstadien der Lues, die zur Paralyse ftihrt, sind 
charakterisiert durch relative Ungefahrlichkeit fur den 
Trager und erhohte Infektiositat fiir die Angehorigen. 

Die Spatstadien sind charakterisiert durch relative Un¬ 
gefahrlichkeit fiir die Angehorigen und erhohte Gefahrlich- 
keit fiir den Trager. 

Es kann natiirlich von vomherein nicht ausgeschlossen werden, 
daB unter Umstanden die Virulenz der Spirochaten im Lauf der Jahre 
schlieBlich so weit sinkt, daB nach Ausbruch der Krankheit trotz des 
Ubergangs der Erreger auf Frauen und Kinder eine Infektion nicht 
mehr zustande kommt. Mit einer Virulenzabnahme, vielleicht 
sogar mit einer voriibergehenden Sterilitat des Paralytiker- 
bl utes wird man auch schon angesichts der klinischen Tatsache lang- 
dauemder Remissionen bei der Paralyse zu rechnen haben. Werden 
doch von Ehrlich®) die krankheitsfreien Stadien als Folge einer tem- 
poraren spirilliciden Serumwirkung aufgefaBt und dementsprechend 


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Uber Paralytikerfamilien. 


181 


als spirilloly tische Intervalle bezeichnet. In solchen Zeiten wird 
man natftrlich wenig oder gar keine Aussicht haben, Spirochaten im 
Blut aufzufinden, und die Vorstellung ist naheliegend, daB die in der 
Remissionszeit gezeugten Kinder sich moglicherweise als weniger ge- 
schadigt herausstellen als die Produkte der floriden Stadien. 

Ob indessen die Spirochaten im Verlauf des paralytischen Inku- 
bationsintervalls auch qualitative Veranderungen erfahren und wie 
Erb 7 ) 8 ), Levaditi 36 ), Forster 11 ) u. a. annehmen mochten, neuro- 
trope Eigenschaften erhalten, steht noch dahin. Wenn dies wirklich 
der Fall ware, dann muBte auch bei den Angehorigen der Wechsel 
in den pathologischen Eigenschaften des Virus bis zu einem gewissen 
Grade nachzuweisen sein. Unter der Voraussetzung, daB die Spiro¬ 
chaten in den praparalytischen Jahren allmahlich eine groBere Affi- 
nitat zur nervosen Substanz erwerben, ware die Annahme jeden- 
falls nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, daB die zeithch 
spater erfolgenden Schadigungen bei den Angehorigen den neurotropen 
Charakter der Spirochaten wirklich erkennen lassen. Mit anderen 
Worten: Bei Ehegatten und Kindern, deren Infektion in die spaten 
Latenzperioden fallt, muBten nervose Storungen relativ haufiger an- 
zutreffen seien, als bei Angehorigen aus den primaren Stadien der In¬ 
fektion. Meine eigenen Befunde sprechen nicht gerade fur diesen Sach- 
verhalt. Ich konnte feststellen, daB von den pathologischen Kindern 
des postsyphilitischen Zeitabschnitts 43% nervose Storungen auf- 
weisen, von denen der praparalytischen Periode dagegen nur 33% (vgl. 
S. 170). Indessen sind die Zahlen der untersuchten Kinder — es handelt 
sich hier im ganzen nur um 26 — viel zu unbedeutend, als daB aus 
ihnen irgendwelche bindenden Schliisse bezuglich der Qualitatsanderung 
der Spirochaten wahrend ihres Aufenthaltes im menschlichen Organismus 
gezogen werden diirften. 

Die Vertreter der Neurotropietheorie nehmen also an, daB 
das Paralyse virus erst im Organismus die Eigenschaften erlangt, 
die es zu den spezifischen Gehimprozessen befahigt. Demgegeniiber 
wird von einer ganzen Reihe anderer Autoren — ich erwahne als Haupt- 
vertreter nur Fischer 9 ) und Nonne 50 ) 81 ) — zur Erklarung fiir die 
spezifische Lokalisation der Spirochaten im Gehirn an der Anschauung 
festgehalten, daB der Paralytiker von vor nherein mit einer besonderen 
Spirochatenabart, dem Virus nervosus, infiziert wird. Auch zur 
Losung der Frage, ob es tatsachlich eine Lues nervosa gibt, kann 
vielleicht die Familienforschung beitragen. Erst wenn gezeigt werden 
konnte, daB die Kinder der Paralytiker und Tabiker unzweideutig 
haufiger an organischen Nervenleiden erkranken als die Kinder von 
Syphilitikern, deren Nervensystem frei bleibt von pathologischen Ver¬ 
anderungen, erst dann ware die Existenz einer Lues nervosa erwiesen. 


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182 


F. v. Rohden: 


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Die sparlichen in der Literafcur mitgeteilten Krankengeschichten der- 
artiger Luikerfamilien gestatten noch keine vergleichenden Schlusse. 
tJbrigens ist die Zahl der Paralytikerangehorigen, bei denen von einer 
Schadigung des Nervensystems nicht die Rede sein kann, auffallend 
groB. Unter unseren 348 Ehegatten und Kindem blieb bei 238 = 68% 
die Syphilis des Paralytikers fiir das Nervensystem der Angehorigen 
absolut unschadlich. Demnach laBt sich nur bei 32% samt- 
licher Angehorigen eine Beziehung des Paralysevirus zum 
Nervensystem konstatieren. Interessant an diesen Zahlen ist 
auBerdem, daB die Kinder offenbar sehr viel seltener an nervosen Sto- 
mngen erkranken, als die Ehegatten, jene namlich nur in 19%, diese 
in 50% der Falle. Alles Tatsachen, die schwer mit der Theorie von einer 
Syphilis a virus nerveux in Einklang zu bringen sind. AuBerdem miiBte 
bei Vorliegen einer Lues nervosa experimentell nachgewiesen werden 
konnen, daB die Spirochate des Paralytikerhirns auch bei Tieren 
Liisionen hervorruft, die ausschlieBlich im Zentralnervensystem lokali- 
siert sind. Dies ist bisher noch nicht gelungen. Weygandt und 
Jakob 78 ) lehnen denn auch auf Grund ihrer Tierexperimente, die aller- 
dings nicht mit Paralysespirochaten angestellt wurden, die Existenz 
eines Virus nervosus ab. 

Man sieht, die serologische Famiiienforschung hat sich auf dem 
Gebiet der Paralyse als brauchbare Arbeitsmethode erwiesen. Nach- 
dcm erst die Grundlagen fiir die Pathologie der Paralytikerfamilie ge- 
schaffen sind, erheben sich uberall neue Fragen, und alte, scheinbar 
geloste Probleme tauchen von neuem auf. Neben den kurz angedeuteten 
theoretischen und experimentellen Fragestellungen harren auch solche 
praktischer Natur noch der Losung. Beispielsweise gab zu den vor- 
stehenden Untersuchungen eine Frage Veranlassung, die von den Frauen 
der Paralytiker fast regelmaBig dem Arzt vorgelegt wird: „Kann die 
Krankheit meines Mannes meinen Kindern und mir schaden?“ Wir 
haben gefunden, daB der schadigende EinfluB der Syphilis nur bei 
23 von 100 Paralytikerfamilien auf den paralytischen Ehegatten be- 
schrankt bleibt. Von 100 Frauen zeigten 72 klinische und serologische 
Veranderungen. Jede dritte Frau hatte ein syphilogenes Nervenleiden 
und mehr als jede zweite Frau eine positive Wassermannreaktion im 
Blut. Von den aus diesen Ehen hervorgehenden Friichten war zur 
Zeit der Untersuchung nur die Halfte noch am Leben, und bei den 
Oberlebenden hatte in weiteren 60% der Falle die Syphilis der Eltern 
mehr oder weniger schwere Folgen gehabt. 

Was ist angesichts dieser so uberaus traurigen Krankheits- und 
Sterblichkeitsverhaltnisse zu tun? Die Natur hilft sich in der Weise, 
daB sie die Paralytikerfamilie in der ersten oder zweiten Generation 


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t'ber P&ralytikerfomiiien. 


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aussterben laBt. Es ist in der Tat vom bevolkerungspolitischen und 
rassenhygienischen Standpunkt aus unstatthaft, diejenigen Syphilitiker, 
die spater an Paralyse erkranken, zur Fortpflanzung gelangen zu lassen. 
Wir miiBten ihnen vielmehr unter alien Umstanden die Eheerlaubnis 
so lange verweigern, als wir noch nicht iinstande sind, durch unsere 
therapeutischen MaBnahmen die Entw'icklung der Paralyse bereits im 
Keime zu ersticken. Davon sind wir aber trotz aller Fortschritte 
in der Luestherapie noch ebensoweit entfernt wie von der Moglichkeit, 
unter 100 Syphilitikem die 4—7 herauszufinden, deren Fruhformen der 
Lues in die spatsyphilitische Manifestation der Paralyse iibergehen. 
Wir haben natiirlich kein Recht, jenen bei weitem zahlreicheren Syphi¬ 
litikem, die nicht einer Paralyse und — wie gleich hinzugefiigt werden 
mag — einer Tabes zum Opfer fallen, die Ehe zu verweigern, voraus- 
gesetzt, daB sie sich wiederholten energischen Quecksilber-Salvarsan- 
kuren unterzogen haben, daB sie in den letzten 1 —2 Jahren von Er- 
seheinungen freigeblieben sind, und daB 3—5 Jahre seit der Infektion 
verflossen sind [E. Hoffmann 25 )]. Geniigcn die Syphilitiker diesen 
Anfortlerungen, dann wird auch eine positive Wassermannreaktion 
kein absolutes Ehehindernis bilden. 

Anders dagegen liegen die Verhaltnissc bei den paralytischen 
Luikem. Ihnen gegeniiber wird man angesichts der erhohten Infektions- 
gefahr in Paralytikerfamilien mit der obigen, aus arztlicher Erfahrung 
gewonnenen Eheregel nicht auskommen. Zunachst miissen wir indessen, 
wie gesagt, iiberhaupt erst in der Lage sein, diese fiir ihre Angehorigen 
auBerst gefahrlichen Syphilitiker aus der groBen Zahl der relativ harm- 
loseren herauszufinden. Erweist sich die Annahme als richtig, daB im 
allgemeinen die Syphilitiker den Keim der Paralyse in sich tragen, 
die verhaltnismaBig leichte Primar- und Sekundarerscheinungen durch- 
machen, und deren Blut auBerst widerstandsfahig gegen sterilisierende 
Behandlung ist, dann waren wir vielleicht einen Schritt weiter ge- 
kommen auf dem Wege zur rechtzeitigen Erkennung der spateren 
Paralytiker. Ein weiteres Ziel ware dann die Ausarbeitung einer die 
Entwicklung der Paralyse mit Sicherheit verhindernden Behandlungs- 
methode. 

Solange diese beiden Ziele noch nicht erreicht sind, miissen wir 
mit dem hohen Prozentsatz infizierter Frauen und Kinder nun einmal 
rechnen, und es bleibt uns nichts anderes iibrig — wofern wir uns nicht 
einem therapeutischen Nihilismus hingeben wollen — als wenigstens 
den Versuch zu machen, die bestehenden Schaden zu beseitigen und 
die Entwicklung neuer zu verhindern. Die Art der Behandlung wird 
abhangig scin von der jeweiligen Einschatzung der Wassermannreaktion. 
Stellt man sich auf den Standpunkt der Serologen, die im positiven 
serologischen Befund ein Zeichen fiir das Vorhandensein virulenter 


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F. v. Rohden: 


Spirochaten im Blute sehen, dann wird man in alien Fallen, wo eine 
positive Wassermannreaktion vorliegt, einerlei ob sie mit klinischen 
Erscheinungen kombiniert ist oder nicht, eine energische antisyphi- 
litische Behandlung einzuleiten haben, um die in einem Teil der Falle 
mit Sicherheit drohende Entwicklung syphilogener Nervenleiden nach 
Moglichkeit zu verhindem. Wenn man indessen sieht, welche geradezu 
verheerenden Schaden die Syphilis in Paralytikerfamilien anrichtet, 
und wenn dazu noch die Erfahrung gemacht wird, daB sich der Be¬ 
handlung gerade der familiaren Syphilis fast unuberwindliche Schwierig- 
keiten entgegenstellen, dann wird man sich nicht der Illusion hingeben, 
irgend etwas Nennenswertes erreicht zu haben, wenn hier und da bei 
einer Frau oder einem Kind eines Paralytikers im Lauf der Behandlung 
die Wassermannreaktion schlieBlich auch einmal negativ wird. Die 
groBe Mehrzahl der geschadigten Angehorigen erfolgversprechend zu 
behandeln, erweist sich in der Praxis bisher leider als undurchfuhrbar. 
Wenn man also auch in einigen wenigen gunstigen Fallen vielleicht 
etwas mehr als nur einen Scheinerfolg erzielt, so scheitert doch jede 
umfassendere Behandlung entweder an der Einsichtslosigkeit der Kran- 
ken oder aber am Fehlen der hierzu erforderlichen unbeschrankten 
Geldmittel! 

Auf diesem Wege gelangen wir also offenbar nicht zum Ziel. Wollen 
wir das traurige Schicksal der Paralytikerfamilien von Grand auf andem, 
so miissen wir Prophylaxe treiben, d. h. in unserem Fall: Die Syphi- 
litiker, die spater einer Paralyse zum Opfer fallen, rechtzeitig genug 
erkennen, um sie entweder an der EheschlieBung und Kinderzeugung 
zu hindem, oder aber sie so zu behandeln, daB die Gesetze der syphi- 
litischen Vererbung nicht notwendig auch an ihren Kindem und 
Kindeskindern sich grausam auszuwirken brauchen. 

Diese alten Forderangen von neuem zu stellen und die Notwendigkeit 
ihrer Erfiillung an dem Schicksal der Paralytikerfamilien zu begriinden. 
war der Zweck dieser Arbeit. 

Zasammenfassong. 

1. In Paralytikerfamilien wurden Ehegatten und Kinder der para- 
lytischen Kranken auf Syphilis und damit zusammenhangende Sto- 
rungen untersucht. Es zeigte sich, daB in 54 von 70 Familien, also in 
77% der Falle, mindestens einer der Angehorigen serologische oder 
klinische Veranderangen darbot, fiir die in den allermeisten Fallen 
die Syphilis des paralvtischen Ehegatten verantwortlich zu machen 
war. Also nur bei 23% der Familien blieb der schadigende EinfluB 
der Syphilis auf den primar infizierten Ehegatten beschrankt. Diese 
Zahlen entsprechen genau dem von Raven fiir Syphilitikerfamilien 
berechneten Prozentsatz. 


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t)ber Paralytikerfamilien. 


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2. In den 70 Familien gelangten 62 Paralytikerehegatten zur Unter- 
suchung. Davon waren 70% pathologisch und 30% normal. Rechnet 
man hinzu die 78 Ehegatten, die in weiteren 86 Paralytikerfamilien 
von Hauptmann, Raven und Schacherl untersucht wurden, so 
erhoht sich der Prozentsatz der pathologischen Ehegatten auf 72%. 
Von diesen 140 Paralytikerehegatten hatte ein Drittel syphilogene 
Nervenleiden, weitere 15% zeigten Pupillen- und andere Reflexstorungen 
mit negativem serologischen Befund und 23% eine positive Wassermann- 
reaktion bei normalen klinischen Symptomen. Im ganzen war bei mehr 
als der Halfte (54%) die Wassermannreaktion positiv. Nur 28% blieben 
gesund (Tabelle I, S. 149). Auch diese Zahl stimmt gut uberein mit 
Ravens Beobachtungen in Syphilitikerfamilien. 

3. Die quantitativen Geburtsverhaltnisse in Paralytikerfamilien 
sind schlecht (Tabelle II, S. 155). Ein Viertel der Graviditaten sind 
Fehl- und Totgeburten, ein weiteres knappes Viertel stirbt im Lauf 
der ersten Jahre, so dafi nur 52% zur Zeit der Untersuchungen noch 
leben — bei Raven 52,3%, bei Junius und Arndt 46—49%, bei 
Mendel und Tobias 48%. Demgegeniiber haben tuberkulose Ehen 
60%, gesunde Ehen 70% lebende Kinder. 

4. Die durchschnittliche Kinderzahl einer paralytischen Ehe betragt 
1,7. Die Fruchtbarkeit bleibt somit fast um die Halfte hinter der Norm 
zuruck. Die Paralytikerfamilien zeigen die Tendenz zum Aussterben, 
da sie weniger Nachkommen haben, als die Zahl der Eltem betragt. 

5. Die uberlebenden Kinder sind ungefahr zu gleichen Teilen normal 
und pathologisch, und zwar haben von 208 untersuchten Kindern iiber 
19% organische Erkrankungen des Zentralnervensystems, iiber 29% 
somatische oder psychische Degenerationsstigmata, iiber 6% eine 
positive Wassermannreaktion bei negativem klinischen Befujid. Bei 
etwa einem Viertel samtlicher Kinder ist die 'Wassermannreaktion 
positiv (Tabelle III, S. 166). 

6. Die Gesundheitsverhaltnisse der Paralytikerkinder sind also 
nicht ganz so schlecht wie die der Paralytikerehegatten. 

7. Die gefundenen Zahlen fiir die Haufigkeit der Erkrankungen bei 
Paralytikerangehorigen konnen nur als untere Grenze der tatsachlich 
schon vorhandenen oder spater noch zur Entwicklung gelangenden Sto- 
rungen angesehen werden. Hieraus ergibt sich als Forderung fur die 
Erforschung der Gesundheitsverhaltnisse von Paralytikerehegatten und 
Kindern eine jahrelang fortgesetzte Beobachtung. Je langer sie unter 
arztlicher Kontrolle bleiben, um so mehr wird die Zahl der wirklich 
gesunden Kinder und Ehegatten zusammenschrumpfen. 

8. Die Paralyse an sich kommt als ursachlicher Faktor fur die Schadi- 
gungen bei den Angehorigen nicht in Betracht. Der Paralytiker ist 
ftkr seine Angehorigen nur insoweit gefahrlich, als er noch Syphilitiker ist. 


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F. v. Rohden: 


9. Es laBt sich eiue auffallende Ubereinstimmung in der quanti- 
tativen und qualitativen Beschaffenheit der Paralytiker- und Tabiker- 
deszendenz feststellen (Tabelle IV, S. 167). Dies spricht ebenfalls da- 
fiir, daB nicht Paralyse und Tabes als solche die schlechten Geburts- 
und Gesundheitsverhaltnisse bedingen, sondem ihre gemeinsame Ur- 
sache, die Syphilis. 

10. Die Naeckesche Theorie, die eine originare Disposition als 
atiologisches Moment fiir die Entstehung der krankhaften Veranderungen 
bei der Paralytikerdeszendenz voraussetzt, wird durch die Tatsache 
widerlegt, daB unsere 15 vor der syphilitischen Infektion des paraly- 
tischen Elters geborenen Kinder samtlich gesund sind. 

11. Die Paralytikerkinder sind um so mehr gefahrdet, je naher dem 
Zeitpunkt der syphilitischen Infektion sie geboren sind. Die Gesund¬ 
heitsverhaltnisse bessem sich, je mehr der Zeugungstermin dem Ausbruch 
der Paralyse sich nahert. Die relativ giinstigsten klinischen und sero- 
logischen Befunde liefem die unmittelbar vor und nach Beginn der 
Paralyse geborenen Kinder. In Zahlen ausgedruckt: Von den Kindem 
der postinfektiosen Periode sind etwa 3 / 4 pathologisch und 1 / i norma], 
von denen der praparalytischen Periode dagegen etwa 2 / 6 pathologisch 
und s / 8 normal (Tabelle S. 170). 

12. Die Fruhstadien der Lues, die zur Paralyse fiihrt, sind charak- 
terisiert durch relative Ungefahrlichkeit fiir den Trager und erhohte 
Infektiositat fiir die Angehorigen. Die Spatstadien sind charakterisiert 
durch relative Ungefahrlichkeit fiir die Angehorigen und gesteigerte 
Gefahrlichkeit fiir den Trager. 

13. Die von einer Paralyse bedrohten Syphilitiker verlieren wahrend 
der ganzen Dauer des paralytischen Inkubationsintervalls nicht ihre 
Infektiositat. Auch in den Jahren, die dem Infektionstermin sehr fern 
und dem Ausbruch der Paralyse entsprechend nahe liegen, sind sie 
Trager virulenter Spirochaten, die beim Ubergang auf die Angehorigen 
spezifisch syphilitische Erscheinungen, u. a. verhaltnismaBig haufig 
eine positive Wassermannreaktion hervorzurufen vermogen. 

14. Uber ein Drittel samtlicher sicher syphilitischen Kinder stammt 
aus einer Zeit, wo die Infektion des paralytischen Elters langer als 8 Jahre 
zuriickliegt. 

15. In der Nahe des 13. Jahres nach dem Primaraffekt scheint eine 
gewisse Grenze zu hegen, iiber die hinaus die Infektiositat des latenten 
Syphilitikers, einerlei ob er paralytisch wird oder nicht, nur ausnahms- 
weise in Erscheinung tritt. Es besteht jedoch von vornherein keine 
Veranlassung zur Annahme, daB die ein Jahrzehnt und langer zweifellos 
wirksame Infektiositat in dem Augenblicke plotzlich verschwindet, wo 
die latente Form der Lues in ihre paralytische Manifestation iibergeht. 

16. Es ist sehr wahrscheinlich, daB die ,,paralytischen" Syphilitiker 


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Cber Paralytikerfamilien. 


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vom Zeitpunkt der Spirochateninvasion iiber die spaten Latenzperioden 
hinaus bis zum Beginn der Paralyse dieselben serologische Befunde 
— fast 100% positive Wassermannreaktion — zeigen wie nach Aus- 
bruch der Krankheit. 

17. Die Theorie von der Paralyse als einer nicht infektiosen syphi- 
litischen Nachkrankheit (Metasyphilis) kann nicht mehr aufrechter- 
halten werden, nachdem der experimentelle Nachweis virulenter Spiro- 
chaten sowohl im Gehim als auch im Blut der Paralytiker gelungen 
ist. Dagegen gewinnt Ehrlichs Hypothese vom Wesen der Paralyse 
als einem aktiven InfektionsprozeB immer mehr an Wahrscheinlichkeit. 

18. Bei dem heutigen Stand der theoretischen und experimentellen 
Paralyseforschung spricht alles dagegen, daB bezuglich der Infektiositat 
ein grundsatzlicher Unterschied vorliegen sollte zwischen den latenten 
syphilitischen Vorstadien der Paralyse und der manifesten paralytischen 
Krankheit. Ich mochte vielmehr annehmen, daB in beiden Zeitab- 
schnitten fur die Angehorigen — wenn auch nicht im gleichen MaBe — 
die Gefahr besteht, syphihtisch infiziert zu werden, und zwar deshalb, 
weil die Paralytiker auch nach Ausbruch ihrer Krankheit noch aktive 
Svphilitiker sind. Der klinische Beweis steht allerdings noch aus, 
daB die Paralytikerspirochate ebenso wie die des noch nicht para¬ 
lytischen Luikers auch unter natiirlichen Bedingungen auf die Ange¬ 
horigen ubertragen wird. 

19. Klinische Erfahrungen sprechen dafiir (vgl. Nr. 11), daB im 
Organismus des der Paralyse verfallenden Syphilitikers im Laufe der 
Jahre eine quantitative Anderung der biologischen Spirochaten- 
eigenschaften erfolgt im Sinne einer Virulenzabnahme, die unter Um- 
standen bis zur voriibergehenden Sterilitat des Paralytikerblutes fiihren 
kann. 

20. Dagegen lassen meine Befunde an den Paralytikerangehdrigen 
eine Qualitatsanderung der Spirochaten im Sinne einer gesteigerten 
Affinitat zur nervosen Substanz (neurotrope Eigenschaften) nicht er- 
kennen. 

21. Die serologische Familienforschung kann zur Losung der Frage 
beitragen, ob es tatsachlich eine Lues nervosa gibt. Meine bisherigen 
Ergebnisse lassen sich schwer mit der Existenz eines Virus nervosus 
in Einklang bringen. Sie ware erst erwiesen,*wenn gezeigt werden konnte, 
daB die Kinder der Paralytiker und Tabiker unzweideutig haufiger an 
organischen Nervenleiden erkranken als die Kinder der Syphilitiker, 
deren Nervensystem nicht von der Lues befallen wird. 

22. Angesichts der geradezu verheerenden Wirkungen der Syphilis 
in Paralytikerfamilien wird es unsere Aufgabe sein, die fiir ihre An¬ 
gehorigen so gefahrlichen, der Paralyse anheimfallenden Syphilitiker 
rechtzeitig als solche zu erkennen, und solange eine mit Sicherheit die 


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F. v. Rohden: 


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Entwicklung der Paralyse verhindemde Behandlungsmethode noch 
nicht gefunden ist, ihnen Eheschliefiung und Kinderzeugung zu ver- 
bieten. 


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Ref. 22. 

54. Obersteiner, Die progr. allg. Paralyse. Wien und Leipzig 1908. 

55. Plaut, Die Wassermannsche Serodiagnostik der Syphilis in ihrer Anwendung 

auf die Psychiatrie. Jena 1909. 

56. — Die Lues-Paralyse - Frage. Zeitschr. f. Psych. € 6 , 340. 1909. 

57. — Die Bedeutung der WaR. fur die Psych. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 

1911. 

58. Plaut und Goring, Untersuchungen an Kindern und Ehegatten von Para¬ 

lytikem. Munch, med. Wochenschr. 1911, Nr. 37. 


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F. v. Rohden: (Jber Paralytikerfamilien. 


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59. Prinzing, Handbuch der med. Statistik. Jena 1906. 

60. Raven, Klin, nnd serol. Untersuchungen an den Familien von 117 syphi- 

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61. Re ye, Untersuchungen iiber die Bedeutung der Scapula scaphoidea (Graves). 

Zeitschr. f. d. Erforsch. u. Behandlung d. jugendl. Schwachsinns, Bd. V. 

62. Sandberg, La descendance des tab^tiques. Thfcse de Paris 1903. 

63. Schacherl, Uber Luetikerfamilien. Jahrb. f. Psych. 36, 1914. 

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Wochenschr. 1909, Nr. 32. 

65. Schmidt, Uber die Bewertung der WaR. usw. Berl. klin. Wochenschr. 1916, 

Nr. 22. 

66. — Erwiderung usw. Berl. klin. Wochenschr. 1916, Nr. 36. 

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Bladen 1900, Nr. 1. 

68. Semper, Les enfants des paralytiques g6n6raux. Thdse. Paris 1904. 

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reaktion. Zeitschr. f. Immunit&tsforsch. 1. S. 422. • 

70. — Bewertung unsicherer und paradoxer Reaktionen bei Syphilis. Zeitschr. f. 

Immunitatsforsch. 5, S. 209. 

71. — Zur Theorie und Praxis der WaR. Zeitschr. f. Immunit&tsforsch. 22. 1914. 

72. Suntheim, Uber konjugale Tabes und Paralyse. Dies. Leipzig 1909. 

73. Tri n chese, Die positive WaR als Zeichen der Infektiosit&t der Lues. Deutsche 

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74. Uhlenhuth und Mulzer, t)ber experimentelle Syphilisforschung. Allg. Zeit¬ 

schr. f. Psych. 71, 734. 1914. 

75. Volk und Pappenheim, Infektiosit&t des Liquors cerebrosp. bei progr. 

Paralyse. Wiener klin. Wochenschr. 1913, Nr. 26, S. 1824. 

76. Wahl, Contribution k l’6tude de la descendance des paralytiques g6n6raux. 

Thdse, Paris 1898. 

77. Wassermann, Zur Frage der Zuverl&ssigkeit der WaR. Berl. klin. Wochen¬ 

schr. 1917, Nr. 5. 

78. Weygandt und Jakob, Warum werden Syphilitiker nervenkrank? Dermatol. 

Zeitschr. 58. 1914. 

79. Wollenberg, im Lehrbuch der Psychiatric. Herausg. von Binswanger und 

Siemerling. 3. Aufl. Jena 1911. 

80. Zaloziecki, Intratestikul&re Impfung mit Liq. cerebrospin. einer progress. 

Paralyse usw. Munch, med. Wochenschr. 1914, S. 495. 


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(Aus dem Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Eppendorf.) 

l*ber erfolgreiche Suggestivbehandlimg der hysteriformen 
Storungen bei Kriegsneurosen. 1 ) 

Von 

Prof. Dr. M. Nonne, 

Oberarzt der IL mediziuUchen Abteilung. 

(Eingegangen am 17. Juli 1917.) 

Meine Herren! Es ist jetzt zeitgemaB, iiber giinstige Erfolge der 
Therapie der Kriegsneurosen oder, allgemeiner gesagt, der Neurosen 
bei Soldaten zu bench ten. Das Gedachtnis fiir Vergangenes, wenn es 
nicht mehr gilt, ist bekanntlich kurz, und besonders im Kriege versinkt 
gar leicht das was durch neue Geschehnisse iiberholt ist, in Vergessen- 
heit. Ich glaube aber, daB wir alle uns doch daran erinnem, wie die 
meisten von uns fiber die Prognose der genannten Neurosen noch im 
letzten Sommer dachten, wie die Debatte dariiber gefiihrt wurde, ob 
die Behandlung dicht hinter der Front, in der Etappe, in der Heimat 
die Prognose bessere. Die einen sagten: die Begehnmgsvorstellungen 
weichen mit der Entfemung vcn der Front, die anderen sahen gerade 
in dem Heimatsgebiet das Nahrland von Begehrungsvorstellungen; 
die einen sagten: in der Front und dicht hinter der Front kommt es 
nicht zur Heilung, weil die Angst dort unterhalten v. ird, demgegenfiber 
die anderen: in der Front zwingt zu schneller Heilung der dort herr- 
schende schneidige Geist mit der Atmosphare emster unbedingter 
Pflichterfiillung, der in der Heimat leichter der Verweichlichung an- 
heimfallt, wo die groBe emste Zeit nicht immer den richtigen Ausdruck 
findet. Es wurde weiter verhandelt iiber die Erfolge der Arbeitssana- 
torien, femer daruber, ob die Behandlung mit Isolierung, mit Bettruhe, 
mit der ganzen iiblichen physikalischen Sanatoriumstherapie Erfolg 
hatte und unter weichen Umstanden. Ich erinnere daran, daB Herr 
Rosenfeld eine ganze Reihe von Fallen hartnackiger Monoplegia 
superior hier vorstellte, von denen keiner geheilt war, ich erinnere an 
die Frage betreffend die Zitterer und Schiitteler imd daB die Gefahr 
bestehe, daB sie sich zu einer offentlichen Crux auswachsen wurden. 

*) Vortrag auf der Jahresvereammlung 1917 der sudwestdeutschen Neurologen 
in Baden-Baden, 2. Juni 1917. 

Z. (. d. g. Keur. a. Psych. O. XXXVII. ]3 


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M. Nonne: t)ber erfolgreiche Suggestivbehandlung 


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Besonders hartnackig schienen auch die Falle von Dysbasie, Symptom- 
bilder, die oft geradezu abenteuerlichen (man sprach von Faxensyndro- 
men) Charakter trugen. Gaupp erklarte 1915 ganz offen, vor der 
Hysterie die Waffen zu strecken. Ich selbst traf auf meinen mehr- 
fachen Reisen durch die Lazarette Schleswig-Holsteins diese Falle unge- 
heilt und muBte selbst aus Eppendorf 1914 und noch 1915 nicht wenig 
Falle in dem alten Zustande entlassen. Wenn man immer wieder von 
neuem sah, wie diese Falle von einem Lazarett ins andere abgeschoben 
wurden, fiel einem das Wort des Weltweisen Wilhelm Busch ein: „Ist 
mir aber was nicht lieb, weg damit, ist mein Prinzip.“ Ich darf ferner 
daran erinnern, daB es 1915 noch fiir unerlaubt gait (siehe Diskussion 
zu meinem Vortrag in Hamburg), die Diagnose bei Soldaten auf Hysterie 
zu stellen. 

Ich glaube sagen zu diirfen, daB in dieser Auffassung sowohl 
der Diagnose (siehe Raimann u. a.) wie der Prognose der Kriegs- 
neurosen die Miinchener Tagung der Gesellschaft deutscher Nervenarzte 
im September 1916 Wandel geschaffen hat. Wie fest aber auch heute 
noch der Gedanke bei manchem Forscher verankert ist, daB die schwe- 
ren Krankheitsbilder, die durch mit mechanischen Insulten verbundene 
psychische Traumen ausgelost sind, in irgendeiner Weise ,,organisch“ 
erklart werden miissen, haben erst vor kurzem Aufsatze eines so 
erfahrenen und kritischen Forschers wie v. Sarbo 1 ) gezeigt, ferner der 
Aufsatz von Schanz 2 ). Dem ersteren mit seiner Auffassung, daB die 
Taubheit und Taubstummheit eine Folge von mechanischer Schadigung 
der Medulla oblongata sei und daB das Bild der pseudospastischen Pa- 
rese mit Tremor durch eine ,,Kalteneuritis“ zustande kommen konne, 
ist Hans Curschmann 8 ) entgegengetreten, und die Auffassung des 
zweiten, daB die Zitterer ihr Leiden tiner ,,Insufficientia vertebrae 14 
zu verdanken hatten, hat durch eine Entgegnung Lewandowskys 
sowie kurzlich von Wilmanns in Baden-Baden (21. Juli 1917) eine 
dringend notige Richtigstellung gefunden. Ich will aber hier keineswegs 
eingehen auf die ja schon genugsam behandelte Frage ,,psychogen oder 
organogen“; ich will hier nur verweis*'n auf die Auseinandersetzung 
vonMorchen tiber „somato-funktionell“, d.h. korperlich bedingt, aber 
seelisch beeinfluBbar und „psycho-funktionell“; ferner sei verwiesen 
auf die interessante Studie Wagner von Jaureggs (Erfahrungen 
liber Kriegsneurosen. Wien 1917, Verlag Moritz Perles). Diese Ausein- 
andersetzungen bauen eine Brucke zwischen den zwei Lagem. Im iibri- 
gen ware es dringend zu wiinschen, daB der Krieg auch in die Bevol- 

') Wiener klin. Wochcnschr. 1916, Mr. 34; Med. Klin. 1916, Nr. 38; Neurol. 
Central 1)1. 1917, Nr. 9. 

2 ) Munch, mod. Wochcnschr. 1917, Nr. 12. 

3 ) Med. Klin. 1917, Nr. 9. 


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der hysteriforraen Stiirungen bei Kriegsneurosen. 


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kerung endlich einmal die Aufklarung trtige, dad Hysterie eine Krank- 
heit ist und dad Hoche recht hat mit seiner Behauptung, unter be- 
stimmten Umstajiden sei jeder Mensch hysteriefahig, sowie dad die 
Hysterie keine ,,soziale Stigmatisierung“ (Morchen) bedeutet. 

Ich bitte, nicht zu glauben, dad ich pro domo reden will, wenn ich 
hier sage, dad ich sc hen Anfang 1915 auf Grund meiner personlichen 
Erfahrungen die meisten Symptombilder, die wir seither alle so unendlich 
oft gesehen haben, in das Gebiet der Hysterie, will sagen der seelisch 
bedingten und beeinfludbaren Krankheitsgruppen verwiesen habe und 
dad ich auf Grund dieser personlichen Dberzeugung eine ausschliedlich 
psychisch wirkende Therapie angewendet habe, die damals bereits in 
50% die Symptome beseitigte. 

Ich spreche heute nicht fiber die frischen Falle, bei denen korper- 
liche und seelische Ruhigstellung, Zuspruch und Roborantien schnell 
Heilung bringen. Ich spreche fiber die fixierten Falle, die teils an 
der Front, zu ebenso grodem und vielleicht noch groderem Teile aber 
durch das allgemeine ,,Drum und Dran“ der Kriegszeit und ihre Anforde- 
rungen an den Uniformtrager entstanden sind. Ich gebe unbedingt zu, 
dad alle die vortrefflichen Einrichtungen der physikalischen Therapie, der 
militarischen und seelischen Disziplin, der Isolierung, der Besehaftigung 
und Arbeit an sich ihre Berechtigung haben und teilwcise auch Erfolge 
aufweisen. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dad alle diese Fak- 
toren ftir die Beseitigung der Hauptsymptome weit zurttcktreten 
hinter dem personlichen Sicheinsetzen des Arztes mit 
irgendeiner Methode, zu der er Vertrauen hat, die er 
beherrscht und die er anwendet bis zur Erzwingung 
des Erfolges, d. h. bis er eben die Hauptsymptome beseitigt 
hat. Der Satz von Wollenberg trifft den Nagel auf den Kopf: 
,.«Jede Methode ist recht, wenn sie das gemeinsame Ziel auf einwand- 
freie und sichere Art erreicht; es gibt viele Behandlungsarten, doch 
keine kann die Suggestion entbehren.“ Vor kurzem hat das Kehrer 1 ) 
treffend so ausgedruckt: „Wie der einzelne vorgeht, kann nur ftir ihn 
Gesetz sein, bedeutet nur fur ihn die in erster Linie anzuwendende 
Methode.“ Neuerdings sind bekanntlich zwei neue Formen von Wach- 
Suggestion empfohlen worden, namlich von Nesnera 2 ), der nach 
suggestiver Vorbereitimg im Dunkelzimmer Rontgenstrahlen einwirken 
laBt, und von Weichbrodt 3 ), der nach suggestiver Vorbereitung, ein 
warmes protrahiertes Dauervollbad gibt, und von Mann 4 ) wurde von 
neuem die Rothmannsche Ather-Narkose-Methode empfohlen. 

*) Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 3®, Heft 1/2. 

2 ) Wiener med. Woe he rise hr. 1915, Nr. 51. 

3 ) Westphals Archiv 59, Heft 2. 

*) Berliner klin. Wochenschr. 1917, Nr. 28. 

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M. Nonne: t)ber erfolgreiche Suggestivbehandlung 


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Ich hatte hier in Baden-Baden im Mai 1915 zum ersten Male den Mut, 
die Verwendung der Hypnose zu empfehlen, die bei vielen als obsolet bzw. 
als unwissenschaftlich, ja, wie mir ein Hamburger Kollege sagte ,,filr 
Arzt und Patient gleich unwtirdig" gait. Ich konnte das, weil ich mit 
dieser Methode in 20 Fallen, die bis dahin refraktar gewesen waren, 
prompt Symptomfreiheit erzielt hatte. Ich demonstrierte die Falle in 
Hamburg und land bei drei erfahrenen und sonst objektiv kritischen, 
mir personlich naherstehenden Kollegen eine scharfe Abweisung. Ich 
habe bisher geschwiegen — und weiter gearbeitet. Meine Erfolge wuch- 
sen mit dem Erfolg (der Englander sagt kurz und treffend „Nothing 
succeeds but success"), und heute bin ich in der Lage, Ihnen fiber fast 
260 durch Suggestion in Hypnose geheilte Falle der hysteriformen Kate- 
gorie sogenannter Kriegsneurosen zu berichten. 

Wie sehr sich die Ansicht fiber die Prognose der Kriegsneurosen seit 
1915 gea ndert hat, zeigt ein Ausspruch vonHirschfeld 1 ):, ,Kein Kranker 
darf mit schweren lokalen Symptomen in die Heimat geschickt werden", 
femer ein kfirzlich erschienener Aufsatz Beyers, der schlieBt: ,,Die Er- 
wartung ist begrtindet, daB doch noch das erstrebte Ziel erreicht wird, 
daB man sagen darf, es gibt keine Zitterer mehr“; femer eine vorzfig- 
liche kleine Monographic von G. Liebermeister, die eine eingehende 
Kenntnis der Neurosen-Seele aufweist und die schlieBt: „Es war mein 
Wunsch, mitzuhelfen, daB die Heilbarkeit der funktionellen Kriegs¬ 
neurosen in der Uberzeugung der Arzte immer festeren Fufl fasse“, 
femer die Arbeit Raethers aus der Bonner psychiatrischen Klinik, 
der 97% der Kriegsneurotiker geheilt hat, des weiteren der Aufsatz 
von Rieder und Leeser, die fiber die gleichen guten Resultate be¬ 
richten, sowie endlich die Mitteilung Lewandowskys, daB er die 
Zitterer ,,fast ausnahmslos" heile, ebenso wie derselbe Autor in einer 
Sitzung der Gesellschaft ffir Psychiatrie und Nervenkrankheiten in 
Berlin erklarte, ,,daB bisher noch kein Zitterer von etwa 50 ungeheilt 
aus der Abteilung abgegangen sei*)“. 

Zu dieser jetzigen therapeutischen Freudigkeit hat sehr wesentlich 
beigetragen die bekannte Mitteilung Kaufmanns vom Juli 1916, 
der nachwies, daB der Arzt durch Einsetzen seiner Personlichkeit mit 
ausgesprochenem Heilungswillen auBerordentlich oft imstande sei, in 
bis dahin refraktaren Fallen Symptomfreiheit zu erzwingen. 

Ich bin der Meinung, daB die beiden Methoden, namlich die Kauf- 
mannsche Methode und die Methode der Suggestion in Hypnose gegen- 
wartig geeignet sind, das Bild auf einer Neurosenabteilung von Gmnd 

') S. auch Munch. med. Wochenschr. 1917, Nr. 25. 

*) S. auch den jiingsten Aufsatz desselben Autors: ,.Was kann in der Be- 
handlung und Beurteilung der Kriegsneurosen erreicht werden?“ Munch. Med. 
Wochenschr. 1917, Nr. 30. 


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der hysteriformen Stttrungen bei Kriegsneurosen. 


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aus zu andem. Kaufman ns Verfahren erwarb sich schnell Anhanger. 
East alle nahmen Modifikationen vor, und bei fast alien, die sie mit 
Erfolg angewendet haben, bat sich die Methode gewandelt zu einer 
Wach-Suggestionsmethode mit meist kurzer und wenig schmerzhafter 
Nachhilfe des faradischen Stromes (siehe Hirschfeld, Rieder und 
X.eeser, Ollendorf, Raether, Goldstein, Oehmen, Beyer u. a.). 
Auf meiner Abteilung wird die Kauf mann-Methode seit Juni 1916 
ausgiebig angewendet, und zwar von je einem meiner Assistenten, der 
sich dafiir eignet. Ich sehe ausgezeichnete Erfolge. Bei einem kleinen Ma¬ 
terial hatte Dr.Wohlwill (zitiert in meinem Referat auf der Munchener 
Tagung der Ges. Deutscher Nervenarzte) gute Erfolge, dann berichtete 
Pasche n uber 45 Falle mit 36 Heilungen.Dr.Kal m usheilte von 22 Fallen 
17, und seit drei Monaten arbeitet Dr. Wachsner bei mir mit vorziig- 
lichen Resultaten. Ich will hervorheben, daB ich fast ausschlieBlich 
altere, alte und sehr alte Falle bekomme, d. h. Falle von einer Dauer 
von 3—4 Monaten bis zu einer Dauer von 2 Jahren; femer sind darunter 
Falle, die mir geschickt wurden behufs Entscheidung, ob die Rekla- 
mation der Leute auf Erhohung der Rente bzw. auf Gewahrung der 
Verstummelungszulage gerechtfertigt sei. Samtliche Falle waren schon 
vorher mannigfach vergeblich behandelt worden. Selbstverstandlich 
werde ich hier nicht des naheren auf die oft behandelte Methode ein- 
gehen. Ich will nur kurz sagen, daB von elektrischen Stromen nur der 
faradische Strom zur Anwendung kommt, daB er nur im Notfall als 
starker Strom angewendet wird und dann nur fur einen kurzen Augen- 
blick, meistens aber nur schwach oder mittelstark, Auch ich bin der 
Meinung — im Gegensatz zu Lewandowsky —, daB es nicht notig 
ist, daB der Arzt militarischer Vorgesetzter ist und daB ich fur das 
Wesentliche der Methode halte, daB die Heilung bzw. eine der Hei- 
lung nahe kommende Besserung in der ersten Sitzung erzielt 
wird 1 ). Auch ich habe die Methode sich immer mehr zu einer Per¬ 
suasions methode entwickeln sehen und bin der Meinung, daB der 
Arzt der geeignetste ftir die Ausubung dieser Therapie ist, von dem 
man mit Tasso sagen kann „Wie leicht gehorcht man einem Herm, 
der uberzeugt, indem er uns gebietet" 2 ). Sehr wtinschenswert, 
aber nicht unbedingt notig ist nach meiner Erfahrung die suggestive 
Vorbereitung der Kranken durch einen Aufenthalt auf dem Saal, 
in dem bereits eine groBere Anzahl von Geheilten sich befindet. Selbst¬ 
verstandlich ist unbedingt notig eine Nachbehandlung durch 

1 ) Mit Recht wci‘t Wollenberg in seinem Nekrolog auf Ludwig Bruns 
darauf hin, daB das das Prinzip i t. welches Bruns zielbewuBt fur die „massive 
Hy terie der Kinder" empfrhli n und durchffefiihrt hat. 

*) In Hornberg wird die Kauf mann-Methode angewendet in Form von 
Gewalt-Exerzieren und st&rkster Wachsuggestion, mit Schein-Eiektrisieren. 


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M. Nonne: Ober erfolgreiche Suggestivbehandlung 


Ubung, Erziehung, Training. Arbeiten, zunachst auf dem Kranken- 
saal, dann in der Gartnerei und in den Arbeitswerkstatten, verbunden 
mit militarischen gymnastischen tlbungen und mit Tumen, sind auch 
die von uns anerkannten und geiibten Mittel. Leider wird nur an einzel- 
nen Stellen das durchfiihrbar sein, was Kehrer in Homberg eingeftthrt 
hat, namlich praktische Arbeit fiir Geld-Verdienst, der sich den wirk- 
lichen Leistungen anpaBt, in dicht bei dem Lazarett belegenen Fabrik- 
Betrieben. Ich habe ganz dasselbe jetzt auch bei meinen ,,Geheilten“ 
ermoglicht, und mit gutem Erfolg fiir die Fixierung des Heilerfolgs. 

DaB es auf die Starke der Strome nicht ankommt, geht fiir mich 
auch daraus hervor, daB viele der friiher Behandelten angaben, schon 
mehrfach mit starken und sehr starken Stromen behandelt zu sein, 
ja teilweise ,,von 3—4 Mann“gehalten worden zu sein. Haufig war aber 
die Behandlung durch das Pflegepersonal ausgefiihrt worden, und das 
A und 0 bleibt, daB der Arzt selbst Zeit opfert und Geduld und Nerven- 
kraft besitzt. Ich stimme Goldstein vollkommen zu, wenn er Kauf¬ 
man ns Verdienst, diese vergessene oder nicht mehr befolgte Binsen- 
weisheit den Arzten wieder klargemacht und eingepragt zu haben, hoch 
einschatzt. Die Dauer der Sitzung ist sehr verschieden, von 15 Mi- 
nuten bis 2 Stunden und noch langer. Ich betone nochmals, daB 
wahrend dieser Zeit der faradische Strom nur ab und an und kurz, 
etwa wie der Spom des Reiters beim faulen oder storrischen Pferd, 
zur Anwendung kommt. Es ist einerlei, ob es sich um Dysbasie, Zittem, 
Schutteln, Spasmen und Contracturen, Klonismen, Mutismus, Stot- 
tem, Taubheit usw. handelt. Es macht nach meinen Erfahrungen auch 
nichts aus, ob die Falle verhaltnismaBig frisch (einige Wochen), alt 
oder ganz alt sind. Ausnehmen tat ich nur korperlich zarte Individuen 
sowie Falle mit Symptomen von allgemeinem Erethismus. Ausnehmen 
wfirde ich auch — wenn ich sie bekame — ganz frische Falle. Ich 
glaubc, das ist alles was fiber die heutige Art der Anwendung des 
Kauf mann-Verfahrens, seine Indikation, seine Erfolge gesagt werden 
kann und kurz und bfindig und eindringlich von Beyer-Roderbir ken 1 ) 
gesagt worden und auch in dem Aufsatz von Ollendorf sowie in der 
bereits erwahnten Abhandlung von Liebermeister vorzfiglich aus- 
einandergesetzt ist. Kehrer, Liebermeister und Ollendorf be- 
schreiben auch anschaulich, wie die suggestive Atmosphare geschaffen 
werden muB, in der, wie Bruns seinerzeit sagte, „der Hysteriebacillus 
nicht wachst oder schnell abstirbt“, und in der eine ,,Antiliga“ der 
Lauen und der Widerstrebenden sich nicht zu bilden vermag (Kehrer). 
Liebermeister sprach ein wahres Wort, als er sagte: ,,Die Behand- 
lung muB die Erfahrung des Alters mit der Frische der Jugend zu ver- 

*) Sonderbeilage zu Nr. 4 der amtl. Mitt. d. Reichs-Landesversich.-Anstalt 
Rheinprovinz, Jahrg. 1917. 


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der hysteriformen Stdrungen bei Krieganeurosen. 


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schmelzen suchen und therapeutisch wirksam machen.“ Ich mochte 
sagen, der Arzt muB, wenn er der Kriegsneurosensvmptome Herr wer- 
den will, eine Stimmung auf der Abteilung schaffen, die die Leute 
zwingt, sich nicht in die Krankheit, sondem in die Gesundheit 
zu fluchten. Die Uberzeiigung von dieser Moglichkeit ist auch mir 
erst im Laufe von Monaten gekommen. 

Das bisher auf meiner Abteilung naeh Kaufmann behandelte 
Material lege ich hier vor: 

Kaufmannsche Behandlung: 

Zahl der Falle: 130. 

Zusammensetz ung: 

Ea waren iiber die Halfte der behandelten Falle (63%) motorische 
Lahmungserscheinungen (Monoplegie, Hemiplegie, Paraplegie). 

Die funktionellen Geh- und Stehstorungen (Dysbasie, Abaeie, 
Astasie) waren mit 16% vertreten. 

Ebenso groB war der Prozentsatz bei den Fallen mit motorischen 
Reizerscheinungen (Tremor, Zuckungen, Contracturen, Kyphosen). 

Der Prozentsatz der Sprachstorungen (Aphonie, Mutismus, Stottem) 
war 5%. 

Mit Taubheit, Taubstummheit kam kein Fall zur Behandlung. 

Das Ergebnis der Kaufmannschen Behandlung war folgendes: 
Geheilt: 74% (Dr. Paschen 62%, Dr. Kalmus 78%, Dr. Wachsner 
82%). 

Gebessert: 10%. 

Ungeheilt: 16%. 

Langsamer als Kaufmanns Methode hat sich bisher im arztlichen 
Publikum die von mir empfohlene Suggestion in Hypnose durchgesetzt. 
Erst nachdem ich auf Grund meiner Miinchener Demonstrationen von 
derMedizinal-Abteilung desKriegsministeriums aufgefordert worden war, 
in Berlin vor den stellvertretenden Korps-Generalarzten und den Gami- 
sonarzten der groBen Festungen liber Hypnotherapie zu sprechen 
und zu demonstrieren, und nachdem dort anheimgegeben war, ge- 
eignete Arzte auf meine Abteilung zu kommandieren — was seither 
ausgiebig geschehen ist —, zeigte es sich, daB die Methode keines- 
wegs nur in beschranktem MaBe Anwendung finden kann, ,,weil nur 
relativ wenig Arzte geeignet seien, sie auszuiiben“. An geeignetem 
Kraukenmaterial hat es mir nicht gefehlt, weil Herr Generalarzt von 
Milecki in weitgehendem Entgegenkommen einschlagige Falle aus 
dem Bereich des IX. Reserve-Armeekorps auf meine Abteilung ge- 
leitet hat. Ich glaube sagen zu diirfen, daB viele Neurotiker mit 
„Faxen-Symptomen“ im Heimatsbereich dieses Korps heute nicht 


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M. Nonne: t)ber erfolgreiche Suggestivbehandlung 


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mehr zu finden sind 1 ). Herren a us Gorden in der Mark Brandenburg, 
aus Rostock, Konigtberg, Breslau, Danzig, GieBen, Koblenz, Trier, 
Dresden, Posen, Metz, Hannover, Waldbrodel, Schwerin, Marienburg 
i. Westpr., Wurzburg, Stralsimd, Warschau usw., haben bei mir kiirzere 
oder langere Zeit sich von der Brauchbarkeit der Methode iiberzeugt. 
Ich weiB, daB die meisten von diesen Herren bereits mit Erfolg die 
Methode verwenden — aus Metz schrieb mir einer der Herren Kollegen, 
der zwei Wochen bei mir gearbeitet hatte, bereits nach vier Wochen, 
daB er 19 einschlagige, bisher refraktar gewesene Falle symptomfrei 
gemacht hatte, und-zwar 16 durch Hypnose und 3durch modifizierten 
Kaufmann. Von ahnlichen Erfolgen berichtet mir Dr. Raven aus 
Hannover, nachdem er bei mir gesehen und geiibt hatte. Ebenso ar- 
beiten sich meine Assistenten in verhaltnismaBig kurzer Zeit in diese 
Behandlung ein und haben gute Erfolge. Ich schlieBe daraus, daB auch 
in dieser Methode keineswegs etwas nur wenigen Zugangliches liegt, 
sondem daB auch fur sie das Wort gilt: „Wenn du dir nur selbst 
vertraust, vertraun dir auch die andem Leute.“ Immerhin gebe ich 
durchaus zu, daB das Einfiihlen in die Psyche der Kranken mittels der 
Wachsuggestion Kaufmanns ein weniger individuelles Verfahren ist. 

Ich habe mich wieder mit Hypnotherapie befaBt, weil ich 1889 
bei Charcot in Paris und bei Bernheim in Nancy die therapeutische 
Anwendung der Hypnose gesehen hatte. Mir fiel wieder ein, daB die 
Soldaten in der Hamburger Kaseme, die ich 1889, um Erfahrungen 
zu sammeln, hypnotisierte, auffallend leicht hypnotisch zu beeinflussen 
waren. Vogt setzt m. E. mit Recht auseinander, daB das ganze Milieu 
der militarischen Disziplin und die damit verbundene Einstellung der 
Soldaten eine „Befehls-Automatie“ begiinstigt, um nicht zu sagen 
bedingt. 

Mein Material belauft sich jetzt, d. h. am 1. Juli 1917, auf rand 
285 Falle. Ich lege es Ihnen hiermit vor: 

Hypnose behandlung: 

Zahl der Falle: 285. 

Neuropathische Belastung (Nervositat, Geisteskrankheiten, 
Trunksucht, Krampfe in der Familie): bei 37% der Falle. 

Neuropathische Ziige ira Vorleben des Patienten selbst 
(fruhere Nervositat, leichte Erregbarkeit, Bettnassen, Krampfe, Kopf- 
schmerzen usw.): bei 32% der Falle. 

Schwacher, zarter Korperbau, maBiger Emahrangszustand nur bei 

*) Laut einer vom stellvertrotonden General-Kommando veranstaltetcn 
offiziellen Befragung finden sich im Gesamtbcreich des IX. A. K., d. h. Schleswig- 
Holstein, Mecklenburg, Harts as tad te heute rioch 103 einschlagige nicht geheilte 
Falle: 


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der hysteriformen StOrungen bei Kriegsneurosen. 


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16%. Bei den iibrigen 84% Korperbau kraftig und Emahrungszustand 
gut bzw. normal. 

Degenerationsstigmata (Morsupilie, Anomalien der Ohrbil- 
dung, schmaler hoher Gaumen, vasomotorische Anomalien usw.): 
bei 82% der Falle. 

Traumatische Entstehung des Leidens (Verschuttung, Ver- 
wundung, Platzen einer Granate in der Nahe, Sprengung, anstrengende 
Marsche): bei 68% der Falle. 

Nichttraumatische Entstehung (Auftreten des Leidens im 
Lazarett, wahrend der Eisenbahnfahrt, auf Urlaub): bei 32% der Falle. 

Zusammensetzung: Es waren die Halfte der behandelten Falle 
(50%) motorische Reizerscheinungen (Tremor, Zuckungen, Contrac- 
turen). Die motorischen Lahmungserscheinungen (Monoplegie, Hemi- 
plegie, Paraplegie) machten 21% aus. 

Am kleinsten war die Zahl der Falle von Taubheit und Taubstumm- 
heit; diese machten 2% aller Falle aus. 

An dritter Stelle folgten die funktionellen Geh- und Stehstdrungen 
(Dysbasie, Abasie, Astasie) mit 16%. 

Sprachstorungen (Aphonie, Mutismus, Stottem) waren in 11% der 
Falle vorhanden. 

Die Behandlung zur Beseitigung der Symptome fand ausschlieBlich 
in Form von Suggestion in Hypnose statt. Das Ergebnis war folgendes: 

Geheilt: 80% (in den letzten 2 Monaten 83%). 

Gebessert: 15%. 

Ungeheilt: 5%. 

23% verhielten sich gegen Hypnose refraktar. Von diesen fielen alle, 
mit Ausnahme von dreien, in die Zeit vor dem 15. Marz 1917. In den 
letzten 3 Monaten ist auBer 3 Fallen kein Fall refraktar gewesen. 7% 
der refraktaren Falle wurden durch Kaufmannsehe Behandlung und 
durch Ubungen geheilt. 

Die vor der Aufnahme auf meine Abteilung durchgefuhrte Behand¬ 
lung hatte im Durchschnitt 6 Monate gedauert. Sie schwankte zwischen 
2 Tagen und der Hochstzahl von 27 Monaten. Durchschnittlich hatten 
die Falle in 3 Lazaretten gelegen. Dabei betrug die Mindestzahl der 
Lazarette 1 und die Hochstzahl 10. Rezidive traten in einem Teil 
der Falle nach Wochen und Monaten auf und wurden fast ausnahms- 
los durch Hypnose wieder beseitigt. 

Es kamen zur Entlassung: 

49 % als kriegsimbrauchbar, 

33,5% ,, gamisondienstf&hig (z. T. bedingt g. v., Schreibstube, Ham¬ 
mer), 

14 % „ arbeitsverwendungsfahig, 

3,5% „ felddienstfahig 


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200 


M. Nonne: Uber erfolgreiche Suggestivbehandlung 


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Entlassen wurden mit einer Rente von: 


unter 10—0%: 
10—30%: 
30—50%: 
uber 50%: 


63% der Falle, 
25% „ „ , 
12 % „ „ , 
kein Fall. 


Das Material ist ausgesucht nach der ungiinstigen Seite. Es ist 
dasselbe Material, welches man iiberall zu sehen bekommt und quali- 
tativ dasselbe Material, welches nach Kaufmann behandelt wurde. 
Ich habe fast nur alte Falle bekommen, fast ausnahmslos Falle, die 
mehrfach und mannigfach behandelt worden waren und viele Falle, 
die schon „d. u.“ mit Renten entlassen waren. Ich will 3 Kategorien 
meiner Falle besonders hervorheben: 

1. Falle von pseudo-spastischer Parese mit Tremor bzw. Falle von 
Myotonoclonia trepidans, Falle die jiingst von Erben 1 ) in einer an- 
regenden Studie klinisch naher analysiert worden sind 2 ); 

2. Falle von ,,Reflexlahmung Oppenheim“ 3 ) imd 

3. Falle von Taubstummheit, 

und zwar deshalb, weil von mehreren Seiten fur diese Falle pathologisch- 
anatomische Grundlagen feiner und feinster Art vorausgesetzt worden 
sind. Dies scheint mir ausgeschlossen da, wo diese Zustande durch ein 
Wort zu beheben und wieder hervorzurufen sind. Mit Morchen nehme 
ich geme an, daB solche Falle nicht immer psycho-funktionell zu sein 
brauchen, sondem daB es sich um somato-funktionelle Falle handeln 
kann, da ja auch Morchen annimmt, daB solche somato-funktionelle 
Falle psychisch zu beeinflussen sind. Derselben Auffassung vom dyna- 
mischen, psychisch zu beeinflussenden Charakter solcher Lahmung hat 
vor kurzem Wagner von Jauregg Ausdruck gegeben. 

Mein Material zeigt, daB der Prozentsatz der Heilungen fort- 
dauemd gestiegen ist. Die 50%, von denen ich in Miinchen im September 
1916 berichtete, waren im Dezember 1916 auf 72% gestiegen und 
sind bis heute auf uber 80% gestiegen. In den letzten 2 Monaten habe 
ich 83%, in den letzten 3 Wochen 90% der Falle geheilt. Im Hinblick 
auf eine Bemerkung von v. Sarbo, daB Offiziere nicht geeignet seien 
fOr die Suggestionstherapie und daB somit mit dieser Therapie „etwas 
nicht stimmen musse“, weil die Hysterie der Mannschaften doch keine 
andere sei als die der Offiziere, will ich auf die Heilung einer Reihe 


*) Wiener klin. Wochenschr. 1916, Nr. 36. 

*) Ein solcher Fall wurde der Versammlung vorgestellt. 

*) Vorstellung eines Falles; zugleich Demonstration der Rontgenplatte, die 
cine hochgradige allgemcineKnochenatrophie (Sudeck - Kienbock) von Fingern, 
Hand und Vordcrarm zeigte, analog den Fallen, die Simons — nicht Mohr, 
wie ich seinerzeit irrtiimlich sagte und schrieb — auf dem Munchner KongreB 
zeigte und vor kurzem publizierte. 


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der hysteriformen StOrungon bei Kriegsneurosen. 


201 


von Offizieren hinweisen 1 ). Es geht bei diesen wirklich ebenso gut, 
vorausgesetzt daB man ihnen gegenuber dasselbe Gefiihi der Sicherheit 
hat wie bei den Mannschaften; das haben auch mich erst weitere Er- 
fahrungen und Erfolge lehren rniissen. Haben wir nicht alle es durch- 
gemacht, daB uns als Anfanger in der Privatpraxis, als wir noch kein 
, .standing" batten, ein gewisses Gefiihl der Schuchtemheit oder der 
Hemmung iiberkam, wenn es sich um einen Patienten ,,aus der groBen 
Gesellschaft" handelte? 

Des weiteren erwahne ich den einzigen Fall von Tatibstumm- 
heit, den ich als frischen Fall zur Behandlung bekam: Das Bild war 
klinisch genau dasselbe, wie wir es von Granatkontusionen kennen, und 
denkbar prompt reagierte der Fall. Hier konnte von einer spontanen 
Ausheilung der organischen Symptome durch die Zeit (v. Sarbo) 
keine Rede sein 2 ). 

Ich glaube nach meinen zahlreichen Erfahrungen nicht, daB die 
Dauer der Fixierung der Symptome von nennenswertem EinfluB auf 
die Prognose ist, ich muB aber zugeben, daB in einzelnen — wenigen 
— Fallen der „instinktive Egoismus" den Heilungswillen schwacht 
oder aufhebt. Ich habe den Eindruck, daB gerade dieser instinktive 
Widerstand durch die Hypnose-Methode leichter gebrochen wird als 
durch die Perauasionsmethode (modifizierte in Kaufmann-Methode). 

Wer ist der Behandlung mit Suggestion in Hypnose zugangig ? Das 
laBt sich vorher nicht sagen. Jedenfalls spielt der gegenwartige Krafte- 
zustand, die Konstitution, das Alter, das Herkommen, die Rasse, die 
Bildung keine Rolle, und ebensowenig (ich stehe damit in Gegensatz 
zu vielen erfahrenen Fachkollegen) die neuropathische Belastung oder 
Neuropathie im Vorleben. 

Gegenmittel sind 

1. entschiedenes Nichtwollen. Das sah ich bisher 4mal. Solche 
Falle scheiden aus der Statistik naturlich aus. 

2. Angst vor der Prozedur. Das kam fruher hier und da vor, jetzt 
nicht mehr, da fast alle Falle, ehe sie in meine Behandlung kommen, 
das Filter des ,,suggestiven Milieu" des Krankensaales passiert haben. 

3. Intensiver Wunsch des Gelingens und die Angst davor, daB 
die Hypnose nicht eintreten werde. Das ist mir 2mal vorgekommen. 

*) Ein Offizicr wurde der Versammlung vorgestellt; es handelte sich um eine 
hartn&ckige „Jackson-Epilepsie“ nach Gasvergiftung, die 1 1 / i Jahre bestanden 
hatte. Sichere somatische Symptome waren nicht zu finden; der Fall hatte 
bisher als „organisch‘‘ gegolten, war mit alien iiblichen Mitteln bisher bchandelt 
worden; eine Operation hatte er abgelehnt; die Anfalle traten nach einer Hypnose 
nicht mehr auf; der Offizier ist seit iiber 10 Monaten jetzt in einer grofleren Gar- 
nisonstadt in verantwortlichem Dienst (Gefangniskomirando) von morgens bis 
abends tatig. 

*) Der Fall wurde der Versammlung vorgestellt. 


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202 


M. Nonne: Ober erfolgreiche Suggest! vbehandlung 


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In der Privatpraxis war dies, als ich in friiheren Jahren in der Privat¬ 
praxis die Hypnose noch ausubte, so haufig ein „erfolgreiches“ Gegen- 
mittel, daB ich daraus hauptsachlich meine vielen glatten MiBerfoIge 
in der Privatpraxis erklaren muBte und deshalb bald von der Verwen- 
dung der Hypnosetherapie so gut wie ganz absah. 

Meine Beobachtung, dafi Soldaten besonders leicht zu hypnotisieren 
sind, ist vielfach von Anderen bestatigt worden. Es tiberrascht mich immer 
wieder aufs neue, mit welcher Leichtigkeit die Leute zu beeinflussen 
und auch' in tiefen somnambulen Zustand zu versetzen sind. Ich halte 
deshalb die neuerliche Bestimmung, daB die Patiehten, die, seinerzeit 
ungeheilt „d. u.“ entlassen, einem emeuten Heilungsversuch zuge- 
fuhrt werden, nicht als Soldaten gelten sollen, fQr sehr bedenk- 
lich. Ich fiirchte, daB bei der Aufhebung des Geftihls des Sichfugen- 
m us sens eine wesentliche Bedingung fur den Erfolg fortf alien wird. 

Ich hyypnotisiere prinzipiell nur in Gegenwart anderer Arzte, sei 
es meiner Assistenten, sei es der auswartigen Kollegen. Herr Henne- 
berg, der meinem Demonstrationsvortrage in Berlin Mitte Dezember 
1916 beiwohnte, meinte in einem Gesprach mit mir: meine Patienten 
seien wohl „dressiert“ gewesen; das war nicht der Fall, solche ,,Dres- 
suren“ erziele ich in Hamburg taglich oder fast taglich bei erstmaligem 
Hypnotisieren. Es bleiben aber zweifellos immer noch eine — allrnah- 
lich immer kleiner werdende — Anzahl von Fallen zuruck, die refraktar 
sind. Es ist mir bisher nicht gelungen, fur diese Falle etwas besonders 
Charakteristisches herauszufinden. Was ich friiher schon sagte, will 
ich auch heute sagen: korperliche und mehr noch gemutliche Disposi¬ 
tion des Arztes spielen eine Rolle, wie iiberhaupt m. E. ein gewisser 
Grad von ,,Temperament“ zu dieser Behandlungsart gehort. Die Saiten 
miissen schwingen konnen, sonst tonen auch die Saiten beim Patienten 
nicht. Unter Umstanden muB man auch ringen konnen mit dem Kran- 
ken. Das sagte ich schon in Munchen, und viele Kollegen sind inzwi- 
schen Zeugen meines Ringens gewesen. 

Die Vorbereitung besteht nur darin, daB die Patienten einige Tage 
vorher auf dem Saal sich aufhalten, in dem die oft beschriebene ,.Mi¬ 
lieu-Atmosphare“ herrscht, in der gleiche oder ahnliche Falle geheilt 
worden sind. Praktisch erfuhr ich, wie wichtig dies ist, in Metz, wohin 
ich im Februar d. J. gebeten worden war. Es gelang mir unter 12 mir 
vorgefiihrten geeigneten Fallen nur 7mal zu ,,heilen“, in 5 Fallen 
erlebte ich einen MiBerfolg. In Koblenz konnte ich von 3 mir vorge- 
fiihrten Fallen nur bei einem Fall eine Hypnose erzielen, und in Frank¬ 
furt a. M. ebenfalls von 3 Fallen nur einen beeinflussen. Andererseits 
ist es mir in Eppendorf keineswegs selten gelungen, Kranke sofort 
nach ihrer Ankimft auf meiner Abteilung durch hypnotische Suggestion 
symptomfrei zu machen. 


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der hysteriformen Stiirungen bei Eriegsneurosen. 


205 


Fur mich ist die Frage, ob man Kriegshysteriker zusammenlegen 
darf, in dem Sinne entschieden, daB da, wo der Genius loci so ist wie er 
sein soil, dies geradezu notig ist. In Einzelzimmer kommen meine 
Patienten uberhaupt nicht. Die wenigen Einzelzimmer, die mir zur 
Verffigung stehen, sind ftir Offiziere reserviert. Ich stehe damit auf 
einem anderen Standpunkt als Kehrer, der die Absonderung des ein¬ 
zelnen von seinen Kameraden, am allermeisten von jenen mit gleich- 
geformten Symptomen fiir wichtig halt. 

Ich spreche mit den Patienten vorher nicht fiber das, was ich mit 
ihnen vorhabe, frage sie auch nicht, ob sie mir gestatten wtirden, sie 
zu hypnotisieren bzw. sie „willenlos“ zu machen. Wer das tut, wfirde 
m. E. den therapeutischen Ast absagen, auf dem er sitzt. 

In den bei weitem meisten Fallen wird Symptomfreiheit erzielt 
in der ersten Sitzung. Das sind jene Falle von „Blitzheilung“; so wer- 
den keineswegs selten blitzartig geheilt Skoliose, Kyphose, Dysbasie 
und Abasie, Mutismus, Taubheit, Taubstummheit, Stottem, Mono- 
plegien (auch vom Typus der ,,Reflexlahmung“), Paraplegien und 
Hemiplegien, lokalisierter und allgemeiner Tremor. Mit Kehrer bin 
ich der Meinung, daB die ,,fraktionierte Methode“, die Mann emp- 
fiehlt, die Gefahr in sich birgt, daB der Kranke das Vertrauen in die 
Kraft des Arztes und der Arzt an Sicherheit verliert. 

In einzelnen Fallen bleiben noch Reste der Symptome zurfick; 
sie werden in den nachsten Sitzungen allmahlich zurtickgebildet, bei 
anderen Fallen bilden sich die Reste spontan zurfick oder durch Wach- 
suggestion, ,,Erziehung“ usw.; in einzelnen Ausnahmefallen bleibt 
es bei einer Defektheilimg, ein weiterer Ruckgang ist auf keine Weise 
zu erreichen, weder durch Hypnose noch durch irgendeine Form der 
W achsuggestion. 

Es kommt vor, daB Falle in tiefe Hypnose fallen und in der Hyp- 
nose alle Suggestionen (,,Probe-Suggestionen“) (Lahmungen, Contrac- 
turen, sensibel-sensorische Anasthesien usw.) annehmen, aber refrak¬ 
tar sind gegen die therapeutische Suggestion. Anderereeits erlebt man 
es in seltenen Ausnahmefallen, daB die „Probe-Suggestionen“ nicht 
angenommen werden, hingegen die therapeutische Suggestion. 

Ffir den Erfolg der therapeutischen Suggestion ist tiefe Hypnose 
notig, anders habe ich es nicht erlebt. 

Wer das erstemal gegen Hypnose refraktar war, wurde nur aus- 
nahmsweise in einem weiteren Male beeinfluBt. Andererseits kam es 
(ganz selten) vor, daB ein Kranker bei der ersten Sitzung in Hypnose 
fiel, aber die weiteren Male refraktar blieb, ohne daB ich eine Ursache 
nachweisen konnte. Ausnahmslos ist ein Patient, der einmal insom- 
nambulen Zustand versetzt wurde, alle anderen Male „a tempo“ 
wieder in Somnambulismus zu versetzen. 


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204 M. Nonne: t)ber erfoigreiche Suggestivbehandlung 

Meine Erfahrungen haben mich gelehrt, darin stimme ich durch- 
aus mit Oppenheim iiberein, daG die Begehrungsvorstellungen bei 
den an diesen hysteriformen Neurosesymptomen Erkrankten offenbar 
nicht in dem MaBe eine Rolle spielen, wie viele glauben. Mein Material 
war besonders geeignet, daruber Aufklarung zu geben, da, wie ich be- 
reits sagte, es zum groGen Teil aus bereits ,,D. U.“-Erklarten sich zu- 
sammensetzte, die eine Rente zugesprochen erhalten hatten, die nicht 
zum geringen Teile bereits wieder in Arbeitsverdienst standen und nur 
entsprechend einer neuerlichen Verordnung ,,zu nochmaUgem Heilungs- 
versuch“ dem Lazarett wieder zugefiihrt waren. Die Art der freudi- 
gen und erstaunten Dankbarkeit sagte in vielen Fallen mehr als theo- 
retische Auseinandersetzungen. 

Es ware zu besprcchen die Frage der Rezidive: In den meisten 
meiner Falle sind Rezidive nicht aufgetreten, in mehreren Fallen sind 
sie aufgetreten, und zwar durch irgendeine psychische Erregung, oft 
groGere (Trauerbotschaft, Freudenbotschaft), oft kleinere (Arger uber 
Mitpatienten, Personal, Arzt, uber angeblich unrechtmaGig vorenthal- 
tene Lohnung usw.), im AnschluG an von anderer arztlicher Seite sehr 
bald nach der „Heilung“ vorgenommene eingehende Untersuchung 
(Arbeitsversuche, Rontgenuntersuchung). Diese auf der Abteilung und 
auch auBerhalb derselben aufgetretenen Rezidive wurden ausnahmslos 
in einer weiteren Sitzung prompt beseitigt. In einigen wenigen Fallen 
traten Rezidive spontan noch am gleichen Tage der Heilung auf. Diese 
Falle lie Ben sich nur ausnahmsweise spater auf die Dauer heilen. 
Nur 3mal sah ich es, daG wahrend der Dauer der Hypnose alle 
Symptome beseitigt waren, diese jedoch sofort nach Beendigung der 
Hypnose wieder auf traten. Das waren alles 3 Falle von aligemeinem 
schwerem Tremor. Von Rezidiven nach Wiedereintritt in den Militar- 
dienst habe ich ofter gehort, und zwar von Zittem und von Sprach- 
storung (Stottem). Am meisten parat zu Rezidiven ist offenbar der 
Tremor; das ist nicht verwunderlich, da ja auch physiologisch die 
haufigste Schreckreaktion das Zittem der Glieder ist. 

Ich habe in 60 Fallen Umfrage gehalten, um eine Katamnese zu 
erhalten; ich schrieb nur an Falle, die mindestens 6 Monate bereits 
aus Eppendorf entlassen waren (P/j Jahr bis 6 Monate). In 46 Fallen 
erhielt ich Antwort: 26 Falle taten wieder ihre voile frtihere Berufs- 
arbeit, und zwar als Landwirte, Landarbeiter und Handwerker, Bank- 
beamte und Bureauangestellte. 16 Falle muBten sich noch schonen 
bei ihrer Arbeit und verdienten nicht den vollen Lohn, arbeiteten mit 
gelegentlicher ,,Schonungs“-Unterbrechung; 4 Falle waren riickfallig 
geworden und wieder einem Lazarett tiberwiesen worden. 

Aus jeder der 3 Kategorien gebe ich einige Briefantworten auf 
meine Anfragen hier wieder: 


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der hysteriforraen Storungen bci Kriegsneurosen. 


205 


1. 1. Fall von schwerem universellem Schtitteltremor 
nach Verschiittung im Unterstand durch Granateinschlag. 

„Saarbriicken, 29. Juni 1917. . .. Ich arbeite in meinem friiheren Beruf als 
Dachdecker, auf der Burbacher Hiitte. Mit den Nerven geht es soweit ganz gut, 
auch habe ich bis jetzt kein Schiitteln des Korpers mehr verspiirt, nur gegen die 
Gerausche der Maschinen bin ich noch empfindlich. Ich fiihlc mich auf dem hoch- 
sten Dache wohler als auf der Erde, und das habe ich nur Ihnen . .. zu verdankon, 
daB ich wieder meine Familie ernahren kann, daB ich soweit wieder hergestellt 
bin . . 

2. Fall von Schiitteltremor, in schwerem Trommelfeuer 
erworben. 

„Rostock, 28. Juni 1917. . . . Ich kann Ihnen mitteilon, daB es inir recht gut 
geht. Ich habe mich 6 Wochen bei guter Verpflegung noeh ausgeruht. Seit siebcn 
Wochen bin ich wieder bei meiner gewohntrn Arbeit auf der Schiffswerft tatig 
und kann das Arbeiten gut aushalten, allerdings ist es leichtere Arbeit als friiher, 
da zur Zeit hier nur kleine Sehiffe gebaut werden . . 

3. Fall von Abasie undFacialis-TicnachGranateinschlag, 
der unter seinen Kameraden Verheerungen anrichtete. 

„ Hamburg, 30. Mai 1917. ... Ich bin bei einer hiesigen Bank beschaftigt 
und kann die mir aufgetragenen Arbeiten ordnungsgemafl erledigen.. 

4. Schwerster Fall von allgemeinem Schiitteltremor, 
,,groBen hysterischen Anfallen“, Hyperhidrosis, Asomnie 

11SW. 

„Rotehiitte, 28. Mai 1917. ... Gesundheitlich geht es mir ganz gut, und er- 
freue ich mich noch immer selir an meiner Heilung und . . . Meine Tatigkeit ist 
eine sehr groBc zur Zeit, und zwar lietrt mir die Vermessung und der Anbau von 
Odlandereien ob, \md muB ieh deswegen vicl reisen und arbeiten, und bin ieh als 
Ass is tent bei . . . tiitig. Meine Tatigkeit beruht in der Huuptsache in der Besiehti- 
gung, Vermessung, Einteilung, Aufarbeitung der Odlandsflaehen, gleichzeitig 
stello ich das Kartenmaterial und das Taxationswerk her. . . gleichzeitig bin ieh 
aber noch stellvortre tender Gutsvorstand und habe fur 3Gemeinden mil 1336Seelen 
zu sorgen, auch viel Sohreiberei dabei . . . Diese Arbeiten kann ich ohne Sehwierig- 
keit erledigen, und habe ich writer keine Klagen als ab und an unruhigen ftchlaf, 
auch fallt mir das Gehen auf groBeren Stricken noch schwer. . , ik 

II. 1. Fall von Schiitteltremor und Stottern, im Laza- 
rett entstanden wahrend der Heilung einer Weichteilwunde. 

„Blatzheim, 5. Juni 1917. . . . Jetzt helfe ich meinem Vater die Maschinen 
reparieren, was leichte Arbeit ist. Schwrre Arbeit kann ich noch nicht machen . . ., 
aber ich kann trotzdem dankm, daB ich soweit hergestellt bin, sonst ware ich noch 
Kchliminer daran gewesen . . 

2. Fall von klonischen Zuckungen der Hodenmuskula- 
tur und der Gesichtsmuskeln sowie der linken oberen Ex- 
t re mi tat, entstanden nach Weichteilverletzung des Hodens und mehr- 
tagigem Aushalten in schwerem Trommelfeuer. 

,,Hamburg, 2. Juni 1917. ... Die Nervenzuckungen traten noch voriiber- 
gehend bei starker Ersehlitterung des Korpers (Bahnfahrton) und bei starken 
Aufregungen auf. Auch wenn icli schwerc Arbeiten verrichte und dann Momcnte 


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206 


M. Nonne: Ober erfolgreiehe Suggestivbehandlungr 


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zur Ruhe komme. Zur Zeit bin ich in meinem Berufe als Schlosser t&tig auf leichte 
Arbeiten. Wegen des Surrens der Maechinen muB ich bei der Arbeit stets Watte 
in den Ohren tragen ... Ihnen nochm&ls .. 

III. 1. Tremor der rechten oberen Extremit&t nach Gra- 
nateinschlagen in unmittelbarer Nahe mit Weichteilver- 
letzung der rechten Schulter. 

..Bremen, 15. Juni 1917. ... Ich habe bis jetzt 1 Monat mich im Gesch&ft 
beschftftigt, muflte jedoch, da ich es nicht abhalten konnte und auch wieder eincn 
An fall von Zittcm bckam, aufhoren, und bin zur Zeit zu Hausc, werde hier bchan- 
delt; habe wieder etwas Zittem und fiihle mich sehr schwach.. 

2. Universeller Schiltteltremor nach Granateinschlag in 
den Unterstand. 

..Liibeck, 30. Juni 1917. ... mein Befinden ist sowcit ganz gut, nur entbehrs 
ich immer noch meinen gesunden Schlaf... auch das Zucken in den Gliedern er- 
schwert mir den Schlaf; nehme an Gcwicht ab. Beschaftigt habe ich mich bisher 
auf meinem Lande; leichte Beschaftigung das geht, sobald ich mich aber etwas 
anstrenge, fange ich gleich an zu klappcrn; ich bin vom Militar entlassen, habe 
jetzt versucht, meine alte Tatigkeit wieder fortzusetzen, aber es geht doch noch 
nicht... aber darum den Kopf nicht hangen lassen, ich habe das feste Vertrauen, 
daB es so nach und nach besser wird ... ubrigens freue ich mich, daB ich wenigstens 
so weit bin, denn ich h&tte es nie geglaubt, daB ich noch mal wieder zu heilen wire, 
da ich doch so voll VerdruB und keine Lust mehr zum Lebcn hatte .. 

Mit GesetzmaBigkeit laflt sich in Hypnose durch einfache Verbal- 
suggestion das ganze Symptombild wieder hervorrrufen, und zwar 
wird dasselbe Bild „mit photographischer Treue“ in alien Einzelheiten 
reproduziert, ohne Weglassung und ohne Hinzusetzung eines Symptomes. 
Die Patienten sind nicht imstande, im Wachzustande das Krankheits- 
symptom spontan wieder zu erzeugen. Es beweist diese GesetzmaBigkeit, 
daB die Engramme der Krankheitsbilder im Him noch aufbewahrt 
sind, und dies erklart eindringlichst die ,,Bereitschaftsstellung 44 des- 
Symptomkomplexes und damit die Leichtigkeit, mit der Rezidive ein- 
treten konnen. Wenngleich das Zittern sich durch besondere Be- 
reitschaftsstellung auszeichnet, so will ich doch besonders betonen, 
daB die Bereitschaftsstellung auf hypnotisch-suggestiven Befehl ganz 
gleichmaBig gilt fur alle motorischen und sensibel-sensori- 
schen Reiz- und Lahmungszustande. 

Die Eigenschaft, auf hypnotische Suggestion sofort wieder zu 
rezidivieren, fand ich auch bei mehreren Patienten noch vor, die ich 
iiber 6 Monate nicht gesehen hatte und die diese ganze Zeit hindurch 
voll arbeits- und erwerbsfahig gewesen waren. Es folgt daraus, daB 
der SchluB, diese Leute seien wegen der Bereitschaftsstellung ihrer 
Symptome nicht als geheilt zu betrachten, praktisch nicht ge- 
zogen werden darf. 

Die Nachbehandlung besteht darin, daB ich 1—2 Tage (je nach der 
Leichtigkeit oder Schwierigkeit, mit der die Heilung gelang) die Patienten 


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der hysteriformen StOrungen bei Kriegsneurosen. 


207 


Bettruhe innehalten lasse, sie dann eine Woche lang auf dem Saal 
mit allerlei Hantierungen sowie in der Krankenpflege beschaftige und 
sie dann, wenn sie rezidivfrei bleiben, in unsere Arbeitswerkstatten 
schicke, wo sie, je nach Beruf, Ausbildung und Neigung beschaftigt 
werden (verschiedene Handwerke, Gartnerei, Bureauarbeiten), auch 
erhalten die Kranken, nachdem sie solche Arbeiten ohne rflckfallig zu 
werden, gut geleistet haben, einen Urlaub von einigen Wochen. Wenn 
sie auch da weiter rezidivfrei geblieben sind, werden sie entlassen. 
Die Nachbehandlung soli, ganz allgemein gesagt, das Prinzip aller 
Neurosebehandlung im Auge haben, den Mann ins reale Leben zuruck- 
und ihn hier an seine rechte Stelle einzufuhren (Bleuler, Wagner 
v. Jauregg). Die Unterbringung auch dieser „geheilten“ Patienten 
in Fabriken, wo sie je nach ihren praktischen Leistungen bezahlt wer¬ 
den — wohlverstanden solange sie noch in arztlicher Behandlung sind, 
also dem Lazarett noch unterstehen —, ist jetzt —nach Hornbergs 
und Tribergs Vorbild — von mir in die Wege geleitet worden. 

Irgendwie nennenswerte unangenehme Folgen habe ich von der 
Hypnosebehandlung niemals gesehen. Leichter Kopfschmerz, leichte 
Schwindelerscheinungen, Neigung zur Schlafrigkeit am Tage werden 
zuweilen beobachtet, das ist aber auch alles. Insbesondere will ich 
hervorheben, daB von einer ,,Schwachung des Willens“, „Abhangigkeit 
vom Arzte“, „Unselbstandigwerden“ usw. praktisch keine Rede ist. 
Diese Behauptungen konnen wirklich nur aufgestellt werden von sol- 
chen, denen eigene einschlagige praktische Erf ah rung abgeht. Es ist 
selbstverstandlich, daB die ganze Nachbehandlung gerade auf Starkung 
der korperlichen und geistigen Leistungsfahigkeit und besonders der 
Energie gerichtet sein muB. 

,,Wozu“ wurden die Kranken entlassen? Einige wenige Falle 
wurden F. d. f. Ich verfuge hier uber 10 Falle (3,5%), die wieder voll 
felddienstfahig geworden sind, darunter ist ein Leutnant, der # / 4 Jahre 
lang eine funktionelle motorische Hemiplegie gehabt hatte, der an 
den schweren letzten Kampfen vor Verdun teilnahm und dann nach 
sechswochiger Kampfzeit durch einen Volltreffer zu Tode kam, 
3 Patienten, die im Osten wieder an der Front kiimpften und von denen 
einer mit Rezidiv auf meine Abteilung kam, nachdem abermals eine 
Granate unmittelbar neben ihm geplatzt war, ein anderer, nachdem 
er ein schweres Eisenbahnungliick erlebt hatte, wobei es viele Tote 
und Verwundete gab; ein anderer ist wieder an der Front in Flandem; 
die 6 anderen sind wieder an verachiedenen Fronten tatig und berichten 
mir ab und zu tiber Wohlbefinden und erfreuliche Leistungsfahigkeit. 

Eine groBere Anzahl wurde g. d. f., und zwar die meisten nur be- 
dingt g. d. f., nicht wenige wurden a. v. Heimat oder Etappe, die Halfte 
<49%) der Kranken wurde entlassen als d. u., und zwar unter Umgehung 

Z. f. d. g. New. a. Psych. O. XXXVII. 14 


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M. Nonne: t)ber erfolgreiche Sug-gestivbehandlung 


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des Ersatzbataillons gleich in den Beruf. Es entspricht dies einer Emp- 
fehlung, die im AnschluB an die Dezembersitzung im Kriegsministerium 
von der Versammlung der stellvertretenden Korps-Generalarzte erlassen 
wurde und die auf der Uberzeugung beruhte, die die vielseitige und 
kritische Diskussion jener erfahrenen Militarpraktiker gezeitigt hatte, 
daB es in der inneren Natur jener Neurose liegt, daB sie rezidiviert, 
wenn ihre Trager in dieselben oder in ahnliche Verhaltnisse zuriick- 
kommen und daB sie nicht rezidiviert, wenn die Geheilten in ihre zivi- 
len Verhaltnisse zuruckgefiihrt werden. Es entspricht diese Auffassung 
auch der Darlegung Bonhoeffers, mit dem wir annehmen, ,,daB 
hysterische Reaktionen der Psychopathen unbewuBte SchutzmaBnah- 
men sind gegen unerfreuliche und erregende Situationen, und daB es 
sich bei Fixierung dieser Zustande nicht um mehr oder weniger guten 
Willen, sondern um unbewuBte, krankhaft bedingte Vorgange, affekt- 
bedingte BewuBtseinsspaltung handle, die von den Kranken spontan 
nicht wieder zur normalen Verankerung gebracht werden konnen 44 . 
In einer allerjhngsten Verfugung des Kriegsministeriums wird sogar 
direkt vorgeschrieben, daB solche Neurotiker entlassen werden in ihren 
Beruf, und zwar entweder als d. u., oder als a. v. ohne Versorgung. 

Zu derselben tTberzeugung waren auch schon Stier, Goldstein, 
Beyer — um nur einige zu nennen— gekommen. Auch diese entlassen 
die durch Kaufmanns Methode Geheilten als ,,d. u. 44 und stellen sie 
wieder in ihren zivilen Beruf ein. Die Medizinalabteilung des Kriegs¬ 
ministeriums erkennt in ihrer letzten, den Kriegsneurosen gewidmeten 
Verfugung an, daB der praktische Nutzen solcher Heilungen, auch 
wenn sie nicht zur Kriegsverwendbarkeit fiihren, darin lage, daB die 
Lazarettbehandlung auf einige Wochen abgekiirzt wird und daB die 
Kranken wieder arbeits- und erwerbsfahig und von einer Rente unab- 
hangig werden. Ich glaube, daB der Prozentsatz der Heilung noch 
wachsen wird, wenn die Kranken von dieser Verfugung des Kriegs¬ 
ministeriums Kenntnis erhalten werden. Andererseits ist die dadurch 
geschaffene Gefahr des „Fluchtens in diese Krankheit 44 nicht zu ver- 
kennen. Ich habe mir inzwischen noch einmal grtindlich tiberlegt 
und mit mehreren praktischen Kopfen unter den Neurologen bespro- 
chen, „wozu 44 die ,,Geheilten 44 Patienten entlassen werden sollen. Ich 
meine folgendes und stelle das den zustandigen Stellen zur Diskussion: 

Ich halte die generelle Entlassung der Kriegsneurotiker nicht fur 
zweckmaBig, weil sie auf dem Wcge der Massensuggestion (G. Lieber- 
meister) voraussichtlich dazu fiihren wird, daB raanche nur relativ 
Disponierte —d. h. Durchschnittsmensehen —der Erkrankung anheim- 
fallen [,,sich in die Krankheit fliichten 44 (Gaupp)] werden, wahrend 
sie gesund bleiben wurden, wenn sie wissen, daB sie nicht entlassen 
werden. 


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der hysteriformen StOrungen bei Kriegsneurosen. 


209 


Schickt man die erkrankt Gewesenen und von ihren Symptomen 
Befreiten zu den Ersatzbataillonen in der Heimat, so werden sie meistens 
wegen der dort vorhandenen ungiinstigen seelischen Atmosphare leicht 
wieder riickfallig; deshalb halte ich die diesbezugliche Anordnung des 
Kriegsministeriums fur sehr gliicklich. 

Ich wurde nachmeinenheutigenErfahrungendiegeheiltenBewegungs- 
storungenauf funktionellerBasis,soweit sie nicht endogenbelastet 
sind, und nachdem sie einige Wochen hindurch im Lazarett bewiesen 
haben, daB sie subjektiv und objektiv normal bei Beschaftigung und 
bei Arbeit sind, k. v. entlassen mit einer Meldung an den Truppenteil, 
daB etwa wiederauftretende Storungen durch tJbungen — Nachexer- 
zieren — rasch verschwinden werden. Ware mir im Einzelfalle — in 
jedem Falle muB unbedingt individualisiert werden — die Entlassung 
als k. v. zu riskiert, so wurde ich den Fall entlassen als a. v. Armierung, 
ebenfalls mit der Meldung, daB mangelhafter Wille streng zu bekampfen 
ist, oder ihn entlassen als a. v. oder g. f. Feld oder Etappe, mit Beriick- 
sichtigung des biirgerlichen Berufs; in jedem Fall dabei Meldung, daB 
sich rasche Entfemung aus den ungiinstigen Suggestionen des Heimats- 
gebiets empfiehlt. 

Die Anfallshysteriker schwerer Formen werden, wenn endogen be- 
lastet, als kr. u. entlassen; wenn sie nicht endogene Neurotiker sind, 
bei entsprechendem Beruf als a. v. Beruf, wenn moglich Etappe; dabei 
Meldung, daB etwa auftretende Anfalle ganzlich ungefahrlich und 
energisch zu bekampfen sind; diese letzte Form der Entlassung aber 
nur da, wo im Lazarett eine kraftige seelische Umstimmung gelungen 
ist. Ich stimme Liebermeister praktisch zu, wenn er bei der allge- 
meinen Therapie dem Mann das Recht auf hysterische Anfalle nicht 
zuerkennt. Diese Leute zu entlassen als a. v. Beruf Heimat ist nur unter 
Voraussetzung besonderer lokaler und individueller Verhaltnisse rat- 
sam (Landwirte usw.). 

Die Neurotiker, die kr. u. entlassen werden, sind meistens ohne 
Rente zu entlassen, und zwar unter Bekanntgabe, daB sie nicht ein- 
gezogen werden, wenn sie tuchtig arbeiten (Bestimmung des Kriegs¬ 
ministeriums liegt bereits vor), daB sie andemfalls wieder auf meine 
Station zur Behandlung kommen miissen. 

Was die leichten Anfalls-Neurotiker, besonders endogen nicht 
belastete, noch jugendliche, aber liber 20 Jahre alte Individuen be- 
trifft, insbesondere auch die „Imitations-Hysteriker“, so waren diese 
m. E. k. v. oder a. v. Armierung-Feld, wenigstens versuchsweise, zu 
entlassen und zwar mit der Meldung, daB die Leute moglichst rasch 
hinauszuschicken sind und dafl die Anfalle ganzlich ungefahrlich sind. 

Offenbar sind viele hartnackige Zitterer haufig endogen belastet, 
und diese neigen unter der ungiinstigen Heimat-Psychologie besonders 

14 * 


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M. Nonne: Ober erfolgreiche Suggestivbehandlung 


zu Rezidiven. Solche waren m. E. zu entlaseen entweder als kr. u. 
mit der Weisung, daB Wiedereinziehung nur dann, dann aber sofort 
erfolgen wird, wenn der Mann nicht arbeitet oder wenn er rtickfallig 
wird. Eventuell ware es auch angangig, solche Leute g. v. oder a. v. 
Etappe — nicht Heimat, oder a. v. Armierung-Etappe zu entlassen, 
mit der Meldung, daB das Wackeln etwas ganz Ungefahrliches ist und 
durch Ablenkung durch Arbeit verschwindet. 

Aber erst weitere Erfahrungen mtissen zeigen, ob diese theoretisch 
sicherlich berechtigten Entschlusse durch die Praxis sich als berechtigt 
erweisen werden. Eins aber ist zu fordem, daB in den Gamisonen der 
Heimat und in der Etappe die Arzte mit solchen Fallen bekannt sind 
und—nattirlichdemFall angepaBt und in der richtigenWeise—energisch 
auftreten. Es muB allgemein durchgesetzt werden, daB Nervenstorungen 
funktioneller Art nicht an sich mit Renten, Dienstentlassung usw. pra- 
miiert werden; nur daim werden wir die relativ Disponierten, die 
relativ Immunen, d. h. die Durchschnittsmenschen erziehen und damit 
dem einzelnen selbst und der Allgemeinheit einen groBen Dienst leisten. 
Ich hoffe und glaube, daB das zu erreichen sein wird, wenn wir Neuro- 
logen mit der notigen Zahigkeit daran weiterarbeiten — und Anzeichen 
fiir diesen Willen sind da. Wir durfen die jetzt gebotene Moglichkeit, 
auf weiteste Volkskreise erzieherisch einzuwirken, nicht ungenutzt vor- 
iibergehen lassen und haben die Pflicht, auch unsrerseits dafflr zu 
sorgen, daB jetzt, wo alles nach groBeren Rechten ruft, jeder auch das 
Geflihl fiir die damit verbundenen Pflichten bekommt. 

Es ist gesagt worden, daB man mit der Kauf m a n n-Methode und 
der Hypnose-Methode nicht eigentlich heile, sondem daB man nur die 
groben Symptome beseitige. Das ist nur fiir einen Teil der Patienten 
richtig, fiir diejenigen, die schon vorher neuropathisch waren oder die 
durch das psychisch-physische Trauma eine schwere Allgemeinneurose 
erworben haben. Aber ein groBer Prozentsatz der Erkrankten waren 
nur mono- oder oligo-symptomatisch oder — ich mochte sagen — 
lokalsymptomatisch erkrankt, wie es die Falle mit Monoplegien, Mono- 
spasmen, Paraplegien, Stottern, Mutismus, Dysbasie usw. darstellen. 
Solche Patienten sind in der Tat geheilt, d. h. ganz gesund, wenn sie 
von ihren lokalen Erscheinungen befreit sind. Das gilt, wie ich schon 
sagte, zu Recht, trotzdem auch solche Patienten durch Suggestion in 
Hypnose ihre alten Symptome prompt reproduzieren. Ich erwahne das 
im Gegensatz zu der Auffassung von Oppenheim 1 ). Im iibrigen ver- 
weise ich auf das in dieser Beziehung schon Gesagte und die als Beweis 
dafur beispielsweise angezogenen Patientenbriefe. 

Die interessanten und wichtigen Arbeitsversuche von Cimbal und 
Holzmann demonstrieren mit ihren Kurven ad oculos, daB viele der 

>) Neurol. Zentralbl. 1917, S. 378. 


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der hysteriformen Sttirung-en bei Kriegsnearosen. 


211 


,,geheilten“ Neurotiker noch keine normalen Arbeitswerte im Versuch 
produzieren; man soil sich nur htiten, die Resultate solcher Unter- 
suchungen in der Praxis zu hoch zu bewerten; die Erfahrung, die der 
Wiener Kliniker Wenkebach in Warschau (Kriegstagung des Kon- 
gresses ffir innere Medizin 1916) vortrug, zeigen, wie sich objektiv patho- 
logischer Befund und praktische Leistungsfahigkeit durchaus nicht 
zu decken brauchen. Ich bin der Meinung, daB auch hier die t)ber- 
zeugung, wieder leistungsfahig zu sein und arbeiten zu konnen und zu 
miisaen die beste Therapie bzw. den besten Anspom zur Neueinubung 
und damit zur wirklichen Genesung darstellt. 

Ich muB denjenigen Autoren beitreten, die gesagt haben, daB sich 
das Allgemeinbefinden nach Beseitigung der qualenden Krankheits- 
symptome schnell hebt. Es ist auch uns ebenso wie Ollendorf auf- 
gefallen, daB nach der Beseitigung der Symptome die ganze Psyche 
der Kranken oft anders wird: aus dem nervosen, unzufriedenen, reiz- 
baren Mann wird ein leicht lenksamer, zufriedener und williger Mensch. 
Ich muB auch sagen, daB bei meinem Material jener allgemein erreg- 
bare, mit Schlafstorung, Angstzustanden, Traumschrecknissen usw. 
verbundene Zustand nur in der Minoritat eine Rolle spielte. Ich darf 
das jetzt feststellen, nachdem ich seit einiger Zeit eine Rekonvales- 
zentenbaracke habe, in der eine sehr erfahrene altere Oberschwester 
stationiert ist und nach meiner Anweisung genaue Aufzeichnungen 
fiber das Betragen der Patienten untereinander und in der Arbeit 
sowie im Tag- und Nachtschlaf macht. Es bleibt nach meinen Erfah- 
Tungen nur eine kleine Anzahl von Patienten zurfick, von denen man 
sagen kann, daB unter der auBeren Hfille eines normalen Zustandes 
Krampfe, Zittern, Crampi usw. schlummem (Oppenheim); man 
wfirde dies bei fortlaufender klinischer Beobachtung unschwer erkennen. 

Seitdem wir wissen, daB die allermeisten Falle dieser Formen von 
Neurose bei Soldaten durch irgendeine aktive Form der Suggestion 
schnell symptomfrei gemacht werden konnen, dfirfen wir m. E. die 
von Binswanger empfohlene, unter Umstanden sehr lange fortzu- 
setzende psychische Abstinenz (Isolierung usw.) nicht mehr als berech- 
tigt ansehen: Mit Anderung der Erfahrungen andem sich eben auch 
die Ansichten. 

Welche der zwei soeben besprochenen Methoden, die die Symptome 
am schnellsten und im hochsten Prozentsatz beseitigen, verdient den 
Vorzug? Das laBt sich m. E. nicht bindend beantworten. Ffir die 
Kauf mann-Methode spricht, daB sie, wenigstens bisher, den Arzten 
,,mehr liegt“. Ich hoffe, durch meinen heutigen Vortrag — und gerade 
deshalb habe ich ihn in diesem Kreise gehalten, selbst auf die Gefahr 
hin, der Wiederholung von schon mehrmals Gesagtem geziehen zu 
werden — ermuntemd zu wirken, d. h. zu Versuchen anzuregen mit 


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M. Nonne: fiber erfolgreiche Suggestivbehandlung: 


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Suggestion in Hypnose, die sicher zum Teil, wahrscheinlich zum groBen 
Teil Erfolg bringen wiirden. 

Beide Methoden sind durchaus abhangig von der Personlichkeit 
des Arztes, von seiner Stimmung und seiner Disposition, seinem Sieges- 
willen. Fiir beide Methoden ist die suggestive Atmosphare der Abtei- 
lung mit dem Willen zur Flucht in die Gesundheit ein sehr wiinschens- 
wertes und wichtiges Adjuvans. Die Methode der hypnotischen Sug¬ 
gestion hat den Vorteil, daB sie meistens — nicht immer — schneller 
zum Ziele fiihrt, daB sie den Arzt korperlich weniger angreift und daB 
sie absolut schmerzlos ist: das sagten mir alle die auswartigen Kollegen, 
die auf meiner Abteilung morgens der Behandlung mit hypnotischer 
Suggestion und abends der Behandlung nach Kaufmann durch 
Dr. Paschen und Dr. WachsneT beiwohnten. Allerdings ist die Art, 
wie Ollendorf in Roderbirken nach Kaufmann heilt, ebenfalls ganz 
schmerzlos, wirkt ebenfalls schnell und greift die Patienten und den 
Arzt auch wenig oder kaum an. Beide Methoden erfiillen die Forde- 
rung Goethes: ,,Wie machen wir’s, daB alles frisch und neu und mit 
Bedeutung auch gefallig sei?“ 

Bei beiden Methoden bleiben hier und da noch Restsymptome 
zuriick, die noch ,,poliert“ werden miissen. Rezidive habe ich und mit 
mir andere nach beiden Methoden eintreten sehen. Die Nachbehand- 
lung ist bei beiden Methoden im oft geschilderten Sinne dieselbe. 
Endlich sind auch die praktischen Erfolge fur die Militardienstbrauch- 
barkeit bzw. Erwerbsfahigkeit dieselben. Auch Ollendorf, der in 
Roderbirken die modifizierte Kaufmann-Methode mit offenbar ganz 
hervorragendem Erfolge handhabt, ebenso Kehrer und seine Mit- 
arbeiter in Horn berg und. Triberg verlangen fur fast alle Falle 
Entlassung in den Zivilberuf unter Umgehung des Ersatz-Bataillons, 
weil auch sie fiir seine duroh die modifizierte Suggestionsmethode 
erzielten Heilungen den riickfallig machenden EinfluB des milita- 
rischen Kommandos fiirchten. Auch Ollendorf vermag keine 
vollen Erfolge zu erzielen in der Privatpraxis bei Zivilisten; auch 
Ollendorf konstatierte oft die geradezu riihrenden Formen des 
Erstaunens und der Dankbarkeit der akut nach langen Leiden, 
nach langer multipler vergeblicher Behandlung Geheilten: Alles das- 
selbe wie bei den mit hypnotischer Suggestion Behandelten und Ge¬ 
heilten ! 

Wenn man friiher, als bei der Kaufmann-Methode noch die Starke 
des Stromes eine Rolle spielte, Adynamiker, Astheniker, Erethiker und 
Lymphatiker ausnehmen muBte, trifft dies heute, wo die Kaufmann- 
Methode sich (Wollenberg, Mann, Ollendorf, Nonne-Wachsner) 
immer mehr zu einer Persuasionsmethode ausgebildet hat, nicht mehr 
zu. Fiir diese ,,sanfte“ Form der Kauf mann-Methode gibt es m. E. 


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der hysteriformen StCrungen bei Kriegsneurosen. 


213 


heute keine Kontraindikation mehr, ebensowenig wie fiir die Methode 
der hypnotischen Suggestion. 

Ich glaube, daB Ollendorf nicht aus der Erfahrung spricht, wenn 
er sagt: „Viele lassen sich nicht hypnotisieren und schrecken davor 
zuriick, in einem willenlosen Schlafzustand, in dem sie nicht kontrol- 
lieren konnen, irgendwelche ihnen tibersinnlich oder geheimnisvoll er- 
scheinenden Behandlungen an sich vomehmen zu lassen.“ Ich habe 
es nur viermal unter meinem Material von einigen hundert Fallen 
erlebt, daB die Patienten sich geweigert haben; zweimal waren es alte 
Falle mit abgeschlossenem D. u.-Verfahren und Renten, zweimal iiber- 
angstliche Naturen — Feiglinge. Auch kann ich Kehrer nicht zu- 
stimmen, wenn er meint, daB das Indikationsgebiet der Hypnose sich 
besonders „ auf alle empfindsamen und iibererregbaren Hysterosoma- 
tiker“ erstreckt, ,.besonders auf leicht Schwachsinnige mit der charak- 
teristischen Glaubensseligkeit fiir alle mystischen Einwirkungen“. Auf 
meiner Abteilung konnte Kehrer sehen, welche strammen Burschen, 
die nichts von Mystik ahnen, mit Hypnose symptomfrei gemacht wer- 
den. Schwachsinnige — das geben alle Kenner zu — sind meistens 
nicht zu hypnotisieren, weilsie sich nicht konzentrieren konnen. Auch 
Ollendorf hat nicht recht, wenn er sagt, daB die Erfolge der Hyp- 
nosetherapie „nur die Willensschwachen“ aussuchen. 

Ich habe einerseits in einzelnen Fallen noch mit Hypnose Heilung 
erzielt, wo Kaufmann versagt hatte und habe andererseits in meh- 
reren Fallen das Umgekehrte gesehen. 

Es ist gesagt und geschrieben worden, fiir die Ausiibung beider 
Methoden sei unbedingt eine spezialistisch-neurologische Vorbildung 
notig. Dazu kann ich nur sagen: ich sah gelehrte Neurologen ohne 
Erfolg sich abmuhen und habe des ofteren Arzte ohne spezielle neuro- 
logische Ausbildung und Kenntnisse vorziigliche Erfolge erzielen sehen. 
Meines Erachtens sind Energie, personliche Frische und die Kunst 
„den Menschen zu packen“ mehr Vorbedingung als erlemte diagnostisch- 
neurologische Fahigkeiten. Selbstverstandlich spreche ich hier nur von 
der Behandlung, nicht von der Indikationsstellung; denn fur 
eine solche ist Vorbedingung die Differentialdiagnose zwischen orga- 
nischer und funktioneller Erkrankung, und die Schwierigkeit derselben 
hat fiir viele Falle uns alien der Krieg besonders deutlich vor Augen 
gefiihrt. 

Meine Herren, die Auffassung iiber die Berechtigung der Anwendung 
der Hypnose durch Arzte zu Heilzwecken hat sich durch den Krieg 
geandert. Die Alteren unter Ihnen entsinnen sich vielleicht noch, daB 
Ewald in Berlin vor etwa 20 Jahren gelegentlich einer Diskussion 
in der mediz. Gesellschaft sie als „Schaferkunst“ verspottete, daB 
E. Mendel sie ablehnte. Ich will hier zitieren, was unser verehrter 


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M. Nonne: Uber erfolgreiche Suggestivbehandlung 


Kollege Friedrich Schulfcze 1892, also vor 25 Jahren, in einem Vor- 
trage in Bonn sagte: 

„Kurzum: Die Hypnotisierang zu Heilzwecken ist zun&chat uberfliissig, weil 
una andere und beseere Methoden zur Verftigung atehen: aie ist feraer in ihren 
Wirkungen &uBerat unsicher und kann gelegentlich Schaden atiften. Femer hat 
aie den Beigeachmack dea Theatralischen und Komiachen an aich, ao daO aich 
nicht jeder Arzt mit ihr beach&ftigen mag. Sie iat zeitraubend, und endlich 
fiihrt aie im ,gunstigen‘ Falle und zumal, wenn viele Wiederholungen notig aind, 
bei manchen Kranken geradezu zu einer Art von Verdummung und Veraimpe- 
lung, in welchem Zustande aich dieaelben die aonderbarsten Zumutungen und 
Einreden ohne den normalcn Wideratand gefallen lasaen.“ 

1915 sprach ein Hamburger Kollege in der Diskussion tiber meinen 
Vortrag von ,,Degradierung von Arzt und Patient", zwei andere Kol- 
legen sprachen von „Verschlimmerung durch Produktion anderer 
schwerer Symptome von seiten der durch die Hypnose aus dem Gleich- 
gewicht gebrachten Patienten", ,,von Riickfall in die finstersten Zeiten 
der Charcotschen Lehre“, Niessl von Mayendorf im Januar 1916 
von ,,einem gelungenen Schaustiick zum Selbstzweck des einredenden 
Arztes"; Zangger 1 ) sagte im Mai 1916 auf der Jahresversammlung 
schweizerischer Neurologen: 

„DaO die Hintertrcppe der Hypnose bei der Behandlung paychischer Trau¬ 
mata zu empfehlen aei, kann ich peraonlich nicht zugeben, denn der Bicher 
konatatierbaren Eliminierung l&stiger Symptome, dercn man meiatens auch ohne 
Hypnose Herr wird, steht die durchaus unerwunschte und sch&dliche Willens- 
schw&chung des Kranken, meiatens im allgemeinen und sicher dem hypnotiaie- 
renden Arzte gegeniiber da, eine Willensachw&chung, die einer Dauerheilung im 
Wege steht." 

Ich weiB, daB sich ein Teil dieser Herren peraonlich mit Hypnose 
nicht beschaftigt hat, und diese Frage laBt sich eben nur praktisch, 
nicht aber theoretisch oder ,,nach dem Geftihl" entscheiden. Heute 
sagt Birnbaum in einem seiner mit Recht so geschatzten tiberaicht- 
lichen kritischen Sammelreferate: 

,,Die Hypnosebehandlung der Kriegshysterie muB als ein wichtiges. 
weil zweifellos wirksames Agens herausgehoben werden"; Hezel- 
Wiesbaden sagt in seiner Monographic uber die Behandlung der 
Kriegs-Nervenkrankheiten, nachdem er tiber den psychischen Me- 
chanismus des Zustandekommens der Kriegsneurosen gesprochen hat: 

,,Die Hypnose ist mehr als eine andere Methode geeignet, in diesen 
Mechanismus hineinzugreifen und sich an ihn heranzuarbeiten." 

Htibner hat den Kreis der Indikationen fttr die Hypnotherapie in 
seiner Neuauflage der Therapie der Neurosen (Therapie an den Bonner 
Univeraitatskliniken) weiter als frtiher gezogen. M. Lewandowsky 
behandelt die Kriegsneurosen heute „mit Vorliebe" mit Hypnose; in 
der StraBburger psychiatrischen Klinik werden ,,geeignete Falle mit 

1 ) Zangger, Corresp. Blatter fur schweizerische Arzte 1916, Nr. 54. 


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der hysteriformen StOrungen bei Kriegsneurosen. 


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Hypnose behandelt"; dasselbe und von guten Erfolgen ‘berichtet mir 
Stertz von der Breslauer Universitatsklinik, femer, wie schon erwahnt, 
•die Arzte, die aus den verschiedensten Stadten Deutschlands bei mir 
gewesen sind. Nur zwei Beispiele will ich geben, wie heute erfahrene 
und kritische Kopfe fiber Therapie und Prognose dieser Formen von 
Soldatenneurosen denken. Ein Universitatspsychiater schreibt mir, 
nachdem einer der dortigen Arzte eine Zeitlang bei mir gewesen war 
und in Breslau dann therapeutische Erfolge gehabt hatte: „Wenn in 
ganz Deutschland nach den gleichen Prinzipien, an denen Hamburg 
einen so groBen Anted hat, verfahren wfirde, konnte man das Gespenst 
der Neurose zu beschworen hoffen. Aber manchmal hat man das Ge- 
ffihl des Tropfens auf einem heiBen Stein, weil so viele Arzte weder 
genug Kenntnisse noch genug Verantwortungsgeftihl ffir die groBe Auf- 
gabe haben.“ 

Der Leiter einer imserer groBten Landes-Irrenanstalten, seit Be- 
ginn des Krieges als Chefarzt dieser zum groBten Teil zu einem 
Kriegs-Nervensanatorium umgewandelten Anstalt tatig, schreibt: „Kam 
ich schon in der t)berzeugung, daB wir der Kriegsneurose gegentiber 
keineswegs machtlos sind 1 ) und viele, recht viele heilen konnen, so wurde 
es mir bei Ihnen zur GewiBheit, daB mit alien Kriegsneurosen aufge- 
raumt werden kann, wenn nur die Arzte sich dies Ziel setzen und unab- 
lassig verfolgen .. . Ich gehe jetzt wieder weit zuversichtlicher an die 
Hypnose heran.“ Ich zitiere nicht weiter, weil ich glaube, daB eigene 
gunstige Erfahnmgen Sie mehr beeinflussen werden als die Meinung 
anderer fiber den Nutzen der therapeutischen Verwendung der Hypnose. 

Ich glaube, daB mein Material so groB ist, daB dadurch Zufallig- 
keiten ausgeschlossen sind. Man wird angesichts dieses Materials nicht 
mehr sprechen konnen von ,,einer ungewohnlichen Konstellation des 
Materials' 1 oder „einer gesteigerten Suggestibilit&t des Patienten infolge 
einiger besonders frappanter Suggestionserfolge" (Oppenheim). Auch 
die Ansicht von Mohr*) erscheint mir durch mein Material widerlegt, 
namlich daB die guten Erfolge bei Soldaten jetzt im Rrieg weniger 
haufig sind als bei Zivilpatienten, ,,da der unbewuBte innere Wider- 
stand gegen die Genesung haufig eine systematische Behandlung un- 
moglich macht". 

Es sei noch einmal gesagt: Die Hypnose-Suggestion hilft bei den 
psychomotorischen Storungen der Soldaten nicht immer und nicht 
immer restlos, sie ist also keine Panazee, und auch das sei noch einmal 
gesagt: nach der Beseitigung der Symptome durch Hypnose-Suggestion 

*) Derselbe Autor hat schon 1892 (Munch, med. Wochenschr., Nr. 9) in einem 
Aufsatz „zur Behandlung der Hysterie'* bewiesen, daB er mit Suggestivtherapie 
ailch in hartn&ckigen Fallen schone Erfolge hatte. 

*) Therap. Monatshefte 1916, Nr. 3. 


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M. Nonne: t)ber erfolgreiche Suggestivbehandlung 


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ist der Patient nicht gleich zu entlassen, sondem bedarf noch der wei- 
teren Psychotherapie im weiteren und weitesten Sinne, wobei die 
Arbeitstherapie, und zwar ganz im Sinne Wollenbergs, Kehrers, 
Wagner v. Jaureggs und vieler Anderer, die Hauptrolle spielt, und 
auch dariiber mfissen wir uns klar sein, daB der beste Arzt, der defini¬ 
tive Genesung bringt, fiir unsere Falle ein gunstiges Kriegsende ist —, 
wenn nicht etwa die arztlichen Gutachten mit dem Renten- und Ab- 
findxmgskampf wieder Verwirrung schaffen. 

Man hypnotisiere nur so oft wie notig ist, um die Kranken von ihren 
lastigen und sie unfahig machenden Symptomen zu befreien, man 
experimentiere mit den Kranken nicht. Diesen verftihrerischen 
Luxus dtirfen wir uns heute nicht erlauben, wo es nur heilen bzw. 
arbeitsfahig machen heiBt, die Kranken sollen nur dann demonstriert 
werden, wenn es zu Lebrzwecken unbedingt notig ist, auf keinen Fall 
nur „renommandi causa“. Des weiteren: man vergesse nicht, dem 
leicht hypnotisierbaren und suggestibeln Kranken im somnambulen 
Zustand die Suggestion zu geben, daB nur der Arzt, der ihn hypnoti- 
siert hat und keiner sonst ihn beeinflussen konne. Das ist praktisch 
wichtig, und diese Suggestion habe ich in vielen daraufhin nachtrag- 
lich geprttften Fallen immer eintreffen sehen. 

Uber die Erklarurg des Phanomens konnen wir noch nichts sagen. 
Was in den Bibliotheken, die liber Hypnose und Hypnotismus geschrie- 
ben wurden, darfiber gesagt ist, sind Vermutungen, mehr oder weniger 
geistreiche Umschreibungen und Bilder. Wer sich praktisch mit unserm 
Thema beschaftigt, wer die wunderbaren Tatsachen sieht und, wie ich, 
immer wieder von neuem fiber die Macht arztlichen Willens fiber kor- 
perliche Krankheitszustande anderer staunt, kann sich nur trosten 
mit den Worten unseres groBten Dichters: 

Gchcimnisvoll am lichten Tag 

LaBt sich Natur des Schloicrs nicht berauben, 

Und was sie dcinem deist nicht offenbaren mag. 

Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben. 

Die Tatsache des bisher Unerklartgebliebenseins imd vielleicht 
auch der Unerklarbarkeit soli uns aber nicht veranlassen, auf die Wohl- 
taten, die wir durch diese Methode unseren Patienten erweisen konnen, 
zu verzichten. 

Den Unterschied der Auffassung der Prognose funktioneller moto- 
risch-sensibel-sensorischer Nervenleiden zwischen 1915 und heute 
mochte ich so bezeichnen: Damals stand man im wesentlichen unter 
dem Eindruck, daB nur Natur und Zeit heilen bzw. bessem konnten, 
heute heiBt es: der Arzt muB heilen und kann heilen, wenn er es 
richtig anfaBt. Jeder ungeheilt gebliebene Fall muB dem Arzt ein stiller 
Vorwurf sein. Wir sind durch den Krieg in der Behandlung funktio- 


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der hysteriformen Stflrungen bei Kriegsneurosen. 


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neller Nervenleiden mehr edukatorisch und weniger fatalistisch gewor- 
den. Es sollen aber liber die Prognose der Soldatenneurosen nur die- 
jenigen mitsprechen, die selbst aktive Therapie treiben. 

Ich fasse zusammen: 

1. Das Gebiet der therapeutisch seelisch beeinfluCbaren Neurosen bei 
Kriegsteilnehmem ist groBer als friiher angenommen wurde. 

2. Diese For men sind an sich alle heilbar. 

3. Der Arzt soil durch eigene Arbeit die Kranken von ihren Sym- 
ptomen befreien und soli sich fragen, ob, wenn ein Fall ungeheilt bleibt, 
er selbst in irgendeiner Weise versagt hat. 

4. Methoden, die nach xmsem Erfahrungen heute am geeignetsten 
sind, tuto, cito ac jucunde die Kranken zunachst von ihren schweren 
Symptomen zu befreien, sind modifizierte Kauf mann-Methode und 
die Suggestion in Hypnose. Eine Reihe anderer suggestiv wirkender 
Methoden sind in der Hand der mit ihnen Vertrauten ebenfalls durch- 
aus wirksam. 

5. Diejenigen Kranken, die nach Beseitigung der Hauptsymptome 
noch Neurotiker sind, sind nach den bewahrten Grundsatzen der Psycho- 
therapie und Arbeitstherapie im weitesten Sinne unter Zuhilfenahme 
der iiblichen physikalischen Therapie zu behandeln. 

6. Die sicherste Methode, dieHeilung zu ,,fixieren“, ist dieEntlas- 
sung der Geheilten in ihre Berufsarbeit. 

Literaturvcrzeiehnis. 

Bunnemann, Verschiedene Betrachtungsweisen und die Neurosefragc. Monats- 
schr. f. Psych, u. Neurol. 41 , Heft 1. 

Hirschfeld, Zur Be hand lung im Kriege erworbener hyeterischer Zustande ins- 
besondere von Sprachstorungen. Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych. 34 , 
Heft 3/4. 

Kaufmann, Die planmaBige Heilung komplizierter psychogencr Bewegungs- 
storungen bei Soldaten in einer Sitzung. Miinch. med. Wochenschr. 1916, 
Nr. 22. 

Lewandowsky, Zur Behandlung der Zitterer. Miinch. med. Wochenschr. 1917, 
Nr. 16, S. 542. 

G. Liebermeister, t)ber die Behandlung von Kriegsneurosen. Verlag von Mar- 
hold, Halle 1917. 

Mann, Neue Methoden und Gesichtspunkte zur Behandlung der Kriegsneurosen. 

Be rliner klin. Wochenschr. 1916, Nr. 50. 

Mdrchen, Der vorl&ufige AbschluB der Auseinandersetzung liber das Wesen 
der nervosen Kriegsschadigungen. Psych. Neurol. Wochenschr. 18 , Nr. 39/40. 
1916. 

Nonne, Verhandlungen der Wanderversammlung siidwestdeutscher Neurologen. 
Baden-Baden 1915 u. 1916. 

— Vortrag im arztlichen Verein zu Hamburg 1915. 26. November, Diskussion. 

Deutsche med. Wochenschr. 1916. 

— Zur therapeutischen Verwendung der Hypnose bei Fallen von Kriegshysterie. 

Med. Klin. 1915, Nr. 51 u. 52. 


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218 M. Nonne: t)ber erfolgreiche Suggestivbehandlung bei Kriegsneuroseo. 

Ollendorf, Die Wachsuggestion im Dienste der Bek&mpfung der peychotrauma- 
tischen Neurosen. Ein Beitrag zu Behandlung der psychomotorisohen Sto- 
rungen. Arztl. Sach verst.-Ztg. 1917, Nr. 9. 

Paschen, Zur Behandlung funktioneller motorischer Storungen nach Kaufmann. 
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Original fro-m 

UNIVERSITY OF MINNESOTA 



Die Dienstbeschadigung bei nerven- and geisteskranken 

Soldaten. 


In militararztlichem Fortbildungskursus am 2. Mai 1917 

gehaltener Vortrag 

von 

Medizinalrat Wagner, 

Oberarzt der Heil- und Pflegeanstalt GieBen. 

Mit 4 Textfiguren. 

(Eingegangen am 31. Mai 1917.) 

Die Frage der Dienstbeschadigung ist eine praktische Angelegen- 
heit, und wir wollen sie deshalb nach rein praktischen, militararztlichen 
Gesichtspunkten betrachten, Richtlinien aufstellen, nach welchen Dienst- 
beschadigungen anzunehmen und in welcher Hohe die Renten etwa zu 
bemessen sind. Damit ist ohne weiteres die Gliederung dessen gegeben, 
was wir behandeln wollen: Es wird notig sein, die einzelnen einschla- 
gigen Erkrankungen, zunachst die Geisteskrankheiten — erst die or- 
ganischen, dann die funktionellen — und zuletzt die Neurosen zu be- 
sprechen und die maBgebenden Gesichtspunkte zu erortem. 

Es ist selbstverstandlich, dad man die praktischen Folgen einer 
Erkrankung nur beurteilen kann, wenn das Wesen der Erkrankung 
klar ist. Wir miissen demnach auch auf theoretische Erwagungen 
unser Augenmerk rich ten. 

Vorausgeschickt sei die Definition der Dienstbeschadigung bzw. 
der Kriegsdienstbeschadigung. Madge bend ist die Dienstanweisung 
zur Beurteilung der Militardienstfahigkeit, abgekurzt D. A. MDF., 
vom 9./II. 1909. Bei der Dienstbeschadigung handelt es sich entweder 
um eine neu hervorgerufene oder um die Verschlimmerung einer bereits 
bestandenen Krankheit. (MDF. 96.) Eine Rente kommt nur in Betracht, 
wenn eine Erwerbsbeschrankung von 10% oder mehr vorliegt. (MDF. 
120 u. 121.) Es ist dabei nicht zu beurteilen, wieweit der Geschadigte 
noch in seinem eigentlichen Berufe erwerbsfahig ist, sondem wieviel 
er nach seinen Fahigkeiten und Kenntnissen auf irgendeinem Arbeits- 
gebiet verdienen kann. 

Man unterscheidet Friedens- und Kriegsdienstbeschadigung. Die 
Definition der Friedensdienstbeschadigung liegt im Wort, nicht so die 
der Kriegsdienstbeschadigung. 


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Wagner: 


Es sei darauf hingewiesen, daB nicht alles, was im Kriege Krank- 
haftes entstanden ist, ohne weiteres Kriegsdienstbeschadigung iat, 
sondem das Kriegsministerium hat sich der in der Unfallgesetzgebung 
gultigen Auffassung angeschlossen. Dort ist nicht alles, was wahrend 
des Betriebes Krankhaftes sich ereignet ,,Unfall“, sondem es mu6 ein 
,,auBergewohnliches Betriebsereignis“ der Beschadigung zugrunde 
liegen. 

Wenn also beispielsweise ein Arbeiter tagaus, tagein einen Karren 
drQckt und dabei eine Hemie bekommt, so gilt das durchaus nicht 
als Unfall. Wenn aber auf seinem Weg ein Stein — es braucht durchaus 
kein groBer zu sein — als Hindemis vor das Rad des Karrens kommt 
und der Arbeiter eine besondere Anstrengung notig hat, um das Hinder- 
nis zu uberwinden, und nun bei der Anstrengung der Bauchpresse eine 
Darmschlinge hervordringt, so bildet der hindemde Stein ein „auBer- 
gewohnhches Betriebsereignis“ und die Voraussetzungen fur den Unfall 
sind gegeben. Nach gleicher Auffassung hat das Kriegsministerium 
durch Verfugung vom 25./IV. 1916 folgende Bestimmung erlassen: ,,Aus- 
schlaggebend fiir die Anerkennung einer Kriegsdienstbeschadigung 
soil der Umstand sein, dab die Gesundheitsstorung durch die beson¬ 
dere n Verhaltnisse des Kriegeshervorgerufenoder verse hlim- 
mert ist.“ Man hat die verschiedenen Verordnungen dahin zusammen- 
fassend erlautert, daB erst dann Kriegsdienstbeschadigung anzu- 
nehmen ware, wenn Schadigungen eingewirkt haben, die uber die MaBe 
der durchschnittlichen Kriegsstrapazen hinausgehen. An- 
demfalls gelten die Verordnungen der Friedensdienstbeschadigung. 
Fur den einzelnen Fall wird das freihch schwer zu entscheiden sein, 
und es ist klar, daB es sich um einen sogenannten Gummiparagraphen 
handelt. 

Man nimmt an, daB jeder 40. Mann Rentenanspruche hat, wenn 
man bedenkt, daB bis zum Ablauf von 10 Jahren nach dem Friedens- 
schluB Anspruche auf Renten geltend gemacht werden konnen. Wenn 
wir freilich auch durch die enormen Kriegsausgaben den Sinn fur Zahleu 
jetzt fast verloren haben, so werden wir doch im Frieden die Aufbringung 
dieser Betrage empfindlich am Geldbeutel sptiren, und schon aus dem 
Grunde ist es wichtig, die Rentenanspruche arztlich genau zu prufen. 

Gehen wir jetzt zu dem eigentlichen arztlichen Thema liber, so wollen 
wir von den Geisteskrankheiten zunachst die progr. Paralyse und die 
Dementia praecox betrachten. Es ist klar, daB es keine Gehimerwei- 
chung ohne vorausgegangene luetische Infektion gibt. Wenn auch die 
Kriegsparalysen im allgemeinen da, wo sie auftreten, von dem iiblichen 
Lebensalter und der iibhehen Inkubationszeit nicht abweichen, d. h. 
das Leiden durchschnittlich im 40. Lebensjahre und 10 Jahre nach der 
Infektion sich einstellt, so haben wir doch eine Reihe von Fallen ge- 


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Die Dienstbeschadigung bei nerven- und geisteskranken Soldaten. 221 


sehen, in denen auch bei jugendlichen Kriegsteilnehmem und schon 
2—3 Jahre nach der Infektion Paralyse aufgetreten ist. Selbstverstand- 
lich kommt das auch einmal im Frieden vor, doch wir haben es im Kriege 
haufiger gesehen und durchschnittlich einen unheimlich raschen Ver- 
lauf der Paralysen wahrgenommen, bei dem schon in einigen Monaten 
eine schwere korperliche und geistige Hinfalligkeit auftrat. Die er- 
schopfende Ursache der Kriegsstrapazen spielt hier wohl sicher eine 
Rolle, und wir nehmen deshalb bei den Paralysen, wie ich bei friiherer 
Gelegenheit schon einmal streifte, eine Dienstbeschadigung an, wenn 
der Kranke vor dem Eintreten keinerlei krankhafte Erscheinungen 
geboten hat. Wir nehmen die Dienstbeschadigung an, wenn auch der 
Nachweis einer im Frieden zugezogenen luetischen Infektion sicher 
erbracht ist, und glauben bei dieser Handhabung nach der Edinger- 
schen Aufbrauchstheorie auf wissenschaftlichem Boden zu stehen. 

Der Einfachheit halber wollen wir in diesem Zusammenhang eine 
Nervenkrankheit hereinnehmen, die Tabes. Das fur die Paralyse 
Gesagte gilt auch ftir sie. Ihr Verlauf ist durch die Kriegsstrapazen 
haufig ein auBergewohnlich schwerer, und wir nehmen auch bei ihr 
Dienstbeschadigung an, wenn vor dem Einriicken keine tabischen 
Symptome bestanden haben. Wir nehmen sie, wie bei der Paralyse, 
trotz der Feststellung einer friiheren luetischen Infektion an. 

Die Rente wird bei Paralysen fast immer 100% betragen, und ist 
den Kranken, da sie meist fremder Wartung und Pflege bediirfen, 
einfache oder doppelte Verstiimmelungszulage (D. A. MDF. 131 i und 
144 a) zu bewilligen. Bei der Tabes richtet sich die Rente selbst- 
verstandlich nach dem Grade der noch erhaltenen Erwerbsfahigkeit. 

An die Spitze der Erorterungen uber die Dementia praecox mochte 
ich den fur die Psychiatrie zur Zeit allgemein giiltigen und auf der Kriegs- 
tagung der Psychiater in Miinchen im September 1916 mit Recht wieder 
betonten Leitsatz stellen: „daB korperliche Erschopf ungen und 
gemiitliche Erschutterungen keinen wesentlichen EinfluB 
aufdieEntstehung eigentlicher Geistes krankheiten haben.“ 
Man geht so weit, daB man damit auch die Erschopfungspsychose ab- 
lehnt, in dem Sinn, daB die Erschopfung als solche keine Psychose 
hervorruft. Auf die Dementia praecox angewandt, ist demnach die Frage 
der Auslosung derselben oder, um einen gleichbedeutenden Ausdruck 
anzuwenden, die Frage der Auslosung schizophrener Zustande, durch die 
Kriegsereignisse vemeint. Danach wiirde keine Dienstbeschadigung 
vorhanden sein, wenn nur vorliegt, daB die Dementia praecox im Felde 
entstanden ist. Immerhin nimmt sich die Sache in der Praxis anders 
aus, und wir mussen, um eine brauchbare Richtlinie zu finden, an das 
Wesen der Dementia praecox erinnem. Sie entsteht durch Stoning 
der inneren Sekretion mit Abbauvorgangen im Abderhaldenschen 


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Wagner: 


Sinn. Dabei ist es nun theoretisch sehr wohl denkbar, daB nebenher- 
laufende oder vorausgegangene, Korper und Geist destruierende Vor- 
gange den Abbau beschleunigen bzw. den ersten AnstoB dazu geben. Es. 
hat auch Weygandt darauf hingewiesen, daB wir im Frieden gelegent- 
lich durch Puerperium und durch Haft Schizophrenien ausgelost sehen. 
Auch an die Entstehung von Dementia praecox nach Kopfverletzung 
erinnere ich. Aus solchen Erwagungen heraus nehmen wir bei Dementia 
praecox deshalb auch dann Dienstbeschadigung an, wenn, wie bei der 
Paralyse und Tabes, der Betreffende vor seiner Einstellung keine Krank- 
heitszeichen geboten hat. Zu dieser Art der Beurteilung sind wir all- 
mahlich ubergegangen, nachdem wir anfangs an dem vorgetragenen 
wissenschaftlichen Dogma der Ablehnung festhielten, die Militar- 
behorden sich aber unserem Urteil nicht anschlossen, sondem trotzdem 
eine Rente bewilligten. Offenbar lauft es dem RechtsbewuBtsein des 
Laien zu wider, daB jemand, der gesund in den Krieg zog, ftir eine 
in demselben erworbene schwere Erkrankung keine Entschadigung 
erhalten soil. 

Die Hohe der Rente richtet sich ganz nach dem Grade der Erwerbs- 
fahigkeit, mit der jemand aus einem, im Kriege aufgetretenen Krank- 
heitsschub hervorgegangen ist. Bekanntlich handelt es sich bei Dementia 
praecox um einen fortlaufenden Schwachsinnsprozefi, der in der Regel 
in einzelnen Krankheitsschuben verlauft, die sich auf viele Jahre ver- 
teilen konnen und in deren Zwischenraumen sehr wohl eine Arbeits- 
fahigkeit erhalten sein kann. Freilich tritt nach jedem Schub eine Ni- 
veausenkung des Intellekts ein, die im gtinstigsten Falle anfangs so 
gering sein kann, daB sie fast einer Heilung gleich kommt. Die Hohe 
der Rente richtet sich demnach nur nach dem Grade der Erwerbsfahig- 
keit, der bei der Erkrankung nach dem Kriegsschub vorliegt. Ware 
der Betreffende also nahezu geheilt, so wtirde er keine oder nur eine 
sehr geringe Rente bekommen. Diese konnte beim Auftreten neuer 
Schiibe im Laufe der Jahre niemals erhoht werden, weil das Auftreten 
dieser neuen Krankheitsphasen aus rein inneren Ursachen, unab- 
hangig von dem ersten, wahrend des Krieges stattgehabten, Krankheits- 
anfall, bewirkt wird. 

Bei der letzten zu besprechenden organischen Erkrankung, bei der 
Epilepsie, ist deren Auslosung bei friiher gesunden Menschen durch 
Feldzugsemotion nicht nachgewiesen. Eine deutliche Anlage hat sicher 
vorher bestanden, wenn der erste Anfall im Feld auf tritt, dagegen 
sind reaktive Anfalle moglich. Es ist klar, daB, wenn vorher nur ganz 
seltene Anfalle bestanden haben, die durch Kriegsstrapazen haufiger 
geworden sind, die Verschlimmerung eines bestandenen Leidens statt- 
gefunden hat und dadurch das Recht auf Entschadigung besteht. 
Die Hohe der Rente richtet sich danach, wie weit der Betreffende in. 


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Die Dienstbeech&digong bei nerven- and geisteskr&nken Soldaten. 223 

seinem frfiheren Beruf wieder verwendbar ist. Dabei darf nicht unbe-i 
rftcksichtigt bleiben, dafi bei der Rflckkehr in die ruhigen bQrgerlichen> 
Verhaltnisse die Zahl der Anf&lle sioh voraussichtlich bald auf das ehe- 
malige geringe Mafi wieder einstellen wird, so dafi man eine Nachr* 
untersuchung nach etwa 6 Monaten empfehlen mafi. Freilich fflhreh 
sehr gehaufte Anfalle, namentlich die ein dutzendmal und noch mehr 
am Tage auftretenden sogenannten Absencen, manchmal rasch eind 
Verblodung herbei, die natfirlich nicht wieder zurQckgeht und eine 
hohere Rente verlangt. 

Der Vollstandigkeit halber sei noch die Reflexepilepsie erwahnt.. 
Es sind vorzQglich Verletzungen an den peripheren Teilen der Extremis 
taten, wie Hand, Fufi, oder Narben mit sonstigem Sitz, die krampf- 
erzeugend wirken. Selbstverstandlich liegt auch hier Dienstbeschadigung 
vor und die Hohe der Rente richtet sich nach der Arbeitsfahigkeit.. 
Schliefilich sei noch betont, dafi in seltenen Fallen auch lediglich durch 
Gemfitserschtltterung, namentlich Schreckzustande, Krampfe von klini- 
schem Aussehen der genuinen Epilepsie entstehen konnen, sogenannte- 
Affektepilepsien. Unter den 1700 Nervenkranken, die unser Lazarett 
bis jetzt passiert haben, ist uns nur ein derartiger Fall aufgestofien.. 

Als Dbergang zu den funktionellen Storungen seien hier kurz ge- 
nannt: 1 

1. Die Erschopf ungszust&nde; sie prasentieren sich im wesent- 
lichen als peychisch-motorische Hemmungen. Wenn die Rranken' 
8—14 Tage sich ausgeschlafen haben, werden sie allmahlich freier und 
gesunden durchweg. Eine Rente kommt nicht in Betracht. 

2. Die neurasthenisch -hypochondrischen Symptomen- 
bilder. Es handelt sich um erbliche Belastungen mit meist schlechter 
Prognose. Eine Rente, deren Hohe sich nach dem Grade der Erwerbs- 
fahigkeit richtet, kommt, als durch Verschlimmerung eines bestehendem 
Leidens bedingt, in Betracht. 

Wir wenden uns nun zu den funktionellen Geisteskrankheiten: 
Es sei daran erinnert, dafi man unter organischer Erkrankung jede 
anatomisch nachweisbare krankhafte Veranderung des Nervensystems 
versteht. Im Gehira- und Riickenmark ist die organische Erkrankung 
in der Regel auch eine unheilbare, weil das Zentralnervensystem, zum 
Unterschied von den peripheren Nerven, keine nennenswerte Regenera- 
tionskraft besitzt. Funktionelle Erkrankung heifit die anatomisch 
nicht oder noch nicht nachweisbare Krankheit, deren materielle, 
physikalisch-chemische Grundlage unbekannt ist (Gaupp). 

Bei den funktionellen Geisteskrankheiten des Erieges sind die 
manisch- depressiven an erster Stelle zu nennen, also die Manien und' 
Melancholien. Wiederum ist man sich in der Psychiatric darfiber einig, 
dafi die leichtere Ausloeung ihrer Zustande durch Emotion nicht 

Z. f. <L g. Near. u. Psych. O. XXXVH. 25 


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224 


Wagner: 


festgestellt ist, dafi bei manisch -depresei vem Irresein exogene Ursachen, 
namentlich der Kriegsdienst, ohne atiologische Bedeutung ist. 

Wenn auch dieser Lehrsatz im allgemeinen sicher richtig ist, so 
bedarf doch der Einzelfall der besonderen Beurteilung. Es lafit sich 
eben in der Medizin nicht alles ausnahmslos in Sohubladen und Bubriken 
unterbringen. Wir sehen auch im Frieden einzelne manisch-depressive 
Anfalle an sehwere korperliche oder seelische Schadigungen sich an- 
schlieBen, sei es an sehwere korperliche Strapazen, an Wochenbetten 
oder an besonders traurige Ereignisse oder langer anhaltende Sorgen 
im Kampf urns Dasein. Bedenkt man, daB man dem ersten derartigen 
Anfall, der bei einem Individuum auftritt, nicht das geringste Kenn- 
zeichen dafiir ansehen kann, ob und wann im Laufe des Lebens weitere 
Anfalle eintreten, ob sich dieselben im giinstigsten Falle nur auf die- 
jenigen Lebensabschnitte beschranken, die iiberhaupt fiir das Auf- 
treten von Geisteskrankheiten — also die Entwicklungsjahre, die In¬ 
volution in den 40er Jahren (sowohl bei Mannern wie bei Frauen) 
und das Senium —, pradisponieren, so ist wahrscheinlich gemacht, 
daB bei den einmal belasteten Menschen auBere Schadigungen den An- 
stoB zu neuer Erkrankung liefem konnen. Wir haben deshalb auch bei 
dem Auftreten eines solchen Anfalles wahrend des Krieges Kriegsdienst- 
beschadigung angenommen. Da der einzelne Anfall in der Begel eine 
gtinstige Prognose hat und der Geheilte dieselbe Arbeitsfahigkeit wie friiher 
besitzt, kann sich die Rente naturgemaB nur auf die Zeit der Erkrankung 
— im Durchschnitt 9 Monate — beziehen, so daB nach Ablauf dieser Zeit 
eine Nachuntersuchung und die Entziehung der Rente notwendig ist. 

An zweiter Stelle ware bei den funktionellen Geisteskrankheiten 
die groBe Gruppe der paranoiden Zustande zu nennen, d. h. 
der akuten, halluzinatorischen, mit Wahnideen einhergehenden Er- 
krankungen, die namentlich auf degenerativem Boden als episoden- 
hafte Geistesstorungen mit guter Prognose auftreten. Hier spielen die 
exogenen Ursachen, also in unserem Fall die Kriegsereignisse, neben 
der Disposition, eine wichtige Rolle. In der somatischen Medizin setzt 
man Disposition zu einer Krankheit und deren wirklichen Ausbruch 
durchauB nicht gleichwertig, sondem weiB durch eine wirksame Prophy- 
laxe das Entstehen der Erkrankung hintanzuhalten. In der Psychia¬ 
tric ist man noch nicht so weit. Man kann auch hier nur sagen, daB bei 
einer groBen Reihe der eben genannten paranoiden Falle durch Ver- 
meiden der auBeren Schadlichkeiten die episodenhafte Geistesstdrung 
•nicht aufgetreten ware. 

Bei diesen im und durch den Krieg ausgebrochenen Erkrankungen 
liegt naturlich Dienstbeschadigung vor. Die Rente ist auch nur fur 
die relativ kurze Zeit des Krankseins zu bemessen. Man tut deshalb 
gut, eine Nachuntersuchung etwa in 6 Monaten zu empfehlen. 


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Die Dienstbeschadigung bei nerven- und geisteskranken Soldaten. 225 

Derartige akute paranoide Zustande mit vortkbergehenden Hallu- 
zinationen und Wahnideen habe ich bei unseren Kriegsteilnehmem 
auf neurasthenischer Basis, gewissermaBen als potenzierte Neurasthenie, 
haufiger gesehen, allemal mit guter Prognose. Bei diesen war erst recht 
klar, dafi der Krieg als aufiere Schadigung ursachlich anzusprechen 
und demgemaB eine Dienstbeschadigung anzunehmen war. 

SchlieBlieh kann auch einmal wahrend des Krieges eine originate 
Paranoia manifest werden. Selbstverst&ndlich handelt es sich dabei 
um erblich belastete, miBtrauische und Sonderlingscharaktere, deren 
seit langem bestehende Erkrankungen durch die machtige Einwirkung 
des Krieges einen Vorschub bekommen haben. Waren die Betreffenden 
vorher voll arbeitsfahig und konnten sie sich in die biirgerlichen Ver- 
haltnisse einordnen, so wird man nicht umhin konnen, ftir die Dauer 
der starkeren Erkrankung eine Dienstbeschadigung anzunehmen, doch 
ist vorauszusehen, daB dieselben in den biirgerlichen Verhaltnissen 
trotz ihrer Schrullen bald wieder ihre friihere Erwerbsfahigkeit erhalten, 
so daB auch hier eine Nachtmtersuchung in etwa 6 Monaten zu empfehlen 
ist. In vielen Fallen wird man die Rente dann entziehen konnen, da der Be- 
treffende in seinem Zustande wieder so ist, wie er vor der Einstellung war. 

Damit hatten wir die Frage der Dienstbeschadigung bei den haupt- 
sachlichsten, hier in Betracht kommenden Formen der Geisteskrank- 
heiten erschopft. Es sei hervorgehoben, dafi die Geisteskrankheiten 
iiberhaupt nur einen ganz geringen Prozentsatz in der Zahl der Kriegs- 
erkrankungen darstellen. Auch bei diesem geringen Prozentsatz kommt 
eine Dauerrente nur bei den Paralysen und zum Teil bei Dementia 
praecox vor, wahrend bei den fibrigen, den epileptischen, manisch- 
depressiven und paranoiden Zustanden in den meisten Fallen nur eine 
ffir die Dauer der einzelnen, im Kriege entstandenen Phase bemessene 
Entschadigung in Frage kommt. 

Wir wenden uns nun zu der grofien Gruppe der Kriegsneurosen. 

Wenn wir in dem eben behandelten Abschnitte aus praktischen 
Grfinden den von der Wissenschaft aufgestellten Lehrsatz, daB die 
aufieren Kriegsbeschadigungen keine atiologische Bedeutung fiir das 
Zu8tandekommen der Geisteskrankheiten hatten, in mancherlei Hin- 
sicht modifizieren muBten, so sehen wir umgekehrt hier bei den Neu¬ 
rosen, daB die Wissenschaftler fiber das Wesen derselben nicht ganz 
einig sind, wohl aber die Praktiker. Diese stimmen daher dem auf 
der schon einmal erwahnten Kriegstagung der Nervenarzte und Psych¬ 
iater in Mfinchen von der Mehrheit aufgestellten Leitsatz aus vollem 
Herzen zu, der da lautet: „Den Neurotikern iiberhaupt keine 
Rente.* 4 Es erscheint das fttr den ersten Augenblick grausam imd ab¬ 
surd. Wir werden aber sehen, daB das sowohl sachlich richtig, wie ffir 
den Kranken das Beste ist. 

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226 Wagner: 

Die Grundbedingung zu dieser Handhabung ware, daB das Gesetz 
dazu die Erlaubnis gibt. 

Auf der Munchner Tagung der Nerven&rzte und Psychiater wurde 
vorgetragen, daB nach MDF. Anlage 5, Ziffer 6 c ihrer Natur nach vor- 
iibergehende Storungen — und bei dem Gros der Hysteriker handelt 
es sich um vorfibergehende Storungen — eine Dienstbeschadigung 
(innere) nicht bestande. Diese Anlage ist jedoch durch das Militar- 
versorgungsgesetz (M. V. G.) vom 31./V. 1906, das die Verhaltnisse 
neu regelt, hinfallig geworden. Das M. V. G. macht keinen Unterschied 
zwischen dauemden oder vorubergehenden Gesundheitsstorungen, zwi- 
schen auBerer und innerer Dienstbeschadigung. 

Vom arztlichen Standpunkt aus ware es in der Neurosenfrage be- 
quemer, man konnte die D. B. mit der Begnindung ablehnen, es handle 
sich nur um vorfibergehende Storungen. So bleibt nichts anderes hbrig, 
als zwar eine D. B. anzunehmen, aber bei den inzwischen Geheilten 
oder nahezu Geheilten die Folgen derselben zu vemeinen. Damit ist 
ja ebenfalls eine Rente hinfallig. 

Nach diesen rein technischen Erorterungen wenden wir uns zu den 
arztlichen. 

Neurosen heiBen die funktionellen Erkrankungen des Nervensystems, 
gleichgultig ob korperlicher oder seelischer Herkunft. Ein Teil der 
Neurosen ist seelisch verursacht, nicht bloB ausgelost, also psychogen. 
Die Wege der Wirkung des Seelischen auf das Korperliche sind un- 
bekannt und letzten Endes unerkennbar (Gaupp). 

Es sollen hier nur zwei Hauptgruppen betrachtet werden, die Neur- 
astheniker und Hysteriker. Zunachst die Neurastheniker. Der Krieg 
hat bewiesen, daB auch in bezug auf das Nervensystem bisher voll- 
wertige Individuen einen neurasthenischen Symptomenkomplex er- 
werben konnen. Wie jede vitale Kraft, so ist auch die Neryenkraft 
eines jeden erschopfbar, und es kommt nur auf die Wucht und die Dauer 
der Schadigungen an, in welcher Zeit dies vor sich geht. Die Neurasthenic 
ist somit die normale Ermttdungskrankheit eines gesunden Menschen. 
Einmaliges Trauma kann keine Neurasthenic hervorrufen, wohl aber 
Trommelfeuer, der schleichende Faktor chronischer, emotioneller 
Ursachen, wie sie der Krieg tagtaglich mit sich bringt, und das passive 
Aushalten in monatelangem Stellungskampf. Ob die Beschwerden 
neurasthenisch, endogen-psychopathisch oder hysterisch sind, mufi 
aus dem Gesamtbild geschlossen werden. Nicht ein einziges Krankheits- 
zeichen ist absolut beweisend. Wimderheilungen gesohehen bei Neur¬ 
asthenic nicht. Dagegen ist es klar, daC in weitaus den meisten Fallen 
bei einem frOher gesunden Menschen restitutio ad integrum bei ge- 
eigneter Pflege eintritt, genau so, wie man einen durch Hunger Herunter- 
gekommenen wieder auffiittem kann. Eine Dauerrente wild daher 


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Die Dienstbesch&dignng bei nerven- und geisteskranken Soldaten. 227 


bei Neuraethenikem kaum in Betracht kommen. Es wild sich nur am 
erne mehr oder weniger lange Rentenunterstutzung handeln. 

Bei der Hysterie liegen die Verhaltnisse nicht so einfach. Es 
stehen sich bei der Erklarung des Wesens der hysterischen Neurosen 
zwei Anschauungen gegenfiber, die man gewohnt ist, mit den Namen 
der beiden hervorragenden Nervenarzte Oppenheim und Nonne 
zu verknupfen. Oppenheim hat bekanntlich den Begriff der trauma- 
tischen Neurose aufgestellt. Nach Oppenheim schlieBt der Begriff 
des Traumas die psychische und mechanische Erschfitterung ein. Beide 
konnen dieselben Funktionsstorungen im Zentralnervensystem hervor- 
rufen. Danach soil ein rein psychisches Trauma materielle, molekulare 
Veranderungen im Zentralnervensystem verursachen. Er nimmt also 
organische Veranderungen im Zentralnervensystem an. Es ist klar, 
von welcher hervorragenden Bedeutung diese Auffassung fiir die Frage 
der Dienstbeschadigung ist. 

Denn wenn jemand eine organische Lasion im Zentralnervensystem 
erworben hat, mufi ihm unter alien Umst&nden eine Rente zustehen. 
Nonne dagegen, und mit ihm das Gros der Arzte, halt die Annahme 
organischer Veranderungen irgendwelcher Art im Zentralnervensystem 
in solchen Fallen fiir nicht berechtigt. 

Es war ein asthetischer GenuB, auf der mehrerwahnten Kriegs- 
tagung in Miinchen 1916 diese beiden Manner mit ihrer feinen Dialektik 
sich gegentiberstehen zu sehen. Oppenheim hat manches Gewichtige 
vorgebracht, wovon wohl die Tatsache das Einleuchtendste war, daB er 
bei einwandfreien hysterischen Lahmungen schwere trophische Storungen 
und Knochenatrophien ad oculos demonstriert hat. Und doch ist der 
Praktiker nicht einen Augenblick im Zweifel, daB es sich mu* um funk- 
tionelle Storungen handelt. 

Es seien hier nur zunachst die bekannten Einwirkungen der Psyche 
auf das Somatische, namentlich den GefaBapparat, gestreift: das Er- 
roten, das Schwitzen vor Angst, das Herzklopfen, femer das Zittem 
und Gelahmtsein durch Schreck. Jeder kennt die mitunter hochgradigen 
Inaktivitatsatrophien hysterisch gelahmter Glieder. Da alle diese Sto- 
rungen von seiten des GefaBapparates und die Lahmungen blitzschnell 
verschwunden sein konnen, denkt niemand an organische Storungen. 
Dafi allein durch die Ruhigstellung eines Gliedes und die dadurch hervor- 
gerufene geringere Zufuhr von Blut imd von Nahrungsstoffen Ab- 
magerung von Muskulatur und selbst von Knochen der betroffenen 
Teile eintreten kann, nimmt nicht wunder: diese brauchen nattir- 
lich nach Aufhebung der Bewegungshinderung langere Zeit zur Resti¬ 
tution. 

Wie eigenttimlich die Wirkungen des Seelischen auf das Korperliche 
sein konnen, ist aus folgenden 3 Fallen ersichtlich: 


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228 


Wagner: 


1. August M. Hysterische Contractor des linken M. tibialis anticus. Dadurch 
steht der linke FuB in Adduction und sein innerer FuBrand ist gehoben (Fig. 1). 
Entstehung durch Weichteilwunde am Oberschenkel und Verschuttong seit acht 
Monaten. 

Im friiheren Lazarett hat man ihm schon einen orthopadischen Stiefel gemacht. 
Die Behandlung hier ist noch nicht abgeschlossen. In &hnlichen Fallen von hyste- 
rischen Muskelcontractoren, z. B. des Quadriceps und dadurch Versteifung des 
Beines in gestreckter Haltung im Kniegelenk, bin ich bei Veraagen anderer Methoden 
dadurch zureehtgekommen, daB ich in den kontrahierten Muskel eine Injektion 
von 7 Strichen einer 1-ccm-Spritze mit Scopolamin- (2°/oo) und Morphium- (2%> 
Losung zu gleichen Teilen machte = 0,0007 Scopolamin und 0,007 Morphium. 
Dadurch lost sich die Spannung und der Kranke kommt in leichte Benommenheit. 
Man kann dann das Glied redressieren, hier den FuB geraderichten. Sofort muB 
man nun den FuB in der gewollten Stellung durch Gipsverband oder das Knie 
durch rechtwinklig gebogene Schienen fixieren. Wacht der Kranke auf und sieht 
den FuB in richtiger Lage, bzw. das vorher steife Knie gebeugt, so ist schon viel 
gewonnen. Es empfiehlt sich nun, in Hypnose zu suggerieren, daB die normale 
Bewegungsfahigkeit vorhanden ist. Auch l&Bt man am besten zur Voraicht zirka 
lOTage den Verband liegen, lockert ihn allm&hlich und laBt innerhalb desselben 
Bewegungen ausfiihren, ehe man ihn ganz abnimmt. 

2. S. Junger Mann aus gesunder Familie; fleiBiger Mensch. Er hat im Feld 
dadurch einen groBen Schrecken erlitten, daB die Patronen, die er bei sich trug, 
explodierten und um ihn herumsausten. Nur eine verletzte ihn leicht am auBeren 
Achselrand. Zugleich wurde seine rechte Hand und sein rechter Arm pulver- 
geschwarzt und oberfl&chlich verbrannt. So oft nun der Mann in der War me ist, 
erinnert sich, um bildlich zu sprechen, der Arm gewissermaBen der Katastrophe, 
die Hand fangt machtig zu schwitzen an, daB die Tropfen herunterfallen, genau, 
wie wenn jemand aus Angst plotzlich an der Stirn zu schwitzen anfangt, und S. 
hat ein brennendes Gefiihl an der Hand und am ganzen Korper, daB er die Arbeit 
aussetzen muB. Im Freien, wenn die kiihle Luft ihn umweht, ist normales Ver- 
halten und voile Erwerbsfahigkeit vorhanden. Zugleich besteht eine Innervations- 
entgleisung. Der Mann kann die Hand nicht anders dorsal flektieren, als wie Fig. 4 
zeigt. Die Hand ist in einer Art Krallenstellung, obschon die Bewegungsfahigkeit 
der Finger vollig normal ist. Sobald die Hand dorsal flektiert werden soil, fiihlt 
man sofort auf der Beugeseite ebenfalls Muskelkontraktion. Offenbar hatte die 
Hand im Moment der Katastrophe irgendeine ahnliche Haltung, wie die nun stets 
beim Verauch, die Hand zuriickzubiegen, zwangsweise eintretende Krallenstellung. 

Der Mann ist noch in Behandlung. 

3. K. Bei dem Patienten war eine Mischung von organischer und hysterischer 
Lahmung an ein und demselben Glied, dem linken Arm, vorhanden. Er war durch 
Verschuttong bewuBtlos und hatte einen leichten linksseitigen Schlusselbeinbruch 
erhtten, der ohne Behandlung heilte und erst spfiter entdeckt wurde. Als er zu 
sich kam, hing der linke Arm schlaff herunter. Der Mann kam nach 2 Monaten 
aus einem Lazarett Frankfurts, das einen Nervenarzt als konsultierenden Arzt 
hatte, mit der Diagnose „Plexuslahmung“ ins hiesige Lazarett. Wahrend der 
linke Unterarm nicht ganz bis zum rechten Winkel gebeugt werden konnte und die 
Finger und Hand keine Storungen zeigten, waren alle weiteren Bewegungen im 
EUenbogen oder am Schultergelenk unmdglich. Der Oberarm hing schlaff herunter. 
Die Schultermuskulatur, namentlich M. infra- und supraspinatus und Deltoideus 
und die gesamte Armmuskulatur waren erhebhch gcringer als rechts, der Umfang 
am Oberarm 2 cm, am Unterarm 3 cm geringer als rechts. Die elektrische Prufung 
ergab keine Differenzen. Ich behandelte einmal nach Kaufmann und sofort 


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Die Dienstbeschadigung bei nerven- und geisteskr&nken Soldaten. 229 


wurden alle Bewegungen im Arm ausgefiihrt, nur konnte der Oberarm nicht ganz 
bis zur Senkrechten gehoben werden. Auch ist entsprechend der MuskelatrophtB 
die grobe Kraft herabgesetzt. An der Schulter besteht demnach eine organische 
L&sion, indem durch den Schliisselbeinbruch die Fasem des Plexus, die als N. supra- 
Bcapularis den Muscul. supra- und infraspinatus und als N. axillaris den Deltoidens 
innervieren, gesch&digt worden sind. 

Die Lahmung setzt sich demnach a us 2 Summanden zusammen, einem 
organiichen und einem psychogenen. Durch Kaufmann wurde der hysterische 
Summand der L&hmung entdeckt und aufgehoben, und es restiert nur nocb 
die geringe organische Stoning. Die Atrophie der Schultermuskulatur ist orga¬ 
nise!), die des Armes ist psychogen bestimmt. 

Fall 1 und 3 zeigen, wie kompliziert oft der Einflufi der Psyche aul 
die Korpersphare ist, Fall 2 erweist gerade den fundamentalen Gegen- 
satz zwischen organischer und funktioneller Stoning. 

Die funktionelle Natur der kriegsneurotischen Schaden geht auch 
noch aus anderen Erwagungen hervor. 

Geht man bei unseren Zitterem den angegebenen Erschiitterungen 
durch das nahe Einschlagen einer Granate oder den Verachiittungen 
skeptisch zu Leibe, so findet man oft, dafi die Granate so weit entfemt 
einschlug, dafi bei vielen die direkten Einwirkungen des Luftdruckes 
und dessen, was sonst angeschuldigt wird, ausgeschlossen sind. Auch 
die Verschiittung bestand ofters nur darin, dafi einige Erdschollen auf 
den Mann fielen. Ja, wir sehen genau dieselben Zittererscheinungen 
entstehen nach Krankheiten, femer bei Leuten, die niemals eine Kugel 
gehort oder gesehen haben, die nur auf dem heimischen Kasemenhof 
von einem Vorgesetzten stark angeschrien worden sind. Ja ich habe 
die ganze hysterische Skala mit Tremor, Astasie und Abasie, und wie 
die schonen Namen alle heifien, bei einem Rekruten am ersten Tag seiner 
Einziehung lediglich durch das Einkleiden in die Uniform entstehen 
sehen. Wenn man nun auch annimmt, dafi der ausbildende Unter- 
offizier noch so sehr den Mund aufreifit, so kann man doch unmoglich 
glauben, dafi durch den Luftdruck seines lauten Redens molekulare 
Erschiitterungen bei den Soldaten hervorgerufen werden kdnnen. 

Selbstverstandlich kommen auch wirkliche Kommotionsneurosen 
vor. Sie heifien dann Commotio, Contusio oder Compressio cerebri 
oder medullae im Sinn der bekannten himpathologischen Lehren. 
Es sind das natiirlich organische Leiden des Zentralnervensysterns 
mit den organischen Folgeerscheinungen allgemeiner oder umschrie- 
bener Him- und Riickenmarksschadigungen. Diese Falle sind, abge- 
sehen von der Shockwirkung, die vielfach todlich endet, selten. Wir 
haben bei unseren 1350 Neurotikem nur einen solchen gesehen, der 
unter dem Bilde einer traumatischen Bulbarparalyse sich bei uns ein- 
steUte. 

Diese ,.Kommotionsneurosen* ‘ sind naturlich eine Gruppe flir sich 
und haben mit den hysterischen Neurosen nichts gemein. 


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230 


Wagner: 


Die Kriegsneurose stellt nur eine unbewuflte Abwehr gegen den 
Kriegsdienst dar, und sie ist weiter nichts als eine krankhafte Fixation 
yon Ausdrucksbewegungen der Angst, des Schreckens und der Abwehr, 
wie sie bei normalen Menschen im ersten Moment der Einwirkung auf- 
treten. Auch der normale Mensch ist zun&chst erschreckt, wie gelahmt, 
duckt sich, zittert, macht Abwehrbewegungen. Erst die Fixation dieeer 
Erscheinungen ist das hysterisch Krankhafte. Wir dlirfen uns nicht 
wundem, daB die Zahl der Kranken eine so groCe ist. Uns alien ist 
eben die Erinnerung an derartige Abwehrbewegungen als eine alte 
biologisch vererbte Schutzvorrichtung, die latent bei uns bereit liegt, 
angeboren und kann durch katastrophale Ereignisse hervorgeholt 
werden! Wir alle sind suggestibel — darauf beruht ja die Moglichkeit 
der Erziehung der Menschen — und deshalb alle mehr oder weniger 
latent hysterisch! 

Wenn es sich bei den meisten Hystero-Neurotikem auch um die 
pathologische Beaktionsweise weichlicher Menschen handelt, wobei der 
Konflikt der Pflicht mit den anders gearteten Wtinschen auslosend 
wirkt, so hat doch der Krieg gelehrt, daB Hysterie auch bei bisher 
Vollwertigen nicht selten ist. Recht haufig findet man keine Belastung. 

Auch die geistreiche Freudsche Theorie yon der Verarbeitung von 
VorsteUungskomplexen im UnterbewuBtsein und ihre m&chtige Be- 
deutung fiir die Erklarung der hysterischen Affektlage hat der Krieg 
mit der Sicherheit des Experimentes bewiesen. Ich habe bedauert, 
daB auf der erw&hnten Munchner Tagung niemand den Namen Freuds 
genannt hat, trotzdem man mit dessen eigenen Worten: „Loslosung des 
Affekts vom Vorstellungsinhalt — Abspaltung des Affekts, vielleicht 
mit Affektverankerung“ die hysterischen Erscheinungen erkl&rte. 

Nur Nonne hat den geistigen Urheber dessen, was uns endlich 
in der Hysteriefrage einen Schritt vorwarts gebracht hat, beilaufig er- 
wiLhnt. DaB es auBer sexuellen naturlich noch andere Affekte gibt, 
die fiir das Zustandekommen hysterischer Symptome maBgebend sind, 
ist selbstredend. Das ist aber nur eine Nebenfrage, die den Kern der 
Freudschen Theorie von der krankmachenden Verdr&ngung eines 
Affektes nicht beruhrt. 

Die hysterischen Erscheinungen entstehen psychotraumatisch und 
werden psychogen fixiert. Der Mangel des Wunsches, gesund zu werden, 
unterhalt die Fixation. Alle Arten Symptome sind suggestiv zu beein- 
flussen imd oft zu heilen. Organische Veranderungen irgendwelcher 
Art liegen daher weder den hysterischen noch ahnlichen neurasthenischen 
Symptomenbildem zugrunde. Ubrigens hat auch Oppenheim bei 
der erwahnten Tagung nach den iiberzeugenden und temperament - 
Pollen Ausftihrungen Nonnes, namentlich nach dessen ttberraschender 
Vorfuhrung geheilter Hysteriker, denen er wahrend der Versammlung 


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Die Dieiistbesch&digung bei nerven- und geisteskranken Soldaten. 231 

in der Hypnose ihre Erankheit durch Suggestion wiedergab und sofort 
wiedemahm, ein glanzendes Rttckzugsgefecht angetreten. Oppen- 
heim erklarte sich zum SchluB, trotz seiner prinzipiellen Bedenken, 
bereit, sich praktisch auf den Standpunkt der Mehrheit seiner Fach- 
genoesen zu stellen, welche rein funktionelle und damit heilbare Sto- 
rungen annehmen. 

Wir mufiten auf dies© Frage naher eingehen, weil deren Beantwor- 
tung die letzte Grundlage fiir die arztliche Auffassung der Dienst- 
beschadigungen gibt. 

Ich will jetzt versuchen, die Vorftkhrungen Nonnes, vor der Ver¬ 
sa minlung in der Hypnose geheilten Hysterikem ihre Krankheits- 
erscheinungen wiederzugeben und sofort wieder zu beseitigen, nach- 
zuahmen und stelle zu dem Zweck eine Reihe durch Hypnose geheilter 
Krieg8neurotiker vor: 

1. Julius Sch. Herbst 1916 rum&n. Feldzug; wurde durch vorbeifahrende 
Artillerie von einer Brucke gedr&ngt und fiel auf ein© seichte steinige Stelle; all- 
gemeiner Tremor; hier seit 9./HI. 1917; geheilt durch eine Hypnosebehandlung. 
(Die Erscheinungen werden vor der Versammlung in Hypnose zuruckgerufen 
und beseitigt.) 

2. T. Nie krank; 40 Jahre alt, G&rtner, aktiv gedient; Stellungskampf im 
Westen seit September 1915; Schiitteltremor des linken Armes, der sich langsam 
seit Februar 1916 entwickelt hatte, dauernd bis zum Eintreffen hier am 13./n. 
1917 bestand; geheilt durch 2 Hypnosebehandlungen. (Die Erscheinungen werden 
vor der Versammlung in Hypnose zuruckgerufen und beseitigt.) 

3. B.: 1m Felde seit April 1915; erst im Osten, dann im Westen. Mitte M&rz 
1917 schlug eine Granate so dicht vor ihm ein, dafl sein Gewehr zertriimmert 
wurde; er selbet wurde 15 m hoch in die Luft geschleudert; sofort 3 Stunden be- 
wuBtlos. Danach ein allgemeiner Korpertremor. Hierher am 9./IV. 1917. Ge¬ 
heilt in einer Hypnosesitzung. (Dieselbe Demonstration.) 

Ich schiebe einige Falle durch Hypnose geheilter Kriegsneurotiker 
ein, bei denen ich die Erscheinungen nicht in der Hypnose hier zurQck- 
rufe, um nicht unnotig zu wiederholen. 

4. Professor K.: Zum Beweise, daB auch gebildete Soldaten durch Hypnose 
zu beeinflus8en sind, zeige ich Hmen folgenden Fall. Professor der alten Sprachen 
an einem Realgymnasium, 34 Jahr alt. Durch die Strapazen der Ausbildung 
„Ischias“. Nicht im Feld; das Militar hat sich den Patienten sehr angelegen sein 
lassen und alles mogliche zur Heilung aufgeboten. Behandlung in den verschiedensten 
Xazaretten, nacheinander durch 12 Arzte; Alkoholinjektionen in den Hiiftnerv 
durch Professor K., danach Badekur in Wiesbaden. SchlieBlich nach 12 Monaten 
landete er, muhsam an einem Stock sich fortschleppend, beim hiesigen Ersatz- 
bataillon. Vom Bataillonsarzt wurde er mir zugeschickt, um die Frage zu ent- 
scheiden, ob K. in 3 Monaten doch noch k.v. werden kdnne. Andemfalls solle 
der Reklamation seitens der SchulbehSrde stattgegeben werden. Nach der Unter- 
suchung erklarte ich dem Patienten, daB er keine Ischias habe, auch nie gehabt 
habe. Er habe eine „Innervationsstorung“, die ich ihm in 1—2 Hypnosebehand¬ 
lungen heilen wurde. 

Es sind offenbar von den fruheren Untersuchem die fiir Hysterie so charakte- 
ristaschen Sensibilit&tsstdrungen, namentlich die Analgesien, bei K. iibersehen 


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232 


Wagner: 



worden. Man findet haufiger, daB manche darauf weniger Wert legen. Und doch 
sind sie so wichtig! Wer nicht danach sucht, findet sie natiirlich nicht. 

Ich nahm K. in Hypnose sofort vor, danach wesentliche Besserung. Keine 
Lazarettaufnahme, sondem ambulante Behandlung. Am 2. Tag danach in zweiter 
Hypnosesitzung vollige Heilung. Nachpriifung am 4. Tag, nach Behandlungs- 
beginn. Patient kam ohne Stock ge- 
gangen, hatte auch die Elektrische be- 
nutzt, wie er freudestrahlend berich- 
tete, dcren Tritte er wegen heftiger 
Huftgelenkschmerzen beim Beugen 


Fig. 1. M. Hysterische Contractur des linken M. ti- 
bial. anticus nach geringfiigiger Weichteilverletzung 
des linken Oberschenkels. (Adduction des linkenFuBes 
und Uebung des inneren FuBrnndes.) 


Fig. 2. K. Kombination von organisch er (des M. supra- 
und infraspinatus und des Deltoideus durch partielle 
Plexuslahmung) und hysterischer LUhmung (der iibrigen 
Annmuskulatur) an ein und demselben Glied, dem linken 
Arm. Der hysterische Anted wurde durch Behand¬ 
lung nach Kaufmann sofort beseitigt. Die Atrophic 
der Schultermuskeln ist organisch, die des Armes durch 
hysterische Inaktivit&t bedingt. Der Umfang des linken 
Oberarmes ist um 2 cm, der des linken Vorderarmes 3 cm 
geringer als rechts. 


des Beines seit seiner Krankheit nicht 
hatte besteigen konnen. 

5. K.: Diesen Fall fiihre ich vor, 
um zu zeigen, wie das Nervensystem 
langsam zermiirbt wird. Es bedarf 

dann nur eines kleinen AnstoBes und das Zittem und die Lahmungen sind 
da. — Er war Soldat seit August 1914, immer Stellungskampf im Westen. 
Schleichend herankommende Nervenschwache machte sich bemerkbar. Er war 


dann am 5. November 1916, also nach iiber 2 Jahren, auf aufregendem Horch- 
posten gewesen. Danach unruhiger Schlaf im Unterstand, aus dem er plotz- 
lich durch ein Anrufen geweckt wurde. Erschrak heftig dabei, konnte sofort nicht 


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Die DienstbeschSLdigung bei nerven- und geisteskranken Soldaten. 233 

aufstehen, da die linke Seite gelahmt war; auBerdem stotterte er und hatte Zittern 
am Oberkorper. Hierher am 21./II. 1917. Durch 2 Hypnose behandlungen geheilt. 
— Es besteht nur noch leichtes Stottern bei Aufregung. 

6. B.: hatte seit 2./XII. 1916 leichten allgemeinen Tremor und depressive 
Stimmung. Wegen der letzteren stelle ich ihn vor, zum Beweis, daB auch psycho- 
neurotisehe Storungen leichter Art mitunter durch Hypnose giinstig zu beein- 
flussen Sind, also leichte Depression, Griibelsucht, Zwangsgedanken und Zwangs- 
handlungen, Platzangst u. dgl. Geheilt in einer Sitzung, am l./III. 1917, also 
nach dreimonatigem Bestehen. 



Fig. 3. Derselbe. Organisch bedingte deutliche Atrophie 
des linken M. supra- und infraspinatus und des linken 
Deltoideus. Die Schulterblattgr&te tritt stark hervor. 
Hyaterische Atrophie des linken Oberarines. 

7. K. (stud, phil.): Aus gleichem 
Grunde, zum Beweise, daB psychische 
Zustande beeinfluBbar sind, stelle ich 


Fig. 4. S. Innervationsentgleisung an der rechten 
Hand. Bei versuchter Dorsalflexion tritt Krallenstellung 
ein bei vbllig ungestcirter Motilitat der rechten Hand. 
In der W&rme starke Hyperhidrosis, Brennen und K0- 
tung der rechten Hand und am ganzen Kdrper nach 
Schreckwirkung und oberfl&chlicher Verbrennung am 
rechten Arm und rechter Hand durch Platzen von 80, 
am GUrtel getragenen Patronen. 


diesen Fall vor. — Durch Strapazen und Fall im Schiitzengraben November 1916 
ticartiges Zucken im rechten Facialisgcbiet, rechts Schulterzucken und Arm- 
schutteln. Mangel an Selbstvertrauen. Geheilt in 2 Sitzungen. (Demon¬ 
stration in Hypnose.) 

8. D.: Soldat seit 3./III. 1915; seit 10./V. 1915 nach dem Westen; Zittern 
nach Trommelfeuer, langsame Ausbildung von Zittern, das namentlich im April 
1916 durch nahes Einschlagen einer Granate in 3 m Entfemung schlimmer wurde. — 
Lazarett und Heilung. — Wieder ins Feld. Am l./X. 1916 zuriick wegen Korper- 
zittems, das sich auf einem weiten Marsch einstellte, als er die Granaten horte. — 


Geheilt in 1 Hypnosesitzung. 

9. W.: Nicht im Feld; BajonettstoB beim Bajonettieren gegen den Magen 


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Wagner: 


Dezember 1916. Danach Magenblutungen infolge von Ulcus. Im AnschluB daran 
bildete sich Tremor des Kopfes, der Arme und ruckartiges Zucken der Schulter 
aus. Seit 27./HI. 1916 zu Hause. Friiher tfichtiger Dreher. 180,— M. monatlicher 
Verdienst. Entlassen am 31./IX. 1916. Jung verheiratet, Rente von 75% seit 
l./I. 1917, vfillig arbeitsunf&hig infolge des Kopfschuttelns und sehr verstimmt 
daruber. Da hdrte er in Westfalen von anderen, daB hier in Giefien diese Zust&nde 
gcheilt wfirden. Er stellte Antrag auf emeute Behandlung. Er kam hier an am 
18./IV. 1917. VSllige Heilung in einer Hypnosesitzung. Als er erwachte und 
seinen Arm ruhig neben sich liegen sah, weinte er vor Freude. (Demonstration 
in Hypnose.) 

10. Unteroffizier Sch., Lehrer, 36 Jahre alt. 1 Jahr im Westen. Schon vorher 
sehr ermiidet. Naher Granateinschlag am 28./XII. 1916; fiel um, benommen, 
schwerhorig, allgemeines Zittern, Tic im rechten Facialisgebiet, ruckweises Ein- 
ziehen des Kopfes zwischen die Scbultem und duckendes Einknicken der Knie 
als unbewuBte Abwehrbewegungen gegen vermeintliche Geschosse, die fiber den 
Kopf weggehen. Hierher am 8./II. 1917. Geheilt nach 3 Hypnosebehandlungen. 
(Demonstration in Hypnose.) 

Wenn man solche durch Hypnose geheilte Falle gesehen hat, denen 
man in der Hypnose die Krankheitserscheinungen geben und sofort 
wieder nehmen kann, so weist man den Gedanken, daB es sich dabei 
um organische Storungen handeln solle, so weit von sich, daB man den- 
selben gar nicht mehr einer Diskussion ffir wert halt. Die Molekular- 
mythologie, wie sich Wollenberg treffend ausgedrfickt hat, ist damit 
ein fur allemal erledigt. 

tTbrigens ist die Sache nicht so einfach, wie es sich hier ansieht, 
daB man den Leuten fiber die Augen streicht, auf 3 zahlt und die Krank- 
heitssymptome weg sind: ein Teil ist nicht hypnotisierbar, ein anderer 
nimmt in der Hypnose die therapeutische Suggestion nicht an. Wenn 
aber alle Vorbedingungen erfttllt sind, gibt es kein Mittel, das so prompt 
und verbltiffend die langwierigen Erscheinungen beseitigt, wie die Hyp¬ 
nose — auBer dem Kauf mannschen Verfahren! — Es ware ungerecht, 
der Hypnose das Wort zu reden und nicht in einem Atem das Kauf- 
mannsche Verfahren zu nennen. Ich bin hier aus einem Saul us ein 
Paulus geworden. Als alter Psychotherapeut, der ich seit 25 Jahren 
mit der Behandlung Psychisch-Nervoser mich befasse, lehnte ich sofort 
das Kaufmannsche Verfahren als roh und brfisk ab. Man war eben 
in der Psychotherapie gewohnt, mehr, wenn ich so sagen soli, die feineren 
Methoden zu fiben, die der Persuasion und die, bei der der Arzt seine 
ganze Personlichkeit in die Wagschale werfen muBte. Als man mm gar 
von einigen unglficklichen Fallen — es sind 3—4 Todesfalle gemeldet 
worden — berichtete, wurde man ganz kopfscheu. Ich stimmte daher 
ganzNonne zu, der in seiner launigen Art das Verfahren folgendermaBen 
* schilderte: 

„Wenn man einen Assistenten hat, dem nichts daran liegt, 6 Wochen 
wegen Korperverletzung ins Loch zu kommen, und der es untemimmt, 
sich 1 Stunde und langer mit dem Patienten herumzuschlagen, bis der 


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Die Dienstbeschadignng: bei nerven- und geiateskranken Soldaten. 235 


Patient den Tremor verloren oder der Assistent ihn hat, so soli man es den 
Assistenten machen lassen: ,Aber es hilft ( , setzte er schon damals hinzu. 

Das Bild hat sich nun griindlich geandert, seitdem man das Kauf- 
mannsche Verfahren wesentlich modifiziert hat. Die unglOcklichen 
Falle kamen daher, daB man mit starken faradischen Stromen an den 
Stellen elektrisierte, an denen die Erscheinungen waren, also am Kopf, 
dem Hals, den Armen, den Brustmuskeln usw. Da kam es vor, daB am 
Hals der Vagus gereizt wurde, oder daB man an der Brust den Herz- 
muskel direkt zum Stillstand brachte. Jetzt kommt es auf die Starke 
des Stromes gar nicht mehr an, man benutzt schwache Strome. Ich 
nehme denjenigen Strom, den der bekannte Pantostat von Reiniger, 
Gebbert und Schall liefert, wenn man die Schieberstange Sinus auf 
3 herauszieht. Die Stange hat 12 Teilstriche, ich benutze also nur die 
3 ersten. Wenn man auch den Strom nicht direkt messen kann, so kann 
man doch die elektrische Spannung beurteilen und die entspricht etwa 
15 Volt. Bedenkt man, daB jeder elektro-mechanische Arbeiter, der 
eine Lichtleitung nachsieht, mit seinen Pingem, die er auch noch vorher 
naB macht, den Steckkontakt priift, ob die Sicherung noch gut ist, 
und sich dabei unbeschadet der vollen Lichtstromleitung von 200 bis 
250 Volt aussetzt, so ist es klar, daB man mit 15 Volt keinen Schaden 
anrichten kann, wenn man zudem, und das ist die Hauptsache, immer nur 
am Oberschenkel, und zwar am Quadriceps, elektrisiert. • Einerlei, 
wo der Sitz der Erscheinungen ist, ob am Kopf, am Bein, am Arm, 
ob es sich um Stumme oder Taube handelt, stets wird nur am Ober¬ 
schenkel elektrisiert. Und da im Oberschenkel bekanntlich weder das 
Herz noch der Vagus liegt, ist es vollig ausgeschlossen, daB etwas pas- 
sieren kann. Ja das Elektrisieren ist gar nicht mehr die Hauptsache, 
sondem die wahrend desselben einsetzende Verbalsuggestion. 

Ein sicheres und hberzeugendes Auftreten des Arztes ist die Grund- 
bedingung. Im AnschluB an das Elektrisieren laBt man den Kranken 
rasch unter militarischem Kommando Freiiibungen machen, lang- 
samen Schritt, Laufschritt, Kniebeugen, Armstrecken, vorwarts, seit- 
warts, aufwarts, wenn notig, elektrisiert man nochmals 10—20 Minuten 
— und treibt dadurch den Patienten so in die Hurre, bis er schliefilich' 
das Zittem verliert. Es gelingt oft in einer Sitzung, alle die bezeichneten 
hysterischen Symptome zu beheben — Stotterer sprechen, Taube horen, 
Lahme gehen —, kurz, man muB es einmal gesehen haben, um die Me- 
thode ganz zu wiiidigen. 

Neuerdings ist durch das Kriegsministerium wiederum ein ungliick- 
licher Ausgang der Kauf man nschen Behandlung bekanntgegeben 
worden. Man vermutet unter anderem von den Sinusstromen eine schad- 
liche Wirkung. Ich halte das ftir ausgeschlossen. Ganz abgesehen 
von dem vorliegenden neuen Fall, dessen nahere Umstande mir ganz 


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236 


Wagner: 


unbekannt sind, mochte ich nur allgemein darauf hinweisen, daB, wie 
jedes Instrument, so auch eine suggestive Methode nur in die Hand 
des Geiibten gehort. 

Bei seelisch Widerstandsunfahigen kann einmal durch Schreck und 
Angst Herzstillstand eintreten, auch wenn das Unschuldigste mit ihnen 
vorgenommen wird. Sollte man einen solchen Menschen vor sich haben, 
so erfordert die allgemeine arztliche Kenntnis und Erfahrung eine ver- 
standige Riicksichtnahme. Herzbeschleunigung, Blaurote des Geeichts 
und tibermaBiger SchweiB infolge von unruhigem Hin- und Herwerfen 
auf dem Untersuchungstisch und starker seelischer Erregung bedurfen 
natixrlich der Beachtung und Vorsicht. Es gilt dann weniger sttirmisch 
vorzugehen, langere Pausen der Ruhe wahrend einer Sitzung einzu- 
schieben und den Kranken vor allem durch geeigneten Zuspruch zu 
beruhigen. Es ist eben auch diese Methode durchaus nicht schablonen- 
haft ausfiihrbar. 

Ich kann das Verfahren hier nicht vormachen, weil es zuviel Zeit 
kostet, aber ich habe eine Anzahl Falle mitgebracht, die nach Kauf¬ 
man n in kurzer Zeit geheilt sind. — tlbrigens werde ich bei der Be- 
handlungnachKaufmann vomFeldunterarzt Wetzel 1 gutuntersttitzt. 

(Demonstration 10 Kaufmannscher Heilungen. Hinzutritt der 
vorher gezeigten Patienten.) 

Ich habe noch einmal alle vorgestellten Patienten hereinkommen 
lassen, weil ein derartiges kleines Massenaufgebot ganz instruktiv ist. 

Es sind alles Leute mit schweren Storungen, die durch Hypnose oder 
Kaufmann in kurzer Zeit geheilt sind. Sie konnen sich denken, daB, 
seitdem ich anfangs dieses Jahres diese beiden Methoden eingefiihrt habe, 
nachdem ich mich zuvor noch einmal 2 Tage bei Nonne in Hamburg 
informiert hatte, das ganze Bild unserer Abteilungen sich geandert hat. 

Wahrend frtiher die Kranken mit ihren zum Teil grotesken Krank- 
heitserscheinungen an alien Ecken und Enden herumsaBen, bieten unsere 
Abteilungen jetzt das friedliche Bild, das Sie hier sehen. Nur die wenlgen 
jedesmaligen Neuankommlinge haben noch die Zittererscheimmgen, 
und diese werden von ihren Kameraden, die schon langer da sind, mit 
Bemerkungen empfangen, wie etwa: „Alter Freund, du bist die langste 
Zeit krank gewesen, hier wirst du in 2—3 Tagen kuriert.“ Es ist klar, 
wie eine derartige, von selbst sich ergebende, unfreiwillige Beeinflussung 
-einen geeigneten Boden ftir die spatere arztliche Suggestion schafft. 
Das ganze Drum und Dran des Krankenhauses muB mithelfen, die 
Erfolge zu zeitigen. 

Aus unserer Statistik, die ich hier in der Hand habe, sehe ich, daB 
seit 12./II. bis 30./IV. dieses Jahres, also in 2 1 j i Monaten 67 faille allein 
mit Hypnose und nach Kaufmann behandelt und meist geheilt sind. 

Ich gebe in nachstehendem eine kurze Aufstellung dieser Falle. 


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Die Dienstbesch&digung bei nerven- and geisteskranken Soldaten. 237 


Durch Hypnose und nach Kaufmann vom 12. II. 1917 bis 30. IV. 1917 
behandelte Kriegsneurotiker. 


Name 

Krankheit; Unache; Beginn ; 

Dauer der 
Krankheit 

Zahl der 
hypnotischen 
Behandlungen 

Erfolg 

BewuBtlosigkeit 

bis zur 
Heilung 

+ 

— 


Hypnosef&lle 1—10 






siehe vorher. 





11 . s. 

Starkes Stottern. Zittern der Beine. 






Verschiittet. 2 Stunden bewuBtlos 

4 Mon. 

5 

+ 


12. R. 

Hyster. doppelseitige Peronaeus- 






l&hmung. Naher Granateinschlag 

3 Mon. 

4 

+ 


13. Str. 

Hyster. Parese beider Beine. Arm- 






zittern. Platzangst. Strapazen im 
Feld. — 3./V. 1916. 

9 l /* Mon. 

4 

+ 


14. T. 

Hyster. Contractor des linken Qua- 





dricepe und Steifigkeit des linken 






Kniegelenks 

5 Mon. 

5 

+ 




Wachsuggestion 






und Hypnose 



15. Z. 

Zittern der Arme und H&nde 

3 Mon. 

4 

+ 





Hypnose und 






Kaufmann 



16. L. 

Depress. Neuraethenie. Kopfschmer- 






zen. Willenslosigkeit. Artilleriefeuer 
3./XIL 1914 

27 Mon. 

2 

+ 


17. M. 

Schiitteltremor des Kopfes und der 
Arme. Verschiittung. 22./I. 1916. 

13 1 /* Mon. 

5 

+ 



Hypnose und 






Kaufmann 



18. M. 

Schmerzen im rechten FuB. Geh- 






storang. Zittern. Nach G. G. am 
rechten FuB und Verschiittung 






18./I. 1917. 2 Tage bewuBtlos 

2 V, Mon. 

2 

+ 



Hypnose und 






Kaufmann 



19. 0. 

Ausgesprochener allgera. Schiittel- 






tremor. Fliegerbombe 10./IV. 1917 

v* Mon. 

2 

+ 


20. L. 

Schiitteltremor mit Zwangsbewegun- 






gen. Trommelfeuer. 25./XII. 1916. 






3 Tage bewuBtlos 

4 Mon. 

3 

+ 




Wachsuggestion 
und Kaufmann 




21. S. 

Angioneurose der rechten Hand mit 






SchweiB und Hitzegefiihl am Kor- 
per. Zittern des rechten Armes. 
Explosion von 80 eigenen Patronen. 






Nov. 1915. 1 Vi Stunde ohnmachtig 

17 Mon. 

Noch in Behandlung 

22. K..H. 

Zittern. Stottern (sehr stark) 

6 Mon. 

1 

| + 


23. W. 

Hyster. Kopfschiitteln. Ausbildung 






Juli 1915 

20 Mon. 

Noch in Behandlung 

24. S. 

Hyster. Kopfschiitteln 

3 Mon. 

2 

+ 


(arnbul.) 







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238 


Wagner: 


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Name 

Krankheit; Uraaehe; Begin n; 

D&uer der 
Krankheit 

Zahl der 
hypnotbchen 
Behandlnngen 

Erfolg 

BewuBtloeigkeit 

bia mr 
Hell ung 

+ 

— 

25. Tr. 

Zittem de8 rechten Armes. Bein- 






schw&che. Schleifen des rechten 




i 


Beines. Verschiittet 17./TV. 1917. 
2 Stunden ohnm&chtig 

V, Mon. 

2 

+ 


2ft N. 

Benommenheit. Stottem. Schleifen 






des rechten Beines. Kopfschiitteln. 
Verschiittet 2./IX. 1916 

6 Mon. 

3 

+ 


27. L. 

Gehstorung. (Tritt nur mit der 






linken Fufispitze auf.) Verwundet 






und verschiittet 26./VIIL 1916 

7 Mon. 

Noch in Behandlung 

28. M. A. 

Hyster. Contractur des M. tibialis 






anticus. 

6 Mon. 

3 


+ 


Nach Kaufmann Behandelte: 





29. K. 

Schutteltremor am ganzen KSrper. 


Zahl der 
Behandlungen 
nach 




Unfahig zum Stehen und Gehen. 





Fall von hohem Beobachtungs- 
posten auf landwirtschaftl. Ma- 


Kaufmann 




schine durch Luftdruck nahe vor- 
beisausender Granate 


2 


_ 



Inzwischen zu Hause von selbst geheilt 

30. N. 

Hyster. Gehstorung. Schwache der 






Beine. Kreuzt die Beine beim 
Schreiten, dabei Einknicken 


2 

+ 


31. N. 

Dorsalflexion der linken Zehen. Ein- 






ziehung und Ausbildung. Januar 
1916. Psychopath, der wegen Spio- 
nage verdachtig war. Aggravation 

13 Mon. 

3 



32. Schn. 

Hyster. Kyphose 


2 


— 

33. H. 

Hyster. Aphonie. Verschiittet 1916 


3 

+ 


34. R., E. 

PSeudoparese, Nachschleifen des lin¬ 






ken Beines 


1 

+ 


35. U. 

Gehstorung 


5 

+ 


36. M.,P. 

Stottern (von jeher). Krampfe. 






1 Stunde bewuBtlos 

6 Mon. 

3 

+ 




Wesentliche B esse rung 


37. R. 

Schlapper, schleifender Gang, Fliister- 






stimme. 3./VI. 1916. (Erblich be- 
lastet.) Konstitutionelle Verstim- 






mung 

6 Mon. 

4 


— 

38. G. 

Gehstorung 


3 

+ 


39. A. 

Zittem am ganzen Korper. Bein- 






schwache. 8./X. 1916. Verschiit- 
tung-Verletzung 

5 Mon. 

2 

+ 


40. 0. 

Starkes Zittem samtlicher Extremi- 





1 

taten und des Kopfes. Ticartiges 
Kopfzucken. Strapazen. (Be¬ 
las tet.) Oktober 1916 

5 Mon. 

3 

+ 



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Die Dienstbesch&digung bei nerven- und geisteskranken Soldaten. 239 


Name 

Exankheit; Ursache; Beginn; 
Bewufitlosigkeifc 

Dauer der 
Krankheit 
bis zur 
Heilung 

Zahl der 
Behandlungen 
nach 

Eanfmann 

Erfolg 

+ 

— 

41. Sch. 

Tremor der Schultem und Arme 


1 

+ 


42. B. 

Stofctem. Schwerhorigkeit. Ver- 






schiittet Dezember 1916. 14 Stun 






den ohnmachtig 

3 Mon. 

i 

+ 


43. K,H. 

Schiitteln in Armen und Beinen. 






Stottem 

3 Mon. 

3 

+ 


44. M. 

Steifes rechtes Knie. Verschiittet 






21./XII. 1916. 1—2 Stunden ohn- 






machtig 

1 Mon. 

4 

+ 


45. K. 

Hyster. Parese des linken Beines. 






Spast. Gang. Armzittern. An- 






falle. April 1916 

10 Mon. 

8 

+ 


46. R. 

Bettnassen 

Seit 






Kindheit 

4 


— 

47. B. 

Einknicken im rechten Knie. Schiit- 






telkrtopfe. Granateinschlag. Ja- 






nuar 1917 

2 Mon. 

1 

+ 


48. W. 

Stottern. Armzittern. Verschiittung. 






August 1916 

7 Mon. 

3 

+ 


49. K. 

Hyster. Parese des linken Armes. 






Naclischleifen des linken Beines 

2 l f t Mon. 

3 

+ 


50. D. 

Hyster. Gehstorung. Verwundung 

6 Mon. 

3 

+ 


61. R. 

Starkes Stottem. Granateinschlag. 



1 



April 1916. 

10 Mon. 

4 

+ 


52. & 

Parese des linken Armes und des 






linken Beines. 

4 Mon. 

4 

+ 


53. N. 

Hyster. Schiefhaltung des Kopfes, 






durch Accessoriuskrampf. Zittem. 






Starres Lacheln 

21 Mon. 

2 

+ 


54. B. 

Zittem 

2 Mon. 

1 

+ 


55. KL 

Armzittern 

3 Mon. 

2 

+ 


56. H. 

Erbrechen. Verstopfung. April 1915 






nach Ruhr, Typhus 

22 Mon. 

2 

+ 


57. L. 

Zittem des Kopfes und der Arme 

3 Mon. 

2 

+ 


58. P. 

Traumat. Zitterneurose. Verwundet 






und verschiittet Juni 1916 

8 Mon. 

2 

+ 


59. G. 

Hyster. L&hmung linkes Knie nach 






Verwundung 

8 Mon. 

2 

+ 


60. L. 

Anfalle 


1 

+ 


61. R. 

Gehstomng. Einknicken im linken 






Knie 

6 Mon. 

2 

+ 


62. T. 

Hyster. Gehstomng. Schw&che und 






Nachschleifen des rechten Beines 






mit Einknicken. Verschiittet 2./VI. 






1916. 9 Stunden ohnm&chtig 

8 Mon. 

3 

+ 


63. St. 

HarntrSufeln (Trabekelblase) seit 






23 Jahren 

Seit 23 

3 


— 



Jahren 





Z. f. d. g. Neur. n. Psych. O. XXXVII. 10 


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240 


Wagner: 


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Name 

Krankheit; Unache; Beginn; 
Bewufitloeigkeit 

Dauer der 
Krankheit 
bL« cur 
Heilung 

Zahl der 
Behandlungen 
nach 

Kaufmann 

Erfolg 


+ 

— 

64. St 

Allgem. Korperzittem 


i 

+ • 


65. H. 

Zittern der Gesichtsmuskeln und am 






ganzen KCrper. April 1916. Ver- 

■ 





schiittet. 3 Stunden ohnm&chtig 

11 Mon. 

i 

+ 


66. G. 

Hyster. Anfftlle. Geheilte hyster. 






Aphonie April 1916 

Riickfall 

2 

+ 




vor 4 Tag. 




67. D. 

Hyster. Zittern des rechten Beines 






und unsicherer wackelnder Gang. 






; 1916. Verschiittet 

8 Mon. 

1 

+ 



Von 28 mit Hypnose Behandelten sind demnach 25 geheilt und 
3 noch in Behandlung. Es sei weiter bemerkt, daB ich bei 5 ein kombi- 
niertes Verfahren (Hypnose, Kaufmann und andere Methoden) anwandte, 
da die therapeutische Suggestion in der Hypnose allein nicht wirkte. 
Jedoch wurde durch dieselbe die Heilung wesentlich angebahnt. 

Bei 39 nach Kaufmann Behandelten blieben 6 ungeheilt. Einer 
davon heilte von selbst zu Hause. Bei 2 anderen handelte es sich urn 
psychisch nicht Einwandfreie und bei 2 um Blasenschwache seit Kind- 
heit. Diese MiBerfolge waren von vomherein anzunehmen. 

Je nach der Schwierigkeit der Ffiile steigt die Zahl der notigen Einzel- 
behandlungen. Es mag sein, daB ofters 1 Sitzung geniigt, wenn man 
sie bis zu 2 Stunden ausdehnt. Hierzu habe ich keine Zeit. Ich ziehe in 
schwierigen Fallen die Wiederholungen kiirzerer Einzelbehandlungen 
vor, die auch zum Ziele fuhren. 

Ich bekomme fast nur alte Falle, bei denen die hyBterischen Symptoms 
3—22 Monate bestanden haben; die meisten sind in zahlreichen Laza- 
retten bereits mit alien moglichen Methoden behandelt worden. Es 
sind Rentenempfanger mit 50—100% darunter, und — last not least — 
mein Material setzt sich zum groBten Teil aus Oberhessen und West¬ 
falen zusammen, deren Dickkopfigkeit zur Suggestionsbehandlung sich 
nicht eignet. Wenn Sie das alles in Rechnung ziehen, werden Sie die durch 
Hypnose und Kaufmann erzielten Erfolge nicht fiir schlechte halten. 

tTbrigens wird nicht alles wahllos mit Hypnose und nach Kauf¬ 
mann behandelt. Es sei bemerkt, daB eine Gruppe Kranker sich gar 
nicht ftir Kaufmann eignet, namlich die, bei denen neben den Zitter- 
erscheinungen eine Angstneurose besteht. Bei diesen wird durch das 
immerhin energische Kaufmannsche Verfahren die Angst und das 
Zittern nur vermehrt. Es kommen daher auch die tibrigen altbewahrten 
suggestiven und physikalisch-hydrotherapeutischen Methoden zu ihrem 
R^cht und namentlich die Beschaftigung. Auch alle durch Hypnose 


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Die DienstbeschSdigung bei nerven- und geisteskranken Soldaten. 241 

und nach Kaufmann Geheilten werden durch Arbeit in Garten und 
Feld und in Werkstatten nachbehandelt und erst nach einigen Woehen 
entlassen, wenn sich dadurch der Heilerfolg gefestigt hat. 

Aus dem Gesagten ist ersichtlich, dafi der grofite Teil der Kranken, 
frische und alte F&lle, im Lazarett durch Wachsuggestion, Arbeits- 
therapie, Kaufmann und Hypnoee hergestellt wird. Die ganz frischen 
und korperlich heruntergekommenen Leute mflssen sich zunachst 
14 Tage ausruhen und erholen, ehe die Behandiung begonnen wird. 
Die Geheilten werden dann meist nur als arbeitsverwendungsf&hig 
entlassen. Kampfesfrohe Soldaten kann man aus ihnen nicht mehr 
machen. Die Heeresleitung ist vollig zufrieden, wenn die Krankheits- 
symptome beseitigt sind, die Leute keine Rente benotigen und sich 
sogar in Munitions- und landwirtschaftlichen Betrieben oder sonst 
nfltzlich erweisen. Die Heeresleitung ist damit um so mehr zufrieden, 
als erfahrungsgem&fi an der Front zur Last fflr die Truppe doch nur 
Rflckfalle eintreten. 

Bei einem kleinen Rest gelingt die voile Heilung nicht innerhalb 
der Umgebung, in der das Leiden entstanden ist. Wir versuchen, 
wenigstens die grobsten Erscheinungen zu beseitigen und sie so weit 
zu bringen, dafi sie irgend etwas arbeiten, und entlassen sie dann meist 
ohne Rente als dienstunfahig nach Hause, in der Voraussetzung, dafi 
sie in ihren bflrgerlichen Verhaltnissen rasch gesunden. 

Bei den ganz wenigen, bei welchen noch grobe Krankheitserschei- 
nungen flbrigbleiben, setzen wir nur eine geringe, meist nicht fiber 
40% gehende Rente an. Der Schlufisatz unserer Gutachten lautet: 
,,Dienstbeschadigung liegt vor, doch wird voraussicntlioh in den bflrger¬ 
lichen Verhaltnissen bald Besserung bis zur Heilung eintreten. Die 
Erwerbsbeschrflnkung wird nur niedrig auf 40% geschatzt, um den Mann 
zu einer Arbeit hinzudrangen, die das beste Heilmittel fflr ihn ist.“ 

Bei alien wird eine Nachuntersuchung nach 4—6 Monaten an- 
empfohlen. Sollten sich bei einem oder dem anderen die Krankheits- 
zustande langer halten, so mufi dringend von einer Dauerrente abge- 
raten und eine Kapitalabfindung empfohlen werden, auch nur in der 
Hohe von hochstens einer 1—3 fachen Jahresrente, um die ursprflngliche, 
dem Leiden zugrunde liegende Begehrungsvorstellung, sich dem Kriege 
zu entziehen, nicht durch die Begehrungsvorstellung nach Rente ab- 
zulosen. 

Eine Gruppe fflr sich bilden bei der Lange des Krieges solche, die 
schon langer, mitunter schon 1 Jahr, eine hohe Rente, bis 100%, durch 
irrtflmliche Beurteilung bezogen haben und mm von neuem zur Nach¬ 
untersuchung oder Heilung eingewiesen werden. Bei diesen hat sich 
natflrlich die Sucht nach Kranksein und Rente sehr gefestigt. Allein 
ihre Heilung gelingt ebenfalls meist auf eine und die andere Weise. 

16 * 


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242 


"Wagner: 


Wenn nicht, so muB ihnen die Rente entweder ganz entzogen oder auf 
40% herabgesetzt werden. Dann werden sie zu Hause mit der Arbeit 
beginnen. 

Bei vielen der als arbeitsverwendungsfahig und als dienstunbrauchbar 
zur Entlassung Kommenden empfiehlt es sich nicht, sie zuvor, wie 
iiblich, zur Erledigung der Verfahren erst dem Ersatztruppenteil zu- 
zusenden. Die militarische Umgebung regt sie von neuem auf. Manch- 
mal sitzen sie noch wochenlang dort herum und es geht vieles von der 
eingetretenen Besserung wieder verloren. Wir bitten deshalb am Schlusse 
des Krankenblattes um umgehende Entlassung in die Heimat. 

Da das Krankenblatt, unserer Erfahrung nach, nicht immer sofort 
die gewtinschte Beachtung findet, schreiben wir in jedem einzelnen 
Falle noch einmal dasselbe an die Truppe unter genauer Bezeichnung 
der Arbeits8telle, die sich fur den Kranken eignet. Meist ist dies der- 
selbe Betrieb, in dem er vorher gearbeitet hat. 

Die Entlassungen erfolgen demnach direkt vom hiesigen Lazarett 
aus nach der Arbeitsstelle mit Umgehung der Truppe. Das betreffende 

Schreiben lautet: „GieBen, den.An das (Name des Truppen- 

teils) in. 

Der Musketier.des.Batl.ist wegen ebcn durchgemachter 

Nervenkrankheit (Geistesstbrung) bei der Truppe ganz unmoglich, kann sich auch 
voriibergehend nicht bei ihr aufhalten. Er ist aber a.v. in seinem Berufe bei 
(Name der Firma). Wir bitten deshalb um die Erlaubnis, ihn von hier aus direkt 
nach Hause zu entlassen. 

Zu dem Zweck ereuchen wir um Zusendung eines Urlaubsscheines nach. 

ohne Antrittsdatum, welches wir ausfiillen und nach dort mittcilcn werden. Eine 
Rente kommt nicht in Betracht.“ 

Konnen die Leute zuvor unbeschadct nach ihrem Truppenteil fahren, so 
schreiben wir diesem, damit sie sofort von dort entlassen werden, folgendcs: 
„Giefien, den. Dem Ers.-Batl. Inf.-Rgt.... in. 

Der Landsturmmann.ist wegen seiner geringen seelischen Wider- 

standskraft bei der Truppe unmoglich, dagcgen aber a.v. in seinem Berufe. 

Ein, wenn auch nur kurzer Aufenthalt bei dor Truppe wird mit Sicherheit 
eine Verschlimmerung der bestehenden Beschwerden hervorrufen. Es empfiehlt 
sich daher, sofort den Mann zu seiner Arbeitsstelle zu iiberweisen.“ 

Ein Umlemen ist fast niemals notig. Am besten bleiben die Be- 
treffenden in ihrem gewohnten Beruf. Im Rahmen desselben gibt es 
schon an und ftir sich einen Spielraum, so daB sie anfangs leichtere Tatig- 
keit aufnehmen konnen. 

Aus dem Grunde ist fiir die Neurotiker eine eigentliche Kriegs- 
fursorge unnotig. Im Gegenteil geht aus dem Gesagten hervor, daB 
der Gedanke, sie seien Gegenstand der Fiirsorge, ihrer Heilung nur 
hinderlich ist. Nur wenn man sie ganz auf sich selbst stellt, sind die 
Grundbedingungen zur Heilung gegeben. Die beste Kriegsfilrsorge fiir 
die Neurotiker ist die, keine fiir sie zu machen. Sollte in einem oder dem 


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Die Dienstbeschadigung bei nerven- und geisteskranken Soldaten. 243 


anderen Falle zeitweise Unterstiitzung notig sein, so hat das ja der 
Arzt durch eine zeitweise Rentenunterstatzung in der Hand. 

Die beste Fursorge fur die Neurotiker ist ihre Heilung. Die Statistik 
■ze igt, daB diese fast iiberall moglich ist. 

Bei der Gelegenheit sei auf die Notwendigkeit hingewiesen, alle 
hysterischen Rentenempfanger, die noch nicht facharztlich behandelt 
warden, einer Kur nachtraglich zu unterziehen. 

Verfahrt man anders, so wurde man sicher die wirtschaftlichen 
Interessen des Staates und die gesundheitlichen Interessen des Er- 
krankten ungiinstig beeinflussen. Ubrigens bin ich iiberzeugt, daB nach 
■dem Kriege bis auf einen verschwindenden Best alle Neurotiker langsam 
■aber sicher gesund werden. 

Im allgemeinen haben wir den Eindruck, daB die Renten der Neu¬ 
rotiker von Nichtfacharzten viel zu hoch bemessen werden, und zwar 
auch gelegentlich deshalb, weil der Gutachter sich iiber die Natur des 
vorliegenden Leidens nicht klar ist. Um sich wissenschaftlich nach alien 
Seiten den Rucken zu decken, spricht er dann etwa von der Moglichkeit 
■organischer Veranderungen, die psychogen fixiert sind. Uns ist ein 
Fall erinnerlich, wo mit dieser Begrundung ein Mann mit groben hyste¬ 
rischen Gehstorungen 90% Rente erhielt. Das ungluckliche Prtifungs- 
amt hat es natiirlich schwer, durch solche Orakelspriiche hindurch zu 
■einem praktischen Urteil zu kommen. Wir gehen in Fallen mit groberen 
hysterischen Erscheinungen, wie gesagt, fast niemals iiber 40% hinaus. 

Im wissenschaftlichen Senat der Kaiser-Wilhelms-Akademie sind 
Leitsatze far die Rentenbewilligungen vorgeschlagen worden, die dort 
Annahme fanden,und die ich einem vonStabsarzt Hanisch in Warschau 
gehaltenen Vortrag entnehme. Danach sollen subjektive sowie funk- 
tionelle Beschwerden, die neben organischen Leiden auftreten, keinen 
AniaB zu Rentengewahrungen geben. Auch subjektive Klagen auf 
psychogener Grundlage, denen objektiv keine wesentlichen ortlichen 
Storungen oder Beeintrachtigungen des Allgemeinbefindens gegenuber- 
atehen, bieten keinen AniaB zur Annahme von Erwerbsbeeintrachtigung. 
Auch die sogenannten objektiven Syroptome, wie leichtes Zittem, 
funktionelle Parese, leichtes Stottem, vereinzelte Anfalle und Zustande 
•der Pseudodemenz (offenbar sind psychogene Hemmungszustande 
gemeint) bieten keinen AniaB zur Annahme von Erwerbsbeeintrachti- 
gungen von 10% imd mehr. Schwere Einzelsymptome sind nicht an- 
nahernd so hoch zu bewerten wie die nachgeahmten wirklichen orga¬ 
nischen Storungen: Als HochstmaB kommt die Halfte der Satze der 
Dienstanweisung (Anlage 2, 59/62) in Frage. Verstummelimgszulage 
kommt far funktionelle Storungen nicht in Betracht. Eine dauernde 
Erwerbsbeeintrachtigung von 10% und mehr soli nicht angenommen 
werden, wo es sich lediglich um eine starke Abnutzung des Nerven- 


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244 Wagner: Die Dienstbesch&digung bei nerven- nnd geiateskranken Soldaten. 

systems handelt. Bei ausgepr&gten Neurosen dagegen konnte man 
aueh in Einzelf&llen eine dauemde Erwerbsunfahigkeit von 10% zu- 
geben, um die Kapitalabfindung zu ermoglichen, die nur den Betrag 
einer etwa 3—4fachen Jahresrente umfassen soli. 

Behandelt man die Rentenfrage der Neurotiker auf diese Weise, 
so wild man die Nachteile, die der Begriff der traumatischen Neurose 
in der Unfallgesetzgebung mit sich gebracht hat, sich nicht wiederholen 
sehen. 


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Zur Prognose der Nervennaht. 

Von 

R. Cassirer. 

Mit 6 Textfiguren. 

(Eingegangen am 20. Juli 1917.) 

Die Frage der Erfolge der Nervennaht steht andauemd im 
Vordergrund des Interesses. Nicht so sehr in den in der Literatur 
niedergelegten Mitteilungen wie in privaten MeinungsauBerungen be- 
sonders von Chirurgen, aber auch von Neurologen wird der Erfolg 
vielfach recht skeptisch beurteilt. Ich bin gar nicht selten Patienten 
begegnet, die den chirurgischen Eingriff ablehnten, weil ihnen friihere 
Arzte diesen als nutzlos hingestellt hatten, wie auch solchen, denen 
trotz langer Dauer der Lahmung nie ein dahingehendcr Vorschlag ge- 
macht worden war. Ich habe entsprechende Bemerkungen auch in 
einzelnen Krankengeschichten gefunden. Es ist leicht einzusehen, 
woher dieses MiBtrauen gegeniiber den Resultaten der Nervennaht 
stammt. Es gibt bei der Naht nur Spatbesserungen oder Heilungen^ 
Ich kann meinen frtiher geauBerten Standpunkt gegentiber den angebi 
lichen Fniherfolgen nur aufrechterhalten. Ich habe nie auch nur 
eine Andeutung einer Fruhheilung gesehen mid halte jeden der 
bisher veroffentlichten Falle mit Friihheilung ftir einen Beobachtungs- 
fehler, auch den von Loewenstein; es ist offenbar ein Hautast des 
Radialis genaht worden, wie auch Ranschburg annimmt. Ich habe 
eine Operation gesehen, bei dem diese Verwechslung zunachst vorkam, 
aber noch im Laufe der Operation der Irrtum erkannt wurde. Wer 
solche von der allgemeinen Erfahrung abweichenden Beobachtungen 
bringt, hat die Pflicht, sie so genau zu beobachten und zu publizieren, 
daB kein Zweifel moglich ist. Eine solche Beobachtung liegt nicht vor. 

Die Besserung tritt also stets spat ein, ist in Ausnahmefallen 
beim Radialis nach zwei Monaten in ihrem ersten Beginn zu konsta- 
tieren, meist erheblich sp&ter, in der Mitte des zweiten Vierteljahres, 
viel spater aber bei den anderen Nerven, beim Peroneus, Tibialis, 
Ischiadicus, Medianus und Ulnaris, und zwar etwa in der eben 
gegebenen Reihenfolge nach neun bis zwolf bis funfzehn Monateili 
Genaue Angaben sind hierbei aus spater zu erortemden Grtinden noch- 
nicht moglich. 


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246 


R. Cassirer: 


Um diese Zeit ist der Operierte langst den Augen seines ersten Be- 
obachters und des Opera teura entschwunden. Diese bewahren in sich 
nur das Bild eines volligen MiCerfolges ihres oft muhevollen Eingriffs, 
der durch gewisse Begleitumstande, namentlich die im Anfang oft not- 
wendige Ruhestellong zunachst nur eine Verschlechterung des Zustandes 
hervorgerufen hatte. Das ist die Hauptquelle des MiBtrauens gegentiber 
der Operation. Dementsprechend bezieht sich dieses auch der Haupt- 
sache nach auf die Operationen am Ischiadicus, Ulnaris und Medianus, 
wahrend der Radialisnaht und auch der Peroneusnaht einige Chancen 
zugesprochen werden. 

Ich bezweifle die Berechtigung dieses MiBtrauens. Ich 
bin freilich auch heute nicht in der Lage, es mit groBen Zahlen genau 
beobachteter Falle definitiv aus der Welt zu schaffen. Das iibersteigt 
die Kraft des einzelnen, auch wenn er ein sehr groBes Beobachtungs- 
material ubersieht, weil die Kontrolle des einzelnen Falles vermoge 
der fur die Heilung erforderlichen Dauer nicht bis zu Ende gefuhrt 
werden kann. Nur eine von den entsprechenden obersten Stellen aus 
empfohlene imd systematisch durchgefuhrte Nachuntersuchung 
der mit Nervennahten behandelten Patienten kann das not- 
wendige statistische Material liefern, auf das wir eine sichere Beurteilung 
der Voraussage der Nervennaht aufbauen konnten. Ich halte eine 
solche systematische Nachuntersuchung ftir auBerordentlich wichtig 
und glaube, sie sollte so rasch als moglich eingeleitet werden, um unser 
praktisches Handeln auch noch fur diesen Krieg durch ihr Ergebnis 
beeinflussen zu lassen. Diese Statistik hatte selbstverstandlich auch 
die besondere Art der vorgenommenen Operation zu beruck- 
sichtigen. Meine Erfahrungen beziehen sich nach wie vor fast nur auf 
die Naht im eigentlichen Sinne, die ich uberall angestrebt 
habe, unter moglichster Vermeidung der komplizierteren Verfahren. 
Naturlich ist sie nicht immer zu erreiehen. Vom Edingerschen 
Verfahren, das mir von vomherein nicht recht begrundet schien, 
habe ich in den wenigen Fallen, in denen ich es verfolgen konnte, 
keine Erfolge gesehen, so daB ich kein eigenes Urteil habe; es 
scheint ja allgemein wieder verlassen zu werden (siehe dariiber die Ver- 
handlungen der sfldwestdeutschen Neurologen, 2/3. VI. 1917, Neurol. 
Centralbl. 1917, S. 560). Auch die Plastiken erschienen mir stets wenig 
aussichtsvoll. Erfolge habe ich nicht gesehen; ebensowenig von den I m- 
plantationen. Wo ich zu raten hatte, habe ich empfohlen, lieber etwas 
weniger von den Nerven zu resezieren und eher noch etwas narbig 
veranderte Teile des Nerven aneinander zu nahen, als irgendwelches 
Material dazwischen zu pflanzen. Die ideale Forderung, im Gesunden 
zu operieren, muB meiner Uberzeugung nach in solchen Fallen auf- 
gegeben werden; an die Einheilung langerer implantierter Nerven- 


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Zur Prognose der Nervennaht. 247 

stficke glaube ich nicht; sie werden oder bleiben nicht funktions- 
tuchtig. 

Die Statistik miiBte freilich auch die Frage des Operateurs beriick- 
sichtigen. Ich bezweifle, daB alle Arzte, die sich an dieses Gebiet heran- 
getraut haben, den Schwierigkeiten gewachsen gewesen sind. 

Solange diese Statistik aussteht, mussen genau angestellte Einzel- 
beobachtungen an ihre Stelle treten, die immerhin noch eine bessere 
Basis abgeben als die mangelhaft kontrollierten Eindrucke der Erfolge 
nnd MiBerfolge. 

In den folgenden Zeilen will ich fiber einige Nervennahte berichten, 
in denen bemerkenswerte Erfolge erzielt wurden. 

Ich beginne mit einem Falle einer erfolgreichen Naht des Ischiadicus 
am Foramen ischiadicum. 

Beob. I. D., Oberleutjnant, Verletzung am 31. X. 14, InfanteriegeschoB. 
Sofort Lahmung des FuBes. Anfangs enorme Schmerzen, die nur ertraglich waren, 
wenn er das Bein im Knie gebcugt hielt. Die Schmerzen sind jetzt geringer ge- 
worden, die Lahmung ist unverandert. Eine Kur in Oeynhausen ist ohne EinfluB 
geblieben. Untersuchung am 17. III. 15. EinschuB hinterdem rechten Trochanter. 
AusschuB am inncren Ende der Glutaalfalte. Lahmung aller Beuger und Strecker 
des FuBes und der Zehen. Keine erhebliche Parese der Beuger des Unterschenkels. 
Keine elektrische Untersuchung. Sensibilitat fiir Pinsel und Nadel im gesamten 
Gebiet des Nervus tibialis und des Nervus peroneus aufgehoben. Achilles phano- 
men fehlt. FuBsohle kalt, cyanotisch, trocken; starke Abmagerung der Unter- 
schenkelmuskulatur. Diagnose: Schwere Verletzung des Ischiadicus. 
Operation am 18. Ill, Geheimrat Bier. Resektion des Nervus ischiadicus 
unmittelbar an der Incisura ischiadica. Die Lange des resezierten Stiickes ist 
nicht angegeben. Naht des Nerven. Nachste Untersuchung 18. VI. 15. Die 
Lahmung besteht unverandert fort. Das Gefiihl im FuB ist wohl etwas besser 
ge worden, erhebliche Schmerzen sind nicht vorhanden. Die Untersuchung ergibt: 
Lahmung aller FuB- und Zehenbeuger und -strecker. Dio Beugung des Unter¬ 
schenkels gelingt, und zwar wirken so wohl die auBeren wie die inneren Beuger. 
Sehr schwere Entartungsreaktion in alien gelahmten Muskeln, nur bei starken 
Stromen sind trage Zuckungen in ihnen bei direkter galvanischer Reizung zu er- 
reichen, jede andere elektrische Erregbarkeit fehlt. Sensibilitatsstorung im ge¬ 
samten Gebiet des Peroneus und Tibialis, und zwar ist die Stoning in den Aus- 
breitungsgebieten der Nerven am FuB total, am Unterschenkel besteht nur im 
distalen Abschnitte des Peroneus externus eine vollkommene Sensibilitatsstorung, 
wahrend diese in den proximaleren Partien geringer ist. 

Nachste Untersuchung am 29. IX. 15. Seit 14 Tagen sind die ersten 
Zeichen ei ner Besserung vorhanden, es kommt jetzt eine deutliche, wenn auch 
nur sehr geringfiigige Beugung des FuBes zustande. 

5. XI. 15. Seit einigen Tagen ist eine sichere, wenn auch ebenfalls sehr geringe 
Streckung des FuBes nachweisbar. Der Pat., der bis dahin elektrisiert worden ist, 
setzt die Behandlung aus, um seinen Dienst aufzunehmen. 

Neue Untersuchung am 6. IX. 16. Es hat sich an der auBeren Seite des FuBes, 
proximal von der kleinen Zehe und an der FuBsohle eine starke Schwielenbildung 
eingestellt, unter der Schwiele hat sich ein Geschwiir gebildet, das ziemlich erheb¬ 
liche Schmerzen bereitet. Die Beugung des FuBes ist jetzt kraftig, ebenso die Ab¬ 
duction des FuBes. Extension des FuBes ist schwach, aber ganz deutlich moglich. 


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R. Cassirer: 


Die Beugung der Zehen, sowie die Streckung der Zehen fehlt. Im Gebiet dee 
Peroneus ist die Sensibilitatsstdrung erheblich zuriickgegangen, Pinsel und Nadel 
werden iibe rail unterschieden, aber es besteht noch eine Unterempfindlichkeit. 
Im Gebiete des Tibialis ist die Sensibilitatsstorung starker. Das Ulcus wurde in 
der chirurgischen Klinik excidiert, es trat rasche Heilung ein. Die elektrische 
Untersuchung ergibt jetzt: Tibialismuskulatur faradisch gut erregbar, ebenso der 
Nervus tibialis selbst, galvanisch scheint bei direkter Reizung die Zuckung noch 
etwas tr&ge zu sein. Die Peroneusmuskulatur ist faradisch unerregbar, der Nerv 
bei starken Strdmen erregbar, ebenso galvanisch. Bei direkter galvanischer Rei¬ 
zung bei den zur Verfiigung stehenden Stromen (10 Milliampere) keine Zuckung 
zu erzielen. 

Letzte Untersuchung am 18. X. 10. Die Atrophie der Muskulatur ist viel 
geringer geworden. Die Beugung des Unterschenkels gelingt mit voller 
Kraft. Die Beugung des FuBes gelingt mit voller Kraft. Die Beu¬ 
gung der Zehen ist spurweise vorhanden, nur eine Beugung der groBen 
Zehe ist noch nicht nachweisbar. Extension des FuBes noch stark 
paretisch. Abduction mit voller Kraft. Die Extension der Zehen 
fehlt. Ist der Unterschenkel im Knie gebeugt, so gelingen die Bewegungen noch 
besser. Die Sensibilitatsstorung ist nur im distalen Tibialisgebiet noch fast voll- 
kommen. In den iibrigen Partien so weit zuriickgebildet, daB starkere Pinsel- 
beriihrungen iiberall gefiihlt werden, und starke Stiche als solche erkannt werden. 

Die elektrische Untersuchung ergibt: Faradisch sind der Tibialis anticus, die 
Musculi peronei und der Triceps surae bei starken Stromen erregbar, im selben 
Umfang auch die Nervenst&mme am Oberschenkel. Galvanisch erh&lt man in den 
genannten Muskeln bei 20 Milliampere blitzartige Zuckungen. Im Extensor 
hallucis bei sehr starken Stromen tr&ge Zuckungen, ebenso in den langen Zehen- 
beugern. Die kleinen FuBmuskeln sind bei ertragbaren und uns zur Verfiigung 
stehenden Stromen nicht erregbar. Die Nervenst&mme verhalten sich bei gal¬ 
vanischer Reizung wie bei faradischer. 

Zusammenfassung: Verletzung des Ischiadicus am Foramen 
ischiadicum am 31. X. 1914. Der Befund bei der Operation am 
18. III. 1915 gibt Veranlassung zu einer Resektion des Nerven am 
Foramen ischiadicum. 

Untersuchung nach drei Monaten ergibt dasselbe Bild wie vor der 
Operation, vollkommene sensible, vasomotorische und motorische Lah- 
mung. 

Schon drei Monate sp&ter, also etwa sechs Monate nach der 
Operation, sind die ersten Zeicheneiner Wiederkehr der Motilitat 
in Form einer geringen aber sicheren Beugung des FuBes nachweisbar. 
Die weitere Untersuchung und Beobachtung ergibt ein ganz langsames 
Fortschreiten der Besserung, so daB bei der letzten Untersuchung, 
zwei Jahre nach der Verletzung und mehr als anderthalb 
Jahre nach der Operation, die Beugung des FuBes und die 
Abduction des FuBes vollkommen kraftig ist, die Extension 
des FuBes noch paretisch ist, die Beugung der Zehen eben 
beginnt und die Extension der Zehen noch vollkommen 
fehlt. Elektrisch in einem groBen Teil des Nervengebietes nur noch 
herabgesetzte Erregbarkeit, in einem kleinen Teil partielle Entartungs- 


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Zur Prognose der Nervennaht 


249 


reaktion. Die Sensibilitatsstdrung hat an Intensitat und Ex- 
tensitat abgenommen, ist aber immer noch deutlich nach- 
w ©is bar; ein Druckgeschwur, das sich in dem anasthetischen Gebiet 
gebildet hat, ist unter chirurgischer Behandlung rasch geheilt. Die 
Restitution hat also hier relativ friih begonnen, schon nach sechs Mo- 
naten, ist dann langsam immer vorgeschritten, hat aber zweifellos auch 
jetzt, 19 Monate nach der Operation, 2 Jahre nach der Verletzung, ihr 
Ende noch keineswegs erreicht. 

Man sieht, welche Zeitraume fiir eine vollstandige Beobachtung 
eines solchen Falles notwendig sind. 

Der folgende Fall weist insofem eine Lticke auf, als ich in bezug auf 
die Operation mich auf die Angaben des Patienten verlassen muB, da 
eine arztliche Auskunft liber diesen aus hier nicht zu erortemden Grun- 
den nicht zu erhalten ist. Die Begleitumstande des Falles lassen mir 
aber diese Angaben des Patienten als vollig sicher erscheinen. 

Beob. II. S., Oberleufcnant. 14. IX. 14. SchuB durch den rechten Ober- 
schenkel, sofort L&hmnng des rechten FuBes, kaum irgendwelche Schmer- 
zen. Operation 20. X. 14. Resektion des ganz zerschossenen Nerven. Pat. 
glaubt die erste Besserung in den ersten Tagen des August 1915 in Form einer 
leichten Beugung des FuBes wahrgenommen zu haben. 

Erste Untersuchung durch mich am 6. VIII. 15. Es laBt sich eine sichere, 
wcnn auch ganz geringfiigige Beugung des FuBes nachweisen. Im iibrigen be- 
stehen noch alle Zeichen einer volligen Leitungsunterbrechung im Nervus pero- 
neus und tibialis; vollkommene L&hmung, komplette Entartungs- 
reaktion, sehr schwere Sensibilitatsstdrung im Gesamtgebiet des 
Nerven. 

Eine einige Monate fortgesetzte elektrische Behandlung l&Bt eine allmahliche 
Zunahme der Beugung des FuBes erkennen. 

Emeute Untersuchung ein Jahr spftter, Anfang November 1916. Die Beu¬ 
gung des FuBes ist allmahlich immer kraftiger geworden. Seit 14 Tagen sind 
neue Bewegungen eingetreten, indem der Pat. nun imstande ist, 
den FuB zu abduzieren und eine Beugung in den Zehen auszufiihren. 
Schmerzen sind niemals in erheblichem Grade vorhanden gewesen, nur nach An- 
strengungen, denen sich der Pat., der seit langem wieder im Felde steht, vielfach 
ausgesetzt hat. 

Die Untersuchung ergibt: MaBige Atrophie, namentlich an der AuBenseite 
des rechten Unterechenkels. Keine erheblichen vasomotorischen Stdrungen, doch 
bleibt der rechte FuB noch leicht etwas kalter. Leichte Contractur der rechten 
Achillessehne. Rechtes Achillesphanomen fehlt. Die Beugung des FuBes erfolgt 
mit voller Kraft. Zehenbeugung fehlt. Abduction des FuBes sehr deutlich, man 
sieht dabei die Anspannung der Musculi peronei und die Bewegung erfolgt mit 
einiger Kraft. Extension der vier letzten Zehen deutlich durch Anspannung des 
Extensor digitorum communis. Die Extension der groBen Zehe deutlich, aber 
schwach. Extension des FuBes fehlt. Bei Beriihrung am Dorsum pedis, auch in 
der Plants pedis, unbestimmtes Prickeln, das mehr in der Tiefe sitzt, nicht lokali- 
siert warden kann. 

Stiche werden an manchen Stellen empfunden, zum Teil als solche deutlich 
schmerzhaft erkannt, aber doch meist mit ganz falscher Lokahsation, fast immer 
in die Peripherie projiziert. Auch im Gebiete des Communicans peronei &hnliche 


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R. Cassirer: 


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Stftrungen. Pinselberiihrungen erzeugen hier ein Kitzeln in den Zehen, Stiche 
werden als in die Peripherie ausstrahlende Schmerzen empfunden. Vibrations- 
empfindung am FuBe nicht vorhanden, am Knochel noch stark herabgesetzt. 
Lagegefuhl in den Zehengelenken gestort, im Fufigelenk nicht. Die elektrische 
Untersuchung ergibt: Triceps surae vom Nerven aus faradisch erregbar, direkt 
mit ertragbaren Stromen keine deutliche Zuckung, ebenso nicht die Zehenbeuger. 
Galvanisch Tibialis bei starken Stromen (15 Milliampere) deutlich Kathodenschlie- 
Bungszuckung im Triceps. Nervus peroneus faradisch bei sehr starken Stromen 
Zuckungen in den Musculi peronei. Bei direkter Reizung Tibialis anticus, Musculi 
peronei. Extension der Zehen mit tr&ger Zuckung erregbar. 

Die Be8serung schreitet im Verlauf der jetzigen Behandlung weiter fort, die 
vorhandenen Bewegungen nehmen an Kraft zu, insbesondere ist die Extension 
des FuBes offenbar im Begriff wiederzukehren. 

Auch hier sehen wir also den typischen auBerst protrahierten 
Verlauf. Die erste Besserung nach der Resektion tritt nach 
10 Monaten, 12 Monate nach der Verletzung auf. Im Verlauf der 
nachsten ftinf Vierteljahre ganz langsame, aber stetig fort- 
schreitende Progression der Besserung, die noch nicht abge- 
schlossen ist, die aber jetzt, 2 Jahre nach der Operation, bereits 
alle Muskeln mit Ausnahme der Zehenbeuger betrifft. Die 
Sensibilitatss torung ist noch auBerordentlich intensiv. Auf das Ver- 
haltnis von Motilitats- und Sensibilitatsstorung bei den sich bessemden 
Fallen komme ich spater noch zu sprechen. 

Die folgende Beobachtung betrifft einen ahnlichen, sehr schweren 
Fall von Ischiadicusverletzung. 

Beob. III. Leutn. G. Verletzt durch InfanteriegeschoB am 23. VICE. 14. 
EinschuB hinter dem rechten Trochanter. AusschuB ungefahr in der Mitte der 
GlutAalfalte, direkt iiber der Incisura ischiad. Fraktur des Oberschenkels, die 
geheilt ist. Sofort Lahmung und Gefiihllosigkeit des FuBes, ohne wesentliche 
Schmerzen, bisher keine Veranderung. Untersuchung am 14. XII. 14. Lah¬ 
mung aller Beugcr und Strecker des FuBes und der Zehen. Das Achillesphanomen 
fehlt. B■ ugung des Unterschenkels mangelhaft, die Bioepsgruppe versagt dabei. 
Sensibilitat fiir alle Reize im ganzen Peroneus-und Tibialisgebiet aufgehoben; auch 
fiir Lagegefiilil und tiefen Druck; sehr schwere Scnsibilitatsstorungen auch im 
Communicans peronei an der AuBenseite des Unterschenkels; die Sensibilit&ts- 
storun" betrifft auch das Gebiet des Cutan. surae posterior und den groBten Teil 
des Gebietes des Cut. femor. post. Keine elektrische Untersuchung. 

Die am 15. XII. 14 durch Herrn Geh.-Rat Bier ausgefiihrte Operation 
ergibt die vollige Durchtrennung des Nerven. Pat. bleibt dauemd in Be¬ 
obachtung. 

Am 9. V. 15 genauere Sensibilitfttspriifung, kaum eine Besserung. Niemals 
HyperaJgesie. FuB ktihl, cyanotisch, ziemlich trocken. Elektrisch komplette 
Entartungsrt'aktion mit guter Erregbarkeit. Am 2. X. 15 ist zum ersten Male 
eine leichte Beugung des FuBes nachweisbar. Das Gebiet dei^ Sensi- 
bilitatsstorung schr&nkt sich namentlich am Peron. communic. etwas ein. Die 
Beugung des FuBes wird allmahlich krftftiger. 

21. VII. 16. Beugung des FuBes kraftig, Beugung der Zehen fehlt. Streckung 
des FuBes und der Zehen, ebenso Abduction des FuBes fehlt. 

Sensibilitat, elektrisches Verhalten wie friiher. 


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Zur Prognose der Nervennaht. 


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Beim Klopfen auf die AuBenseite des Unterschenkels Parfisthesien am FuB- 
riicken im Gebiet des Peronens, charakteristisch geschildert. Pat. geht dann in 
sfcine Gamison. 

Am 25. III. 17 koramt er nach Berlin wegen zweier Druckgeschwiire, eines 
am AuBenrande der FuBsohle, eines an der Basis der groBen Zehe. Er glaubt, 
daB die Bewegungsf&higkcit dieselbe geblieben ist. Die Sensibilitatsstorung scheine 
etwas geringer geworden zu sein. Auch die K&lte im FuB sei nicht mehr so erheb- 
lich. Er habe jetzt auch an den Drucksfcellen Schmerzen, die er friiher nicht ge- 
habt habe, keine spontanen Schmerzen. Kein Schwitzen des FuBes. 

Die Untersuchung ergibt: Wadenmuskulatur sehr gut entwickclt. Der FuB 
steht in SpitzfuBstellung, die nicht ganz ausgleichbar ist. Achillesph&nomen nicht 
deutlich. Beugung des FuBes mit voller Kraft, Beugung der Zehen wird nicht 
ausgefuhrt; ebensowenig eine andere Bewegung des FuBes; hochstens besonders 
zusammen mit der Beugung des FuBes eine leichte Abduction, die aber nicht ganz 
sicher ist. Die Grenze der Sensibilitatsstorung ist an der Innenseite des FuBriickens 
wohl etwas zuriickgegangen, laBt in der Knochellinie deren innere zwei Drittel 
ganz frei. Beriihrungen in dem anasthetischen Gebiet erzeugen ein nicht lokalisier- 
bares Prickeln im FuB. Auch an der FuBsohle ist die Sensibilitatsstorung noch 
immer sehr hochgradig, am starksten im Plantaris medialis; hier werden auch tiefe 
Xadelstiche kaum als schmerzhaft empfunden. In den anderen Tibialisgebieten 
ist die Sensibilitatsstorung geringer. Gegeniiber dem funktionellen Verhalten der 
Muskeln ergab nun die elektrische Untersuchung ein sehr merkwiirdiges Resultat. 
Der Triceps war zwar entsprechend der guten Funktion gut erregbar; auch vom 
Xerven aus sprach der Muskel gut an, und zwar faradisch wie galvanisch. Die 
galranische Zuckung ist blitzartig. Die Beuger der Zehen ferner sind fur jeden 
Reiz unerregbar. Aber vom Nervus peroneus am Cap. fibulae aus erhielt ich in 
alien zugehorigen Muskeln bei starken Stromungen Zuckungen, ebenso bei fara- 
discber wie bei galvanischer Reizung bei etwa 20 Milliampere; dasselbe gilt fiir die 
muskulare Reizung mit beiden Stromesarten, wobei die galvanische Zuckung 
etwas tr&ge ausfiel. Durch die elektrische Untersuchung veranlafit, sprach ich 
dem Pat. meine Oberzeugung aus, daB er doch mehr mit dem FuB leisten konne, 
als er glaube, und in der Tat war er sofort imstande, eine ganz geringe Extension 
des FuBes und der Zehen auszufiihren; viel weiter aber kam er auch im Laufe 
einer mehrwochigen Behandlung, trotz aller Miihe, die er sich gab, nicht; er 
konnte die betreffenden Bewegungen nur spurweise ausfiihren. Es blieb also bis 
zum SchluB eine auffallige Divergenz zwischen Funktion und der immer wieder 
kontrollierten elektrischen Erregbarkeit. 

Wir haben hier also eine sehr schwere SchuBverletzung des 
Ischiadicus vor uns. Der Nerv war zerrissen, wurde genaht. 
Operation am 15. XII. 1914, fast vier Monate nach der Verletzung. Die 
erste Bewegung (Beugung des FuBes) war nach fast zehn 
Monaten nachweisbar. Dann allmahliche Kraftigung dieser Be¬ 
wegung; am 21. VII. 1916, fast zwei Jahre nach der Verletzung, noch 
keine andere Bewegung, aber bei einer Untersuchung acht Monate 
spater deutliche Leitungsfahigkeit auch im Peroneus, und 
zwar in alien Muskeln, bemerkenswerterweise erst durch die elektrische 
Untersuchung nachweisbar, wahrend die Funktionspnifung keine Besse- 
rung erkennen lieB. DemgemaB wuBte der Patient auch nichts von der 
Besserung, deren Beginn wir also nicht exakt fixieren konnen. Immer- 
hin springt die auBerordentliche Langsamkeit des Verlaufs der Besse- 


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R. Cassirer: 


rung in die Augen. Noch heute, 32 Monate nach der Ver¬ 
letzung, 28 Monate nach der Operation, ist, davon bin ich iiber- 
zeugt, der HeilungsprozeB bei weitem nicht abgeschlossen. 

Auf die Differenz in dem Verhalten zwischen elektrischer Erreg- 
barkeit und Funktion gehe ich spater noch ein; ebenso auf die in der 
Krankengeschichte erwahnte Tatsache der Besserung im Peroneusgebiet, 
der eine bis dahin nicht vorhanden gewesene Klopfempfindlichkeit 
des Nerven einige Monate vorausging. Die Sensibilitatsstorung besserte 
sich nur sehr langsam und unvollst&ndig; selbst in dem Gebiete, in dem 
die Motiiitat seit langem wesentlich gebessert war, blieb die Sensibili¬ 
tatsstorung sehr schwer. Die UngleichmaCigkeit des Ruckganges der 
Erscheinungen in den verschiedenen Fasergruppen ist sehr ausgesprochen 
Der Triceps surae ist langst normal; in den Beugem der Zehen rtihrt 
sich nichts; sie sind wohl derjenige Teil des Nervengebiets, der als ver- 
loren zu bezeichnen ist. 

Der folgende Fall, den ich den Herren Kollegen Unger und Biel- 
schowsky verdanke, sei wegen seines charakteristischen Verlaufs 
auch noch kurz hierher gesetzt: 25. VIII. 1914 SchuB in den Ober- 
schenkel, Grenze von mittlerem und unterem Drittel. 3. X.. 1914. 
Lahmung aller vom Nervus tibialis und peroneus versorgten Muskeln; 
komplette Anasthesie. 27. X. 1914 Operation. Dr. Unger. GroBes 
Neurom am zentralen Ende, fur den elektrischen Strom motorisch nicht 
durchgangig, sensibel peripherer Stumpf nicht zu reizen. Excision, Naht. 
28. V. 1915. Prof. Bielschowsky. Keine Bessenmg. Juli 1915. Erste 
Bewegung (nach neun Monaten). Adduction des FuBes und Schmerzen 
an der AuBenseite des FuBes, die er kaum beriihren konnte. Oktober 
1916. Leichte Beugung des FuBes. Jetzt, Juli 1917, Beugimg des 
FuBes kraftig, Beugung der Zehen fehlt. Streckung und Adduction des 
FuBes gut, Streckung der Zehen beginnt. Abduction des FuBes an- 
scheinend noch fehlend, aber bei faradischer Reizung reagiert die 
Peroneu8gruppe ebenso wie die Extensoren und Flexoren des FuBes. 
Die Sensibilitat fiir Pinsel und Nadel ist tiberall erhalten, aber noch 
nicht normal; schlechte Lokalisation der Reize. 

Selbst jetzt, fast drei Jahre nach der Verletzung, 33 Monate nach 
der Operation, ist noch auf weiteren Fortschritt zu rechnen. Das 
Resultat ist jetzt schon ausgezeichnet. Seit 1 1 / t Jahren keine Behand- 
lung mehr. 

Der nachste Fall betrifft einen Arzt. Die Beobachtung ist dem- 
gemaB besonders exakt. 

Beob. Ilia. Dr. H. Verletzung 21. V. 16 durch Granatsplitter am linken Ober- 
schenkel. Starke Knochensplitterung. Lahmung des FuBes und der Zehen sofort 
festgestellt. 27. VII. 16 in Miinchen Naht des Ischiadicus. Fiinf Monate naoh der 
Operation erste schwache Beugung des FuBes. Dauemde Behandlung mit Massage 
und Elektrotherapie. Untersuchung 11. VIL17: EinschuBund AusschuB ander Innen- 


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Zur Prognose der Nervennaht. 


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und AuBenseite des Oberschenkels oberhalb der Kniekehle. Operationsnarbe. In ihr 
1st der Nerv sehr stark druckschmerzhaft. Beklopfen des Tibialis in der Liicke 
zwischen den Kopfen des Triceps erzeugt charakteristisch ausstrahlende Empfin- 
dungen. Beugung des FuBes mit nahezu voller Kraft. Abduction des FuBes 
ziemlich gut. Adduction des FuBes und alle Extensoren des FuBes in den Zehen 
yersagen noch; ebenso noch keine Zehenbeugung. Elektrisch im Triceps gute 
faradische Erregbarkeit, sonst totale Entartungsreaktion. Sensibilitatsstdrung 
sehr schwer, nur im Peroneus extemus wesentlich besser. Lange Pinselstriche in 
der FuBsohle bedingen unangenehme Empfindungen; im Peroneusgebiet bei tiefen 
Nadelstichen verlangsamte Schmerzleitung, sonst An&sthesie. 

Der Verlauf ist relativ recht giinstig; schon nach funf Monaten erste 
Bewegung; jetzt, noch nicht ein Jahr nach der Verletzung, sind schon 
zwei Muskelgruppen recht leistungsfahig. Anf die andauemd sorg- 
faltige Behandlung muB aufmerksam gemacht werden. 

Auch im nachsten Falle handelt es sich um eine sehr schwere Isehiadi- 
cusverletzung. 

Beob. IV. Leutn. S. Am 16. VII. 15 am rechten Oberschenkel durch 
InfanteriegesohoB verwundet. DurchschuB, schwere Fraktur des Ober¬ 
schenkels. Sofort L&hmung des rechten FuBes; Behandlung mit Massage. Unter¬ 
suchung am 20. XII. 15. EinschuB am Ende des oberen Drittels des rechten 
Oberschenkels lateralwarts auf der Streckseite. AusschuB auf derselben Hohe 
auf der Mitte der Beugefl&che des Oberschenkels. Das Rontgenbild zeigt eine 
starke Zersplitterung des Oberschenkels und zahlreiche GeschoBstiicke. Der 
rechte Unterschenkel und der rechte FuB sind stark atrophisch. Es besteht eine 
absolute Lahmung der FuB- und Zehenmuskeln mit kompletter Entartungs¬ 
reaktion. Die Sensibilitatsstorung ist im ganzen Peroneus- und Tibialisgebiet 
sehr schwer. Auch im ganzen Gebiet des Peroneus communicans sehr ausgesprochen. 
Beugung des Unterschenkels gut. Operation am 1. III. 16. Dr. PalmiA Der 
Nerv ist vdllig zertrennt. Das distale Ende ist in derbe Narben eingebettet und 
an der SchuBstelle des Femur festgeheftet. Das proximale Ende liegt in ca. 4 cm 
Entfernung, ist stark verdickt, von leichten Narben umgeben. Loslosung beider 
Enden aus den Narbenmassen weit nach unten und oben hinauf. Mobilisierung. 
Spaltung des proximalen Neuroms. Ausschalung desselben aus der umgeben^en 
Scheide. Weitere Abtragung der Narbe am distalen Ende bis normale Nervenenden 
freiliegen. Vereinigung beider Enden unter starker Flexion im Kniegelenk durch 
Naht. Nachste Untersuchung am 8. XII. 15, also mehr als neun Monate nach 
der Operation. Pat. gibt an, daB nach der Operation das Gefiihl am Unterschenkel 
ganz langsam ein wenig besser geworden sein soli. Er hat oft Schmerzen am Unter¬ 
schenkel, die wie Schlage durch das ganze Bein ziehen. Die Motilitat ist noch vollig 
aufgehoben. Es besteht komplette Entartungsreaktion bei gut erhaltener Er¬ 
regbarkeit. Auch die Sensibilitat ist noch im weitesten Umfange gestort. Aber 
man erhalt ganz deutliche und sicher ausstrahlende Empfindungen 
bei Druck auf den Tibialis in der Kniekehle und auf den Peroneus am Capi- 
tulum fibulae, ebenso erzielt man bei Beklopfen der vorderen Muskelgruppen am 
Unterschenkel ausstrahlende Empfindungen im Peroneusgebiet bis zum FuB. 
Ich hielt mich daraufhin fur berechtigt, eine giinstige Prognose zu stellcn. 

In der Tat berichtet der Pat. bei einer am 10.1. 17 vorgenommenen Unter¬ 
suchung, daB acht Tage spater die erste Bewegung im FuB eintrat, und zwar eine 
geringe Beugung. 

Bei der Untersuchung am 10.1. findet sich eine ganz deutliche und nicht ein- 
mal sehr schwache Beugung des FuBes. 


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R. Cassirer: 


Letzte Untersuchung 10. VII. 17. In den letzten Monaten keine Behandlung. 
Tut Dienst. Her FuB steht in SpitzfuBstellung. Die Achillessehne ziemlich stark 
kontrahiert. Beugung des FuBes mit voller Kraft. Keine weitere Bewegung. 
Sensibilit&t ungebessert. FuB trocken; bei Beklopfen der AuBenseite des Unter- 
schenkels Par&sthesien im Peroneusgebiet, starker und sch&rfer begrenzt sind diese 
noch bei Druck in die Tiefe zwischen den Kopfen des Triceps. Elektrisch im Tri¬ 
ceps partielle Entartungsreaktion, sonst komplette Entartungsreaktion. 

Also auch hier treten wieder die ersten Bewegungen neun 
Monatenachder0peration, fast l x / 2 Jahrenachder Verletzung, auf. 
Vonprognostischgunstiger Bedeutung schien mir die Druck- 
schmerzhaftigkeit der Nerven weit distalwarts von der 
Operationsstelle zu sein. Ich habe darauf schon fruher aufmerk- 
sam gemacht und dem Symptom eine gewisse Bedeutung zugeschrieben. 
Besonders haufig habe ich bei sich bessemden Fallen im Ischiadicus- 
gebiet bzw. im Gebiet des Peroneus die Erscheinung gesehen, die auch 
hier sehr deutlich war, daB bei Klopfen auf die Extensorgruppen charak- 
ristische, in das Peroneusgebiet ausstrahlende Schmerzen bzw. Par- 
asthesien auftraten. Wenn man vorsichtig und kritisch verfahrt, haben 
diese Symptome zweifellos eine gewisse Bedeutung. Bemerkenswert 
ist hier wie in vielen Fallen die UngleichmaBigkeit der Besserung. Der 
Triceps ist schon recht gut; das ubrige versagt noch. Die Beuger der 
Zehen scheinen sich meist besonders schwer zu erholen. Dadurch kommt es 
oft auch zu einer ausgesprochenen paralytischen Contractur, die weiter- 
hin recht storend wirken und die Restitution der tibrigen Muskeln be- 
hindem konnte. Ihr muBte durch Behandlung entgegengearbeitet wer- 
den, was im vorliegenden Fall schon seit Monaten nicht mehr geschieht, 
da der Patient nicht mehr in arztlicher Beobachtung steht. Das ist 
zweifellos ein Fehler. Diese Kranken durfen sich nicht selbst uberlassen 
bleiben; das kann zu dauemdem Schaden fur sie (und den Staat) fuhren. 
Die Notwendigkeit der arztlichen Kontrolle derartiger Patienten tritt 
klar zutage (siehe auch noch spatere Ausfuhrungen). 

Der folgende Fall gehort in dieselbe Kategorie. 

Beob. V. Musketier Th., verletzt am 14. VI. 15. InfanteriegeschoB durch 
beide Oberschenkel. Wenig Schmerzen. Am 22. IX. 15 Operation (Dr. Pink us). 
Der Bericht stammt aus der mir vorliegenden Krankengeschichte. Schnitt in der 
Mitte der Hintereeite des rechten Oberschenkels. Freilegung des Nervus ischiadi- 
cus, wobei sich zeigt, daB entsprcchend dem SchuBkanal cine ausgedehnte schwie- 
lige Narbe besteht, in die das zcntrale Ende des Nervus ischiadicus mit einem 
kirschkemgroBen Neurom miindet; man hat den Eindruck, daB der Nerv bier 
blind endet. Darauf Freilegung peripher an der Teilungsstelle des Ischiadicus. 
Resektion des pathologisch veranderten Nerven. Dann werden die Nerven der 
Lange nach so geteilt, daB Peroneus und Tibialis einander entsprechen. Die Ver- 
einigung gelingt bei gcbeugtem Kniegelenk ohne Spannung. Naht mit seidenen 
Knopfnahten. Die Nahtstelle des Nervus tibialis wird mit einem aus dem Mus- 
culus semimembranosus entnommenen gesticlten Lappen umhullt. Nach der 
Operation mehr Schmerzen als vorher an der AuBenseite des Unterschenkels wie 
im ganzen FuB. Die vordere FuBh&lfte ist dauemd ganz kalt. Aus der mir zur 


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Zur Prognose der Nervennaht. 


255 


Verfiigung stehenden Krankengeschichte geht weiter hervor, daB die erste Besse- 
rung, und zwar eine Beugung des FuBes 15. IX. 16, also fast ein Jahr 
nach der Operation bemerkt wird. 

Erste Untersuchung durch mich am 3.1. 17. 

EinschuB an der Innenseite des Oberschenkels handbreit iiber dem Knie- 
gelenk, AusschuB an der AuBenseite etwas tiefer; lange Operationsnarbe, die bid 
in das Kniegelenk reicht. Starke Atrophie der Muskeln des Unterschenkels. Der 
FuB ist kalt und trocken. Das rechtc Achillesphanomen fehlt. Die Beugung des 
FuBes gelingt mit voller Kraft. Die Beugung der Zehen fehlt. Bei dem Versuch, 
den FuB zu strecken, sieht man eine deutliehe Anspannung des Tibialis anticus^ 
wahrseheinlich ist auch eine Anspannung des Extensor digit, communis und des 
Extensor hallucis longus moglich. Peroneusmuskeln fehlen. Die elektrischej 
Untersuchung ergibt, daB die Beuger des FuBes faradisch und galvanisch vom 
Nerven aus, letztere bei 15—18 Milliampere, erregbar sind. Die faradische direkte 
Zuckung ist iiberall aufgehoben, die galvanische Zuckung ist iiberall trage; die 
Erregbarkeit ist dabei gut erhalten. In den Streckern besteht noch iiberall kom- 
plette Entartungsreaktion. Der Nervus peroncus am Capitulum fibulae ist sehr 
druckschmerzhaft. Das Beklopfen der Wadenmuskulatur wie der Streckmusku- 
latur erzeugt charakteristische ausstrahlende Empfindungen in beiden Nerven- 
gebieten. Die Sensibilitatsstorung fiir Pinsel und Nadel ist im ganzen Peroneus- 
und Tibialisgebiet auBerordentlich schwer. Nur im Gebiet des Peroneus extemus 
ist die Stoning geringfugiger. 

Also nach einem Jahre erste Bewegung! Dann relativ rasches 
Fortschreiten der Besserung in bezug anf die Motilitat, wahrend die 
objektive Sensibilitatsstorung dauemd noch sehr schwer bleibt. Die 
Druckschmerzhaftigkeit der Nerven distal von der Operationsstelle und 
die Klopfempfindlichkeit der Nerven in den Muskeln noch weiter 
distalwarts von der Operationsstelle ist sehr deutlich ausgesprochen 
und wird als gunstiges Zeichen aufgefafit. 

Diese Auffassung bestatigte sich auch im folgenden Fall. 

Beob.Va. F. 10. VII. lOVerletzung am 1. Oberschenkel. Granatsplitter. Durch- 
schuB. Keine Knochenverletzung. Sofort L&hmung des FuBes. Untersuchung am 
2. X. 16. EinschuB am medialen, AusschuB am lateralen Rand des Oberschenkels 
in der Mitte. Vollige Lahmung der Beuger und Streeker des FuBes und der Zehen. 
Komplette Entartungsreaktion. To tale Sensibilitatsstorung im ganzen Gebiet, auch 
im Peroneus externus. Ope ration angeraten. Operation 20. X. 16. Prof. B Or¬ 
chards Starke Zerstorung der Muskulatur. Der Nerv ist auf eine Strecke von 
6 cm in eine harte, starre Narbe umgewandelt; am zentralen Ende dickes Neurom. 
Excision bis gutc Querschnittszeichnung erscheint. Es resultiert ein Defekt von 
8 cm. Naht. 

Dauemde Beobachtung und Behandlung. 

12. VI. 17. Noch vollige Lahmung und Scnsibiht&tsstorung. FuB stets trocken. 
Keine Schmerzen. Heute erzeugt Druck auf den Peroneus am Capitulum fibulae 
zum ersten Male ausstrahlende Empfindungen im Peroneusgebiet, und Druck 
zwischen den Kopfen des Triceps starke ausstrahlende Empfindungen in der 
FuBsohle und der AuBenseite des FuBes. Daraufhin wird baldige Riickkehr voij 
Beweglichkeit in Aussicht gestellt. In den ersten Tagen des Juli kann Pat. in der 
Tat die erste Bewegung, eine rasch starker werdende Beugung des FuBes ausfuhren. 
Schon vorher hatte er einige Zeit das Gef iihl, als ob er die Herrschaft uber 
einen Teil seines FuBes wiedergewftnne, er glaubte Bewegungenausfuhren 
zu k5nnen, die man aber nicht sah. 

Z. f. d. g. Neur. a. Psych. O. XXXVIL 17 


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Also erste Bewegung nach neun Monaten, einige Wochen 
zuvor charakteristische Druckschmerzhaftigkeit. 

Sehr interessante und bemerkenswerte Einzelheiten bietet der 
folgende Fall, bei dem es sich nicht um eine totale, sondem um eine 
partielle Verletzung im Isohiadicus und dementspreohend 
um eine partielle Naht handelt. 

Beob. VI. Leutn. H. Verletzung am 10. IX. 14 durch Schrapnell, konnte 
sofort die Zehen und den FuB nicht nach oben bewegen und hatte ein taubes Ge- 
fiihl an der AuBenseite des Untcrschenkels und am FuBriicken. Von vomherein 
sehr starke Schmerzen. Gefiihl, als ob er Brandblasen auf den Zehenspitzen be- 
k&me. Keine Knochenverletzung. EinschuB links vom in der Mitte des Ober- 
schenkels. AusschuB links hinten in der Mitte des Oberschenkels. Untersuchu ng 
am 24. XI. 14. Dorsalflexion des FuBes, Dorsalflexion aller Zehen, Abduction des 
Fufies vollkommen aufgehoben. Auch die Adduction des FuBes kann nicht aus- 
gefiihrt werden. Dagegen ist die Beugung des FuBes und der Zehen vorhanden. 
Komplette Entartungsreaktion in den gel&hmten Muskeln. Sensibilitatsstorung 
im Gebiet des Peroneus, und zwar am FuBriicken in einem schmalen Bande von 
den Grund- und Mittelphalangen der zweiten und dritten Zehe nach dem ftuficren 
Knochel ziehend. AuBerdem schwere Sensibilitatsstorung auch noch im Gebiete 
des Communicans peronei. 

26. 11. Operation durch Prof. Borchardt. 

GroBer Schnitt, beginnend etwas oberhalb der im mittleren Drittel des Ober¬ 
schenkels gelegenen AusschuBnarbe. Nach unten verlangert bis in die Kniekehle. 
Freilegung des Ischiadicus. Derselbe ist in der N&he des SchuBkanals mit dem 
Bioeps fest verwachsen. Eine derbe Narbe fixiert ihn an der Umgebung. Diese 
Narbe wird ausgelOst. Nun zeigt sioh in dem Teil des Nerven, der zum Peroneus- 
gebiet gehort, eine schwielige Auftreibung. Die Narbe wird herausgeschnitten 
durch cinen Langsschnitt, der wahrscheinlich im ganzen der Grenze zwischen 
Tibialis- und Peroneusgebiet entspricht und ca. 2 cm lang ist. An seinen Enden 
werden oben und unten zwei kleine Querschnitte angelegt, so daB ein rhombus- 
artiges Stuck aus dem Nerven herausgeschnitten wird. Die Wundfl&chen des 
Nerven bluten ziemlich stark. Die Anfrischungsflachen der Nerven werden durch 
fiinf perineurotische Seidenknopfn&hte vercinigt. Der nicht excidierte Teil der 
Nerven macht auf diese Weise eine ziemlich starke Schleife. Hinter dem Nerven 
werden die Fascien mit tiefen Catgutn&hten vereinigt und ein Fettlappen iiber der 
Nahtstelle fixiert. 

Am 5.1. 15 finde ich bei einer Untersuchung eine gewisse Besserung der Sen- 
sibilitat. Diese Besserung ist anfangs Februar deutlich, indem das sensible Gebiet 
sich verkleinert hat und die Stoning auch weniger intensiv geworden ist. Die 
Schmerzen haben sofort nach der Operation aufgehort. Er kann jetzt schon zwei 
Stunden gehen, w&hrend vorher schon nach wenigen Minuten Ermudung und 
Schmerz eintraten. 

20. IV. 15. Beugung des FuBes und der Zehen gut. Adduction des Fufies gut. 
Streckung der grofien Zehe zweifelhaft. Streckung des FuBes und der iibrigen 
Zehen sicher vollig aufgehoben, Sensibilitat wie friiher. 

26. XI. 15. Bei Witterungswechsel etwas Schmerzen, Streckung der grofien 
Zehe und der iibrigen Zehen vielleicht spurweise. Tibialis anticus und Peronei 
wirken nicht. Elektrisch komplette Entartungsreaktion bei m&Big starken Stro- 
men, Sensibilit&t immer wieder in demselbcn Gebiete gestort. Pat. macht darauf 
aufmerksam, daB, wenn er auf die Gegend der oberen auBeren Seite der Extensoren- 
gruppe klopft, ausstrahlende Schmerzen im ganzen Peroneus entstehen. 


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Zur Prognose der Nervennaht. 


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Wenige Tage sp&ter, 8. XI. 15, wird die erste ganz siohere Besserung 
der Motilitat bemerkt. Es laBt sich eine siehere Wirkung der Musculi peronei 
und eine siehere Wirkung des Extensor digitorum communis nachweisen. 

Am 13. XII. 15 ausgepr&gte Besserung. Die Musculi peronei wirken jetzt 
schon kr&ftiger, ebenso der Extensor digitorum communis, Extensor hallucis 
und Tibialis anticus beginnen zu wirken. Elektrische komplette Entartungsreak- 
tion ohne Herabsetzung der Erregbarkeit. Keine Schmerzen. 

10.1.16. Weitere erhebliche Besserung. Alle Muskeln wirken. 

10. II. 16. Alle Muskeln wirken kr&ftig. Sensibilitatsstorung noch immer 
deutlich nachweisbar in Form eines schmalen Streifens, der am FuBriicken zwischen 
duBerem Knochel und zweiter Zehe sich hinzieht, auBerdem auch noch an der 
AuBenseite des Unterschenkels. Pat. nimmt seinen Dienst im Felde auf. 

N&chste Untersuchung am 25. IX. 16. Vdllige Wiederherstellung der 
Motilitdt. Alle Muskeln wirken kr&ftig. Eine elektrische Untersuchung wird nicht 
Torgenommen. Es findet sich ein ganz schmaler Streifen von Sensibilitatsstdrung 
an der AuBenseite des Unterschenkels, von da aus auf den FuBriicken iibergehend. 
Im Mai 1917 sehe ich den Pat. wieder. Er hat in RuBland in strengster K&lte 
und vielfach in groBer NSsse vollen Dienst getan. Er hat jetzt Schmerzen im 
Ischiadicusgebiet. Objektiv ist die Sensibilitatsstdrung noch nachweisbar. Moti- 
litat ohne Storung. Elektrisch noch geringfiigige Herabsetzung der Erregbarkeit. 
Nach der Behandlung (Massage, Elektrizitat) volliges Wohlbefinden, keine 
Schmerzen. 

Hier ist also eine voile Heilung erzielt worden. Nur eine 
Spur von Sensibilitatsstorung ist noch vorhanden. 

Die erste siehere Besserung der Motilitat trat elf Monate 
nach der Operation ein, wahrend die Sensibilitat schon vorher etwas 
besser geworden war. Auch hier ging der Besserung, wie der Patient 
selbst feststellen konnte, die Klopfempfindlichkeit des Nerven 
v ora us. Nachdem die Besserung begonnen hatte, machte sie rasche 
Fortschritte, so daB nach drei Monaten bereits samtliche Muskeln wirk- 
sam waren. 

Patient nahm dann seinen Dienst auf, die Besserung schritt weiter 
vor und wurde zur fast volligen Heilung. Nur die Sensibilitat, die so 
friihzeitig sich zu bessem begonnen hatte, ist noch immer nicht zur 
Norm zurflckgekehrt. Der Erfolg ist jedenfalls glanzend. Dem Opera¬ 
te ur gelang es'in auBerordentlich exakter Weise, bei der Operation ge- 
sundes und krankes Gewebe zu trennen, nur das kranke zu excidieren 
und das gesunde vollkommen stehenzulassen. Sofort nach der Opera¬ 
tion lieB sich nachweisen, daB keinerlei Schadigung des intakten Ge- 
webes stattgefunden haben konnte, da keine einzige neue Lahmungs- 
erscheinung oder Sensibilitatsstorung hinzugekommen war. Dies ge¬ 
lang, obwohl die elektrische Untersuchung, die wir in spateren Fallen 
dieser Art stets zu Hilfe genommen haben, hier (der Fall ist bereits im 
November 1914 operiert worden) nicht benutzt wurde. 

Die Beobachtung beweist, daB mit der partiellen Naht ganz aus- 
gezeichnete Resultate erzielt werden konnen. Ich habe mich auch noch 
in anderen Fallen davon flberzeugen konnen, daB dabei jede Schadigung 

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des funktionell intakten Gewebes vermieden werden kann. Es ist na- 
mentlich zu beachten, daB die bei diesen partiellen Nahten notwendig 
eintretende Schleifenbildung des stehenbleibenden gesunden Teils keine 
Schadigung seiner Funktion bedingt. 

Auch hier hat der Erfolg lange genug auf sich warten 
las sen. Der Verlauf ist bis zum Beginn der Besserung nicht rascher 
gewesen als in den Fallen totaler Ischiadicusverletzung. Dann ist die 
Besserung allerdings sehr rasch fortgeschritten. 

Eine rasche Besserung einer partiellen Naht des Ischiadicus sahen 
wir im folgenden Fall. 

Beob. Via. T., verletzt am 5. IV. 16 durch InfanteriegeschoB. Sofort L&hmung 
des FuBes. Eine einige Monate nach der Verletzung einsetzende Beobachtung ergibt 
Stets dasselbe Bild: EinschuB in der Mitte der Vorderseite des Oberschenkels. Aus- 
scbuB an der Innenseite des Oberschenkels an der Grenze zwischen mittlerem 
und unterem Drittel. Dauernd sehr viel Schmerzen im FuB. Dieser steht in starker 
Abductionsstellung. Tibialis anticus spannt sich etwas an. Extension der Zehen 
moglich, Abduction des FuBes kraftig, Beugung des FuBes und an Zehen fchlend. 
Elektrisch in den Extensoren der Zehen und den Peronei partielle Entartungs- 
reaktion, im Tibialis anticus und alien Beugern komplette Entartungsreaktion 
mit absinkender Erregbarkeit. Sensibilitat im Peroneus profundus und im ganzen 
Tibialis schwer gestort, aber nicht aufgehoben; fiir tiefe Nadelstiche eher Hyper- 
algesie. Nervenstamme nicht druckschmerzhaft. Operation wird von mir vorge- 
schlagen, da keinerlei Besserung eintritt. Operation am 19. I. 17 durch Gch.-Rat 
Prof. Bore hard. Der Ischiadicus findet sich an der Innen- und Vorderseite 
teilweise verdickt, mit der Umgebung verwachsen. Am oberen und unteren Ende 
findet sich an der Verdickung eine Anschwellung. Die aus Nervenscheide und 
Nervengewebe gebildete Narbe wird entfernt. Dann Naht der resezierten Partien. 
Auch nach der Operation noch dauernd sehr viel Schmerzen. Schon am 24. III. 17 
kommt eine geringe FuBbeugung zustande. Untersuchung am 12. VII. 17. FuB 
kalt, schwitzt stark. Achillesphanomen fehlt. Alle Extensoren wirken gut, fast 
mit voller Kraft; die Musculi peronei wirken normal. Beugung des FuBes mit 
ziemlich erheblicher Kraft. Beugung der Zehen beginnend. Tibialis anticus mit 
sehr starken Stromen faradisch erregbar; galvanisch trage Zuckung; im Triceps 
surae dasselbe Bild, in den Beugern der Zehen komplette Entartungsreaktion; 
iibrige Muskeln nahezu normal. Sensibilitat erheblich gebessert. Pinselberuhrungen 
iiberall gefiihlt. 

Hier handelt es sich sicher zum Teil um eine Neurolyse, aber es wurde 
auch ein Stuck des Nerven mit entfernt. Der Verlauf war sehr gtinstig. Jetzt, 
nach sechs Monaten, sind schon iiberall Ansatze zu Bewegungen vor- 
handen. Die Schmerzen blieben auch nach der Operation noch lange 
sehr intensiv. Das habe ich leider mehrfach gesehen; auch da, wo 
nur wegen der Schmerzen die Indikation zur Operation gegeben er- 
schien. 

Den Operationen am Peroneus Oder am Tibialis, wo diese bereits als 
isolierte Nerven verlaufen, scheint man im ganzen eine etwas bessere 
Prognose zuschreiben zu woilen. 

Aus meinem Beobachtimgskreise berichte ich liber die folgenden 


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Zur Prognose der Nervennaht. 


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Fall© von geheilter oder heilender Peroneuslahmung nach Naht, bei 
<lenen sich weitere bemerkenswerte Einzelheiten ergeben. 

Beob. VII. Leutn. V. B. 17. IX. 15. Verletzung durch InfanteriegeschoB. 
Ein- und AusschuB oberhalb des Capitulum fibulae. Die R5ntgenaufnahme er- 
gibt einen Bruch des WadenbeinkOpfchens. 

Erste Untersuchung am 14. X. 15 durch Prof. Vorkastner. Es besteht eine 
totale L&hmung der vom Nervus peroneus versorgten Muskeln mit kompletter 
Entartungsreaktion. Senaibilitatestorung fur feine Benihrungen, Temperatur- 
unterschiede und Schmerzreize in einem schmalen langlichen Streifen an der AuBen- 
seite des Unterschenkels und auf dem FuBnicken. Bei Druck auf den Nervus 
peroneus am Wadenkopfchen Parasthesien in den Zehen. 

Derselbe Befund am 20. XI. 15. Irgendeine Besserung ist nicht eingetreten, 
•Subjektiv sind die Schmerzen im FuBriicken, die anf&nglich vorhanden waren. 
verschwunden. Die nervenarztliche Diagnose lautet: SchuBverletzung des Ner¬ 
vus peroneus; beziiglich der Indikationsstellung zur Operation wird gesagt, daB 
zwar eine vollige Durchtrennung des Nerven bei der Geringfiigigkeit der Sen- 
sibilitatsstorung, den Parasthesien bei Druck auf den Nervus peroneus und den 
anf&nglich vorhanden gewesenen spontanen Schmerzen im Peroneusgebiet nicht 
mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei. Jedenfalls aber zeige die Totalitat des 
motorischen Ausfalls und die fehlende Neigung zur Ruckbildung, daB es sich um 
cine schwere Nervenlasion handelt. 

Operation am 23. XI. 15 durch Prof. Wolff, Hermannswerder, Leicht 
gebogener Schnitt langs iiber das Fibulakdpfchen. Der Stamm des Peroneus 
wird ohne besondere Schwierigkeit aus den narbig veranderten Weichteilen pr&* 
pariert. Er ist genau an der Frakturstelle des Fibulakopfchens in den Knochen 
geradezu hineingetrieben und zu seiner doppelten Breite plattgedriickt und fest 
fixiert. In einem etwa l 1 /, cm langen Stuck der verletzten Partie ist der Nerv 
■zu einer reinen Schwiele geworden. Auch oberhalb und unterhalb dieses Schwielen- 
bezirkes ist er etwa 1 cm weit in Narben eingebettet. Ohne Unterbrechung 
-der Kontinuitat wird er vom Knochenstumpf losgelost, dabei ergibt sich, daB 
unmittelbar unterhalb der verletzten Stelle der Nerv sich in seine beiden Zweige 
teilt. Da nach der bloBen Besichtigung und Befiihlung, die am Knochen fixierte 
Nervenpartie reines Narbengewebe dars teilt, wird sie in etwa 2 cm Lange rese- 
ziert. Dann Nervennaht, so daB die beiden Aste getrennt mit dem Stamm ver- 
•einigt werden. Einscheidung mit einer Fascienmanschette aus der Fascia lata. 

Untersuchung am 2. II. 16 durch mich: Lahmung aller vom Peroneus 
versorgten Muskeln, komplette Entartungsreaktion, Sensibilitatsstorung am FuB- 
riicken in dem schmalen Streifen, der von der Basis der ersten und zweiten Zehe 
nach der AuBenseite des FuBgelenkes fiihrt. Weder Pinselberiihrung noch Nadel, 
noch tiefer Druck gefiihlt. Auch in einem Teile des Peroneusgebietes am AuBen- 
rande des Unterschenkels etwa bis zur Mitte desselben dieselbe schwere Sensibili- 
t&tf storung. Die iibrigen Teile des Peroneusgebietes, namentlioh also die auBeren 
Teile des FuBriickens, sind von wesentlicher Sensibilitatsstorung frei. 

Nachste Untersuchung am 5.1. 17. Pat. berichtet, daB die erste Bewegung 
im November 1916 eingetreten 1st, und zwar war es eine Abductionsbewegung, 
•die rasch an Umfang zunahm. 

Die Untersuchung ergibt jetzt: Abduction des FuBes kr&ftig, Ex¬ 
tension des FuBes ziemlich gut, Extension der Zehen deutlioh. Sen¬ 
sibilitatsstorung noch immer in denselben Gebieten wie vor der Operation und 
bei der ersten Untersuchung nach der Operation. Der Nervus peroneus ist fara- 
•disch und galvanisch bei ziemlich starken Stromen gut erregbar. Eine direkte 
Caradische Erregbarkeit laBt sich in den funktionierenden Muskeln nicht nach 


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weiaen. Galvanisch findet sich in den Muskeln eine trage Zuckung bei starken 
Stromen. 

Der Fall zeigt denselben protrahierten Verlauf wie die Verletzungen 
des Stain mes. Die erste Bewegung ist ein Jahr nach der Operation, 
14 Monate nach der Verletzung eingetreten. Die Besserung hat dann 
innerhalb zweier Monate sehr rasch zugenommen. Die Sensibilitats¬ 
storung hat sich nach 14 Monaten noch nicht wesentlich gebessert. 

Sehr bemerkenswert ist, daB der Umfang der Sensibilitats¬ 
storung von vomherein nicht das ganze sonst fur den Peroneus in 
Anspruch genommene Gebiet betraf. Dieses Verhalten ist nach 
meiner Erfahrung die Regel. Die Sensibilitatsstorung ist bei Ver¬ 
letzungen des Peroneus am Oberschenkel nach der Teilung bzw. bis 
zum Capitulum fibulae fast immer beschrankt auf ein schmales Gebiet, 
das vom auBeren Knochel uber den FuBriicken nach der Basis der ersten 
drei Zehen zieht. Der ganze auBere Teil des FuBruckens ist in seiner 
Sensibilitat in diesen Fallen intakt oder nur wenig gestort. 

Dieser Teil wird vom Nervus suralis versorgt, der, aus dem Nervus 
cutaneus surae medialis entspringt und dieser wiederum ist ein Ast des 
Nervus tibialis, der allerdings einen Ramus anastomoticus vom Peroneus 
empfangt. Auf diese Weise ist dieses Gebiet doppelt innerviert, und wie 
in alien derartig versorgten Hautgebieten ist die Sensibilitatsstorung 
bei den Verletzungen dann sehr gcringftigig. 

Im Gegensatz dazu ist die auBere Seite des Unterschenkels, in wech- 
selnder Ausdehnung, oft bis an das Capitulum fibulae heran in der Sen¬ 
sibilitat in unserem Fall schwer beeintrachtigt. Dieses Gebiet wird 
vom Nervus cutaneus lateralis versorgt, der aus dem Nervus peroneus 
communis stammend, in wechselndem Umfange die Haut der hinteren 
lateralen Seite des Unterschenkels innerviert. Die bei den Verletzungen 
des Nervus peroneus gesammelten Erfahrungen zeigen, daB jedenfalls 
in sehr vielen Fallen ein groBer Teil dieses Gebietes ganz auf den Nervus 
cutaneus surae lateralis aus dem Peroneus angewiesen ist. 

Die vor der Operation bei den Patienten gemachte Annahme, daB 
die Beschrankung der Sensibilitatsstorung darauf hinweist, daB der Nerv 
nicht zerris8en sein kann, ist also nicht schlagend. Ich will zwar nicht 
behaupten, daB der Operateur in diesem Falle in der Lage war, durch 
Befuhlen der Narben sicher festzustellen, ob in denselben-etwa noch 
sensible Fasem oder Fasem anderer Natur vorhanden waren. Im 
Gegenteil, ich habe bereits in meiner fruheren Arbeit darauf hingewiesen, 
dafl das unmoglich ist und daB die histologische Untersuchung an exci- 
dierten Stucken sehr oft noch Nervenfasem dort erkennen laBt, wo das 
Gefvlhl bei der Operation nur noch feste Narbe zu ergeben schien. Ich 
glaube auch nicht, daB es dem Chirurgen bei der Operation durch In~ 
spektion gelingt, mit Sicherheit festzustellen, ob der von ihm angelegte 


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Zur Prognose der Nervennaht. 


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Querschnitt rein narbig ist oder noch Nervenfasem enth&lt. Selbst die 
histologische Untersuchung mit unseren besten Methoden und starksten 
VergroBerungen beseitigt da nicht immer jeden Zweifel. Die Tatsache 
aber, daB unmittelbar nach der Resektion des Nerven das Territorium 
der Haut, das asensibel war, nicht groBer war als vor der Operation, 
beweist doch mit Sicherheit, daB das sensible Versorgungsgebiet des 
Nervenstammes am FuBriicken nicht erheblich groBer sein kann, als 
das hier vorgefundene anasthetische Feld. Die hier beztiglich der sen- 
siblen Versorgung des FuBriickens gemachte Erfahrung ist auch nicht 
etwa vereinzelt, sondem scheint mir durchaus die Regel zu sein und 
stimmt mit den Angaben in den Lehrbiichem der Anatomie durchaus 
tiberein. 

Ein zweiter Punkt, der fiir die nicht vollige Zertrennung des Nerven 
durch die Verletzung zu sprechen schien, war die Druckschmerz- 
haftigkeit des Peroneus am Capitulum fibulae. DaB diese aber 
in den Fallen, wie dem vorliegenden, wo die Narbe so nahe an der 
Druckstelle sitzt, ein zuverlassiges Symptom ist, muB bezweifelt wer- 
den, weil es hier kaum moglich sein wird, bei Ausfiihrungdes Drucks 
eineZerrung an derNarbe zu vermeiden. Das aber ist die Fehler- 
quelle, die bei dieser Untersuchungsmethode zu Trugschliissen fiihren 
muB. Ich halte nach wie vor, wie auch aus meinen friiheren, eben an- 
gefiihrten Fallen hervorgeht, die Untersuchung der Druckschmerz- 
haftigkeit peripher von der Verletzungsstelle fiir ein wertvolles diagnosti- 
sches Symptom. Man muB aber den Versuch dUnn so anstellen, daB 
man jede Zerrung an der Narbe vermeidet. Man darf nicht briisk auf 
den Nerven losstoBen, sondem man muB in entsprechender Lage unter 
Entspannung versuchen, rein eine Druckwirkung auszuiiben, und wird 
das nur dann mit Sicherheit konnen, wenn Verletzungsstelle und Druck¬ 
stelle voneinander entfernt und nicht durch Narben verbunden sind. 
Auf die Klopfempfindlichkeit der Nerven, noch weiter entfernt von 
der Verletzungsstelle, die sich dann oft erst im weiteren Verlauf ein- 
stellt, habe ich in den friiher beschriebenen Fallen aufmerksam ge- 
macht. Den Patienten ist dieses Symptom haufig auch selbst aufge- 
falien. Bei gelegentlichen Beriihrungen empfanden sie einen ausstrahlen- 
den Schmerz, der friiher nicht vorhanden gewesen war. Dieser Schmerz 
ist offenbar haufig ein Friihsymptom der beginnenden Heilung. Als 
ein solches mochte ich ihn in dem folgenden Fall auffassen, iiber den 
ich nicht ganz vollstandige Notizen habe. 

Beob. Vin. M. 2. V. 15. Durch InfanteriegeschoB verletzt, das durch beide 
Oberschenkel ging. Sofortige Lahmung des rechten FuBes. Keine wesentlicheu 
Schmerzen. Von vornherein konnte er den FuB und die Zehen ein wenig beugen. 
November 1915 Operation durch Herm Dr. Salomon. Resektion des peronealen 
Anteils des Ischiadicus. Eine am 29. XII. 16 vorgenommene Untersuchung er- 
gibt: Die Beugung des FuBes erfolgt mit voller Kraft, die Beugung der 


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R. Cassirer: 


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Zehen ist moglich, aber nicht ganz kr&ftig. Tibialismuskulatur ist elektrisch 
intakt, ebenso ist die Sensibilit&t in diesem Gebiet vollig normal. Beim Beklopfen 
der AuBenseite des Unterschenkels erhalt man ganz deutlich ausstrahlende Schmer- 
zen im Peroneusgebiete, die ganz charakteristisch geschildert und in ihrem Ver- 
lauf angegeben werden. Der Druck auf den Nervus peroneus am Capituhim fibulae 
erzeugt keine ausstrahlenden Schmerzen. Die Sensibilitat fiir Pinael ist im Pero- 
neusgebiet am FuB zwar herabgesetzt, aber nirgends aufgehoben, noch weniger 
ist die Schmerzempfindung gestort. Im Peroneus profundus besteht ein ganz 
normalcr Befund, und auch im Peroneus extemus ist keine ausgesprochene An- 
fisthesie vorhanden. Pat. meint, daB er den FuB gar nicht strecken kann, aber es 
ergibt sich bei genauer Priifung, daB auch die Strecker doch nicht vollkommen ge- 
|l&hmt sind, es wird eine Bewegung ausgefiihrt, die aber nicht ganz sicher zu deuten 
ist. Elektrisch findet sich eine komplette Entartungsreaktion bei auffallig gut 
erhaltener Erregbarkeit. Es scheint mir, daB in diesem Falle, in dem die Operation 
13 Monate zuriickliegt, der erste Beginn der Restitution der Motilit&t vorhanden ist. 

Der folgende Fall ist aus mehrfachen Griinden bemerkenswert. 

Beob. IX. J., am 25. V. 15 durch Granatsplitter verwundet, Ein- und Aus- 
schuB in der Kniekehle. Sofort Lahmung des 1. FuBes, keine Knochenverletzung. 
Am 25. IX. 15 im Gamisonlazarett I operiert. Nervennaht des Nervus peroneus 
und tibialis. Beide waren zerrissen, Ausfall von einigen Zen time tern. Auch der 
Nervus cutaneus surae lateralis wurde genaht, er war ebenfalls zerschossen. 

Die Untersuchung am 21. XII. 15 im Ambulatorium des Reservelazaretts 
Kunstgewerbemuseum ergab: Achillesph&nomen fehlt. Alle FuB- und Zehenbewe- 
gungen fehlen. Analgesic und Anasthesie im ganzen Peroneusgebiet, im Tibialis 
und Cutaneus surae lateralis besteht Analgesic und Hypasthesie. Elektrisch 
komplette Entartungsreaktion im Ischiadicus- und Tibialisgebiet. Emeute Unter¬ 
suchung am 26.1. 17 durch mich: Unterschenkelmuskulatur sehr stark atrophisch. 
Pat. gibt zunachst an, daB es ihm nicht moglich ist, irgendeine Bewegung auszu- 
fiihren. Es laBt sich aber nachher nachweisen, daB er bei energischer Aufforde- 
rung zun&chst eine leichte Adduction des FuBes ausfiilirt, die anscheinend durch 
den Tibialis posticus erfolgt. Die elektrische Untersuchung ergibt nun als iiber- 
iraschendes Resultat, daB der Nervus tibialis, faradisch gereizt, eine deutliche 
Zuckung des Triceps surae und des Tibialis posticus crkennen laBt. Weiterhin 
IftBt sich aber mit starken faradischen StrSmen mit voller Sicherheit auch eine 
Zuckung des Tibialis anticus und der Museuli peronei erzielen. Eine direkte fara- 
dische Erregbarkeit ist nur im Tibialis posticus vorhanden. Die direkte Muskel- 
erregbarkeit ist bei galvanischen Stromen sehr stark herabgesetzt, bei starken 
Strdmen erzielt man nur geringe Zuckungen im Tibialis anticus. Die gesamte 
Tibialismuskulatur ist galvanisch kaum zu erregen. Die Sensibilit&tsstorungen 
sind sehr hochgradig und betreffen noch das ganze Gebiet des Peroneus und 
Tibialis. 

Das bemerkenswerteste Moment in diesem Falle ist also wieder die 
Tatsache, daB der Patient selbst fiber die Bewegungsfahigkeit 
seines FuBes durchaus im unklaren w r ar. Er meinte, daB er 
den FuB ein wenig adduzieren konne und bei der Aufforderung, Be- 
wegungen auszufuhren, schien er in der Tat zunachst nur zu dieser Be- 
wegung imstande zu sein. Als bei der elektrischen Untersuchung die 
Erregbarkeit des Tibialis und Peroneus sich ergab, und dadurch dem 
Untersuchenden klar wurde, daB voraussichtlich ein groBeres MaB von 
Beweglichkeit vorhanden sei, gelang es alsbald, dem Patienten selbst 


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Zur Prognose der Nervennaht. 


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•die Uberzeugung da von beizubringen, daB er mehr bewegen konne. 
Zu der geringfugigen Adduction des FuBes konnte er sofort im Laufe 
der einen Untersuchung eine Beugung des FuBes und eine Streckung 
des FuBes und der Zehen fiigen. Hier war die erste Bewegung etwa 
zehn bis elf Monate nach der Operation eingetreten. Ober den Fort- 
gang der Besserung war der Patient selbst im unklaren; er merkte nichts 
davon und er muBte erst durch die Untersuchung darauf aufmerksam 
gemacht werden. Dieses Verhalten der Kranken stellt keine ganz sel- 
tene Ausnahme dar. Ich habe es schon oben erwahnt, und habe es auch 
im folgenden Falle konstatieren konnen. 

Beob. X. K. 12. VI. 15 am rechten Oberschenkel verwundet, keine Knochen- 
verletzung. Sofort I&hmung im Peroneusgebiet. 24. IX. 15 Operation durch Dr. 
Salomon. Resektion des peronealen Anteils des Ischiadicus. Vor und nach der 
Operation heftige brennende Schmerzen an der Wade und am FuBrucken. Unter¬ 
suchung am 29. XII. 16. Ein- und AusschuB an der Innen- und AuBenseite des 
Oberschenkels ungefahr in der Mitte. Pat. ist nicht imstande, den FuB oder die 
Zehen zu strecken. Schwere Sensibilit&tsstdrungen im Gebiet des Nervus peroneus 
superficialis und des Peroneus extemus. Die Sensibilitatsstorung reicht hier bis 
zur Tibiakante, und zwar beinahe bis an das FuBgelenk. Die Kraft der Beuger 
des FuBes und der Zehen ist wohl normal, das Achillesphanomen fehlt. Es l&Bt 
sich nun durch die elektrische Untersuchung nachweisen, daB der Tibialis anticus 
und die Extensoren der Zehen durch Reizung des Nervus peroneus mit faradischen 
Stromen ganz deutlich reagieren. Bei galvanischer Reizung der Muskeln besteht 
eine trage Zuckung. Die genauere Exploration mittels des galvanischen Stromes 
ergibt dann, daB vom Nerven aus nicht nur Tibialis anticus und die Extensoren 
der Zehen, sondera auch die Musculi peronei ganz deutlich reagieren. Es kann 
keine Rede davon sein, daB es sich um eine fortgesetzte tr&ge Zuckung han- 
delt, sondem die Zuckung ist durchaus blitzartig. Durch Reizung vermittels des 
faradischen Stromes ist eine Zuckung des Nerven nicht zu erzielen. Auch hier 
gelingt es, nachdem der Uniersuchende durch die elektrische Untersuchung die 
Uberzeugung bekommen hat, daB eine Bewegung moglich sein muB, ohne Schwie- 
rickeit, alsbald den Pat. zu iiberzeugen, daB er seinen FuB strecken und ad- 
duzieren kann. Er lernt diese Bewegung, die ihm durch den elektrischen Strom 
vorgemacht ist, sofort und ist imstande, die ihm bis dahin angeblich unmoglichen 
Bewegungen mit einiger Kraft auszufiihren. Auch hier war also der Pat. in Un- 
kenntnis der Besserung geblieben und muBte erst vom Arzt, der dieselbe durch die 
elektrische Untersuchung als vorhanden nachweisen konnte, darauf hingewiesen 
werden, daB er imstande sei, mit seinem angeblich und anscheinend gelahmten 
Bcin Bewegungen wieder auszufiihren. Es lieB sich hier nicht feststellen, wann die 
erste Bewegung eingetreten ist. Die Untersuchung, die die Besserung erkennen 
lieB, erfolgte 15 Monate nach der Operation. Nebenbei sei hier noch auf die auf- 
fallig groBe Ausdehnung der Sensibilitatsstorung hingewiesen, die an der vorderen 
AuBenseite des Unterschenkels im distalen Abschnitte iiberall die Tibiakante 
erreichte und damit ein Gebiet betraf, das sonst meistens bei derartigen Ver- 
letzungen nicht mit einbezogen ist, weil es offenbar zum Teil vom Saphenus ver¬ 
so ret wird. Solche Differenzen der Sensibilit&tsversorgung sind ja etwas durchaus 
Bekanntes. 

Sehr auffallend war die Unkenntnis des Kranken uber das MaB seiner 
Bewegungsfahigkeit in dem operierten Nervengebiet im folgenden Fall: 


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R. Cassirer: 


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Beob. XI. Oberleutn. W., 29 Jahre alt. Pat. wurde am 9. VIII. 14 durch 
drei Sehrapnellkugeln aus unbekannter Entfemung am rechten Arm ver- 
wundet. In Freiburg wurde am 11. VIII. 14 eine Fraktur des Oberarms 
und eine Radialislahmung festgesteUt. Am 25. VIII. wurde in der Freiburger 
chirurgischen Klinik eine Nervennaht vorgenommen. Die Wunde heilte alsbald; 
schon am 15. XI. wurde Pat. wieder ins Feld entlassen. Am 30. IX. bekam Pat. 
einen SchuB in die eine Hand, der heilte. Da aber gleichzeitig die Steifheit im 
r. Arm wieder zunahm, wurde ihm angeraten, sich in nervenarztliche Behandlung 
zu begeben. Der r. Arm wurde elektrisiert und mit Fibrolysin behandelt. Da keine 
Besserung eintrat, suchte Pat. die Kgl. Chirurgische Klinik auf. Status in der 
Klinik am 28. XII. 14 : Dings des r. Oberarms l&uft eine ca. 25 cm lange rote 
Operationsnarbe, die im oberen Teil von der urspriinglichen SchuBverletzung 
herriihrt. Im unteren Teil des Oberarms fiihlt man einen dicken Callus, der auch 
im Rontgenbild deutlich zu sehen ist. An zwei Stellen befinden sich groBe Auf* 
hcllungen, so, als ob noch Cysten im Callus wkren. Das Ellcnbogengelenk ist 
rechtwinklig versteift. Die von rair vorgenommene Nervenuntersuchung ergibt: 

Beugung des Unterarms nur durch Biceps. Supinator longus fehlt vollkoru¬ 
men. Lahmung aller Extensoren der Hand und der Finger, ebenso des Abductor 
pollicis longus. Auch der Supinator brevis fehlt, leichte Scnsibilitatsstorung im 
Radialisgebiet, komplette Entartungsreaktion. Da der Callus ubermaBig stark 
ist, besteht der Verdacht, daB der Radialis in den Callus eingebacken ist. Der 
Nerv wird daher am 29. XII. von Geheimrat Bier nochmals freigclegt, obwohl 
die Zeit nach der Operation noch sehr kurz ist, und eine Wiederherstellung der 
Funktion natiirlich noch nicht erwartet werden kann. Der Nerv befindet sich in 
derber Schwiele eingebacken und wird aus dieser herauspr&pariert. An einer 
Stelle ist er verdickt und fiihlt sich hart an. Dies ist die alte Nahtstelle. Dann wird 
der hypertrophische Callus frcigelegt und teilweise mit dem MeiBel abgetragen. 
Nun wird der Nerv mit Muskeln unterfiittert und die Wunde zugenaht. Der Nerv 
hat unmittelbar auf dem Callus gelegen. Von den im Rontgenbild anscheinend 
vorhandenen Cysten ist nichts zu finden. Nachtraglich wird noch festgestellt* 
daB der Pat. vor Jahren Lues gchabt hat. Er hat im Jahre 1914 vor Beginn des 
Krieges eine Quecksilberbehandlung durchgemacht, der Wassermann ist jetzt 
negativ, er bekommt trotzdem noch eine Quecksilberbehandlung in Form einer 
Schmierkur. Am 2. IV. 15 geht Pat. wieder ins Feld. Die Lahmung ist unverkndert, 
ebenso wie die Scnsibilitatsstorung. Ich horte von dem Pat. nichts mehr bis 
er am 27. XII. 16 mieh wieder aufsuchte, und zwar kam er wegen heftiger 
Schmerzen im rechten Oberarm, die er seit einigen Monaten empfand, w&hrend 
deren er in sehr nassen Unterstanden lag. Er gab an, daB er im August 
1915 funf Wochen in Behandlung gewesen ware, daB sich aber an seinem 
Arm in dieser Zeit nichts gebessert hatte, und er meinte, auch jetzt noch keinerlei 
Bewegung in den gelahmten Gebietcn ausfiihren zu konnen. Er trug dauernd 
eine Radialisschiene. Die Untersuchung ergab folgendes: Man fiihlt an der AuBen- 
seite des rechten Oberarmes ein druckschmerzhaftes Knotchen. Der Druck an 
diescn Stellen geht wie ein elektrischer Schlag in die Hand, und zwar in das Ge- 
biet des Radialis. Es laBt sich nun sofort feststellen, daB die passiv extendierte 
Hand nicht herunterfallt, sondern in der ihr gegebenen Stellung verharrt. Auf 
entsprechende Aufforderung hin vermag der Pat. dann aber auch sofort die Hand 
zu extendieren, und zwar gelingt dies© Bewegung mit einiger Kraft und auch bei 
vollkommen gestreckten Fingern. Ebenso laBt sich nachweisen, daB der Pat. 
imstande ist, bei einer Beugung des Unterarms den Supinator longus anzuspannen. 
Femer laBt sich nachweisen, daB auch der Extensor pollicis ganz sicher funktioftiert, 
etwas zweifelhaft ist die Funktion noch im Extensor digitorum communis und 
im Abductor pollicis. Die elektrische Untersuchung ergibt nun, daB vom Nerven 


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Zur Prognose der Nerrennaht 


265 


&U8 der Supinator longus, der Supinator brevis, die Extensoren der Hand 
ganz sieher sich kontrahieren, und zwar sowobl bei faradischer wie bei galvanischcr 
Reizung. In denselben Muskelgebieten ist auch direkte faradische Erregbarkcit 
nachzuweisen. Eine genauere elektrische Untersuchung war nicht mbglich. Die 
Seusibilitatspriifung ergab ungefahr dasselbe Resultat wie fruher, vielleicht war 
die Sensibilitatsstorung etwas weniger intensiv. Pinsel und Nadel wurden zwar 
uberall unterschieden, aber in dem bckannten umscbriebenen Radialisgebiet am 
Handrucken, am ersten und zweiten Knochel und am Riicken des Daumens be- 
stand eine Abstumpfung. 

Dieser Patient hatte also keine Ahnung davon, daB in dem ur- 
sprunglich gelahmten Gebiet eine weitgehende Restitution eingetreten 
war. Er hatte offenbar darauf verzichtet, weitere Versuche zu machen, 
die gelahmten Muskeln anzuspannen. Es war nicht etwa eine Ge- 
wohnheitslahmung, der Patient hatte nur gar keinen Versuch gemacht, 
sich der gelahmten Muskeln zu bedienen. Er war aufs hochste iiber- 
rascht, als ich ihm zeigte, daB er dazu imstande ware, brauchte die 
Bewegung auch nicht etwa zu lemen, sondem fuhrte in dem Moment, 
als er sich von der Moglichkeit der Bewegung iiberzeugt hatte, dieselbe 
exakt und ohne jede Schwierigkeit aus. 

Der Patient ist dann jetzt (April/Juni 1917) gelegentlich eines Kom- 
mandos wieder in meine Behandlung gekommen. Es ist inzwischen 
noch eine weitere Besserung eingetreten, indem er alle Grundphalangen 
der Finger, wenn er die Mittel- und Endphalangen beugt, deutlich 
strecken kann. Die Extensoren der Hand, der Supinator longus brevis, 
der Extensor poll. long, wirken sieher, aber die letzteren immer 
noch mit einer erheblichen EinbuBe an Kraft, die zum Teil sieher 
auf den ungunstigen Sehnenverhaltnissen, insbesondere einer star- 
ken Verlangerung und Erschlaffung der Strecksehnen beruht. Die 
genauere elektrische Untersuchung ergibt: Der Nerv ist an der Ura- 
schlagstelle faradisch und galvanisch gut reizbar, mit Wirkung auf 
Sup. long., Extensoren der Hand und Extensor pollicis. Der Supinator 
longus direkt faradisch reizbar, die iibrigen Muskeln nicht. Galvanisch 
direkt blitzartige Zuckung im Supinator long., Extensor carpi rad.. 
Abductor pollicis, im Ext. digit, communis bei starken Stromen geringe 
trage Zuckung. 

Diese Beobachtung ist in vieler Beziehung bemerkenswert. Die 
Heilung bzw. die weitgehende Besserung ist hier unter recht un¬ 
gunstigen Umstanden zustande gekommen. Es handelt sich um einen 
mit Lues behafteten Mann, der nach der Operation eine Schmierkur 
durchmachen muBte, der sich dann den Strapazen des Feldzuges immer 
weiter aussetzte, keinerlei Behandlung mehr hatte und auch in Un- 
kenntnis der beginnenden Besserung auf jede Ubung verzichtete. Wenn 
wir diese Erfahrungen mit einigen anderen, von denen ich oben schon 
Beispiele gegeben habe, vergleichen und zusammenhalten, so werden 


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R. Cassirer: 


wir nicht daran zweifeln diirfen, daG auch ein mehr oder minder 
vollkommener Verzicht auf Behandlung nach Ausftihrung 
der Nervennaht den Eintritt der Heilung nicht verhindert. 
Aus solchen immerhin vereinzelten Erfahrungen den SchluG zu ziehen, 
daG jede Behandlung der Patienten mit Nervennaht nach der Operation 
uberfltissig ist, erscheint mir aber durchaus falsch. Zu den Fanatikem der 
Nichtbehandlung mochte ich mich gewiG nicht rechnen. Im Gegenteil, 
ich halte eine sorgfaltige Behandlung mit Elektrizitat, Massage, tlbun- 
gen usw. fur unbedingt erforderlich. Immerhin glaube ich aber, aus 
diesen und ahnlichen Erfahrungen schlieGen zu sollen, daG es wohl an- 
gangig ist, solche Patienten einige Monate nach der Operation, soweit 
keine weiteren Komplikationen — Contracturen, Versteifungen, schwere 
sensible, vasomotorische, trophische Storungen — vorliegen, wieder 
einer Tatigkeit zuzufiihren. Was aber diese und ahnliche Falle lehren, 
das ist jedenfalls das eine, daG derartige Patienten nicht ohne, 
in gewissen Zeitraumen zu wiederholende arztliche Unter- 
suchungen bleiben dtirfen. Im vorliegenden Falle hat die Uberzeu- 
gung des Patienten, daG er seine Hand nicht bewegen konnte, an- 
scheinend zu keinem irreparablen Schaden gefuhrt; es hat sich keine 
psychogene L&hmung eingestellt, auch keine Gewohnheits- 
lahmung und keine Contractur, Moglichkeiten, mit denen man 
rechnen muG. Ein anderer Schaden ist aber doch eingetreten. Die 
vollige Wiederherstellung der Funktion wild durch die auGerordentliche 
Sehnenverlangerung, die in dem gelabmten Gebiet sich eingestellt hat, 
zunachst sehr in Frage gestellt. Der Patient bedarf bei Ausfuhrung der 
Bewegung einer auGerordentlichen Kraftanstrengung, um die schlaffen, 
gedehnten Sehnenzugel zur Wirkung zu bringen. Am schwersten fallt 
ihm das noch jetzt ftir die langen Extensoren der Finger, bei denen 
eine Wirkung bisher nur moglich war, wenn er durch einen Kunstgriff 
(starke Beugung der Finger) die Ansatzpunkte der Sehnen moglichst 
weit voneinander entfemt und ihnen anscheinend auch noch einen 
Unterstutzungspunkt an den Knocheln schafft: Die Kontraktion der 
Muskeln selbst ist ziemlich kraftig, der Bewegungseffekt durch un- 
gunstige Hebelverhaltnisse stark beeintrachtigt. DaG daran der lange 
Nichtgebrauch mindestens zum Teil schuld ist, halte ich fiir sicher. 
Man miiGte wohl jetzt an eine Sehnenraffung denken. Aber daG die 
Dinge oft noch ungiinstiger verlaufen konnen, liegt auf der Hand; und 
daG in jedem Falle der Zustand, wie er bei dem hier beschriebenen 
Patienten vorliegt, ein hochst unerwtinschter ist, wenn der Patient 
selbst, wie auch seine Umgebung von dem Fortbestehen einer Lahmung 
uberzeugt sind, die nicht mehr vorhanden ist, wird nicht zweifelhaft 
sein. Es handelt sich da keineswegs um ganz vereinzelte Vorkommnisse. 
AuGer den hier schon angefiihrten Fallen habe ich noch einige weitere 


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Zur Prognose der Nervennaht. 


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gesehen, so z. B. einen Fall von Radialislahmung, der ganz identisch 
tet mit dem eben genannten und genauer beschriebenen, bei dem Pa¬ 
tient auch mit der festen tTberzeugung zu mir kam, daB er keinerlei 
Bewegung in dem seit der Verwundung gelahmten Gebiet machen 
konne und in dem ich ihm sofort zeigen konnte, daB diese Dberzeugung 
eine Tauschung sei; auch hier gelang es dem Patienten sofort, die mog- 
lichen Bewegungen auszufiihren, ohne daB er hierbei irgendwie eine 
Schwierigkeit hatte, oder eine Bewegung neu erlemen mufite; als er 
die Uberzeugung gewonnen hatte, daB er die Bewegung ausftihren 
konne, ftihrte er sie sofort ohne Anstand aus. 

Ein anderer ahnlicher Fall ist der folgende: 

Beob. XII. L., 10. III. 1916, durch InfanteriegeschoB verwundet 
am r. Oberarm. Keine Fraktur, aber sofort Lahmung der Hand. Opera¬ 
tion am 18. V. 1916. Genauere Nachrichten fiber die Operation habe 
ich nicht, aber es ist angeblich eine Nervennaht gemacht worden. Ir- 
gend eine Besserung sei nicht eingetreten. Ich konnte Patient am 8. II. 
1917 untersuchen. Ich fand den EinschuB im hinteren Achselwinkel, 
den AusschuB im vorderen Achselwinkel. Die Hand stand in vollkom- 
mener Fallhandstellung. Irgendeine Extension der Hand und der 
Finger war nicht moglich. Es war nun sofort auffallig, daB der Patient 
die Streckung des Unterarmes ausftihren konnte und daB dabei keiner 
von den Tricepskopfen versagte, wie das nach dem Sitz der Verletzung 
hatte erwartet werden konnen. Die elektrische Untersuchung ergab hier 
alsbald fast normale Verhaltnisse, wahrend in den tibrigen Radialis- 
muskeln tiberall komplette Entartungsreaktion bestand. Eine erheb- 
liche Sensibilitatsstorung war nicht vorhanden. Das Verhalten des 
Triceps machte mich stutzig. Es war schwer zu verstehen, daB bei 
einer den Radialis in der Achselhohle treffenden Schadigung die Tatig- 
keit des Triceps nicht wenigstens in seinem Caput laterale und breve 
geschadigt sein sollte. Ich untersuchte weiter und fand alsbald, daB 
Patient zunachst imstande war, die passiv gestreckte Hand zu halten, 
ein Vorkommnis, das ja haufig beobachtet und auch beschrieben wor¬ 
den ist. Des weiteren gelang es dann auch nach kurzem Bemtihen, 
eine ganz deutliche Extension der Hand hervorzurufen, die sogar mit 
einiger Kraft ausgeftihrt wurde, wahrend die Extension der Finger 
noch nicht moglich war. Auch der Supinator longus versagte, wie ich 
mich nachtraglich tiberzeugen konnte, nicht ganz. Hier hatte also 
Patient den Beginn der Besserung tibersehen. Er war von der Uber- 
zeugung durchdrungen, dafl er in dem gelahmten Gebiete nichts be- 
wegen konnte und gab diese Uberzeugung sofort auf, als man ihn fiber 
seinen Irrtum aufgeklart hatte. So wenigstens deute ich diese Falle 
auch heute noch, trotz der Einwendungen, die Toby Cohn bei der 
Diskussion in der Berliner Gesellschaft ftir Psychiatrie und Nerven- 


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R. Cassirer: 


krankheiten gegen diese Auffassung erhob. Vielleicht sind diese Beob- 
achtungen aber geeignet, ein Licht auf die Entstehung der soge- 
nannten metaparalytischen Lahmungen zu werfen. Ich komme darauf 
an anderer Stelle zurtick. Ob es sich in dem berichteten Fall um einen 
Erfolg der Nervennaht handelt, kann ich freilich nicht sagen, weil ich 
genauere Nachrichten fiber die Operation nicht habe; das Verhalten 
des Triceps macht es sogar einigermaBen unwahrscheinlich, daB wirk- 
lich eine Naht vorgenommen ist. Aber wie dem auch sei, die Unkennt- 
nis des Patienten iiber seine Fahigkeiten, das tXbersehen der beginnen- 
den Besserung ist auch hier sehr deutlich und beweist die Notwendigkeit 
der Kontrolle aller derartigen Rranken. 

Weitere Falle von erfolgreicher Naht des Radialis will ich nicht an- 
ftihren. Es ist allgemein anerkannt, daB die Radialisnaht die beste 
Prognose gibt, doch kann ich eine auf groBere Zahlen gestfitzte Statistik, 
die allein einen ausschlaggebenden Wert hatte, auch jetzt nicht geben. 

Sehr viel sparlicher sind die Erfolge bei den Operationen in dem 
Ulnaris- und Medianusgebiet. Darin scheinen die Meinungen aller 
Beobachter fibereinzustimmen. Sie treten offenbar sehr spat ein und 
schreiten alle langsam vorwarts. 

Besondere Bedingungen liegen offenbar bei Wiederherstellung der 
kleinen Handmuskeln vor. DaB sie in einzelnen Fallen vollkommen 
gelingen kann, ist aber nicht zu bezweifeln. So habe ich schon in der 
Zeit vor dem Kriege die vollige Wiederherstellung eines durch Stich- 
verletzung schwer geschadigten und resezierten Medianus fiber dem 
Handgelenk gesehen. Ein gutes Beispiel der langsamen Restitution 
bei einer Ulnarisverletzung bietet der folgende Fall: 

Beob. XIII Hauptmann K. t verwundet am 0. IX. 1914 durch Infanterie- 
geschoB aus unbekannter Entfemung am rechten Unterarm. Sofort L&hmung 
eines Teilcs der Muskeln der Hand. 

Status am 18. II. 15: EinschuB handbreit unter dem Ellenbogengelenk an 
der Streckseitc, AusschuB 1 cm tiefer an der Beugeseite des Unterarms am ulnaren 
Rande. Tiefes Eingesunkensein der Zwischenknochenr&ume. KrallenhandsteUung 
vom 5. bis 2. Finger abnehmend. Unfahigkeit, die Endphalangen des 5., 4. und 
3. Fingers zu strecken und die Grundphalangen zu bcugen. Abduction des kleinen 
Fingers fehlt. Adduction und Abduction der Finger fehlt, cbenso die Adduction 
des Daumens. Komplette Sensibilitatsstdrung im Ulnarisgebiet. Komplette 
Entartungsreaktion in der gesamten vom Ulnaris versorgten kleinen Hand- 
muskulatur. Durch Druck auf den Ulnaris am r. Handgelenk sind ausstrahlende 
Empfindungen nicht zu erzielen, wohl aber durch Druck auf den Medianus und 
den 1. Ulnaris. Operation am 19. II. 15. Geheimrat Bier. Der Nervus ulnaris 
wird freigelegt. Sein peripheres Ende liegt anscheinend quer abgeschossen in 
der Wundc. Das zentrale Ende befindet sich zwei Finger breit hoher in Schwielcn 
eingebettet. Dasselbe steht, wie sich nachtraglieh herausstellt, mit einer feinen 
Briicke noch mit dem peripheren Ende in Verbindung. Bei genauer Untersuchung 
zeigt es sich, daB es sich wohl nur urn Narbengcwebe handelt. Die Nervenenden 
werden zusammengeftigt, sie lassen sich nur bei starker Beugung der Hand anein- 
anderbringen. In dieser Stellung ist Naht moglich. Der Pat. bleibt dann dauernd 


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Zur Prognose der Nervennaht. 


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in meiner Behandlung. Die allm&hliche Besserung der Sensibilit&t geht aus den 
beigefiigten Schemata (Fig. 1—6) hervor. 

Am 13. X. 16, also ein Jahr und acht Monate nach der Operation, wo ich 
den Pat. zuletzt untersncht habe, ist noch immer ein ziemlioh ausgedehntes Ge- 
biet der Sensibilitatsstorung vorhanden. Allerdings ist dabei zn bemerken, daB 
bei Beriihrungen des kleinen Fingerballens an dessen ulnaren Partien doch schon 
gefiihlt wird, und zwar werden dort angebrachte Beriihrungen mit Par&sthesien 
im ganzen kleinen Finger beantwortet und Stiche im ganzen anftsthetischen Ge- 
biet, namentlioh sobald sie etwas tiefer sind, gefiihlt, aber ganz schlecht lokalisiert 
und nicht als einzelne, scharf umschriebene Stiche, sondem in ganz diffuser 



rig. 4. Fig. 5 . Fig. 6. 


brennender Weise empfunden. Auch die Motilit&t hat sich ganz langsam gebessert, 
ist aber jetzt auch noch nicht vollkommen normal. Die Extension der letzten 
Phalangen ist gut, auBer im fiinften Finger. Die Adduction des Daumens gelingt 
kr&ftig, ebenso die des zweiten Fingers, aber die Adduction zwischen drittem, 
viertem und fiinftem Finger fehlt noch immer. 

Die Beugung dcr Grand phalangen ist iiberall gut. Die Atrophie ist bei der 
letzten Untersuchung erheblich geringer geworden als in alien fruheren Unter- 
suchungen. Eine elektrische Untersuchung wurde zuletzt nicht mehr vorgenommen. 

Man sieht, daB die erste Besserung der Sensibilitat relativ fruh 
eingetreten ist, wobei aber immer noch mit der Ubemahme der Inner¬ 
vation durch benachbarte Hautnervenzweige vom Medianus her zu 
rechnen ist. Eine sicher dartiber hinausgehende Besserung der Sensi- 
bilit&t findet sich wohl erst nach flinf Monaten angedeutet. 



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R. Cassirer: 


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Ein Fall mit einem relativ gunstigen Verlauf ist auch der folgende: 

Beob. XIV. K., 12. X. 14, Verletzung am Ellenbogengelenk durch Infanterie- 
geschoB, Zersplitterung des Knochens. Vier Wochen Gipsverband, dann Streck- 
verband. Gleich danach reiBende Schmerzen in der Ulnarseite des Unterarms und 
der Hand, die wochenlang anhielten. Untersuchung am 17. VII. 15. Einschufr 
oberhalb des Condylus externus, AusschuB oberhalb des Condylus intemus. Be- 
schrankung der Bewegung des Unterarms im Ellenbogengelenk. Ellenbogengelenk 
deformiert. Am Condylus int. ist der Nerv zu fiihlen. Unmittelbar proximal- 
warts davon findet sich ein iiber kirschkemgroBer Knoten, der in den Nerven 
uberzugehen scheint und sehr druckschmerzhaft ist. Offenbar sitzt die Schwel- 
lung dem Nerven seitlich auf. Krallenhand. Adduction und Abduction der Fin¬ 
ger und Adduction des Daumens fehlen vollig. Deutliche Parese der Streckung 
der Endphalangen des vierten und fiinften Fingers. Ausgesprochene Sensibilitats- 
storung im Gebiet des Ulnaris fur Pinsel und Nadel, die abcr nicht ganz koirplett 
ist. Nadel wird als taubes, schlecht lokalisiertes Brennen bezeichnet. Der Flexor 
carpi ulnaris scheint sich anzuspannen. t)ber den Ulnarisabschnitt des Flexor 
digitor profundus laBt sich ein Urteil schwer gewinnen. In den kleinen Hand- 
muskeln besteht komplette Entartungsreaktion, im Flexor carpi ulnaris anschei- 
nend nur partielle Entartungsreaktion, im Flexor digitor profundus ist das Ver- 
lialten unsicher. 

Operation am 23. VII. 15 (chirurg. Klinik). 

Der Nervus ulnaris wird oberhalb und unterhalb der halbkugelformigen Vor- 
wolbung freigelegt. Dabei ergibt sich, daB es sich bei der Geschwulst tate&chlich 
urn ein Neurom handelt, in welches hinein der Ulnaris miindet. Nach Mobilisierung 
des Neuronis, das gut haselnuBgroB ist, wird dieses in einer Ausdehnung von 
etwa 3 cm excidiert, nachdem dicht oberhalb und unterhalb der Resektionspunkte 
je zwei Haltefaden angelegt sind, die ein Verrutschen des Nerven verhindem 
sollen. Die Faden werden gleichzeitig gekniipft, die Nervenenden lassen sich bei 
gestrecktem Arm gut adaptieren. Zirkulare Naht. Reaktionslose Heilung. Bis 
zur Entlassung des Pat. am 3. XI. 15 ist eine sichere Besserung nicht nachweis- 
bar. Die Motilitat ist unverandert. Vielleicht ist eine geringe Besserung der 
Sensibilitat insofern vorhanden als am fiinften Finger iiberall gefuhlt wird, wenn 
auch mit verminderter Intcnsit&t, und auch am kleinen Fingerballen scheint die 
Zone der absoluten Anasthesie kleiner geworden zu sein. Entartungsreaktion 
wie vorher. 

Am 14. VIII. 16, also mehr als ein Jahr nach der Operation, laBt sich folgen- 
des fcststellen: Schmerzen bestehen nicht, st&rkere Pinselberiihrungen werden 
am kleinen Fingerballen iiberall gefiihlt, am kleinen Finger nicht iiberall gefiihlt, 
Nirgends besteht im Ulnarisgcbiet fur Nadel eine totale Anasthesie, sondern 
iiberall nur eine Hypasthesie. Die elektrische Untersuchung ergibt in den kleinen 
Handmuskeln deutliche Entartungsreaktion, die Zuckung ist aber nicht sehr 
trage, stark iiberwiegende Anode. Flexor carpi ulnaris keine Entartungsreaktion. 
Auch indirekt ist der Flexor carpi ulnaris zu erregen. Es laBt sich dann 'weiterhin 
mit Sicherheit fcststellen, daB der Nerv oberhalb der operierten Stelle nicht nur 
f iir den Flexor carpi ulnaris und den Flexor digitor profundus, sondern sicher auch 
fiir die Intcrossei faradisch reizbar ist. Es ist also sicher auch fur die kleinen Hand¬ 
muskeln eine Leitung wiederhergestellt. Es laBt sich auch fcststellen, daB die 
Endphalangen der Finger gestreckt werden konnen, auch am vierten und fiinften 
Finger, wenn man nur die starke Extension der Grundphalangen passiv ausgleicht. 
Dagegen ist eine Abduction und Adduction nur am zweiten Finger moglich, wah- 
rend sie zwischen drittem und viertem und viertem und fiinftem Finger noch fehlU 
Adduction des Daumens ist ebenfalls mi^lich. 


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Zur Prognose der Nervennaht. 


271 


Hier handelt es sich also um eine partielle Ulnarisnaht. Ein 
Teil der Fasem wurde excidiert, ein Teil wurde stehengelassen. 
Nach Ablauf eines Jahres ist eine ziemlich erhebliche Besserung 
erzielt. 

Noch in einem zweiten Falle, den ich aber vor der Operation nicht 
gesehen habe, wurde durch partielle Naht des Ulnaris eine erhebliche 
Besserung erzielt und die Leitungsfahigkeit des Nerven fur die vorher 
gelahmten kleinen Handmuskeln durch elektrische Untersuchung 
sichergestellt. 

Vber eine Besserung kann ich auch im folgenden Fall von Media n us- 
verletzung berichten. Ich ftihre ihn hier nur an, weil gewisse, sonst meist 
sehr ausgepragte Storungen bei ihm von vomherein geringer waren und 
weil bei ihm fruher als sonst bei Medianusfallen sich eine Besserung 
anzubahnen schien. Im iibrigen ist er bei der kurzen Zeit, die seit der 
Operation verflossen ist, fiir die hier zu erortemde Frage nicht ver- 
wertbar. 

Beob. XV. B., 25. V. 15 durch Schrapnell am rechten Oberarm verwundet. 
Knochenverletzung. Untersuchung am 16. VII. 15 im Reservelazarett Friedenau. 
EinschuB im unteren Drittel des Oberarms auBen, AusschuB am inneren Rande 
des Biceps; 3 cm oberhalb der Ellenbeuge. Komplette L&hmung aller vom Me- 
dianus versorgten Muskehi. Entartungsreaktion im ganzen Medianusgebiet, 
schwere Sensibilitatsstorung im Medianus. 

21. VIII. 16. Operation durch Prof. Borchardt. Der Medianus zeigt zwei 
dicke Neurome, die durch eine schmale kurze Briicke miteinander verbunden 
sind. Die Neurome sind fest mit den darunter liegenden Knochenwucherungen 
verwachsen, auch ein kleiner Splitter steckt in ihnen. Reizung des Nervus medianus 
oberhalb des Neuroma ergibt keine Zuckungen. Reizung peripher von den Neu¬ 
romen ergibt Erregbarkeit der Nerven, und zwar Beugung des Handgelenks, 
des zweiten und dritten Fingers. Die Briicke ist noch reizbar, nicht das zentrale 
Xeurom. Im ganzen sind die Neurome so hart, die Briicke so ungeniigend, daB eine 
Totalresektion ausgefiihrt wird. Dann exakte Naht, Einscheidung des Nerven 
in Kalbsarterie ohne Gelatine. 

Am 15. XII. 16 ergibt die Untersuchung auffallig geringe vasomotorische 
Stdrungen. Die Hand fiihlt sich an keiner Stelle kiihl an, sieht nirgends cyanotisch 
aus. Die Sensibilit&tspriifung ergibt in der Vola Gefiihlsstorung fiir Pinsel am 
zweiten Finger komplett, an der Radialseite des dritten Fingers ebenfalls, an der 
Ulnarseite des dritten Fingers werden starker betonte Pinselberiihrungen bereits 
gefiihlt. Am Daumen ist das Medianusgebiet an&sthetisch. Am Dorsum ist die 
zweite und dritte Phalange des zweiten Fingers anasthetisch, am dritten Finger 
nur die dritte Phalange. Nadel verhfilt sich wie Pinsel. 

12.1. 17. Beugung der Hand nur durch Flexor carpi ulnaris. Pronation ziem¬ 
lich gut erhalten. Beugung des Daumens zweifelhaft. Beugung des dritten Fin¬ 
gers im Metacarpophalangealgelenk etwas mangelhaft, an den iibrigen Fingern 
gut. Beugung des ziveiten Fingers in alien Gelenken moglich, aber stark paretisch. 
Opponens fehlt. Sensibilitat in der Vola: Hypasthesie an der ersten und zweiten 
Phalange des Daumens, am ganzen zweiten Finger, an der Radialseite des dritten 
Fingers und an der Ulnarseite der dritten Phalanx des dritten Fingers. Dorsal 
Daumen frei, zweite und dritte Phalanx des zweiten und dritten Fingers an&sthe- 
tisch fiir Pinsel und Nadel. Beklopfen des Medianus im Handgelenk erzeugt 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVII. 13 


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R. Cassirer: 


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charakteristisch ausstrahlende Empfindungen im Medianus. Auch heutc sind die 
vasomotorischen Storungen gering. 

Eine Untersuchung vier Wochen spater laBt wiederum erkennen, daB die 
Pronation sicher ausfiihrbar ist, ebenso ist jetzt eine geringe Flexion des Daumens 
ganz sicher. Bei der Fingerbeugung versagt der Flexor sublimis fiir den zweiten 
Finger noch ganz, fiir den dritten Finger ist eine deutliche Wirkung desselben 
nachweisbar, so daB zusammen mit der Wirkung des Flexor profundus die Beu- 
gung des dritten Fingers fast vollkommen normal ist. Auch eine Beugung der 
Endphalange des zweiten Fingers ist ganz deutlich. Die Sensibilit&t verh8.lt sich 
wie bei der vorigen Priifung. 

Die Schadigung ist also von vomherein hier relativ gering, trotz 
totaler Excision des Nerven. Vielleicht wird hier etwas raehr als fiir 
gewohnlich vom Ulnaris versorgt. Sechs Monate nach der Operation 
ist es aber schon sicher, daB der Pronator und der Flexor pollicis longus 
wirksam sind, fiir diese muB man bestimmt eine beginnende Restitution 
annehmen. Von vomherein erwies sich der Fall als giinstig durch die 
Geringfiigigkeit der sonst so ausgesprochenen vasomotorischen Phano- 
mene. DaB in ihrer geringen Ausbildung beziehungsweise in der Ruck- 
bildung dieser Symptome ein prognostisch giinstiger Umstand liegt, 
dafiir sprechen meine und anderer Erfahrungen. 

Den folgenden Fall verdanke ich der Liebenswtirdigkeit von Herm 
Kollegen Kalischer. 

Beob. XVT. S., Verletzung am 13. VII. 1915 durch SchuB am linken 
Oberarm. 

Sept. 15 vollige Lahmung im Gebiet des linken Nervus medianus und 
ulnaris. Entartungsreaktion, Krallenhand, typische Anasthesie. 

15. IX. 15. Erste Operation, Medianusnaht durch Prof. Borchardt. 
19. XI. 15 zweite Operation, Ulnarisnaht. 

Ende Marz 1916. Beginnende schwache Beugung der Hand. Bald 
darauf der Finger, und zwar durch Medianusmuskeln. 

1. VII. 16. Handbeugung gut. Deutliche Bewegungen im Flexor 
digitorum sublimis. Elektrisch vom Reizpunkt oberhalb der Ope- 
rationsstelle sicherer Effekt auf Flexor carpi radialis und digitorum 
sublimis. 

Bei der Entlassung am 20.1. 17 ist sowohl das funktionelle wie das 
elektrische Verhalten in den beiden genannten Muskeln weiter ge- 
bessert. Also auch hier sichere Restitution, deren Beginn etwa ein halb 
Jahr nach der Operation anzunehmen ist. Langsamer Fortschritt. 

Ein ziemlich weitgehender Erfolg ist auch im folgenden Falle zu 
konstatieren. 

Beob. XVII. H., Verletzung am 1. III. 15 durch InfanteriegeschoB am linken 
Oberarm. Vollkommene Ulnaris- und Medianusl&hmunp. 

Nach einem Bericht von Heim Dr. Salomon hat dieser dann eine Resektion 
des Medianus und Ulnaris vorgenommen und den abgeschosscnen Ulnaris in den 
Medianus hineingepflanzt. 


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Zur Prognose der Nervennaht. 


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Eine Untersuchung am 2. XII. 16 durch mich ergibt folgendes: 

Pat. gibt an, daB er seit einem Vierteljahr die Finger beugen kann. Seit der 
Verletzung hat er Schmerzen, besonders im Ulnarisgebiet, die auch jetzt noch an- 
halten. Ein taubes Gefiihl besteht im ganzen Ulnaris- und Medianusgebiet und 
an der Innenseite des Unterarms. Es findet sich eine grofie Operationsnarbe im 
Sulcus bicipit. int. Die Hand ist warm, nicht cyanotisch, aile kleinen Hand- 
muskeln sind stark atrophisch. Die Finger stehen in m&Biger Beugecontractur, 
ohne wesentliche Uberstreckung in den Grundphalangen. Pronation ist mit er- 
heblicher Kraft moglich. Die Beugung der Hand ist durch die Anspannung des 
Flexor carpi radialis moglich. Ferner IftBt sich eine deutliche Wirkung des Flexor 
pollicis longus und des gesamten Flexor sublimis in alien Fingem nachweisen. 
Die Wirkung des Flexor digitorum profundus ist zweifelhaft, ansoheinend am 
zweiten, dritten und vierten Finger erhalten, am fiinften nicht sicher zu beurteilen. 
Die Opposition fehlt, ebenso fehlt die ganze Ulnarismuskulatur. Es findet sich 
eine Abstumpfung der Sensibilitftt im Gebiete des Cutaneus antebrachii medialis, 
des Medianus und Ulnaris in groBer Ausdehnung. Die Storung fur Nadel und fur 
Pinsel ist ungef&hr gleich groB. Durch elektrische Untersuchung IaBt sich nach¬ 
weisen, daB der Nervus medianus faradisch reizbar ist fur den Pronator, den Flexor 
carpi radialis, den Palmaris longus, den Flexor sublimis; ebenso ist er fur starke 
galvanische Strome (15 Milliampere) reizbar. Faradisch direkt ist der Pronator, 
der Flexor carpi radialis und der Flexor sublimis reizbar. Galvanisch direkt er- 
halt man bei starken Stromen etwas trage Zuckungen in den Flexoren der Hand 
und der Finger und typisch tr&ge Zuckungen im Opponens. Im Ulnarisgebiet 
besteht noch iiberall bei maBig starken Stromen eine komplette Entartungsreaktion. 

Auch in diesem Falle lieBen sich also etwa anderthalb Jahre 
nach der Verletzung die Zeichen einer ziemlich vorgeschrit- 
tenen Restitution im Medianus nachweisen, die etwa ein Viertel¬ 
jahr vorher begonnen hat. 

Immer wieder sieht man, welch langer Zwischenraume es bedarf, 
daB man sein Urteil also nicht von Untersuchungen abhangig machen 
darf, die wenige Monate nach der Operation stattgefunden haben. 

DaB selbst Besserungen nach Neurolysen bisweilen auBerst 
spat einsetzen, lehrt der folgende Fall. 

Beob. XVIII. K., 16. VI. 15 verletzt durch Granatsplitter. EinschuB an der 
Innenseite des Oberschenkels in der Mitte, AusschuBnarbe an der Beugeseite des 
Oberschenkels in der Mitte. Die Streckung des FuBes und der Zehen fehlt, ebenso 
die Abduction des FuBes. Die Adduction, Beugung des FuBes und der Zehen ist 
kr&ftig. Schwere SensibiUtatsstorung im Communicans peronei, leichtere im 
Peroneus superficialis und profundus. Der Nervus peroneus hinter dem Capi- 
tulum fibulae scheint .druckschmerzhaft zu sein. Im Peroneusgebiet komplette 
Entartungsreaktion. 

Diagnose: Schwere Verletzung des Nervus peroneus, wahrscheinlich keine 
vdllige ZerreiBung. 

Drei Wochen nach dieser Untersuchung am 1. XI. 15 Operation durch Dr. 
v. G 6 Id el. Die alte Narbe in der Kniekehle wird excidiert, der Nervus peroneus 
findet sich in starken Schwielen und ist durch narbige Strange im SchuBkanal 
festgehalten. Der Nerv ist nicht durchtrennt, jedoch etwas aufgetrieben. Die 
Narben werden entfemt, es wird also nur eine perineurale Neurolyse gemacht. 

Der Pat. bleibt lange in Behandlung. Eis ftndert sich nichts, weder in der 
Motilit&t noch in der Sensibilit&t, noch im elektrischen Verhalten. Noch am 

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25. IX. kann ich das konstatieren, also 11 Monate nach der Operation. Es wird 
daher eine Reoperation in Erwagung gezogen mit der Absicht, bei entsprechendem 
Befunde den Peroneus zu resezieren. Gerade in diesen Tagen laBt sich aber fest- 
stellen, d&B eine spurweise Extension der Zehen vorhanden ist. Die Bewegungs- 
fahigkeit macht nun in den nachsten Monaten rasche Fortschritte, Pat. ist jetzt 
imstande, die Zehen zu extendieren und den FuB zu extendieren, in letzter Zeit 
auch den FuB ein wenig zu abduzieren. Die Sensibilitat und die elektrische Er- 
regbarkeit sind unverftndert. 

In diesem Falle muB es naturgemaB zweifelhaft bleiben, ob die 
Neurolyse irgend etwas zu dem Heilresultat beigetragen hat, 
oder ob es sich um eine spontane Heilung handelt, deren erster Be- 
ginn dann erst funf Vierteljahre nach der Verletzung eingesetzt hatte. 
Ich glaube nicht, daB man diese Moglichkeit bestreiten kann und auch 
das ist naturgemaB eine auBerordentlich wichtige Erfahrung. 

Wir wissen ja auch fiber den Verlaul der nor male n Heilungs- 
vorgange, die ohne therapeutische Eingriffe vor sich gehen, allzuwenig 
Exaktes. Wir wissen, daB es auch hier sich um lange Zeitraume handelt, 
aber wir wissen nicht, wann spatestens noch auf Eintritt der Besserung 
zu rechnen ist. Wir kennen kein ausschlaggebendes Symptom, das die 
Moglichkeit spontaner Besserung als ausgeschlossen erscheinen laBt. 
Insbesondere darf man meiner Erfahrung nach dem Absinken der 
elektrischen Erregbarkeit in dieser Beziehung nicht allzu 
entscheidendes Gewicht beimessen. Die Erfahrung, die wir viel- 
fach machen konnen, daB trotz beginnender funktioneller Besserung die 
elektrische Erregbarkeit noch weiter absinkt, muB uns in dieser Be¬ 
ziehung besonders vorsichtig stimmen. GewiB ist spontane Heilung aus¬ 
geschlossen, wenn die elektrische Erregbarkeit schon langere Zeit ganz 
erloschen ist, dann sind naturgemaB aber auch die Chancen jedes 
therapeutischen Eingriffes schlechter. 

Wir tappen also auch in bezug auf die Prognose der Resti¬ 
tution noch recht sehr im Dunkeln. Im allgemeinen habe ich den Ein- 
druck, daB sie schlechter ist, als man aus den Friedenserfahrungen an- 
nehmen durfte; ich habe das schon friiher betont und kann auf Grund 
weiterer Untersuchungen an excidiertem Material nur emeut darauf 
hinweisen, daB diese Narben, die da gesetzt sind, ihrer ganzen Natur 
nach dem Durchwachsen der Neurofibrillen auBerordentlichen Wider- 
stand entgegensetzten. 

Beraerkenswerterweise gilt die zweifelhafte Prognose nun nicht nur 
fiir die Falle, bei denen der Nerv total zerrissen ist, sondern 
ganz zweifellos auch fiir diejenigen, bei denen von vorn- 
herein nur ein Teil seiner Fasern vollig zerstort worden ist. 

Dafur kami ich mannigfache Beispiele anfuhren. 

Ein flagrantes Beispiel bietet der folgende Fall: 

Beob. XIX. B., 20. VII. 14 verletzt. Sofort L&hmung ties rechten FuBes. 
angi-blich ziemlich starke Schmerzen. Dezember 1914 wird das GeschoB i ntfernt. 


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Zur Prognose der Nervennaht. 


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Marz 1915 Freilegung des Nerven, aber keine Naht. Es bildet sich allm&hlich ein 
SpitzfuB, im Januar 1916 Operation des Spitzfufles. Die L&hmung 1st geblieben. 
Er hat noch Sohmerzen bei kiihlem Wetter und bei Kalte, diese sind noch immer 
sehr heftig. Der FuB ist immer kalt. Er arbeitet als Lagerarbeiter, muB aber oft 
aussetzen, da er es nicht aush&lt. 

Nach dem Befund von Herrn Dr. Borchardt, Nervenklinik der Charity, 
im November 1914, der mir vorliegt, ist eine geringe Beugung des FuBes moglich, 
ebenso eine geringe Zehenbeugung. Untersuchung durch mieh Dezember 1915. 
Der Pat. gibt an, daB unmittelbar nach der Verletzung dasselbe Bild bestanden 
hat, wie jetzt, also daB er auch damals die Zehen und den FuB beugen konnte. 
Alle Streckmuskeln, ebenso die Abduction des FuBes fehlen. Die elektrische Er- 
regharkeit in den Beugem des FuBes und der Zehen ist erhalten, sowohl dirckt 
wie indirekt. Galvanisch ist der Tibialis mit 12 Milliampere erregbar, auch die 
Muskeln selbst sind mit starken Stromen schwach reizbar. Im Peroneus ist irgend- 
eine Zuckung nicht zu erhalten. Sensibilitatsstdrung in einer Zone von der groBen 
Zehe bis zum auBeren Knochel im Gebiet des Peroneus profundus und superfi- 
cialis. Das Gebiet ist fur Pinsel erheblich groBer als fiir Nadel. Im Communicans 
peronei schwere Sensibilit&tsstorung fiir Pinsel und Nadel. An der FuBeohle im 
vorderen Abschnitt des Tibialis Hyp&sthesie und Hypalgesie. 

Hier handelt es sich also um eine Ischiadicusverletzung, von 
der man wohl nicht erwarten kann, daB sich noch irgend etwas bessert. 
Die Untersuchung hat 2 1 / 1 Jahr nach der Verletzung stattgefunden. 
Das Bemerkenswerte nun ist das, daB es aus der Krankengeschichte 
mit Sicherheit hervorgeht, daB niemals eine komplette Lahmung im 
Gebiete des Tibialis vorhanden gewesen ist, sondem immer eine Funk- 
tion in diesem moglich gewesen ist; daB nach dem Sensibilitatsbefunde 
auch im Peroneus vielleicht von vomherein keine vollkommene Leitungs- 
unterbrechung vorgelegen hat. Trotzdem also zweifellos ein Teil 
der Fasern, und zwar im Tibialis ein groBer Teil der Fasern, 
ganz sicher von vomherein leitungsf&hig gewesen ist, ist 
keine Restitution erfolgt. Anatomisch gesprochen: Die Narbe ist fiir 
die zweifellos vom zentralen Ende her auswachsenden Neurofibrillen 
nicht durchgangig gewesen. Es ist diesen Fibrillen auch nicht moglich 
gewesen, um die Narbe herum oder an ihr entlang in den gesunden, 
stehengebliebenen Teil des Nerven hineinzugelangen und von da aus 
weiterzuwachsen. Daraus ergibt sich, daB wir auch fiir die Falle par- 
tieller Lahmung mit der Stellung unserer Prognose auBerst vorsichtig 
sein miissen. 

Derartige Falle sind gar nicht gel ten. Der folgende gehort auch 
hierher. W. verwundet am 20. IX. 15 durch GewehrschuB am r. Ober- 
schenkel. SteckschuB. Kugel nach zwei Tagen entfemt. Wiederholte 
Operationen, aber keine Nervennaht. Von vomherein war eine Beugung 
des FuBes moglich. Keine Besserung. Untersuchung am 1. VII. 17. 
EinschuB und Excisionsnarbe in der Mitte des Oberschenkels. Beugung 
des FuBes gut, Beugung der Zehen fehlt. Achillesphanomen fehlt. 
Extension des FuBes und der Zehen fehlt. Sensibilitatsstdrung am 


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R. Cassirer: 


Peroneusstreifen am FuBriicken aufgekoben, am AuBenrand des FuBes 
und in der FuBsohle herabgesetzt. Elektrisch Triceps surae normal, in 
alien iibrigen Muskeln aufgehobene Erregbarkeit. Auch hier also par- 
tielle Verletzung und auch hier keine Besserung, die jetzt auch nicht 
mehr zu erwarten ist. 

Zu demselben Resultat kommen wir ja auch, wenn wir uns erinnem. 
daB auch die Heilungsvorgange sich sehr ungleichmaBig auf den Nerven- 
querschnitt verteilen tmd offenbar selbst da, wo in einem Bezirk eine 
w'eitgehende Besserung eintritt, damit der giinstige Verlauf noch nicht 
fur alle Abschnitte garantiert ist. 

Auf zwei Fragen mochte ich im Zusammenhang noch ganz kurz 
eingehen, die im vorhergehenden schon gelegentlich gestreift wurden. 
Die eine ist das Verhaltnis zwischen Wiederherstellung der 
Funktion und der elektrischen Erregbarkeit. Wir sind im 
allgemeinen gewohnt, anzunehraen, daB die Wiederkehr der faradischen 
Erregbarkeit spater erfolgt als die der Funktion; dasselbe gilt fiir die 
galvanische Nervenerregbarkeit. Dieses Verhalten ist auch zweifellos 
die Regel. Aber vereinzelte Erfahrungen scheinen mir doch darauf 
hinzuweisen, daB bisweilen etwas anderes eintritt. Ich fand einige 
Male, daB unter Absinken der galvanischen Muskelerregbarkeit die 
faradische Nerven- oder Muskelerregbarkeit insofem sich wiederein- 
stellt, als bei sehr starken Stromen, die man nainentlich in den anasthe- 
tischen Gebieten anwenden konnte, schwache Zuckungen erzielt wer- 
den konnten, ohne daB die Funktion bisher irgendeine Besserung zeigte. 
Es kam also bis zu einem gewissen Grade zu einer Wiederkehr der fara¬ 
dischen Erregbarkeit ohne Wiederkehr der Funktion. Diese Erfahrung 
ist prognostisch nicht gleichgiiltig, da wir ja sonst gewohnt sind, die 
Wiederkehr der faradischen Erregbarkeit als gunstigen Faktor anzu- 
sehen, was sie unter diesen speziellen Umstanden nicht sein dtirfte. 
Ich betone aber, in den Fallen, die ich im Auge habe, waren sehr starke 
Strome notig, die erzielte Zuckung war sehr geringftigig und trat ein, 
nachdem vorher viele Monate lang keine faradische Reaktion zu erzielen 
gewesen war. Nebenher mochte ich nur darauf aufmerksam machen. 
daB man auch bei Reizung mit dem Sinusstrom in diesem, aber auch 
in manchen anderen Fallen Zuckungen erhalt, daB es demnach jeden- 
falls nicht angeht, die Reizerfolge beider Stromesarten, wie das jetzt 
vielfach geschieht, diagnostisch und prognostisch zu identifizieren. 

Ich lasse es vorlaufig dahingestellt, ob in den von mir oben naher 
geschilderten Beobachtungen von Divergenz zwischen elektrischem 
und funktionellem Verhalten auch das eben angefuhrte Moment eine 
Rolle spielt. Das bedarf noch weiterer Aufklarung; nur soviel scheint 
mir doch schon sicher zu sein: in manchen (vereinzelten?) Fallen stelit 
sich eine mit ertragbaren faradischen Stromen nachweisbare Leitungs- 


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Zur Prognose der Nervennaht. 


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fahigkeit im geschadigten Nerven her, wahrend eine funktionelle Lei- 
tungsfahigkeit nicht zum Ausdruck kommt. 

In ahnlicher Weise scheint mir auch eine Divergenz zwischen f unk- 
tioneller und histologischer Restitution vorhanden und nachweis- 
bar zn sein. Ieh habe den Eindruck, daB es Falle gibt, in denen im peri- 
pheren Abschnitt Ansatze zur histologischen Restitution sich zeigen, 
ohne daB es zu einer wahmehmbaren Leistung kommt. Ich glaube, 
Falle beobachtet zu haben, in denen im peripheren excidierten Stuck 
neugebildete Fibrillen nachweisbar waren, wahrend vor der Operation 
keinerlei Funktion festgestellt werden konnte. Ich glaube, wir sollten 
auch hier uns gewohnen, nicht allzu exakt anatomisch zu denken, so 
etwa, als ob jede anatomisch sichergestellte Fibrille ein Beweis fur eine 
klinische Funktion sein muBte. Es ist ja auch mit der Moglichkeit, 
wenn nicht Wahrscheinlichkeit zu rechnen, daB diese neugebildeten 
Fasem spater wieder zugrunde gehen. Im Zusammenhang der uns hier 
beschaftigenden Fragen ist es aber besonders deshalb von Wichtigkeit, 
mit dem Vorkommen einer Divergenz funktioneller und histologischer 
Reparation zu rechnen, weil wir daraus die tJberzeugung gewinnen: 
auch der Nachweis einer beginnenden unvollkommenen histologischen 
Restitution im peripheren Ende besagt nichts Endgliltiges liber das 
spatere funktionelle Schicksal des betreffenden Nervengebietes; eine 
Operation kann auch da angebracht gewesen sein, wo die histologische 
Untersuchung nicht das vollkommene Verschwinden des leitenden 
Gewebes aufweist. 

Ich komme zum SchluB. 

Die Gesamtheit meiner personlichen Erfahrungen gibt auch heute 
noch alle Veranlassung zur dringenden Empfehlung der Operation in 
den schweren Fallen von Nervenverletzung. Die Indikationsstellung 
ist dieselbe, wie ich sie in meinen frtiheren Arbeiten gegeben habe. Sehr 
viele leichte und mittelschwere Falle heilen, daran ist kein Zweifel, 
ohne chirurgischen Eingriff. Von diesen war in den vorhergehenden 
Zeilen, wie die Krankengeschichten dartun, nicht die Rede. Fiir die 
schweren Falle bietet die Operation sicher bessere Aussichten, als ein- 
faches Zuwarten. Wir wliBten liber die Aussichten der Operationen 
bereits besser Bescheid, konnten wir umfangreichere Nachuntersuchun- 
gen anstellen. Die Gelegenheit dazu sollte in weitestem Umfang ge- 
schaffen werden. Eine weitere arztliche Beobachtung der mit Nerven¬ 
naht behandelten Falle ist auch deswegen notig, weil vielfache thera- 
peutische MaBnahmen immer wieder von neuem notig werden. Diese 
liegen im Interesse des einzelnen wie der Gesamtheit. 


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Experimental erregte Traumbilder in ihren Beziehungen 
zum indirekten Sehen. 

I. Mitteilung. 

Von 

Dr. Otto Potzl. 

(Aus deni psychologischen Laboratorium der neurologischen Station fiir Kopf- 
verletzungen in Wien [Prof. Dr. Alfred Fuchs].) 

Mit 19 Textfiguren (photographischen Illustrationen von Kar] Grail). 

(Eingtgangen am 17. Juli 1917.) 

1. Zusammenhange mit der Pathologie der Sehsphare. 

Untersuchungen fiber das relative parazentrale Skotom nach Hinter- 
hauptschuB haben Interferenzerscheinungen zwischen den verhaltnis- 
maBig bedeutenden, aber verspateten und veranderten Sehresten voru 
Skotom aus und zwischen dem Sehen vom gesamten Gesichtsfeld aus 
klargestellt. Es hat sich gezeigt, wie unter den beim gewohnlichen 
Sehen vorherrschenden Bedingungen die Abstraktion diese Sehreste 
aus der bewuBten Wahmehmung ausschaltet; die Abstraktion stellt 
sich als ein dem Willen und dem beWuBten Erleben entriickter Vor- 
gang dar, wie er auch bei den frischen Augenmuskellahmungen all- 
mahlich die Doppelbilder unterdrfickt 1 ). 

Sehr haufig treten nach SchuBverletzungen der Sehspharen die so- 
genannten physiologischen Doppelbilder ins BewuBtsein (a. ds. 0. mit- 
geteilt, Februar 1917), ebenso haufig werden die Eindrficke des in¬ 
direkten Sehens mehr bewuBt als gewohnlich, z. B. die peripheren 
Vorfarben; endlich kommt bei diesen Verletzten eine Selbstwahr- 
nehmung des blinden Flecks beim Perimetrieren haufig vor; sie ist 
oft verbunden mit einer VergroBerung seines Areals, und steht in Be- 
ziehung mit einer starren Fixation. Alle diese Erscheinungen haben 
eine zentral bedingte Stoning dieses Abstraktionsprozesses gezeigt, 
durch die nicht selten Wahmehmungen ins BewuBtsein steigen, die 
sonst nur durch Kunstgriffe und durch Ubung hervorgelockt werden 

*) Verein fur Psyahiatrie und Neurologie in Wien, April 1917. Referate iilier 
die im Text zitierten VerOffentlichungen des-Verf. finden sich im Referatenteil 
der Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych., Berlin, Springer, 1917. 


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O. Potzl: Experim. erregte Traumbilder iu ihren Beziehungen z. indir. Sehen. I. 279 

konnen. Damit ergibt sich die Wirksamkeit eines Moments, das mit 
den zuerst erwahnten Einfliissen gewissermaBen im Kampfe ist. 

Ein Obduktionsbefund (Lt. PI., a. a. O. demonstriert, April 1917) 
hat gezeigt, daB die kleinen zentralen und parazentralen relativen 
Skotome in solchen Fallen mit sehr ausgedehnten Zerstdrungen in dem 
um den Pol zentrierten Medianbereich des einen Hinterhauptslappens 
in Verbindung zu bringen sind; eine gewisse Inversion in der Konfi- 
guration des Herdes einerseits, der Konfiguration des Gesichtsfelds 
andererseits ist ersichtlich geworden; der Herd dehnt sich gegen die 
polarwarts orientierten Partien der Sehsphare ans, wahrend ihre fron- 
taleren Partien erhalten sind; das parazentrale Skotom verschmalert 
sich gegen den engsten Fixierbereich, kann aber nach der Art des 
Herdes doch nur mit dem polaren Verletzungsgebiet in Parallele ge- 
bracht werden. Daraus ergibt sich, daB auch beim HinterhauptschuB 
eine totale Lasion des zentralen direkten Sehens bei erhaltenem peri- 
pheren und indirekten Sehen nur dann zu erwarten ist, wenn sehr aus- 
gedehnte Zerstorungen des bilateralen Mediangebiets der Sehspharen 
durch einen PolschuB gesetzt sind, zumal wenn diese mit der bei schweren 
Verletzungen gewohnlichen Hemmung von Gesamtleistungen einher- 
gehen, die aber doch mit der lokal schwer mitgenommenen Himpartie 
in engeren Konnex zu bringen ist. 

Es war darum zu erwarten, daB Totallasionen des zentralen direkten 
Sehens, die die Himpathologie der nicht traumatischen Falle eigent- 
lich nicht oder nicht einwandfrei gebracht hat, bei den Hinterhaupt- 
schtissen sehr selten sein werden, aber doch vorkommen. Diese Er- 
wartung ist durch die Erfahrung bestatigt worden. Bisher sind nur 
zwei genau untersuchte Falle dieser Art mitgeteilt worden, der eine, 
den Verf. a. a. O. gezeigt hat (Obszut, Dezember 1915), ein zweiter, 
den Poppelreuter in seiner Monographie mitteilt [Fall Bernhard 
Fischer 1 )]. 

Beiden Fallen ist etwas gemeinsam, das far die Physiologie des 
Sehens beachtet werden muB. Die beiden Kranken haben nur ein 
indirektes Sehen; im Gesichtsfeld sind nur periphere Partien enthalten. 
Trotzdem vermogen sie, abweichend vom gewohnlichen Verhalten beim 
zentralen Skotom durch retrobulbare Neuritis der Sehnerven, im in¬ 
direkten Sehen Leistungen zu vollbringen, die wir nur im direkten 

*) Poppelreuter, Die psychischen Schadigungendurch KopfschuB im Kriegc 
1914/16, Bd. 1, Leipzig, VoB, 1917, S. 54—57. Der Autor erwahnt S. 59, daB er 
miindlich von zwei weiteren analogen Fallen gehort hat. In dem neu erschienenen 
7. Band von Wilbrand und Saenger, Neurologie des Auges, findet sich noch 
der hierher gehorige Fall Steenbock (S. Ill und S. 597); auch der Fall IV 
(Axenfeld) gehort vielleicht hierher. Da aber von diesen Fallen, abgesehen 
vom Gesichtsfeld, keine sinnesphysiologischen Einzelheiten berichtet worden sind, 
kdnnen sie in die hier gegebene Besprechung nicht hineingezogen werden. 


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2 SO 


0. Pi.tzl: 


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Sehen treffen; das Formensehen, das Farbensehen, das Lesen steht 
bei ihnen trotz des indirekten Sehens auf einer Hohe, die zunachst 
erstaunlich wirken mag; die Himpathologie gibt daffir eine Erklarung, 
weil diese Prozesse an die Tatigkeit der weiteren Sehsphare geknfipft 
sind, nicht an die engere Sehsphare allein; fiir Formensehen und Farben¬ 
sehen komite dies speziell Verf. durch Untersuchungen an Agnostikern 
dartun 1 ). 

Betrachtet man den Sehakt, wie er sich im Sehfeld und Blickfeld 
vollzieht, so scheinen die Erfahrungen an den Schadelschfissen zu 
zeigen, daB die zentralen Partien des Gesichtsfelds auf Leistungsstufen 
zurficksinken konnen, die sie den peripheren Bezirken des Gesichts¬ 
felds ahnlich machen; dies zeigen u. a. derTypusderSehrestebeimrela- 
tiven parazentralen Skotom und die Art, wie Kranke vom Ubergangs- 
typus zur Totallasion des makularen Sehens sich verhalten*). Die 
gleichen Erfahrungen zeigen aber auch, wie periphere Gesichtsfeld- 
partien sich auf Leistungsstufen erheben konnen, die sie den zen¬ 
tralen Gesichtsfeldpartien mehr und mehr gleichen lassen. 

Im folgenden soli nicht die Regression betrachtet werden, die in 
dieser doppelten Beziehung liegt, sondem die Evolution, die am klarsten 
in den Leistungen der beiden erwahnten Falle zutage tritt, da bei 
diesen sicher nur ein peripheres Sehen bestanden hat. 

Poppelreuters Fall bietet fiir diese Betrachtung das Endresultat, 
das Ziel dieser Evolution, da er stabil zu sein schien und da fiber seine 
Rfickbildung nur bekannt ist, daB sie sehr langsam aus einem scheinbar 
hoffniuigslosen Stadium heraus erfolgt sein soil. Der Fall des Verf.s 
ist schon in diesem ersten Stadium zur Beobachtung gekommen; die 
Beobachtung konnte bisher durch 2 Jahre stetig fortgesetzt werden; es 
kamen alle Phasen dieses Evolutionsprozesses zum Vorschein, den Verf. 
auch gegenwartig noch nicht ffir abgeschlossen halt. Die beiden Falle 
verhalten sich also zueinander wie Weg und Ziel. 

In den frfiheren Phasen dieser Rfickbildung bei Obszut war nun 
ein eigentfimliches, verspatetes, in nachgelieferte, vollig voneinander 
raumzeitlich gesonderte Teileindrficke zerstticktes Sehen auffallend, zu 
dessen Illustration zwei Beispiele genfigen mogen. 

Der Kranke bekonnnt auf dunklcm Grand cine Ordensdekoration eingestellt. 
ein goldencs Kivuz auf weiBeni Felde; er sieht nur die weiBe Flache; die Exposition 
wird entzogen und durch eine dunkle Flache ersetzt; er macht seine forcierten 
Einstellungsbewegungen, mit denen er ein Objekt in sein peripheres Restgesichta- 
feld zu bringen trachtet und agnosziert: „Ein Kreuz, gelb“; dazu zeigt er panto- 
mimisch die Form. 

Es wird ihm ein BlumenstrauB gezeigt. aus dem neben den Blumeu ein auf¬ 
fallend langer, diinner Stamm von Asparagus herausragt. Er faBt nur die rote 

*) a. a. O. mitgeteilt, 1912, 1913. 

*) Fall Lesniak, a. a. O. vom Verf. demonstricrt, Marz 1917. 


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E\|»erim. erregte Traumbilder in iliren Beziehiingen zuni indirekton Sehen. I. 281 

R heraus, enteprechend seiner besonderen Pradilektion fiir Rot. Der Strand 
wird entfernt; cr hat nun nachzusehen, wie die Farbe der Aufschlage bei einem 
anwesenden Offizier ist; er bringt es dazu, durch forcierte Einstellungsbewegungen 
den Hals der Vp. in sein Restgesichtsfeld zu bringen und sagt: „Eine griine Kra- 
wattennadel." 

Sehr zahlreiche Beispiele zeigten die GesetzmaBigkeit des Mechanis- 
mus, nach dem bei Obszut verspatet, wie in positiven Nachbildem, 
Formeneindriicke richtig, aber ohne Beziehung zu der friiheren Ex¬ 
position nachgeliefert wurden; diese Nachentwicklungen besaBen die 
Fahigkeit, wie die Traumbilder allerlei Verdichtungen einzugehen. So 
ergab sich der Eindruck, daB in diesem Stadium das indirekte Sehen 
jene Leistungen des JFormensehens vorerst nur sukzessiv, verspatet 
und zerstuckt zu treffen vermochte, die es spater simultan und zum 
Einheitskomplex verschmolzen leistete, in der Art, wie das direkte 
Sehen des Gesunden. Darin lag eine Andeutung, wie jene Evolution 
des indirekten Sehens vor sich gehen mag und wie die Zwischenstationen 
dieses Weges beschaffen sind, vor allem in bezug auf Rhythmus und 
ZeitmaB. 

Dieses Nachliefem zerstuckter Teileindrticke war, abgesehen von 
den nachtriiglichen Erganzungen bei tachistoskopischen Versuchen an 
Gesunden 1 ), dem Verf. aus seinen Untersuchungen an Agnostikem be- 
kannt. Bei den tachistoskopischen Expositionen fiir gesunde Versuchs- 
personen handelt es sich aber um Teileindriicke, die nachtraglich, nach 
Intervallen sukzessiv auftretend, doch den Weg zur Verschmelzung 
mit dem exponierten Komplex finden. Bei den Agnostikem findet 
diese nachtragliche Verschmelzung, wenigstens in den schwereren 
Fallen nur in der Minderzahl der Beispiele statt; die Reaktionen kom- 
men aber, olme daB das direkte Sehen zerstort ist. Abgesehen von 
diesem Unterschied laBt sich das Verhalten der Agnostiker und das 
von Obszut klinisch scharf unterscheiden, atis Ztigen, die hier uner- 
ortert bleiben mussen. 

Verf. konnte femer dieselbe Umwandlung des tachistoskopischen 
Sehens bei einer Vp. mit latenter Hemianopsie und Alkoholhalluzinose 
unter experimentell genau regulierbaren Bestimmungen im unwissent- 
lichen Verfahren feststellen und priifen 2 ). Aus den damaligen Versuchs- 
reihen soil nur das rekapituliert werden, was unmittelbar auf den hier 
vorliegenden Zusammenhang sich bezieht. 

Bei dieser Vp. provozierten Dauerexpositionen von Objekten und 
Bildem keine Halluzinationen. Bei zu kurzer Dauer der Exposition, 
also unter derselben Bedingung, unter der gesunde Vp. agnostische 
Fehler machen, stellten sich aber solche regelmaBig ein. 

*) Vgl. z. B. Schumann, II. KongreB f. exp. Psych., Leipzig 1907, S. 167. 

2 ) Mitgetcilt a. a. O. Doz(unb<‘r 1913. 


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282 


0. Potzl: 


Diese Halluzinationen waren eine strong diskontinuierliche Folge 
von Einzelbildem, die miteinander keinen psychisch gegebenen Zu- 
sammenhang hatten. Sie waren durch Pausen von mindestens mehroren 
Sekunden getrennt und kamen im Nachbildrhythmus; wahrend der Vor- 
gang strong periodisch blieb, variierten die Zeiten der Intervalle von der 
genannten unteron Grenze an je nach den Versuchsbedingungen, aber 
auch unter der Wirkung innerer Einflusse. 

Je weniger vom exponierten Komplex erfaflt worden war, desto 
reicher waren diese Halluzinationen und umgekehrt. Alles, was bei der 
Exposition crfaBt worden war, blieb, wie viele hundert Versuche zeigten, 
aus dem Inhalt der folgenden Halluzinationen strong ausgeschlossen. 
Diese waren also der Erscheinung nach positive Nachbilder von Teilen 
der Originalerregung, ihrem Wesen nach negative Nachbilder der Apper- 
zeption; jede einzelne Halluzination entsprach nur einem kleinen Quan¬ 
tum der gegebenen optischen Gruppen. Die halluzinierten Bilder 
hatten die Eigenschaften, die Freud an den Traumbildem hervor- 
gehoben hat; sie zeigten Verdichtungen, Verschiebungen; besonders 
fielen Spiegeldrehungen und Verlagerungen im Raume auf, die diese 
Bilder zum Teil mit Ziigen von Metamorphopsie ausstatteten. 

Die Versuche waren zum Teil in perimetrischer Anordnung durch- 
gefuhrt worden und hatten schon ergeben, daB die Halluzinationen 
auch Figurenteile reproduzierten, die im indirekten Sehen aufgenommen 
waren. Damit stellt sich eine Beziehung zu dem Befund bei Obszut 
her; es zeigt sich, daB eine allgemeine Stoning der Abstraktion, wie sie 
bei der erwahnten Vp. bestand 1 ), Impressionen des indirekten Sehens 
zur vollen sinnlich gegebenen Formenklarheit verspatet und stiickweise 
sukzessiv nachliefem kann. 

Damit ist der tJbergang zu einbr Ann&hme gegeben, die vielleicht 
selbstverstandlich ist: daB der geschilderte EvolutionsprozeB auch beim 
Gesunden vor sich geht, daB nur die Abstraktion durch ihre Gegenarbeit 
unter gewohnlichen Verhaltnissen sein BewuBtwerden verhindert, ahn- 
lich wie dies bei den Sehresten des relativen Skotoms geschieht. Es 
war kaum anzunehmen, daB Zerstorung von Sehspharenteilen oder 
psychische, die Abstraktion (Berze) beeintrachtigenden Stoningen 
einen evolutionistischen ProzeB schaffen, der nicht im Organismus vor- 
gebildet ist. Es war auch sofort der Zustand gegeben, in dem die Ab¬ 
straktion beim Gesunden wenigstens zu einem groBen Teil ausgeschaltet 
ist, der Traum. Verf. hat darum in den letzten Monaten an einer Reihe 
gesunder Vp. den EinfluB gepruft, den die gleiche Verauchsordnung 
wie bei der Vp. mit Halluzinose auf die Gestaltung der Traumbilder und 
Halluzinationen im Halbschlaf ausiibt. Die bekannten Erfahrungen 

*) Vgl. die Paranoiatheorie Berzes! Berze, t)ber das Prim&rsymptom der 
Paranoia. Halle, Marhold, 1903. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 283 

von Johannes Muller, Purkinje, Helmholtz, sowie die Ver¬ 
suche von Urbantschitsch deuten bereits Ergebnisse an, die in 
dieser Richtung erhalten werden konnen; diese sind aber bisher nicht 
systematisch entwickelt und geordnet worden. Verf. hat diese Ver- 
haltnisse dazu benutzt, um wenigstens illustrativ jenen ProzeB zu 
erlautem, der bei den cerebral bedingten Lasionen des zentralen 
Sehens das indirekte Sehen nach und nach mit den Eigenschaften des 
direkten Sehens begabt, der also weitgehende Analogien mit den Vor- 
gangen bietet, die bei peripheren Augenerkrankungen eine Parafovea 
sehaffen. 


2. Einige Versuche mit visueller Traumreaktion. 

Experimentiert wurde im streng unwissentlichen Verfahren. Zur 
Exposition wurde eine Serie von Diapositiven benutzt, die fiir die Firma 
Reichert 1 ) hergestellt worden waren; siewaren der Offentlichkeit bis¬ 
her ganz unbekannt geblieben und auch Verf. hat sie erst bei den Ver- 
suchen kennengelemt; jedes Bild wurde im allgemeinen nur zu diesem 
einzigen Versuch verwendet; die Vp. wurden aus moglichst verschiede- 
nen Kreisen gewahlt und es wurde mit jeder, eine einzige ausgenommen, 
nur ein einziger Versuch gemacht 2 ). Die Wahl der Vp. beriicksichtigte 
nur, daB die Versuche Personen brauchten, die dazu disponiert sind, 
auf ihre Traume gut zu achten, und willig den Schlaf unterbrechen, um 
sofort Not izen zu machen; Weckreize sollten im allgemeinen vermieden 
werden; im allgemeinen wurden Personen, die sich selbst mit Traum- 
analysen im Sinne der Freudschen Schule beschaftigten, vermieden, 
da die Versuche Personen betreffen sollten, die moglichst wenig in die 
Mechanismen des Traums eingeweiht sind. 

Die Versuche wurden zum Teil perimetrisch angeordnet, damit die 
Impression gerade jene Gesichtsfeldpartien traf, die bei den beiden 
Fallen mit Lasion des direkten Sehens Restgesichtsfeld sind. Dafur 
geniigten wenige Versuche. Der groBte Teil der Versuche wurde im 
direkten Sehen angestellt. Exponiert wurde beim Grundversuch nur 
einmal, durchaus in der Zeit von 1 / 100 Sekunde; die Zeitangabe bezieht 
sich auf die Angabe des Compoundverschlusses; es handelt sich librigens 
nur um die GroBenordnung der Zeit, nicht darum, ob es gerade 10 a sind. 

Es war nicht notwendig, mehr als 12 Vp. zu nehmen, da die Er- 
seheinungen bei der Mehrzahl der Vp. sich gesetzmaBig in alien Einzel- 


*) Verf. dankt an dieser Stelle der Firma Reichert, Wien, warmstens fur 
das bewiesene groBe Entgegenkommen. 

2 ) Nach AbschluB dieser Mitteilung hat Verf. noch an einer zweiten Vp., 
einem Fall mit Storungen des Sehens nach HinterhauptschuB, einen zweiten Ver¬ 
such gemacht. Dieser gait einer besonderen Fragestellung und kommt fiir das 
Weitere nicht in Betracht. 


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0. Potzl : 


heiten wiederholten. Von diesen 12 Vp. zeigten 9 eine deutliche Be- 
einflussung ihrerTraumvisionen durch die tachistoskopische Exposition; 
in einer eindeutig vom Diapositiv ablesbaren Weise erschienen gerade 
solche optische Gruppen in den Traumbildem formentreu oder gut 
kenntlich, die bei der Exposition scheinbar vollig ungesehen blieben, 
die den Vp. auch nicht nachtraglich eingefallen waren; bei den peri- 
metrisch angeordneten Versuchen wiederholte sich dieselbe Erscheinung 
fur Formengruppen, die in der bezeichneten Weise im indirekten Sehen 
aufgenommen, aber nicht erfaBt worden waren. 

Einige dieser Vereuche sollen im folgenden beschrieben und kom- 
mentiert werden. Es sei bemerkt, daB jeder der Traume, die in den 
Versuchen vorkommen, nach der Freudschen Traumanalyse und nur 
nach dieser vollkommen auflosbar war: In diesem Abschnitt kommt 
es dem Verf. hauptsachlich auf den sinnesphysiologischen Zusammen- 
hang an; die zum Teil sehr verwickelten analytischen Beziehungen 
dieser Traume werden daher im folgenden nicht durchwegs besprochen, 
die Traume und Halluzinationen zum Teil nur bruchstiickweise 
wiedergegeben werden. 

Fur jeden der im folgenden mitgeteilten Versuche wurde ein ganz 
bestimmter Hergang eingehalten, der jede suggestive Wirkung irgend- 
einer Art ausschloB. Der Vp. wurde in x / 100 Sek. das ihr sicher unbe- 
kannte Diapositiv ein einziges Mai exponiert; das Protokoll darauf 
fixierte alles, was Vp. wahrgenommen zu haben glaubte, ohne daB der 
Vp. irgendwelche Hilfen gegeben wurden; ein zweites Protokoll fixierte 
die nachtraglichen Einfalle vom Tage; Vp. bekam die Anweisung, auf 
Traume und hypnagoge Halluzinationen zu achten; der Auftrag gait 
nur fiir die nachste Nacbt; was nach dieser etwa noch an Traumen 
kam, blieb unberiicksichtigt; diese Beschrankung hatte den Zweck, 
eine einfache und eng begrenzte Anordnung zu treffen, obwohl bei der 
Tragheit dieser Phanomene ein Teil der nachentwickelten Bilder da- 
durch verlorengehen kann und der Rhythmus der etwaigen Spatfolgen 
eine Fragestellung fur sich enthalt. Ein drittes Protokoll fixierte am 
folgenden Tag die Traumbilder imd hypnagogen Halluzinationen; um 
diese moglichst ohne Modifikationen durch anderweitige EinflOsse zu 
bekommen, wurden Weckreize u. dgl. vermieden, soweit nicht der Zu- 
fall sie ergab; dagegen hatten die Vp. den Auftrag, sofort nach jedem 
Erwachen ihre Traume durchzudenken und womoglich niederzuschrei- 
ben. Auf die Gefahr, daB ein weiterer groBer Teil des Materials ver- 
gessen wird und verlorengeht, sollten Reize wahrend des Schlafes nicht 
in den Versuch eingefQhrt werden. Die einstellende Wirkung, die in 
der Versuchsanordnung selber liegt, bot dem Verf. die Gewahr, daB 
genug Material tibrigbleiben werde; dazu kam es im Sinne der Frage- 
steUung nicht darauf an, bei alien Vp. positive Ergebnisse zu haben; 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Selien. I. 285 

die sinnesphysiologische Gultigkeit der Ergebnisse ist an wenigen posi- 
tiven Versuchen geniigend begriindet; daB fast alle Vp. auffallend 
reiche Ergebnisse miihelos geboten haben, hat den Verf. selbst bis zu 
einem gewissen Grad iiberrascht. 

So war ein Teil des dritten Protokolles schon schriftlich fixiert, als 
die Vp. am nachsten Tag zu Verf. kamen; zur Vollendung wurden 
wieder ohne jede Hilfe weitere Assoziationen aus den Vp. entwickelt; 
das einzige, was Verf. verlangte, war, daB die Vp. gewisse visuell be- 
sonders vortretende Traumreste durch einfache Zeichnungen skizzierten. 
Es bedarf eines gewissen Instinkts, herauszufuhlen, was man sich so 
zeichnen lassen soil; doch ergibt diesen die tabling wohl bei jedermann 
schnell. 

Das ganze Traumprotokoll war also fertig, bevor die Vp. ihr Dia- 
positiv zum Ablesen bekam, und bevor Verf. selbst abgelesen hatte. 
Wer die Versuche aufmerkBam liest, wird bemerken, daB Verf. selbst 
nach Abfassung des Traumprotokolls zumeist nicht wissen konnte, 
ob der Versuch positive Ergebnisse hatte und welche Deckungsstellen 
er bot. So war es auch in der Tat. Was die Vp. nach Besichtigung 
ihres Diapositivs uber die Traume noch mitteilte, wird in der Schilde- 
rung jedes Versuchs stets besonders als nachtraglich gegeben vermerkt 
w’erden; alles was ohne diesen Vermerk angeftihrt ist, ist ohne die Mog- 
lichkeit eines anderen Einflueses als der einmaligen Exposition von 
Vioo Sekunde beschrieben und gezeichnet worden. 

Nach Abfassung und AbschluB des dritten Protokolls las Verf. 
prinzipiell allein vom Diapositiv in der Anordnung ab, wie es urspriing- 
lich projiziert worden war. Erst nachdem Verf. mit seinem Ablesen 
zu Ende war, wurde ein zweites Mai mit der Vp. geraeinsam abgelesen. 

Hier soil nun zunachst nur ein Teil der Versuche beschrieben werden, 
die a. a. O. demonstriert worden sind, in der gleichen Reihenfolge, wie 
bei der Demonstration. 

Versuch 1 (18. II. 17, abends 8 Uhr). 

Exponiert wird in Yioo Sekunde ein Diapositiv: Tempelruinen von The ben 
bei Medinet-Habu. Die Exposition geschieht verkehrt. 

Die scharfen, schmalen Schlagschatten der Saulen und Pylonen fiigen sich 
zufallig zu verlagerten L-Strichen: _J usw.; eine andere Schlagschattenfigur mehr 
rechts sieht etwa wie eine schwarze Fahne aus: Ganz rechts imitiert ein Schatten 
zwischen engem Gemauer zufallig die Silhouette einer langen schwarzen Menschen- 
gestalt, etwa mit krauser, dunkler Haarkrone. 

Vp. sieht: „Eine Schrift. Wie Hieroglyphen. Rechts ein groBer Buch- 
stabe, oben breit und dann heruntergehend ... Der Hintergrund hell. Wie eine 
Schrift in der Wiiste.“ Nachtraglich: „So ein Sonnenhintergrund.“ 

Nachtraglich sei der Vp. eine Zigarettenannonoe eingefallen, auf der im 
Hintergrund die Pyramiden zu sehen sind. Doch wisse Vp. nicht, ob das mit der 
Sache etwas zu tun habe. 


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0. Potzl: 


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Im Traumprotokoil: Absolut nichts da von. Ubrigens spat eingeschlafen und 
unruhig geschlafen. Gegen Morgen traumte Vp., daB sie X. in einem bestimroten 
Garten im Vorubergehen sah. Der Garten sah „gewdhnlich“ aus. 

(Sonst nichts?) „Ja, ich wollte Ihnen etwas sagen, habe es aber vergessen.. 
ja, es ist mir nach tragi ich eingefallen; es war dort eine Mauer zu sehen; an 
deren Rand stand Y. Wir sprachen iiber —“ 

Mauer und Situation von Y. soil gezeichnet werden. Vp. zeichnet mehr a Is 
verlangt wird, indem sie die Konturen von Y. auf eine sonderbare Weise ausfuhrt. 

Nun liestVerf. ab: die Zeichnung reproduziert in absoluter Fonnentreue die 
lang iiber das ganze Bild verlaufende Grundmauer der Tempelruine mit der An- 
deutung ihres Quaderwerks. Xur die schwarze viereckige Flache des fahnen- 
artigen Schattens, der gesehen worden war („Buchstabe, oben breit ... **) findet 
sich nicht; sie ist vom Traumbild exkludiert. schon im Wachen entwickelt ge- 
wesen; dafiir erscheint, dem rechts daneben liegenden Teil der Exposition ent- 
sprechend, der Schatten, der einer menschlichen Figur ahnlich ist; dieser war 
unbemerkt geblieben; jetzt erscheint er wie bei den Reaktionen Obszuts ver- 
sp&tet im Traumbild nachgeliefert. 

Y., die getr&umte Person, ist hoch, schlank, briinett. Y. tragt eine Frisur, 
die den Eindruck vollendet, daB der Schatten in der Exposition ganz gut der 
Schatten von Y. auf einer Mauer sein konnte. Die Zeichnung von Vp. reprodu¬ 
ziert alle Einzelheiten dieses Schattens in einer Weise, die nur von der Bildfigur, 
nicht von der Vorstellung oder der Silhouette von Y. herstammen kann. Y. ist 
eine Frau. Sie wird anders dargestellt (Fig. 4). 

Die Assoziationen ergeben eine Reihe von Deckungsstellen, die klarlegen. 
warum die Expositionen als Schrift gesehen worden war; eine Reihe weiterer 
Decksituationen ergibt das Gefiige des Traums. Auf die Darstellung dieseT Ver- 
haltnisse muB hier verzichtet werden; bemerkt soli nur sein, daB alle die Traum- 
bildgruppen deckenden Situationen, die sich zwanglos ergaben, unbewuBt auf- 
genommene Tagesreste aus der jungsten Vergangenhcit waren, w'ie die erschienenen 
Gruppen aus der Exposition. UnbewuBt Erlebtes hatte sich hier mit unbewuBt 
Erlebtem gedeckt; bewuBt Aufgenommenes mit bewuBt Aufgenommenem. Dies 
war durch eine besondere Konstellation hier eindeutig nachweisbar. Kongruente 
geometrische Formen vermitteln die Deckung. 

Der Versuch zeigt zunachst die Existenz jener verspateten Nach- 
entwicklung von Anteilen des Gesehenen, wie bei Obszut, es erfolgt 
eine nachtragliche Entfaltung vorbewuBt aufgenommener optischer 
Keime bei einer gesunden Vp. Es findet sich dieselbe Exklusion im 
Verhaltnis zwischen den bewuBt erlebten und unbewuBt im Traum 
emporgetauchten optischen Entwicklungen wie bei der Vp. mit Hallu- 
zinose. 

Versuch 2 (16. III. 17, abends 8 Uhr). 

Vp. ist ein verwundeter Offizier mit leichter Asthenopie nach Himerschiitte- 
rung vom Hinterhaupt aus. Er hat keine segmentale Sehstorung. Die optische 
Erfassung ist etwas verlangsamt; es besteht eine Tendenz der positiven Xach- 
bilder, aufdringlich und lastig zu steigen, zumal wahrend des Einschlafens. 

Exponiert wurde ein Diapositiv, das die Klage der Juden an der Mauer dar- 
stellt. Mauern und der gepflasterte Hof schimmern stark weiB. Im Hintergrund 
hebt sich scharf die viereckige schwarze Silhouette einer Pforte ab; links an der 
langen Mauer steht eine Reihe von Personen in Gewandern von verschiedener 
Farbe; all<» sind an die Mauer gelehnt; viele halten die Arme erhoben. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 287 

Entsprechend der tachistoekopisch schon gepriiften Trftgheit der optischen 
Erfassung, nimrat Pat. in 1 / 100 Sekunde ganz besonders we nig aus, noch weniger, 
als die iibrigen, tachistoskopisch durchwegs ungeiibten Vp. 

„Ich habe etwas gesehen; es ist unmoglich zu sagen, was. t)berhaupt nur 
Schwarz und WeiB.“ Nach einer Pause: ,.Schatten; l&ngliche Streifen ...“ Nach- 
traglich: „Wie B&ume.“ 

Diese sind auch tatsachlich im oberen Teil des Hintergrundes vorhanden. 
DaB sie griin sind, kann nicht wahrgenommen werden; die Expositionszeit ist 
zehnmal so kurz wie die Schwellenwerte fiir die Zeit der Wahrnehmung fiir diese 
Farbe. Im Getraumten erscheint dieser Anteil des Hintergrundes nicht. Er gibt 
aber den Bereich zu erkennen, von dem aus in die Nachbarschaft sich verbreitend 
die Traumentwicklung unbewuBt aufgenommener Anteile der Exposition 
beginnt und fortschreitet. 

Das Traumprotokoll ergibt, wie vorauszusehen war, eine reiche Menge von 
hypnagogen Halluzinationen, nicht eigentlich von Tr&umen. Eine lange Reihe, 
die er zuerst erw&hnt, sind aus nachgewiesenen Tagesresten vollstandig zu ver- 
stehen. Dann erst, wie als ein Zeichen, daB die Traumentwicklung der Exposition 
auch w&hrend dieses Halbschlafes Zeit gebraucht hat, oder etwa, daB sie einer 
tieferen Stufe des Halbschlafs entsprechen mag, kommt eine deckende Stelle 
im Protokoll: 

„Ein Meer mit einem groBen Dampfer. Das ist mir unerklart, woher ich es 
habe. Das hat n&mlich auch gewechselt. Zuerst war ziemlich hohe See; eigentlich 
ein sehr schones Bild; das Wasser, die Wellen ganz weiB gl&nzend; das 
Schiff war ganz schwarz; nur der Vorderteil, Kiel und Kamine zu 
sehen ... es ist senkrecht dazu gekommen ... 

Aber es waren keine Leute darauf ... 

Sp&ter hat es gewechselt. Das Schiff war bedeutend groBer und 
von der Seite (zu sehen) ganz weiB; keine Leute darauf. 

Dann hat das Bild gewechselt. Sehr viele Menschen darauf, ganz 
klein wie die Punkte; in lebhafter Bewegung. Die Arme habe ich 
gesehen; in Bewegung; wie wenn sie etwas geschwenkt h&tten, 
Tiicher oder dergleichen; die Arme waren im Verh&ltnis zu den 
Figuren zu groB.“ 

Zu zeichnen wurden die beiden Positionen des auftauchenden Schiffes gegeben, 
die Vp. bereits geschildert hatte. 

Vp. zeichnet erst die schwarze viereckige Kielfigur mit Rauch- 
fang. Diese wird sp&ter im Ablesen miihelos als der SchattenriB 
der Pforte wiedererkannt (von Verf.), gerade als jener Figurenteil, 
der neben dem bewuBt gesehenen Schwarz und WeiB liegt, und der 
zusammen mit den bewuBt, aber nachtr&glich und schattenhaft auftauchenden 
Baumkonturen den Hintergrund des Bildes ausmacht. Die Richtung dieses 
Hintergrundes entspricht dem Fluchtpunkt der perspektiven Par- 
allelen auf dem Bild. 

Darauf zeichnet Vp. das Schiff, wie es ihm hemach, wie er jetzt Bagt, 
,,beim N&herkommen“ erschienen ist, weiB, in voller Frontansicht, 
aber mensohenleer. 

Auch diese Skizze l&Bt sich an der Exposition ablesen, aber ihre Beziehungen 
sind vexierbildartig vereteckt; es gehbrt eine besondere tJbung im Losen von 
Vexierbildem dazu, um die Beziehung zu finden. Folgt man dieser Beziehung 
mit dem Blick, so wandert dieser nach einer Leitlinie, die sich aus zwei ineinander 
iibergehenden perspektiven Horizontalen verschiedener rftumlicher Richtung zu- 
sammensetzt, vom Distanzpunkt weg nach dem Vordergrund des Bildes. Es 

Z. f. d. g. Near. u. Psych. 0. XXXVII. 19 


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0. Patzl: 


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ist zu bemerken, daB im Traum das Schiff n&herkommt, daB hier also eine Art 
von Relativit&t zwischen einer virtuellen Blickbewegung und der Bewegung des 
Traumbilds zu obwaJten scheint. 

Das eben beschriebene Beispiel w&re nicht so genau vermerkt worden, wenn 
es nicht eine dem Verf. aus seinen vielen hundert Versuchen bei H. wohlbekannte 
gesetzm&Bige Erscheinung w&re, daB die einzelne Halluzination geometrisch 
getreue, aber zunachst verborgene Deckungsstellen im exponierten optischen 
Komplex hat. Man muB beim Ablesen nach ihnen suchen, genau wie nach der 
Auflosung eines Vexierbildes. Wie bei diesem, ist auch hier die einmal gefundene 
Konstellation aber dann so aufdringlich, daB man sie beim fortgesetzten Beschauen 
des Bildes zunachst nicht los wird 1 ). 

DaB die erwfthnte virtuelle Augenbewegung, in diesem Falle also eine in der 
Bildperspektive vorgesehene virtuelle Konvergenz, wahrend der Exposition nicht 
wirklich stattgefunden hat, sondem nur angeregt worden sein kann, braucht 
kaum hervorgehoben zu werden. Die Minimalzeit fur Augenbewegungen betr&gt 
mehr als das Zehnfache der hier verwendeten Expositionszeit schon fiir den 
Gesunden. 

Die dritte Phase des Traumbildes ist wieder leicht und ohne Kommentar 
aus dem Diapositiv ablesbar; sie reproduziert die Reihe von Personen, die an 
der Mauer stehen und die Arme emporhalten. Die virtuelle Blickbewegung stellt 
auf den Vordergrund ein. Im Traum hat sich das Schiff gen&hert, geoffnet und 
Personen erschienen auf dem Verdeck. 

Die Armbewegung reprasentiert wieder eine in der Haltung der exponierten, 
unerkannt gebliebenen Menschenfiguren als naheliegend vorgebildete Bewegungs- 
moglichkeit. Selbst der Umstand, daB die Arme im Vergleich zur Gesamtgestalt 
als zu groB erschienen sind, findet seine Deckung in der Exposition, da streifige, 
armahnlich gestaltete Schatten auf der Mauer liegen. 

Es ist von Interesse, wie sich Pat. selbst nachtraglich verh&lt, als man das 
zweitemal, diesmal mit ihm gemeinsam, abliest. 

Die sehwarze Schiffskontur, die in der Pforte gegeben ist, agnosziert er ohne 
besonderes Interesse: „Wohl, mit Beniitzung davon ... “ Sein Interesse wendet 
sich sofort den Personen an der Mauer zu, die er als die getraumten Personen ini 
Schiff wiedererkennt. 

„Das stiramt besonders, daB sie im Schiff sind. Sie sind alle so an die 
Briistung gelehnt.“ 

Nun erst faBt auch Verf. die Briistung auf; es handelt sich um einen horizon- 
talen, wenig ausgeprftgten, aber hinterher doch gut kenntlichten Mauerabsatz, der 
sofort zur Briistung wird, wenn man den oberen Teil der Mauer (nach Auffassung 
des Verf. die linke Halfte des weiBen Schiffskorpers in der zweiten Phase) ge- 
wissermaBen subtrahiert. 

Dies entspricht genau der bei der Halluzinose und bei den Agnostikem als 
regelmaBig bezeichneten, bei Obszut in der Riickbildung vorkommenden Er¬ 
scheinung, daB die einzelnen optisch-halluzinatorischen Teileindriicke getrennte 
Quanten des optischen Komplexes sukzessiv und ohne Verschmelzung miteinander 
bringen. 


*) Vgl. Wertheimer, Experimented Studien iiber das Sehen von Bewegun- 
gen. Leipzig, Barth, 1912. S. 92. — Gelegentlich der Demonstration der Ver- 
suche in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung (Mitte Mai 1917) wurde 
Verf. auf eine Arbeit von Pfister (Jahrbuch fiir Psychoanalyse) aufmerksam 
gemacht, die unbewuBt gegebene Vexierbilder in Gem&lden von Kiinstlern be- 
handelt 


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Experiro. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 289 

„Auch die Armstellung stimmt“ (Vp. macht sie pantomimisch nach). „Sie 
haben alle die Arme so nach vorne gehalten, wie die Figuren im Bild. Wie wenn 
sie etwas schwenken wiirden, ein Taschentuch zum Beispiei.“ 

„Ich habe das Schiff so offen gesehen und hauptsachlich hier fc% 
(er zeichnet den Hof i m Bild wie ein offenes Schiffsverdeok) „die Leute 
an der Briistung.“ 

Er wiederholt, daB er sie in Bewegung sah und daB sie ihm ohne Farben, 
als dunkel in Erinnerung sind. 

Bei H., der. Vp. mit Halluzinose, waren immer die letzten, wie schwftcheren 
halluzinatorischen Folgen einer Einzelexposition in Bewegung; das letzte, was 
kam, war iiberhaupt nur mehr eine rasche gesehene Bewegung, ein Huschen, 
ein Ruck. Sinnesphysiologisch wiirde das Verhalten dieses Traumbilds also mit 
einer tachistoskopischen Impression von sehr kurzer Dauer im Charakter wohl 
ubereinstimmen. Alle weiBen Flachen erscheinen bei der Projektion hell schim- 
mernd; das weiBe, wild bewegte Meer wird begreiflich, wenn man dies beachtet. 

Als deckenden Tagesrest fur die Entwicklung der Exposition im Traum ver- 
mutet Pat. Bilder vom U-Bootkrieg in den illustrierten Zeitschriften. Diese 
werden spater fur einen angemessenen Zeitraum durchgesehen, ohne daB sich 
geometrisch-optische Deckungsstellen finden wie in der im Versuch gegebenen 
Exposition. 

Der Versuch zeigt, abgesehen von den gleichen Tatsachen, 
die auch der erste Versuch ergeben hat, noch das sukzessive 
Erscheinen von drei Teilphasen, entsprechend den drei 
Gruppen eines gleichzeitig gegebenen Komplexes. Simul- 
tanes wird also in Sukzessives verwandelt; das Bindende, 
der Uberblick, erscheint transformiert als Bewegung im 
Traum. Fur die hier sich ergebende Reversibilitat zwischen Bewegung, 
Raum, Form werden die folgenden Versuche noch viele Beispiele bringen. 

Versuch 3 (26. III. 17, vormittags 11 Uhr). 

Exponiert wird die Aufnahme des Bahnhofs von Assuan; das Bild ist wie 
alle verwendeten Dispositive farbig. 

Links von der Vp. aus war bei der Exposition das niedrige langgestreckte 
Bahnhofsgebaude zu sehen; dieses schien sich durch seine Holzsaulen in Laden zu 
teilen, wie eine Geschaftshalle. 

Davor finden sich viele Leute. 

AnschlieBend fiillt der breite Perron den Vordergrund; mehr im Hintergrund 
drSngt sich eine Menschenmenge zum Zug. 

Im Hintergrund sieht man eine Briicke, ahnlich etwa wie auf vielen West- 
bahnstationen, ihrer ganzen Lange nach; sie iiberquert das Schienengeleise, dessen 
perspektive Parallelen ganz im rechten Teil des Bildes zu sehen sind. Dicht unter 
der Briicke schlieBt die Lokomotive des Zuges, um den sich die Leute drangen, 
den Prospekt der Schienenparallelen ab; die Lokomotive zeigt sich mit Rauch- 
fang und roter Laterne deutlich in Frontansicht. Vome neben den Schienen, 
auf dem leeren Teil des Perrons, sind einige Gepackstiicke zu sehen. 

Vp. sieht: „Viele Laden. Geschafte. Viele Leute davor. Dazwischen ein 
Durchbruch.“ Vp. macht pantomimisch eine Bewegung, die ausdriickt, daB rechts 
und links ihr Gebaude zu sein scheinen und irgend etwas dazwischen ist. So inter- 
pretiert Vp. die Gebarde auch. 

N. M. glaubt Vp. sich zu erinnern, daB sie zwei hohe Hauser rechts und links 

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gesehen hat; dies ist vielleicht nur eine Angleichung der Erinnerung an die ihr 
bekannten StraBenbilder. „Und der Durchbruch f&Ut mir immer wieder ein/' 
Auch seien nicht viele Personen auf dem Bilde gewesen, sondern nur 3 oder 4, 
mehr vorne.“ Die zweite Erinnerungsfaischung diirfte sich durch eine Nach- 
entwicklung der vordersten Gruppe der einsteigenden Personen erkl&ren. 

Am nachsten Morgen, vor dem Traumprotokoll, hat Vp. nochmals alle An- 
kniipfungen an die Exposition herzugeben. 

„Zuerst die beiden Erhohungen. Links war es wie eine lange Gasse 4 * 
(der Perron). „Vome waren drei Personen; rechts und links zwei grdBere, die 
vordere kleiner.“ 

Zum Traumprotokoll gibt Vp. an: „Gegen Morgen ..., aber das hat damit 
nichts zu tun“ (Vp. lachelt), „bin ich in dieser Gasse gegangen in ein Gesch&ft/ 4 

Da kommt mir vor: diese drei Personen (aus dem Bild?). „Ein kleiner 
Mann; will mir ein Messer in die Brust stoBen. In der N&he ist aber 
ein Bach. Ich reiB’ ihm das Messer aus der Hand und werf’ es hinein ... Dann 
hat sich’s so gestaltet, daB zu dem Bach ein Kind kommt, nimmt das Messer 
heraus, das aber viel groBer war als friiher; der Mann war sehr echauffiert ...“ 

Diese Stelle, die psychoanalytisch mehr als durchsichtig ist, ist in der Ex¬ 
position allem Anschein nach ohne Deckungsstelle 1 ). 

„Dann bin ich noch in ein Haus gefliichtet und so weit, von einer Dame, auf- 
genommen und bewirtet ... “ 

Damit schlieBt die Traumerzahlung von Vp., die hier wortlich wiedergegeben 
ist, wie sie ohne Hilfe gebracht worden war. Es ist ein leicht analysierbarer Messer- 
traum, ein h&ufiger Typus. Es wird sich zeigen, wie seine Deckstellen in der 
tachistoskopischen Exposition zu finden sind. 

Vp. hat zun&chst ihren Eindruck von der Gasse im Traum zu zeichnen. Sie 
zeichnet perapektive Parallelen, die sofort ihre Identitat mit dem unbewuBt 
aufgenommenen Schienenweg dartun. An das Ende der Gasse (bzw. des Schienen- 
wegs) zeichnet sie ohne jede Anregung das kleine Haus aus dem Traum; sie deutet 
eine Tiir vome an und will einen Rauchfang zeichnen; man erkennt die Loko¬ 
motive, die im exponierten Bild am Ende der Schienenparallelen steht. 

Die Symbolik, die nach Freudschen Analysen hier anzunehmen ist, braucht 
nicht angedeutet zu werden. Die visuelle Gestaltung aber hat dieses Traumbild 
zweifellos aus der tachistoskopischen Exposition empfangen. 

Vp. wird nunmehr nur befragt, was die Zeichnung zu bedeuten hat; sonst 
wird keine Frage gestellt. Vp. spricht nach dem Zeichnen: 

„Die Gasse war breit und hat sich verschmalert; es war so, wie wenn sic* 
kein Ende nehmen wollte/ 4 

Die Beziehung zu den perspektiven Parallelen und zum Distanzpunkt des 
Bildes ist klar, wie in Versuch II. Hier ist der Distanzpunkt des Traumbildes 
auch der Distanzpunkt der Exposition. Der im Keime angeregte tJberblick wurde, 
wie man sich vorstellen kann, diesmal vom Vordergrund des Bildes gegen den 
Distanzpunkt zielen. Im Traume geht Vp. selbst die gleiche Richtung. Zur Unter- 
stiitzung dieser neuen Relation zwischen Gberblick und Traumbewegung muB 
es dienen, daB auch die einsteigenden Personen des Bildes ihre figural angedeutete 
Bewegung in der gleichen Richtung nehmen. Traumbewegung und Gberblick 
wiirden so gewissermaBen den Hintergrund des Prospekts dieses Bildes gewinnen: 
gerade dort findet sich die Lokomotive auf dem Bild, das konform gestaltete 
kleine Haus in der Traumvision. 

Es ist aber noch der Bach zu finden. Wenn man will, kann man ihn sofort 

l ) Eine mogliche Deckungsstelle findet sich allerdings spater, bei der Illu¬ 
stration des Versuchs (vgl. Abschnitt 3, Versuch 3). 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 291 

im Bahndamm wiedersehen. Zur Priifung der Beziehung, die zur Zeit noch nicht 
vorlag, da sie Verf. noch nicht abgelesen hatte, dienen die Antworten auf einige 
Fragen, die nun erst gestellt worden sind. 

(Erinnem Sie sich an die Traumsituation am Bach ?) ,, Ja ..., wie eine Briicke 
hat das ausgesehen ..., es war erhoht und ich habe es in die Tiefe geworfen ..., 
etwas Wasser mag unten gewesen sein.“ 

(Eine Briicke?) „Ja ..., lang ... und sehr breit war sie.“ 

Es wird noch gefragt, ob Farben auf dem Bild waren, was Vp. vemeint. Nun 
fragt Verf. speziell nach Rot; Vp. bekommt den Ausdruck der Betroffenheit 
und sagt ungewiB: „Ja das Bajonett? ... Ich habe kein Blut gesehen ..., weil 
ich das Messer sofort herausgerissen und in den Bach geworfen habe.“ 

Die Ablesung ergibt sp&ter, daB die roten Fl&chen, an die Verf. sich selbst 
beilaufig von der Exposition her erinnert hatte, auf dem Bild wirklich vorhanden 
sind. Verf. kannte sie von der moglichst kurzen und fliichtigen Vorbesichtigung 
des Diapositivs; die Expositionszeit war viel zu kurz gewkhlt, als daB auch Vp. 
die Farbe wfthrend des Versuchs hfttte erkennen konnen. Der eine rote Fleck 
erweist sich als zu der Figur einer Dame in blutrotem Mantel gehorig, die in der 
Richtung der iibrigen Personen gegen den Zug, dessen Lokomotive man sieht, 
hinzueilen scheint; der zweite kreisrunde rote Fleck betrifft das Signallicht an der 
Front der Lokomotive. 

In der Personenmenge befindet sich mit vexierbildm&Biger Genauigkeit die 
Kontur eines Mannes mit Messer, das gegen die Brust einer weiBgekleideten 
Frauengestalt gerichtet scheint. Von diesen Beziehungen soil indessen fur die 
Verwertung dieses Versuchs vorlftufig noch abgesehen werden; im AnsohluB 
sollen nur jene Deckungsstellen hervorgehoben werden, die zwingend wirken 
und von keinem objektiven Beechauer verkannt werden konnen. Es sind dies: 
Schienenweg Gassc; Lokomotive Haus; Briicke. 

Sie werden selbst verstandlich auch von Vp. beim nachtraglichen 
Ablesen sofort verifiziert; sie losen die in diesen Versuchen gewohnliche 
Ergriffenheit aus, wie sie auch bei den Freudschen Traumanalysen 
erscheint, wenn die richtigen elementaren Beziehungen einfalien. Diese 
eindeutigen Deckungsstellen genugen, um die Relation zwischen ge- 
gebenen optischen Gruppen, virtuellen, im Keime angeregten Uber- 
blicksbewegungen und der gerichteten Bewegung im Traum an die- 
sem zweiten Beispiel sicherzustellen; dazu wiederholt der Versuch die 
Exklusion zwischen bewuBt ErfaBtem und unbewuBt Ertraumtem. 
Nur die Erinnerangsfalschungen bieten einen Ubergang zwischen den 
beiden scharf gesonderten Gruppen, indem sie Elemente von beiden 
zu enthalten scheinen, wie dies mit der alltaglichen psychologischen 
Erfahrung ubereinstimmt. 

Der Vergleich des 2. und 3. Versuches zeigt, daB der im Wachen er- 
faBte, von der Traumentwicklung ausgeschlossene Teil der Exposition 
in beiden Fallen dem Ausgangspunkt der hier supponierten Blickbe- 
wegung entspricht. Die Erfassung im Versuch 1 erinnert daran, daB 
es sich hier selbstverstandlich nicht immer um zufallige Einstellungen 
und um ein zufalliges Haften des Fixierpunktes handelt, sondem daB 
wenigstens zuweilen das Herausfassen von Teileindriicken der Expo¬ 
sition zu einem individuell verschiedenen neuen Ganzen auf Grand der 


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Vorgeschichte und durch Konstellation seitens fruherer Decksituationen 
erfolgt, zuweilen auch in der Bildperspektive in Bildgruppen begriin- 
det ist. 

Versuch 4 (4. IV. 17, abends 7 Uhr). 

Der Versuch betrifffc die gleiche Vp. wie Versuch 3. Es ist das einzico Mai. 
daB rait derselben Versuchsperson ein zweiter Versuch gemacht wurde; die Aus- 
nahme dient dem besonderen Zweck, bei einer Vp., die gut reagiert hat, neben 
der Minimalzeit der Exposition auch noch das indirekte Sehen einzufiihren. Damit 
wird die Untersuchung noch mehr auf die Bedingungen jener zentralen Umwand- 
lung des indirekten Sehens eingestellt. Dieser Versuch fftllt in eine Zeit, in dor 
das Bestehen und die Einzelheiten dieser Reaktion schori mit Sicherheit festgestclh 
waren. Diese Ausnahme enth&lt somit keinen VerstoB gegen das von Anfang an 
eingehaltene Prinzip des unwissentlichen Verfahrens. 

Der Versuch wird perimetrisch angeordnet. Vp. hat binokular eine Fixation 
inne, der zufolge die inneren 20° des binokularen Sehfeldes von der Exposition 
nicht getroffen werden; exponiert wird rechts im indirekten Sehen, so daB der 
Blick die kuBeren 50—60° des Gesichtsfeldes im Aufblitzen gewissermaBen erfiillt. 

Einmal exponiert in 1 / 100 Sekunde wird ein farbiges Diapositiv, das einen 
Cookschen Nildampfer und den FluB nahe von Assuan darstellt. Die Wirkung 
desselben Objekts bei dauemder Exposition im indirekten Sehen war vorher bei 
anderen Personen kontrolliert worden, die s&mtlich der Vp. unbekannt sind. Es 
ergab sich iibereinstimmend, daB die beiden weiBen Segel und das Verdeck mit 
seiner Reihe von Fensterluken zusammen sehr h&ufig den ungef&hren Eindruck 
eines Hauses mit einem dreieckig abgestutzten Dach machten. 

So reagiert auch Vp. bei der Vioe Sekunden-Exposition: 

„Ein kleines Haus. Zwei Reihen Fenster; viele nebeneinander. Sonst ... 
nichts.“ Es kanien keine nachtr&glichen Einfklle. 

Als Traum in der folgenden Nacht, gegen den Morgen hin getraumt, erz&hlt Vp.: 

,.Einen sehr weiten Waldweg gegangen zu dritt, mit zwei Fr&ukin*. 
Am Ende des Waldwegs war viel Gestriipp, ein Durcheinander von Domen. 
Eine der Begleiterinnen verlor sich im Wald, ging einen Weg links; 
das eine Fraulein, das mit mir noch war, die andere hab’ ich uberhaupt verloren. 44 

„Ich selbst war dann auf einer Anhohe droben; das Frftulein, das 
mit mir noch war, wurde dann von mir befragt, ob sie in das Haus mit den vielen 
Fenstern, das in der Feme zu sehen war, gehen will oder nicht. “ 

(Vp. lacht:) „Hat sie die Absicht gehabt, im Walde zu bleiben und Holz zu 
sAinmeln ... “ 

(Dann ?) „Ist nur das eine, daB ich in das Haus hinein bin und mich dort 
niedergesetzt in eine kleine Xische beim Fenster 

(Das Haus?) „Das hat aber anders ausgesehen als in Wirklichkeit 
auf dem Bild; es war viel l&nger, hat eine Mansarde gehabt, aber 
kein Dach.“ 

Skizzen, die sie macht, illustrieren, wie das im Wachen gesehene Hausdaeh 
sich aus den zwei dreieckigen Segeln (von denen nur das dem Fixierbereich naherr 
gezeichnet wird) und dem dazwischen befindlichen Teil des Schiffskorpers zusani- 
mengefiigt hat. Dieses Dach habe gefehlt; dafiir sei eine Mansarde dagewesen; 
auch waren „die Fenster mehr nebeneinander 44 . 

(Der Waldweg?) „Ein schoner gerader Waldweg, eher schmal, 
daB zwei Personen gehen konnten. Seitw&rts war nur Gebiisch. Alles 
griin wie im Friihjahr. 44 

Die analytischen Beziehungen des Traums soilen wieder ubergangen werden. 
Abzulesen von der Platte ist er hochst einfach; denn das Nilufer, gerade die 


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Experiin. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 293 

Strecke des Bildes, die bei der Exposition in den rechten Horizontal- 
meridian des Gesichtsfelds gefallen war, enth&lt in Konfiguration 
und Richtung zur Evidenz getreu alle Einzelheiten des Traumbilds 
und die in r&umliche Anordnung verwandelte Bewegung des Trauma. 

Neben dem Uferteil ist ein schmaler Streifen sichtbar, von Gebiischen um- 
saumt, die jenes wie iibertrieben erscheinende Griin der Lumiereplatten haben; 
so jllustriert sich der Waldweg. Gerade im Bereich, wo das zweite dreieckige 
Segel planimetrisch betrachtet, die Uferkonfiguration sehneidet, markiert eine 
Gestaltung am Ufer vexierbildartig das Dorngestriipp. Diese Stelle fiel bei der 
perimetrischen Anordnung des Versuchs etwa auf die Gegend zwischen Parallel- 
kreis 35—40°. 

Alles dies ist sofort und eindeutig ablesbar. Will man Deutungskiinste an- 
wenden, so kann man sich vorstellen, daB eine Z&sur in der Nachentwicklung 
des Figurenteils an der Stelle sich gebildet hat, wo das im Wachen gesehene drei¬ 
eckige, in der vermeintlichen Dachkonfiguration zeichnerisch abreagierte erste 
Segel die Uferkontur sehneidet. Transformiert man die Richtung der Traum - 
bewegung in die Richtung, die die Nachentwicklung genommen hat, so wird fur 
den Weg der tr&umenden Person die Kongruenz mit der Streckenrichtung der Nach¬ 
entwicklung auf dem Bild und im Gesichtsfeld ersichtlich; die in der Figur ent- 
haltene Bewegungsrichtung und die Richtung eines Gesichtsfeld meridians stimmen 
hier ii herein; sie k5nnen gleichsinnig wirken, dann aber zeigt die Z&sur des Segels 
relativ zur Wegrichtung nach links, der Richtung, nach der hin die Begleitperson 
im Traume sich verloren hat. Zwei Segelz&suren kdnnten zwei Begleitpersonen 
korrelat sein usw. 

Von solchen kontroversen einzelnen Beziehungen soil fiir den hier angestrebten 
Zusammenhang abgesehen werden; die Betrachtung bleibt eingeschr&nkt auf das, 
was jedermann vom IHapositiv eindeutig als kongruent mit Anteilen des Traum- 
bildes abzulesen vermag; eine weitere solche Beziehung enth&lt die Anhohe, die 
groB und breit fiir das Auge des Beschauers sich iiber diesem Ufer erhebt. 

Beim bequemen Uberblicken des dauernd gebotenen Bildes fuhrt leicht ein 
kleiner Ruck nach aufw&rts den Blick vom Waldgebiisch hinauf auf die Hdhe; 
im Traum war die Vp. hemach auf der H5he; der Intervall dieser Sukzession, 
die der Traum an die Stelle eines gleichzeitigen Uberblicks setzt, enth&lt explizite 
nichts von einer Traumbewegung. Aber wie mittlerweile hat sich in der Fort- 
setzung des rechten Horizontalmeridians peripherw&rts eine neue Bildgruppe im 
Traum nachentwickelt: das im Traum gesehene Haus mit der Mansarde ohne 
Dach ist geometrisch &hnlich dem Haus, das das exponierte Diapositiv ganz rechts 
am Uferkap zeigt. 

Das Haus zeigt sich von feme wie auf dem Bilde. Der Richtung dieser 
Weiterentwicklung nach rechts peripherw&rts in einem virtuellen Gesichtsfeld, 
entspricht wieder eine gerichtete Traumbewegung der Vp. 

Zugleich zeigt sich, daB die scheinbare Ausnahme von der gesetzm&Bigen 
Exklusion zwischen ErfaBtem und Getr&umtem, das Erscheinen des Hauses in 
beiden F&llen, einer n&heren Untersuchung nicht standh&lt. Den beiden H&usem 
entsprechen verschiedene, streng gegeneinander in der Entwicklung exklusive 
optische Gruppen der Exposition. 

Nach Feststellung dieser Beziehungen l&Bt man nun auch die Vp. ablesen. 
Sie agnosziert sofort den ganzen Horizontalstreif konform der fruher gegebenen 
Schilderung. Das ertr&umte Haus fiel beim Versuch ungef&hr auf Parallelkreis 
60° und Umgebung. 

Gebusch, Dornendickicht, Gestalt des Waldwegs, Anhohe, Haus erscheinen 
der Vp. identisch mit den entsprechenden Elementen des Traumvision. Der ganze 


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rechta unten befindliche Teil des Bildes, auch der blaue FluB, eracheinen der Vp. 
als vollkommen fremd. Sie bemerkt dazu: „Der Wecker hat mich geweckt; ieh 
war argerlich und wollte weiter tr&umen.“ 

Als das Hans, das Vp. bei der Exposition zu sehen vermeint hat, wird kon- 
form den Vorversuchen der zwischen den beiden dreieckigen Segeln befindliche 
Teil des Schiffskorpers angegeben. Man kann sofort im indirekten Sehen sich das 
Bild dieses Hauses selbst konstruieren und sieht dann, daB schon bei Daucrexpo- 
sition andere Einzelheiten daneben nicht sichtbar sind, noch weniger natiirlich 
bei einer Exposition von 1 / 100 Sekunde. 

Damit ist auch festgestellt, daB der im Traum nachentwickclte Horizontal- 
streifen des Bildes an die relativ am besten gesehene Bildpartie angrenzt. Nioht 
gleichgiiltig war fiir Anordnung des Versuchs, daB der Figurenstreif mit der in ihm 
enthaltenen Bewegungstendenz gerade auf den rechten Horizontal meridian fiel. 
Hier sind die Verhaltnisse fiir die Umwandlung von Sehpunkten in Blickpunkte 
durch den Fixationsreflex beim Rechtshander besonders giinstig; dieser EinfluB 
war auch fiir Verf. zu erwarten; es handelt sich um die Erscheinungen, die bei 
einem gebremsten optisch-motorischen Akt bildhaft emporsteigen. 

Es ist hier wahrscheinlich nicht nur die Folge individueller oder analytischer 
Konstellationen der Vp., sondern von optischen Verhaltnissen der Exposition. 
daB gerade diese Partie nachentwickelt worden ist. Natiirlich wirken alle diese 
Momente zusammen. Der Traum zeigt z. B. eine identische personliche Note 
mit dem Traum von Versuch 3. 

Der Versuch bringt alle aus den friiheren Versuchen bekannten 
Beziehungen getreu wieder. AuBerdem aber schafft er die fiir 
Fragestellung wichtigen Beziehungen zum indirekten Sehen 
des Gesunden und weist fiir dieses das prinzipielle Bestehen 
der gleichen evolutionistischen, zu optischen Nachent- 
wicklungen verspateter und zerstiickter Art fiihrenden 
Tendenz nach, die in der Bildung einer Parafovea bei Obszut 
durch einen zentralen ProzeB hervorgetreten ist. Die Identi- 
tat der beiden Prozesse in alien besprochenen Punkten braucht wohl 
kaum besonders erlautert zu werden. 

Es ist dabei zu bedenken, daB der Versuch nicht nur das indirekte 
Sehen, sondern auch die Minimalzeit der Exposition enthalt. Diese 
ist auch hier beibehalten worden, um die Sicherheit nicht zu schmalern, 
daB man es mit unbewuBt aufgenommenem Material zu tun hat. 

Bei Obszut und bei den Verhaltnissen des indirekten Sehens im 
gewohnlichen Leben schaitet sich dieser Zeitfaktor von selbst aus; fiir 
den Vergleich mit dem Versuch bietet er kein Hindemis; wenn die 
Nachentwicklung des Formensehens von peripheren Bezirken des Ge- 
sichtsfeldes aus nach einer so kurzdauemden Anregung geschieht, ist 
wohl anzunehmen, daB sie im gewohnlichen indirekten Sehen geschehen 
kann und haufig geschieht; allerdings ist zu vermuten, daB bestimmte 
Veranderungen dabei wirksam sein miissen, ahnlich wie es Schwan- 
kungen der Schlaftiefe sind, die das Traumen begunstigen. 

In der Tat zeigt die Analyse der Tagesreste vieler Traumvisionen, 
die Verf. in den letzten 2 Jahren vorgenommen hat, daB Verhaltnisse 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. 1. 295 

des indirekten Sehens sowohl, wie das Sinken oder die Zerstreuung der 
Aufmerksamkeit ftir die optische Nachentwicklung im Traume in be- 
stimmten Augenblicken von besonderer Wichtigkeit sind. Der obige 
Versuch illustriert diese dem Verf. lange bekannten Verhaltnisse und 
schaltet Fehlerquellen aus. Er illustriert damit auch die Tatsache, daB 
die Umwandlung des direkten und des indirekten Sehens ineinander 
einem physiologischen Vorgang entspricht, der jeden Sehakt begleitet 
oder mindestens zu begleiten vermag. 

3. Illustration der Yersuehe. Ergebnisse des darstellenden Verfahrens. 

Die geometrisch-optische Treue vieler Deckungsstellen zwischen 
Traumbild und Exposition, die in den besprochenen wie in fast alien 
ubrigen Versuchen festgestellt worden ist, lieB es als verhaltnismaBig 
leicht erscheinen, die Versuche auf rein photographischem Weg zu 
illuBtrieren. Dieses Verfahren lieB auch noch eine weitere Kontrolle 
dafur erwarten, wie weit die optische Treue der visuellen Traumreaktion 
geht. Tatsachlich gestatten die photographischen Darstellungen eine 
viel weiter gehende Analyse und Interpretation der Versuche, als sie 
im vorstehenden aus der bloBen Beschreibung gegeben werden konnte. 
Verf. will sich somit nicht darauf beschranken, eine kurze Figurener- 
klarung zu geben; er glaubt, in der Besprechung der Bilder jeden Ver¬ 
such einer neuerlichen eingehenden Betrachtung unterziehen zu miissen. 
Vielleicht hatte nachtraglich die im vorigen Abschnitt gegebene Kom- 
mentierung mit dieser Analyse zusammengezogen werden konnen; 
Verf. zog es aber vor, diese Darstellung unverandert zu belassen, da 
er meint, daB bei einer experimentellen Arbeit nicht nur Ergebnisse 
mitgeteilt und besprochen werden sollen, sondem daB auch der Weg 
einigermaBen ersichtlich bleiben darf, auf dem die Ergebnisse sich ein- 
gestellt haben. 

Die Epikrise der Illustrationen wird zeigen, daB die photographisch 
dargestellten Traumbilder einen Anspruch darauf machen dtirfen, daB 
man sie als treu gel ten laBt; vielleicht wird sich ergeben, daB dieser 
Anspruch auf Treue nicht so wesentlich hinter den Anforderungen 
zuriickbleibt, die man in dieser Beziehung an die Photographic eines 
Gehimschnittes stellt. Uberdies wird sich ersichtlich machen lassen, 
daB die einzelnen Vorgange beim photographischen Verfahren selber ein 
ganz gutes Gleichnis fur manche erkennbare Eigenschaften der hier 
spielenden sinnesphysiologischen und psychischen Prozesse bieten; daB 
dieses Gleichnis im allgemeinen nichts weniger als neu ist, hindert 
nicht, daB man ihm im einzelnen nachgehen darf. DaB das Gleichnis 
auch in Einzelheiten stand halt, kann nicht verwunderlich sein; auch 
in den morphologischen Darstellungen der Neurofibrillen haben photo- 
graphische Methoden eine groBe Rolle gespielt; gerade die Modifi- 


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kationen, deren sie bedurften, haben eine physikalisch-chemische Be- 
deutung, der in jfingster Zeit mit Recht immer mehr Beachtung ge- 
schenkt worden ist [Liesegang 1 )]. Die Modifikation eines photogra- 
phischen Positivprozesses gibt die Neurofibrillen mit hinreichender 
Sicherheit als morphologische Konstanten; will man sich an die der 
Morphologie entriickten Veranderlichen halten, so ist es nicht aussichts- 
los, auf einem Umweg das psychisch Gegebene mit einer photographischen 
Methode festzuhalten, freilich erst dann, wenn man es zuvor experi- 
mentell eingeftihrt hat. Die Analogie, auf die hier hingewiesen worden 
ist, erscheint um so weniger bedenklich, als sie zu keinerlei kausalen 
Rfickschlfissen verftihren kann, zu denen gerade die anatpmische Be- 
trachtungsweise, mehr offen oder mehr versteckt, immer noch fiber 
Gebfihr hinneigt; hier zeigt sich lediglich, daB zwei in der Anschauung 
voneinander streng getrennte Seiten eines Naturvorganges durch eine 
sehr analoge Methode dargestellt werden konnen; damit wird der Ein- 
druck veratarkt, daB die eine Seite nur ein Bild und ein Gleichnis der 
anderen ist, und daB die beiden Seiten sich zueinander ahnlich ver- 
halten wie ein analytischer Ansatz zu einem geometrischen Gebilde. 

Die naheliegenden Beziehungen zwischen dem in den Vereuchen 
erscheinenden modifizierten Erfassungsvorgang und zwischen den 
Einzelheiten des photographischen Verfahrens rechtfertigen es, wenn 
der bildm&Bigen Analyse der Versuche noch eine kurze Ubersicht fiber 
die angewendete Technik vorausgeschickt wird, obwohl diese nichts 
enthalt, als das Allergebrauchlichste des photographischen Verfahrens; 
es sollte auch nichts anderes in der Darstellung enthalten sein. 

Die Illustrationen wurden nach den Angaben des Verf. von dem 
Wiener Photographen Karl Grail ausgeffihrt; Verf. ist dem Illustrator 
ftir sein feines Verstandnis imd seine auBerordentliche Geduld und Sorg- 
samkeit zu groBtem Dank verpflichtet. Das Prinzip wurde festgehalten, 
keine andere als die photographische Technik zuzulassen; d. h. es wurde 
von nichts Gebrauch gemacht als von Unterexpositionen, gelegentlich 
von Uberexpositionen, von teilweisen Belichtungen ffir Variationen der 
Grundierung; die Retusche wurde nur in beschranktem MaB angewendet, 
so weit, daB sie unterUmstanden vorhandene Konturen auf den expo- 
nierten Bildern verschwinden oder verschwimmen lieB, andere Kon¬ 
turen zum scharferen Vortreten brachte, nicht aber so, daB sie etwa 
Konturen geschaffen hatte, die auf dem Diapositiv des Versuchs nicht 
vorhanden waren. Wo von dem zuletzt genannten Prinzip eine Aus- 
nahme gemacht ist, wird dies immer ausdrficklich vermerkt und be- 
sonders kommentiert werden. Bei den Versuchen der hier reprodu- 

') Kolloid-chemiBche Beihefte 3, Heft 1. Dresden, Steinkopff. Vgl.auch Liese- 
gang, Zur Kenntnis der kolloidalen Eigenschaften des Gehims. Zeitschr. f. allg. 
Physiol. 1910. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 297 

zierten Serie ist es nur einmal (Versuch 2, Fig. 7 a, untere Kontur des 
schwarzen Schiffsprofils) der Fall gewesen. Es wurde auch stets streng 
kontrolliert, ob eine durch die Retusche scharfer vortretende Kontur 
bei der Projektion des Diapositivs tatsachlich in der dargestellten 
scharfen Weise zur Anschauung gelangt. Die geometrisch optische 
Treue der Abbildungen mit den dargestellten Figurenteilen der Ex¬ 
position kann verbiirgt werden. 

Wie sich im einzelnen die photographische Darstellung gestaltet 
hat, zeigt eine kurze tJbersicht fiber die Abbildungen zu diesen vier 
Versuchen. 

Versuch 1. Fig. 1 ist eine gewohnliche photographische Aufnahme des 
exponierten Diapositivs. 

Fig. 2. Das nicht Dargestellte des Diapositivs ist nach Art der gewohnlichen 
Xegativretusche durch die mit dem Pinsel auf das Negativ aufgetragene Deckfarbe 
(Carmin) abgedeckt worden. 

Fig. 3. Wie Fig. 2. Der graue Grund ist durch Uberlichtung der Kopie beira 
PositivprozeB hergestellt. 

Fig. 4 ist die getreue Abbildung einer Zeichnung der Vp. 

Versuch 2. Fig. 5 ist wieder die gewohnliche Aufnahme des Diapositivs. 

Fig. 6. Das Nichtvorhandene ist wieder mit Deckfarbe auf dem Negativ 
abgedeckt. Das Verechwimmen aller Formen ist nur durch die unscharfe Ein- 
stellung bei der Aufnahme erzielt worden. 

Fig. 7 a. Der untere Teil der Fig. 5 ist auf dem Negativ abgedeckt, der obere 
Teil (Himmel) auf dem Positiv nachtr&glich belichtet worden. Die schwarze 
Figur des Schiffes entsteht durch Kombination zweier Aufnahmen. 

Die erste Aufnahme deckt die untere Halfte des Negativs und l&Bt die obere 
Halfte heil ,'80 daB diese im Positiv ganz schwarz erscheint. 

Die zweite Aufnahme wird so bewerkstelligt, daB ein zweites Negativ die 
obere helle Halfte des ersten Negativs deckt. Die obere Halfte des deckenden 
Negativs ist gleichmaBig mit Carmin bestrichen; nur iiber dem Areal, das der 
Schiffskontur entspricht, ist keine Deckfarbe. 

b) ist die getreue Reproduktion einer Zeichnung von Vp. 

Fig. 8. a) ist hergestellt wie die Fig. 2 und 3 des ersten Verauchs; b) reprodu- 
ziert wieder genau eine Zeichnung; die dargestellten Zeichnungen sind hier und 
im folgenden aus Vergleichsgriinden durch VergroBerung resp. Verkleinerung 
auf das AusmaB des Areals der. Deckungsstelle im Diapositiv reduziert, wie 
dieses in der hier gegebenen Darstellung erscheint. Diese Veranderung der Di- 
mensionen ist als vollig belanglos zu betrachten, da die Zeichnungen der Vp., 
wie so ziemlich alle primitiven Zeichnungen, ersichtlich in keinem festen GroBen- 
verhaitnis zu den Dimensionen der exponierten optischen Gruppen stehen. 

Fig. 9, 10, 11, wie Fig. 8 a. 

Versuch 3. Fig. 12 reproduziert das exponierte Diapositiv. 

Fig. 13 zeigt einen der Mitte dieses Diapositivs entsprechenden hellen Fleck, 
der in der gewohnlichen Weise durch Abdecken erzielt worden ist. Die partielle 
Unscharfe ist erst beim Kopieren erzielt worden, dadurch, daB das Kopierpapier 
hier hohl lag. 

Fig. 14. Das nicht Dargestellte ist durch Deckfarbe auf dem Negativ, der 
graue Grund durch nachtragliche partielle Belichtung des Positivs erzielt worden. 

Fig. 15 ist hergestellt wie Fig. 14, nur daB das Positiv total belichtet worden ist; 
b) ist die Zeichnung der Vp. 


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Versuch 4. Fig. 16 gibt das exponierte Diapositiv wieder. 

Fig. 17a ist nach einem vergroBerten Negativ mit entsprechender Deckung 
und Bleistiftretusche am Negativ kopiert worden. 

Fig. 18 wie Fig. 17; der einem Wiesengrund ahnliche Boden ist durch t?ber- 
lichtung des Positivs und Uberwischen mit Kreide hergestellt. 

Fig. 19 a wie Fig. 17 a. 

Die iibrigen Figuren reproduzieren Zeichnungen der Vp. 

f Die vorstehenclcn Kr- 

Sggpg;; Technik der Abbildungen. 

den einzeln erkliirt werden : 

■^—--^1 * j w l° s einzelnen Versuchs 


Versuch 1. 

Fig. 1 zeigtdie Exposition, 
die der Vp. 1 in Vioo Sekunde 
j tachistoskopisch gegeben wor¬ 

den war, in der Lage, die hier 
dargestellt ist. 

Fig. 2 zcigt, was Vp. ta- 
cliistoskopisch aufgefaBt hat: 
. ,.Eine Schrift, wie Hierogly- 

B phen.” 4 Ein heller Hintergrund. 

EH , „Wie eine Schrift in der Wiiste.“ 

^ j ~"VT Zu sehen sind die verlager- 

I L | L- ten Striche,die von Vp. bemerkt 

- V .1 ^ w r orden sind; die Figur zeigt, 

hmJLi ^ dad neben den verlagerten 

J-Strichen auch richtig ge- 
lagerte L-Striche vorhanden 
sind, die vielleicht konstellie- 
rend mitgewirkt haben. Als 
Fig. 2 . Residuum einer fruheren Situa¬ 

tion. die hier mitgewirkt hat, 
war folgendes konstatierbar. Verf. hatte etwa einen Monat friiher in Gegenwart 
der Vp. von den Verlagerungen b<'i optischen Wahrnehmungen tachistoskopiseher 
Expositionen gesprochen, ebenso von den mnemischen Verlagerungsfehlem ge- 
sunder Personen. Als Beispiel wurde damals void Verf. angefiihrt und geaeich- 
net, daB er ein Initial aus den Illustrationen zum Don Quijote von Tony 
Johan not 1 ) einmal, ohne es zu wissen, verlagert gezeichnet hat; das Initial 
stellt den Ritter dar, der kopf liber von einem Felsen stiirzt; sein Schatten wirft 
das L. Fiir die Fehlreaktion des Verf. waren Felsen und Ritter so postiert, daB 
der Felsen rechts, angelehnt an das Zeilenareal des Blattes, erschien und der 

l ) Z. B. in der bekannten deutschen Ausgabe mit der Einleitung von Hein¬ 
rich Heine. Stuttgart 1837. Verlag der Klassiker. I. Bd., S. 162. 


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Experim. erregto Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Seheu. I. 299 


L-Schatten dcs Ritters demgem&B so gezeichnet wurde «J. Verf. bcnutzt dieses 
Beispiel oft zur Erlauterung einer Verlagerung durch Verdichtung. Vp. hatte sich 
fiir diese Reaktion interessiert. 

Der ,,groBe Buchstabe, oben breit, nach unten verlaufend 44 , ist ebenfalLs 
zu sehen. 

Fig. 3 zeigt den visuellen Anteil des Traums, der unverkennbar der Ex¬ 
position entstammt. Das Areal des „groBen breiten Buchstaben 44 ist nun leer, 
wie durch eine Kontur angedeutet ist. 

Fig. 4 stellt dies klar. Sie ist die P/gfach vergroBerte Photographic der Zeich- 
nung, die Vp. liber Aufforderung des Verf. liber die Situation „an der Garten- 
niauer 44 gemacht hat, bevor 
Vp. die Exposition wieder- 
gesehen hatte. Abgesehen von 
der Analogic der Lage ist bc- 
sonders beachtenswert, wie 
die Traumfigur, eine Frau, 
unbewuBt konforme St riche 
der Schattenfigur aufweist, 
die ohne die Annahine eines 
direkt wirkendenunbewuBton 
Einflusses der Schattenfigur 
unerklarlich sind, aus den 
Konturen diese r Schattenfigur 
sich aber leicht ablesen lassen. 

Es ist zu bemerken, 
daB die Position (Mauer 
— Figur d. Y.), die von 
der Position im ent- 
wickelten tachistoskopi- 
schen Residuum etwas 
abweicht, sich sofort er- 
klart, wenn man eine 
Verdichtung der Lage- 
beziehung beider Mauem 
in der Exposition in Be- 
tracht zieht, und aus der relativen Lage der beiden Mauern zur Schatten¬ 
figur einen Mittelwert bildet. Die Schilderung des Traumbilds und 
die sie begleitende Pantomime entsprachen aber der Position von Fig. 3. 

Trifft dies zu, so ist auch das letzte Stuck der Exposition, das obere 
Mauerstlick links, in der Nachentwicklung gegenwartig gewesen. Dieser 
im iibrigen fehlende Teil der Exposition konnte ubrigens auch in dem 
nachtraglichen Einfall ,,Zigaretten-Annonce“ enthalten sein. l)ber 
diese konnte Vp. aber nichts Bestimmtes aussagen, als daB sie sie ,,irgend- 
wo gesehen hat“, und daB sie glaube, die Sphinx sei im Vordergrund ge¬ 
wesen. Es handelt sich also wahrscheinlich um die Annonce des Ziga- 
rettenpapiers „Samum“. 

Der Garten, von dem Vp. getraumt hat, ist dem Verf. wohl bekannt; 




Fig. 4. 


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in diesem Garten findet sich eine langliche Gartenmauer, die geome- 
trisch-optisch mit der Mauer im Bild und Traum leicht eine Deckuugs- 
8telle bilden kann 1 ). 

X., von dem Vp. traumte, ging, wie Verf. selbst beobachtet hat, 
einige Wochen vor dem Versuch links an Vp. vorbei, wurde aber von 
Vp., die etwas kurzsichtig ist, damals iibersehen; Verf. hat durch Frage 
festgestellt, daB Vp. von dieser Begegnung, deren Zeuge Verf. war, 
nichts wuBte. X. und diese Gartenmauer befanden sich damals links 
im indirekten Sehen der Vp. 

Der Traum rekapituliert diese Szene mit einer stehenden Redewen- 
dung von X., die damals naturlich unterblieben war. Er fiigt aber die 
Schattenfigur ein und deckt sie mit einer dritten Person, die dem ge- 
meinsamen Milieu von Vp. und X. angehort, in der damaligen Situation 
im Garten aber nicht vorkam. 

Die Konstellation ergab also bei diesem Versuch jene Deckung von 
VorbewuBtem mit VorbewuBtem, wachbewuBt Entwickeltem mit wach- 
bewuBtem nachtraglichcm Einfall, deren im vorigen Abschnitt gedacht 
^ worden ist. 

£ In diesem Versuch klingt 

■ P H | der wahre Sinn und Inhalt 

der Exposition in allem waeh- 
^ * - || ^ r Entwickelten stark 

das Getraumte 
ihm vollig losgelost. Dies ist 
J ± ^ haufig, aber nicht immer so, 

KlNU bei Versuch 12 z. B. ist es 

gerade umgekehrt. Xur die 
ausschlieBende Beziehung, 
die Trennung der beiden Be- 
reiche war in alien Versuchen 
des Verf. konstant. 


Versuch 2. 

Fig. 5 stellt die Exposi¬ 
tion dar. 

Fig. 6 versucht, das tachbto- 
skopisch Gesehene nach der Be- 
sehreibung zu rekonstruieren: 
.,Uberhaupt nur Schwarz und 
WeiB ... Schatten, langliche 
Streifen. 44 Als nachtraglicher 
Einfall: „Wie Bfiume. 44 


*) Auch von dieser wuBte Vp. 
beim spateren Befragen nichts. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 301 



Fig. 7 a. 



Fig. 7 b. 



Fig. Ha. 


Fig. 8 b. 



Diese Beschreibung kann aus deni Bild abgelesen werden. Auf den futuri- 
stischen Charakter des Bildes mag nebenbei hingewiesen sein. DaB es mit dem 
Horizontalstreifen abschneidet, erscheint fur sich betrachtet als willkiirlich, 
ergibt sich aber als gesetzinaBig aus dem Zusammenhang mit den weiteren Bildern 
der Serie. 

Fig. 7. a) stellt die erste Phase des Traumbildes dar: „Zuerst war ziemlich 
hohe See, das Wasser, die Wellen weiB gl&nzend; das Schiff war ganz schwarz; 


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302 


O. POtzl: 


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nur der Vorderteil, Kiel und Kamine zu sehen ..., es ist senkrecht dazu gekommen. 44 

Die Konturen der Pforte von Fig. 5 sind kenntlich auf dem Bild. Die hier 
dargestellte Wellenkontur entsteht, wenn man die Umrisse der menschliehen 
Figuren aus dem Gesamtbild herausschneidet. ,, Aber es waren keine Leute darauf. 44 

Dies scheint zunachst ebenfalls willkurlich; willkiirlich ist die Art, wie die 
dunkle Kontur der Pforte nach unten abgeschnitten ist, um sie der Fig. 7 b, der 
Zeichnung der Vp., zu assimilieren. DaB diese Konstruktion mehr enth&lt, als 
ein kiinstliehes Gleichsetzen, soil Fig. 10 dartun. 

b) ist die Zeichnung der Vp. von dieser Traumphase. Auffallend ist wieder 
z. B., daB Vp. links einen Kamin, rechts zwei Kamine angedeutet hat. Die zur 

Deckung herangezogenen Stellen 
des Gesamtbildes zeigen ent- 
sprechende Gestaltung. 

Fig. 8. a) gibt das Vexier- 
bild wieder, das Fig. 1 als mut* 
maBliche Deckung fiir die zweite 
Traumphase enthalt: „Spator 
hat es gewechselt; das Schiff 
war bedeutend groBer und von 
der Seite; ganz weiB, keine Leute 
darauf. 44 

„Ganz weiB“ kann naturlieh 
hier nicht wiedergegeben werden; 
es entspricht dem blendend wei- 
Ben Schiminer, den die Mauern 
auf dem Diapositiv bei der Pro- 
jektion mit kiinstlichem Licht 
durch die Mattscheibe geben. 
Das gleiche gilt fiir den „Sonnen- 
hintergrund‘\ den die Vp. des 
ersten Versuchs gesehen hat. 

b) ist die Zeichnung, die Vp. 
von dieser Traumphase gegeben 
hat. Zu beachten ist wieder, daB 
an beiden Kielen zwei iiberfliis- 
sige, sonst bei derartigen primi- 
tiven Zeichnungen nicht in dieser 
Art iibliche Konturen sich finden, 
die, wenn man will, sofort auf die 
beiden Schiffsschnabel desVexier- 
bildes bezogen werden konnen. 

Die Gleichsinnigkeit der Lage fallt von selbst auf. Die Wellenkontur ist in 
Vexierbild und Zeichnung konvex gebogen. 

Fig. 9 gibt jene Deckungsstelle zwischen Traum und Exposition, die ein- 
deutig fiir jedermann abzulesen ist, die dritte Pham» des Traumbildes. „Dann hat 



Fig. 10. 



Fig. 11. 


das Bild gewechselt; sehr viele Menschen darauf, ganz klein wie die Punkte, in 
lebhafter Bewegung; die Arme hab’ ich gesehen, in Bewegung, wie wenn sie etwas 
geschwenkt hatten, Tiicher oder dergleichen. Die Arme waren im Verhaltnis zu 
den Figuren zu groB. 44 

Spater, nach dem Ablesen mit Vp.: „Auch die Armstellung stimmt. Sie haben 
alle die Arme so nach vorne gehalten wie die Figuren im Bild. 44 

„Das stimmt besonders. daB sie i m Schiff sind; sie sind alle so an die Briistung 
gelehnt. 44 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 303 


Es ist klar, daB die Briistung dann, aber auch nur dann, ganz ungezwungen 
herauskommt, wenn man alle oberhalb der WeUenkontur auf Fig. 8 liegenden, 
im Traumversuch bereits visuell entwickelten Teile des Bildes ausschlieBt und durch 
etwas ersetzt, das einem photographischen Hintergrund vergleichbar ist. Damit 
rechtfertigt sich zunachst die Wellenkontur der Fig. 8, sodann die Art, wie die 
Fig. 6, 7, 8 das Originalbild zerlegen. Dazu sei nochmals darauf hingewiesen, 
daB diese voile Exklusion aUer im Traumbild und Wachen bereits gestaltlich ent¬ 
wickelten Quanten nicht nur in alien Traumversucben, sondem auch in den sehr 
zahlreichen Versuchen im Falle mit Hemianopsie und Halluzinose stets streng 
wiedergekehrt ist. 

Die Mauerschatten geben die ins GroBe verzerrten Arme getreu. Der ubrige 
Teil des nunmehr geoffneten Schiffsverdecks (vgl. dazu Fig. 8 b) samt den Per- 
sonen darauf verschwimmt ins WeiBe, enteprechend dem Meer, dessen Wellen 
,,ganz weiBgl&nzend waren“; dieses weiBglanzende Meer hat gewissermaBen in 
den fruheren Traumphasen die gleiche Bildstelle bedeckt. 

Fig. 10 vereucht die Elemente, die sich im Nacheinander von wachbewuBter 
tachistoskopischer Erfassung und Traumphasen an dieser Bildstelle befunden 
haben, in Sonderung begriffen, sich aus dem Komplex entmischend dar- 
zustellen. 

Die in Fig. 0 gewahlte horizontale Grenzlinie der tachistoskopischen Im¬ 
pression erscheint als Horizont einer weiBglanzenden Fl&che. Der dunkle Hinter¬ 
grund bei der Pforte ist als bereits entmischt dargesteUt; es ist angedeutet, wie 
der erste Vorkeim der Umrisse der Personengruppen geeignet ist, diesem weiB¬ 
glanzenden Meer die Wellenbewegung zu geben. Das Sehen von Bewegung war 
ja in alien diesen Versuchen stets das erste Vorschweben, wie der letzte Nachhall 
einer halluzinatorisch nachentwickelten optischen Gruppierung. Die sp&teste 
Phase dieser Traumentwicklung wird vorweggenommen, indem hier das zukiinftige 
Schiffsverdeck bereits aus den Wellen auftauchend sich formiert, w&hrend die 
Konturen der sturmbewegten See den Personen, die auf dem Verdeck erscheinen 
sollen, bereits die auf dem Originalbild vorgesehene Lage anweisen. 

Es ist nun zu erweisen, daB der hier dargestellte status nascendi 
streng den sinnesphysiologischen Bedingungen des Versuchs entspricht. 
Die Erfassung der Gestalt war bei der 1 / 100 Sek. Exposition nachge- 
wiesenennaBen (vgl. Fig. 6 und das zu ihr gehorende Zitat) auf die 
obere Halfte des Bildes gerichtet; die unteren Anteile des Bildes waren 
also mindestens fiir die Aufmerksamkeit peripher. 

Diese unteren Bildanteile grenzen an den oberen Teil des Bildes 
mit einem weiB schimmemden Kontinuum, das im Bild durch die beiden 
Mauem rechts und im Hintergrund gebildet wird. Die Grenzlinie ist 
eben jene Horizontlinie, die hier dargestellt worden ist; daB diese hier 
im Vexierbild des Schiffs (Fig. 8) wie planimetrisch gesehen, also in 
Horizontalrichtung auftauchen soil, entspricht einer Vertauschung 
zwischen planimetrischem und sterischem Sehen, das als haufiger Fehler 
bei den Wahmehmungen gesunder Vp. am Tachistoskop, ebenso aber 
auch (Verf.) bei den Fehlreaktionen von Kranken mit geometrisch- 
optischer Agnosie, endlich (Verf.) in der zerlegenden Untersuchung 
visueUer Traumresiduen der gewohnlichen Art sehr oft imd typisch 
wiederkehrt. 

Z. t d. ges. Naur. u. Psycb. O. XXXVII. 20 


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304 


O. Potzl: 


Die Bildung eines weiB gl&nzenden Kontinuum als des ersten vor- 
bewuBten Schwelleneindruckes von der unteren Halfte des Bildes wird 
unterstfltzt und erleichtert durchden breiten Raum, den der gepflasterte 
Hof bei der Projektion mit Mattscheibe und kunstlichem Licht mit einer 
ganz gleichartigen Wirkung erfftllt. Man hat nun noch das Irradiieren 
zu bedenken, zu dem gerade dieses schimmemde WeiB der relativ 
groBen Flachen bei der tachistoskopischen Exposition besonders dis- 
ponieren muB, dem tiberdies gerade diese Vp. vermoge ihrer durch 
HinterhauptschuB bedingten Asthenopie nachweisbar besonders unter- 
liegt. Damit ist das weiBe Kontinuum der Eig. 10 hergestellt; erst die 
spateren Traumphasen zeigen, daB in ihm bereits die Vorkeime aller 
Konturen entwickelt sind, die es, die Bildstelle bedeckend, in sich 
enthalt. 

Der Vorkeim dieser Konturen verrat sich zuerst in der st&rmischen 
Bewegung der weiBgl&nzenden See. Dies hat wieder zahlreiche sinnes- 
physiologische Parallelen. Wenn in der dritten Phase der RQckbildung 
einer allgemeinen Blindheit nach HinterhauptschuB, nach dem dunklen 
Kontinuum und nach dem gleichmaBigen Grau die Entmischung der 
beiden Heringschen Valenzen des Helligkeitssehens beginnt, erzahlen 
alle diese Kranken von Bewegung, Wallen, Ziehen in den Nebelmassen, 
die sie sehen, die zum Teil grau sind, zum Teil aber von einer unange- 
nehm blendenden Helle; daneben und spater stellt sich das bekannte 
Schwarz-WeiB-Flimmem wie im Kinematographen ein; dieses iiber- 
dauert die ganze Restitution oft besonders lange. Zuweilen (Fall Hin- 
cica des Verf. u. a.) kommen wolkige oder spiralige positive Skotome; 
diese hiillen die bereits erschienene, schwarze und schattenhafte Kontur 
von groBeren Objekten, von Baumen, menschlichen Figuren usw. wieder 
ein; andererseits tauchen aber aus diesem bewegten Nebelmeer die 
ersten Formenkonturen schwarz und schattenhaft, nur ftir Augenblicke 
auf und verschwinden wieder, zumeist tibrigens, ohne Scheinbewegung 
zu zeigen. Es kommt vor, daB ein derartiger Kranker (Hincica) 
selbst in der Retrospektive erzahlt, daB jene Wolkenspirale, das posi¬ 
tive Skotom, sich immer enger zusammenzog und schlieBlich den Fixier- 
punkt verhtillte, wie ein positiv gewordenes Ermfldungsgesichtsfeld; 
dann sei es plotzlich explodiert imd die eben verhllllte Kontur sei wieder 
da gewesen. Ganz das gleiche ,,Explodieren“ findet sich als bereits 
eingebtirgerter Ausdruck ftir eine tachistoskopische Sensation von ge- 
sunden Vp., deren Analogie mit dem Vorstehenden sich von selbst er- 
gibt; endlich sei darauf hingewiesen, daB jeder, der gewohnt ist, auf 
die visuellen Residuen seiner eigenen Traume zu achten, sowohl den 
dunkel dammerigen Nebel kennt, wie den hell schimmemden Untergrund, 
der, manchmal einer im Schlaf empfangenen Belichtung entsprechend, 
den dimensionslosen Raum erfflllt, in dem die Traumbilder aufsteigen. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 305 

Diesem Hergang gem&B ist es auch, daB hier die schwarze Kontur 
der Pforte als erste ieste Form aus jener Umwandlung von Bewegung 
in Gestalt sioh enthiillt, ebenso, daB die Personen, die sich aus der 
Wellenbewegung transformieren, zuerst „ganz klein" als wimmelnde 
Punkte erscheinen; das letztere erinnert an das Flimmem der cere- 
bralen Asthenopie, an das Flimmerskotom der Migrane und an die 
Grundierung der Halluzinationen vom Typus des Alkoholdeliriums. 
Hier beriihrt sich Hergang und bildliche Darstellung des Versuchs mit 
der Bedeutung, die Wundt, nach Ansicht des Verf. mit Eecht, „dem 
Lichtchaos des dunklen Gesichtsfelds“ fur die Formierung der Traum¬ 
bilder zuschreibt. 

Man sieht also, daB in alien diesen Illustrationen des Versuchs, nur 
eine einzige der gewahlten Konturen willkiirlich ist: die wellige annahemd 
horizon tale Linie, in der (Fig. 7 a) das schwarze Schiff nach unten gegen 
das Meer absohneidet. Nur dieses Liniensttick ist vom Illustrator in 
bewuBter Angleichung an die Zeichnung der Fig. 7 b gewahlt worden; 
im Vergleich dieser Stelle mit der gleichen Stelle in den Fig. 5 und 10 er- 
gibt sich das, da der Mantel der mittleren menschlichen Figur (Fig. 10) 
auch im farbigen Diapositiv schwarz ist. 

Allein diese willktirliche Angleichung ist falsch, wie jeder Beschauer, 
der fahig ist, ein Vexierbild aufzulosen, sofort nachweisen kann. Man 
denke sich nunmehr von der schwarzen Figur der Pforte und ihrer Um- 
gebung alles exkludiert, was bei der Projektion nicht schwarz wirkt, 
sondem hell. Damit gelangt man zu dem richtigen Bild des schwarzen 
Schiffes im Traum; sichtbar wird der Vorderteil des Schiffes mit dem 
Kiel, der die Wogen senkrecht durchschneidet; damit ist Fig. 7 a (in 
Fig. 11) korrigiert. „Nur der Vorderteil, Kiel und Kamine zu sehen ... 
es ist senkrecht dazu gekommen.“ 

Der Kiel des Schiffes spaltet das weiBe Meer und laBt das Verdeck 
aus ihm emporsteigen (Fig. 10). Damit sind alle Konturen dieser bild- 
lichen Darstellung des Versuchs kommentiert; ihre sinnesphysiologische 
Herleitung bilrgt dem Verf. fiir die angestrebte Exaktheit der Illustra¬ 
tionen. Es sollte an diesem einen Beispiel auch der Weg dargestellt 
werden, auf dem versucht worden ist, diese Exaktheit zu erreichen. 
So ist es wohl einleuchtend, daB nicht nur der Vp. sondem auch dem 
Verf. die optischen Deckungsstellen von Traum und Exposition nur 
allmahlich, zum Teil erst in den spatesten Epikrisen der Versuche zur 
vollen Klarheit gelangen konnten. 

Dberblickt man die Fig. 7b und 8b noch einmal, so bemerkt man, 
daB die Zeichnung derVp. auf Fig. 7 b die beiden Schiffsgestalten an- 
deutet, wie sie die Beschreibung der ersten zwei Traumphasen ge- 
bracht hat. Fig. 8 b enthalt bereits etwas von der dritten Traumphase, 
da das Verdeck geoffnet ist. In der darstellenden Reaktion binden Ver- 

20 * 


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306 


0. POtzl: 


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dichtungen, was sonst der Uberblick gebunden hatte oder eine Bewegung 
der Traumbilder in Raum oder Zeit gebunden hat. 

Hier ist es von sinnesphysiologischem Interesse, wie Vp. sich zu 
diesen Abbildungen seiner Eindrticke, Zeichnungen und Traumbilder 
verhalten hat. Die Abbildungen werden ihm verhaltnismaBig spat ge- 
zeigt, nachdem sie langst fertiggestellt worden waren (10. Juni 1917). 
Vorher wird Vp. zum erstenmal seit AbschluB des Versuchs befragt, 
ob er sich noch an den Versuch und an den Traum erinnert. 

Vp. bejaht: „Ich habe ein Bild gesehen. Ich weiB noch, daB viele Menschen 
an einer Mauer gestanden sind; aber an die Tracht der Menschen kann ich mich 
nicht genau erinncm.“ 

Vom Traum weiB er noch: „Es war ein Schiff; jetzt weiB ich aber nicht mehr, 
ob schwarz oder weiB.“ 

Nun werden ihm die Bilder gezeigt. Die Exposition erkennt er sofort wieder. 
Dann fallt sein Blick sogleich auf Fig. 7 a, die das weiBe Schiff des Traumes dar- 
stellen soil. Er akzeptiert sie spontan bedingungslos: „Geradeso war es. Da sind 
auch die Schiffsschnabel. 44 Er weist auf die friiher bezeichneten, an Schiffssehn&bel 
erinnernden Stellen seiner Zeichnung hin: „Deshalb habe ich es auch so gezeichnet." 

tJber die Schiffsschnabel im Traumbild und Zeichnung war vorher mit Vp. 
niemals gesprochen worden, schon deshalb nicht, weil Verf. erst viel spater, bei 
der Vorbereitung zur photographischen Illustration des Versuchs, auf diese Dek- 
kungsstelle gekommen war. Die Zeichnung war abgedeckt, konnte also von Vp. 
zur Identifizierung beniitzt werden. 

Vp. wird nun aufgefordert, das Vexierbild des Schiffs im Bild der Exposition 
zu suchen. Nach kurzem Suchen f&hrt er mit dem Finger liber die deckende 
Horizontal hin; den Rauchfang findet er aber nicht; er zeigt links daneben, gerade 
zwischen die beiden in der Exposition vorhandenen vexierbildartigen Gruppen, 
die fiir den Illusionsfahigen leicht Rauchfange und Rauch darstellen konnen. 
In der Darstellung ist die rechte der beiden Gruppenkonturen gewahlt; es bleibt 
also die Frage bestehen, ob nicht die linke die richtige ist, oder ob es sich um eine 
Verdichtung beider Gruppen handelt. 

Er wird befragt, ob er dieses Vexierbild schon friiher gesehen hat; Vp. bejaht: 
„Herr Doktor haben es mir damals gezeigt. “ 

Dies ist nicht richtig, aus dem schon erwfthnten Grand. Gezeigt wurde ihm 
damals die schwarze Pfortenfigur. Es handelt sich um die Erscheinung, die Freud 
als „D6j& racont6“ in der Psychoanalyse beschrieben hat 1 ). 

Vp. stellt sie aber selber richtig: „Ah nein; das haben mir Herr Doktor 
gezeigt. “ Vp. weist auf Fig. 9, die er nunmehr mit dem Traum vollkommen 
identifiziert. 

„Das stimmt auch, daB im Hintergrand so verschwimmende Personen waren. 
Ich habe deshalb das Verdeck so gezeichnet.“ (Vp. macht eine Pantomime, die 
das Viereckige des Verdecks ausdriickt.) „Auch die Arme ...“ sagt er dann. 

Nun erst muB Vp. befragt werden. Man verweist ihn zunachst auf Fig. 7 a. 
Vp. findet das weiBe Meer richtig abgebildet; auch das schwarze Schiff akzeptiert 
er; ebenso die Stimmung des Hintergrandes. Er laBt sich dabei sichtlich vom 
Vergleich mit seiner eigenen Zeichnung leiten; diese ist unverdeckt. 


x ) Freud, Uber fausse reconnaissance („d6j& racont6“) wahrend der 
psychoanalytischen Arbeit. Intern. Zeitschr. f. Psychoanalyse, I. Jahrg., 1913. 
Wien, Hugo Heller. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 307 


Vp. wird nun auf Fig. 11 aufmerksam gemacht und befragt, ob dieee das 
getr&umte Schiff nicht besser darstellt. Vp. entscheidet sich aber fiir Fig. 7 a. 
„Es ist nicht so weit heruntergegangen. 44 

Man macht Vp. darauf aufmerksam, daB er seinerzeit laut Protokoll gesagt 
hat, das Schiff habe die Wellen senkrecht durchschnitten und es sei ein Kiel („und 
Kamine 44 ) zu sehen gewesen. Vp. vergleicht nun die Schiffsfiguren der beiden 
Bilder aufmerksamer und sagt: „Ja, es war etwas unten, so wie das 44 (der Kiel 
auf Fig. 11), „was hier fehlt 44 (auf Fig. 7 a); „aber es hat nicht so weit herunter- 
gereicht. 44 Nach einer Pause setzt er hinzu: „Aber das Schiff war in Bewegung 
und die Bewegung (er weist auf Fig. 11) ist wieder hier rich tig. 44 

Nochmals befragt, fiir welches der beiden Bilder er sich entscheidet, vermag 
Vp. diese Entscheidung nicht zu treffen: „Es war ein Mittelding zwischen beiden. 44 

Sein Bliek haftet wieder an Fig. 11: „Das ist hier besonders gut, daB die Wellen 
schwarz gerandert sind; denn die Wellen waren schwarz gerandert. 44 

Es ist allerdings moglich, daB es sich hier um ein Zuruckilluaionieren handelt; 
immerhin bleibt zu bedenken, daB die Umrandung der menschlichen Figuren 
auf der Exposition, die hier in der Darstellung als Wellenkontur verwendet worden 
ist, diese schwarze Randerung tatsachlich aufweist; von dieser Einzelheit der 
Deckungsstelle hat Vp. auf dem Bild des Diapositivs allem Anschein nach nichts 
bemerkt. Die AuBerung darf daher immerhin als ein weiteres Argument dafur 
betrachtet werden, daB die Wellenkontur von den Umrissen der menschlichen 
Figuren im Bild herstammt. 

Fig. 10, die die Entmischung der Traumbilder daretellen soli, ist Vp. vollig 
fremd und trifft keine verwandte Saite. Dies stimmt mit der Absicht des Bildes, 
das den Mechanismus des Hergangs darstellen will, nicht das Manifest© der Vision. 

t)ber Fig. 6, das Bild des tachistoskopischen Eindruckes, befragt, sagt Vp.: 
„Ich mochte eher meinen, daB es so war 44 (wie das Bild es zeigt). Damit schlieBt 
die Besprechung. 

Verf. ist hier auf einen Ein wand gefaBt, der sehr naheliegt, aber 
nicht stichhaltig ist. Bei der bekannten Fliichtigkeit der Traumbilder, 
bei der Verschwommenheit der Traumreminiszenzen, die so rasch dem 
Vergessen unterliegen, soli in der spaten, mittlerweile nicht aufgefrisch- 
ten Ruckerinnerung an den Traum noch so viel an minuziosen optischen 
Einzelheiten aus den Traumbildem zutage kommen, daB eine der- 
artige Debatte iiber die Gultigkeit der Abbildungen eine objektive Be- 
deutung hatte? 

Demgegeniiber ist darauf hinzuweisen, daB ein Traum, der durch 
Rekapitulation unmittelbar nach dem Erwachen gedachtnisreif ent- 
wickelt, sodann besprochen und protokolliert worden ist, im allge- 
meinen diese Fliichtigkeit nicht mehr besitzt; er ist gewissermaBen 
nachfixiert worden. DaB Traume, die in dieser Art nachentwickelt 
worden sind, an sich viel weniger dem Vergessen unterliegen, wird jeder 
aus eigener Erfahrung bestatigen konnen, der sich mit seinen eigenen 
Traumen in der angedeuteten Weise beschaftigt hat; Traume, die dieser 
Behandlung unterzogen worden sind, lassen sich gewohnlich noch nach 
larigen Zeitraumen ziemlich getreu wiedererzahlen und losen bei der 
Wiedererzahlung in der Regel Ankniipfungen aus, die zuweilen sogar 
zur Analyse des Traums noch ein neues, verspatet erschienenes Stuck 


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308 


0. Pfitzl: 


hinzuffigen. Traume, die gem und haufig als wichtig und bedeutsam 
erzahlt werden, zumal im vertrauten Gesprach, gehoren oft zu dieser 
Kategorie; es laBt sich an ihnen oft beobachten, daB ihre optischen 
Residuen ziemlich treu erhalten in jeder Schilderung wiederkehren, 
wahrend die Darstellung der Traumbegebenheit immer mehr novelli- 
stisch auskryBtallisiert. 

In dieser Art ist aber auch der Traum der Vp. entwickelt und fixiert 
worden; was Vp. zu Beginn der Besprechung fiber den Versuch mid den 
Traum aussagt, ist das, was ohne auBeren AnstoB kommt, was sich 
aber naturgemaB erheblich vermehren kann, wenn ein auBerer AnstoB, 
etwa die partielle Wiederherstellung der Situation in Versuch oder 
Traum wirksam wird. 

Dieser AnstoB wird durch die Abbildungen, wie es scheint, in einer 
wirksamen Weise gegeben. Denn nun kommen, ganz ahnlich wie bei 
den Anknfipfungen in der Analyse ernes rezenten Traumes, ziemlich 
reichliche Einfalle, die vergessene optische Einzelheiten nachliefem, 
aber an die jeweilig optisch wirkende Anregimg sich festheften. 

DaB auch im allgemeinen selbst bei sehr schweren Storungen der 
Merkfahigkeit eine wiederhergestellte optische Situation den AnstoB 
zu der Wiederherstellung einer Erinnerung bildet, ist aus den Erfah- 
rungen bei der Presbyophrenie bekannt genug; es zeigt sich dies be- 
sonders schon an den Pickschen Fallen mit Herderscheinungen in- 
folge von lokalisierter Himatrophie. Verf. konnte z. B. an einem der 
Falle mit Seelenblindheit auf dieser Basis, die er klinisch imd anato- 
misch genau untersucht hat 1 ), diese Reaktion feststellen; die Pat. 
mit Seelenblindheit bei erhaltenem Farbensehen, die fast nie eine 
Figur irgendeiner Art erkannte, reagierte haufig, wenn man ihr ein 
Bild wieder zeigte, das sie am Vortag gesehen hatte, mit den Worten: 
„Das hab’ ich schon gesehen.“ Falle leichterer Storung analoger Art 
bringen dann, angeregt durch das Wiedergesehene, haufig diese oder 
jene optischen Einzelheiten, die sie vergessen hatten imd die ihnen mm 
nachtraglich einfalien. Sie reagieren also ganz ahnlich wie Vp. in bezug 
auf seine visuellen Traumreste, angeregt durch die vorgelegten Abbil¬ 
dungen reagiert. 

Man konnte also in dem Verhalten der Vp. eher ein Argument daffir 
sehen, daB die Situation des Traums von den Bildem richtig getroffen 
worden ist, ahnlich etwa, wie in der Freud sehen Analyse die scheinbar 
heterogensten Anknfipfungen an die Traumbruchstficke sehr haufig 
ihren engen Zusammenhang mit den latenten Traumgedanken verraten. 
Doch kann hier auf dieses Argument verzichtet werden, da Verf. zur 
sinnesphysiologischen Verwertung der Ergebnisse nur Befunde ver- 

*) Verein f. Psychiatrie u. Neurologie 1911. Autoreferat z. B. Wiener klin. 
Wochenschr. 1911, Nr. 14/15; Sitzungsbericht. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 309 

wenden will, die objektiv, unabhangig von Hingabe oder Widerstand 
der Vp. sich ablesen lassen und bei denen die Moglichkeit eines Rtick- 
iUusionierens sich ausschlieBen laBt. 

Wenn also die Reaktion der Vp. auf die Bilder besprochen wird, so 
handelt es sich dem Verf. weit mehr urn den erkennbaren sinnesphysio- 
logischen Typus der einzelnen Reaktionen, die Vp. bietet, als um seine 
Zustimmung zu den Bildern der Traumreaktion. An dieser Beziehung 
ist aber einiges von dem, was Vp. geauBert hat, verwertbar und dient 
zur definitiven Klarstellung des Verhaltnisses zwischen Abbildung und 
Reaktion. 

Bemerkenswert ist z. B., daB gerade die Fig. 8a das Bild ist, dessen 
Identitat mit dem Traum ihm spontan zuerst auffallt; es ist das an- 
greifbarste von alien, dasjenige, dessen Konturen vexierbildhaft in die 
Exposition hineingelegt sind. Eine Beachtung verdient auch der Um- 
stand, daB er das Vexierbild darauf selbst nur mangelhaft findet, ob- 
wohl er einer Erinnerungstauschung zufolge meint, es schon einmal ge- 
sehen zu haben. 

Im Gegensatz dazu stellen die beiden Bilder des schwarzen Schiffes Vp. 
nicht vollig zufrieden; aus seinen AuBerungen laBt sich nun ein sinnes- 
physiologischer Grund herauslesen, dessen Typus in diesen Versuchen 
oft wiederkehrt. Der auftauchende Kiel in Fig. 11 ist richtig getroffen; 
aber der Schiffskorper reicht nicht so weit in die Wellen hinein; daffir 
ist das Schiff in Bewegung, deren Charakter das Bild seiner Angabe 
nach richtig darstellt. Die Reversibilitat zwischen Gestalt und Bewegung 
ist in diesen Versuchen so oft zutage getreten, daB hier die Deutung 
naheliegt; in der Entmischung der schwarzen Form aus dem Kon- 
tinuum der Fig. 10, in dem Vorgang, der dem Auftauchen der ersten 
Konturen aus dem Nebelmeer bei der Rtickbildung der Blindheit 
nach HinterhauptschuB entspricht, ist ein Teil der Gestalt in Be¬ 
wegung als psychisch gegebene Qualitat umgewandelt, wie bei den 
experimentellen Halluzinationen die letzte Halluzination nur ein Be- 
wegungssehen als Inhalt hat und wie das Sehen von Bewegung, die 
Veranderung schlechtweg, phylogenetisch und ontogenetisch die unterste 
Stufe der optischen Wahmehmung ist [Exner 1 )]. 

Endlich ist seine Bemerkung fiber die schwarzgeranderten Wellen- 
figuren des getraumten Meeres zu vermerken. Das Meer hat sich allem 
Anschein nach also tatsachlich als Randkontur von der dunklen grauen 
Flache entmischt, wie die Bilder es darstellen; die dunklen Kopfe der 
Personen erscheinen wie Wellenkamme. Damit ist die Exaktheit des 
dargestellten Hintergrunds noch besser gesttitzt; zugleich ist, ganz im 

x ) Exner, tlber das Sehen von Bewegungen und die Theorie des zusammen- 
gesetzten Auges. Sitzungsberichte der math, -naturwiss. Klasse der Wiener Aka- 
demie der Wissensch. 7 %, Abt. Ill, S. 156ff. Wien, Gerold. 


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BIO 


0. Ptttzl: 


Sinne der frtiheren Ausfiihrungen, auf seine sinnesphysiologische Her- 
kunft hingewiesen. Diese laBt sich nun unter Benutzung bekannter 
einfacher Beispiele uberblicken. Eine fliichtige flachenhafte Belichtung 
in der Expositionszeit von 1 / 100 Sek. wird die bekannte oszillierende 
Phase liefem, die im Wechsel von Hell- und Dunkelwahmehmung in 
period ischen Intervallen mit mehreren Umschlagen besteht 1 ). Es ist 
offenbar anzunehmen, daB dieser Vorgang, vielleicht wieder gerade 
dann, wenn er von der wachbewuBten Wahmehmung ausgeschaltet 
geblieben ist, in die Zeit des Anschwellens der optischen Traument- 
wicklungen hineinspielt; er liefert die Matrix, aus der die Traumbilder 
sich entmischen. Die Matrix ist fur die obere Halfte ein dunkles, fur 
die untere Halfte ein helles Kontinuum; im Augenblick der Exposition 
waren fur die obere Halfte weiB-schwarze Flecken, fur die untere Halfte 
wahrscheinlich die vision nulle gegeben. Dies stimmt mit den bekannten 
GesetzmaBigkeiten iiberein, die sich in den wechselnden Folgen der 
Nachbilder einstellen. 

Diese Matrix vermag dann alle Umschlagsstellen und Verdichtungen 
der Heringschen Empfindungen D und A zu zeigen, gerade so, wie 
diese, durch zwei antagonistische zentrale Prozesse bedingt, in den ersten 
Rlickbildungsphasen der cerebralen Blindheit abwechseln und inein- 
anderspielen. 

Die Beziehungen der Heringschen A-Phase zu den in diesen Ver- 
suchen, bei der Untersuchung der cerebralen Metamorphopsie, der Seh- 
reste des relativen Skotoms u. a. zutage tretenden optisch-motorischen 
Transformationen, zu dem Sehen von Bewegung, Kontrast, Gestalts- 
qualitat erscheinen dem Verf. ziemlich offenkundig, ebenso die Be¬ 
ziehungen der Heringschen D-Phase zu der Irradiation der Helligkeit. 
Fur die zitierte Bemerkung der Vp. braucht darum nur angenommen 
zu werden, daB die grau wogende Matrix einer dieser Umschlagstellen 
in der oszilherenden Nachentwicklung, im sog. Eigenlicht der Retina 
[Wundt 8 )] zur Zeit dieser Traumentwicklung zufallig, d. h. aus nicht 
sicher bestimmbaren Griinden dominiert hat, vielleicht iibrigens ge¬ 
rade darum, weil Vp. beim Versuch im oberen Areal des Bildes viel 
WeiB und Schwarz gesehen hat. DaB die schwarze Pfortenkontur nun 
das erste ist, was sich aus diesem wallenden Grau entmischt, stimmt 
ganz mit den Sensationen der cerebral Blinden iiberein, die zuerst nur 

*) Vgl. z. B. R. Stigler, Chronophotische Studicn liber den Umgebungs- 
kontrast. Archiv f. d. ges. Physiol. 134 , 384 u. 385. 1910. Bonn, Hager. 

*) Die rein retinale, von zentralen Prozessen unabhangige Natur des Eigcn- 
lichts der Retina ist niemals nachgewiesen worden, ebensowenig wie die rein 
retinale Natur der Nachbilder. Zentrale und periphere Prozesse spielen hier so 
ineinander, wie bei der Tatigkeit des optischen Apparates iiberhaupt. Der Streit 
iiber die zentrale oder periphere Natur der genannten Erscheinungen ist vielleicht 
iniiDig. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 311 

schattenhaft schwarze Konturen aus dem Grau auftauchen und ver- 
schwinden sehen. Eine weitere Umschlagsstelle laBt die entmischte 
Helle von den feineren dunklen Konturen begrenzt erscheinen usw. 

Damit ist die Vermutung auch im einzelnen gestiitzt, daft die Grun- 
dierang der Traumbilder jene Phasen wiederbringt, in denen beim er- 
wahnten Beispiel der Lichtsinn sicb gegen eine optisch-motorische 
Sperre durcharbeitet. Dieselbe Sperre besteht im Traum; die Identitat 
der Grundbedingungen ist ohne weiteres verstandlich; die Identitat 
des psychischen Effekts ist plausibel. Da der Vergleicb mit den Ent- 
wicklungsphasen des Lichtsinns in der Wirbeltierreihe [Exner 1 ), 
HeB 2 )] zeigt, daB diese Phasen bis zu einem gewissen Grad phylogene- 
tischen Verhaltnissen konform sind, ist damit die empirische Giiltigkeit 
einer Idee von Lavkadio Hearn wahrscheinlich gemacht, die das 
Emporsteigen phylogenetischer Erlebnisse fiir den Traum, fur die 
Traumangst und das Gespenstersehen im Traum behauptet. Jedenfalls 
sind die Verhaltnisse des wiederkehrenden Lichtsinns bei der cerebralen 
allgemeinen Sehstorung damit auf den allgemeinen Reaktionstypus 
der optischen Agnosie reduzierbar; die Agnostiker reagieren in der 
Dauerwirkung und in der direkten Betrachtung wie gesunde Vp. auf 
tachistoskopische Reize oder auf das indirekt Gesehene. Man kann 
die cerebrale Blindheit von diesem Stand punkt aus eine Agnosie fiir 
die beiden Heringschen Qualitaten des Lichtsinns nennen und findet 
sie in gewissen Phasen der visuellen Traumreaktion auf tachistosko¬ 
pische Reize wieder. 

Versuch 3. 

Fig. 12 stellt die Exposition dar. Die Stelle, wo die Hauptfiguren des Messer- 
traums als Vexierbild in der Exposition enthalten sind, ist mit x bezeichnet. 
Auoh ohne Lupe ist das Vexierbild aus dieser Reproduktion ziemlich leicht los- 
bar, wenn man Fig. 14 zum Vergleich heranzieht. Hat man es einmal, so zeigt es 
die bekannte Aufdringlichkeit. In der Projektion des vergroBerten Bildes auf die 
Mattscheibe bei kiinstlichcm Licht tritt es nicht wesentlieh deutlicher heraus 
als hier, wie Verf. an sich selbst und an anderen Personen gepriift hat. Es ist von 
der Vp. nur wahrend der Expositionszeit von 1 / 100 Sekunde gesehen und auch 
nicht andeutungsweise jemals vermerkt worden. Verf. selbst hat diese Deckungs- 
stelle erst bei der cndgiiltigen Bearbeitung der Versuche, sechs Wochen nach dem 
Experiment zum erstcumal bemerkt (s. Text). Die Illustrationen waren damals 
noch nicht in Angriff genommen worden. 

Wegen der Tracht der Traumfigur im Vexierbild ist zum Verstandnis wesent¬ 
lieh, daB Vp. Krankenschwester ist. 

Fig. 13 bildet die Beschreibung nach, die Vp. von dem gibt, was sie in Vioo Sek. 
von der Exposition gesehen hat: „Viele Hauser; Geschafte; viele Leute davor; 
dazwischen ein Durchbruch.“ Die Stelle des Durchbruchs verschwimmt ins 


*) 1. c. 

*) Vgl. z. B. Hess, tlber die Entwicklung von Lichtsinn und Farbensinn in 
der Tierreihe. Verhandlungen der Gesellsch. deutscher Naturforscher u. Arzte 
(85. Vera, in Wien) 1913, S. 127ff. Leipzig, Vogel. 


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312 


0. Pbtzl: 


Weifle, da er der Vp. ihrer Aussage nach eher hell erschienen ist. Der Grund 
dafiir liegt wieder in den Beleuchtungsverhaltniseen (s. die einschlagigen Bemer- 
kungen zu den ersten zwei Versuchen). 

Wer, wie Verf., auf deni Boden der Freudschen Traumanalyse steht, wird 
erwagen, ob in dem Wort „Durchbrueh“ nicht schon eine Anspielung liegt, die auf 
den Inhalt des kiinftigen Traumes abzielt. Sollte dies zutreffen, so wiirde der 



Fig. 12. 



Fig. 13. 

Inlialt dieses Traumes schon wahrend der Expositionszeit implizit, im Vorkeim, 
gegeben gewesen sein. Hier ist das allenfalls eine Moglichkeit; den Beweis fur 
das Zutreffen dieser Beziehung fiir einen Fall liefert ein hier nicht behandelter 
Vcrsuch 8 dieser Serie. 

Fig. 14 gibt die Hauptszene des Messertraums. „Ein kleiner Mann“ (kleiner 
als die vorschwebende weiCgekleidete Frauengestalt auf dem Bild) „will mir ein 
Messer in die Brust stoficn.“ Das Messer auf dem Vexierbild gleitet wie an der 
Brust der Frauengestalt vorbei. „In der Nahe ist aber ein Bach . . 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 313 

Der Bach ist in der Figur aus der hellen Flaehe der Gegend des Durchbruchs 
entwickelt; dabei ist zu bedenken, daB Fig. 14 gegen Fig. 12 vergroBert ist; die 
helle Flaehe, die den Bach des Traums andeuten soli, fallt ganz in den Bereich 
des groBen weiBen Flecks auf Fig. 13. . ich hab’ es“ (das Messer) „in die Tiefe 

geworfen; es war erhoht. Etwas Wasser mag drinnen gewesen sein.“ 



Fig. 15 a. Fig. 15 b. 


Zur geometrischen Deckung fur die vorschwebende Bachkontur stchen auf 
der Exposition zw’ei helle Flachen zu Gebote, beide von perspektiven Parallelen 
begrenzt; die eine ist der Rand des Perrons; die andere ist die Flaehe zwischen 
den Schienen. 

Auf die Fragen nach der Traumsituation am Bach hatte Vp. geauBert: „Wie 
eine Briicke hat das ausgesehen .spater: „Ja lang und sehr breit w r ar 
sie ... “ Die Briicke in der Exposition ist dementsprechend unverandert fiir das 
Traumbild wiedergegebtm, nur verschwimmend. Sie bildet eine geometrisch- 
optisch eindeutige Deckungsstelle. 


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314 


0* Petzl: 


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SchlieBlich ist noch die VergroBerung zu beriicksichtigen. Sie rechtfertigt 
sich schon dadurch, daB die Exposition vergroBert in der Projektion beim Ver- 
such gegeben worden ist. Aber auch die hier gew&hlte Darstellung, die relative 
VergroBerung zu Fig. 12, bildet einen der Mechanismen nach, der sich im experi- 
mentell erregten Traumbild ausgedriickt hat; dieselbe VergroBerung hat der 
Traum vollzogen; er hat die Dimensionen des Vexierbildes auf die Dimensionen 
lebender menschlicher Figuren relativ zur GroBe der Vp. reduziert. 

Fig. 15 a gibt das Bild, in dem sich der Fortgang der Traumerzahlung dar- 
gestellt hat: „Dann bin ich noch in ein Haus gefluchtet“ usw. 

Ohne weiteres Fragen hatte Vp. die Situation der Gasse zu zeichnen. 

b) reproduziert diese Zeichnung der Vp.; daB die konvergierenden Striche, 
die den Verlauf der Gasse darstellen sollen, den perspektivenParallelen des Schienen- 
gleises sehr angenahert sind, ist leicht zu sehen. Am Ende der konvergierenden 
Striche hatte Vp. das kleine Haus hingezeichnet, in das sie im Traum gefliichtet 
ist. Das Viereck der Kontur, der Strich, der nach Aussage der Vp. den Rauch- 
fang anzudeuten hat, vor allem die analoge geometrisch-optische Situation, weist 
als Deckungsstelle fiir das Haus desTraums auf die Lokomotive der Fig. 12 hin; 
daraus resultiert die Darstellung in a). 

„Die Gasse war breit und hat sich verschmalert. Es war, als ob sie kein Ende 
nehmen wollte.“ 

Um dies anzudeuten, ist in Fig. a die Strecke der Schienenparallelen konform 
der Zeichnung in Fig. b nach dem Vordergrund hin verl&ngert; es ist dies die 
einzige scheinbare Willkiir, die die Illustrationen dieses Versuchs enthalten. Verf. 
halt dies aber fiir keine Willkiir; seiner Ansicht nach hah sich die Bewegungs- 
richtung der Figur, die Wirkung des Fluchtpunkts perspektiver Parallelen in der 
Traumgestaltung ausgedriickt; es hat sich eine Beziehung zur Geometric der 
Lage von selbst hier verwertet. Verf. wollte dies im Bild ausgedriickt wissen. 
tJberdies ist der Durchbruch durch die intentionelle Sperre geeignet, die Strecken- 
dimension zu vergroBem. 

Es ist aber auf b) noch eine unregelmaBige Kontur; Vp. hat sie „im Gedanken 
hingezeichnet" und bot Widerstand, als man ihre Interpretation herauszubekom- 
men suchte. 

Auf der Exposition entspricht dieser Kontur in Umrissen und relativer Lage 
zu (Lokomotive — Haus) und zu (Schienenparallelen — Gasse) angenahert die 
Figur eines Mannes; er grenzt unmittelbar an die weiBgekleidete Frau, der im 
Vexierbild und im Traum das Messer in die Brust gestoBen werden soli. Die Figur 
dieses Mannes (in Fig. 12 von dem wei Ben Pfeil durchsclinitten) verdeckt die wei Be 
Frauengestalt zum Teil. Beniitzt man das fiir die Traumphotographie, so ergibt 
sich durch Anwendung der konstanten exkludierenden Beziehung (s. die Illu¬ 
stration der ersten zwei Versuche) jenes schattenhafte Vorschweben der Frauen¬ 
gestalt im Traumbild, wie Fig. 14 es darstellt; wer stark visuell traumt und sich 
an die Gestaltungen erinnert, unter denen zuweilen das eigene Ich im Traumbild 
erscheint, wird diese Art des schattenhaften Vorschwebens und ihre Beziehung 
zum Trauminhalt kennen. 

a) zeigt demgem&B die Kontur dieses Mannes; die Analogie der Lage braucht 
nieht kommentiert zu werden; die Zeichnung in b) zeigt gegeniiber a) nur eine jener 
Verlagerungcn, wie sie in den Nachwirkungen tachistoskopischer Expositionen 
ganz gewohnlich sind. DaB auch diese Verlagerung sich aus einer Verdichtung 
der Richtungen der verschiedenen perspektiven Parallelen auf der Exposition 
von selbst herstellt, zeigt der Vergleich der Fig. 15 a und 15 b mit Fig. 12; dieser 
Vergleich ergibt auch, daB alle Richtungen der perspektiven Parallelen, die fur 
diese Verdichtung in Betracht kommen, in das Gebiet des „Durchbruchs“ fallen. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 315 


Damit ist die Erklarung der Illustration nach der sinnesphysiolo- 
gischen Seite hin gegeben. Verf. halt diese aber fur einseitig und unvoll- 
standig, wenn nicht die psychoanalytische Seite dieses Traumversuchs 
auf die Zeichungen der Vp. angewendet wird. Darin durfte den Verf. 
auch nicht beirren, daB diese Seite der Kommentierung im vorliegenden 
Fall nichts weniger als sympathisch ist und in unliebsamer Weise an 
die Technik der Zeichnungen auf den Wanden von Bediirfnisanstalten 
erinnert. 

Vp. hat die Hemmung, die auf Widerstand hinweist, als man sie 
die Kette ihrer Einfalle nach der Bedeutung dieser Kontur an der rechten 
Konvergierenden ihrerZeichnung fortspinnen lassen will. Die Scherner- 
sche Traumsymbolik 1 ) wie die Freudsche Traumdeutung weisen bei 
diesem Traum typischen Inhalts auf die Beziehung Haus-Genitale hin; 
die Vollendung der Analyse des Traums nach dieser Richtung hin ist 
von Verf. absichtlich unterlassen worden. Das affektive Verhalten der 
Vp., einige in der Beschreibung des Versuchs hervorgehobene AuBe- 
rungen, endlich die Stelle, wo der Widerstand einsetzt, deuten indessen 
an, daB auch dieser Traum den fur seinen Typus gewohnlichen sexuellen 
Untergrund hat. 

Verf. will sich ftir einen Augenblick auf den Standpunkt stellen, 
daB dies wirklich so sei, nicht nur, daB es so sein konnte; dann aber 
laBt sich aus der Kombination der Fig. 15a und b viel Sexualsymbolik 
einer sehr gewohnlichen Art herauslesen. 

Die konvergierenden Linien der Zeichnung auf Fig. 15b entsprechen 
nicht nur den Schienenparallelen; sie passen auch zur Kontur der 
Femora, die sich offnen, in einer Art, wie sie sich auf jenen primitiven 
obszonen Zeichnungen oft genug findet; die schwarze Lokomotive des 
Traumbilds erinnert an die gleiche obszone Darstellung der Vulva, wie 
jene Kontur an die Darstellung des erigierten Phallus gemahnt. Die 
Beziehungen Durchbruch — Mann — Phallus — Messer — Bach (inter 
femora), die in der manifesten Darstellung des Traumes ohne Deutung 
sich ablesen lassen, fiigen sich von selbst zu diesem Zusammenhang. 

Wenn sich das so verhalt, dann ist auch in den Illustrationen die 
Sexualsymbolik der Traumarbeit an einem sehr trivialen Beispiel zu 
erkennen, gewissermaBen experimentell dargestellt. Vp. weiB von 
diesen Beziehungen nichts; sie betrachtet den Traum des Versuchs als 
einen Traum, von dem sie ganz unbefangen spricht und hat aus den 
Bildem, die sie sich zur bleibenden Erinnerung erbeten hat, nichts Ver- 
fangliches herausgelesen. 

Bei dieser Gelegenheit mag bemerkt sein, daB auch die iibrigen Vp. 
die durchwegs erst die fertiggestellten Bilder zu Gesicht bekommen. 


*) Freud, Traumdeutung. 3. Aufl. Wien 1911. S. 59ff. u. 215ff. 


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316 


0. Petzl: 


diese vollinhaltlich und in einer gewissen Betroffenheit verifiziert haben; 
ihren Aussagen nach seien die Bilder bis in die kleinsten Ziige mit ihrer 
Erinnerung an ErfaBtes und Traumvisionen identisch. Verf. mochte 
aber, wie schon bemerkt, gerade auf dieses Zeugnis der Vp. verhaltnis- 
maBig wenig Gewicht legen. Der Verlauf der Verauche, die hier noch 
nicht beschrieben sind, hat dem Verfasser gezeigt, daB ein Zuruck- 
illusionieren vom wiedergesehenen Bild auf das Traumbild haufig von 
selbst stattfindet; diese beiden Komplexe tauschen in einer Art von 
Diffusion fortwahrend Bestandteile aus und trachten, einander zu 
durchdringen. Verf. verwendet daher als experimentell exakt nur solche 
Deckungsstellen, die sich in Schilderungen oder Zeichnung der Vp. von 
selbst ergeben haben, bevor die Vp. ihr Diapositiv wiedergesehen hat. 

Nur mit dieser Verwahrung, also hauptsachlich der Vollstandigkeit 
halber, sei erwahnt, daB diese Vp. in Fig. 14 sofort die Hauptszene des 
Messertraums getreu wieder erkannt hat. „Genau so war es. Hier ist 
auch die Treppe, die ich hinaufgeeilt bin.“ Ebenso hat Vp. in einer ge¬ 
wissen Ergriffenheit das Bild der Fig. 15 a verifiziert, ohne ihre Zeich¬ 
nung zu beachten: „ Ja . . . die lange Gasse, die kein Ende nehmen 
wollte ...“ waren die Worte der Vp., als sie das Bild erblickte. 

Alle Vp. der bisher in den Illustrationen dargestellten Versuche 
verhielten sich zu der Wiedergabe ihrer eigenen Zeichnungen fremd 
und uninteressiert, was sich allerdings auch dadurch erklart, daB diese 
primitiven Darstellungen etwas sind, auf das man gemeiniglich nicht 
stolz zu sein pflegt; so wirft ja auch das Kind wie der Erwachsene ein 
derartiges Gekritzel sofort indigniert weg, wenn jemand dazu kommt 
und dem Zeichner iiber die Achsel schaut. Vp. des ersten Versuchs, bei 
der nur geometrisch-optische Deckungsstellen ohne Symbolik vorlagen, 
verifizierte die Darstellung des Traumbilds sofort; zu ihrer Zeichnung 
sagte sie erstaunt: „Das soli ich gezeichnet haben ?“ Bei einer weiteren 
Besprechung verlangte diese Vp., das Original ihrer Zeichnung zu sehen, 
„um die Erinnerung wieder wachzurufen“. Sie habe geglaubt, sie hatte 
die Figur der Y. (Versuch 1, Fig. 4) nur mit einem Strich hingezeichnet. 

Abgesehen von der erwahnten naheliegenden Erklarung ftlr diese 
Befremdung den eigenen Zeichnungen gegentiber zeigt sich damit, wie 
fremd diese Zeichnungen der Aufmerksamkeit geblieben sind; einer- 
seits sind sie motorischabreagiert; andererseits scheint die Photographie 
die Stimmung des Traumes zu treffen, die armselige Zeichnung nicht. 
Dazu kommt, daB (siehe Versuch 2) diese Zeichnungen Verbindungen 
und Ubergange enthalten, die die Beschreibung des Traumbilds und 
seine Deckungsstellen in der Exposition nicht zu bringen scheinen; in 
diesem Punkt lassen sie sich der Traumerzahlung vergleichen, wenn 
sie auch sonst unbewuBte Anklange an die latent aufgenommenen 
Formen der Exposition enthalten. 


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Experim. erregte Traambilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 317 

Verf. hatte die Sexualsymbolik des Traums dieser Vp. vielleichfc 
aus der Kommentierung dieser Bilder ausgesohaltet, wenn nicht ein 
Prinzip damit unbesprochen geblieben ware, dessen GesetzmaBigkeit 
spatere Versuche der Serie zeigen. Die Sexualsymbolik beeinfluBt 
augenscheinlich die Begebenheit, die der Traum enth&lt, den Gang 
der Dinge im Traum; von einem der hier moglichen Standpunkte aus 
gesehen, hat sie gewissermafien das Traummaterial ausgewahlt; all- 
gemeiner gultig ist es vielleicht, wenn man sagt, daB sie in die leeren 
Hullen geschliipft ist, die sie vorgefunden hat. Doch ist damit nicht 
ausgedruckt, daB die Sexualsymbolik sich hier aus dem aufgenommenen 
optischen Material wie selbsttatig ein Vexierbild herausgegriffen, es 
geschaffen und zugleich aufgelost hat; sie faBt dem ersten Anschein 
nach hier in der Traumbildung heraus wie im Wachen die Abstraktion; 
selbst aus alien Gestalten und aus der Bedeutung des manifesten Traum- 
inhalts verdrangt, wirkt sie doch als ein erfassendes Prinzip; die Rasch- 
heit dieser Erfassung scheint zunachst hier im Experiment mit einer 
Wirkungszeit von hochstens 1 / 100 Sek. bestimmt worden zu sein. 

Es bedarfs keines Kom men tars, wenn man darauf hinweist, wie 
alles das den Ausfiihrungen Freuds bis in die kleinsten Einzelheiten 
entspricht 1 ). Das Vexierbild gemahnt an eine Beziehung, die Pfister 
aus dem Faltenwurf in einem Gemalde Leonardo da Vincis heraus- 
gelesen hat*); dieser Versuch bringt gewissermaBen das sensorische 
Aquivalent zu der motorischen Beaktion, die Pfister fur Leonardo 
supponiert. Dbrigens ist die Konjektur Pfisters gerade fiir Leonardo 
dadurch besonders unterstiitzt, daB Leonardo selbst in einer bekannten 
AuBerung auf die reiche Quelle f(ir phantastische Visionen hingewiesen 
hat, die er im Hinsehen auf die unregelmaBige Mannigfaltigkeit von 
Mauerflecken fiir sich gefunden hat; femer spricht fiir die Auffassung 
Pfisters der Umstand, daB die Deckungsstelle jenes Vexierbilds im 
Faltenwurf einer Kindheitserinnerung formal optisch entstammt, die 
Leonardo selbst iiberliefert hat, und die nur das Material derFreud- 
schen Analyse ist. 

Andererseits ist das Vexierbild und seine bekannte Aufdringlich- 
keit nach dem endlichen’ Erfassen wiederholt ein Gegenstand fiir die 
Beachtung von Experimentalpsychologen gewesen 8 ). Es ist also durch- 
aus nicht erstaunlich, wenn hier in diesen Versuchen gerade in der Be¬ 
deutung des Vexierbilds ein Ankniipfungspunkt zwischen Sinnes- 
physiologie und Psychoanalyse gefunden worden ist. Diese Ankniip- 
fung fflhrt einerseits zu den phantastischen Gesichtstauschungen 
[Johannes Miiller] hin, ebenso zu den hypnagogen Nachentwick- 

*) Freud, Traumdeutung. AbschnittV: Traummaterial und Traumquellen. 

*) L c. 

*) Wertheimer 1. c. 


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318 


Q. PCtzl: 


lungen vorbewuBt empfangener Situationen im Einschlafen, die Pur- 
kinje an sich beobachtet hat; er zielt in letzter Linie auf jene Eigen- 
schaft der positiven Nachbilder, die Helmholtz in seinem bekannten 
Versuch nachgewiesen hat; im positiven Nachbild erscheinen regel- 
mafiig Einzelheiten, die im fltichtigen, vorhergegangenen Hinblicken 
nicht erfaBt worden sind 1 ). Analytisch aberdehnt die hier demonstrierte 
Bedeutung des blitzsehnellen Herausfassens eines Vexierbildes im Sinne 
einer zukunftigen Traumarbeit die Freudschen Feststellungen uber 
das daretellende Prinzip im Traum von den Traumgedanken auf das 
Traummaterial aus und verlegt scheinbar ihre Wirkungszeit auf den 
Augenblick der Originalerregung; wenigstens in diesem Beispiel scheint 
zunachst der Traum eigentlich mit der Erfassung zugleich entstanden 
zu sein; es ist, wie wenn er sich erst in der Nachentwicklung von der 
Erfassung raumlich und zeitlich getrennt hatte. Wie der Traum in 
unzahligen Beispielen, dem Illustrator des Don Quijote vergleichbar, 
gerade das bildlich darstellt, was in den Gedanken und Beden des 
Wachens nur als Gleichnis und Allegorie erscheint, so sichtet sich im 
Traum aus dem optischen Material gerade ein Vexierbild heraus, das 
im Wachen nur ein sinnloses Formengewirr ist, aus dem sich klar er- 
faBte Gestalten der Exposition, das Gewirr zerstorend, fest umrissen 
herausgehoben hatten. 

Die psychoanalytische Betrachtung der Bilder zu diesem Versuch 
hebt aber nicht nur diese Relationen hervor; sie bringt ftir die schein- 
bare oder wirkliche zeitliche Aufeinanderfolge in diesem Traum ein 
neues dirigierendes Moment, den durch die Symbolik scheinbar be- 
stimmten Gang der Handlung im Traum, der die Sukzession der Traum - 
bilder anscheinend wie selbstandig regelt. Hier ist aber nicht zu 
vergessen, daB frtiher, bei der Beschreibung des Versuchs, ein an- 
deres, diese Sukzession anscheinend mit der gleichen notwendigen und 
hinreichenden GesetzmaBigkeit regelndes Moment aufgefunden worden 
ist, die Vorkeime von Blickbewegungen; diese sind aus der Blickein- 
stellung der Vp. und aus den figuralen Verhaltnissen der Exposition 
ihrer Natur nach bestimmbar, ahnlich wie Eigenschaften der Gene im 
Keimplasma. Nun aber erst muB bedacht werden, daB in den Dlustra- 
tionen des Versuchs noch ein drittes Moment sichtbar wird, das an¬ 
scheinend wie die beiden ersten Momente mit voller, konsequenter 
RegelmaBigkeit die Aufeinanderfolge des Traums dirigiert; dieses 
Moment scheint zunachst rein optisch, nicht nachgewiesen motoriacher 
Natur zu sein; es betrifft das ZeitmaB und die Art der optischen 
Nachentwicklung, wie sie mit den einzelnen Gruppen der Exposition 
vor sich geht, je nachdem diese fur das Gesichtsfeld oder ffir die Auf- 

*) Vgl. z. B. Ebbinghaus, Grundzuge der Psychologie 3. AufL Bearbeitet 
von Diirr. Leipzig 1911. 1, 263. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen znm indirekten Sehen. I. 319 


merksamkeit oder nach ihrer Gestaltqualitat leichter oder schwerer, 
in kfirzerer oder in langerer Zeit zur vollen gestaltlichen Ausreifung 
gebracht werden konnten. 

Es finden sich also drei vollig differente Momente, die die Sukzession 
der Traumentwicklung zu bestimmen scheinen, ein sensorisches, ein 
motorisches und ein symbolisches. Moment. Die nahere Betrachtung 
des Hergangs zeigt aber, daB keines der drei Momente fur sich allein 
diese Sukzession bestimmt hat, sondem daB jedes den beiden andem 
seine Periode aufzwingt, so daB etwas resultiert, das mit Koppelschwin- 
gungen verglichen werden kann. 

Die Vp. hatte den Blick auf die Mitte der Mattscheibe eingestellt, 
ohne starr zu fixieren; die Exposition war zufallig so gegeben, daB der 
Augenpunkt des Bilds und der Blickpunkt der Vp. nahezu zusammen- 
fallen muBten. Die Durchbruchsstelle war somit im perizentralen Sehen, 
hatte also giinstige Bedingungen fur die Entwicklung der Gestalt¬ 
qualitat. Was die Vp. aber bei der Momentexposition erfaBt hat (Fig. 13), 
zeigt, daB die Durchbruchsstelle nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit 
war, u. a. wohl der Wirkung wegen, die das StraBenbild des Alltags 
hier auszuuben vermochte. Jedenfalls zeigt der Inhalt des ErfaBten, 
daB Vp. das Bild in seiner ganzen Ausdehnung von rechts nach links 
in die Erfassung bekommen hat. 

Die nachtraglichen Einfalle im Wachen lassen feststellen, daB diese 
Nachentwicklung des wachbewuBt ErfaBten, auf das Gesichtsfeld zur 
Zeit der Originalerregung bezogen, wie konzentrisch gegen die Mitte 
zu von der linken Peripherie nach rechts vor sich gegangen ist. 

Vp. erinnert sich zun&chst, rechts und links zwei hohe Hauser gesehen zu 
haben. In der Beschreibung des Versuchs war dies nur als eine Angleichung an 
das StraBenbild des All tags bezeicbnet worden; angesicbts der Illustrationen 
und im Vergleiche mit vielen Versuchen an der Vp. mit Halluzinose muB die 
Moglichkeit erw&hnt werden, daB die Qualitat „Hoch“ der Baume auf dem Bilde 
hier vielleicht mitgewirkt hat und daB die Baume dabei gewissermaBen verbraucht 
worden sind. 

„Auch sind nicht viele Pcrsonen auf dem Bild gewesen, sondem nur drei 
oder vier, mehr vorne.“ SchlieBt man, etwa in blinzelndem Betrachten des Bildes, 
die illusionierte Hauserfassade wirklich mit der Baumreihe links ab, so kommt 
man leicht zu dem unbestimmten Eindruck, daB nur wenige Personen auf der 
StraBe sich befinden und daB eine Gruppierung der Personen mehr nach vorae 
zo sichtbar ist. 

Am nachsten Morgen: „Zuerst die beiden Erhohungen. Links war es wie 
eine lange Gasse.“ 

Die Entwicklung geht konzentrisch weiter, bezogen auf das Gesichtsfeld 
in der Zeit der Originalerregung, exzentrisch, wenn man sie auf das Feld der Auf- 
merksamkeitsverteilung zur selben Zeit bezieht. Die Durchbmchsstelle, bisher 
eine kontinuierliche Helligkeit (Fig. 13), beginnt sich zu entmischen. 

Auch fiir die Darstellung dieser hellen Fl&che auf Fig. 13 gilt, was fruher 
(Versuch 2) bemerkt worden ist; zun&chst erschien streng w&hrend der Original- 

Z. f. d. g. Neur. a. Psych. O. XXXVII. 21 


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erregung sicher ein mehr dunkler, annahemd kontinuierlicher Eindruck; in der 
Nachwirkung, wahrend der Periode des Oszillierens, diirfte die „Helligkeit u diesee 
Kontinuums psychisch gegeben worden sein. DaB dies in zahlreichen Beispielen 
so vor sich geht, zeigen Versuche des Verf., die bei geeigneten Fallen durch solche 
tachistoskopische Bildwirkungen die „vision nulle“ einer Hemianopsie in ein posi¬ 
tives Skotom verwandelt haben; die verschiedenen Stufen der ersten Wahrneh- 
mungen zeigen in der Tat den hier beschriebenen Entwicklungsgang. 

„Vome waren drei Personen. Rechts und links zwei groBere; die mittlere 
kleiner." 

Die Entwicklung hat endlich das Zentrum von Bild und Blickfeld erreicht. 

Sucht man auf der Exposition nach einer Deckungsstelle, in der die von der 
Vp. angegebenen GroBenverh&ltnisse der menschlichen Figuren zur Anschauung 
kommen, so finden sich deren zwei zur Auswahl: die Gruppe der drei Manner 
im Vordergrund mehr links, da der mittlere Mann der kleinste ist; sodann aber 
eine Gruppe, die von den beiden Figuren des Vexierbildes und Traums (Fig. 14) 
gebildet wird, samt der weiBgekleideten Frau zwischen den beiden; diese mittlere 
Frauenfigur erscheint aber nur dann kleiner als die beiden, wenn man sich der 
Losung des Vexierbildes hingibt, das der Traum spater entwickelt hat; dann 
bleibt der Kopf dieser Frau aus, der Rest der Figur scheint klein; bei blinzelndem 
Sehen l&Bt sich das alles leicht von jedermann nachempfinden. Wer die gewohn- 
liche Art, figurenreiche Gruppen auf Gemalden fliichtig zu betrachten, ein wenig 
beobachtet hat, wer die vielen agnostischen Fehler kennt, die jeder Mensch dabei 
macht, wird diesen ganzen Vorgang, so lange es sich um die gewohnlichen Be- 
dingungen einer Bildbetrachtung handelt, alltaglich finden; derartiges ereignet 
sich bei jedem Menschen mehr als einmal, wenn er eine Gemaldegalerie besucht 

Es ist nun die Frage, welche dieser beiden Triadengruppen im nachtrag- 
lichen Einfall der Vp. entwickelt worden ist; Verf. meint, daB es beide sind, oder, 
wenn man will, keine von beiden, das heiBt, daB beide in Interferenzwirkung mit- 
einander waren, sich miteinander verdichtet haben und dadurch eine bremsende 
Wirkung auf den Impuls zur Weiterentwicklung ausgeiibt haben 1 ), ohne sich 
indessen, wie sich dies an zahlreichen anderen Beispielen beobachten l&Bt, gegen- 
seitig gestalthch vollkommen auszuloschen. 

Denn gerade hier hemint sich die Weiterentwicklung des Eindrucks im Wachen; 
es kommt zu keinen weiteren iiberlieferten EinfaUen im Wachen mehr; hier scheint 
etwas zu stocken. Dafiir setzt gerade hier, am selben Punkt, die Traumentwick- 
lung ein; mit ihr erscheint das Vexierbild, das die erste Szene des Traumes fullt 
Hier ist ein Verzweigungspunkt, etwa wie im Bild einer analytischen 
Funktion. 

Es ergibt sich also zunachst, daB jene Eigenschaft des bei der 1 / 100 -Sek.- 
Exposition gesetzten Vorkeims der optisch-gestaltlichen Entwicklung 
ftir die Stelle des Vexierbilds in nichts anderem zu bestehen braucht, 
als in einer Hemmung durch Interferenz 2 ). Es handelt sich auch dabei 
gewissermaBen auch nur um den Keim einer solchen Hemmung, um 
eine Disposition, bei der Weiterentwicklung gerade an dieser Stelle ge- 
hemmt zu werden. 

J ) Dafiir aber haben sic den Impuls an diese Stelle fixiert; vgl. Verf.: t)bcr 
Wechselwirkungen hysteriformcr und cerebraler Mechanismen. Jahrbucher f. 
Psych iatrie 37. Gemeint ist hier das Bruchstiick der Apraxieuntersuchung S. 342. 

2 ) Vgl. Verf.: Dber optische Hemmungserscheinungen usw. Wiener med. 
Woehenschr. 1916, Nr. 36 (Redlich - Festschrift). 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. 1. 321 

Die Bedingungen fiir diese Disposition lassen sich zum Teil tiber- 
sehen. Zu erkennen ist jedenfalls, daB alle drei im Eingang herange- 
zogenen Vorgange fiir sie in Betracht kommen, aber, wie es scheint, in 
verschiedener Weise. 

Eine Bedingung der Interferenz liegt bereits in der Art des vorbe- 
wuBt gegebenen optischen Formenmaterials, in der gewohnlichen 
Schwierigkeit des klaren Herausfassens der einzelnen Figuren einer 
dichtgedrangten Menschengruppe. Es erscheint plausibel, daB diese 
Bedingung von psychoanalytischen Faktoren relativ unabhangig ist. 

Die motorische Bedingung ist jedenfalls zum Teil eine einfache 
Folge der optisch-gestaltlichen Bedingung; in dieser Disposition des 
Keims ist offenbar schon wirksam enthalten, was bei der gewohnlichen 
Betrachtung eines Gem&ldes den Blick stocken laBt und ihn zum Ver- 
weilen zwingt, etwas, das haufig gerade an dieser Stelle die feste Fixation 
verlieren laBt, ihr keine Haftpunkte gibt und zum Verschwimmen der 
Formen, zur Scheinbewegung fiihrt; vorgebildet ist also eine zukiinftige 
Sperrung des Uberblicks. 

Auch diese Bedingung kann von den analytischen Beziehungen als 
relativ unabhangig betrachtet werden. 

Doch ist sofort ersichtlich, daB diese Unabhangigkeit nur fiir einen 
Teil der Falle gelten wird; mischen sich, wenigstens in der Dauerbe- 
trachtung des Alltags, bereits wahrend der Wirkung der Originaler- 
regung Momente ein, die einen Widerstand durch Verdrangung zu 
geben geeignet sind, so wird dies die optisch-motorischen Bedingungen 
regieren konnen. 

So ist es im Sinne einer Beaktion, die von zwei Seiten her erreicht 
werden kann, zu fassen, wenn im hier illustrierten Versuch eine optisch- 
motorisch, durch Interferenz gehemmte Stelle des keimenden Erregungs- 
komplexes von der wachen Nachentwicklung sich absperrt und dafur 
eine Attraktionskraft fiir verdrangtes psychisches Material bekommt. 

Damit ist eine der Freudschen Hauptbedingungen zur Traum- 
entwicklung gegeben und es setzt auch im Versuch diese Traument- 
wicklung hier ein, in scharfer Sonderung von der Entwicklung des 
Wachens, scheinbar nur ihren eigenen Gesetzen folgend. Doch hangt 
sie trotz der sonst scharfen Sonderung mit der wachen Entwicklung in 
jenem Verzweigungspunkt zusammen; dieser erscheint wie ein mehr- 
facher Punkt, in dem mehrere Phasen koexistent sind. 

Der Traura bildet zunachst eine der gehemmten, nur im Keim angeregten 
Intentionen ab, wie sie fiir den Traum ganz gewohnlich sind: „Gegen Morgen ... 
bin ich in dieser Gasse gegangen in ein Geschaft." 

Das erste Traumbild enthalt bereits die Identitat der Stelle, die als Ver¬ 
zweigungspunkt betrachtet worden ist, dasselbe, was wie ein gewohnlicher Tages- 
rest aussieht: „Da kommt mir vor, diese drei Personen ...“ 

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0. Pfltzl: 


Es lieB sich ermitteln, daB diese Personen nur vorgeschwebt, nicht 
klar erschienen sind, was damit Qbereinstimmt, daB sie im Wachen 
relativ weitgebend gestaltbch entwickelt worden waren. Das erste, 
was der Traum stark bildlicb emporsteigen laBt, ist die Attitude dee 
Arms mit dem Messer; er formt das Vexierbild. 

Dieses bildet sich aber eigentbch ganz von seibst aus dem Negativ 
des wachbewuBt Erfafiten; optisch einem positiven Nacbbild vergleich- 
bar, ist es ein negatives Nacbbild des Apperzipierten. Damit zeigt sicb 
wieder das Exklusionsgesetz in seiner vollen Scharfe; es ist nun er- 
sichtUch, daB das Entstehen des Vexierbilds fiir diesen Fall nicht in 
die Zeit der Momentexposition verlegt zu werden braucbt; es laBt sich, 
ganz den Freudschen Anschauungen gemaB, in die Zeit der Traum- 
arbeit verlegen. Gegeben wax zur Zeit der Momentexposition nur die 
Gesamtheit des Formenmaterials in einer Disposition, die verschiedene 
Abstufungen von zuktinftiger Babmmg und Hemmung enthielt; aus 
diesem Rohmaterial hat sich das Vexierbild gewissermaBen heraus- 
geschnitten, dadurch, daB die umgebenden Formen sukzessive in den 
gestaltlichen Nachentwicklungen der wachen Einfalle verbraucht und 
fix verankert worden sind. So ist es als fortwirkungsfahiges Residuum 
zuriickgeblieben; in der Traumarbeit besetzt es sich mit verdrangtem 
psychischem Material, das als Aktivator wirkt und es in der ursprung- 
lichen Gestalt in Erscheinung bringt; daftir zwingt es ihm aber seinen 
Sinn auf, dem die ganze weitere Traumbegebenheit zu folgen scheint. 
Seibst gestaltlos, an der optisch-motorischen Reaktion nicht teilnehmend, 
wirkt das verdrangte psychische Material wie ein Katalysator. 

Dies schrankt fiir dieses eine Beispiel die frQher gemachte Behaup- 
tung, daB das Vexierbild zur Zeit der Momentexposition gebildet worden 
sei, stark ein; es zeigt zugleich die Natur dessen, was zur Zeit der Vioo-Sek.- 
Exposition jedenfalls gegeben gewesen sein muB: an der Stelle der Hem¬ 
mung durch Interferenz hat sich schon zu dieser Zeit eine Spaltung des 
originalen Erregimgskomplexes vorbereitet, dessen Teile nun nach ver- 
schiedenen Richtungen auseinandergezogen werden; die eine Gruppen- 
schar findet, wenn auch zum Teil erst in nachtraglichen Einfallen, doch 
immer noch den Weg zur erinnerten Gesamtheit der Ausgangssituation 
zuriick; der andere Teil wird wie durch eine repulsive Kraft von ihm 
abgestofien, wie durch eine neue Attraktion zu psychischem Material 
von einer analogen Stufe der Unfahigkeit fiir das WachbewuBtsein hin - 
gezogen; nur im Verzweigungspunkt bleiben alle Phasen koexistent 
wie Wasser, Wasserdampf und Eis im vielfachen Punkt des Wassers. 

Die weitere Traumentwicklung scheint zwar zunachst nur dem Gang 
der Begebenheit im Sinne der latenten Traumgedanken zu folgen; es 
bleibt aber noch zu untersuchen, wie die ursprungliche Richtung der 
optischen Nachentwicklung sich dazu verhalt, wenn man sie weiterhin 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 323 

in ihrer Beziehung zu dem bei der Originalerregung gegebenen Geeichts- 
feld verfolgt. DaB Vorkeime von Blickbewegungen, also optisch- 
motorische Richtungsqualitaten in der Traumbewegung wieder er- 
scheinen, ist schon aus der Beschreibung des Versuchs im frfiheren Ab- 
schnitt kenntlich geworden. 

Die Traumerzahlung ergibt als n&chste Tr&umsituation, daB Vp. sich auf einer 
Briicke befindet und das entrissene Messer in den Bach wirft. Es w&re noch zu 
bemerken, daB ein blasses Vorschweben der nach den friiheren Voraussetzungen 
im Wachen gestaltlich bereits zum Teil entwickelten Frauengestalt in Pflegerinnen- 
tracht wieder jene Deckung begiinstigt, in der das Ich der Traumenden in der 
Begebenheit des Traums erscheint; hier wirkt das Optische katalytisch. 

Die Traumbewegung reiBt das Ich der Vp. von der Sfcelle der Hemmung 
durch Interferenz los, wie durch einen aktiven, gewaltsamen Ruck, ihre weitere 
Richtung ist parallel der Richtung der iiberblickenden Augenbewegung, die wir 
machen miiBten, um die Briicke in unseren Blickpunkt zu bekommen. Der Blick 
auf die Exposition zeigt aber auch, daB die Briicke der Hemmungsstelle benach- 
bart, konzentrisch einwarts von links nach rechts im Bild gelegen ist; mithin bleibt 
die Hauptrichtung der optischen Entwicklung auch w&hrend der Traumfolge 
gewahrt, so wie sie in den nachtr&glichen Einf&llen der wachen Fortentwicklung 
vor sich ging. 

„Dann hat sich’s so gestaltet, daB zu dem Bach ein Kind kommt, nimmt das 
Messer heraus, das aber viel groBer war als friiher. . . “ 

Geht man konzentrisch gegen das Innerste des Bildes weiter, so findet sich 
auch fiir diese Traumsituation eine mogliche Deckungsstelle; ganz nahe der Loko¬ 
motive ist eine fern, d. h. klein erscheinende menschliche Figur und die Schatten 
am Bahnsteig ergeben vielleicht Weiteres. Wer stark illusionsfahig ist, wird, ent- 
aprechend der Uberbestimirthcit des Traumes, noch manche mogliche Deckungs¬ 
stelle fiir „Messer in dem Bach“ finden. 

Die Richtung der optischen Entwicklung ware also bereits ganz nahe der 
Lokomotive angelangt. Die nachste Traumsituation bringt in der Tat die Loko¬ 
motive, kenntlich als Deckungsstelle im Vergleich der Fig. 15 a und 15 b. 

„Dann bin ich in ein Haus gefluchtet und so weit, von einer Dame aufgenom- 
men und bewirtet ... “ 

Die Entwicklung der Durchbruchsstelle ist vollendet und der Traum 
schlieBt. 

Die Reintegration der Ausgangssituation ist damit aber nicht voll- 
ondet, wie der nachste Versuch mit der Vp. zeigen wird, der noch eine 
um Wochen verspatete Nachentwicklung bringt. 

Kehrt man noch ein letztes Mai zur Sexualsymbolik dieses Traums 
^uruck, so findet sich gerade fiir die Hemmungsstelle der optisch-moto- 
rischen Richtung der gehemmte Sexualakt, fiir die Losungsstelle dieser 
Entwicklung ein SchluB mit relativer Befriedigung und Abreaktion, 
deren Deutung auf die sexuelle Ambivalenz hinweist, die sich in diesem 
Traum widerspiegelt. 

Die Begebenheit hat also das ZeitmaB der optisch-motorischen Ent¬ 
wicklung wie im Takt begleitet und die latenten Impulse der Verdran- 
gung harmonieren im ZeitmaB. Vollendete Nachentwicklung der ge- 


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0. P6tzl: 


hemmten Innervation und Wunscherfubung fallen zusammen. Die 
Herstellung der Ausgangssituation meldet sich im Trauminhalt wie eine 
Riickkehr in die Kindheit, oder, uber die Kindheit hinaus, in den 
MutterschoB zuruck. 

Der Traum hat also Bewegung und Formen vom optischen Ver- 
such her empfangen, Sinn und Begebenheit vom verdrangten psychischen 
Material. Das ZeitmaB, in dem die Gleichzeitigkeit des Gegebenen in 
Sukzession des Entwickelten sich verwandelt, gibt den Zusammenklang 
und die Bewegung der Traummelodie. 

Die optische Richtung des gestaltenden Prozesses, die Entwicklung 
. der motorischen Keime und die Folge der Traumbegebenheit sind auf- 
einander abgestimmt und bilden eine einbeitbche raumzeitbcbe Trans¬ 
formation. 

Im Schlaf, im Zustand der gehemmten motorischen Impulse trans- 
formieren sich die Augenbewegungen zu Bewegungsempfindungen, die 
das Icb und das Getraumte betreffen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daB 
die motorische Sperre auch an der VergroBerung, der die Traumge- 
stalten unterbegen, ihren Anteil hat. Die bindende Einbeit des wach- 
bewuBten Komplexes ist hier Bewegung und Begebenheit geworden. 

Uberbbckt man das Ergebnis, so findet sich, daB die Eigenschaften 
des Komplexkeims sehr einfache sind tmd daB ihre Entstehung in einer 
Minimalzeit alles Unbegreifliche verliert. Es handelt sich nur um eine 
Skala von Abstufungen angeregter Bahmmg und Hemmung, die ein 
in Wirklichkeit voll, aber vorbewuBt aufgenommenes optisches Materia! 
betrifft; dieses ist keimfahig, harrt aber zum groBen Teil erst der Ent¬ 
wicklung. Sucht man aber nach einer Analogic fiir den Vorgang, so 
drangt sich die nachstbegende auf, die latente Lichtwirkung auf die 
Silbersalze bei der Photographie. Auch hier sind durch die Bebchtung 
nur Keime zu einem ktinftig erst nachweisbaren chemischen ProzeB 
gesetzt, erst der Vorgang der Entwicklung bringt diesen in Erscheinung; 
nach der Entwicklung gibt es kein Fortwirken der Keime mehr. Das 
Bild der Korsakowschen Psychose rundet diesen bekannten Ver- 
gleich; man mag sie eine Storung des Fixationsverfahrens nennen, die 
das bereits Fixierte nicht oder weniger in An griff zu nehmen vermag. 
Hier sob aber nur dargetan werden, daB auch der GrundprozeB der fur 
diese Traume angewendeten Illustrationstechnik, das photographische 
Verfahren, die Bedingungen dieses psychischen Geschehens gut versinn- 
bbdet und daB es, wenn man so sagen darf, psychische unterexponierte 
wie iiberexponierte Films gibt. Das Verhalten von Kontrast und Irra¬ 
diation beim Sehakt hatte langst schon darauf hingewiesen, wenn neben 
den retinalen Verhaltnissen auch die mitwirkenden zentralen Vorgange 
dabei mehr in Betracht gezogen worden waren; es scheint wohl, daB so 
ziembch jedes optische Phanomen zentral und peripher bedingt ist. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 325 

nicht zentral oder peripher; es kann darum wohl, je nach den Versuchs- 
bedingungen, unter Umstanden wie als rein retinal oder als rein inner- 
vatorisch betrachtet werden. 

Fur die ganze optische Tatigkeit zeigt sich jenes gegenseitige Auf- 
zwingen der Periode, das fur das gegenseitige Verhaltnis der drei rich- 
tunggebenden Momente in diesem Versuch ersichtlich gewesen ist. Nach 
der Analogic mit der erzwungenen Schwingung werden sie ihr Optimum 
fur die optische Nachentwicklung geben, wenn ihre Periode und Rich- 
tung iibereinstimmt. Der nachste Versuch vermag dieses Verhalten 
zu illustrieren. 

Versuch 4. 

Fig. 16 gibt das exponierte* Diapositiv wieder. Es ist nicht zu vergessen, 
daB dieses der Vp. im indirekten Sehen gegeben war, derart, daB die annahemd 
geradlinige Kontur des oberen Randes des Nildampfers mit dem rechten Horizontal- 
meridian des binokularen Gesichtsfelds zusammenfieL Man kann sich den Eindruck 
halbwegs vergegenwartigen, wenn man in der gewohnlichen Leseweite etwas links 
vom linken Rand der Buchseite auf die Papierebene blickt, hat aber zu bedenken, 
daB der lichtstarkcre Eindruck bei der Projektion des Diapositivs giinstige Bedin- 
gungen fiir das indirekte Sehen bietet. Dafiir war das Bild nur Vioo Sek. exponiert. 
DaB in dieser Expositionszeit jede Augenbewegung ausgeschlossen ist, kommt 
fiir diesen Versuch besonders in Betracht. 

Fig. 17 a rekonstruiert, was Vp. unter diesen Bedingungen in y i00 Sek. erfaBt 
hat: „Ein kleines Haus. Zwei Reihen Fenster.“ 

Hier ist das Bild zu scharf, die Formen sind zu klar. Verf. halt es aber fiir 
unmoglich, photographisch das eigentiimliche Verschwimmen des indirekt gesehenen 
komplexen Bildes, sein unsicheres Vor- und Zuriicktreten im Raum, das Vorklingen 
und Zuriicksinken einzelner Eigurenteile auch nur ann&hernd wiederzugeben. 
So stellt das Bild nur die Zusammenfassung desseji dar, was Vp. gesehen hat; 
es veranschaulicht die Beschreibung der Vp., nicht ihren Eindruck. 

Bringt man Fig. 16 ins indirekte Sehen, so wird jedem ziemlich ausnahmslos 
die weiBe Dreieckfl&che der beiden Segel besonders aufdringlich und immer wieder 
vorschweben. Es laBt sich so leicht beobachten, daB in der Dauerfixation mit 
indirektem Sehen auf Fig. 16 bald das linke, bald das rechte Segel vortritt und 
zuriicktritt; dazwischen drangen sich die Fensterreihen vor; schlieBlich wird 
dieses Spielen von Teileindriicken in einen gewissen Zusammenhang gebracht, 
der sich leicht zu dem Schweizerhaus der Fig. 17 a gestalten laBt, wenigstens mit 
einigem guten Willen zur Illusion. Eine assimilierende Verlagerung der Segel- 
flachen nach oben ist bei Vp. sicher eingetreten (b). 

b) Die Zeichnung der Vp. vom empfangenen Eindruck erweist dies, indem 
die Dreieckflache hier als Dachgiebel ganz oben paradiert. Dafiir schwebt aber 
das Gerundete, Wehende des geschwellten Segels doch noch vor, miBbildet die 
vordere Mauer und bringt das gezeichnete Haus zum Einstiirzen. Es ist zu bemer- 
ken, daB Vp. immerhin noch ein Haus mit geraden Strichen zeichnen kann; es 
ist vielleicht nicht zu gewagt, wenn man diese besonders schlechte Qualitat der 
Zeichnung auf einen fortwirkenden Eindruck des im indirekten Sehen Erschauten 
zuriickfiihrt. 

Dieses Vor- und Zuriicktreten von Teileindriicken komplexer Bilder im in¬ 
direkten Sehen macht es sehr gut verst&ndlich, wie leicht hier aus Simultanem 
eine Sukzession werden kann; Scheinbewegungen, selbst Wahrnehmungen mehrerer 
Objekte fiir eines, fast simultan, rasch nacheinander, ineinander verschwimmend 


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0. Potzl: 



Fig. 18. 


usw., kommcn in der Tat bei tachistoskopischen Expositionen im indirekten Sehen 
haufig vor. 

Hicr, bei der 1 / 100 -Sek.-Exposition entsprechen diese Erscheinungen wohl 
ciner Zeit, in der die Originalerregung nicht mehr wirkt; dann aber konnen sie 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 327 

trotz der kurzen Expositionszeit ohne weiteres vorhanden scin. Verf. hat dies 
vor und nach diesem Versuch mit elementaren tachistoskopischen Expositionen 
an anderen gesunden Vp. leicht feststellen konnen. Der intervallare Charakter 
solcher Teileindriicke, die nach der Originalerregung koramen, entspricht dem 
Rhythmus der Nachbilder; diese ganzcn Erscheinungen fallen in das Gebiet des 
Exnerschen Nachbildes bzw. d s metaphotischen Bildes im Sinne von Stigler 1 ). 
Sie sind es auch, die die leicht verstandliche Briicke und den Gbergang zur visuellen 
*Traumreaktion geben (konform den Anschauungen Wundts). 

Man darf also anneh- 
men, dab auch bei Vp. 
trotz der '/loo’Sek*-Expo¬ 
sition ein ahnliehes o^zillie- 
rendes Spiel von Teilein- 
driicken einzelner erfaBter 
optischer Gruppen statt- 
gefunden hat, wie die Dauer- 
exposition im indirekten 
Sehen sie bringt. Ist dies 
der Fall, so wird die Mog- 
lichkeit, die vorhin im be- 
schreibenden Text zu die¬ 
sem Versuch angedeutc t 
worden ist, vielleicht nicht 
mehr ganz so gewagt erscheinen. 

Es ware denkbar, daB das Auf- 
tauchen und Verschwinden der zwei 
•weiBen Segel sich in der Traum- 
bewegung der zwei Begleit personen 
widerspiegelt. „Ich gehe einen Wald - 
weg mit zwei Friiuleins“ (Kranken- 
schwestern, wie eine ihrer Ankniip- 
fungen besagt). „Eine der Beglei- 
terinnen verlor sich im Walde; ging 
einen Weg links, das eine Fraulein, 
das noch mit mir war; die andere 
hab’ ich iiberhaupt verloren.“ In- 
konsequent spricht die spate re 
Traumerzahlung noch einmal von 
jener Begleiterin: „Hat sie gesagt, 
sie will lieber im Wald bleiben.“ Es 
scheint so, daB auch die Traumerzahlung dicse beiden Personen miteinander ver- 
mengt, wie der Eindruck im indirekten Sehen die beiden Segel, deren eines oder 
das andere auftaucht und wieder verschwindet. Es ergab sich, daB die beiden 
Begleiterinnen aus Traum visuell nicht erinnert worden sind; die Personen ent- 
stammen einem gew T ohnlichen Tagesrest vom Abendspaziergang. 

Selbstverstandlich handelt es sich nur um cin* vielleicht vorhandene Be- 
^iehung. Verf. strebt aber einerseits, so weit dies iiberhaupt erreichbar ist, Voll- 
st&ndigkeit des sinnesphysiologischen TeiLs der Traumanalyse an, aUerdings unter 
scharfer Sonderung sicherer und bloB denkbarer Beziehungen. Andererseits ist 
-es ihm stets darum zu tun, die Giiltigkeit des ausschheBcmden Verhaltens zwischen 
wachbewuBt optisch ErfaBtem und visuell Getraumtem auch bei bloB moglichen 

l ) 1. c. 




Fi g. 19 a. 


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328 


0. Patzl: 


Deckungsstellen zu priifen. Diese wiirde sich also auch hier ergeben, falls man 
die ganze Deckung iiberhaupt anerkennt. Im wachbewuBten Erfassen hatte sich 
jene Verschmelzung vollzogen, die von Fig. 17 a und 17 b dargestellt wird; da sie 
nach den Bedingungen unsicher war, ambivalent zwischen Simultaneitat und 
Sukzession, hatte die Exklusionsbeziehung im Traum nur das unruhige Hin und 
Her der beiden Eindriicke, die Phasen vor der Verschmelzung darzustellen ver- 
mocht; die Deckung mit anderen Tagesresten ist beliebig; nur laBt sich wenigstens 
sehr haufig erweisen, daB auch diese in ihrer visuellen Entwicklung der gleichen 
GesetzmaBigkeit folgen, wie die tachistoskopische Exposition. Analoges scheint 
iibrigens auch fur die Entwicklung der Traumrede und dem Verhaltnis der Traum - 
bewegung im allgemeinen zu gelten; nur werden unter den gewohnlichen Ver- 
h&ltnissen nicht nur unterexponierte, sondera auch iiberexponierte Eindriicke 
mit dem Sinken der Erfassung traumfahig werden miissen, wenn die Relation 
streng giiltig sein soli. Dies bestatigt die Erfahrung leicht. 

Fig. 18 vereinigt den Traum der Vp. in einem Bild, das verhaltnismaBig getreu 
und wenig traumhaft erscheint. 

Es liegt im Wesen des Versuchs, daB die Abbildung so ausfallt; man darf sie 
als ein visuell besonders lebhaftes Traumbild nehmen im Gegensatz zu den schatten- 
haften Masken, die der Traum des friiheren Versuchs der Vp. erscheinen lieB. 

Hier ist „der schone, gerade Waldweg, eher schmal, daB zwei Personen gehen 
konnten“. Auch hier ist „seitwarts nur Gebiisch“. Die im Traum gesehene Stim- 
mung „alles griin wie im Friihjahr“ entspricht der Stimmung des farbigen Diaposi- 
tivs, wenn man die Deckungsstelle fur sich selbstandig betrachtet. Der Versuch 
datiert von Anfang April 1916; das verspatete Friihjahr dieses Jahres hatte das 
lftngst erwartete Friihlingsgriin noch versagt; hier spielt also kein sonstiger Tages- 
rest hinein, sondem eine Erwartung, die Vp. damals wohl mit den meisten Men- 
schen ihrer Umgebung teilte; diese mag der Entwicklung der vorbewuBt aufgenom- 
menen Farbenstimmung wohl, wieder als Katalysator, geholfen haben. 

Weiters zeigtsich die Anhohe („ich selbst war dann auf einer Anhohe 
droben“). Von der Anhohe ist das Haus von feme zu sehen, wie die Traumende 
es von feme sah. 

Fig. 19 zeigt dieses Haus; die VergrdBerungen der Fig. 18 und 19 hat auch der 
Traum in seiner Art geschaffen, da er das Bild in das Milieu eines traumenden 
Ichs verwandelt hat; fur gewohnlich kennt man diese VergroBerung fur eigene 
Korperteile, die im Traum wieder erscheinen, aber auch fur Impulse, die sich 
durch die Traumsperre motorisch durchzuarbeiten suchen und mit einer ungeheuren 
Wucht im Traumerlebnis sich fiihlbar machen. Man kennt diesen vergroBemden 
ProzeB ja nicht bloB vom Traum, sondem ebenso gut von der Makropsie bei 
Akkommodationsstorungen, ebenso auch von den Aurasensationen Jackson- 
epileptischer Anfalle, von den kinasthetischen Halluzinationen im Meskalin- 
rausch [Ser ko l )] usw.; das Gemeinsame aller dieser Bedingungen ist der erschwerte 
Durchbruch eines gehemmten Impulses, der fiir das psychisch Gegebene die er- 
scheinende Gestaltung vergroBert 2 ). Hier nun darf man als den Impuls, der im 
Durchbrechen gehemmt und verzogert ist, einen bei der vorbewuBten Aufnahme 
des Bildes gesetzten Keim zur iiberbhckenden Augenbewegung nehmen; ihre 
Richtung ist hier eindeutig ersichtlich. Man hat damit ein leicht verstandliches 
Beispiel dafiir, wie sich der keimende Impuls zu Blickbewegungen in erlebte Be- 
wegungen des Traumenden verwandelt und zugleich die VergroBerung des Traum- 
bildes in einer vielfach abstufbaren Weise durchfiihrt. DaB sie hier auf die Dimen- 

*) Jahrbiicher f. Psychiatrie 34. Wien 1913. 

*) Die Beziehungen dieses Reaktionstypus zum bekannten Liepmann- 
Kalmus8chen Teilungsfehler der Hemianopiker sind wohl ohne Besprechung klar. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 329 


sionen der Umwelt des tr&umenden Ichs reduziert ist, ist nur ein besonderer, 
aber in diesen Versuchen, wie in den gewohnlichen Traumen immerhin ziemlich 
haufiger Fall. Ebenso kann es selbstverstandlich zur Verkleinerung kommen 
oder zu einem gesetzm&Bigen tJbergang von Mikropsie in Makropsie, wie bei der 
gewohnlichen Alpdmckvision. 

Auf diese Weise wird es nicht verwunderlich erscheinen, daB auch das feme 
Haus auf dem Uferkap sich so deutlich in diesem Traum abbildet, wie die Fig. 19 a 
es zeigt. Dazu ist natiirlich in Betracht zu ziehen, daB das Haus bei der vergr6- 
Bemden Projektion des Diapositivs ungleich bessere Bedingungen zur optischen 
Nachentwicklung hat, als Fig. 16 sie verraten kann. Jedenfalls aber war das Haus 
am weitesten im peripheren Sehen von alien optischen Gruppen der Exposition, 
die der Traum nachentwickelt hat. 

Fig. 19 a. (Das Haus) „hat aber anders ausgesehen als in Wirklichkeit auf 
dem Bild. Es war viel langer, hat eine Mansarde gehabt, aber kein Dach.“ 

Fig. 19b zeigt die Zeichnung des Pat., die dieser relativ genauen Beschreibung 
des Hauses am Uferkap noch die Fenster hinzufiigt, die unmittelbar unter den 
Horizontalen des platten Dach profils dieses Hauses zu sehen sind. Dafiir zeigt 
die Zeichnung eine Verdichtung mitFig. 17 b, indem sie die dreieckige Segelkontur 
iibemimmt, die dort an der Konstruktion des Hausdachs beteiligt war. Die Ver¬ 
dichtung der Zeichnung geht parallel mit der Identitat, die Vp. fur die beiden 
Hauser in der Traumerzahlung behauptet, wahrend sie optisch-gestaltlich nicht 
vorhanden war. 

Die Mansarde, die in der Beschreibung erw&hnt wird, fehlt dafiir in der Zeich¬ 
nung; Zeichnung und Erzahlung sind einander also ebenfalls in vieler Beziehung 
komplementar und bauen erst in ihrem Zusammenspiel den Komplex auf. Die 
Reaktion hat jenen Typus, den Verf. fiir das Zusammenspiel der Wirkungskom- 
ponenten bei der Sprachdressur der Aphasiker beschrieben hat 1 ). 

Alle bisher dargestellten geometrisch-optischen Beziehungen zwischen Traum- 
bild und Exposition sind eindeutig; sie waren jeder Beeinflussung entriickt. Dies 
gilt nicht fiir den wiesenartigen Grund auf der rechten Seite des getraumten 
Waldwegs, den Fig. 18 darstellt. Die Darstellung selbst ergab sich aus der An wen- 
dung des ausschlieBenden Verhaltens zwischen Traumbild und den iibrigen Teilen 
der Exposition. 

Als Vp. diese Darstellung sieht und sich liber sie zu auBern hat, wird sie 
befragt, ob das Bild stimmt; Vp. bejaht dies bedingungslos. Als man ihr vorh&lt, 
sie habe doch von einem Waldweg gesprochen, sagt Vp.: „Rechts war es flach; 
eine Wiese oder eine Wiiste.“ Auf dem Diapositiv schlieBt eine braune Boden- 
flache das Bild nach unten hin ab. 

Hier konnte wieder ein EinfluB des Riicldllusionierens von der Darstellung 
auf das Traumbild oder eine Erinnerung an die spate re Betrachtung des Diapositivs 
beim Ablesen des Versuchs einwirken. Derartige Bestatigungen ergeben zum 
Unterschied von den friiher beschriebenen Beziehungen nichts Exaktes; immerhin 
ist es von Interesse, ob die Darstellung bei Vp. Widerstand oder Hingabe findet. 
Fiir die Hauptergebnisse dieses Versuchs ist diese Einzelheit ohne Belang. 

Das hier erscheinende Beispiel eines lebhaften und getreuen Traum- 
bilds laBt sich um so besser mit dem Typus der Traumbilder von Ver- 
such 3 vergleichen, als es sich um dieselbe Vp. handelt. In Versuch 3 
sind die Traumvisionen schattenhaft, diirftig; nach den Hergang des 
Versuchs entsprechen sie einer Stelle, wo Hemmung durch Interferenz 

x ) t)ber optische Hemmungserscheinungen usw., 1. c. 


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330 


O. Pfltzl: 


eingetreten ist. Hier sind die Traumbilder reichhaltig, lebhaft und ge- 
treu den manifesten Konturen eines Bildstreifens nachgeformt, nicht, 
wie im dritten Versuch vexierbildhaft in die Exposition hineingeheimniBt. 

Zwei Griinde machen dies von der sinnesphysiologischen Seite her 
leicht verstandlich. Erstens war innerhalb des ganzen Bildstreifens, 
soweit es nachweisbar ist, nichts in wachbewuBten Einfallen entwickelt 
worden; es stand das ganze Areal unumschrankt der Traumentwicklung 
zur Verfiigung. Zweitens aber wirkten hier mehrere Momente zur Foide- 
rung der Lebhaftigkeit dieser Traumentwicklung gleichsinnig zusammen, 
wahrend im friiheren Versuch eine Hemmung und ein Widerstreit 
mehrerer Momente ersichtlich gewesen ist. 

Der Bildstreifen lag im rechten Horizontalmeridian des peripheren 
Gesichtfeldes; daB gerade dieser. Meridian fur optische Entwicklungen 
beim Bechtshander besonders giinstig ist, ist schon im beschreibenden 
Text hervorgehoben worden. Auch die im Figuralen des Bilds selbst 
liegende Bewegung ist gleichsinnig der Entwicklung von links nach 
rechts, die im Traum sich vollzieht und von der Traumenden als Eigen- 
bewegung, als Gehen in der Uferrichtung („auf dem Waldweg“) erlebt 
wird; vom FluB selber erscheint nichts in der Nachentwicklung; es ist 
moglich, aber nicht beweisbar, daB eine Vorstellung von seinem Stromen 
in den Komplex der Traumbewegung mit eingegangen ist. Endlich ist 
die uberblickende Bewegung, die wir vom Hauptobjekt der Exposition 
weg liber die Landschaft machen, wenn wir das Bild wie gewohnlich 
besehen, vollkommen gleichsinnig mit der Situation im Gesichtfeld und 
mit der figural vorgebildeten Bewegung im Bild; hier sind die drei 
Momente fast nur drei verschiedene Seiten einer und derselben Haupt- 
erscheinung. Was im Gesichtsfeld zur Zeit der Originalerregung am 
periphersten gelegen ist, wird, sofem dies uberhaupt geschieht, unter 
sonst gleichen Umstanden eher daflir bestimmt sein, sich geometrisch- 
optisch am spatesten nachzuentwickeln; im gewohnlichen t)berblick 
von der Hauptfigur als Zentrum der Betrachtung aus wird es am 
spatesten erscheinen und die relativ weitesten Exkursionen reeller 
Blickbewegungen auslosen, falls solche uberhaupt vor sich gehen 
miissen; damit aber hat man sich auch am besten in die Situation 
versetzt, die dieses Bild darstellen soil. 

Durch diese Homophonie der drei entwickelnden Momente motorischer 
Natur ist eine stetige Traumbewegung gewissermaBen vorgezeichnet; 
sie vermag sich in jenem Andantino, quasi allegretto abzuspielen, in 
dem auch die Begebenheit des Traums komponiert zu sein scheint. So 
kontrastiert dieser Traum trotz der identischen personlichen Note und 
vieler gleichsinniger Ziige in seiner Symbolik mit dem Traum des vorigen 
Versuchs, dessen ZeitmaB geeignet scbien, die Blicksperrung an der 
Interferenzstelle und das LosreiBen des Blicks in eine Traumbegebenheit 


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Experim. erregte Traurabilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 331 

gewissermaBen zu transponieren. Auch in der Analyse des Tra uma sind 
hier autobiographische Moments in der Oberschicht, reich durchsetzt 
mit infantilem Material aus der Waldheimat, der die Vp. entstammt; 
die Allegorie des Lebensweges liegt nahe genug; die Tiefen von phylo- 
genetischer Bedeutsamkeit 1 ), aus denen hervor sich die im peripheren 
Sehen empfangenen optischen Keime entwickeln, mogen in einer ahn- 
lichen Weise abgestimmt sein auf die Tiefen der mnemischen Schich- 
tung, aus denen eine versunkene, aber zur Entwicklung stets wunsch- 
bereite Umwelt der Kinderzeit emportaucht, die gegebene Gestaltung 
annimmt, ihr aber den Inhalt gibt 2 ). 

Man darf also auch hier sagen, daB die optisch-motorische Nachent- 
wicklung der Traumbegebenheit ihre Periode aufzwingt, wahrend diese 
vom Standpunkt der Analyse aus doch wie vollig dominierend erscheint. 
Im Zusammenhang damit kann man auch ftir diesen Versuch die Frage 
stellen, was bei seiner Anordnung besonders traumbildend war; traum- 
fahig sind im Prinzip wohl so ziemlich alle im indirekten Sehen emp¬ 
fangenen EindrGcke; betrachtet man aber die Faktoren, die unter den 
gewohnlichen Verhaltnissen des Trauma die Auswahl aus dieser Mannig- 
faltigkeit vollziehen, so werden sich unter ihnen neben den von Freud 
aufgedeckten analytischen Momenten auch innervatorische Einfllisse 
finden lassen, die der Versuch selber enthalt. 

Als den Haupttypus der traumgebenden Innervation im Wachzu- 
stand darf man wohl die gehemmte Intention beliebiger Art betrachten. 
Eine solche enthalt jeder der hier beschriebenen Versuche schon durch 
die Wirkung der tachistoskopischen Exposition allein; die Versuchs- 
anordnung hat nicht umsonst auf die Neugierde der Vp. als eine Trieb- 
feder spekuliert, die geeignet ist, die affektive Betonung dieser ge- 
hemmten Intention zu verstarken. So enthalten alle diese Versuche 
eine besondere Einstellung, die mindestens auf eine nicht geringe An- 
zahl von Vp. zu wirken vermag. Dieser Versuch verstarkt die Ein¬ 
stellung noch auf eine besondere Weise, indem er durch eine Variante, 
die er enthalt, durch seine perimetrische Anordnung die Tendenz zur 
Wiederherstellung der deckenden Situation des ersten Versuchs zugleich 
setzt und hemmt. 

*) Vgl. Hess 1. c. 

*) Verf. empfiehlt die Kombination der hier beschriebenen Versuchsanord- 
nung mit Messungen der Schlaftiefe zur Klarstellung der oft beachteten Beziehun¬ 
gen zwischen bestimmten Typen von Trauminhalten und bestimmten Stufen 
der Schlaftiefe, aus der heraus der Weckreiz das Erwachen bringt. Die Kom¬ 
bination ist geeignet, da ein auffallend grofier Anted an den positiven visuellen 
Traumreaktionen gerade Wecktraunie betraf; allerdings ist dann die Durehfiih- 
rung eines unwissentlichen Verfahrens bei den Bestimmungen der Schlaftiefe 
schwieriger als sonst. Vgl. dazu Pilcz, t)ber eine gewisse Gesetzm&Bigkeit in den 
Tr&umen. Wiener klin. Rundschau 1898, Nr. 32. 


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B32 


0. P5tzl: 


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Dies spiegelt sich im SchluB des Traumes ab: sie tritt in das Haus und setzt 
sich in eine Nische am Fenster. In einer Nische am Fenster saB sie beim ersten 
Vereuch; diesmal stand sie in der Mitte des Raumes. Der TraumschluB kom- 
plettiert die Nachentwicklung der Situation des ersten Versuchs und fiihrt zu 
einem Verzweigungspunkt zwischen beiden Versuchen; die Tendenz, eine fruhere 
Ausgangssituation zu reintegrieren, verstarkt wohl wesentlich jene intentionellen 
Wirkungen, deren es allem Anscheine nach zu den optischen Nachentwicklungen 
im Traum bedarf. 

Wieder ist mit dem TraumschluB zugleich die optische Entwicklung in einem 
Hauptmeridian, hier von links nach rechts, nahezu bis zur Bildgrenze vollendet; 
es ist, wie wenn der SchluB der Traumbegebenheit mit dem SchluB des nachgelie- 
ferten Aktes zusammenfiele. Doch erscheint das hier auf den ersten Blick strittig; 
der Wecker weckt die Vp.; sie ist argerlich und will weiter traumen. 

Es ware bequem, dies im Sinne des Versuchsmateriales so zu deuten, 
daB noch die unteren Bildstreifen der Exposition ihrer Entwicklung 
harren, und daB eine neue Begebenheit in einem neuen Traumstiick 
diese vielleicht gebracht hatte. Doch spricht weder empirisch in der 
weiteren Beobachtung der Vp., noch analytisch irgend etwas dafur. 
Schon der Umstand, daB, soweit die Selbstbeobachtung der Vp. reicht, 
der weckende Sinnesreiz hier nicht in das Traummaterial eingegangen 
zu sein scheint, laBt vielleicht vermuten, daB hier tatsachlich eine Art 
von AktschluB eingetreten ist, und daB die unbewuBten Vorgange, 
wenn auch gegen den bewuBten Willen der Vp., ihren naturlichen 
SchluBpunkt erreicht haben. Die Hauptrichtung des Wunsches, den 
die Traumanalyse ergibt, kann in der Veroffentlichung nicht ange- 
deutet werden; die Analyse macht hier eine Bremsungsstelle wahr- 
scheinlich, die mit einem jahen Erwachen in guter Ubereinstimmung 
ware. Dieses Verhalten ist geeignet, manches von dem zu illustrieren, 
was Freud’iiber die Wirksamkeit der Sinneseindrticke im Schlaf be- 
hauptet und gegen die einseitig sinnesphysiologischen Traumtheorien 
einwendet; es hat auch Beziehvmgen zu der allgemein bekannt Er- 
fahrung, daB es hochstens ganz selten gelingt, durch Einstellung des 
Willens auf das Weitertraumen einen unterbrochenen schonen Traum 
weiterzufuhren, wahrend doch die Aufeinanderfolge von Traumstucken 
ungemein haufig denselben latenten Traumgedanken von verschiedenen 
Seiten her zur bildlichen Darstellung bringt [Freud 1 )]. 

Die perimetrische Anordnung des Versuchs reduziert die Labora- 
toriumsbedingungen auf die Verhaltnisse des Alltags; sie ist geeignet, 
die Wirksamkeit des indirekten Sehens als Traumquelle zu demon- 
strieren; das Spiel der intentionellen Momente zeigt aber zugleich, was 
dieser Wirksamkeit auBerhalb von psychischen Storungen die gewohn- 
liche Grenze vorzuschreiben vermag. Fur sinnesphysiologisch wichtig 
halt Verf. den Umstand, daB die motorische Herkunft jener Momente 
ersichtlich ist, vmter deren Wirkung Nachentwicklungen von peripheren 

l ) Freud, Traumdeutung. S. 244ff. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 333 

optischen Eindrficken und gleichmafiig abgestimmten mnemisohen 
Elementen vor sich gehen. Die einschlagigen Untersuchungen an 
Agnostikem haben dem Verf. gezeigt, daB der Kitt, der den gleich- 
zeitig gegebenen Komplex der erfaBten Gestalt in homophoner Deckung 
von Originalerregung und mnemischen Wirkungen schafft, sich aus den 
virtuellen Blickbewegungen des Uberblicks zusammensetzt 1 ); hier sind 
es Keime von Blickbewegungen, die in ihrer Fortwirkung Sukzessionen 
optischer Gestalten aus einem dereinst gleichzeitig gegebenen Komplex 
in Intervallen von mannigfacher Dauer quantenweise zur Emission 
bringen*). 

4. Allgemeine Beziehungen und Eigenschaften der Beaktion. 

Im vorigen ist nur ein kleiner Teil der abgeschlossenen und illu- 
strierten Versuche mitgeteilt worden; die getroffene Auswahl hat nur 
den Zweck, die Besprechung der qualitativen Verhaltnisse der visuellen 
Traumreaktion nicht noch mehr auszudehnen, als es bei der Subtilitat 
der zu besprechenden Einzelheiten ohnehin geschehen mufite. Die be- 
schriebenen Versuche konnen als Typen dieser Reaktion bezeichnet 
werden, da die in ihnen ersichtlichen Verhaltnisse fast in jedem andem 
Versuch gleichmafiig wiedergekehrt sind. Die weiteren Versuche bringen 
noch einiges, was diese Ergebnisse erganzt; einige Versuche an gesunden 
Vp. ergaben manches fiber den zeitlichen Ablauf der Reaktion, ihr An- 
klingen, ihre Haufungsstelle und ihr Abklingen; andere Versuche haben 
festgestellt, warum hier eine untere Zeitgrenze ftir die Wirksamkeit 
der tachistoskopischen Exposition nicht ermittelt werden kann. Einige 
weitere Versuche zeigen, wie sich die Reaktion zur Untersuchung der 
Psychoneurosen heranziehen laBt; vor allem aber hat Verf. an seinen 
Fallen mit Herdlfisionen der engeren und weiteren Sehsphare die Reak¬ 
tion zur Untersttitzung der Restitution herangezogen, zum Teil mit 
Ergebnissen, die sich sinnesphysiologisch, gelegentlich tibrigens auch 
praktisch verwerten lassen. Es gelingt in solchen Fallen zuweilen, zu- 

*) Des Verf.s Falle von relativ isolierten Agnosien optischer Teilqualitaten 
zeigen dies; sie gruppieren sich von selbst nach Mittelwerten bestimmter Blick- 
lagen, deren Summation fiber sehr grofie Zeitintervalle zu nehmen ist. Aus diesem 
Prinzip heraus erklart sich auch der selektive Mechanismus der reinen Wortblind- 
heit, bei der die begleitenden Storungen des Uberblicks im allgemeinen zwar 
nicht fehlen (v. Monakow, Hirnpathologie), aber sehr geringffigig sind. Bei 
der Lissauerschen Seelenblindheit ist wieder die Lesestorung relativ gering¬ 
ffigig. — Gemeinsame Untersuchungen von Verf. und Wertheimer haben vor 
allem das allgemeine Prinzip des Gcschehens bei der optischen Agnosie ffir die 
reine Wortblindheit festgestellt, konform mit der Auffassung von Liepmann. 
Die Elektivit&t dieser Agnosie bedarf aber einer besonderen Erklarung; Verf. 
glaubt, sie geben zu konnen. 

*) Die mit der Planekschen Quantenhypothese konformen Ausdrucke sind 
absichtlich gewahlt. 


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334 


0. POtvd: 


meiflt allerdings erst nach langer ITbung, eine nach der Seite des Sko- 
toms abgelenkte fix verankerte Nachbildserie vom peripheren Sehen 
des erhaltenen Gesichtfeldes aus zu erzielen und die so erhaltenen 
Residuarwirkungen allmahlich der Restitution des Formensehens im 
relativen Skotom dienstbar zu machen. Freilich sind dazu ganz be- 
stimmte Bedingungen des Falles erforderlich, die hier in Kurze nicht 
besprochen werden konnen 1 ). 

Die Mitteilung uber diese mehr besonderen Beziehungen der Reaktion 
behalt sich Verf. fur das Weitere vor, ebenso die Besprechung ihrer 
Theorie, die weitgehend ausgearbeitet werden konnte, da die Reaktion 
zwar eine groBe Mannigfaltigkeit der Erscheinungen setzt, aber in ibrem 
Geschehen einfach genug ist, um unter gewissen beschrankenden, im 
Versuch durchaus realisierbaren Bedingungen einer mathematischen 
Behandlung zuganglich zu sein; diese will mehr enthalten, als Gleich- 
nisse, wahrend von Interpolationen selbstverstandlich bei der Art 
der Reaktion keine Rede sein kann. Im folgenden soli aber nur 
einiges herausgehoben werden, was Verf. fur die qualitative Cha- 
rakterisierung der Reaktion fur wesentlich halt. Vielleicht ist eine 
Epikrise des darstellenden Verfahrens geeignet, die Besprechung ein- 
zuleiten. 

Allerdings sind in den hier ausgewahlten Illustrationen nicht alle- 
Anwendungen zum Ausdruck gekommen, die naheliegend und leicht- 
durchffihrbar waren; die Art, wie sich Unterexpositionen hier verwenden 
lassen, die Wirkung des Kontakts zwischen Negativ und Positiv, end- 
hch die Moglichkeit, Verdichtungen herzustellen, werden erst in der 
Darstellung der spateren Versuche ersichtlich werden; ebenso wird die 
GesetzmaBigkeit der Beziehungen zwischen den optischen Effekten in 
der Grundierung des Traumbilds und zwischen den Rfickbildungs- 
phasen der cerebralen Blindheit sich auch weiter im einzelnen ergeben. 
Immerhin aber kann eine Epikrise des Verfahrens behaupten, daB die 
im Eingang des vorigen Abschnittes gemachten Voraussetzungen sich 
realisieren lieBen, indem jeder angewendete Kunstgriff sein leicht er- 
kennbares Aquivalent in dem darzustellenden physiologischen Vorgang' 
hat. Wenn z. B. hier mit Deckfarbe abgedeckt worden ist, so stellt 
das nur die konstante exklusive Beziehung dar, die an die Stelle der 
bereits gestaltlich entwickelten Gruppen entweder die Vision nulle oder 
eine der Phasen des oszillierenden Stadiums wahrend der Nachwirkung 
einer Originalerregung setzt; wenn die Bilder der Traumvisionen schich- 

J ) Verf. erhielt in einem Fall bei weiter fortgesetzter Cbungsbehandlung 
auch bei Summation tachistoskopischer Reize auf die Partie der relativ hemi- 
anopischen Skotome (rechtsseitig) ein nach links, auf die intakteSeite des Ge- 
sichtsfelds konstant abgelenktes positives Nachbild. In den Interferenzversuchen 
ergaben sich auf diese Weise nicht selten Spiegelverlagerungen. 


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Experim. erregte Jraumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 335 

tenweise auf einander gelegt, dtirch die Uberdeckung der Grundierung und 
der entwickelten Formen wieder annahemd das Gesamtbild der Original - 
erregung ergeben, so ist das nur der Ausdruck dafiir, daB eine durch 
unregelmaBige Intervalle getrennte Sukzession von optischen Nachwir- 
kungen dasjenige in getrennten Quanten von Teileindriicken entwickelt 
hat, was beim Erfassungsakt gleichzeitig und verschmolzen durch einen 
Kitt von virtuellen Blickbewegungen psychisch gegeben ist. Wurden 
nachtragliche Oberlichtungen angewendet, so ist dies in guter tTberein- 
stimmung mit den oszillierenden Phasen der Nachbildserien und mit 
der Rolle, die Wundt dem Lichtchaos des von der AuBenwelt abge- 
sperrten Gesichtfeldes fur die Formierung der Traumbilder zuschreibt. 
Endhch rechtfertigen sich die angewendeten VergroBerungen und Ver- 
kleinerungen nicht allein durch das Bestreben, einen Trauminhalt so 
darzustellen, wie er in den Eigenberichten der Vp. zura Ausdruck kommt; 
hier, wo die erregende Wirkung objektiv im Versuch selbst gegeben ist, 
wird fiir den Vorgang im Traum selbst ein vergroBemder oder verklei- 
nemder ProzeB nachgewiesen; es lieB sich dadurch veranschaulichen, 
wie die Sperre der Impulse im Schlafzustand, die von jeher mit der 
sinnlichen Lebhaftigkeit der Traumbilder und mit ihrer VergroBerung 
und Verkleinerung in Zusaramenhang gebracht worden ist, gerade auf 
die Keime von Impulsen zur Blickbewegung wirkt; die Annahme von 
sogenannten Blickbewegungsinnervationen hat in gewissen Theorien 
liber das Sehen von Raum und Bewegung eine groBe Rolle gespielt, 
ohne daB man sich unter ihnen eigentlich etwas konkret FaBbares vor- 
stellen konnte. In diesen Versuchen zeigt sich, da^ man diese Keime 
von Blickbewegungsimpulsen sichtbar und der Beobachtung zugang- 
lich machen kann, etwa wie die Molionen durch Nebelbildung, vergleich- 
bar der Art, wie das virtuell gegebene Kontinuum des Gesichtsfeldes 
im Flimmerskotom gewissermaBen ausgefallt wird. Es zeigt sich zu- 
gleich, wie Raumsperre und Zeitsperre hier gewissermaBen aufeinander 
abgestimmt sind, so daB der Durchbruch aus den Tiefen der Vergangen- 
heit mit dem Durchbruch des gebremsten Impulses der Gegenwart wie 
gleichsinnig und einigermaBen vergleichbar wird. Die infantile Re¬ 
gression der Traumerlebnisse, die Freud aufgedeckt hat, verbindet 
sich so gegebenenfalls auch mit einer optisch-motorisch erklarbaren 
Regression friiher erschauter Dimensionen ; sie erscheint wie eine 
raumzeitliche Transformation, die zu einer psychischen Seite des 
Relativitatstheorems der mathematischen Physik hinzufuhren geeig- 
net ist. 

Die Anwendbarkeit der Versuchsergebnisse kann an einem beliebig 
herausgegriffenen, noch kontroversen Problem der Traumsymptomato- 
logie gepriift werden. Als Beispiel dafiir mag etwa jene GesetzmaBig- 
keit im Traumen gewahlt werden, die Pilcz behauptet hat und die von 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVH. 22 


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336 


O. Pfltal: 


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anderen Seiten bestritten worden ist 1 ). Wenn Pilcz, nach den Erfah- 
rungen des Verf. ftir den vorwiegenden Typus mit Recht, behauptet. 
daB Trauravisionen, deren Gegenstand ganz entlegene Erinnerungs- 
bilder sind, zumeist im tiefen Schlaf auftreten, so ist das mit den Er- 
gebnissen der hier beschriebenen Versuche insofem in vollem Einklang, 
als die Tiefe des Schlafs ei ner der Faktoren ist, die den Grad der moto- 
rischen Traumsperre zu erhohen vermogen; ein zweiter Faktor ist dit 
Fre ud sche Verdrangung, ein dritter die Art des gesetzten Innervations- 
keims. Diese und andere Faktoren werden beliebig zusammenwirkcn 
konnen; die Versuche zeigen aber, daB sich wenigstens zuweilen eine 
Art von Resonanz zwischen ihnen einstellt. Wenn Pilcz angibt, daB 
sich in seinen Selbstversuchen klare Tagesreste der jungsten Zeit erst 
mit dem Leiserwerden des Schlafs gemeldet haben, so ist damit im Ein¬ 
klang, daB ein Optimum der tachistoskopischen Traumreaktion in den 
meisten Fallen ftir die Morgentraume ersichtlich war. Dagegen schran- 
ken die Versuchsergebnisse die Behauptung, daB jeder neue Eindruck 
[,.sei er noch so eingreifend" 2 )] im allgemeinen ganz auffallend 
lange Zeit braucht, urn auch im Traumleben aufzutauchen, auf die 
wachbewuBt voll erfaBten Eindrticke ein, die erst abblassen miissen. 
um auf dem Wege der zeitlichen Umwandlungen in der Mnerae jene 
Eigenschaften zu gewinnen, die fiir die vorbewuBt erfaBten Tagesein- 
drucke sofort gegeben sind; in dieser Einschrankung aber bewahrt sich 
die Behauptung auch gut in der Erfahrung; sie bestatigt sich z. B. 
immer wieder in den Traumen der Angehorigen nach dem Tod eines 
geliebten Familienmitglieds. Auch schrankt sich die Behauptung auf 
die visuelle, uberhaupt auf die sinnliche Gestaltung der Traumeindrucke 
ein, wahrend die Freudsche Traumanalyse in glanzvoller Weise ge- 
zeigt hat, daB so gut wie jeder Traum einen rezenten Tagesrest 
mindestens latent in sich enthalt. Dies bestatigen naturlich auch die 
hier beschriebenen Versuche; auf diese Weise aber verifizieren sie zwei 
im Wesen richtige, dem ersten Anschein nach einander widersprechende 
Behauptungen durch den Nachweis eines allgemeinen Prinzips, das sie 
miteinander in Einklang bringt. 

Pilcz bringt in Cbereinstimmung mit einer Behauptung von 
Lasegue ein Bespiel ftir die Beobachtmig, daB Paranoiker im all¬ 
gemeinen nicht von ihren Wahnideen und Halluzinationen traumen. 
und bezieht dies auf die friiher besprochene These. Das von Pilcz 
wiedergegebene Zitat von Lasegue enthalt den Hinweis, daB es „son 
delire diume“ ist, von dem der Geisteskranke nicht erst traumen muB. 
da er es schon hat; Lasegue gebraucht den Vergleich mit dem Sistieren 
der choreatischen Unruhe im Schlaf, die sich auch nach den neueren 

*) 1. c. 

-) Vom Verf. gesperrt gedrackt. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihren Beziehungen /.urn iudirekten Sehen. I. 337 


Theorien (ler Chorea 1 ) leicht dahin auffassen lafit, daB bei der Chorea 
eine Dampfung aufgehoben ist, die sonst den keimenden Impuls von dem 
sofortigen Umsatz in Bewegung absperrt. Bleuler widerspricht der 
Behauptung von Pilcz auf Grand der Erfahnmgen an Schizophrenen, 
die auf der Zuricher KJinik und anderwarts gemacht worden sind 2 ); 
in der Tat findet sich oft genug z. B. bei der Magnanschen Paranoia, 
daB die ersten Keirae der GroBenideen den Kranken in phantastischen, 
bedeutiingsvollen Traumen sich anmelden; die Kranken schreiben 
solchen Traumen jene prophetische Gabe im verstarkten MaB zu, die 
das VolksbewuBtsein dem Traum seit jeher beigelegt hat. Es ist im 
Zusammenhang damit zu beachten, daB das Beispiel von Pilcz Ver- 
folgungsideen und physikalische Wahnideen samt den dazu gehorenden 
Halluzinationen betrifft. Man erinnere sich an die bekannte Grand - 
eigenschaft des paranoischen Beziehungswahns; er liiBt immer gerade 
das in das Weltbild eindringen, was in der Peripherie des BewuBtseins 
gegeben ist, die Eindriicke, die im Vorbeigehen aus dem undeutlichen 
Gesprach der Umgebung, aus Blicken, Mienen und Gesten, aus kaum 
verstandlichen vieldeutigen Textstellen usw. sich aufdrangen; dann 
wird man vielleicht finden, daB tier alte Name Verriicktheit fur die6e 
Erkrankung der beste ist, da hier gerade das ins BewuBtsein eindringt, 
was im indirekten Sehen und Horen auch vom Gesunden vorbewuBt auf- 
genommen, aber durch Abstraktion unterdriickt wird, wahrend die 
Erfassung der dominierenden Eindriicke des Weltbilds mehr und mehr 
leidet. Nun laBt sich einfach das Exklusionsgesetz anwenden, dessen 
strenge Giiltigkeit die hier beschriebenen Versuche illustrieren; was im 
Wachen gestaltlich entwickelt worden ist, gleichgiiltig, ob es zur Zeit 
der Originalerregung voIlbewuBt otler vorbewuBt war, bleibt von der 
Traum entwicklung ausgespart, mithin gerade das aktuelle Delirium 
des Tags, nicht aber jeder Komplex von Wahninhalten. Die bekann- 
testen klinischen Erfahrungen zeigen, wie friih sich haufig schon bei 
der Magnanschen Paranoia Keime der zukunftigen GroBenideen 
nachweisen lassen, die im Wachen noch in ihrer Entfaltung geheramt 
sind; sie offenbaren sich haufig zuerst in den Stimmen, nicht selten zu- 
erst in den Traumen; das letztere erscheint dann nur wie ein besonderes 
Beispiel einer gehemmten Intention, die in den Traumen nachent- 
wickelt wird, genau wie die bisher beschriebenen Versuche die traum- 
erregende Kraft der gehemmten Intention im allgemeinen zeigen. 
Selbst die Affektskala bei der Hemmung und beim Durchbruch vorbe- 

*) Neben der klassischen Bonhoefferschen Theorie ist hier besonders auf 
die Auffassung von v. Econo mo aufmerksam zu machen. v. Economo, 
Wiener klin. Wochenschr. 1910, Nr. 12. 

*) Bleuler, Schizophrenic. Handbuch der Psychiatric. iSpez. Tcil, 4. Abt., 
1. Hfilfte. S. 357. Leipzig u. Wien 1911. 

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0. Petzl: 


wuBter psychischer Phanomene im allgemeinen scheint jenen Ent* 
wicklungsgang abzubilden, den die Grundstimmungen der Transfor¬ 
mation bei der Magnanschen Paranoia teils nacheinander, teils neben- 
einander bringen. Damit ist wiederumder Giiltigkeitsbereich der Pilcz- 
Lasegueschen Beobachtung mit der Erfahrung im Einklang festge- 
stellt; der Widerspruch der Bleulerschen Erfahrungen ist zugleich 
anerkannt und weggeschafft. Es zeigt sich auch, wie die in diesen Ver- 
suchen gewonnenen Erfahrungen auf das Gebiet der Schizophrenic an- 
gewendet werden konnen 1 ), wo sie eine ahnliche Briicke zwisohen 
den Anschauimgen Freuds und Bleulers, den Dissoziationstheorien 
Stranskvs 2 ) und der Berzeschen Theorie von der Apperzeptions- 
storung bilden, wie zwischen der Freudschen Traumtheorie und den 
sinnesphysiologischen Theorien des Traumes. 

Pilcz bezieht die GesetzmaBigkeit im Traumen, die er bespricht, 
auf das partieUe Wachen und Schlafen der Rindenelemente, t^on deneu 
die tagsliber am meisten in Anspruch genommenen im ruhigen Schlaf 
im ehesten auBer Funktion gesetzt werden mogen; er weist besonders 
auf die Analogie mit der Storung der Erinnerung fur die jiingste Ver- 
gangenheit hin, die den Korsakowschen Typus der Gedachtnisstorung, 
z. B. bei der einfachen senilen Denienz ausmacht. Diese Analogie ist 
ohne Zweifel sehr bemerkenswert und trifft auch einen verwandten 
Punkt in den Ergebnissen der hier beschriebenen Versuche. Bei den 
presbyophrenen Storungen wird ja die Erfassung der jiingsten Ein- 
driicke, wenigstens nach dem Urteil, das die gewohnliche Beobachtung 
vermittelt, immcr fluchtiger: die hier beschriebenen Versuche ergeben 
die Fluchtigkeit der Erfassung als das erregende Moment, das die 
reichen infantilen Quellen der Traumwelt eroffnet; wie diese in die Ver¬ 
suche hineinzuspielen vermogen, werden Beispiele aus den spateren 
Versuchsserien zeigen. Ubrigens ist die Gedachtnisstorung der Pres- 
byophrenie nur die krankhafte Karikatur eines allgemeinen physio- 
logischen Verhaltens; die fortwirkende mnemische Kraft der Original- 
erregungen ist schon zu einer Lebenszeit gesunken, in der die Erfassung 
erst ihre voile Hohe und optimale Promptheit erreicht : auch hier zeigt 
sich ein Gegensatz zwischen mnemischer Nachwirkung und Erfassung, 
wie er in diesen Versuchen zu einem extremen Ausdruck kommt. 

Nur heben sich aus dieser Analogie die hineingezogenen Rinden- 

l ) Vgl. die Spaltung des Komplexes in Versucli 3. Besonders ist an die 
Parallelen zu erinnem, die Bleuler zwischen Traum und schizophrener Wahn* 
bildung aufstellt. Schizophrenic S. 356 u. 357. 

*) Stransky, Zur Kenntnis gewisser erworbener Blodsinnsformen. Jahr- 
biicher f. Psychiatrie 1903. — Stransky, t)bcr Sprachverwirrthcit. Halle 1905; 
und die weiteren einschlagigen Arbeiten Stranskys, namentlich: Schizophrenie 
und intrapsychische Ataxie. Jahrbiicher f. Psychiatrie 36 . 458ff. 1917. (Wagner- 
Festechrift.) 


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Experim. erregte Traumbiider in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 339 


elements gewissermaBen wieder heraus. Die anatomisierende Tendenz 
hat zuweilen die Sehichtung der mnemisehen Formationen mit den 
Rindenschichten in eine gewisse Beziehung bringen wollen; das Bei- 
spiel der progressiven Paralyse wurde hier vielfaeh angewendet, in deni 
der v. Wagnersche Atzreflex und die Ruckkehr in die Embryonal- 
stellung deutlich genug zu zeigen scheinen, daB die tiefsten Schichten 
der mnemisehen Formationen relativ am langsten resistent bleiben, 
analog wie bei der typischen Verteilung der Rindendestruktion sich 
vielleicht gerade gewisse Rindenschichten als relativ mehr verschont 
erweisen. Man hat das immer wieder beniitzen wollen, uni bestimmte 
Gruppen von Erinnerungsbildern oder von Engrammen, oder wie man 
es sonst nennen mag, in bestimmte Gruppen von Rindenformationen 
hineinbannen zu wollen 1 ). Halt man sich innerhalb der Grenzen dessen, 
was sich exakt ermitteln laBt, so sind es nur Zustande von Gesamt- 
innervation, die sich hier beobachten lassen; es sind Automatismen 
aus ahnlichen innervatorischen Gesamtsituationen, die mit ihnen wieder 
erscheinen; die Erinnerungsbilder illusionieren wir dazu, in die Rinden- 
zellen hinein; nachweisen konnen wir sie nicht. Wir konnen hochstens 
sagen, daB vergleichbare innervatorische Bedingungen vergleichbare 
Reaktionen auf die Erregung von der Umwelt aus schaffeft, daB also eine 
gleiche innere Situation innerhalb gewisser Grenzen die Tendenz hat, 
Reaktionen auf die AuBenwelt zu reintegrieren, ob nun die Bedingungen, 
die die AuBenwelt gibt, identisch sind oder nicht. Diese Analogic mit 
phylogenetisch und ontogenetisch vergangenen Gesamtsituationen ist 
im gewahlten Beispiel nicht nur durch die weiter gediehene Zerstorung 
bestimmter Rindenformationen gegeben, sondem auch durch die nach- 
weisbare, wenn auch nicht so weit gehende Erkrankung der iibrigen; 
man konnte ebensogut annehmen, daB diese Erkrankung eine Regression 
im Sinne der Strickerschen Entzundungslehre bewirkt und damit 
die Bedingungen zur Ruckkehr einer inneren Gesamtsituation v r ervoll- 
standigt. Es laBt sich, wie bei der Beurteilung aller herdformigen Him- 
zerstorungen, zwar nachweisen, daB das Fehlen bestimmter Formationen 
bei einem GesamtprozeB ahnliche Folgen hat, wie der Zustand ihrer 
noch nicht vorhandenen Reife; in diesem Simie hat z. B. Wagner v. 
Jauregg auf den choreiformen Charakter der Bewegungen beim Kind 
im ersten Lebensjahr hingewiesen; man kann aber daraus noch nicht 
schlieBen, daB dieser GesamtprozeB an lokalisierte getrennte Terri- 
torien wie die Driisensekret ion an Driisenzellen gebunden ist; die 
letztere Analogic wire! schon durch den groBen biologischen Gegen- 

’) DaB in solchcn Fallen der Engrammbcgriff nicht im Sinne Scraons ge- 
handhabt wird, istoffenkundig. Verf. gebraucht hierselbst sehr haufig die Scmon- 
«chc Benennungsweise, bemiiht sich aber. in ihrer Verwendung mit Semon im 
Einklang zu bleiben. 


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0. Potzl: 


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satz zwischen Driisenzelle unci Nervenzelle mehr als unwahrscheinlich 
gemacht 1 ). 

Was sich unmittelbar ablesen laBt, ist nur die Tendenz zu einem 
Reintegrieren fruherer Gesaintsituationen in Reaktionen. Gerade diese 
Tendenz zur Reintegration kommt auch in den Ergebnissen der hier 
beschriebenen Versuche sehr deutlich zuni Ausdruck: die Bilder, schicht- 
weise iibereinander gelegt, reintegrieren das exponierte Bild, die Trauui- 
erzahlung reintegriert das ubrige von der friiheren deckenden Gesamt- 
situation. Hier sind es tatsachlieh Erinnerungsbilder, die sich nach* 
weisen lassen; aber sie sind Erinnerungen an etwas. das nie bewufit 
erlebt worden ist, wie die Nachwirkungen fliichtiger Lichtreize, also 
Bilder der Mneme. Freud hat nun die Bedeutung der Embryonal- 
stellung als nattirlicher Ruhestellung des Schlafenden hervorgehoben 
und als Regression in seinem Sinne aufgefaBt : ihre Ahnlichkeit mit der 
Embryonalstellung der terminalen Demenz ist ohne Kommentar so- 
fort zu ersehen; wemi nun gewisse Traumbilder nach Freud in ver- 
steckter Symbolik eine Tendenz zur Reintegration der inneren Situa- 
tionen dieser vergangenen innervatorischen Einstellungen verraten, 
so ist das enipirisch wohl mindestens ebensogut begriindet, wie die Be- 
ziehung des Paralytikerbeispiels auf die Rindenzellen. Die hier be¬ 
schriebenen Versuche zeigen nun wenigstens andeutungsweise fur ein 
bestimmtes Beispiel. was diese Schichten, deren Deckung die Situation 
reintegriert, bedeutcn mogen; jede Schicht, die fur sich wie eine Flor- 
hulle ersqheint, liiarkiert einen irgendwie charakterisierten Abschnitt 
des oszillierenden Hin und Her in der Nachphase einer fluchtigen Er- 
regung; der Rhythmus dieser oszillierenden Nachphase hat von jeher 
den Vergleich mit den Pendelschwingungen nach einem AnstoB nahe- 
gelegt; so mogen diese Phasen leicht mit der Bewegung des Pendels 
im widerstehenden Mittel und ihren verschiedenen Bedingungen ver- 
glichen werden konnen 2 ); moglicherweise wird auch dieser bekannte 
Vergleich weitere Anhaltspunkte fur die Klarstellung ihrer Eigen- 
schaften ergeben; jedenfalls erfahrt man von diesen Eigenschaften 
nichts, wenn man sie als eine irgendwie hergestellte Leistmig von Rinden- 
zellengnippen oder sonstigen nervosen Elementen betrachtet und bei 
dieser Betrachtung stehenbleibt. 

Auch fiir die Beziehung zwischen der Schichtung der mneniischeu 
Formationen und der Schichtung der Architektur in der GroBhirnrinde 

1 ) Verf. meint, duB Ausdriicke. wie Wahrnehmungs- und Erinneruneszentreiu 
VVahrnehniungs- und Erinner u ngs/.el 1 en so lange aus der Literatur verschwinden 
sollten, als ihnen nichts Exaktes cntspricht, vielleicht also fiir iminer. 

2 ) Vgl. Verf.: Cbcr optische Hemmungserscheinungen 1. c. 1915. — P. Hertz. 

Statistische Medianik. Rc|)ertorium der Physik. Bd. 1, 2. Teil, S. Leipzig- 

Uerlin 191 <>. 


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Experim. erregte Traumhilder in ihren Beziehungcn zum indirekten Sehen. I. 341 

mag am ehesten das gelten, was im Eingang der Besprechung des dar- 
stellenden Verfahrens liber die Anwendung der photographischen Me- 
thoden bei der Impregnation der Neurofibrillen einerseits, der Illu¬ 
stration tachistoskopischer Impressionen andererseits bemerkt worden 
ist; das eine erscheint wie ein Gleichnis des anderen, wie etwa eine 
komplexe Funktion auf zwei verschiedene Zahlenebenen unter den not- 
wendigen und hinreichenden Bedingungen sich abbilden laBt, ohne 
daB jemand behaupten wird, die eine Abbildung sei die alleinige Ur- 
sache der anderen. Hier liegt deni ersten Anscheine nach ein Zustands- 
raum von mindestens vier Dimensionen vor, dessen Mannigfaltigkeit 
nach der einen Art in einem eindimensionalen Bereich, nach der ande¬ 
ren Art im dreidimensionalen Raum sich abbildet; dafiir sprechen 
die hier gegebenen raumzeitlichen Transformationen, die sofort eine 
Beziehung zu den einfachsten Grundeigenschaften der Wellenbewegung 
und damit zu den periodischen Funktionen ergeben. 

Die Anwendung der Reaktion auf ein willklirlich herausgegriffenes 
Beispiel, hat also im wesentlichen Beziehungen und Brucken zu be- 
reits vorliegenden, aber scheinbar heterogenen Auffassungen gebracht 
und gezeigt, daB diese nur so lange heterogen erscheinen, als sie von- 
einander keine Notiz nehmen und sich gegenseitig negieren; das letztere 
trifft bei der psvchoanalytischen Richtung vielleicht am wenigsten zu; 
sie ist bisher von ihren Gegnem unter den Experimentalpsychologen und 
Klinikem obne Nachpriifung abgelehnt worden, wahrend Freud, soviel 
dem Verf. bekannt ist, die Forschungsergebnisse dieser Gegner niemals 
negiert, sondem nur die Verschiedenheit ihrer Methodik und Ziele betont 
hat. Dagegen ist von seiten der Experimentalpsychologen der Psycho¬ 
analyse oft der Vorwurf gemacht worden, daB sie, abgesehen etwa von den 
Jungsehen Assoziationsversuchen und von den Schroderschen Traum- 
experimenten zu wenig vom exakten Versuch Gebrauch macht; gegen 
die Schroderschen Traumversuche hat Verf. das Bedenken, daB sie 
die Komplikation der Hypnose und damit der Suggestion einfiihren; 
es war dem Verf. darum zu tun, geradg diesen Faktor aus den Versuchs- 
bedingungen auszuschalten; daB dies hier ebenso leicht gelingt, wie es 
gelingt, die Falschung einer Apliasikeruntersuchung durch unwillkiir- 
liche Gesten und durch das Ablesenlassen vom Mund zu vermeiden, 
davon kann sich jeder uberzeugen, der sich die Muhe nimmt, die Ver- 
suchsanordnung nachzuprufen; tibrigens miissen die Ergebnisse schon 
an sich, einer vorurteilslosen genaueren Betrachtung zeigen, daB sie 
auf dem Wege der Eigensuggestion und Fremdsuggestion in ihrer be- 
sonderen, hier dargestellten Gestaltung uberhaupt nicht zustande 
kommen konnen. Verf. glaubt, fiir das Traumexperiment hier einen 
ahnlichen Gedanken durchgefiihrt zu haben, wie er vor zwanzig Jahren 
Freud geleitet hat. der bei der Erforschung der psychischen Zusammen- 


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0. POtzl: 


hange in den Psychoneurosen gerade Hypnose und Suggestion ausge- 
schaltet hat. 

Es bleibt etwa noch der Einwand, daB die hier dargestellten Be- 
ziehungen zwischen Traumvision und Originalerregung nur eine Hau- 
fung von Zufalligkeiten darstellen. Sollte dieser Einwand gemacht 
werden, so verweist Verf. auf das Jeu du Treize und auf das Problem 
von Moivre, sowie auf die Rechming, die Laplace im AnschluB daran 
durchgeftihrt hat; sollte es jemandem gelingen, ftir die hier gegebenen 
Verhaltnisse einen ahnlichen Ansatz durchzuftihren und ergibt dieser 
fur die Wahrscheinlichkeit finer geometrisch treuen Deckung einen 
groBeren Zahlenausdruck als 10~ 8 , so wird dieser Einwand vielleicht 
zu erwagen sein, bis dahin glaubt Verf., ihn als nicht fundiert vemach- 
lassigen zu diirfen. 

Verf. betrachtet die Ergebnisse seiner Versuche also als experimen- 
telle Illustrationen der Freudschen Traumanalyse und als geeignet, 
diese auch den Experimentalpsychologen und ihrer Richtung naher zu 
bringen. Es ist nun die Frage, was die Methode ftir die Psychoanalyse 
selbst zu bedeuten hat; denn nach der Auffassung des Verf. hat es 
dieses Traumbilderbuchs nicht bedurft, um die empirische Gtiltigkeit 
der wichtigsten behaupteten Tatsachen der Freudschen Traumanalyse 
erst zu erweisen. Verf. glaubt aber trotzdem, daB seine Ergebnisse 
auch ftir die Traumanalyse nicht unwichtig sind, da sie die in ihr gel- 
tenden Gesetze auch auf das sinnlich gegebene Traummaterial und auf 
cine allgemeine Mechanik einfacherer Innervationen ausdehnen; sie 
bieten der Analyse die erwtinschte Briicke zur Sinnespsychologie und 
zur Physiologie des Nervensystems. Wenn die Versuche nun die Wunsch- 
erftillung der Freudschen Traumtheorie auf den allgemeinen Typus 
der Reintegrationstendenz eines gehemmten Aktes verallgeineinem, so 
tritt doch gerade in dem Sinn dieser sinnesphysiologiseh gegebenen 
Traumgestaltungen die Bedeutung und die Kraft der Freudschen aus- 
wiihlenden Faktoren voll hervor. 

Die ursprtingliche Absicht des Verf. ging aber nicht dahin, unit 
diesen Versuchen einen experimentellen Nachweis der Freudschen 
Traumanalyse zu erbringen, d. h. etwas zu beweisen, was nach der An- 
schauung des Verf. langst bewiesen ist; es hat sich das nur von selbst 
ergeben, derart, daB Verf. daran nicht hatte vorbeigehen konnen, noch 
dazu in einer Reichhaltigkeit, die dem Verf. die wissenschaftliche 
Pflicht aufgenotigt hat, diesen Punkt in voller Ausftihrlichkeit zu wtir- 
digen. Entstanden sind diese Versuche aus Erwagungen himpatholo- 
gischer Verhaltnisse; durchgeftihrt hat sie Verf. in engem AnschluB an 
Probleme, die ihm die Reedukation der cerebralen Sehstbrungen gestellt 
hat. Ftir das Arbeitsgebiet des Verf. ist die sinnesphysiologische Seite 
der Versuche daher die wichtigere; es wird deshalb im weiteren die 


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Experiin. crregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 343 

Frage zu behandeln sein, inwiefem die Versuche an bereits langst be- 
kannte Tatsachen der Sinnesphysiologie sich von selbst angliedem, in¬ 
wiefem sie iiber diese hinaus etwas Neues bringen. 

Bereits im einleitenden Abschnitt ist hervorgehoben worden, daft 
die Gmndtatsachen, auf denen die Versuche fuften, durchwegs altbe- 
kannte sind, aus dem weitgetriebenen Studium der Effekte fliichtiger 
optischer Reize sowohl, wie aus den Erfahrungen iiber die Nachbilder 1 ). 
Die Helmholtzsche Tatsache, daft die positiveil Nachbilder optische 
Gestaltungen entwickeln, die bei der Originalerregung nicht vollbewuftt 
erfaBt worden sind, ist der notwendige Ausgangspunkt fur den ganzen 
Versuch. Von ihr aus fiihrt iiber die seit Purkinje bekannten hypna- 
gogen Entwicklungen vorbewuBt eingedrungener optischer Situationen 
ein bequemer Weg zu den Erscheinungen hinuber, die als phantastische 
Gesichtstauschungen (Johannes Muller) bekannt und wohl studiert 
sind und die bereits Lionardo da Vinci und Goethe in ihrer Bedeu- 
tung erfaBt haben. Die optischen Nachentwicklungen vorbewuBt auf- 
genommener Eindriicke in subjektiven Anschauungsbildern spielen in 
den zahlreichen bedeutsamen Versuchen von Urbantschitsch 2 ) eine 
groBe Rolle, ebenso die katalytische Wirkung anderer konstellierender 
Faktoren, deren Betrachtung Urbantschitsch nur im Sinne seiner 
Fragestellung auf die gegenseitige Forderung der verschiedenen Sinnes- 
gebiete einschrankt ; ebenso zeigen sich in den Versuchen von Urban- 
tschitsch bereits die erheblichen Verspatungen dieser Nachentwick- 
lung und ihr periodischer Rhythmus, der an den Nachbildrhythmus 
gemahnt. Verf. hat auch in den einzelnen Versuchen iiber experimen- 
telle Halluzinationen (1913) die moisten der von Urbantschitsch ge- 
schiiderten Auslassungen, Verlagerungen, Zerspaltungen in Teileindriicke 
Unikehrungen im Anschauungsbild usw. wieder gefunden; Verf. ist nur 
der Meinung, daB die von ihm beniitzte Technik geeignet ist, die Haupt- 
ergebnisse von Urbantschitsch unter gtinstigeren, vom etwaigen 
Vorvvurf subjektiver Beimengungen der Vp. freieren Bedingimgen nach- 
zupriifen und zu bestatigen 3 ). Die verspiiteten nachtraglichen Einfalle, 
die Anmeldung des vorbewuBt ErfaBten in Assoziationen von groBer 
Vieldeutigkeit, die Zersttickung und partielle Aussparung der Exposi¬ 
tion, die Verlagerungen usw. sind aus den tachistoskopischen Versuchen 
vieler Autoren wohl bekannt; dies hat dem Verf. seinerzeit dazu gedient, 
die Identitat der agnostischen und der tachistoskopischen Fehlertypen 
nachzuweisen 4 ): die Ergebnisse von Urbantschitsch stellen die prin- 

») 1. c. 

2 ) Urbantschit Hch, Vbvr subjektive optische Ansehauungsbilder. Wien, 
Denticke. — t)ber mbjektive H6n‘rHcheinungen usw. Ebc’nda 1908. 

3 ) Vgl. dazu Seraun. Die mnemischen Empfindungen. Leipzig 1909. S. 80. 

4 ) Vgl. das zitierte Autoreferat iib<T expt‘rimentelle Halluzinationen. 1913. 


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< >. I*t»tzl: 


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zipieli gleichen Vorgange fur die Erfassung vom Horen aus fest. End- 
lich hat, unabhangig von den Versuchen des Verf. iiber experimentelle 
tachistoskopisch bedingte Halluzinationen, Poppelreuter die tachi- 
stoskopische Methode angewendet, win zu zeigen, wie das simultan ge 
gegebene Anschauungserlebnis sich in psychisch gegebene Sukzessionen 
umwandelt 1 ). 

Trotzdem glaubt Verf. behaupten zu diirfen. dali das Gesamtbild 
dieser Versuche in Anordnung und Ergebnissen neuartig ist, daB nicht 
nur das Hineinspielen dieser Prozesse in den Trauiii diese Neuartigkeit 
bedingt und daB die Versuche geeignet sind. vieles von der bekannten 
Tragheit, mit der gerade die optische Sinnessphare reagiert. auf pine 
eigentumliche Weise zu erklaren, die von der schematischen Aufstellung 
konstruierter psychischer Elemente wie der einfachen Empfindungen 
usw. weg zur Aktualpsychologie flihrt. Die Art, wie hier die tragen 
Wellen des Nachbildvorgangs in weiten unregelmaBigen Intervallen in 
die BewuBtseinszustande bei Sehwankungen der Schlaftiefe hinein¬ 
spielen, bringt die Wundtsche sinnesphysiologische Theorie des Trau- 
mes in Zusammenhang mit den im frtiheren aufgezahlten Ergebnissen 
der tachistoskopischen Methoden: hier ordnen sich die Versuche des 
Verf. auch in die Reihe jener Ergebnisse erganzend ein, die, wie die 
Versuchsreihen von Maury, Weygandt, Mourly Void 2 ) usw.. 
hauptsachlich sich rait deni Durchbrueh jener En*egungen dureh die 
Schlafsjierre befassen, die wahrend des Schlafs selber Avirken. Split or 
mitzuteilende Versuche werden die gegenseitige Katalvse und Abstim- 
mung solcher aktueller Erregungen mit den mnemischen Erregungen 
wahrend des Schlafes illustrieren kdnnen. Auch hier sind die Ergeb¬ 
nisse dieser Reaktion ein Bindeglied zwischen den einzelnen verschiede- 
nen sinnesphysiologischen Traumtheorien; sie stellen die Gultigkeit, 
aber auch den Gultigkeitsbereich jeder einzelnen klar uud vereinigen 
sie mit der Freudschen Traumtheorie zu einer allgemeineren Auf- 
fassung. 

Indessen sind die bisher betrachteten Beziehungen der Reaktionen 
zu den bisher vorliegenden Ergebnissen doch nur verbindender und ver- 
allgeineinernder Natur. Verf. legt aber das Hauptgewicht auf ein Er- 
gebnis. das die Mechanik des Vorgangs selbst betrifft und das erst in 
diesen Versuchen sich ergeben hat, sich auch nur in diesen ergeben 
konnte: Verf. hat dieses Ergebnis deshalb nicht nur an alien evidenten. 
sondem auch an alien ihm als bloB moglich erscheinenden Deckungs- 
stellen zwischen Traumbild und Exposition auf seine Gultigkeit gepriift; 
es bestand eine exklusive Beziehung. vermoge deren dasjenige, was 
einmal als gestaltet psychisch gegeben war, von der michsten Entwick- 

x ) Ref. Zeitschr. f. d. ues. Xcur. u. Psych., Reforatonteil 191'). 

2 ) Lite rat uranira ben s. Freud. Truimideutium. 1. Ahschnitt. 


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Experiin. erregte Traumbilder in ilip-n heziehungen zuiu indirokten Selien. I. ;{4-> 


lung ausgespart blieb, so daB nur Teilquanten der Originalerregung ent- 
wickelt werden konnten und mit der eiumal geschehenen gestaltlichen 
Entwicklung die fortwirkende Kraft verlorenging; dieselbe ausschlie- 
Bende Beziehung trieb die ira WachbewuBtsein auftretenden nachtrag- 
lichen Entwicklungen zum Komplex der Originalerregung zuriick und 
schied Wachen und Traurn, Erfassung und Halluzination in zwei weit- 
gehend getrennte Bereiche. 

Dm miBverstandlichen Einwandcn vorzubeugen, soli hervorgehoben 
sein, daB diese Beziehung fur den experimentellen Trautn wie fur die 
experimentelle Halluzination im Versuch fur den Fall nackgewiesen 
ist, daB es sich um die Gesaratwirkung eines eiumal gegebenen Original- 
erregungskomplexes handelt. Das perseveratorische imd stereoty- 
pierende Moment vieler Halluzinationen und Trauine, insbesondere bei 
den Psychoneurosen, bleibt von dieser Beziehung zunachst unberiihrt 
und wird sich im Gegenteil a us Amvendungeu dieses einfachen Ver- 
suchsfalles auf Serienvorgange mit Notwendigkeit ergeben. Hier sei 
nur dariiber bemerkt, daB dieser Mechanismus die Bre uersche Katharsis 
auf eine ahnliche Weise fiir allgemeine einfachere Typen von inner vato- 
rischen Vorgangen verallgemeinert, wie die Integrationstendenz des ge- 
hemmten Aktes die Freudsche Lehre von der Wunscherfiillung ver- 
allgemeinernd ergiinzt. 

Diese exkludierende Beziehung konute in den Versuchen der auf- 
gezahlten Autoren ebensowenig zum Ausdruck kommeu, wie sie sich 
jemals restlos aus der Analyse der gewohnlichen Traumtagesreste hatte 
ergeben konnen; in alien diesen Fallen ist weder dafttr gesorgt, daB 
vorbewuBt aufgenommene Elemente von wachbewuBt aufgenommenen 
in der hinreichenden Strenge unterschieden in den Versuch eingehen, 
noch auch dafiir, daB die Eindriicke der Originalerregung sofort weg- 
geschafft werden; auch bedarf es dazu gerade komplexer Expositionen, 
um die strenge Giiltigkeit der Relation scharf hervortreten zu lassen. 

Der Fall des gewohnlichen Traums und die Untersuchung gewohn- 
licher Nachbilder zeigen den Grund, warum sonst die strenge Gesetz- 
inafiigkeit der ausschlieBenden Beziehung bestenfalls zu einem bloBen 
Vorwiegen im Reaktionstypus verechleiert wird. Dieser Gruud ist 
schon friiher besprochen worden; sind die im Wachen erlebteu Impres- 
sionen proportional dem Sinken der Erfassung bzw. der Aufmerksam- 
keit traumfahig oder halluzinationsfahig, so inuB jedes Sinken der Auf- 
merksamkeitskurve geeignet sein, den kontinuierlich fort-wirkenden 
Eindruck wieder traumfahig zu machen, da er fur das psychische 
Fortwirken selbstverstandlich nicht mehr der gleiche Eindruck ist, 
sondem eine Summe iiber eine Mannigfaltigkeit verschiedener Einzel- 
erregungen; so erzeugen wir in der gewohnlichen Weise die positiven 
Nachbilder durch langes Fixieivn: bei der vergleichenden Untersuchung 


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346 0. Petal: 

tachistoskopischer und dauemd gegebener Eindriicke auf Nachbild- 
wirkungen laBt sich im Prinzip leicht feststellen, daB beim tachistoskopi- 
schen Eindruck immer die ubersehenen Einzelheiten, bei derDauerfixatioii 
aber die in der jeweiligen Postierung der Aufmerksamkeit unbesetzten 
Figurenteile im Nachbild hervortreten, beim allgemeinen Sinken der 
Aufmerksamkeit oft scheinbar die ganze Figur. Fur die Prufung des 
letzteren sind Selbstversuche notwendig, dazu eine genaue und vor- 
urteilslose Selbstbeobachtung. Sehr geeignet zum Studium der Bezie- 
hungen zwischen Aufmerksamkeitskurve und Wahrnehmungsablauf 
sind die Falle allgemeiner'Sehstorung naeh HinterhauptschuB, in denen 
sich die uns gelaufige kontinuierliche Wahmehmung mit periodischem 
Hin- und Herschwanken der Aufmerksamkeit in ein Diskontinuum der 
Wahrnehmung selber umwandelt, wie wir es von schwachen Lichtpunkten 
im Dunkelzimmer her kennen; die Verhaltnisse der Nachbilder, die 
hier hineinspielen, bilden gewissermaBen das Vorspiel im Wachen fur 
die spateren Traumszenen; sie konnen hier und da bei geeigneter Ab- 
stufung der Storung gut beobachtet wenlen. 

Gerade diese exklusive Beziehung ist es nun, die zusammen mit 
zwei anderen Relationen eine einfache theoretische Behandlung des 
Vorgangs bei diesem Versuch gestattet. Die beiden anderen Relationen 
haben sich dem Verf. avis seinen Versuchen an Kranken mit optischer 
Agnosie und aus der Untersuchung dreier Falle mit Metamorphopsie bei 
Sehspharenverletzung ergeben; diese drei Beziehungen sollen hier zum 
AbschluB dieser Mitteilung noch einmal zusammengefaBt werden. 

1. Die Bilder des indirekten Sehens, die Fehler gesunder Personen 
beim tachistoskopischen Sehen, die visuellen Traumbilder imd die 
optischen Fehler der Agnostiker stimmen in vielen wesentlichen Eigen- 
schaften nach Form und Inhalt ihres psychisch Gegebenen miteinander 
ii herein. Besonders zeigt sich das darin, daB ihnen alien eine feste 
raumliche Verankerung fehlt. Die Ubereinstimmung geht aber viel 
weiter \md bringt in alien erkennbaren Einzelheiten gemeinsame Ziige. 

Besteht nur eine Agnosie ftir bestimmte optische Qualitaten z. B* 
fur Farben oder ftir geometrisch-optische Y r erhaltnisse, so schrankt sich 
das Fehlen der raumlichen Verankeriuig mid damit die im Greifen 
sichtbare Storung der Projektion nach auBen nur auf diese Teilquali- 
tat ein 1 ). 

Der Agnostiker verhalt sich also in bezug auf das ihm in seinen 
Fehlreaktionen optisch Gegebene in der Dauerbetrachtung wie der 
Gesunde bei allzu kurz dauemdem Reiz, beim Sinken der Aufmerksam¬ 
keit oiler bei dem vorbewuBten Eindruck im indirekten Sehen. Man 

l ) Es ware denn, daB damdx*n eine allgemeine, von dor optischen Agnosie 
uimbhangigc* Projektionsstorung im Givifen bestiinde; dies trifft klinisch mit dem 
hier hervorgehobenen Verhalten nur s<‘lu* selten zusammen. 


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Experim. erregte Traumbilder in ihreu Beziehungen zum indirekten Sehen. I. 347 

kann darum sagen, daB der Verlust von abgestimmtem GroBhimterri- 
torium und seiner Balkenanteile innerhalb der angedeuteten Grenzen 
die gleichen psychisch gegebenen Effekte hat, wie der Verlust an Wir- 
bungszeit. Die gleiche Ahnlichkeit besteht zwischen der agnostischen 
Reaktion und den Traumbildem; der psvchische Effekt der genannten 
groben Veranderung einer raumlichen Erregungsverteilung im Gehim 
ist also dem psychischen Effekt in einem Zustand, bei dem eine moto- 
rische Sperre besteht, in einer faBbaren Weise vergleichbar. 

Diese Beziehungen sind nicht umkehrbar; es konnte zum Beispiel 
ein leichter Grad von fast kompensierter Farbenagnosie und Wort- 
blindheit durch Verkurzung der Reaktionszeit bis zu 10 o herunter (und 
entsprechend variierenden Zeitwerten je nach der Art des gegebenen 
erregenden Komplexes) nicht in die hoheren Grade der gleichen Stoning 
verwandelt werden 1 ). 

In diesen Relationen 2 ) ist eine raumzeitliche Transformation ent- 
halten; welchen Zustandsraum sie betrifft, ist zu ersehen. IhreGultig- 
keit fur grobe Veranderungen der bezeichneten Leistungen steht fest; 
doch laBt sie sich nur fur solche aussagen. 

2. Die Beschaffenheit der Sehreste im relativen Skotom, die geo- 
metrisch-optische Agnosie, die gerichteten Metamorphopsien bei be- 
stimmt orientierten optischen und optisch-motorischen Defekten durch 
GroBhimlasion, endlich die Untersuchung der Traumbilder, die in der 
Nachwirkung vorbewuBter visueller Impressionen entstehen, zeigen 
gieichsinnig, daB unter bestimmten, zum Teil regulierbaren Bedingungen 
eine reversible Transformation von Blickbewegung, Keimen von Blick- 
bewegung, Sehen von Bewegung, Sehen von Gestalt und Raum vor sich 
geht; mithin kann man fiir eine Gmppe von optischen Erscheinungen 
ihre motorische Herkunft direkt nachweisen; man kann innerhalb ge- 
wisser Grenzen von einer optisch-motorischen Transformation sprechen 
in dem Sinne, daB die gebremste Bewegung den Raum und die Gestalt- 
qualitat psychisch erscheinen laBt 3 ). 

Diese Beziehung gibt unter den notigen Beschrankungen wenigstens 
prinzipiell die Moglichkeit, fiir die Mechanik dieser Erscheinungen, 


l ) Erfahrungen des Verf.s an einem Fall (8chafer), die an anderer Stelle 
ausfiihrlich besprochen werden sollen. 

*) Die Anwendung mag vorl&ufig als auf den Liepmannsehen Herdtypus 
beschr&nkt gedacht sein: linkshirniger, vorwiegend subcortikaler Herd beim 
Rechtshfinder; der Herd unterbricht die zugehorige Balkenformation. 

*) Die hier beschriebene optisch-motorische Transformation findet ihren 
AnschluB an die dem Physiologen gegebenen Verhaltnisse in den Befuoden 
und Anschauungen von M. Sachs, sowie von Sachs u. Meller. Vgl. Sachs u. 
Meller, v. GraefesArchiv f. Ophthalmol. 57, Heft 1. Dies ist der physiologische 
Refund, der die Metainorphopsie und die Doppelbilder in des Verf.s Himhcrd- 
falien vollkommen aufklilrt. ! 


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348 


(). Potzl: 


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deren Dimension unbekannt ist, analytische Ansatze aufzustellen, ohne 
daB sich diese, wie bei der Anwendung des Fechnerschen Gresetzes, 
auf die vergleichende Relation zwischen mehreren vergleichbaren 
Stufenfolgen von gleichartigen Reizen und Empfindungen beschran- 
ken mlissen. Erscheinungen, die in der gegebenen psychischen Qua- 
litat grundverschieden sind, lassen sieh ineinander uberfuhren; dies 
legt nahe, sie als Umwandlnngen cines und desselben Vorgangs zu 
betrachten; damit ist die Berechtigung erhoht, sie in einerlei MaB zu 
messen; bzw. es findet sich ein Weg, sie dimensionslos zu machen. 
Die Darstellung der versehiedenen getrennten Bereiche ergibt sich von 
selbst durch die Einfiihrung von Funktionen komplexer Veranderlicher. 

Da als Erzeugende von Raumwahmehmung und Gestaltsqualitat 
immer wieder, z. B. in den bier beschriebenen Traumversuchen, die 
virtuelle Blickbewegung im Versuch auftritt, rechtfertigt es sich, wenn 
man diese Erscheinungen als Verschiebungen in einem raumzeitlich 
ausgedehnten Bereich darzustellen bestrebt ist; dieselbe Behandlung 
fiihrt dazu, sie probe weise in Winkelfunktionen auszudriicken. 

3. Es bcsteht die exklusive Beziehung, daB von der Gesamtwirkung 
einer optischen Situation der einmal gestaltete Teil aus der Nachwirkung 
verschwindet, daB dagegen nur die noch nicht gestaltlich entwickelten, 
vorbewuBt aufgeroinnienen Anteile der Situation, fortwirken. Hat das 
ErfaBte ein Maximum, so haben die latent im VorbewuBten nachwirken- 
den Element* ein Minimum und umgekehrt. 

Die Beziehi ng enthalt, in entsprechender Vorsicht angewendet, den 
An sat z zu einem analvtischen Ausdruck. Die sich daraus ergebende 
Besprechung, die u. a. die Beziehungen der Reaktion zum Fechner¬ 
schen Gtesetz herstellt, soil indessen hier nicht durchgeftihrt werden, 
da sie zu viel Einzelergebnisse vorwegnehmen mliBte, die in der hier 
gegebenen Mitteilung hochstens erwahnt, nicht aber behandelt worden 
sind. Nur einige kurze SchluBbemerkungen liber die Richtung, die sieh 
hier zeigt, mochte sich Verf. doch noch gestatten, 

Ein leicht zu erratender, zunachst rein formaler Ansatz 
fiir 3., der allerdings Anfangsbedingungen und Dampfung vollig un- 
berrtcksichtigt laBt, ist, wie leicht ersehen werden kann. 

I 3= cos (j> + i siny = e tfJ \ 

die Eulersche Relation. I bedeute die Gresamtanderung der inneren 
Situation durch die einmalige Originalerregung im Versuch; cp ist eine 
unbekannte Funktion. Die Einfiihrung der imaginaren Einheit druckt 
die Getrenntheit der beiden Bereiche aus, in denen die Versuchsergeb- 
nisse spielen; die beiden Bereiche hangen ja tatsachlich nur durch die 
Schwelle zusammen. 

Das Vorstehende ist selbstverstandlich kein strenger Ansatz, sondeni 


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Expo rim. orre^to Traumbikier in ihren Bcziehunj/on zum indirekten Sehen. I. 34!) 


tin Gleichnis. Formal ist es, wenn man von demUmstand absieht, daB 
es sich um eine komplexe Funktion handelt. die Inversion des Fechner- 
sehen Gesetzes 

E — k log R . 

wo E v E 2 meBbare Empfindungsstarken, R r R 2 . . . meBbare Reizintensi- 
tiiten bedeuten. Die Berechtigung, hier von der komplexen Form der 
Funktion (pi abzusehen, liiBt sich leicht dartun und ergibt einen Sinn 
Andererseits ist die formale Cbereinstimmung des Feehnerschen 
Gesetzes 

E k log R 

rnit der Plane ksehen Kntropieformel 1 ) 

S - klogW 

auf den ersten Bliek auffallend; daB sie nicht bloB formal ist, sondern 
einen Sinn in sich enthalt, ist plausibel, wenn man bedenkt, daB zwischen 
W\ der Anzahl aller bei einer bestimmten Raumverteilung moglichen 
Komplexionen, und zwischen R leicht wesenswiehtige Verkniipfungen 
sich erraten lassen, die iiber das Tajbotsche Gesetz hinweg gewonnen 
werden konnen. Das Talbotsehe Gesetz 


r 

t -i 



T 
t - 


ist der Ausdruck fur einen zeitlichen Mittelwert, von dem allein (fur 
hinreichend kleine Zeiten T) die Empfindungsintensitat zur Zeit t ab- 
hangt. Vom Talbotschen Gesetz geht P. Hertz 2 ) aus, um die Be- 
deutung der relativen Verweilzeit periodisch sich bewegender Systeme 
darzutun. Es ist zu bemerken, daB die Erscheinungen bei der allge- 
meinen Sehstorung nach HinterhauptschuB das Talbotsehe Gesetz 
von Sukzessionen auf das .Siinultane transponieren 3 ), die hier gegebenen 
Versuche aber einen Weg zeigen, auf dem sich das Siinultane in Suk- 
zessionen zerlegt. 

') Vgl. Planck, Theoric dor YYarincstruhlunjr. Leipzig 1913. S. 117 u. 121. 

*) 1. e. N. 469ff. 

3 ) Vorf.: Jahrbuehor f. Psychiatric 37. 287 u. 288. Wien. 


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t)ber eine Neurosenepidemie in einem Kriegsgefangenenlager. 


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Von 

Stabsarzt d. L. II Oberarzt d. L. II 

Dr. G. Liebermeister. un<i Dr. Siegerist. 

lachftrztl. Beirat f. inn. Medizin bcim XIII. Lagerarzt an einem Kriegsgefangenenlager. 

(K. %.) A.-K. 

(Eingegangen am 31 . August 1917.) 

Durch die Veroffentlichungen von Morchen, Lilienstein, 
Wollenberg, Bonhoffer, Nonne, Wilmanns, Lust, Pappen- 
heim, Spliedt u. a. haben wir erfahren, daB bei Kriegsgefangewen 
Neurosen sehr selten beobachtet werden. Die primareti (Erschop- 
fungs- und Schreck-) Neurosen fehlen vollig bei Gefangenen, die 
keine schweren Kriegserlebnisse hinter sich haben. Bei solchen Ge¬ 
fangenen, die viel durchgemacht haben, fanden sich anfangs die Zei- 
chen akuter Erschopfung, Schlafsucht, Kopfschmerzen; nach wenigen 
Tagen trat restlose Erholung ein. Ganz besonders selten sind se- 
kundare Kriegsneurosen in Gefangenenlagern. NachSpliedt 
sind psychogene Psvchosen in Gefangenenlagem ebenso selten wie 
psychogene Neurosen. 

Traumatisch - hysterische Storungen kommen bei unsere-n 
Gegnern, soweit sie nicht in Gefangenschaft sind, haufig vor, bei 
Franzosen besonders Extremitatencontracturen; die Haufigkeit ihres 
Auftretens hangt von der ,,Moral' 4 der Truppe ab. Die wenigen pri- 
maren Kriegsneurosen, die Morchen bei Verdun - Gefangenen sah, 
verloren sich stets rasch, ebenso die Storungen nach Gehirn- 
erschiitterung. Es muB also init der Gefangennahine ein krank- 
heithemmender EinfluB verbunden sein. Als Hauptgrund dafiir 
sieht man wohl mit Recht die Entlastungsempfindung an; die Ge¬ 
fangenen sind beziiglich des Kriegs ,,endgiiltig Abge fun dene" 
(Wollenberg). Bei den Gefangenen fallt sowohl die Frage des Wieder- 
ins-Feld-kommens als der Rente vollstandig weg, und daher werden die 
Kranklieitserscheinuiigen nicht festgehalten. Bonhoffer schlieBt 
daraus, daB das Fortbestehen der Symptome nicht durch me- 
chanische und psychische Insulte, sondem durch unterbewuBte 
Wunsche unterhalten wird. Die Erfahrungen der letzten Zeit lassen 
erkennen, daB in manchen Fallen diese Wiinsche auch bewuBt sein 
koimen. Ahnlicher Ansicht ist wohl die iiberwiegende Mehrzahl der 


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G. Liebermeisp'r iind Sieg**ri8t: Uber eine Neurosenepidemie usw. 351 


Arzte, die auf diesem Gebiet praktische Erfahrungen haben. Auch bei 
Zi vilgefangcnen ist ,,Kriegshysterie*' selten, wahrend viel 
,,Neurasthenic" vorkomrat (Lust). 

Dureh die Frage des Gefangencnaustauschcs wird nun in 
manchen Fallen der Zustand des ,,Abgef un dense in s'* gestort, 
und, wo sie auftritt, entstehen hie und da ,,Kriegsncurose n" ohne 
jedes Trauma bei Leuten, die sehr lange den Insulten des Kriegs ent- 
zogen sind. Auf der anderen Seite sind bei den in Afrika gefangenen 
Deutsehen trotz schwerster lnsulte keine Hysterien entstanden 
(Lust). 

Interessant und mit den im folgenden kurz anzufiihrenden eigenen 
Beobachtungen ubereinstimmend ist die von Pappenheim fest- 
gestellte Erfahrung, daB unter den an sich sehr seltenen Neurosen - 
symptomen die Gehstorungen bei Gefangenen am ehesten vor- 
zukommen scheinen, und daB hie und da Simulation aus Arbeits- 
unlust beobaehtet wild. 

Gegen die fast allgemein angenommenen Erklarungen der Selten - 
heit von Gefangenenneurosen wendet Oppenheim ein, die nervos 
Zusammengebrochenen seien eben vor der Gefangennahrae in 
Sieherheit zuriickgebracht worden. Dieser Einwand hat sicher fur 
die Falle, in denen groBe Zahlen von Grefangenen gemacht wurden, 
keine Giiltigkeit. Denn wenn es dem Gesundbleibenden nicht gelingt, • 
sich der Grefangenschaft zu entziehen, dann ist dies noch viel weniger 
bei den Neurotikem zu erwarten; auch hat es im Trommelfeuer seine 
Schwierigkeiten, Kranke zuriickzubringen. 

Birnbaum wendet gegen die meist angenommenen Erklarungen 
Verschiedenes ein: Wenn die Austauschfrage psvchogene Stdrungen 
auslost, warum tritt der Mechanismus der wunschbedingten hysterischen 
Fixierung so selten in Tatigkeit? — Die Antwort ist leicht zu geben: 
weil vorerst so viele Schwerverwundete und Schwerkranke 
vorhanden sind, die ausgetauscht werden, daB wegen psychogener 
Storungen noch keine Gefangenen ausgetauscht wurden. Man brauehte 
in einem (Jefangenenlager nur einmal H vsteriker auszutauschen , 
dann wiirde sicher doi*t eine Hysterieepidemie auftreten. 

Dem Fehlen der schreckneurotischen Erscheinungen 
bei frisch aus dem Trommelfeuer gekommenen Gefangenen gegen liber 
Aveist Birnbaum auf die Mvthenbildung liber Gefangenschaft 
hin, die fiir viele als Lebensgefahrdung erscheine. Bei den hinter die 
eigene Front Gebrachten ware das gleiche Fehlen zu erwarten. Dem 
ist Verschiedenes entgegenzuhalten: Die Mythenbildung iiber Gc- 
fangenschaft wird vielfach als Mythe oder jedenfalls als nicht allge¬ 
mein giiltig erkannt, auch denkt man zur Zeit der Gefangennahme 
wohl nicht an diese Dinge. Femer geben die Erfahrungen aus den 

Z. f. d. g. Xeur. u. Psych. O. XXXVII. 23 


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.352 


G. Liebermeieter und Siegerist: 


Gefangenenlagem nieist erst uber die spateren Zeiten der Gefangen- 
schaft Auskunft. Primare Neurosen sind tatsachlich bei frisch in 
Gefangenschaft Geratenen beobachtet worden, wenn auch selten. 
Die psychische Fixierung und Reproduktion der Symptome 
ist bei Gefangenen selten, weil sie in der Gefangenschaft nicht Mit- 
leid, wie im eigenen Heiraatgebiet, sondem Veraehtung, Hohn und 
Spott und entsprechend schlechtere Behandlung zur Folge haben 
wiirden. Bei Nichtgefangenen sind diese Dinge dagegen haufig, nicht 
bei Schwerverletzten, sondem bei leicht oder gar nicht Verletzten. 
Dieser Umstand spricht gerade dafiir, daS die primaren Schreck- 
neurosen von ihren spater psychisch fixierten, reproduzierten 
und imitatorisch produzierten Symptomen als etwas in seinem 
Wesen Grundverschiedenes prinzipiell und streng zu trennen sind, 
wie das der eine von uns schon an anderer Stelle kurz ausgefiihrt hat 
(L. ,,tTber die Behandlung von Kriegsneurosen“. Halle 1917). 

Bei der allgemein bekannten und anerkannten Seltenheit der Neu¬ 
rosen in Gefangenenlagem mag es von Interesse sein, uber eine kleine 
Neurosenepidemie kurz zu berichten, die wir in einem Gefangenen- 
lager beobachtet haben. 

In dem Gefangenenlager X. befinden sich mehr als 1300 Russen, 
Rumanen und Serben, auf auswartigem Kommando werden mehr 
als 13 000 Gefangene verwendet, so daC dem‘Lager iiber 15 000 Ge- 
fangene unterstehen. Unter diesen waren Neurosen bisher ganz ver- 
schwindend selten bzw. gar nicht aufgetreten, bis plotzlich Ende Mai 
dieses Jahres eine kleine Epidemic von etwas mehr als 30 Neurosen- 
fallen bei Russen des Lagers beobachtet wurde. 

Die einzelnen Krankheitsfalle boten keinerlei Bilder, die 
etwa von dem bisher Bekannten abweichend waren; dagegen ist be- 
achtenswert, daB viele der bekannten Krankheitsbilder voll- 
standig fehlten. 'So war unter den mehr als 30 Fallen kein einziger 
Schiitteltremor, kein Mutismus, keine Aphonie, keine psychogene 
Taubheit, keine Hysterie mit Anfallen, kein Bettnassen. Im Gegen- 
teil zeichneten sich die Falle durch eine gewisse Einformigkeit des 
Krankheitsbildes aus, und diese Einformigkeit weist auch auf 
die innere pathogenetische Zusammengehorigkeit der Falle 
hin. Es wurden ausschUeOlich Bewegungsbehinderungen be¬ 
obachtet, in der weit uberwiegenden Mehrzahl der Falle das Bild der 
pseudospastischen Parese der unteren Extremitaten und 
der psychogenen Ischialgie, alle ohne Schiittelbewegungen, alle 
verbunden mit Gehstorungen, haufig mit Storungen in der Haltung 
der Wirbelsaule. Die einzelnen Krankheitsfalle waren einander ini 
ganzen bei 28 Fallen auBerordentlich ahnlich. Abweichende Krank¬ 
heitsbilder kamen nur vereinzelt zur Beobachtung, und dann lieBen 


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t'ber eine Nenrosenepidemie in einem Eriegsgefangenenlager. 353 


sich immer besondere Ursachen nachweisen; bei den letzteren vier 
Fallen bestanden Lahmungen und Contracturen an verletzten Ex¬ 
tremity ten. 

Den Fallen war auBer der symptomatologischen Einheitlichkeit 
noch manches andere gemeinsam: Alle waren schon langer als ein 
Jahr in Gefangenschaft, ehe die funktionellen Storungen auftraten. 
Daraus erklart sich ohne weiteres das Fehlen der schreckneurotischen 
Bilder. AuBer den oben besonders angefiihrten vier Fallen war keiner 
der Erkrankten verwundet gew’esen. 

Die Epidemie war nicht im Gefangenenlager X. entstanden, auch 
sind in diesem Gefangenenlager fast keine psychischen Neuinfektionen 
entstanden. Alle diese Kranken waren, ehe sie in dieses Gefangenen¬ 
lager kamen, gemeinsam in zwei anderenGefangenenlagem, Y.undZ., 
gewesen, viele von ihnen vorher noch in einem dritten (U.). Die Mehr- 
zahl war in diesen Lagem nachweislich raiteinander in Beriihrung 
gekommen; von vereinzelten Fallen wird dies in Abrede gestellt, doch 
sind die Angaben unsicher, um so mehr, als man auf den Verkehr mittels 
Dolmetscher angewiesen ist. 

Ob die Nachrichten von der Revolution in RuBland von Ein- 
fluB waren, laBt sich nicht mit Sicherheit entscheiden; die Frage des 
Anstausches scheint als krankmachender Faktor nicht in Betracht 
zu kommen. 

Den grdBten Grad von Wahrscheinlichkeit scheint ims folgende An- 
nahme iiber die Entstehungsweise und die dabei mitwirkenden 
psychischen Faktoren zu haben: Ein Teil der Erkrankten — etwa 
8—10 — hatten, wahrend sie dem Lager U. angehorten, ein unan- 
genehmes Arbeitskommando gehabt, wahrend dessen sie er¬ 
krankten. Es handelte sich um feuchte Grabarbeiten, die sehr an- 
strengend waren. Wahrscheinlich war dabei bei einigen Leuten eine 
akute rheumatische Erkrankung aufgetreten — manche gaben an, auch 
in friiheren Jahren schon Anfalle von Rheumatismus gehabt zu 
haben —, deren Beschwerden dann unter dem Wunsch, von der un- 
angenehmen Arbeit befreit zu bleiben, psychisch fixiert und hysterisch 
umgebildet wurden. 

Um diese etwa 8—10 ersten Falle krystallisieren daim in den Lagem 
U., Y. und Z. die anderen ,,Rheumatiker“ aus. Auch bei manchen 
von ihnen scheint fiir die Krankheitsentstehung die Arbeitsunlust in 
Betracht zu koramAi. Auffallenderweise wurde kein einziger Fall 
von ,,Rheumatismus“ an den oberen Extremitaten beobachtet. 
Organische Veranderungen an den Gelenken waren in keinem Fall 
nachweisbar. 

An diese 28 Falle von Pseudorheumatismus der unteren Extremi¬ 
taten und von Pseudoischias schlossen sich dann noch 4 Falle von 

23 * 


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354 


G. Lieberuieister und Siegt rist: 


psychogener Uberlagerung bei Verletzungeu der unteren und oberen 
Extremitaten an. Offenbar haben sich auch diese Stdrungen unter 
dem EinfluB der hysterischen Atmosphare des urspriinglichen lnfek- 
tionsherdes entwickelt. 

Allen Patienten war auch ein ziemlich hoher Grad von Indolenz 
und scheinbarer Demenz gemeinsam, von der schwer zu sagen ist, 
ob sie endogen praformiert oder psychogen entstanden ist; vielleicht 
ist sie als Heimwehlethargie (vgl. Stelzner) aufzufassen. Da uns die 
urspriinglichen Rasseneigenschaften der aus den verschiedensten 
Gegenden stammenden Gefangenen zu wenig bekannt sind, kdnnen 
wir liber diesen Punkt keine sichere Auskunft geben. 

Auch in dem Mangel an Willen, gesund zu werden, gleichen 
die Falle sich untereinander und den anderweitig beobachteten Hyste- 
rikem. 

Der groliere Teil der Falle wurde rasch in einer Sitzung geheilt 
und arbeitet wieder. Die iibrigen 10 Falle waren refraktar; das thera - 
peutische Interesse der Arzte ging nicht so weit, diesen Leuten, die 
nicht gesund werden wollten, gegen ihren Willen die Gesundheit auf- 
zuzwingen. Bei diesen 10 Fallen gelang es auch nicht, durch Wunsch- 
vorstellungen anderer Art den negativen Arbeitsdrang zu iiberwinden. 
Mit Gewaltmitteln wiirde die Heilung auch dieser Falle sicher gelingen. 
Aber die von den Arzten zu leistende Anstrengimg erschien uns in diesem 
Fall zu groB im Verhaltnis zu dem zu erreichenden Gewinn. — 

Die kleine Epidemie ist in mancher Beziehung eine gute Erganzung 
zu der Erfahrungstatsache, daB im allgemeinen psychogene Storungen 
bei Gefangenen selten sind. Sie zeigt aufs neue, daB die Starke des 
korperlichen oder psychischen Traumas von untergeord- 
neter Bedeutung fiir die Entstehimg dieser Storungen ist, und daB 
die Wunsclivorstellungen in vielen Fallen ausschlaggebend 
sind. Sie zeigt weiter, daB in manchen Fallen zuerst organisch 
bedingte Storungen — hier rheumatische Beschwerden — vor- 
handen sind, die dann psychisch fixiert oder evtl. umgewandelt werden, 
daB dann, unter Umstanden auch ohne direkte Wunschvorstellungen, 
durch psvchische Infektion und Imitation neue, gleichartige 
Falle hinzukommen kdnnen. Sie zeigt aber auch, daB in vereinzelten 
Fallen psvchische Infektionen auch in der Weise vorkommen kdnnen, 
daB nur die hysterische Seelenverfassung direkt iibertragen 
wird und bei andersartigen Gelegenheitsursachen zu andersartigen 
Symptomen fiihren kann. Auch hier ist also, obwohl ahnliche Sympto- 
menbilder geliauft vorkommen, doch die hysterische Reaktionsweise 
die Hauptsache, die iibertragen wird und unter gewissen Umstanden 
verschiedenartige Symptomenbilder zur Folge hat. 

Auf der anderen Seite zeigt sich aber auch, daB die psvchische 


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t T her eine Xourosencpidemic in einem Krieirsgefangenenlager. 


355 


lnfektion ganz lokal und auf eine kleine Anzakl Falle be- 
schrankt bleibt, wenn man fur eine im allgemeinen gesunde psychische 
Atmosphare sorgt und ungiinstige Massensuggestionen verhiitet. 

Unsere Ansichten iiber Neurosen bei Kriegsgefangenen werden 
durch diese kleine Epidemic kaum verandert. Primare Schreck- 
und Erschopf ungsneurosen kommen — nicht haufig — vor; sie 
heilen bei Ruhe und guter Ernahrung gut aus. Fixierte und repro- 
duzierte Schreck- und Erschopf ungsne urosenbilder kom¬ 
men bei Gefangenen so gut wie gar nicht vor, weil sie keine 
Aussicht auf Durchsetzung von Wiinschen bieten und kein 
Mitleid errege n. Dagegensieht man verei nze 11 undauchi n kleine n 
Gruppen gehauft psychogene oder psyehisch fixierte und reprodu- 
zierte Bv wegungsstorungen, besonders der unteren Extremi- 
taten; bei der Festhaltung der Krankheitserscheinungen spielen 
oft Wunschvorstellungen eine groCe Rolle. Solche Falle konnen 
dann ansteckend wirken und gleiehartige, vereinzelt auch anders- 
artige Symptomenbilder nach sich ziehen. Die psychischen Epide¬ 
mic n bleiben a her klei n und be sc lira n kt ,der kran kheithemmende 
E influ 1.1 der (!efa nge use ha ft ist auch hier deutlieh erkennbar. 


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Kritische Reflexionen fiber die psychoanalytischen Theorien. 

Von 

Olof Kinberg. 

Privutdozent, Direktor von Langbro sjukhus. Stockholm. 

(Eingegangen am 28. April 1917.) 

In vorliegendem Aufsatz soil nicht etwa eine erschopfende kritische 
Beleuchtnng samtlicher psvchoanalytischer Theorien und Hypothesen 
vorgenommen werden. Eine solche Aufgabe wiirde betrachtlichen Raum 
erfordem und zum groBen Teil Fragen behandeln, die auBerhalb des 
Forschungsgebietes liegen, fur das eine medizinische Zeitschrift bestimmt 
ist. Es muB also eine Auswahl vorgenommen werden, und um Will- 
kiirlichkeiten zu vermeiden, muB das nach bestimmten Prinzipien ge- 
schehen. Nattirlich kann man dabei auf verschiedene Weise vorgehen. 
Mir schien es am natiirlichsten, folgenden Ausgangspunkt zu wahlen. 

Bekanntlich haben die psychoanalytischen Lehren eine recht un- 
gleiche Aufnahme gefunden. An vielen Stellen sind sie mit einem Beifall 
und einem Entziicken begrliBt worden, wie sie wohl selten wissenschaft- 
lichen Entdeckungen nicht experimenteller oder technischer Natur 
zuteil werden durften, sondem nur religiosen, kiinstlerischen und 
sozialen Neuschopfungen vorbehalten sind ; andererseits hat man nicht 
Worte gefunden, die stark genug waren, um der MiBbilligung und Ge- 
ringschatzung fur diese Lehren, denen aller wissenschaftliche Wert 
abgesprochen werden sollte, Ausdruck zu geben. 

Man geht sicherlich nicht fehl, wenn man aus einer solchen Auf¬ 
nahme einer geistigen Neuerscheinung den SchluB zieht, daB sie sowohl 
groBe Verdienste wie groBe Mangel besitzen muB. Weim man darum 
veraucht, die psychologischen Ursachen fur sowohl Beifall wie MiB¬ 
billigung aufzudecken, so miiBte man gute Aussicht haben, das Wesent- 
liche in positiver wie in negativer Richtung, d. i. sowohl das WertvolLste 
wie das Mangelhafteste herauszufinden. 

Es liegt in der Natur der Sache, daB ich mich in meiner Darstellung 
vor allem mit Freud und seinen Anschauungen befassen muB. Denn 
wenn auch der urspriingliche Impuls fur die psychoanalytischen Lehren 
von anderen, Janet und Breuer, ausging, so steht doch Freud im 
Vordergrund. Er ist es, der die urspriingliche Anregung aufgenouimen 
und zu einer allgemeinen psychologischen Hypothese erweitert hatte, er 


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O. Kinberg: Kritische Rcflexionen Uber die psych oanalytisehen Theorien. 357' 


ist es vor allem, der die Teile des Lehrsatzes aufgestellt hat, die die 
wichtigste Quelle fiir Beifall und Widerstand waren, und es ist sein 
Name, um den sich der heftigste Streit dreht. Es ist auch, trotz alter 
spater entstandenen Splitterung, Freud, der der Bewegung seinen Geist 
eingegeben hat — denn eine Bewegung ist es, mit alien einer solchen 
anhaftenden Fehlern und Verdiensten, nicht nur eine wissenschaftliche 
Lehre. 

Die Umstande, die eine giinstige Aufnahme einer neuen Gedanken- 
richtung verursachen konnen, sind natiirlich mannigfach. Ihrem haupt- 
sachlichsten Inhalt nach konnen sie sicher a priori bestimmt werden. 
Meiner Meinung nach sind es folgende: Die neue Theorie muB an aktuelle 
Gedankenrichtungen ankniipfen, so daB sie diese auf neue Gebiete der 
Wirklichkeit ausdehnt. Sie muB weiter etwas Neues enthalten, das neue 
Problemstellungen eroffnet und eine gesteigerte wissenschaftliche Ent- 
wickelung zu versprechen scheint. Sie muB schlieBlich, wenn sie in 
praktische soziale Gebiete iibergreift, der Trager neuer asthetischer oder 
ethischer Werte sein oder doch zu sein scheinen. 

Die Faktoren, die vor allem zu einer giinstigen Aufnahme der psycho- 
analytischen Lehren beigetragen haben, sind folgende: 

Freud zeigt an vielen Stellen in seinen Arbeiten eine deutliche Nei- 
gung, die Kontinuitat zwischen dem Normalen und Abnormen, 
dem GesundheitsraaBigen und Krankhaften nachzuweisen. Diese Nei- 
gung tritt z. B. sehr deutlich hervor in seiner Auffassung iiber die Ent- 
stehung der sexuellen Perversionen, indem er namlich in der normalen 
infantilen Sexualentwickelung die Vorbilder fiir die sexuellen Abirrungen 
des Erwachsenen zu finden glaubt. Diesen Gedankengang hat er in 
dem auBerordentlich ungliicklich gewahlten Ausdruck ,,polymorphe 
Perversi tii t“, mit dem er die normale Sexualitat des Kindes bezeichnen 
will, festgelegt. 

Gegeniiber der alteren Auffassung, die iibrigens in der gewohnlichen 
Vorstellungsweise fortlebt, und nach der das Abnorme ganzlich von dem 
Normalen geschieden ist, stellt sich Freuds Art, das Problem Nor- 
malitat-Anormalitat zu betrachten, als Ausdruck einer aktuellen Ge- 
dankenrichtung dar. Besonders die neuzeitliche Erblichkeitsforschung 
hat ja hervorgehoben, daB die normalen, ,,degenerativen“ Eigenschaften 
nichts anderes als singulare oder korrelative Quantitatsvariationen 
normaler Eigenschaften sind. 

Die auBerordentliche Bedeutung der Kindheitseindriicke fiir 
die ganze psychische Entwickelung des Individuums, vor allem fiir dessen 
Gefiihls- und Willensleben, also fiir die Charakterbildung, ist ebenfalls 
von Freud mit besonderem Nachdruck hervorgehoben worden, wahrend 
er zugleich die praktischen Folgen dieses Gedankenganges fiir die Er- 
ziehung beriihrt. Auch hier befindet sich Freud auf einem heutzutage 


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O. Kinberg: 


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sehrliblichen Gedankenweg, und man wird leicht verstehen, daB Freuds 
Anschauungen in diesem Punkt im „Jahrhundert des Kindes" 
rasch Interesse geweckt und Gehor gefunden haben. 

Von besonderer Bedeutung ist Freuds iiberall in seinen Schriften 
hervortretendes starkes Kausalitatsbediirf nis auch auf psychischem 
Gebiet. Freud geht von dem axiomatischen Satz aus, daB jedes psychi- 
sche Geschehen, auch das anscheinend zufalligste und meist irrelevante. 
seine bestimmten Ursachen hat, und er macht sich zur Aufgabe, diese 
Ursachen zu erforschen. Er beginnt mit den Neurosesymptomen. 
begniigt sich nicht mit der allgemeinen Determination aus dem patho- 
logischen Zustand, sondern sucht nach der besonderen Bestimmung fur 
jedes einzelne Symptom. Er ist, mit anderen Worten, nicht damit zu- 
frieden, ein bestimmtes Symptom beispielsweise als hysterisch zu er- 
kennen, sondern will erforschen, warum in einem Fall ein bestimmtes 
hysterisches Symptom auftritt, in einem anderen, mit anscheinend der 
gleichen Atiologie, ein ganz anderes. Dieses Suchen nach der speziellen 
Determination der psychischen Erscheinungen erstreckt er dann auf 
die Phanomene des normalen Seelenlebens, auf das Traumleben. 
auf die kleinen Kuriositaten der Alltags psychologie: zufiilliges Ver- 
gessen eines Namens, eines Wortes, einer AuBerung, Versprechen, Ver- 
schreiben, Fehlhandeln. Ich fur mein Teil zogere nicht, diese Tendenz 
in Freuds Arbeiten als sein vielleicht allergroBtes Verdienst zu be- 
trachten, weil er namlich durch seine zahlreichen, mag sein recht oft 
miBgltickten, Versuche, eine solche Determination der psychischen 
Erscheinungen nachzuweisen, auf besonders wirksame Weise dazu bei- 
getragen hat, auch auBerhalb der Kreise der Psychiater und Psycho- 
logen, die fur das Verstiindnis alles menschlichen Handelns auBerordent- 
lich wichtige Wahrheit zu verbreiten, daB es eine solche Determination 
gibt. und daB sie sich in einer Menge von Fallen mit groBerer oder ge- 
ringerer Sicherheit nachweisen laBt. 

In engem Zusammenhang mit Freuds Kausalitatsstreben steht die 
in seinen Arbeiten besonders hervortretende Neigung, die Erscheinungen 
unter finalen, te 1 eologischen Gesichtspunkten zusehen. UnterFina- 
litat versteht man ja nichts anderes als ein Betrachten der Phanomene 
unter der Formel: Mittel zum Zweck. In Freuds Arbeiten, sowohl in 
der Neurosenlehre, wie in den Traumdeutungen und der Alltagspsycho- 
logie, wimmelt es von solchen Gedankengangen. Die ganze Traum- 
deutungslehre ist ein im groBen und ganzen konsequent durchgefiihrter 
V T ersuch, das Traumphanomen unter finalem Gesichtspunkt zu betrach¬ 
ten: Der Traum ist das Mittel, durch das das UnbewuBte einen auf 
andere Weise iiberhaupt nicht, oder in seinem ganzen Umfang nicht 
ohne Gefahren fur die Person!ichkeit zu erreichenden Zweck — die Er- 
fiillnng gewisser unbewuBter Wiinsche — zu verwnrklichen sucht. 


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Kritischc Keflexionen liber die psychoanalytischen Theorion. 359 

Die Geschichte des menschlichen BewuBtseins zeigt, daB eiiie finale 
Betrachtungsweise in der Regel eine Neigung mit sich fuhrt, hinter die 
Erscheinungen, gleiehsam a Is Dirigenten, einen personlichen Willen zu 
setzen. Das wire! man iibrigens leicht begreifen, wenn man bedenkt, 
daB die finale Relation: Mittel—Zweck eine uns unmittelbar gegebene 
Erfahmngstatsaehe ist, von der wir ja alle durch die introspektive 
Kenntnis von unseren eigenen Willenshandlungen, hinter denen ja 
immer ein persbnlicher Willensakt steht, wissen. 

A up diesem Grund sind wir, wenn wir ein psychisehes Geschehnis, 
uber das wir keine unmittelbare introspektive Erfahrung besitzen kon- 
nen, unter finalern Gesiehtspunkt betrachten, geneigt, analog auf das 
Vorhandensein eines personlichen Widens hinter dem Geschehnis zu 
sehlieBen. Diese Neigung. dali wir, wenn wir ein psychisehes Geschehen 
vom finalen (Jesiehtspunkt aus betrachten, dasselbe als einem person- 
lichen Subjekt zugehbrig vorstellen, tritt auch an vielen Stellen in 
Freuds Traumdeutungsbuch herv r or. Besonders ausgepragt ist das 
da. wo er von (h r Traumverschiebung als einem Hauptmittel zur Er- 
zielung von Traumentstellungen spricht. Freud sagt daruber 1 ): 
.Jch denke, wir haben es auch leicht, die psyehisehe Macht, die sich in 
den Tatsachen der Traumverschiebung an Bert, zu erkennen. Der Erfolg 
dieser Verschiebung ist, daB der Trauminhalt dem Kerne der Traum- 
gedanken nicht mehr gleich sieht, daB der Traum nur eine Entstellung 
des Traumwunsches im GnbewuBten wiedergibt. Die Traumentstellung 
aber ist uns bereits bekannt : wir haben sie auf die Zensur ziiruck- 
gefiihrt, welche die eine psyehisehe instanz im Gedankenleben gegen 
eine andere ausubt. Die Traumverschiebung ist eins der Hauptmittel 
zur Erzielung dieser Entstellung. Is fecit cui profuit 2 ).” 

Im ubrigen findet man in Freuds Schriften eine Menge Ausspriiche, 
in denen er seine teleologisehe Auffassung der psychischen Phanomene 
aufs deutlichste zu erkennen gibt. So z. B. sagt er an einer Stelle 3 ): 
,.Der ZweckmaBigkeit. zuliebc postuliere ich also, daB es dem zweiten 
System gelingt, die Energiebesetzung zum groBeren Anteil in Ruhe zu 
erhalten und nur einen kleineren Teil zur Verschiebung zu verwenden. 
Die Mechanik dieser Vorgange ist mir ganz unbekannt.*" 

An einer anderenStelle 4 ) sagt er: ,,Man darf der sonst iiberall nach- 
weisbaren ZweckmaBigkeit gedenken.” Wieder an einer anderen Stelle 6 ) 
heiBt es: „Er (der Traum) hat die Aufgabe tibernommen, die freigelassene 
Erregung des UnbewuBten wieder unter die Herrschaft des Vorbe- 

*) Freud, Traunideutung. 2. Aufl., S. 224. 

2 ) Gcsperrt durch Kin berg. 

;l ) Freud, Traumdeutung, S. 372. 

4 ) Freud, Traumdeutung, S. 356. 

: *) Freud, Traumdeutung, S. 35S. 


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(). Kinberg: 


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wuBten zu bringen; er fiihrt dabei die Erregung des UnbewuBten .ab, 
dient ihm als Ventil und sichert gleichzeitig gegen einen geringen Auf- 
wand an Wachtatigkeit den Schlaf des VorbewuBten.“ 

Ein anderes Beispiel, aus Freuds alltagspsychologischer Abhand- 
lung 1 ) ist recht bezeichnend. Freud sucht hier zu zeigen, daB der 
AnlaB dazu, daB eine Person beiZitierung des Verses: ,,Exoriare aliquis 
nostris ex ossibus ultor“ sich des Wortes aliquis nicht erinnem konnte, 
ein unbewuBter Wunsch war, einen unlustbetonten Komplex: die Furcht 
vor ausgebliebener Menstruation bei der Geliebten, der zitierenden 
Person, zu schutzen. Das augenblickliche Vergessen ist also ein Mittel, 
um einen Zweck zu erreichen, namlich den, eine unbewuBte, unlust- 
betonte Vorstellung am BewuBtwerden zu verhindem. 

Solche Beispiele konnte man in Freuds Schriften in nahezu un- 
begrenzter Anzahl sammeln. Es ist leicht begreiflich, daB erne solche 
teleologische Auffassung der psvchologischen Erscheinungen in hohem 
Grade das Interesse der Menschen fesseln muB, denn teils ist ja die 
teleologische Betrachtungsweise in der praktischen Individualpsycho- 
logie vorherrschend, teils ist fur die menschliche Psyche in eigentlicher 
Bedeutung nur das begreiflich, was final betrachtet werden kann, und 
folglich schenkt die Freudsche Darstellung leicht die Illusion, daB sie 
die theoretische Psychologie jedermann zuganglich zu machen vermag, 
also auch fur Personen, denen theoretische Schulung auf diesem Ge- 
biete fehlt. AuBerdem hat wohl die Menschheit zu alien Zeiten auf 
Grand der Organisation der mensehlichen Psyche ein weit groBeres 
Interesse fiir eine teleologische als fiir eine kausale Betrachtungsweise 
der YVirklichkeit gehabt, und hat sich wohl immer viel mehr durch den 
Gedanken von der Bedeutung und dem Zweck des Daseins als durch 
den Gedanken von der GesetzmaBigkeit der Erscheinungen fessehi 
lassen. Eine monumentale AuBerang dieses Interesses sind die be- 
riihmten Bridgewaterabhandlungen, eine ganze Reihe von Banden, 
die infolge eines im Jahre 1825 von Lord of Bridgewater gemachten 
Legates von 8000 Pfund Sterling zustande gekommen sind, das als 
Preis fiir die besten Schriften uber ,,Gottes Macht, Weisheit und Giite, 
wie sie in der Schopfung offenbart sind'*, bestimmt war. 

Auf rein medizinischem Gebiet stellt sich Freuds Auffassung 
als eine ausgepragte Reaktion gegen die einseitig endogenetische Auf¬ 
fassung der Neurosen, wie sie vor allem in der franzosischen Degenera- 
tionslehre zum Ausdrack kommt, dar. 

Freud behauptet namlich mit Recht, daB die exogenen Momente. 
Kindheitseindriicke, Erziehung, mit einem Wort die Milieueinflusse. 
beim Entstehen der Neurosen von weit groBerer Bedeutung sind, als 
man friiher geglaubt hat. Daraus folgt auch, daB er dem vorher herrschen - 

J ) Freud, Zur Psychojjathologie des Alltngslebcns. 


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Kritische Rcflexionen Uber die psvchoanalytischen Theorien. 361 

den vollstandigen Mangel an rationeller Therapie abhelfen und damit 
eine bessere Prognose verspreehen zu konnen glaubt, wenigstens fur 
einen Teil der Falle. 

Auf psychologische m Gebiet stellt sich Freuds Auffassung a Is 
eine ausgepragte Reaktion gegen die alter© Assoziationspsychologie mit 
ihrer mehr intellektualistischen und ichfreinden Vorstellungsmechanik 
<lar. 

Statt dessen hebt Freud die bedeutungsvoile Rolle der gefiihls- 
und widensmaBigen Element© in jedem psychischen Verlauf mit grolJem 
Nachdruck hervor und erhebt die unterbewruBten und unbewuBten 
Faktoren zu psychischen Determinanten hochsten Ranges. Auch in 
diesem Punkt folgt Freud einer aktuellen Entwicklungslinie, die fiir 
die modem© Psychologie charakteristisch ist. Die stark finale Richtung 
in seiner Psychologie bringt es auch mit sich, daB er in groBem Umfang 
allgemein- oder romanpsychologische Methoden, die ja, wahrend sie 
die formalen Bedingungen fiir den psychischen Verlauf iibersehen, sich 
vor adem mit der Entwicklung und dem Zusammenhang der psychischen 
Inhalte und deren EinfluB auf das menschliche Handeln befassen, fiir 
wissenschaftliche Zwecke anwendet. Das Vorherrschen der allgemein - 
psychologischen Verfahrungsweise bringt es mit sich, daB Freuds 
Schriften sich an ein groBeres Publikum wenden konnten, als sonst bei 
wissenschaftdch psvchologischer Literatur der Fad zu sein pflegt, da 
ja Vorkenntnisse in der beschreibenden und analytischen Psycho¬ 
logie nicht notig sind, urn Freuds Darstedungen folgen zu konnen. 
Die Ahnlichkeit mit den in der Romanliteratur iiblichen Beweis- 
formen hat dem Pubhkum auch ein Gefiihl von Vertrautheit mit dem 
Stoff gegeben und die Vorstellung suggeriert, daB man hier auf be- 
queme Weise Zutritt zu dem Aderheiligsten der psychologischen Wissen- 
schaft gewinnen konnte; der Gedankengang: jeder sein eigener Psycholog, 
hat sicherdch seinerseits dazu beigetragen, das Interesse an Freuds 
Veroffentlichungen zu wecken und zu verbreiten. 

Die groBe Ausdehnung und Bedeutung, die Freud dem Unbe¬ 
wuBten zuerkennt, und seine Vorstedung, daB das UnbewuBte nur auf 
bestimmten Umwegen und unter einer bestimmten Verkleidung be- 
wuBtbar und bewuBt werden kann, veranlaBte einen Versuch, die ver- 
kleideten BewuBtseinsinhalte zu entlarven, und ftthrte dadurch zu 
einer Symbollehre. Durch diese wurden Briicken zu anderen ad- 
gemeinen kultureden und humanistischen Wissenschaften, wie Mytho- 
logie, Religionsphilosophie und Literaturgeschichte geschlagen, was 
eine gewisse Popularisierung der Freudschen Hypothesen und damit 
auch ein gesteigertes Interesse an ihnen mit sich brachte. 

SchlieBlich mag hervorgehoben werden, daB die wunderbaren Eigen- 
schaften, die nach diesen Hypothesen dem UnbewuBten zugeschrieben 


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werden, unci die Auswiichse der Symbollehre der ganzen Lehre einen 
Anstrich von Mystizismus verliehen haben, der niemals eine starke 
Anziehungskraft auf ein gewisses Publikum auszuiiben verfehlt. 

Es hieBe einen wichtigen Faktor bei der Erklarung des Erfolges der 
Freudschen Lehre auslassen, wenn man nicht seinen Stil erwahnen 
wollte. Dieser ist hervorragend flussig, lebendig und konkret, voll von 
Sinnesanalogien und suggestiven Bildem. Auch fur die Bezeichnung 
sehr verwickelter psychologischer Erscheinungen findet er oft besonders 
ausdrucksvoile und besteehende Ausdrucke und gegliickte Vergleiche. 

Er ist mit einem Wort ein sprachlicher Illusionist, der dem Leser 
die angenehme Vorstellung zu geben vermag, daB er auch den ver- 
-wickeltsten Zusaminenhang versteht. 

Ebenso unmoglich ist es, unter den Ursachen fur die groBe Ver- 
breitung der Fre udschen Lehren, weit liber die Grenzen der eigentlichen 
Fachkreise hinaus, die vorherrschende Rolle zu erwahnen zu unter- 
lassen, die die Sexualitat darin spielt. Es bedarf keiner groBen Men- 
schenkenntnis, uni einzusehen. daB es Massen von Individuen gibt. 
die mit Begeistening die Gelegenheit wahmehmen, unter dem Schutz- 
mantel der Wissenschaft ihr pomographisches Interesse dadurch zu 
befriedigen, daB sie sich mit dem Reichtum an Einzelheiten aus dem 
Sexualleben, von denen die psychoanalytic he Literatur uberstromt. 
beschaftigen. Eine gewisse symptomatische Bedeutung muB auch dem 
Saehverhalt zugeschrieben werden, daB gerade in solchen Landem, 
wo die sexuelle Heuchelei bltiht, die psychoaualytischen Lehren die 
warmste Aufnahme gefunden haben, wahrend in romanischen und 
skandinavischen Landern, wo die sexuelle Heuchelei weniger hervortritt. 
die Bcwegung besonders kiihl aufgenomnien worden ist. 

Die hier aufgezahlten l T rsachen fur die auBerordentlich wohlwollende 
Aufnahme, die der psychoanalytischen Bewegung zuteil geworden ist. 
sind natiirlich keineswegs die einzigen, es diirften aber meiner Meinung 
nacli die wichtigsten sein. 

Wenn wir nun daran gehen, hach den Ursachen fur den energi- 
schen Widerstand gegen die Freudschen Lehren zu forschen, werden 
wir finden, daB wir in der Hauptsache auf dieselben Faktoren treffen, 
die ich als Ursachen fur ihre Erfolge angeflihrt habe, nur gleichsam von 
der Kehrseite gesehen. 

Betreffs der ubrigen Faktoren wiederum, wie z. B. Freuds Stil 
und Pansexualismus, beruht die betreffende Erscheinung darauf, daB 
das, was von einer Seite gesehen, ein Verdienst ist, von einer anderen 
aus betrachtet, ein Fehler sein kann — z. B. literarischer und wissen¬ 
schaft licher Stil — oder darauf, daB, da die Menschen untereinander 
sehr verschieden sind, sie oft auf ein und dieselbe Sache sehr verschie- 
den reagiertm mussen. besonders wenn die Sache. wie in diesem Fall, 


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Kriti?>che Rotiexionen ilber die psych oanalyti?*chen Thcorion. 3B3 

in hohem Grade dazu angetan ist, ihre Gefiihle in Bewegung zu ver- 
setzen. 

Unter den Faktoren, die vor allem dazu beigetragen haben, Wider- 
stand und Kritik gegen die Freudschen Lehren wachzurufen, treffen 
wir zuerst auf die Art und Weise, wie er den an und fur sich richtigen 
Gedanken einer ununterbrochenen Kontinuitat in der individuellen 
psychischen Entwickelung ausgefiihrt hat. Zweifellos ist Freud vor 
allem bei der Ausarbeitung seiner Neurosenlehre an dieses Problem ge- 
kommen. Die individuellen sexuellen Erlebnisse begannen hier fur 
Freud eine herrschende Rolle zu spielen, und bei der Verfolgung dieses 
Gedankenganges kam er bald zum Sexualleben des Kindes. Freud 
hat auch zumeist auf sexuellem Gebiet den Gedanken der individuellen 
psychischen Kontinuitat entwickelt. 

Es diirfte nicht ohne Interesse sein, zu konstatieren, wie deutlich 
praformationistisch Freuds Gedankengang in dieser Beziehung ist. 
Alle die mannigfaltigen sexuellen Abirrungen, auf die man beim Er- 
wachsenen trifft, findet Freud beim Kinde vorgebildet, ,das er ja auch 
als in sexueller Bedeutung ,,polymorph pervers 4 bezeichnet. 

Abgesehen davon, daB Freud den Fehler begeht, einen Ausdruck 
fur das Anormale, die Ausnahme, auf das Normale, die Regel, anzu- 
wenden — ein Verfahren, auf (lessen UnzweckmaBigkeit ich spater 
zuriickkommen werde —, begeht er auch den von vielen Seiten gerugten 
MiBgriff, eine Menge Erscheinungen im Seelenleben des Kindes als 
AuBerungen von Sexualitat aufzufassen. die ganz gewiB nicht sexuell 
in eigentlicher Bedeutung sind. Hiermit sind wir auch bei Freuds 
Pansexualismus angelangt, d. h. bei seiner Neigung, die Bedeutung der 
Sexualitat auf alle Gebiete des menschlichen Seelenlebens auszudehnen, 
so daB alle menschlichen Triebe und Bestrebungen, vom Nahrungs- 
trieb bis zu den hochsten kulturellen und asthetischen Neigungen nur 
als verkleidete oder sublimierte Sexualitat aufgefaBt werden. 

Gegen diese Anschauungsweise kann man in der Hauptsache folgende 
Einwande machen: 

Freuds Auffassung von (ler Sexualentwickelung des Kindes, init 
ihrer wahrend der ersten 5 Lebensjahre fortschreitenden Entwicklung, 
ihrer vom 5. bis 8. Jahre wahrenden Latenzperiode und der dann wieder 
fortgesetzten Entwicklung bis zur Pubertiit, ist antibiologisch, oder, 
wie Jung sagt, vom biologischen Gesichtspunkt aus ebenso unbegreif- 
lich, wie daB eine Knospe sich zur Blume entwickeln sollte, um sich 
dann wieder zur Knospe zusammenzuziehen. 

Weiter ist seine pansexualistische Anschauungsweise antievolu- 
tio nistisch, weil sie die wahrend der Phylogenesis und Ontogenesis ent- 
standene Differenzierung der menschlichen Triebe und Neigungen auBer 
acht laBt, und diese zum differenzierten Urzustand zuruckfiihren will. 


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0. Kinber^: 


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Vom logischen Gesichtspunkt aus kann man ebenfalls wichtige 
Einwiinde gegen Freuds Auffassung in diesem Punkt machen. Es 
ist eine unrichtige Verallgemeinerung, von den Ergebnissen, zu denen 
man durch Deutungen der infantilen Sexualitat einzelner neurotischer 
Individuen gelangt ist, darauf zu schlieBen, daB diese Ergebnisse nor- 
male Erscheinungen im Geflihlsleben des Kindes darstellen. Es ist 
weiter eine Verwechslung des genetischen und spezifikatorischen Ge- 
sichtspunktes, auf einem aktuellen Entwicklungsstadium hochst ver- 
schiedenartige psychische Erscheinungen mit einem gemeinsamen 
Namen — sexuell — zu bezeichnen, darum, weil sie einstmals, zu Be- 
ginn aller Zeiten, aus einer gemeinsamen Urquelle — der Sexualitat — 
hervorgegangen sind. Freud ubersieht namlich hier, daB gemeinsamer 
Ursprung nicht dasselbe ist wie Identitat. 

Ein solches Vorgehen wiirde dahin fiihren, daB man, um wieder 
Jung zu zitieren. den Kolner Dom vom asthetischen Standpunkt aus 
nicht unter der Rubrik Architektur, sondem unter der Rubrik Mine- 
ralogie behandeln muBte, da er ja zum groBten Teil aus Stem besteht. 

SchlieBlich war Freud und waren besonders seine Nachfolger, 
um die Hypothese vom Pansexualismus aufrecht erhalten zu konnen. 
genotigt, den Ausdruck Sexualitat in zwei sehr verschiedenen Bedeu- 
tungen anzuwenden, teils in dem engeren Sinne, der dem Ausdruck im 
gewohnlichen Sprachgebrauch zukommt, teils in einer so allgemeinen 
Bedeutung, daB er durch die Ausdriicke ,,Interesse“, ,,Begierde", 
..St re ben" ersetzt werden kann. 

Maeder sehliigt vor. daB d;us Wort ..sexuell" in dem Sinne genommen 
werden soli, den Schiller in die Worte, ..Hunger und Liebe" legt in dem 
Vers: ..Solange nicht den Bau der Welt Philosophic zusammenhalt. 
erhalt sich das Getriebe durch Hunger und durch Liebe.*" 

Ein anderer Psychoanalytiker, E. I ones 1 ), erklart, daB Geschlechts 
trieb, nach Freud, dasselbe ist wie Schopenhauers ,,Wille zur 
Macht" und wie Bergsons ,,elan vital". 

P. Janet, nach dem dieses zitiert ist, fiigt hinzu: ,,Voil4 qui est 
elair: tons les mots employes par les psycho-analystes comme instincts 
sexuels, desirs genitaux, -appetit du coit, libido, etc. designent tout sim- 
piement, 1’elan vital" des metaphysiciens". 

Ereichtlich entgeht eine solche Respektlosigkeit vor der Wort- 
bedeutung nach gewohnlichem Sprachgebrauch nicht ihrer nattirlichen 
Kolge: Begriffsverwirrimg, und das Ergebnis da von, daB man einen 
seinem Inhalt nach wechselnden Ausdruck, Sexualitat, als Erklarungs- 
grund fiir alle moghchen verechiedenartigen psychischen Erscheinungen 
anwendet, ist natiirlich, daB nichts erklart wird. 

’) E. Jones, Papers on psycho-analysis 1915, preface, p. XI, cit. nach P. Ja¬ 
net, La psycho analyse (Joum. de psychol. 1914, 2). 


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Kritische Reftexionen tlber die psychoanalytisehen Theorien. 


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Im librigen haben die ungeheuren tTbertreibungen im Pansexualismus 
dazu beigetragen, der ganzen Lehre das Namensschild Hypererotis- 
mus anzuheften und eine abweisende Haltung von seiten mehr niich- 
temer und kritischer Menschen hervorgerufen. DaB aber diese ab¬ 
weisende Haltung auch Heuchelei sein kann, haben die Psychoanaly- 
tiker selbst hervorgehoben, und daB es sich so auch verhalt, diirfte nicht 
abgeleugnet werden konnen. 

In der Frage nach der determinierenden Bedeutung der Kind- 
heitseinsdruc ke fur die individuelle Entwicklung hat Freud gleich- 
falls liber das Ziel hinausgeschossen. Ein ganz Teil verstandige Leute 
haben sich aus guten Griinden energisch geweigert, alle diese Behaup- 
tungen uber die sexuellen Erlebnisse des Sauglings als Ursache fiir aller- 
hand Neurosen und Psychosen, sexuelle Abnormitaten, fiir unser ganzes 
Traumleben usw. gelten zu lassen. 

AuBerdem geben die pansexualistischen Neigungen, in allerhand 
gleichgiiltigen psychologischen Erscheinungen symbolische Ausdriicke 
fiir sexuelle Phanomene zu finden, ein Zerrbild der kindlichen Psyche. 
Das ist mit Scharfe unter anderen von Stern 1 ) in einem vor einigen 
Jahren verdffentlichten Aufsatz hervorgehoben worden. Stern fuhrt 
eine Menge Beispiele fiir die psychoanalytische Kinderpsychologie an, von 
denen einige hier erwiihnt zu werden verdienen: Des Kindes Freude daran, 
mit der Peitsche zu knallen, ist eine AuBerung sadistischer Neigungen. 
DaB das Kind oft verbotene ^Jandlungen begeht, beruht nicht auf 
Mangel an Heinmungen, Vergessen von Verboten, Trotz u. dgl., sondern 
auf ,,masochistischen Wollustkomponenten* 4 , d.-h. mit dem TJngehorsam 
beabsichtigt es, Bcstrafung hervorzurufen. DaB das Kind sich nach 
einem Vergehen freiwillig in die Ecke stellt, ist eine AuBerung von 
,,Autosadismus 44 . DaB das Kind runde Gegenstande gem hat, deutet 
auf ,,koprophile“ Neigungen, daB es gern mit Wasser platscht, ist ein 
. ,uretralerotisches k ‘ Phanomen. 

Auch um das Seelenleben der Frucht weiB man Bescheid: Hug- 
Helmuth 2 ) behauptet, daB beim Coitus kurz vor dem Partus bei der 
Frucht ,,einfachste Muskel- und Hautempfindungen <s hervorgerufen 
werden, die eine ,,vorzeitige erhohte Sexualempfindlichkeit 4t bewirken. 
Wenn man das hort, wundert man sich kaum mehr iiber die Behauptung 
des Schullehrers Bliiher 3 )^ daB die Wandervogelbewegung ein Aus- 
bmch von Homosexualitat ist, wie daB ,,nicht Hemmung, sondern 
Auslosung dieser homosexuellen Tendenz eine ethische und psycho- 
sanitare Forderung ist.‘ 4 

J ) W. Stern, Die Anwendung der Psychotinalyse auf Kindheit und Jugend. 
Zeitschr. f. angew. Psychol. 8, 1, 11. 

2 ) Zitat nach Stern. 

3 ) H. Bliiher, Die deutsehe W’andervogelbewegung als erotisches Phanomen. 
1912. Zitat nach Stern. 


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366 O. Kinberir: 

In voller tlbereinstimmung mit dieser Auffassung steht B1 fillers 
Ausspruch, dafi die betreffende Bewegung von begeisterten Homo* 
sexuellen geftihrt werden muB, wenn sie nicht erldschen soil. 

Der AnlaB dazu, daB der an und fur sich richtige Gedanke von der 
groBen Bedeutung der Kindheitseindrlicke fur die personliche psychische 
Entwicklung von der Freudschen Schule auf eine so miBgliickte Weise 
durchgefuhrt wurde, ist, auBer der pansexualistischen Tendenz, ro t 
allem die Geneigtheit, Erklarungen durch auf bestimmte Weise gefarbte 
Deutungen zu ersetzen, oder, mit anderen Worten, die Vermischung 
der kausalen und finalen Betrachtungsweise. 

DaB der Versuch, das Dasein unter dem Gesichtswinkel der Zweck- 
maBigkeit zu betrachten, immer eine Gefahr fur die Erkenntnis der 
Wirklichkeit ausgemacht hat. beweist die Geschichte des mensch- 
lichen Wissens zum GbermaB. Um eine Vorstellung davon zubekoramen, 
braucht man nur an das Weltbild zu denken, das die europaischen Volker 
im Mittelalter hat ten. Der Mensch war das hochste erschaffene Wesen, 
die Erde war der Mittelpunkt der Welt, und die ganze Weltmaschinerie 
mit ihren ewigen Strafen und ewigen Belohnungen war nichts anderes 
als ein Mittel fur die Finalitatseinsteliung nach einer absoluten Moral, 
die wohl der Kern wenigstens aller mehr entwickelten Religionen ist. 

Die krasse Absichtenteleologie, ,.die eine kausale Erklarung ab- 
lehnte, um sieh durch die Einwirkung einer nach Absichten wirkenden 
Intelligenz zu ersetzen** 1 ). und die jnit Theologie zusammenfallt, ist 
freilich zum groBten Teil aus den neuzeitlichen wissenschaftlichen 
Untersuchungen verschwunden, aber bei jeder finalen Betrachtungs¬ 
weise des Daseins ist doch die Gefahr fur Ruckfall in die Absichts- 
teleologie groB. Fur eine kritischere Anschauung sollte eine finale Be¬ 
trachtungsweise auf die Lebenserscheinungen, d. h. auf biologisches 
und psychologisches Gebiet beschrankt werden. Im psychikalischen 
Verlauf dagegen kann keine finale Betrachtungsweise gebraucht werden. 
? ,Les ames agissent selon les lois des causes finales par appetitions. 
fins et moyens. I^es corps agissent selon les causes efficientes on les 
mouvements. Et les deux regnes, celui des causes efficientes et eelui 
des causes finales, sont harmoniques entre eux 2 ). u 

Indessen auch wenn man diese Begrenzung der finalen Betrachtungs¬ 
weise annimmt, ist es doch deutlich, daB nicht ohne weiteres angenom- 
men werden darf, daB alle biologischen und psychologischen Zusammen- 
hange vom finalen Gesichtspunkt betrachtet werden konnen. Auf diesem 
Punkt muB man sich an die Erfahrung wenden. Auf biologischeni (to- 
biet hangt Finalitat mit Anpassung zusammen. so daB, je vollstandiger 

1 ) Fr. Paulsen. Einleitung in die Philosophic. 1904. S. 244. 

-) Leibniz, Monadologie §79. 


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Kriiisclie Retiexionen tlber die psycho&nalytischen .Theorien. 


367 


die Anpassung ist, in desto groBerer Ausdehnung kann eine finale Be- 
trachtungsweise angewendet werden. 

Die biologische Anpassung ist ja indessen weit davon entfemt, voll- 
koramen zu sein. ja, eine vollkommene biologische Anpassung fur alle 
lebenden Wesen ist tatsachlich undenkbar. 

Eine von den Ursachen der Unvollkoramenheit der biologischen 
Anpassung ist u. a., daB die Eigenschaften eines Organismus, die eine 
erreichte Anpassung in bestimmter Beziehung bergen, wahrend der 
Phylogenie entstanden und organisch fixiert sind. Sie werden also in 
hohem Grade stabil und vermogen sich deshalb nicht mit ausreichender 
Geschmeidigkeit den wechselnden Milieuverhaltnissen anzuschmiegen. 
Dasselbe gilt von den psychologischen Verlaufen. Auch hier ist die 
Anpassung unvollkommen, und folglich konnen keineswegs alle 
psychischen Verlaufe final betrachtet werden. 

Wenn z. B. jemand angesichts eines heransausenden Automobils 
von einer Schreckhemmung erfaBt und darum uberfahren wird, so ist 
diese psychische Reaktion offenbar hochst unzweckmaBig. Indessen 
war dieselbe Reaktion sicherlich einst, als die Menschen mit anderen 
Oefahren, die von wilden Tieren, von feindlichen Menschen drohten, 
zu kampfen hatten, zweckmaBig, aber nachdem sie se*it Generationen 
in unserer cerebralen Organisation fixiert ist, kann sie, wenn sie nicht 
durch neue Anpassungserscheinungen abgelost wird, vollstandig unan- 
geraessen werden, so in dem erwahnten Beispiel. 

Zweifellos ist ein groBer Teil unserer psychischen Verlaufe so stark 
fixiert und an bestimmte generelle Anpassungsobjekte gebunden, daB 
eine Veranderung des Verlaufes entsprechend zufallig wechselndem 
Zweck nicht stattfinden kann, oder, mit anderen Worten, eine Menge 
psychischer Erscheinungen lassen keine finale, sondem nur eine kausale 
Betrachtungsweise zu. 

Es liegt indessen in der Natur der Sac he. daB wir eine starke Geneigt- 
heit besitzen miissen, psychische Erscheinungen iiberhaupt unter dem 
Gesichtswinkel der Finalitiit zu betrachten. Durch unser? inneren, un- 
mittelbaren Beobachtungen sind finale Zusammenhange in bezug 
auf unsere eigenen bewuBten Handlungen uns alien bekannt, und es 
sind sogar diese Zusammenhange, die wir am besten kennen. Ex analogia 
schlieBen wir auf Zusammenhange gleicher Art, wenn es sich um die 
Handlungen anderer Menschen handelt. Um so wichtiger ist es, fest- 
zuhalten, daB nicht jeder psychische Verlauf unter diesem Gesichts¬ 
winkel betrachtet werden kann. 

Von besonders groBem prinzipiellen Gewicht ist es, zwischen der 
wissenschaftlichen Erkla.ru ng eines Phanomens nach der Kausal- 
formel und der Deutung eines Phanomens nach der Finalitatsformel 
zu unterscheiden. Diese Gedankenoperationen gehoren namlich ver- 

Z. f. d. g. Neur. u. I“»ycti. O. XXXVII. 04 


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0. Kinberg: 


schiedenen Kategorien an, auch wenn sie in gewissen Fallen gleichzeitig 
anf ein und dasselbe Geschehnis angewandt werden konnen. 

In Hinsicht auf diese beiden Prinzipe macht sich Freud zweier 
Fehler schuldig, die besonders verhangnisvoll fur seine Theorien sind: 
1. Teils postuliert er finale Zusammenhange zwischen Er- 
scheinungen, bei denen solche Zusammenhange nicht zu 
beobachten sind. 2. Teils verwechselt er oft Kausalitat mit 
Finalitat. 

Freuds Neigung, ZweekmaBigkeit in den psychischen Prozessen 
zu postulieren, die schon oben durch die angefuhrten Zitate nach- 
gewiesen ist, kommt besonders ausgepragt in seiner Traumdeutungs- 
lehre zum Vorschein. Schon die Benennung „Traumdeutung“ zeigt, 
daB er auf einen finalen Zusammenhang absieht. Hatte er es auf 
den kausalen Zusammenhang zwischen den Traumerscheinungen ab- 
gesehen, so hatte er seine Arbeit wohl ,,Erklarung von dem Entstehen 
der Traume“ oder so ahnlich genannt. Das psychologische System, das 
Freuds Traumdeutimgslehre zugrunde hegt, setzt sich zusammen aus 
verschiedenen, in ihrem Verhaltnis zueinander in hohem Grade selb- 
standigen psychischen Einheiten — man fiihlt sich beinahe versucht, 
sie Organe zu nennen —, die Freud als „Instanzen" bezeichnet. Die 
Instanzen, die die Hauptrolle bei der Traumbildung spielen, sind das 
Unbewulite und das VorbewuBte. 

Fur beide postuliert Freud mehrere fur seine Traumdeutimgslehre 
und sein ganzes psychologisches System wichtige Eigenschaften. 

Das Unbewulite besteht danach ausschlieBlich aus verdrangten, 
infantilen Sexualvorstellungen, es ist nicht bewuBtbar, d. h. nicht 
ilirekt, sondem nur auf Umwegen durch Psychoanalyse. Das Vor¬ 
bewuBte dagegen ist bewuBtbar, bildet die Verbindung zwischen dem 
UnbewuBten und dem BewuBten und hat, als wichtigste Aufgabe, die 
Zensur iiber die unbewuBten Inhalte auszuiiben, die danach streben, 
bewuBt zu werden. Nur solche unbewuBten Inhalte, die vom ethisch- 
iisthetischen Gesichtspunkte aus von der bewuBten Personlichkeit er- 
tragen werden konnen, erhalten Erlaubnis, die Zensur zu passieren. 

Die Wunsche des UnbewuBten sind nach Freud die primare Ursache 
der Traumbildung. Schon das ist eine unbewiesene Behauptung. Aber 
er postuliert weiter: daB derTraum immer egoistisch ist, immer eine 
Wunscherftillung und immer ein psychisch wertvolles, bedeutungs- 
volles Material enthalt. 

Die Bedeutung, der Wert, tritt indessen oft oder meistens bei direkter 
Priifung des festgestellten Trauminhaltes nicht zutage. Also muB dieser 
gedeutet werden konnen. Man sieht unmittelbar ein, daB diese ganze 
Reihe von Postulaten zustande gekommen ist, um die teleologische 
Auffassung vom Traumleben, die Freud hegt, zu stiitzen. 


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Kritische Reflexionen fiber die psychoanalytischen Theorien. 


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Freuds Tendenz, alle psychischen Verlaufe, vom Gesichtepunkt 
der Finalitat aus zu betrachten, nicht nur solche bewuBten Prozesse, 
bei denen ein teleologischer Zusam men hang ftir die innere Erfahrung 
unmittelbar gegeben ist — eine Tendenz, die von seinen Epigonen 
unkritisch aufgenommen worden ist — hat AnlaB zu einer Deutungs- 
raserei, einem wirklichen ,,d£lire d’interpretation'‘, gegeben, das die 
seltsamsten Ausdrttcke annimmt. 

Einige Beispiele raogen hier ausgefuhrt werden. Wenn z. B. eine 
Person, deren Vater schwer krank daniederliegt, traumt, der Vater 
ware tot, so liegt es ja nahe, diesen Traum so zu erklaren, daB die von 
Unruhe und Besorgnis erfiillte Stimmung des Tages in den Schlaf- 
zustand hiniiberreicht und im Traum die Vorstellung erweckt, daB das 
Gefftrchtete eingetroffen ist. 

Eine solche Erklarung wird von Freud nicht gutgeheiBen. Der 
Traum ist immer egoistisch, die Erfiillung eines unbewuBten, verdrangten 
infantilen Wunsches. Der betreffende Traum muB demnach als Aus- 
druck fur einen verdrangten infantilen Wunsch nach dem Tod des 
Vaters gedeutet werden. 

Gegen die ersterwahnte Erklarung wendet Freud folgendes ein: 
„Wenn man meint, daB dies alles einfacher ist, und daB man eben bei 
Nacht und im Traume nur fortsetzt, was man bei Tag angesponnen hat, 
so laBt man die Traume vom Tode teurer Personen eben auBer allem 
Zusammenhang mit der Traumerklarung 1 ) und halt ein sehr 
wohl reduzierbares Ratsel tiberfltissigerweise fest" (S. 188). Die ITber- 
legung ist typisch: eine einfache und naturliche Erklarung stimmt nicht 
mit Freuds konstruierter Traumtheorie tiberein: also taugt sie nichts. 

Bei Erwahnung der haufigen Maturitatstraume spricht Freud 
davon, daB Stekel die Aufmerksamkeit auf den Doppelsinn des 
Wortes „Matura“ gerichtet hat, und daB Stekel beobachtet haben 
will, daB solche Traume recht haufig auftreten, wenn eine sexuelle Er- 
probung ftir den nachsten Tag angesetzt ist, wo die gefiirchtete Blamage 
also in der Entfaltung einer geringen Potenz bestehen konnte (S. 193). 

Auf Seite 198 in seiner Traumdeutung sagt Freud: ,,Es gibt Traume 
von Landschaften oder Ortlichkeiten, bei denen im Traume noch die 
Sicherheit betont wird: ,Da war ich schon einmal.‘ Diese Ortlichkeit 
ist dann immer das Genitale der Mutter; in der Tat kann man von 
keiner anderen mit solcher Sicherheit behaupten, daB^man ,dort schon 
einmal war‘.“ 

Auf derselben Seite (198) fuhrt Freud einen anderen Traum an, 
von dem er sagt: ,,Im folgenden gebe ich den Traum eines jungen 
Mannes wieder, der in der Phantasie schon die intrauterine Gelegenheit 
zur Belauschimg eines Coitus zwischen den Eltem benutzt. 

*) Ck*8perrt vom Vcrf. 

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0. Kinberg: 


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Er befindet sich in einem tiefen Schacht, in dem ein Fenster ist, 
wie im Semmeringtunnel. Durch dieses sieht er zuerst leere Landschaft, 
und dann komponiert er ein Bild hinein, welches dann auch sofort da ist 
und die Leere ausftillt. Das Bild stellt einen Acker dar, der vom In¬ 
strument tief aufgewuhlt wird, und die schone Luft, die Idee der griind- 
lichen Arbeit, die dabei ist, die blauschwarzen Schollen machen einen 
schonen Eindruck. Dann kommt er weiter, sieht eine Padagogik auf- 

geschlagen-und wundert sich, daB den sexuellen Gefiihlen (dee 

Kindes) darin so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, wobei er an mick 
denken muB/* 

Adler fiihrt den Traum einer Person an, die er wegen lmpotenz 
behandelt hat. Der Traum lautet: 

,,Ich handle mit alten Sachen in Wien oder in Deutschland oder in 
Frankreich. Ich muB aber neue Sachen kaufen und sie abwaschen, weil 
dies dann billiger kommt. Dann sind es wieder alte Sachen.'* 

Nach den Beispielen, die ich schon angefuhrt habe, vermute ich, 
daB niemand den geringsten Zweifel iiber die Bedeutung dieses Traumes 
hegen kann. Ein Kind kann ja begreifen, daB, „alte Sachen" alte, 
schlechte, impotente Genitalien bedeuten mussen, und neue Sachen 
miissen neue, vorziigliche, potente Genitalien bedeuten, und die Frage 
nach dem Preis muB sich auf die Befurchtungen des Patienten wegen 
gesteigerter Ausgaben beziehen, wenn er die neuen Sachen bekommt. 

Ein norwegischer Arzt, Strom me 1 ), hat die Deutung, nicht eines 
Traumes, sondem des Deliriums eines Geisteskranken veroffentlicht. 
Strom me sagt dariiber: ,,Um diese zu deuten (die VVahnvorstellungen 
der Schizophrenen) kann man die Psychoanalyse zu Hilfe nehmen, 
um den unendlich variierenden symbolischen Gedankengang zu ver- 
stehen, der der Psychose zugrunde liegt. Ich will als erstes Beispiei 
einen Mann nehmen, der vor einiger Zeit im Drontheimischen Mord 
an einem Arbeitskameraden beging und nach Beobachtung fur geistes- 
krank erklart wurde. Ich will zugeben, daB ich den Mann niemals ge- 
sehen habe, sondem nur ein gut geschriebenes Gutachten der Sach- 
verstandigen gelesen habe, so voll von Symbolen, wie man nur wunschen 
kann. Der Mann schoB sein Opfer mit einem Revolver in den Nacken — 
weil er von dem Opfer verfolgt wurde. Es zeigte sich, daB durchaus 
kein Grand fur diese seine Verfolgungstheorie vorlag — es ist also eine 
Wahnvorstellung, wie sie solche Demente haben; er leidet an paranoider 
Deraenz. 

Verstandlicher wird der Fall, wenn man ihn mit dem Auge dee 
Analytikers betrachtet. Der Mann schoB auf sein Opfer, weil er es liebte. 
Das Pistolenattentat auf den Nacken ist wie ein homosexuelles Attentat, 

l ) Joh. Strom me, Sindsykdom og Freuds laere. Tidskrift for Nordisk Ret*- 
medicm og Psykiatri. Aargang 11, S. 325. 


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Kritische Refiexionen ttber die psychoanalytischen Theorien. 371 

wie ein vollzogener Coitus per anum zu betrachten. Man stutzt un- 
willkurlich, ja, schiittelt vielleicht den Kopf. Und doch ist die Deutimg 
dee Falles ungewohnlich leicht. Ein wenig Sv mboli k — die Pistole 
ale Penissymbol-ist uralt—, ein wenig Verschiebung — eine Ver- 
legung von unten nach oben, vom Anus bis zum Nacken—, die Wahn- 
Voretellung als negativ betrachtet, so bekommt man das Motiv 
dee Mannes aufgedeckt." 

Ist es nicht, als ob man sich in der Hexenkiiche befande und horte, 
wie die Hexe Faust ihr „Einraaleins“ vorplappert: 

,,Die Hexe fangt mit groBer Em phase an, aus dem Buche zu dekla- 
mieren: 

Du muBt verstehnj 
Aus Eins mach’ Zehn 
IJnd Zwei laB gehn, 

Und Drei mach’ gleich. 

So bist du reich. 

Verlier die Vier. 

Aus Fiinf und Sechs. 

So sagt die Hex, 

Mach’ Sieben nnd Acht 
So ist’s vollbracht: 

Und Neun ist Eins, 

Und Zehn ist Keins. 

Das ist das Hexen-Einmaleins. 

Faust: Mich diinkt, die Alte spricht im Fieber." 

Beispiele von solchen Deutungen, wie die hier angefiihrten, gibt es 
in nahezu imbegrenzter Anzahl in der psychoanalytischen Literatur. 
Man stellt gewiB keine geringen Anspriiche an die Kritiklosigkeit der 
Menschen, wenn man verlangt, daB sie dergleichen als sichere wissen- 
schaftliche Resultate anerkennen sollen. Und iiberdies wird behauptet, 
daB die Traumdeutung ,,der Konigsweg zum UnbewuBten" ist, diesem 
UnbewuBten, das den Schliissel zu sowohl der Atiologie wie Therapie 
der Neurosen enthalten soli. 

Die psychoanalytische Traumdeutungslehre stellt sich also als ein 
gutes Beispiel dar fur die Gefahr, die darin liegt, ohne weiteres Zweck- 
maBigkeitszusammenhang zwischen psychischen Erscheinungen zu 
postulieren, wo ein solcher Zusammenhang sich nicht durch die Er- 
f ah rung nachweisen laBt. 

lm iibrigen scheint es offenbar, daB Freuds eben erwahnte psycho- 
logiBche Anschauungen gegen die Erfahrung streiten, weil sie keine 
Rficksicht nehmen auf die Faktoren nichtinhaltlicher Natur, die auf die 
psychischen Verlaufe einwirken. So wird ja z. B. der Assoziationsverlauf 


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O. Kiuberg: 


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sowohl in wachem Zustand wie im Traum nicht nur vom Interesse, d. h. 
dem ichbetonten, auf einen Zweck gerichteten Streben bestimmt, sondem 
auch durch andere Umstande, wie die zufallige Stimmung, den „Tonus " 
— die Tendenz, bewuBt zu werden — der Vorstellungen, was unter 
anderem auf einer kurz vorhergegangenen Aktualisierung, mit einem 
Wort auf der herrschenden „Konstellation“ beruht, und ein groBer 
Teil dieser determinierenden Faktoren ist ganz sicher unzuganglich fur 
eine ichbetonte, teleologische Einstellung. AuBerdem laBt Freud bei 
seinen Erklarungen bisweilen wichtige physiologische Faktoren auBer 
Rechnung, wie z. B. wenn er behauptet, daB der Schlaf ,,den Wunsch 
des VorbewuBten zu schlafen“ zur Ursache hat, eine Erklarung, die 
uberdies offenbar gar nichts erklart. 

Der Unterschied zwischen einer Erklarung eines Trauminhaltes und 
einer Traumdeutung in Freuds Sinne durfte am besten durch ein Bei- 
spiel anschaulich gemacht werden. Vor einiger Zeit hatte ich folgenden 
Traum: „Ich horte ein lebhaftes Flattem und Gackern von Htihnem 
im Garten vor ineinem Hans. Ich wurde von der Befurchtung eigriffen, 
daB es der Fuchs ware, der unter meinen Hiihnem hauste, eilte ans 
Fenster und sah, wie die Hiihner erschreckt nach alien Seiten flohen. 
Ein Stuck vom Haus entfemt gegen den Waldrand zu sah ich eine ein- 
same Henne vor einem blauen Fuchs fliehen, der sie aber erreichte, 
packte, jedoch nach einigen Schritten verlor, so daB er sich umwenden 
muBte, um sie zu holen. Ich rief meinen Dackel, offnete ihm die Ttir 
und sah, wie er wie ein Pfeil hinter dem Fuchs hersetzte. Ich ging wieder 
ins Haus, um eine Btichse zu holen und meinem Bruder zu sagen, daB 
er mir helfen sollte, den Fuchs zu verfolgen, erwachte aber dann. Ich 
horte nun ein unsinniges klaffendes Hundegebell, und meine erste Cber- 
legung nach dem Aufwachen war: Der Hund bellt wie ein Fuchshund, der 
den Fuchs auftreibt." 

Um den Trauminhalt zu verstehen, muB man folgenden Sachverhalt 
kennen: 

Ich wohne in der Nahe von Stockholm, in einer Gegend. wo es lje- 
sonders viel Fiichse gibt. 

Da ich den groBten Teil des Jahres bei offenem Fenster schlafe, 
hore ich den Fuchs nachts oft heulen in unmittelbarer Nahe meines 
Hauses, wo er sich auch schon oft gezeigt hat. Deswegen habe ich oft 
Befiirchtungen fiir meine Huhner gehegt, besonders wahrend der Jahres- 
zeiten, wo sie frei im Garten spazieren diirfen. Der Traum fiel gerade 
in eine solche Jahreszeit, und die Erklarung desselben scheint mir fol- 
gende zu sein: 

Das Hundegebell war hinreichend stark, um die Schranken zu durch- 
brechen, durch die der Schlafzustand gegen storende Sinneseindrucke 
geschiitzt ist. Der eigentiimliche Charakter des GebelLs erweckte die 


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Kritische Retiexionen fiber die psycho&nalytischen Theorien. 


373 


Vorstellung vom Fuchs und damit das emotive Moment, die Beftirch- 
tung eines Angriffs auf meinen Htihnerhof. Hiermit sind im groBen die 
Voraussetzungen ftir die Traumszene gegeben. 

Indessen enthalt der Traum einige Einzelheiten, die sich nicht dureh 
die oben erwahnten allgemeinen Voraussetzungen erklaren lassen: 

Die Farbe des Fuchses, deutlich blaugrau: Am Tage vor dem Traum 
hatte ich in einer Zeitung die Anzeige eines Kiirschners von unter anderem 
Blaufuchspelz gesehen. 

Das Loslassen des Hundes, obwohi ich wuBte, daB er untauglich 
zur Jagd war: Am Abend vor dem Traum hatte ich dem Hund dieselbe 
Tur geoffnet und gesehen, wie er wie ein Pfeil davonschoB, ohne zu bellen 
— ganz wie im Traum — um einetn der Madchen des Hauses nachzulau- 
fen, das eine Weile friiher ausgegangen war. Die Traumhandlung war 
also in identischer Form die Reproduktion einer einige Stunden vorher 
faktisch ausgefuhrten Handlung. 

Die Absicht, meinen Bruder zu der Verfolgung des Fuchses zu Hilfe 
zu rufen: Dieser Gedanke, der an und fur sich naheliegt, wird noch 
weiter durch den Umstand motiviert, daB der Bruder derjenige von den 
Familienmitgliedern ist, der sich des Hiihnerhofes am meisten annimmt. 
Darum ist es iiblich, zuerst ihn zil unterrichten, wenn etwas mit den 
Hfihnem vor sich geht. 

Wenn man unter einer Traumerklarung den Nachweis der Herkunft 
der in den Traum eingehenden Vorstellungen und des inneren Zusammen- 
hanges, durch den sie zu einer Handhmgsfolge verkniipft werden ver- 
steht, so scheint in diesem Fall eine so vollstanclige Erklarung vorzu- 
liegen, wie billigerweise verlangt werden kann, besonders, da das Vor- 
kommen der wenigen inadaquaten Momente (die Farbe des Fuchses 
und die Episode mit dem Hund) sich auf einen starkeren Tonus bei 
gerade diesen Vorstellungen zuriickfuhren laBt, auf Grund davon, daB 
sie kurz vorher bewuBt gewesen sind. 

Der ganze Traum ist ja tatsachlich nichts anderes als eine halluzi- 
natorische Inszenesetzung einer Handlungsfolge, deren hauptsachliche 
Momente mir in wachem Zustand mehr als einmal vorschwebten und 
die inhaltlich fest mit dem grundlegenden emotiven Faktor verknupft 
sind. 

Wie verhalt es sich nun in einem Fall wie diesem. mit den bekannten 
Freudschen Traumdeutungspostulaten ? 

Wo steht die Wunscherftillung ? Welches sind die verdrangten 
infantilen Sexualwiinsche, die durch diesen Traum verwirklicht werden 
konnten, ohne von der Zensur des VorbewuBten daran gehindert zu 
werden ? 

Es ist nicht meine Sache. sondern die des Psychoanalytikers diese 
Fragen zu beantworten. 


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(). Kinberg: 


Offenbar kann ich von einem Trauminhalt ebenso wie von jedera 
anderen willkiirlich gewahlten Ausgangspun kt durch Asso- 
ziationen zu fiir mich personlich wichtigen Voretellungskomplexen ge- 
langen, die mehr oder weniger mit unerfullten Wiinschen geladen sind. 
Wenn aber jemand behauptet, daB diese in einem speziellen, sozusagen 
qualifizierten Zusammenhang mit dem Trauminhalt stehen, so muB ich 
die Behauptung als reine Willkur zuriickweisen, da ich zu denselben 
stark iiberbetonten und folglich dominierenden Komplexen gelangen 
kann und vermutlich gelangen muB, wo auch immer ich die Assoziations- 
reihe beginnen lasse. 

Und wenn jemand behauptet, daB diese Wiinsche, sie mogen unter 
gewohnlichen Verhaltnissen fiir das BewuBtsein zuganglich sein oder 
nicht, die Ursache des Traumes sind, so antworte ich, daB das nur eine 
leere Behauptung ist, und daB die Ursachen, soweit sie iiberhaupt ge- 
wuBt werden konnen, die oben angefiihrten Momente sind. Naturlich 
kann es niemanden, der Lust dazu hat, verwehrt werden, den oben 
angefiihrten Traum wie jeden anderen als ein Rebus, ein Bilderratsel 
anzusehen und ihn als eine egoistische Erfullung gewisser unbewuBter 
infantiler Sexualwiinsche zu deuten. Dergleichen ist indessen nur ein 
psychologisches Spiel, das nicht (fas geringste mit wissenschaftiicher 
Traumerklarung zu tun hat. 

Dadurch, daB Freud in seiner Traumdeutimgslehre, ausgehend von 
* einer apriorischen Anschauung, teleologischen Zusammenhang zwischen 

psychischen Erscheinungen da postuliert, wo ein solcher sicherlich nicht 
vorhanden ist, ist er auch dazu gekommen, die Begriffe kausale Er- 
klarung und finale Deutung zu verwechseln, etwas, was iiberall in seinem 
Versuch einer Traumdeutung hervortritt. 

Diese Vermischung tritt besonders bezeichnend auch in Freuds 
Terminologie hervor, besonders in dem Ausdruck: ,,Uberdeterminierung‘‘. 
Freud hebt hervor, daB ein und derselbe Traum oder ein und dasselbe 
neurotische Symptom auf mehrere verschiedene Arten gedeutet 
werden kann und nennt das ,,Uberdeterminierung“. Determinierung 
ist aber ein rein kausaler Terminus. Jede Erscheinung, physische oder 
psychische, ist determiniert, d. h. sie besitzt eben gerade die 
Ursachen, die notig waren, um sie hervorzurufen, nicht 
mehr und nicht weniger. Eine „uberdeterminierte“ Erscheinung 
ist also ebenso undenkbar wie ein vierseitiges Dreieck. Ein finaler Zu¬ 
sammenhang enthalt dagegen kein derartiges Quantitatsmoment. Eine 
und dieselbe Handlung kann mehreren verschiedenen Zwecken dienen, 
aber die Vorstellung von einem von diesen Zwecken kann das Handlungs- 
motiv gewesen sein, d. h. eine der Ursachen fiir die Handlung, und die 
hbrigen Zwecke haben dann nichts mit dem Entstehen der Handlung 
zu tun, determinieren sie also nicht. Dagegen kann die Handlung natfir- 


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Kritischc Refleiionen Uber die psychoanalytischen Theorien. 


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lich a posteriori vom Gesichtspunkt der ZweckraaBigkeit aus betrachtet 
wenlen und dabei konnen mehrere mogliche oder richtige Deutungen 
zustande kommen, ohne daB diese das mindeste mit der Ent- 
stehung der Handlung zu tun haben. Der Terminus ,,tTberdeterminie- 
rung 44 selbst beweist also, daB Freud diese fundamentalen Begriffs- 
unterscheidungen ubersehen oder wenigstens nicht geniigend beachtet 
hat, und seine Nachbeter haben dadurch, daB sie den Terminus un- 
kritisch annahmen, alle die Gedankenverwirning in den Kauf bekommen, 
die sich unter ihm verbirgt. 

Es ist mir keineswegs unbekannt, daB man in der psychoanalytischen 
Literatur einen gewissen Gegensatz zwischen Freud, der mehr kausal 
in seiner Anschauungsweise sein soil, und gewissen anderen Psycho- 
analytikem wie Jung, Adler, Maeder, die mehr final in ihrer Auf- 
fassung der psychologischen Phanomene sein sollen, hat geltend machen 
wollen. 

So z. B. hebt Jung 1 ) hervor, daB Freud freilich nachgewiesen 
hat, ,,wie die Traume uns eine Masse subliminalen Materials zuganglich 
machen, meistens Erinnerungen, die fur gewisse Zusammenhange 
unterschwellig geworden sind. GemaB (lem Geist seiner absolut histori- 
schen Methode belehrt uns Fre ud in vorwiegend analytischer Beziehung. 
Trotz des unbestreitbar groBen Wertes dieser Betrachtungsweise darf 
man sich aber nicht ausschlieBlich auf diesen Standpunkt stellen, indem 
die einseitige historische [= genetische 2 )] Auffassung der teleologischen 
Bedeutung der Traume nicht geniigend Rechnung tragt. Das unbe- 
wuBte Denken 44 , fiigt Jung hinzu, ,,ware ganz ungeniigend charakteri- 
siert, wenn wir es bloB vom Standpunkt seiner historischen Deter¬ 
mination betrachteten. Zu seiner vollkommenen Wlirdigung gehort 
unbeflingt auch die seiner teleologischen und prospektiven Bedeutung.“ 

—-,,Nicht, daB wir uns vermessen konnten, dem Traum ein pro- 

phetisches Voraussehen zuzutrauen,“ fahrt Jung fort, ,,wir konnen aber 
wohl mit Recht vermuten, daB unter seinen subliminalen Materialien 
auch jene Zukunftskombinationen aufzufinden waren, die darum 
subliminal sind, weil sie noch nicht den bewuBtseinsfahigen Deutlich- 
keitsgrad erreicht haben. Ich meine damit jene undeutlichen Ahnungen, 
die wir bisweilen vom Zukiinftigen haben, und die nichts anderes sind 
als sehr feine subliminale Kombinationen, deren objektiven Wert wir 
noch nicht zu apperzipieren vermogen. 44 

Jung leistet uns durch diese Auslegungen den Dienst, selbst nach- 
zuweisen, daB die Ursache der unrichtigen Vorstellung, daB Freud in 
seiner Anschauungsweise mehr ausschlieBlich kausal ware, nichts anderes 
als eine MiBauffassung uber den Finalitatsbegriff ist. 

l ) J ung, VersucheinerDaretelhingderpHychoanalytisehenThcoric 1913, S. 110. 

J ) Eingeschoben vom Verf. 


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0. Kinberg: 


Wenn das Wesen des Traumes nach Freud eine Wunschemillung 
ist, und also das Mittel darstellt, wodurch der Zweck, die Wunsch- 
erfiillung, verwirklicht wird, so ist damit so deutlich wie nur moglich 
ausgedruckt, daB der TraumprozeB von Freud wirklich als ein finaler 
Verlauf betrachtet wird. Die von Jung erwahnte prospektive Be- 
deutung gewisser unterbewuBter (nach Freud ,,vorbewuBter“) Inhalte 
ist natiirlich auch der Ausdruck fur eine teleologische Betrachtungs- 
weise. Der einzige Unterechied ist, daB in bezug auf den TraumprozeB 
im ganzen der ganze finale Zusaminenhang verwirklicht gedacht wird 
und also retrospektiv betrachtet werden kann. wahrend in bezug auf die 
prospektive Bedeutung gewisser Einzelheiten des Trauminhaltes da- 
gegen nur das erste died ini finalen Zusammenhang verwirklicht 
werden konnte; daher der prospektive Charakter dieser Einzelheiten. 
Prospektivitiit ist also keine notwendige Bestimmung einer finalen 
Anschauungsweise. In welchem MaBe Zukunftsbeziehung in einem 
gegebenen Augenblick vorhanden ist oder fehlt, beruht ausschlieBlich 
darauf, ob die final betrachtete Erscheinungsreihe schon abgeschlossen 
oder nur begonnen ist. 

Eigentlich ist es kaum uberraschend, wenn man hinter der hiex be- 
riihrten MiBauffassung iiber Freud eine unrichtige Bestimmung des 
Finalitatsbegriffes findet, denn ohne diese ware eine solche MiBauf¬ 
fassung wohl kaum moglich, da das ZweckmaBigkeitsprinzip in Freuds 
Psychologie tatsachlich eine so bedeutende Rolle spielt, daB man seine 
Psychologie mit Recht als Fi nalitiitspsychologie bezeichnen kann. 

Um seine teleologische Auffassung in bezug auf die Triiume anwenden 
zu konnen, war Freud genotigt, sich mehrerer Hilfshypothesen zu be- 
dienen, von denen hier besonders die Symbollehre und die Bestimmungen, 
die dem UnbewuBten zugeschrieben werden, hervorgehoben werden 
mogen. 

Da Freuds Postulat betreffs der Natur der Traume auf keine Weise 
durch den unmittelbar gegebenen, den „manifesten“ Trauminhalt ge- 
stiitzt wird, muBte der ,,latente‘* Trauminhalt hervorgezogen werden. 
und da das durch Deutung geschieht, wird es notwendig, gewisse in 
den Traum eingehende Elemcnte svmbolisch aufzufassen. Wenn es 
gilt, die Relation zwischen Symbol und Inhalt zu bestimmen, ist Freud 
durchaus nicht kleinlich: jede mogliche assoziativc Vorstellungsrelation 
ist als Symbolrelation prinzipiell moglich. Deshalb ist keine Assoziation 
zu auBerlich, kein Wortspiel zu gesucht, um als Grundlage fur ein be- 
hauptetes Symbolverhaltnis zwischen zwei Vorstellungen zu dienen. 
J'fur einige Beispiele aus dem auBerordentlich reichen Material: 

Ein Junge traumt von einem Zeppelin, dieser ist „ein starres System ', 
folglich ein sexuelles Symbol. 

Schmuckkasten — Genitalia feminina. 


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Kritische Retiexionen liber die psvchoanalytischen Theorien. 377 

Feuer (= Wasser) = Bettnassen. 

HustenstoBe bei Tussis nervosa - ..die scxueile Befriedigung des 
Vatere per os.‘" 

Der Vorsatz, abzumagem — der Vorsatz, einen Vetter Richard 
(= Dick) urns Leben zu bringen. 

Flugtraume sind erotisch. Die Symbolassoziation geht iiber das 
Wort ,,fliegen“ und „Vogel“. DaB diese Assoziation in anderen Sprachen 
fehlt, hindert nicht, daB diese Traume als tvpisch betrachtet werden. 
Wenn die Erklarung richtig ist, konnen sie wohl hochstens fur deutsch- 
sprechende Personen tvpisch sein. 

Eine Erweiterung hat diese eigentiimliche Symbollehre dadurch er- 
fahren, daB man sie im Zusammenhang mit den mythologischen Sym- 
bolen gesetzt hat. 

Die Traumsymbole sollen. erklaren Rank, Sachs 1 ) Residuen einer 
vergangenen Zeit, also ihrem Entstehen nach mit den Symbolen der 
Volkssitten identisch sein. 

Ein Beispiel dafiir liefert eine von Jung 2 ) ausgefiihrte Deutung, 
nach welcher in dem Traum eines lljahrigen Madchens von einem 
Gewitter mit Blitzschlag nebst der Erscheinung eines Storches, nicht 
nur der Storch, sondem auch das Gewitter als ein Sexualsymbol gedeutet 
wird, unter Hinweis darauf, das der Blitz von primitiven Volkem als 
sexueller Akt aufgefaBt wird. Mag sein, daB das letzte richtig ist und 
daB 68 wirklich eine gewisse Ahnlichkeit zwischen dem Blitz und dem 
mannlichen Orgasmus gibt [in der franzosischen Literatur des 18. Jahr- 
hunderts findet man bisweilen den Ausdruck ,,eclair“ als synonym ftir 
Orgasmus 3 )], so ist doch darait das Vorkommen einer solchen Symbol- 
relation bei einem Kinde keineswegs erklart. 

Damit die von Jung angefuhrte Analogic eine Erklarung sein konnte, 
miiBte namlich nachgewiesen werden, daB das Kind vorher Kenntnis 
von der erwahnten Symbolrelation hatte oder, daB es so viel von dem 
betreffenden sexuellen Akt wuBte, daB es selbst eine solche Ahnlichkeits- 
assoziation zustande bringen konnte. Das hat aber Jung nicht getan, 
sondem er hat offenbar den Hinweis auf die erwahnte ethnographische 
Beobachtung ftir Erklarung genug gehalten. 

Eine solche Auffassung eroffnet die merkwiirdigsten erkenntnis- 
theoretischen Perspektiven, wahrend sie zugleich dem UnbewuBten 
Eigenschaften zuschreibt, die durch keine empirisch-jjsychologische 
Erfahrung bestatigt werden konnen. Sie wiirden namlich bedeuten, 
daB die psychische Ontogenesis eine detaillierte Wiederholung der 

1 ) Rank, Sachs, Die Bedeutung tier Psychoanalyst' fur die Geisteswitwon- 
schaften. 1913. 

*) C. G. Jung, Vereuch einer Darstellungder peychonimb'tischen Theorie 1913. 

*) Restif de In Breton no, Monsieur Nicolas. 


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psychischen Phylogenesis darstellt, nicht pur in bezug auf ge- 
wisse allgeraeine psychische Reaktionsmodi, sondem auch betreffs 
des Inhalts des BewuBtseins. 

In Rank nnd Sachs 1 ) oben zitierter Arbeit findet man folgenden 
Ausspruch, der weiter die Eigenschaften beleuchtet, die dem Unbe¬ 
wuBten zugeschrieben werden: ,,Vom Uberbau des hoheren Seelen- 
lebens verdeckt, bleibt das UnbewuBte dennoch lebendig und reprasen- 
tiert, da es gleichzeitig'die Vergangenheit des Individuums 
wie die der Gattung in sich faBt 2 ), das Allgemeinmenschliche der 
Personlichkeit, die Verbindung, die den Hochstentwickelten wie den 
Zuriickgebliebenen mit der Gesamtheit verknupft.^ 

Die Stelle ist dunkel, und es dtirfte schwer sein, zu verstehen, was 
die Verfassereigentlichsagen wollten. Die Erw r ahnung des UnbewuBten 
als Reprasentant fur die Vergangenheit auch des Geschlechtes scheint 
indessen auf einen bioJogischen Gedankengang zu deuten: das Un¬ 
bewuBte faBt die psychische Phylogenesis in sich. Wird das biologisch 
morphologische Gesetz von dem Verhaltnis zwischen Phylogenesis und 
Ontogenesis auf das psychologische Gebiet iibertragen, so enthalt es, 
daB die psychische individuelle Entwicklung von der Geburt bis zur 
Reife eine fragmentarische Wiederholung der psychischen Entwicklung 
des Geschlechtes darstellt, wie, daB das voll entwickelte Individuum 
eine Menge psychischer Eigenschaften mit Individuen, die fruheren 
Entwicklungsstadien angehoren, gemeinsam hat. Diese Ablagerungen 
stellen sich indessen nicht im Inhalt des BewuBtseins dar — man erbt 
nicht die Kenntnisse seiner Vorfahren, nur deren Fahigkeit, Kennt- 
nisse zu erwerben —, sondem in intellektuellen, affektiven, voluntaren 
Reaktionsmodi, also in psychischen Eigenschaften formaler Natur, 
d. h. sie liegen in der Form, in der Art des Verlaufes der psychi¬ 
schen Prozesse. Wenn man behauptet, daB das UnbewuBte die 
Vergangenheit der Gattung in sich faBt und damit mu* wahrend 
der Phylogenese erworbene formale Eigenschaften meint, so lieBe sich 
eine solehe Behauptung allenfalls verteidigen. Aber es wird auch von 
dem UnbewuBten als die Vergangenheit des Individuums enthaltend 
gesprochen, und da man bei Erwrahnung des UnbewmBten als eines 
Faktors im psychischen Leben des Individuums sich das UnbewuBte 
gewohnlich als Trager der unter der Form psychischer Inhalte wahrend 
des Lebens des Individuums erworbenen Erfahrung denkt, ist es wohl 
hochst w f ahr8cheinlich, daB Rank und Sachs ausdrucken wollten. 
daB das UnbewuBte wahrend des Lebens so wohl des Individuums wie 
des Geschlechtes erworbene psychische Inhalte in sich faBt. 

') Rank, Sachs, loc. cit., S. 71. 

a ) Gesporrt von Kin berg. 


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Kritische Reflezionen ttber die psyclioauaJytischen Theorien. 


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Ftir diese Auffassung spricht auch die oben nach Jung angefuhrte 
Deutung des Traumes eines 11 jahrigen Madchens. 

Verhalt es sich wirklich so, daB die betreffenden Autoren diese Auf¬ 
fassung hegen, so bedeutet das, daB sie das UnbewuBte als eine Er- 
kenntnisquelle neben den Sinneswahrnehmungen eingeftihrt haben, 
also ein RegreB zu der erkenntnistheoretischen Anschauung, die herrschte, 
ehe die englische Philosophie des 17. Jahrhunderts den Grund zu der 
neuzeitlichen Erkenntnistheorie gelegt hatte, die zu ihren fundamentalen 
Satzen die Lockesche These „No innate ideas 441 ) rechnet oder, wie sie 
auch formuliert wird, ,,Nihil est in intellectu, quod non ante fuerit in 
sensu 44 . Mit einer solchen Auffassung wird tatsachlich eine partielle 
Allwissenheit beim UnbewuBten postuliert, d. h. eine Allwissenheit 
betreffs alles Seelenlebens auf diesem Planeten. 

Unter solchen Verhaltnissen scheinen die Psychoanalytiker ihre 
Aufgabe recht leicht zu nehmen, wenn sie die behauptete Ubereinstim- 
mung zwischen dera Begriff des „UnbewuBten 44 bei ihnen und bei 
v. Hartmann durch ein einfaches Bestreiten abweisen zu konnen 
glauben. 

Tatsachlich ist diese Ubereinstimmung sehr groB. 

Die von Freud oft hervorgehobene Gegensatzsteliung zwischen 
dem UnbewuBten und deni BewuBten. die sich darin auBert, daB das 
BewuBte oft verschonende Motive fur die wirklichen, UnbewuBten 
substituiert, wird klar von Hartmann 2 ) ausgesprochen: ,,Wir glauben 
namlich in solchen zweifelhaften — wenn wir nicht wissen, was wir 
eigentlich wollen — Fallen das zu wollen, was uns gut und lobenswert 
erscheint, z. B. daB ein kranker Verwandter, den wir zu beerben haben, 
nicht sterben moge, oder daB bei einer Kollision zwischen dem Gemein- 
wohl und unserem individuellen Wohl ersteres vorangesetzt werde, 
oder daB eine friiher eingegangene Verpflichtung bestehen bleibe, 
oder daB unserer vemtinftigen Uberzeugung und nicht unserer Neigung 
und Leidenschaft gewillfahrt werde: dieser Glaube kann so fest sein, 
daB hemach, wenn die Entscheidung unserem vermeintlichen Willen 
entgegen ausfallt, und uns trotzdem keine Betriibnis, sondem eine aus- 
gelassene Freude iiberkommt, wir uns vor Erstaunen liber uns selbst 
gar nicht zu lassen wissen, weil wir nun an dieser Freude plotzlich unsere 
Tauschung gewahr werden, und erfahren, daB wir unbewniBt das Gegen- 
teil von dem gewollt haben, was zu wollen wir uns vorgestellt hatten. 4< 

Auch auf den Zusammenhang zwischen unbewuBten Prozessen und 
KrankheitsauBerungen hat Hartmann die Aufmerksamkeit dadurch 
gerichtet, daB er darauf hinweist, daB unbewuBte psychische Verlaufe 
Ursache fiir Gefiihle sein konnen, denen das BewmBtsein andere schein- 

Locke, Essai on the human understanding. 1801. Bd. 11, Kap. 1, §5. 

J ) v. Hartmann, Philosophie des UnbewuBten. 10. Aufl., 1. Teil, S. 218. 


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O. Kinberg: 


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bare Ursachen zuschreibt, etwas, was besonders bei Hypochondrie, 
Hysterie und wichtigen sexuellen Veranderungen, wie Pubertat und 
Graviditat, beobachtet werden kann 1 ). 

Wahrend Hartmann indessen zwischen „UnbewuBtem“ als psycho- 
logischer Realitat und dem „UnbewuBten“ — dem Absoluten, dem 
Grund aller Dinge, unterscheidet und nur diesem hypothetischen 
Ding an sich metapsychische Eigenschaften vorbehalt, findet man, daB 
die Psychoanalytiker, ohne einen solchen Unterschied zu maehen, ihrem 
UnbewuBten libematurliche Eigenschaften zuschreiben, es zu einem 
mvstischen Damon maehen, einem deus ex machina, der uberall in die 
psychischen Verlaufe eingreift, wodurch ein psychischer Dualismus oder 
Pluralismus entsteht, der die Einheit des Ichs aufhebt. 

Freuds Postulat betreffs der Eigenschaften des UnbewuBten be- 
schriinkt sich indessen nicht auf das bisher Erwahnte. Um seine Traum- 
deutungstheorie und seine teleologische Auffassung iiber die Traum- 
bildung und die neurotischen Psychismen durchfiihren zu konnen, 
ist er genotigt, auch besondere Gedankengesetze fiir das UnbewuBte zu 
postulieren, wie Gleichwertigkeit von Position und Negation, 
Substitution von Werturteilen durch Verdrangung, Identi- 
tat von Wortverbindung — ,,auBere‘ , Wortassoziationen und 
,,innere“, Sachassoziationen —, Substitution von willkiirlichen 
Gedanken durch Symbole. 

Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, daB das alles rein will- 
kurliche Behauptungen sind, die im hochsten Grade unwahrseheinlich 
sind. Es ist auch bemerkenswert, daB einer der kritischeren Anhanger 
der Lehre, Bleuler 2 ) diese Annahmen bestimmt verwirft. 

Es soil keineswegs geleugnet werden, daB Freuds Traumlehre trotz 
allem Bizarren und rein Absurden vieles Interessante enthalt. Ihr Wahr- 
heitskem, daB Traume Trager von Wunschen, die im wachen Zustand 
als unerlaubt unterdriickt werden, sein konnen und sehr oft sind, ist 
indessen so wenig neu, daB man ihn schon bei Plato findet, der im 
,,Staat* 4 folgendes dariiber sagt 3 ): ,,Es bleibt also noch iibrig, den tyranni- 
schen Mann selbst zu betrachten, wie er vom Demokratischen ver- 
iindert wird, wie er nach vollzogenem Ubergang beschaffen ist, und auf 
welche Weise er lebt, ungliicklich oder gliicklich. 

Ja, das bleibt freilich noch iibrig, sagte er. 

— WeiBt du wohl, was mir noch fehlt? 

— Xein, was denn ? 

— Betreffs der Begierden haben wir, wie mir scheint, nicht aus- 

J ) v. Hartmann, loe. c*it., S. 219. 

2 ) Bleuler, Kritik der Freudschen Theorien. Allg. Zeitschr. f. Psych. 1913* 
S. 665. 

s ) Plato, Der Staat, 9. Buch. 


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Kritische Reflexionen tiber die psychoanalytischen Theorien. 


381 


reichend entwickelt, wie sie beschaffen und von wie vielerlei Art sie 
sind. Solange es hieran mangelt, wird die Untersuchung, die wir vor- 
haben, etwas unsicher sein. 

— 1st es nicht noch Zeit dazu ? 

— Ja freilich. Und hore nun, was ich dariiber wissen will; es ist 
folgendes : 

Von den nicht abweisbaren Liisten und Begierden scheinen mir 
einige gesetzwidrig zu sein; und diese entstehen zwar bei alien, aber, 
weriii sie von den Gesetzen und den edleren, mit der Vemunft uberein- 
stimmenden Begierden im Ziigel gehalten werden, so verschwinden sie 
bei manchen Menschen entweder ganz und gar, oder werden nur in 
geringer Anzahl und Starke erhalten. bei anderen wiederum erhalten 
sie sich starker und zahlreicher. 

— Welche Begierden meinst du t 

— Die, die wahrend des Schlafens aufgeweckt werden, wenn der 
andere Teil der Seele, der vernunftige, der milde, der uber den anderen 
Teil herrschende, schlaft, und wenn der tierische und rohe Teil, erfiillt 
von Essen und Rausch, sich erhebt und den Schlaf abschiittelnd, los- 
bricht, um seine Luste zu befriedigen. Du weilit, daB er in diesem 
Zustand, los und befreit von aller Scham und allem Nachdenken, zu 
allem fahig ist. Er hegt nicht das mindeste Bedenken, sich, wie es gerade 
kommt, mit seiner Mutter oder jedem beliebigen anderen unter Menschen, 
Gottem und Tieren zu vermischen und sich mit was auch immer zu 
beflecken und sich keiner Art von Xahrung zu enthalten, mit einem Wort: 
vor keiner Torheit, keiner Schandlichkeit zuriickzuschrecken. 

— Du hast ganz recht. 

—Aber wenn jemand sich in einem gesunden Zustand sowohl des 
Korpers wie der Seele befindet und, nachdem er das Vernunftige in 
sich erweckt und mit edlen Gedanken und Betrachtungen erfiillt hat, 
zur Ruhe geht, mit der Seele auf sich selbst gerichtet, indem er 
aber weder die Begierde unbefriedigt gelassen noch sie tibersattigt hat, 
damit sie in Ruhe schlummern mag und nicht durch poltemde AuBe- 
rungen von Freude oder Schmerz den besseren Teil stort, sondern ihn 
in ungetriibter Reinheit fiir sich selbst Betrachtungen anstellen imd 
danach streben laBt, gewahr zu werden, was er nicht weiB, sei es nun 
etwas Gegenwartiges oder Zukunftiges; und nachdem er ebenso Gemiit 
und Zom zur Ruhe gebracht hat und nicht einschlaft im Zom gegen 
jemand und mit aufgeregtem Gemiit, sondern nachdem er die beiden 
Zweige der Seelentatigkeit in Ruhe und Frieden gebracht hat und den 
dritten, dem das Denken anhort, in Bewegung versetzt hat: wenn er 
in dieser Geistesverfassung zur Ruhe geht, so weiBt du wohl, daB er 
in einem solchen Zustand am meisten der Wahhreit nahekommt, und 
da gestalten sich seine Traumgesichte am wenigsten unerlaubt.“ 


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0- Kinberg: 


DaB der Traum oft eine Wunscherfullung ist, ist iibrigens eine Er- 
fahrung, die so allgemein bekannt ist, daB sie sich sogar im Sprach- 
gebrauch niedergeschlagen hat. 

Das Wort Traum bedeutet ja auBer psychischem Erlebnis wahrend 
des Schlafes auch „Wunscherfullung in der Phantasie“. Man sagt ja 
von einer zerstorten Hoffnung: ,,es war ein Traum.“ 

Freuds Reaktion gegen die einseitige Betonung der Endogenese 
der Neurosen in der Degenerationslehre war, wie schon erwahnt, 
ohne Zweifel berechtigt, fiihrte aber bald zu einer Iibertriebenen Be- 
tonung der atiologischen Bedeutung des Milieueinflusses. 

Die Bedeutung der Disposition schrumpfte immer mehr zusammen, 
und zur wirklichen Krankheitsursache wurden allmahlich gewisse ver- 
drangte Vorstellungskomplexe mit infantilem sexuellen Inhalt. 

Spater glaubte man indessen zu finden, daB diese Komplexe, vor 
allem der sog. Inzestkomplex, ubiquitar waren, und damit muBte ja 
die Auffassung von ihrer ausschlieBlich pathogenen Bedeutung fallen. 
Man hat sich auch spater genotigt gesehen, der Disposition wieder einen 
Platz in der Pathogenese einzuraumen. Ich komme fernerhin, bei der 
Behandlung von Freuds Nachfolgem, darauf zuriick. 

I.i seinen psychologischen Ansichten geht Freud, wie schon 
erwahnt, in seinem Streben, die Bedeutung der unbewuBten Prozesse 
nachzuweisen, weit uber die Grenze des gegenwartig WiBbaren und 
Wahrscheinlichen hinaus. Hierbei ist seine Tendenz, das Finalitats- 
prinzip bis aufs auBerste anzustrengen, auch von groBter Bedeutung. 
Diese beiden Freudschen Bestrebungen vereint, bringen eine hochst 
phantastische psychologische Konstruktion zuwege, in der die mensch- 
liche Psyche als eine ganze Reihe verschiedener psychischer Systeme 
dargestellt wird, mit teilweise — ich denke hier zuniichst an das Un- 
bewuBte und VorbewuBte — so verwickelten und selbstandigen Auf- 
gaben, daB sie fast als Personifikationen erscheinen. 

Man hat auch nicht ohne Grand Freuds Psychologie mythologisch 
genannt. Um diese wunderliche Konstruktion zusammenzuhalten, hat 
Freud zu einer solchen Uberproduktion von Hypothesen seineZuflucht 
nehmen mussen, daB die eine Hypothese formlich liber die andere stolpert. 

Wenn man auch Freuds psychologische Konstraktionen als unmog- 
lich zuriickweisen muB, so ist damit nicht gesagt, daB nicht Freud 
durch seine Arbeiten die Entwicklung sowohl der Psychologie wie 
Psychopathologie gefordert hat. Freud ist, wie man mit Recht hervor- 
gehoben hat, Empiriker und nicht Theoretiker. Als der gute Beobachter 
und scharfsinnige Individualpsycholog, der er ohne Zweifel ist, hat Fre ucl 
die Aufmerksamkeit auf einen Teil psychologischer Erscheinungen ge- 
richtet, die vorher nicht bekannt waren, und einen ganzen Teil vor- 
handenen psychologischen Erfahrungsmaterials unter einigende Ge- 


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Khtische Reflexionen Uber die psychoanalytischen Theorien. 383 
• 

sichtepunkte zusammengefaBt und in scharfere Beleuchtung gebracht 
und dadurch hochst wesentlich dessen Erkenntniswert gesteigert. 

Wenn aber die Sache von gewissen Psychoanalytikem so dargestellt 
wird, als ob die medizinische Psychologie ihren Ursprung von Freud 
herleitete, so muB diese Auffassung als arrogante Uberhebung bestimmt 
zuruckgewiesen werden. Die medizinische Psychologie ist ebenso alt 
wie die Zivilisation. 

Ich erwahnte vorher, daB Freuds Stil verschiedene kunstlerische 
Eigenschaften besitzt, die die Lekture seiner Schriften zu einem literari- 
schen Vergnugen machen. Als wissenschaftliche Darstellungskunst 
gibt er dagegen AnlaB zu berechtigter Kritik. Die oft angewandte Ana- 
logieform suggeriert bisweilen Erklarungen, bie bei naherem Zusehen 
als unrichtig befunden werden. Uber die oft ausdrucksvollen und sug- 
gestiven Termini: erste und zweite psvchische Instanz, Zensur, Trans¬ 
position usw. kann dasselbe gesagt werden. DaB sie zuweilen der Aus- 
druck fur eine gefahrliche Begriffsverwirrung sind und eine solche auf- 
rechterhalten konnen, habe ich vorher anlaBlich des Terminus „Uber- 
determinierung 4 * nachgewiesen. Der Stil bedeutet also bei Freud 
einen wichtigen mitspielenden Faktor bei dem Aufbau seiner teilweise 
phantastischen Hypothesenkonstruktionen. 

Die vorherrschende Bedeutung der Sexualitat in den psychoana 
lytischen Theorien hat sicherlich in hohem Grade dazu beigetragen, 
eine starke Reaktion gegen diese Theorien hervorzurufen, und das aus 
sehr verschiedenen Grunden. 

Die Psychoanalytiker haben selbst mit Recht hervorgehoben, 
daB Heuchelei hierbei eine Rolle spielt. In anderen Fallen war es die 
Einsicht in die unerhorten Ubertreibungen des Pansexualismus im Verein 
mit der berechtigten Befiirchtung, daB der erotische Inhalt der Theorien 
zusammen mit dem Beigeschmack von Mystik, den diese ,, Ausgrabungen 
aus dem UnbewuBten“ den Theorien geben, zu einer sicherlich miB- 
verstandenen und darum nicht wunschenswerten Popularisierung und 
Verbreitung unter der Allgemeinheit flihren wiirde. Als Mesmer 
begonnen hatte, sich mit dem „animalen Magnetismus** zu beschaftigen, 
dauerte es ja nicht lange, bis diese scheinbar mystische Erscheinung zu 
einer Gesellschaftsunterhaltung in gewissen Kreisen herabsank. 

Dasselbe kann man von der Psychoanalyse erwarten. Wenn wir 
lange genug leben, so erleben wir vielleicht. daB, so wie zur Zeit der 
Romantik in Deutschland die satirischen Verfasser jener Zeit, Heine, 
Hauff u. a. sich liber ,,die asthetische Teegesellschaft ki lustig machten, 
die satirischen Verfasser unserer Zeit psychoanalytische Teegesell- 
schaften lacherlich machen, bei denen ,,reifere“, sexuell unbefriedigte, 
mannliche und weibliche Individuen, sich die Befriedigung versehaffen, 
die sexuelle Ausgrabungen im Zeichen der Mystik schenken konnen. 

Z. f. d. g. Xeur. u. Psych. O. XXXVII. 25 


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Um den Eindruck zu beleuchten, den diese Erhohung des Sexuellen 
zum A und O des Psychischen oft auch auf Menschen macht, die man 
weder der Priiderie noch Heuchelei beschuldigen kann, will ich erwahnen, 
daB ich, als ich vor einigen Jahren beim Besuch in der Klinik eines 
der beriihmtesten Pariser Neurologen ihn um seine Meinung uber die 
Psychoanalyse fragte, die temperamentvolle Antwort bekam: „Cest 
une masturbation psychique.“ 

Sicher ist es nicht seine Meinung, daB damit alles uber die Psycho¬ 
analyse gesagt ist, aber die AuBerung kann doch als ein recht charakte- 
ristischer Ausdruck fiir die Reaktion einer gesunden und weniger ein- 
seitigen psychologischen Auffassung gegen die sexuelle Beschmutzung 
der Phantasie, zu der die psychoanalvtischen Lehren ftihren, betrachtet 
werden. 

Als ersten unter den Umstanden, die ich als Ursachen fiir die enthu- 
siastische Aufnahme der psychoanalytischen Theorie anfiihrte, erwahnte 
ich Freuds Bestreben, eine Kontinuitat zwischen dem Norraalen 
und dem Abnormen nachzuweisen. Die Art aber, auf die Freud 
dieses sein Bestreben verwirklicht hat, ist einer der dankbarsten An- 
griffspunkte fur Kritik, und die Kritik, die an diesem Punkte ausgeubt 
worden ist, ist auch von verhangnisvollster Wirkung fiir Freuds 
Hypothesen uber die Atiologie der Neurosen. Um diesen besonders 
wichtigen Teil der Kritik an Freuds Theorien darzulegen, muB ich 
in einigen Worten uber Freuds Schema fiir die psychischen Verlaufe 
wie fiber die Entwicklung der psychischen Maschinerie, der Psychogenic, 
berichten. 

Entsprechend der allgemein angenommenen Anschauungsweise ist 
der Prototyp fiir einen vollstandigen psychophysiologischen Verlauf 
das erweiterte Reflexschema, das eine sensorische Reizung, einen 
intraphysischen Verlauf und eine motorische Reaktion in sich faBt. 
Sowohl Anfang wie SchluB dieses Verlaufes, oder mit anderen Worten 
sowohl Ursache wie Wirkung, liegen also in der materiellen AuBenwelt. 
Um seine durch und durch hypothetische Traumtheorie zu stiitzen, 
greift Freud nim zu einer neuen Hvpothese, namlich, daB dieses psycho- 
physiologische System sekundar ist und daB ihm ein anders primares 
System vorausgeht. Dieses wiederum soli aus dem einfachen Reflex 1 ) 
entstanden sein. Hieruber sagt nun Freud, daB gewisse Annahmen 
uns sagen, daB der psychische Apparat zuerst dem Streben folgte ,,sich 
moglichst reizlos zu erhalten“ und darum in seinem ersten Bau das 
Schema des Reflexapparates annahm — man beachte die grobe Absichts- 
teleologie, die aus diesem Ausdruck spricht, — welcher Apparat es er- 
moglichte, eine auf sensorischem Wege kommende auBere Reizung 
sofort motorisch abzuleiten. Aber ,,die Not des Lebens 44 stort diese 

l ) Freud, Traumdcutung, S. 348. 


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Kritische Reflexionen aber die psychoanalytischen Theorien. 


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einfache Funktion und gibt AnlaB zu einer weiteren Entwicklung. Wenn 
ein Bediirfnis, z. B. Hunger, entsteht, so wird er in motorische Reak- 
tion, eine Ausdrucksbewegung, umgesetzt: das Kind schreit. 

Die weitere Entwicklung dieses Apparates kann erst vor sich gehen, 
nachdem das Kind eine Befriedigung des Bedurfnisses erfahren 
hat dadurch, daB die Mutter ihm Nahrung gibt. Die Nahrung laBt ein 
Erinneningsbild zuriick, und wenn das Bediirfnis sich das nachstemal 
einstellt, so sucht das Kind die Befriedigung auf kiirzestem Wege da¬ 
durch zu erreichen; daB es das Objekt, die Nahrung, halluziniert. 

Aus dieser primaren psychischen Wirksamkeit entwickelt sich als- 
dann die sekundare, der zusammengesetzte oder erweiterte Reflex, 
der die Befriedigung dadurch zu erreichen sucht, daB er sich auf motori- 
schem Weg des realen Objektes, in dem gewahlten Beispiel der 
Nahrung, zu bemachtigen versucht. 

Wie jeder leicht einsehen wird, ist diese primare psychische Wirk¬ 
samkeit eine ungereimte antibiologische Konstruktion, die in der 
psychischen Phylogenie sowohl wie in der Ontogenie undenkbar ist, 
da alle Individuen, die wahrend ihrer ersten Lebenszeit nicht durch die 
Hilfe anderer ihre Nahrung erhalten wiirden, verhungem muBten. 
Diese bizarre Konstruktion wird nun in einer von Freuds spateren 
Schriften 1 ) dahin weiter entwickelt, daB aus ihr die zwei Prinzipien 
fur das psychische Geschehen werden. Charakteristisch fur Freuds 
Dogmatismus ist, daB er schon durch den Titel seines Aufsatzes anzeigt, 
daB er meint, diese von ihm postulierten Prinzipien seien die einzigen. 
Ich folge bei der Besprechung dieses Teiles von Freuds Theorie Mitten- 
zweis 2 ) vorztiglicher Darstellung. 

Die Bediirfnisbefriedigung des primaren psychischen Systems folgt 
dem Lustprinzip, die Wunscherfullung geschieht auf kiirzestem 
Wege, halluzinatorisch. Ein Gegenstiick zu diesem primaren Seelen- 
leben vor der Auffassung der Realitat ist der Schlafzustand, der den 
„Wunsch zu schlafen“, ein absichtliches Vemeinen der Realitat, zur 
Voraussetzung hat. 

Da der Versuch, Befriedigung des Bedurfnisses auf diesem Wege 
zustande zu bringen, indessen Tauschungen mit sich fiihrt, ,,so muB sich 
der psychische Apparat dazu entschlieBen, sich den realen Verhaltnissen 
der AuBenwelt zuzuwenden“ und damit wird in die psychische Wirk¬ 
samkeit das zweite Prinzip, das Realitatsprinzip eingefiihrt, die 
Psyche stellt sich nunmehr nicht vor, was angenehm ist, sondem was 
real ist. Nachdem Mittenzwei ein Teil logischer Widerspruche in 

*) Freud, Formulierungen iiber die zwei Prinzipien des psychischen Ge- 
schehens. 

2 ) K. Mittenzwei, Versuch einer Darstellung nnd Kritik der Freudschen 
Neurosenlehre. Zeitschr. f. Pathopsych., Bd. I: II, III. 

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dieser Konstruktion nachgewiesen hat, wie daB die beiden Prinzipien 
keine theoretischen Prinzipien fur das Verstehen, sondern Prinzipien 
fur das Geschehen sind, ungefahr wie das gute und bose Prinzip, die 
um die Seele des Ritters kampfen, wie, daB das Realitatsprinzip durch- 
aus keinen Gegensatz zum Lustprinzip darstellt, geht er dazu iiber, 
diese Freudschen Fiktionen vom psychopathogenetischen Gesichte- 
punkt aus zu betrachten. Er sagt dartiber 1 ): 

„Wie ist nun eine so seltsam widersinnige Theorie moglich ? ,Be- 
streben, sich moglichst reizlos zu erhalten 4 , ,Not des Lebens 4 : hort ihr 
denn nicht, ihr Psychoanalytiker mit den scharfen Ohren, fur die keine 
Ausdrucksforra zufallig ist ? Das ist ja selbst die Sprache der Neurose. 
Der primare Zustand, den Freud an den Anfang des psvchischen Ge- 
schehens stellt, ist selbst der neurotische Zustand. Hier enthullt sich 
zum ersten Male die Erkenntnis, daB die Freudsche Theorie selbst 
im innersten Grunde eine neurotische ist, eine Erkenntnis, zu der wir 
spater^noch vonganzanderem Ausgang kommen werden. Freud unter- 
nimmt es, den normalen Status .realistischer* Bedurfnisbefriedigung und 
das normale Verhaltnis zur Wirklichkeit vom neurotischen Status aus 
zu begreifen. Daraus flieBen letzten Endes alle die merkwiirdigen Para- 
doxen, in denen seine I^ehre so oft das Gegenteil aller herkommlichen 
Auffassung aussagt, dies ist auch der letzte Grund, weshalb seine 
Theorie mane hen Neurotikern so viel zu geben hat . 44 

Mittenzwei hebt weiter mit Recht hervor, daB Freuds Theorien 
so eines der fundamentalen Xeurosesymptome, die Wirklich keits- 
scheu, nicht erklaren konnen, ebensowenig wie sie erklaren, warum 
die Neurose als etwas Pathologisches betrachtet werden soli. 

Viele Menschen haben sicherlich im Gefiihl gehabt, daB es einen 
pathologischen Kern in den psychoanaiytischen Theorien geben muB y 
und ich habe mehr als einmal dahin zielende AuBerungen gehort, aber 
es ist Mittenzweis Verdienst, auf diesen pathologischen Kern deutlich 
hingewiesen und dessen Zusammenhang mit verschiedenen Teilen der 
Theorien nachgewiesen zu haben. 

Entsprechend den eigenen Methoden der Psychoanalytiker solite 
man aus dem von Mittenzwei hervorgehobetien Faktum und einem 
Teil anderer Umstande, wie den literaturhistorischen und mythologisehen 
Anknupfxmgen, der Tendenz, die konstruktive synthetische Roman- 
psychologie fur klinische und theoretische Zwecke anzuwenden, den 
fur das Verstandnis sowohl der Lehren wie der ganzen Bewegung nicht 
bedeutungslosen SchluB ziehen, daB nicht nur Freud selbst, sondern 
wahrscheinlich auch verschiedene von seinen Adepten und Nachbetem 
selbst literare Neurotici sind. 

Ehe ich Freud verlasse, um zu denjenigen von seinen Nachfolgem 

x ) Mittenzwei, loc. cit., S. 475. Zeitschr. f. Pathopsych. II. 


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Kritische Reflexionen tiber die psychoanalytischen Theorien. 


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iiberzugehen, die vor anderen die Entwicklung teils durch Kritik an 
Freud, teils durch positive Anregungen weitergefiihrt haben, namlich 
Bleuler,Jung und Adler, will ich in einigen Worten meine Auffassung 
von Freud zusammenfassen. 

Seinen theoretischen, psychologischen und psvchopathologischen 
Erklarungen, kann schon jetzt in weitem MaBe nachgewiesen werden, 
daB sie unrichtig sind, vor allem auf Grund eines oft hervortretenden 
M angels an logischer Scharfe, mangelnder philosophischer 
Schulung und mangelnder Riicksichtnahme auf psvcho- 
logische und biologische Erfahrung. Seine Psychologie stellt 
ein spekulatives teleologisches System dar, dessen Gerippe in einem 
postulierten ZweckmaBigkeitsverhaltnis zwischen alien psychischen 
Verlaufen besteht^ und dessen einzelne Momente nur zu geringem Teil 
von empirisch feststellbaren psychologischen Realitaten ausgemacht 
werden, zum groBten Teil dagegen von rein konstruktivcn Hvpo- 
stasierungen. 

Was von Freuds Anschauungen und Beobachtungen von bleibeiidem 
Wert ist. entzieht sich vorlaufig der Beurteilung. Sicher ist aber schon 
jetzt, daB Freud der psychologischen und psychopat hologischen For- 
schung und speziell der Xeuroseforschung wertvolle Impulse geliefert 
hat, daB er einen ganzen Teil psychischer Mechanismen vielleicht weniger 
entdeckt als in den Blickpunkt der Aufmcrksamkeit gezogen hat, daB 
er auf kulturhistorischem Forschungsgebiet (Mythologie, Religions- 
wissenschaft) Anregungen gegeben hat. die moglicherweise als wertvoll 
angesehen werden kdnnen, daB er eine Untersuchungsmethode ausge- 
bildet hat, von der sich vielleicht zeigen wird, daB sie wenigstens theore- 
tische, vielleicht auch praktische diagnostische Bedeutung besitzt, 
wie, last but not least, daB er auf eine besonders wirku ngsvolle 
We isc der fvir alle praktisc he M enschenkenntnis, fiir alle 
praktische I ndi vid ualpsychologie und soziale Psychologie 
au Berordentlich bedeutungsvollen Wahrheit den Weg be- 
reitet hat, daB alle psychischen Verlaufe ohne Ausnahme 
streng determiniert sin<^, so daB in der psychischen Welt 
ebensowenigPlatzfiir Laune oder Zufall ist, wie in der mate¬ 
riel len. Das Letzterwahnte betrachte ich als den allervomehmsten 
Posten auf seiner Kreditseite. 

Der praktisch therapeutischen Bedeutung seiner Methode gegenuber 
tut man, glaube ich, king, eine besonders reservierte Haltung einzu- 
nehmen. 

Freud als Personlichkeit ist man Respekt schuldig wegen der Un- 
erschrockenheit, mit der er seine Theorien trotz der Entrustung, auf 
die er stieB, dargestellt hat. 

Wenn man Freud zu beurteilen versucht, sehweifen die (Jedanken 


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leicht zu Lombroso, der viele Analogien bietefc. Von Lombrosos 
Gedanken und Theorien ist jetzt, in unveranderter Form wenigstens, 
sehr wenig iibrig, und doch hat Lombroso auf seinem w is sense haft- 
lichen Gebiete einen impulsgebenden EinfluC ausgetibt, der wahrschein- 
lich noch nicht in seinem ganzen Umfang tibersehen werden kann. Das- 
selbe wird man vielleicht von Freud sagen konnen. 

Von Freuds eben erwahnten Nachfolgem haben die Griinder der 
Zuricher Schule, Bleuler und Jung, einerseits durch die experimen- 
telle Assoziations- speziell Komplexforschung auf interessante Weise 
finale und experimentelle kausale Gesichtspunkte zu vereinigen, anderer- 
seits die Psychopathogenese der Geisteskrankheiten, speziell der 
Schizophrenien, zu vertiefen gesucht. 

Bleuler, nach' Hoche 1 ) das „Renommierstiick ‘ der psychoanaly- 
tischen Sekte, weil er der unvergleichlich bedeutendste Wissenschaftler 
ist, der die Lehre aufgenommen hat und als solcher fur das Gedeihen 
der Lehre verantwortlich, hat in der letzten Zeit in besonders wichtigen 
Punkten Abstand von den psychoanalytischen Lehren genommen und 
ist ja deswegen aus einem psychoanalytischen Verein ausgeschlossen 
worden. 

Wegen seiner autoritativen Stellung in der Psychiatrie und seiner 
Bedeutung fur die psychoanalytische Bewegung ist Bleulers gegen- 
wartige Stellung zu der orthodoxen Lehre von so groBem Gewicht, daB 
sie eine ausfiihrliche Besprechung verdient. In einer im Jahr 1913 
herausgekommenen Schrift 2 ) hat er im Detail seine Stellung zu Freuds 
Anschauungen dargelegt. 

Freuds Auffassung vora BewuBtsein als „eines Sinnes zur Wahr- 
nehmung innerer Verlaufe“ („Qualitaten“) halt er fur eine ..unmogliche 
Vorstellung“. Er betrachtet ,,das VorbewuBte“ und ,,die Zensur" als 
unnotige Hypothesen und lehnt die Instanzenlehre in ihrem ganzen 
Umfang ab. Betreffs Freuds Affektlehre hebt er hervor, daB die 
Behauptung, daB verdrangte Affekte sich nicht „usurieren‘', wahrend 
die bewuBten in zentrifugaler Richtung ,,abgefuhrt" werden, nicht 
bewiesen ist. Wahrscheinlicher ist, daB Affekte iiberhaupt nicht usuriert 
werden, aber daB sie nur unter bestimmten Bedingungen aktuell werden. 

Den sexuellen Ursprung des Angstaffektes bestreitet er. Der Kem- 
punkt in Freuds Affektlehre ist ,,die Verdrangung“, ein Mechanismus, 
der schon vorher nicht unbekamit war. Er besteht in einem Wider- 
stand gegen das Denken unangenehmer Dinge und betrifft nicht imnier 
sexuelleTendenzen. ,,Das Abreagieren“ ist auch nichts Neues; Bleuler 

') H oche, Bedeutung der Psychoanalyse. Verhandl. d. dcutach. Ver. f. Psych. 
Breslau 1913, S. 780. 

2 ) Bleuler, Kritik der Freudsehen Theorien. Allg. Zeitschr. f. Psych. 1913, 
S. 66.7. 


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Kritische Reflexionen .ttber die psychoanalytischen Theorien. 


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glaubt, daB etwas Richtiges in diesem Begriff liegt, weiB aber sslbst 
nicht, was. Bleuler kann nicht verstehen, daB das UnbewuBte durch 
Verdraftgung sexueller Partialtriebe entstanden ist und meint, daB 
,.Verdrangtsein“ durchaus keine allgemeine oder wesentliche Eigen- 
schaft unbewuBter Psychismen ist. 

Die Annahme besonderer Gedankengesetze fur das UnbewuBte wird 
verworfen. Die Identifizierung von Affektivitat und psychischer Energie 
ist falsch. Die Sublimierungstheorie enthalt nichts Neues. Die Annahme, 
daB Libido die Ursache fur alles Kulturstreben ist, ist unrichtig. 

DaB der Erkenntnistrieb ein in ein sonst nicht existierendes 
Kulturstreben verwandelter Geschlechtstrieb sein soli, ist unbe- 
wiesen und unwahrscheinlich. 

Das Wesentliche in der Sexualtheorie wird von Bleuler an vielen 
Punkten verworfen. 

Betreffs der Traumlehre weist Bleuler die Annahme der Zensur, 
der Wunscherfullung und des Egoism us als prinzipieller Attribute des 
Traumes zuriick. Die Symbolik ist vorhanden, ist aber nichts Neues 
oder Eigenartiges, sondem nur graduell von der Symbolik der Mythologie 
und Sage verschieden. Sie ist oft richtig, aber nicht alles darf als sym- 
bolisch gedeutet werden. Zufalligkeit und gutes Kombinationsvermogen 
konnen vieles in einen Traum hineindeuten, was nicht darin ist, ebenso 
kann ein ungeschickter Analytiker leicht seine eigenen Komplexe in 
die Traume dessen, der analysiert werden soli, hineindeuten. 

Die Richtigkeit der Freudschen Theorie iiber die ,,Aktualneuroseir' 
(Neurasthenie, Angstneurose) wird angezweifelt. Betreffs der Hysterie- 
lehre hebt Bleuler hervor, daB kein Gegensatz zwischen Ichtrieben 
und Geschlechtstrieb besteht, daB der aktuelle Konflikt der wichtigste 
ist: wenn er gelost wird, werden die infantilen Komplexe unschadlich 
gemacht. 

Bei Schizophrenie brauchen die Komplexe, die Delirien hervorrufen, 
nicht verdrangt zu sein. Die Falle von Paranoia, auf die die Theorie sich 
stiitzt, sind falsch diagnostizierte Schizophrenien. Die Begriffe ,,Flucht 
in die Krankheit“, ^Krankheitswille' 4 , ^Kxankheitsgewinn 4 ', ,,Gre* 
sundheitsgewinn fc< sind nicht neu, aber erst von Freud vollstandig 
gewiirdigt. Bleuler betrachtet es als bewiesen, daB nervoses Erbrechen 
hauptsachlich Ekel vor und Abweisung von einem bestimmten, meist 
sexuellen Gedanken bedeutet. SchlieBlich hebt Bleuler hervor, daB 
nach den Freudschen Theorien der Unterschied zwischen normal, 
psychoneurotisch und psychotisch unbedeutend ist. Mit bezug auf die 
sektiererische Natur der psychoanalytischen Bewegung gibt Bleuler zu, 
daB, wenigstens fur die letzte Zeit, etwas Wahres in Hoches Behaup- 
tung liegt, daB es bei den Psychoanalvtikern eine Art von ,,Versicherung 
auf Gegenseitigkeit" gibt. 


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O. Kin berg: 


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Bleulers Versuche, die psychoanalytischen Theorien auf Schizo¬ 
phrenic anzuwenden, um das Zusammenwirken der statischen, lasionell 
hedingten und der dynamischen Mechanismen bei Entstehung der Sym- 
ptomkomplexe nachzuweisen, sind von besonders groBem Interes.se, 
fallen aber auBerhalb des Rahmens dieses Aufsatzes und mogen des- 
wegen nur beilaufig erwahnt werden. 

Adler, der versucht hat, die Analyse des neurotischen Charakters 
teilweise mittels romanpsychologischer Methoden auszufiihren, hat 
soviel Geschmack, seine geistige Kindschaft nicht nur innerhalb der 
Schule zu dem Vater der Lehre, Freud, sondem auch auBerhalb der- 
selben zu Janet, zuzugeben, ein Zugestandnis, das die psychoanaly¬ 
tischen Verfasser in der Regel nicht leicht machen. Er erkennt also 
an, daB der Grundgedanke, den er in seinen Arbeiten entwickeln will, 
schon von Janet in seinen Reflexionen fiber ,,le sentiment d'incomple- 
tude“ erkannt und ausgesprochen worden ist. 

Ehe ich dazu tibergehe, in groBter Kiirze das Wichtigste von Jungs 
und Adlers Beitragen zu Entwicklung der Neurosenlehre zu erwahnen, 
will ich mit einigen Worten die Stellung dieser beiden Forscher zur 
Dispositionsfrage beruhren. Beide sehen sich genotigt, in hoherem 
Grade als Freud die Bedeutung der Disposition zu betonen. Bei 
Adler nimmt der dispositionelle Faktor eine mehr kraB ,,organische" 
Form an. Fiir Adler sind niimlich gewisse „Organminderwertigkeiten ' 
der Ausgangspunkt fiir die Neurosebildung, die in einer psvchischen 
Oberkompensation des durch die Organminderwertigkeit hervor- 
gerufenen Minderwertigkeitsgefiihls besteht. Seine ,,fundamentale An- 
schauung 1 ' formuliert Adler so: 

,,Die Empfindungen der Organminderwertigkeit werden 
fiir das Individuum zu einem dauernden Antrieb in der 
Entwicklung seiner Psyche 1 ).'* Schon bei dieser Formulierung 
stutzt man: meint Adler wirklich Empfindungen oder meint er Vor- 
stellungen von Organminderwertigkeiten ? Im ersten Falle ist die 
Theorie schon von Anfang an gerichtet, wenigstens in der allgemeinen 
Fassung, die Adler ihr gibt. Denn, wie er den Begriff Organminder¬ 
wertigkeit bestimmt, gibt es ja eine ganze Reihe von Minderwertig- 
keiten, von denen man nicht annehmen kann, daB sie irgendwelche 
unmittelbaren Wahmehmungen hervorrufen, und die doch neurose- 
bildend sein sollen, wie z. B. korperliche HaBlichkeit, Naevi usw. Die 
behauptete psychische Einwirkung der Organminderwertigkeit kleidet 
Adler in psychologisches Gewand mit den Worten: 

,,Fiir die physiologische Betrachtung ergibt sich daraus eine Yer- 
starkung der Nervenbahnen nacli der Quantitat \md Qualitat, wobei 
eine gleichzeitige urspriingliche Minderwertigkeit dieser Bahneu ihre 

') Adler, t'ber den nervosen Charakter. 1912, S. 9. 


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Kritische Reflexionen liber die psychoanalytiscken Tlieoricn. 391 

tektonischen und funktionellen Eigenheiten ini Gesaintbilde zum Aus- 
druck bringen kann 1 )/ 4 

Man kann wirklich niclit wenig erstaunt werden. Im ersten Sta- 
dium der Psychoanalyse spielte der Korper eine besonders anspruchs- 
lose und zur Seite gescholene Rolle, es war fast, als ob der Mensch ,,ein 
reiner Geist‘* geworden ware. Jetzt, wo der Korper rehabilitiert werden 
soli, geschieht das griindlich, und wir erfahren, daB die ,,Nervenbahnen 
verstarkt werden*’ — was kein Mensch gesehen hat — und daB deren 
,,tektonische” Eigentliinlichkeiten sich in dem neurotischen Totalbild 
zu erkennen geben konnen — was kein Mensch begreifen kann. ttympto- 
matisch ist das Phanomen nicht ohne ein gewisses Interesse. 

Kommen wir dann zum Organminderwertigkeitsbegriff, so wire! 
dieser freilich als eine konstitutionell anatomische resp. funktionelle 
Stoning definiert, aber nachher werden dazu solche Dinge wie HiiBlich- 
keit, die durchaus keine Minder we rtigkeit in phvsiologischem Sinne zu 
sein braucht, gerechnet. 

Abgesehen von diesen Vnklarheiten und mangelhaften Begriffs- 
bestimmungen, kann man folgende Einwendungen gegen die Theorie 
niachen: 

1. Unter den angefuhrten Organminderwertigkeiten gibt es mehrere, 
die endokrine und andere Stoffveranderungen zur Folge haben; bei 
diesen hat man also mit der Moglichkeit von teils peripher organisch 
bedingten coenasthetischen nebst damit zusammenhangenden pri mitren 
psychischen Veranderungen zu rechnen. Die Psychogenese der Neurose 
imiB hier eine ganz andere werden konnen als Adler sich denkt. 

VVeiter beweist die Erfahrung, daB 

2. Organ minderwertigkeiten ohne Neurosen vorkommen. 

3. Neurosen ohne wahmehmbare Organminderwertigkeiten vor- 
kommen. 

Aus diesen Umstanden kann man schlieBen, teils, daB Adler die 
verschiedenen Moglichkeiten ftir Erklarungen nicht ausreichend durch- 
dacht hat, teils, daB er einen Spezialfall — das gleichzeitige Vorkommen 
von Neurose und Organminderwertigkeit — verallgemeinert hat, teils, 
daB der behauptete Zusammenhang zwischen diesen Momenten kein 
notwendiges Kausalverhaltnis ausmachen kann, weil er namlich manch- 
mal vorhanden ist, manchmal fehlt, und daB man also nach einem oder 
mehreren anderen von Adler nicht beachteten Faktoren suchen muB, 
um den bisweilen zu beobachtenden Zusammenhang zwischen Neurose 
und Organminderwertigkeit zu erklaren. 

Adlers psychologische Erorterungen enthalten gewiB viel Beach- 
tenswertes und wahrscheinlich Richtiges. Seine atiologische Theorie 
ist aber ein Bau ohne Untergrund. Mir erscheint fur Neurosebildung 

*) Adler, loe. eit., S. 0. 


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ein konstitutionell psychischer Faktor unerlaBlich, mid ich stelle inieh 
darin auf Jungs Seite. 

Dieser nimmt, ebenso wie Bleuler und Adler, Freud gegeriuber 
eine in vielen Beziehungen kritische Stellung ein. In einer im Jahr 1913 
erschienenen Arbeit 1 ) liefert Jung eine zusammenfassende Darstellung 
seiner Aufassung uber das Hauptsachlichste in der psvchoanalytischen 
Lehre. 

An vielen Punkten widerspricht er Freud. So z. B. erklart er, 
betreffs dessen Affektlehre: ,,es ist und bleibt eine kaum annehmbare 
Sache, daB ein Affekt lange Jahre begraben liegt, und dann plotzlich 
einmal explodiert bei einer passenden Gelegenheit 2 ).“ 

Freuds Lehre von der polymorph perversen Sexualitat des Kindes, 
wie von der Kindheitsamnesie, betrachtet er als unberechtigten Analogie- 
schluB nach der Neurosenpsychologie. Tatsachlich sind die Gedachtnis- 
liicken der neurotischen Amnesie aus der Erinnerungskontinuitat 
herausgestanzt, wahrend die Kindheitserinnerungen Gedachtnisinseln 
in der im ubrigen kontinuierlichen Amnesie sind. 

Jung betrachtet die Erweiterung des Libidobegriffes als ein fur 
die Neurosetheorie bedeutungsvolles Moment. ,,Ich glaube/* sagt er, 
,,es bleibt uns nichts anderes ubrig, als die sexuell definierte Libido 
aufzugeben, denn sonst wird das Wertvolle am Libidobegriff. namlich 
die energetische Auffassung, unanwendbar 3 )/ 6 

Libido definiert er als die Energie, die sich im LebensprozeB mani- 
festiert und subjektiv alsStreben, Begierde,Wollen wahrgenommen wird. 

Bei dieser Begriffshestimmung kann man, wie Claparede bemerkt, 
ebensogut „Interesse“ wie „Libido“ sagen. 

Die logische Gefahr (quaternio terminorum) die aus der Anwendung 
ein und desselben Terminus in zwei so verschiedenen Bedeutungen, wie 
es hier bei dem Ausdruck Libido der Fall ist, entspringt, scheint J ung 
allzu gering geachtet zu haben. Da man sich bestandig fragen muB, 
ob der Terminus in weiterer oder engerer Bedeutung angewandt ist. 
ist Unklarheit und Zweideutigkeit die Regel. 

Ein besonderes Verdienst der Jungschen Auffassung ist das starke 
Hervorheben der Bedeutung der Wirklichkeitsfunktion fur die Neurose- 
bildung. Die Abgewandtheit des Patienten von der Wirklichkeit ist 
das zentrale Symptom und stellt den Angriffspunkt dar sowohl fiir das 
Forschen nach der auBeren Krankheitsursache wie fiir die Therapie. 

Die verschiedenen Tvpen fur die Reaktion eines Menschen auf eine 
reale Handlungsaufgabe, veranschaulicht J u ng durch folgendes Beispiel: 

C. S. Jung, Venmeh einer J)ai*stellung der psychoanalytischen Theoric*. 
9 Vorlesungen. Neuyork 1912/191 

*) Jung, loc. cit., S. 43. 

3 ) Jung, loc. cit.. S. 30. 


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Kritische Reflexionen Uber die psychoanalytischen Theorien. 


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,,Wenn ein Liebhaber des Bergsportes sich vorgenommen hat, 
einen gewissen Gipfel zu ersteigen, so kann es ihm geschehen, daB er 
auf seinem Wege zu einem unuberwindlichen Hindemis kommt, z. B. 
einer senkrecht abfallenden Felswand, deren Uberwindung ein Ding 
der Unmoglichkeit ist. Der Mann wird, nachdem er versucht hat, 
einen Weg zu finden, umkehren und mit Bedauem darauf verzichten, 
diesen Gipfel zu ersteigen. Er wird sich sagen: ,Mit meinen Mitteln 
kann ich dieses Hindemis nicht bezwingen, ich werde also einen anderen, 
leichteren Berg besteigen 1 )/ 

In diesem Fall sehen wir eine normale Libidobetatigung: Der Mann 
kehrt an der Unmoglichkeit um und verwendet die Libido, welche dort 
das Ziel nicht erreichte, zu einer neuen Bergbesteigung. Setzen wir nun 
aber den Fall, daB jene Felswand nicht wirklich uniiber- 
steiglich fur die physischen Mittel des Mannes war, sondem 
daB er bloB a us Angstlichkeit vor dem etwas schwierigen Unter- 
nehmen zuriickgewichen ist. In diesem Fall stehen zwei Moglichkeiten 
of fen: 1. Der Mann wird sich uber seine Feigheit argern und sich vor- 
nehmen, bei nachster Gelegenheit weniger angstlich zu sein, und er 
wird sich vielleicht auch sagen, daB er bei seiner Angstlichkeit nicht 
allzu gewagte Besteigungen untemehmen sollte. 

Jedenfalls wird er anerkennen, daB sein moralisches Vermogen nicht 
ausreicht, um die Schwierigkeiten zu bezwingen. Er verwendet daher 
die Libido, dieihr urspriingliches Ziel nicht erreicht hat, zunutzlicher 
Selbstkritik und zur Entwerfung eines Planes, wie er unter Be- 
rticksichtigung seiner moralischen Umstande doch seinen Wunsch, 
einen Gipfel zu besteigen, verwirklichen konnte. 2. Die zweite Moglich- 
keit ist, daB der Mann seine Feigheit nicht anerkennt und die 
Felswand rundweg flir physisch unubersteiglich erklart, 
obschon er eigentbch sehr wohl sehen konnte, daB das Hindemis zu 
bezwingen ware, wenn man den Mut dazu hatte. Er zieht aber die 
Selbsttauschung vor. Dadurch wird nun die psychologische Situa¬ 
tion geschaffen, die fur unser Problem von Bedeutung ist. Im Grunde 
genommen, weiB der Mann eigentlich, daB es physisch moglich ware, 
uber das Hindemis hinwegzukommen und daB er bloB moralisch un- 
fahig dazu ist. Letzteren Gedanken weist er aber wegen seines un- 
angenehmen Charakters a limine ab. Er ist so eingebildet, daB er sich 
seine Feigheit nicht eingestehen kann. Er posiert mit seinem Mut vor 
sich selber und erklart lieber die Dinge fur unmoglich als seinen Mut. 
Er setzt sich mit diesem Vorgehen in Widerspruch zu sich selber: Auf 
der einen Seite hat er die richtige Erkenntnis der Sachlage, auf der ande¬ 
ren Seite versteckt er sich vor dieser Erkenntnis hinter der Illusion 

J ) Jung, loc. cit., S. 36, 37. 


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(). Kinberg: 


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seines unbezweifelbaren Mutes. Er verdrangt die richtige Einsicht und 
sucht der Wirklichkeit gewaltsam sein subjektives illusionares Urteil 
aufzudrangen. Dieser Widerspruch bewirkt, daB die Libido gespalten 
und die beiden Halften gegeneinander gerichtet werden: Er stellt seinem 
Wunsche, den Gipfel zu ersteigen, das von ihm selbst erfundene und 
kiinstlich gesttitzte Urteil entgegen, die Passage sei unmoglich. Er 
kehrt nicht an der wirklichen Unmoglichkeit um, sondem an einer kunst- 
lichen und selber erfundenen Schranke. Dadurch ist er uneins mit sich 
selber geworden. V6n diesem Moment an kampft er innerlich mit sich 
-selber. Bald mochte die Einsicht in seine Feigheit die Oberhand ge- 
winnen, bald Trotz und Stolz. Auf jeden Fall ist jetzt die Libido fest- 
gelegt in einem nutzlosen Biirgerkrieg, daher dieser Mann untauglich 
geworden ist fiir neue Unternehmungen. Er wird seinen Wunsch, einen 
Gipfel zu erreichen, nicht verwirklichen konnen, da er sich in bezug auf 
seine moralischen Qualitaten griindlich irrt. Damit ist er vermindert 
leistungsfahig, nicht voll angepaBt, d. h. — wenn man beispielsweise 
so sagen darf — neurotisch krank. Die Libido, die vor dem Hindernis 
zuruckwich, hat weder zu einer ehrlichen Selbstkritik gefiihrt, noch zu 
verzweifelten Versuchen, des Hindemisses doch um jeden Preis Herr 
zu werden, sondem sie lockte bloB die billige Behauptung heraus, die 
Passage sei liberhaupt unmoglich, wogegen aller Heroenmut nichts 
nutze. Diese Art der Reaktion wird als infantil bezeichnet. Es ist 
charakteristisch fur das Kind und fur den naiven Geist uberhaupt, 
daB man selbstverstandlieh den Fehler nie in sich selber, sondern immer 
in den auBeren Dingen sucht und daB man sein subjektives Urteil ge¬ 
waltsam den Dingen aufzupragen versucht 1 ).** 

Um die theoretische Diskussion uber die Bedeutung der Wirklich- 
keitsfunktion fur die Neurosebildung zu erleichtern, hat Jung den 
Terminus ,,Regression 4 ’ eingeftihrt, der als eine Substitution fiir den 
Anpassungsmodus des vorliegenden Falles (der Handlungsaufgabe) defi- 
niert wird. Gegeniiber einem nicht uberwundenen Hindemis wird 
wirkliches Handeln durch eine kindliche Illusion ersetzt 2 ). 

Bei dieser infantilen Libidoregression konnen sexuelle Komplexe 
(Inzestkomplexe) lebendig werden. Da aber Inzestkomplexe ebenso 
ausgebiklet sind bei Personen, die ihre Eltem niemals gekannt haben, 
mussen sie nach Jung weniger als etwas Wirkliches, denn als eine re¬ 
gressive Phantasiebildung betrachtet werden. Die entstandenen 
Konflikte beruhen also mehr auf einem anachronistischen Festhalten 
der I nfa ntilattitiide, als auf wirklichen Inzestwiinschen; solche 
Wiinsche sind nur verdeckende Regressivphantasien. 

*) Jung. loc. eit., S. 78 f. 

-) Jung, loc. cit.. 8.80. 


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Kritische Heflexionen Uber die psychoanalytischen Theorien. 


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In Ubereinstimmung hiermit meint Jung, daB weder das infantile 
Nexualtrauma noch der Inzestkomplex Hysterie herbeifuhren, sondem 
daB die Neurose erst eintritt, wenn der Komplex durch Regression 
lebendig gemacht wird. 

Jung gibt indessen zu, daB die Regressionstendenz des Patienten, 
die durch die auf das UnbewuBte, hoc est das Phantastische, gerichtete 
psychoanalvtische Aufmerksamkeit weiter verstarkt wird, auch wah- 
rend der Analyse schafft und entdeckt. 

Es muB deswegen, und auch aus anderen Griinden, sehr in Frage ge- 
stelit werden, ob nicht dieser Inzestkomplex, der uberall in der psycho¬ 
analytischen Literatur spukt, ein reines Kunstprodukt, entstanden 
aus dem suggestiven EinfluB der Herren Analytici auf ihre Patienten, 
ist. Dieses scheint mir der wichtigste SchluB zu sein, den man aus der 
von Jung gemachten Beobachtung ziehen kann, daB man den Inzest- 
koraplex ebenso ausgebildet findet bei Personen, die ihre Eltem nie 
gekannt haben, wie bei anderen. Die Erfahrung beweist auch, daB man 
das therapeutische Ziel, die Losung der Neurose, die wie .1 u ng mit 
Recht meint, im ,,Handeln und Erflillen bestimmter, notwendiger 
Lebenspflichten 4 * liegt, erreichen kann, ohne sich im mindesten mit 
solchen imaginaren psychologischen Quantitaten, wie diesen Incest- 
komplexen, Vaterkomplexen, Odipuskomplexen usw. zu befassen, die 
sicherlich nichts anderes sind als Spiegelungen im Him der Pa¬ 
tienten von dem wunderlichen Vorstellungsspiel in dem der Ana- 
lytiker. 

Jung hat sich auch ausfiihrlich bei der zentralen Frage nach der 
respektiven Bedeutung der Disposition und des Milieus fur die Xeurose- 
bildung aufgehalten. Er erinnert dabei daran, daB die Genese der 
hysterischen Symptome aus Erlebnissen schon Charcot und Page 
(,,nervous shok‘‘) bekannt war, vergiBt aber merkwiirdigerweise die 
Lehre desFranzosen Pierre Janet l ) von ,,les idees fixes subconscientes’ 4 
als unmittelbaren IJrsachen fur einen Teil hvsterischer Symptome, wie 
dessen Herleitung des l T rsprunges dieser unterbewuBten fixen Ideen 
aus stark emotionellen und aus diesem Grunde spater amnestizierten 
Erlebnissen, anzufuhren, erwahnt dagegen eine AuBerung von Wilh. 
Peters: ,,Die unlustbetonten Erlebnisse werden nur selten richtig 
reproduziert^, die auf dasselbe psychologische Phanomen hindeutet, 
das von Janet hervorgehoben worden ist. 

Ebenso laBt er unerwahnt, daB Janets Therapie gegenuber solchen 
Symptomen darauf ausging (unter Hypnose), das urspriingliche emo- 
tionelle und vergessene Erlebnis zum BewuBtsein zu bringen, urn es 

x ) P. Janet, Etat mental des hysteriques. Stigmates mentales. Accidents 
inentaux. — P. Janet, Les psychestenics. 


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dadurch seiner pathogenen Wirkung zu berauben, ein Verfahren, das 
auf demselben Gedankengang beruht, wie das in der Psychoanalyse 
ubliche Aufsuchen der symptorabildenden Komplexe. 

Bei der Diskussion iiber die Dispositions- und Milieufrage kommt 
Jung zu dem Schlusse, daB ein konstitutioneller Faktor fur die Neurose- 
bildung unumganglich notig ist. Diese dispositionelle Voraussetzung 
fur die Neurosebildung bezeichnet er mit dem Terminus ,,Empfindsam- 
keit 4 \ dem er einen sehr unbestimmten Inhalt geben zu wollen scheint, 
da er hervorhebt. daB man ilm auch ,,Labilitat‘* oder ,,Reagibilitat k ‘ 
benennen konnte. 

Diese ,,Empfindsamkeit k scheint mir indessen eine allzu unbestimmte 
Eigenschaft zu sein, um Neurosebildung erklaren zu konnen. 

Ich fur meinen Teil sehe die Sache so: Die gewohnlichste Eigenschaft 
bei alien Neurosen und einem groBen Teil Psychosen ist die Wirklich- 
keitsscheu. Die Wirklichkeitsfunktion ist tatsachlich eine so funda- 
men tale Eigenschaft unserer Psyche, daB man geradezu sagen konnte, 
daB jeder in dem Grade gesund und normal ist, wie seine 
Auffassung von der Wirklichkeit richtig ist. Gleichwie in der 
griechischen Mythe der Riese Antaus seine Starke verlor, sobald er 
die Beruhrung mit seiner Mutter, der Erde, verlor, so verliert die mensch- 
liche Psyche ihre Kraft und Gesundheit, wenn sie sich von der Realitat 
entfemt. Diese uralte Erkenntnis ist besonders von der psychoanaly- 
tischen Schule betont worden, und mit Recht. Ergreifend und tief- 
sinnig ist die ,.iu urotische*' Wirklichkeitsscheu von Ibsen in der .,Wild- 
ente * geschildert worden. 

Wie kann man sich nun das Entstchen der Wirklichkeitsscheu 
denken ? Nicht auf Freuds Weise, denn nach Freud machte ja die 
Wirklichkeitsscheu eine prirnare normalpsychische Eigenschaft 
aus, und eine Identifizierung von Abnormem und Normalem kann nie- 
mals eine Erklarung fur das Abnorme darstellen. 

Jungs vorgeschlagene ,,Empfindsamkeit <4 ist, wie ich schon er- 
wahnte, unbrauchbar, weil sie zu unbestimmt ist. Adlers Minder- 
wertigkeitsempfindung ist auch nicht zu brauchen, denn es ist eine allzu 
zusammengesetzte psychische Funktion, die eine vollstandige Abgren- 
zung des eigenen Ichs vom Ich anderer, die Fahigkeit konstatierender 
und abwertender Vergleiche, usw. voraussetzt. Der gesuchte Erklarungs- 
grund muB aber eine Plus- oder Minusvariation einer normalpsychischen 
Eigenschaft sein und so elementar, daB er sich nicht weiter auflosen 
liiBt. Eine solche eleinentare psychische Realitat ist die Fahigkeit 
des Individuums, auf auBere Eindriicke mit Lust oder Un- 
I ust zu reagieren. 

In bezug auf die Intensitat des Lustgeflihls sind 4 Tvpen theoretisch 
dcnkbar: 


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Kritische Reflexionen tlber die psychoanaJytischen Theorien. 


:i9T 


1. starker Ausschlag nach beiden Richtungen (eretischer Typus)* 

2. schwacher Ausschlag nach beiden Seiten (torpider Typus), 

3. Pradisposition fur Lustreaktionen (euphorischer Typus) und 

4. Pradisposition fur Unlustreaktionen (dysphorischer Typus). 

Durch Annahme dieses letzterwahnten Reaktionstyps als konstitu- 

tionellen Faktors bei der Neurosebildung konnte man, scheint mir, auf 
naturlichere Weise als durch eine der erwahnten Hypothesen das Ent- 
stehen des zentralen Neurosesymptomes, der Wirklichkeitsscheu er- 
klaren. Es ist namlich klar, daB ein Indivickium, das eine abnorm 
starke Pradisposition fur Unlustreaktionen gegeniiber auBeren Ein- 
driicken besitzt, in hoherem Grade als ein Individuum, das weniger 
unlustbetont reagiert, auBere Eindriicke zu vermeiden suchen muB. 

Schon hierdurch entsteht eine verminderte Beriihrung mit der 
Wirklichkeit. Das muB friiher oder spater zu einer herabgesetzten 
Fahigkeit, sich der Wirklichkeit anzupassen, fuhren, undfolg- 
lich zu einer faktischen Unterlegenheit anderen gegeniiber. 

Wenn die Intelligenzgentigende Reife erlangt hat, um vergleichende 
und Werturteile machen zu konnen, so sind die Voraussetzungen 
fiir das Aufkommen einer Minderwertigkeitsempfindung oder richtiger 
einer Mi nderwertigkeitsvorstellung vorhanden, und nachdem 
diese recht begonnen hat, sich einzustellen, konnen Janet-Adlers 
Mechanismen mit Uberkompensationen und weiterem Entfemen von 
der Wirklichkeit an die Reihe kommen. 

Es entsteht so ein circulus vitiosus zwischen der verminderten 
Wir klich keitsf un ktion und der Mi nderwertigkeitsvorstel¬ 
lung, wodurch die neurotische Entwicklung weiter gefordert wird. 
Nach der Auffassung, die ich hier auseinanderzusetzen versucht habe, 
und die weit besser mit der Erfahrung ubereinstimmt als Adlers 
Hypothese, sind die Organminderwertigkeiten nur zufallige, d. h. fur 
den Kausalzusammenhang nicht notwendige Angriffspunkte fiir die 
Mindem r ertigkeitsvorstellung, die sie indessen in der Art, wie Adler 
auseinandergesetzt hat, zu steigern vermogen. 

Inwieweit alle Tvpen von Neuroseentwicklung auf die Weise, 
die ich hier angedeutet habe, erklart werden konnen, bleibt zu erforschen. 
Moglich ist, daB abnorm starke Ausschlage von nicht nur Unlust-, 
sondem auch Lustreaktionen auch zu einer Neuroseentwicklung von 
eventuell anderen Typen als im ersten Fall fuhren konnen. 

Das sind indessen alles Fragen, die weitere Untersuchung fordern. 


Nachtrag bei der Korrektur. 

In einer im Jahr 1914 herausgegebenen Arbeit von Regis und Hes- 
nard: La psychoanalyse des nevroses et des psychoses, einer vortreff- 
lichen. referierenden und kritischen Darstellung des Gegenstandes, die 


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398 O. Kinberg: Kritische Reflexionen Uber die psyehoanalytischen Theorien. 

ich jetzt erst kennen zu lernen Gelegenheit hatte, kommen die Autoren 
zu demselben Endresultat wie ich betreffs Freuds psychologischen 
Systems. Sie sagen daruber (S. 295): ,,Nous dirons que certaines au- 
tres conceptions de Freud, celles de la Censure, de 1’Instinct sexuel, 
de l’lnstinct personnel, de la Psychon^vrose, du Reve etc. sont inspirees 
de 1’antique doctrine des causes finales. Ce sont des conceptions t614o- 
logiques. Elies supposent dans la nature humaine une maniere de 
Providence, qui fournit k l'etre psychique les instruments les plus varies 
et les plus ingenieusement choisis en vue de lui permettre d’obeir a sa 
destinee et d’accomplir ses fins dernieres.“ Die Verfasser weisen auch 
nach, wie diese Seite des Freudschen Systems mit Stahls und Hein- 
roths ,,teleologischer“ Psychologie zusammenhangen, wahrend die an- 
wendbaren Bestandteile des Systems fast ausnahmslos ihren Ursprung 
von der franzosischen klassischen Psychologie herleiten: die Vorstellung 
vom psychischen Trauma bei Hysterie von Charcot, die emotive 
Xatur der Zwangsvorstellungen von Pitres und Regis, die determi- 
nierendeBedeutung derZufalligkeiten fur dieEinstellung des Geschlechls- 
triebes und der affektiven Neigungen von Binet, Fere und Gamier, 
die quantitative Natur des Gefuhls, jx)8itiv oder negativ, je nachdem 
sie Gelegenheit erhalt, verbraucht zu werden (,,se depenser‘) oder nicht. 
vonGrote, die Versetzung oder t)berfuhrung des Gefuhls von Leh¬ 
mann und J. Sully, die Bedeutung der unterbewuBten fixen Ideen 
fur das Entstehen hysterischer Symptome von P. Janet, die Vor¬ 
stellung vom UnbewuBten als dem groBten Teil unseres psychischen 
Daseins und als unablassig auf unsere bewuBte Aktivitat wirkend von 
Ribot, Janet, Binet, Bergson, die Vorstellung von der Verdrangung 
(refoulement) unlustbetonter und unerlaubter psychischer Inhalte von 
Maury und Bergson usw. Die Verfasser finden nur eine einzige Idee 
wirklich originell, wesentlich und charakteristiseh ftir die Freudsche 
Lehre: das Dogma vom Pansexualismus. Die Verfasser heben 
auch das Unsinnige in der ganzen Lehre von der ,,Cberdetermination“ 
hervor — ohne ubrigens auf den inneren Widerspruch und die Verwechs- 
lung zwischen Kausalitat und Finalitat geachtet zu haben, der im Ter¬ 
minus selbst liegt — und betonen, daB sie diese Einwendung als das 
Wichtigste in ihrer ganzen Kritik betrachten. 


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Die augenblicklichen Verhdltnisse des Ledermarktes 
wiirden die Herstellung der bisher gelieferten Einband- 
dedken so verteuern, dafi der Preis den Abnehmern nicht 
mehr zugemutet werden kann. Aus diesem Grunde wird 
‘ die Anfertigungvon Decken bis zur Wiederkehrgilnstigerer 
Verhtiltnisse unterbleiben. Sobald es wieder mdglidi ist, 
..Decken zu annehmbarem Preise zu liefern, wird dies be - 
kanntgegeben werden. 




















Die Zweck- and Abwehmeurosen als sozialpsychologische Ent- 
wicklungsformen der Nervositat. 

Von 

Dr. Walter Cirabal, 

Oberarzt am StadtkTankenhaus, leitender Ant derKorps-Nervenatation desRes.-Laz.I Altona (Elbe). 

(Einqegangen am 30. Juli 1917.) 

Die Zweckneurosen sind Abwehrkrankheiten des Zentralnerven- 
systems. Sie unterscheiden sich einerseits von der strafbaren Willens- 
sperrung des Gesunden, andererseits von den Reiz- und Schwachezeichen 
der Nervosen und Erschopften, sie sind weder Entwicklungsformen 
der Hysterie noch der Himerschutterung noch sonst einer besonders- 
artigen feinsten Verletzung des Nervengewebes, sondem selbstandige 
eigenartige, trotz auBerlich verschiedener Formen innerlich gleichartige 
Rrankheiten, gleichviel, ob sie als Kriegs neurosen, Unfalls neurosen, 
Veran two rtungs- oder Haftpsychosen auftreten. Der Krankheits- 
begriff und seine Umgrenzung wurden in dem zusammenfassenden 
Sinne zum erstenmal in einem Vortrag gebraucht, welchen ich im Herbst 
1915 vor der forensisch-psychiatrischen Gesellschaft in Hamburg uber 
die Zurechnungsfahigkeit der Kriegsneurotiker gehalten habe. Ich 
habe es in dem genannten Vortrag und einigen spateren zu beweisen 
versucht, daB die innere Grundlage, die klinischen Krankheitszeichen, 
die Behandlungsgrundsatze und die rechtliche Bedeutung der vier ge¬ 
nannten Untergruppen wesensgleich sind, so verschiedenartig auch die 
auBeren Formen anmuten mogen. Um das verstandlich zu machen, 
und um den mannigfaltigen Mifldeutungen des Wortes zu entgehen, 
die um so mehr auftreten muBten, als die genannten Vortrage meist 
noch nicht veroffentlicht sind, ist zunachst eine Umgrenzung und eine 
Begriindung des Wortes Zweckneurose erforderlich. 

Zweckneurosen sind solche nervosen Krankheitszustande, welche 
eincn innem Zweck haben, und deren Auftreten den tatsachlichen In- 
teressen der Kranken entspricht. Die Zweckneurosen entspringen 
keineswegs einem Gedanken oder auch nur einem bewuBten Wunsch. 
Weder bewuBte Gedanken noch bewuBte Wiinsche vermogen Krank¬ 
heiten auszulosen, ebensowenig geniigt als Krankheitsursache ein halb 
bewuBtes oder verdrangtes, also unterbewuBtes Wiinschen des Kran¬ 
ken. Wohl aber vermag der vollig unbewuBte Selbsterhaltungstrieb 
durch Vermittlung starker krankhafter Affekte, Krankheitsformen aus- 
z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVII. 26 


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W. Cirabal: Die Zweck- und Abwehrneurosen 


zulosen, welche, so zweckwidrig sie erscheinen mogen, doch den tat- 
sachlichen Lebenszwecken des Kranken entsprechen. Die besondere 
Affektlage, die hier vermittelnd eintritt, ist nur in ganz seltenen Fallen 
ein Wunsch- oder Begehrungsaffekt, fast immer ein Abwehraffekt. 
Bei krankhaft abartig Veranlagten kann dieser Affekt sich mit bereit- 
liegenden Krankheitskeimen verbinden und durch Vermittlung ver- 
wandter Stimmungsveranlagungen, z. B. der angeborenen Wehleidigkeit, 
des Beeintrachtigungsgeffihls, der Schwermut zu Krankheitszustanden 
fiihren, die weit fiber den Rahmen der ursprfinglichen Abwehmeurose 
hinausgehen und zu schwerer Dauerschadigung und selbst zum Tode 
ftihren konnen. Der Beurteilung und der Behandlung aller Zweck- 
neurosen mufl das Verstandnis dieses Entwicklungsganges zugrunde 
liegen, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben sollen. Besonders zu berfick- 
sichtigen ist nicht nur die Entstehung und Leitung der Krankheit, 
aus dem alles beherrschenden, aber unbewuBten Lebenstriebe, sondem 
vor allem auch die Vermittlung durch eine krankhafte Affektstorung, 
die je nach dem Grade der zugrunde liegenden Krankheitskeime sich 
ins Grenzenlose ausbreiten konnen. 

Der Selbsterhaltungstrieb besitzt als Schutzaffekte gegen un- 
vermeidbare MiBbilden das MiBtrauen, die Angst und den Trotz. Die 
Stimmungslage der Zweckneurose ist aus diesen drei Stimmungsformen 
gemischt. Der Nachweis dieser Mischung gelingt ohne Schwierigkeit 
mit den Untersuchungsmitteln, fiber die wir zur Erforschung seelischer 
Vorgange verffigen, und auf die hier im einzelnen nicht eingegangen zu 
werden braucht. Auch wenn scheinbar Beeintrachtigungsvorstellungen 
geauBert werden, wie es manchmal bei den Zweckneurosen der Be- 
amten (Pseudoquerulanten) geschieht, fehlt die zum echten Wahn- 
system des Paranoikers gehorige Verschlossenheit und die innere Unein- 
sichtigkeit bis zur Selbstvemichtung. Ebenso fehlt den so haufigen 
hypochondrischen Klagen die gedrfickte Stimmung der echten Auto- 
somatopsychosen (Wernickes) oder die melancholische Hemmung 
(Kraepelins). Die Stimmungslage ist eine gereizt selbstbewuBte und 
gekrankte, die krankhafte Starke der seelischen Verstimmung aber 
zeigt sich in einer objektiv nachweisbaren Ubererregbarkeit, die sich 
bald in einer bleibenden, bald in einer anfallsweisen Pulsbeschleunigung, 
Blutdrucksteigerung, in Schwitzen und Reflexstorungen auBert, wie sie 
die gesetzmaBig abgrenzenden Zeichen der krankhaft gesteigerten Af- 
fekte sind. Diese Affektlage lieB sich durch Leistungsprfifungen in 
der Mehrzahl der Falle als Willenssperrung 1 ) nachweisen. Nicht nur 
auf dem besonderen Gebiet, auf dem sich die Neurose dem Auge dar- 
stellte, sondem auf alien Untersuchungsgebieten, die mit den Arbeite- 

*) Weygandt, Willensyersagung; Bottiger, WiUenshemmung; Holz- 
m ann, Willenssperning. 


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als sozialpsycholoL'ische Entwicklungsformen der Nervosit&t. 401 

versuchen gepriift werden, rief die Zumutung der Arbeitsleistung eine 
Steigerung des krankhaften Affektes und seiner AuBerungen hervor. 
Diese AffektauBerungen, zum Teil die obengenannten, konnten sich 
bei Arbeitsleistungen, die an sich erfahrungsgemaB fiir den Unter- 
suchten spielend leicht waren, bis zur Ohnmacht und bis zu schweren 
Pulsveranderungen steigern. Man konnte z. B. beobachten, daB ein 
Kaufmann, der wahrend der letzten Tage vor der Untersuchung erfah¬ 
rungsgemaB tagelang Bucher revidiert hatte, im Arbeitsversuch des 
begutachtenden Untersuchers nach 6—8 Min. langem Zahlen oder Ab- 
zahlen von Buchstaben Blasse, Schwitzen, auBerste Pulsbeschleunigung 
und gleichzeitige Pulsdrucksenkung zeigte, alles Storungen, die unmog- 
lich auf bewuBte Vortauschung zuriickzufiihren sind, sondem dem 
hochgradigen, bereitliegenden und in geeigneter Situation sofort aus- 
brechendem Abwehraffekt entstammten. In der Kurve des Arbeits- 
versuches auBern sich diese Abwehraffekte wie alle iiberstarken Er- 
regungsaffekte durch das Auftreten tiberstarker, unregelmaBiger Schwan- 
kungen und Fehler oder aber, und das ist eine besondere und fur sie 
charakteristische Form, in der plotzlichen Arbeitsverweigerung durch 
angeblich plotzlich einsetzende seelisch bedingte Reizerscheinungen 
(Schwindel, Augenmuskelschmerzen, Herzschmerzen). Beide Reaktions- 
fonnen unterscheiden sich unverkennbar sowohi von der schwermiiti- 
gen Hemmung, wie von den Leistungsstorungen der Hysterischen, 
der Katatoniker und der einfach Nervosen, aber sie sind ganz einheit- 
lich bei alien Zweckneurosen, also sowohi bei Unfallsneurotikem wie 
bei Rriegsneurotikem, bei Haftpsychosen und bei den Erinnerungs- 
sperrungen der Angeklagten, sind auch in ganz gleichartiger Weise 
mit den korperlichen Zeichen der seelischen Erregung (Blutdruck- 
spannung, Pulsanderung, Schwitzen) vergesellschaftet. 

Weil die Zweckneurosen eine seelische Storung sind und auf einem 
krankhaften Affekt beruhen, gehorchen sie in ihrem Verlauf nicht 
ohne weiteres logischen Gesetzen, sondem den Gesetzen der affek- 
tiven Seelenstorungen. Logisch an der Ausbildung der Zweck- 
neurose pflegt ihre auBere Entwicklungsform zu sein, fiir welche weni- 
ger die unbewuBten Affektzeichen als die halbbewuBten Matzchen 
und Willenssperrungen entscheidend sind. Fiir die Kriegsverwendung 
ist auBer den nicht meBbaren Eigenschaften der Soldaten, der Tapfer- 
keit und dem Gehorsam, vor allem militarische Erscheinung und Marsch- 
fahigkeit erforderlich. Die Kriegsneurosen richten sich also in der 
Hauptsache gegen diese beiden Grundbedingungen der militarischen 
Verwendimg in der Form von Gehspemmg und Schiittelzittem. Tat- 
sachlich ist die einfachste und plumpste Gehsperrung, ebenso wie das 
Schiittelzittem im Kriegsgebiet unverwendbar. Die Zweckneurose hat 
also ihre zweckmaBigste Form, allerdings erst langsam im Laufe des 

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402 


W. Cimbal: Die Zweck- und Abwehrneurosen 


Krieges gefunden und ihren Zweck vorlaufig wenigstens erreicht. 
Diese ZweckmaBigkeit ist dem einzelnen nicht klar, sondern verbreitet 
sich im Sinne der seelischen Ansteckung, sie ist aber fur die gesamten 
vier Krankheitsgruppen gesetzmaBig und kennzeichnend. Von den 
vier Untergruppen der Zweckneurosen ist keine einzige in sich 
vollig abgeschlossen, sie konnen sich tiberlagem, ineinander ubergehen 
und abwechseln, je nachdem die auslosende Situation es becUngt. So 
kommen die sogenannten Kriegsneurosen nicht nur bei Kriegsteilneh- 
mem vor, sondern in ganz der gleichen Form und in viel groBerem Um- 
fang auch in der Ausbildungszeit und selbst schon vor der Aushebung. 
Ich habe in meiner privatarztlichen Tatigkeit in den letzten drei 
Jahren das allerschonste Schiittelzittem, samtliche Gehsperrungen und 
Schwacheanfalle auch bei nicht eingezogenen Heerespflichtigen beobach- 
ten konnen, sobald der Musterungs- oder Einziehungstermin heran- 
nahte. Diese Falle bringen den zwingenden Beweis, daB beim Unter- 
wertigen nicht eine besondere Schadigung der Ausbildungszeit, nicht 
etwa der Wechsel der Umgebung, die harteren Umgangsformen des 
Heeresdienstes, die Ursache der seelischen Erregung sind, sondern daB 
der Abwehraffekt von innen heraus beim Eintritt der drohenden Ge- 
fahr aus den tiefsten Instinkten des Seelenlebens heraus geboren wird 
und selbstandig wachsend sich zur Krankheit entwickelt. Neuartig 
war uns die Erfahrung, daB der scheinbar vollig gesunde und wider- 
standsfahige, durchaus disziplinierte und unbelastete Mann, wenn er 
den axiBerordentlichen Strapazen und Schrecken des modernen Rrieges 
ausgesetzt wird, mit genau den gleichen Abwehraffekten reagiert, die 
uns das Seelenleben des angeborenen minderwertigen Schwachlings 
und Eigensuchtigen so auBerordentlich widerwartig machen. Recht- 
lich und gutachtlich ist zweifellos die Tatsache entscheidend, daB der 
Abwehraffekt bei vollig Gesunden nach mehrjahrigem tapferstem Kriegs- 
dienst in der Form und Starke einer echten Affektkrankheit durch irgend- 
ein erschopfendes oder erschtitterndes Ereignis plotzlich oder allmah- 
lich entstehen kann, daB er dann ganz so unbeherrschbar sein kann, 
wie die angeborene egoistische Widerwilligkeit des moralisch Minder¬ 
wertigen. Ich habe deshalb schon fruher 1 ) die Forderimg aufgestellt, 
daB die Ausdrucksformen und Folgezustande der Abwehrneurosen nur 
dann als rentenberechtigte Dienstbeschadigung gelten sollen, wenn 
sie bei der kampfenden Truppe, also unter dem Schutz der Ziffer 150/151 
der D. A. Mdf. entstanden sind, dafi sie dann aber nach ihrem vollen 
Krankheitswerte zu entschadigen sind. 

Im Krankheitsbilde der Kriegsneurosen mlissen also die 
unwillktirlichen AuBerungen der seelischen Erregung aufs scharfste ab- 
getrennt werden von den Willenssperrungen und Matzchenbil- 

x ) Psychiatri^ch-neurologische Wochenschr. 1916, Nr. 23/24. Marhold, Halle. 


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als sozialpsychologische Entwicklungsformen der Nervosit&t. 403 

dungen im engeren Sinne, also von Ubertreibungen, die zwar durch 
eine krankhaite Affektstorung bedingt sind, doch aber unzweifelhaft 
und nachweisbar der halbbewuBten Vortauschung nahestehen. Weiterhin 
aber ist ein Unterschied zwischen der einfach bewuBten Simulation 
des nervos Reizbaren und seelisch Unterwertigen und der krank- 
haften Matzchenbildung des Zweckneurotikers. Dieser Unter¬ 
schied ist nicht durch den Nachweis der unwillkurlichen Affektreiz- 
zeichen, die beiden gemeinsam sind, sondem dadurch gegeben, daB die 
Matzchenbildung des Zweckneurotikers zwar bei der Untersuchung 
starker zutage tritt und insofem mehr oder weniger vom BewuBtsein 
abhangig ist, daB aber andererseits die Auslosung und Beseitigung der 
Matzohen nicht dem freien Willen untersteht. Die vier Hauptgruppen 
der krankhaften Willenssperrung und Matzchenbildung sind: 

A. Willenssperrungen: 

1. die Willenssperrungen einzelner Funktionen, 

2. die gedachten Lahmungen einzelner Korperteile, 

B. Matzchenbildungen: 

3. die Krampfzustande ohne BewuBtseinstriibungen, 

4. die Tic- und manierenartigen Mitbewegungen und das Schiittel- 
zittem. 

Unter den Willenssperrungen stehen bei den Kriegsneurotikem, 
soweit meine Erfahrungen reichen, die Bewegungssperrung des 
Gehens im Vordergrunde, die bald matzchenartig ausgeschmiickt wird, 
bald einfach in der Form der spastischen Pseudoparese in Erscheinung 
tritt. Die krankhafte Willenssperrung ist gewohnlich bei den Arbeits- 
versuchen ohne Schwierigkeit als eine allgemeine nachweisbar. Be- 
sonders schon tritt sie meist bei der Gesichtsfeldpriifung und bei den 
fortlaufenden Rraftmessungsmethoden mit dem Dynamometer und 
dem Ergographen hervor. Die Willenssperrung der Sinnesorgane ist 
mir am haufigsten auf dem Gebiete der angeblichen Schwerhorigkeit 
und der angeblichen Schwachsichtigkeit begegnet. Bei Leuten, die 
Sprechunterricht schon genossen haben, ist der Unterschied von der 
organischen Storung meiner Ansicht nach am leichtesten zu priifen, 
wenn man vollig tonlos in unhorbarer Lippensprache eine Unterhaltvmg 
mit dem Kranken beginnt. Bei der Willenssperrung des Gehors wird 
das tatsachliche Lippenablesen fast niemals erlemt. Ich habe nicht 
selten Leute, die schon wiederholt Fadhkommissionen als Schulbei- 
spiele besonders guten Ableseunterrichts vorgestellt waren, mit dieser 
Methode als unfahig zu jedem Ablesen entlarvt. Das gleiche gilt fixr 
das Sehvermogen, wenn bei hellem Tageslicht, bei geringem Dammer- 
licht und bei volliger Dunkelheit, bzw. mit verbundenen Augen unter- 
sucht wird. Der organisch Schwachsichtige, der wirklich ein sehr ge- 


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404 W. Cimbal: Die Zweck- und Abwehrneurosen 

tinges Sehvermogen, unter Snellen 3 / eo besitzt, das durch Glaser nicht zu 
bessem ist, lernt sehr rasch, sich nach dem Ohr und Gefuhl auch in 
vbllig dunklem Raum zu orientieren, eine Schulung, die der Willens- 
speming des Gesunden und des Zweckneurotikers abgeht. Derartige 
vereinzelte Willensspemmgen, die sich durchaus verhalten wie die 
gleichartigen Simulationen eines Gesunden, wiirden also, wenn sie auf- 
treten, fiir sich allein niemals ausreichen, urn den Beweis einer Krank- 
heit und die Unterscheidung von bewuBter Simulation zu erbringen. 
Es handelt sich in diesen Fallen um Simulation auf krankhafter Grand - 
lage, aber noch keineswegs um selbstandige krankhafte und unsimulier- 
bare Neurosenbildung. Fiir unsimulierbar halte ich dagegen diejenigen 
gedachten Lahmungen, also tatsachlichen und dauemden Bewegungs- 
losigkeiten einzelner Glieder, bei denen die Muskeln beira Tasten und 
Bewegen vollig erschlafft sind, und bei denen die Faltenlosigkeit der 
Haut, der Zustand der Stiefelsohle oder irgendwelche Abmagerungen 
und Veranderungen der Umrisse, das tatsachlich andauernde Fehlen 
einer Innervation beweisen. Hier stellt sich also den beiden Gruppen 
der bewuBten Verweigerung einer Bewegung und der krankhaften 
allgemeinen Willenssperrung die Ausschaltung eines ganzen Empfin- 
dungs- und Bewegungsgebietes aus dem Vorstellungsgebiet als dritter 
und hochster Grad der Sperrung an die Seite. Auch diese Stdrung 
unterscheidet sich weiter von einer noch komplizierteren Form, bei 
der zu den Willensspemmgen und gedachten Lahmungen Stauungs- 
vorgange im Kreislauf und Veranderungen der Gewebe hinzutreten, 
die nun nicht mehr allein durch die Bewegungslosigkeit der Glieder 
erklart werden konnen, sondem auBerdem noch eine krankhafte Ver- 
anlagung des peripheren Nervensystems zur Voraussetzung haben. 
Dieser Gruppe ist spater ein besonderer Abschnitt gewidmet. 

Bei den Krampfanfallen haben wir nach meiner Uberzeugung 
drei Grade der BewuBtseinstrubung, die sich durch die Untersuchung 
leicht trennen lassen. Bei der tiefen BewuBtlosigkeit sind die 
AugenschlieBmuskeln erschlafft, das Auge steht offen entweder in der 
Mittelstellung oder mit zuckenden Bewegungen in einer Seitenstellung. 
Wenn die Augen krampfhaft geschlossen oder beim Offnen der Aug- 
apfel nach oben gerollt wird, so besteht keine tiefere BewuBtseinstru¬ 
bung, dann hat auch die Pupillenprtifung nicht den geringsten Sinn, 
denn das nach innen oben ausgewichene Auge kann auf seine Pupillen- 
reaktion gar nicht gepriift werden, weil das Westphal-Pilezsche 
Zeichen die Priifung verhindert. Der Krampfanfall des Zweckneuro¬ 
tikers geht im allgemeinen ohne tiefere BewuBtseinstrubung einher, 
wahrend der Krampfanfall der nervosen tTberreizung ein tief bewuBt- 
loser sein kann. Das Erhaltensein und die Erweckbarkeit des BewuBt- 
seins ist jedoch in keiner Weise ein Beweis der Vortauschung, denn 


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als sozialpeychologische Entwicklungsformen der Nervositat. 405 

die halbbewuBten Krampfanfallformen der Zweckneurotiker, auch 
wenn sie nach kraftigem Annif aufhoren oder auf schmerzhafte Reize 
reagieren, gehen im allgemeinen in ihrer Dauer uber das MaB des ge- 
sunden Leistungsvermogen hinaus und zeigen meist auch nicht die 
Zeichen der Anstrengung, also das Schwitzen, Rot- und Feuchtwerden, 
wie es bei Gesunden infolge der erhohten Muskelleistung auftritt. 
Ein gleichfalls durchaus nicht eindeutiges Zeichen der seelischen Span- 
nung ist das Zittem, insbesondere auch das Schiittelzittem. Es 
geht beim einfach Nervosen mit einer erheblichen Blutdrucksteigerung 
und meist mit Pulsveranderungen einher. Es ist dann durchaus nicht 
auf den Abwehraffekt beschrankt, sondem gehort ebensogut der ein- 
fachen Erwartung, der erotischen Erregung, vor allem auch der ein- 
fachen korperlichen tTberreizung an. Es kann bei einem nervos Reiz- 
baren ebensogut durch einen starken Affekt, wie durch Blutverlust 
oder durch fiberstarken Schmerz ausgelost werden. Wenn uns also 
immer wieder vorgehalten wird, daB man das Schiittelzittem doch nicht 
nachahmen konne, so trifft das ftir den Gesunden ebenso zu wie die 
Unnachahmbarkeit jeder anderen unwillktirlichen AffektauBerung. Die 
Ausdrucksform des Affekts entzieht sich dem Willen sowohl in der 
Auslosung wie in der Unterdrfickung. Der Affekt selbst aber kann in 
hohem MaBe durch die Willensrichtung gesteigert oder unterdrfickt 
werden. Die willkfirliche, nicht krankhaft matzchenhafte Nachahmung 
des Schiittelzittems auBert sich in langsamen, regellosen, grobschlagi- 
gen und ruckweisen Zuckungen, die die Aufmerksamkeit stark beein- 
trachtigen, bei Ablenkung sofort aufhoren und bei tlberwachung auBer- 
halb der Untersuchungen wegen der auBerordentlichen Anstrengung, 
die sie erfordern, bald unterlassen werden. Andererseits haben die hyp- 
notischen Experimente an Zweckneurotikern, bei denen die vom Schlit- 
telzittem Geheilten auf Kommando oder Winke mehrmals wechselnd 
im Raume einer Minute bald zitterten, bald stillstanden, doch auf 
die meisten der Hypnose Kundigen den Eindruck hervorgerufen, daB 
es sich hier um Vorgange handelte, die dem BewuBtsein und dem Willen 
naherstanden als man friiher gewohnlich vom Schiittelzittem der Ner¬ 
vosen annahm. Mir ist weiter in zahlreichen Beobachtungen aufgefallen, 
daB das Dauerschuttelzittem der Zweckneurotiker, das keine Affekt¬ 
auBerung mehr ist und ohne die anderen Affektzeichen auftritt, im 
Schlaf und im Einzelzimmer immer fehlt, beim Spiel vergessen wird, 
aber in voller Ausbildung einsetzt, sobald die Beobachtung bemerkt 
wird. SchlieBlich habe ich in einzelnen Fallen, die mich kurz vor der 
Einberufung als Privatarzt aufsuchten, die die voile Absicht zu tau- 
schen geauBert hatten, die den Abwehraffekt in vollig bewuBter und 
sicher nicht krankhafter Form zeigten, das Schuttelzittern wenige Tage 
spater nach der Einstellung in ausgepragtesten Dauerformen gesehen. 


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406 W. Cimbal: Die Zweck- und Abwehrneurosen 

ohne daB auch nur eine einzige militarische Handlung vorgekommen 
ware, die die Schwelle vom sicher BewuBten zum scheinbar schwer 
Krankhaften abgegrenzt hatte. Selbstverstandlich ist das Zittern fur 
den Gesunden nicht nachahmbar, wohl aber ist es offenbar dem Willen 
irgendwie zuganglich, wenn es bei dazu Veranlagten einmal zur Ent- 
wicklung gelangt ist. Die Ausschmtickung der Krankheitsbilder durch 
Tics und Manieren ist in hohem Grade, mehr als irgendein anderes 
Krankbeitszeichen, abhangig von der Phantasie des Kranken und den 
ihn zur Nachahmung verlockenden Beispielen. Bei der nicht sehr 
phantastischen Charakteranlage des norddeutschen Volksstammes ist 
es erklarlich, daB gerade auf diesem Gebiete meine Erfahrungen nicht 
sehr umfangreich sind. Haufig begegnet mir ein einseitiges oder doppel- 
seitiges krampfhaftes SchlieBen der Augenmuskeln in der Form des 
Blinzelns oder in der Form der einseitigen Gesichtsverzeming. Dann 
sehe ich haufig Querrunzelung und auffalliges Spielen der Stimmusku- 
latur, krampfhafte Gegenbewegungen bei der Blutdruckprufung, aus- 
fahrende Bewegungen bei den Reflexprufungen, ein eigen tumliches 
Gebundenhalten der FuBe bei der Gangsperrung, so daB der Kranke 
an den Kriicken wie beim Sackhiipfen vorwartspendelt. In anderen 
Gamisonstadten habe ich eigentumliche saltatorische, tanzelnde und 
zuckende Beinbewegungen gesehen, doch sind alle diese Ausschmuk- 
kungen durchaus zufalliger Art und folgen mehr der Ansteckung als 
psychologischen Gesetzen. 

Praktisch bedeutsamer als das Zittern ist deshalb zum Nachweis 
der unwillkiirlichen krankhaften Affektspannung der korperliche 
Arbeitsversuch mit fortlaufender Blutdruckmessung. Er vermag die 
seelische Spannung scharf von der Erschopfung, von der Hemmung, 
der katatonischen Willenssperrung und der Vortauschung zu trennen, 
von denen jede einzelne einen ganz besonderen EinfluB auf die Ein- 
geweidenerven des Kreislaufs besitzt. Die Affektspannung Stei¬ 
ger t die Pulsziffer, den systolischen Blutdruck vor dem Arbeitsver¬ 
such, sie wird durch korperliche, oft auch durch geistige Arbeit abge- 
lenkt und gedampft, so daB Puls- und Blutdruck zur Norm zuriick- 
kehren oder sich ihr nahem. In Wachsaalbeobachtung, in der Berufs- 
arbeit und in seelischer Ruhe sind alle diese Storungen restlos geschwun- 
den, meistohne selbst bei starken Anstrengungen oder Erregungen auf- 
zutreten. Bei der arteriosklerotischen Blutdrucksteigerung fehlt so wohl 
der EinfluB auf den Puls fast ganz (soweit nicht Kompensationssto- 
rungen vorliegen) als die Verminderung des erhohten Pulsdruckes 
nach dem Arbeitsversuch. Bei der Kreislaufschwache (Erschopfung) 
ist die Pulsbeschleunigung von einer Pulsdruckminderung begleitet. 
Bei den melancholischen Angstpsychosen ist sowohl Puls wie Blutdruck 
dauemd erhoht und durch Ablenkung nur wenig zu senken. Bei den 


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als sozialpsychologische Entwieklungsfonnen der Nervositat. 407 

thyreotoxischen Neurosen ist der Puls dauemd auch in seelischer Ruhe 
erhoht, der Blutdruck aber meist vermindert. 

Als dritte Zeichengruppe rechne ich zu den unwillkurlichen Affekt- 
iiuBerungen Schlaflosigkeit, Unruhe und Zuckungen im Schlafe, An- 
fallsschwitzen, Wechsel der Farbe, fortschreitenden Gewichtsverlust 
und Ohnmachtsanfalle. 

In alien diesen Krankheitsformen eng verwandt mit den Kriegs- 
neuro8en sind die Unfallsneurosen, die im klinischen Bild ungemein 
ahnliche, in der Regel nur weniger auffallige Formen annehmen. Den 
Unfallsneurosen gleichartig sind die Zweckneurosen der Kassenkranken, 
Invalidenversicherten und der Beamten, von denen die letzteren mir 
teils als Pseudoquerulanten teils in einfachem passivem Widerstand 
gegen eine unbequeme Verfugung der vorgesetzten Behorde gar nicht 
allzu selten begegnet sind. Ein Krankheitszeichen, das bei den „Un- 
fallsneurosen“ oft iiber die Kriegsneurosen ja vielleicht liber den ganzen 
Kreisder Zweckneurosen hinausgeht, ist der ,,Beeintrachtigungswahn“, 
der sich manchmal gegen alle Gutachter, gegen die Schiedsrichter und 
Versicherungsamter richtet. und der unter den Kassen- und Unfall- 
arzten ja schon manches Opfer eines Racheattentates gefordert hat. 
Dieses MiBtrauen und diese Beeintrachtigungsvorstellungen sind mir 
bisher bei den Kriegsneurotikern niemals entgegengetreten. Mir ist 
auch aufgefallen, daB der Abwehraffekt sich lediglich gegen den Kriegs- 
dienst, nicht gegen den Arzt gewandt hat, und daB ein groBer Teil 
der fruher oder spater doch zur Entlassung gekommenen, den Lazarett- 
und Musterungsarzten voiles Vertrauen bewahren, auch wenn die Ent- 
scheidung ganz oder teilweise gegen ihren Wunsch ausgefallen ist. 
Die sehr auffalligen Gehspemmgen, die scheinbaren und gedachtcn 
Lahmungen in der heutigen Form sind in der Friedensunfallbegut- 
achtung immer nur ganz selten gewesen. Im Vordergrunde der Unfall- 
neurotiker standen mehr allgemeine Klagen liber Kopfschmerzen, 
Schwindel, Schlaflosigkeit, wie sie auch im Beginn der Kriegsneurosen 
ungemein haufig geauBert werden. Die schwereren motorischen Faxen 
und Matzchen der Kriegsneurotiker sind wohl nur eine hohere Entwick- 
lungsstufe der Krankheit, die dann eintritt, wenn die subjektiven, sen- 
sorischen Beschwerden und Klagen nicht beriicksichtigt werden. 

Die gleiche Zweiteilung der Zweckneurose, unwillkiirliche Erre- 
gungszeichen und teilweise bewuBte Matzchenbildung laBt sich nun 
wie bei den Unfalls- und Kriegsneurotikern in ganz gleicher Weise 
auch bei den Verantwortungs- und Haftpsychosen nachweisen, die 
sich aber nicht nur auf die Inhaftierten beschranken, sondem in der 
gleichen Art und Form auch bei den Angeklagten auftreten, die nicht 
in Haft sind oder bei solchen zivilrechtlich Beklagten, die der Verant- 
wortung flir eine Hand lung entgehen wollen (§104 BGB.). Auch 


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\V. Cimbal: Die Zweck- und Abwehmeurosen 


hier nimnit die Neurose die zweckdienlichste Form an. Zwar die all- 
gemeinen vegetativen Zeichen der inneren Erregung und die Zeichen 
der allgemeinen Widerwilligkeit bei den Funktionspriifungen des Ner- 
vensystems sind alien Gruppen der Zweckneurose gemeinsam. Fiir die 
Haft und die Verantwortung vor Gericht aber ware eine Gehstorvmg 
oder ein Tic doch vollig zwecklos, ebenso wie eine Erinnerungssperrung 
naturgemaB keinen Zweck hatte fiir die Befreiung vom Heeresdienst. 
Die beiden Hauptwege, sich der Verantwortung oder, wenn das nicht 
gegliickt ist, sich der Haft zu entziehen, sind das Wildemannspielen 
bei den Inhaftierten und die Erinnerungssperrung (vgl. ,,Amnesie“) bei 
der Verantwortung vor Gericht. Das Wildemannspielen tritt mit Vor- 
liebe in der Einzelhaft und bei der Verantwortung in der Verhandlung 
auf, beides in nur scheinbarem Widerspruch mit psychologischen Ge- 
setzen. Wahrend beim Epileptiker, beim Katatoniker die seelische 
Spannung bei der Isolierung im Einzelzimmer gesetzma&ig einer Be- 
ruhigung, eventuell dem Stupor weicht, muB naturgemaB der Abwehr- 
affekt, je mehr er sich selbst uberlassen wird, desto mehr sich steigern, 
ganz in gleicher Weise wie die Melancholie bei der Absonderung durch 
ihren Gedankeninhalt sich immer tiefer vergriibelt. Die Frage der 
halluzinatorischen Haftpsychose soil hier auBer Betracht bleiben, ob- 
gleich bei einem Teil der Sinnestauschungen und Wahnbildungen die 
Verwandtschaft mit der induzierten ,,Wahnbildung“ der Unfallsneuro- 
tiker zweifellos auffallt. Der reine explosive Ausbruch des Gefangnis- 
trails ist durch das langsame Anschwellen des Abwehraffektes restlos 
erklarbar und lafit sich bei klinischer Durchpriifung mit Arbeits- und 
Assoziationsversuchen in jedem einschlagigen Falle unschwer als echte 
unwillktirliche Affektreaktion beweisen. Die klassische, hoher bewuBte 
Willenssperrung der Haft- bzw. Verantwortungsneurosen ist die Er¬ 
innerungssperrung, die klinisch durchaus den Bewegungssperrungen 
der Kriegsneurotiker und der Arbeitssperrung der Unfallneurotiker 
vergleichbar ist. Auch hier handelt es sich weder um vollig unbewuBte 
noch um vollig bewuBte seelische Vorgange, wenn der Zweckneurotiker, 
der noch eben ein ganzes Verteidigungssystem von epileptischen oder 
alkoholistischen Dammerzustanden konstruiert hat, ganz plotzlicb, 
sobald er die Zwecklosigkeit einsieht und den Richter ,,durch ein offenes 
Gestandnis“ riihren will, die ganze Matzchenbildung fallen laBt. Ebenso 
werden im Kaufmannschen Verfahren die Bewegungsmatzchen 
fallen gelassen, wenn ihre Fortsetzung mit einem iiberstarken Schmerz 
bedroht ist und das Gelingen der ,,Heilung“ erfahrungsgemaB doch 
zur Dienstentlassung oder wenigstens zum Heimatdienst fiihrt. 

Der Beweis, daB es sich bei alien diesen Vorgangen trotz der Zweck- 
dienlichkeit des Krankheitsbildes, trotz der tausendfach beobachteten 
Moglichkeit plotzlichen logisch motivierten Aufhorens, trotz der Tat- 


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als sozialpsychologischc Entwicklungsformen der Nervosit&t. 


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sache, daB Schwerverwundete und Gefangene fast nie an den fur sie zweck- 
losen Matzchen erkranken, nicht um Vortauschung, sondem um eine 
Affektkrankheit handelt, ist nur zu erbringen durch die klinische Unter- 
suchung der Affektspannung und durch Beobachtung des ganzen Krank- 
heitsverlaufs. Das eigentlich Krankhafte des Krankheitsbildes sind 
die unwillkiirlichen AuBerungen der seelischen Spannung. Die 
Matzchenbildung stellt nur die mehr zufallige Gestaltungsform vor, 
die vom schlechten Beispiel, Charakteranlage und zufalligen Gewohn- 
heiten abhangig sind. Es ware durchaus irrtiimlich anzunehmen, daB 
diese Affektspannung und die sie begleitenden Reizzeichen etwa nur im 
Augenblick der Untersuchung auftreten, sie konnen durch monate- 
lange Beobachtung bei regelmaBiger Messung andauem und machen 
die Klagen iiber Schwindel, Kopfschmerzen, Wallungen und Schwache- 
anfalle schon allein durch die Schwankungen des arteriellen Kreislaufs 
in der Schadelhohle glaubhaft. 

Die genaue klinische Untersuchung der Einzelfalle ist lediglich 
moglich, wenn man die einzelnen Bestandteile des Krankheitsbildes, 
insbesondere die Abtrennung der Willensspemingen und der Affekt- 
AuBerungen von den Erschopfungszeichen, von den Uberreizungszeichen 
und den organischen Grundlagen des Einzelfalles mit Hilfe eingehender 
klinischer Methoden erschopfend vomimmt. Zu dieser Aufklarung 
gehoren freilich in erster Linie Arbeitsversuche, welche alle korper- 
lichen und seelischen Leistungsgebiete umfassen, dann aber auch eine 
ausreichend sorgfaltige psychiatrische Untersuchung, also Intelligenz- 
prufungen, Affektuntersuchungen und nicht zuletzt die Auflosung der 
Verdrangungskomplexe. Die Zweckneurosen sind nur in ganz seltenen 
Fallen einfache, auf die nervose oder seelische Unterwertigkeit aufge- 
baute Krankheitsprozesse, die lediglich aus dem Abwehraffekt und aus 
Willenssperrungen heraus verstandlich sind. Viel haufiger ist bei der 
Entstehung des Abwehraffektes neben der angeborenen Unterwertig¬ 
keit des Seelenlebens ein tatsachlich begriindetes Schwachegefiihl, oft 
eine schwere Organkrankheit oder eine tiefe nervose Erschopfung 
vorhanden, so daB die Zweckneurose ein ganz fremdartiges Krankheits- 
bild iiberlagert. Besonders haufig ist mir von den organischen Rrank- 
heiten diese Uberlagerung bei der Arterienverkalkung, bei der Riicken- 
marksdarre imd bei den chronischen Muskel- und Gelenkentziindungen 
begegnet, also insbesondere bei Krankheiten, die von sich aus schon zu 
Unlustaffekten ftihren, imd die den Unlustaffekt des Zweckneurotikers 
besonders zu verstarken geeignet sind. Das klinische Bild der Zweck¬ 
neurose wird also unverstandlich, wenn man sich nicht an den Gedanken 
gewohnt, daB bei den Neurosen ebenso wie bei den korperlichen Krank¬ 
heiten vollig verschiedenartige Krankheitsbilder sich verbinden, uber- 
lagem und gegenseitig beeinflussen konnten, so daB scheinbar aus den 


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W. Cimbal: Die Zweck- und Abwehmeurosen 


verschiedenen einzelnen Bestandteilen ein vollig neues Krankheitsbild 
entsteht. 

Die haufigste Uberlagerung ist die auf Grund der nervosen Er¬ 
schopfung. Die Abgrenzung des Begriffs der nervosen Erschopfung 
ist von manchen Forschem mit einem gewissen Recht als nicht be- 
grundet abgelehnt worden, insofern als es ein in sich geschlossenes 
Krankheitsbild der nervos Erschopften nicht gibt. Zweifellos aber 
sehen wir in der taglichen Beobachtung, daB Leute, deren gesunde, 
ja oft ganz auBerordentliche Willenskraft und Arbeitsspannung wh¬ 
in gesunden Tagen gekannt haben, durch langjahrigen, strapazen- 
reichen Felddienst oder durch ein erschopfendes Rrankenlager dieselbe 
Stimmungslage und dieselben RrankheitsauBerungen zeigen, wie sie 
bei Schwachen, von Haus aus empfindlich und anfallig veranlagten 
Charakteren bekannt sind. Die Tatsache, daB durch erschopfende Ein- 
fliisse eine Anderung des Charakters und der korperlichen und seelischen 
Widerstandskraft erzielt wird, ist eine allgemeine Erfahrung. Es konnte 
fur die wissenschaftliche Forschung nur darauf ankommen nachzuweisen, 
in welchen Kennzeichen sich die Erschopfung von der angeborenen 
Nervenschwache, von der einfachen nervosen tJberreizung und von 
den Willensspemmgen unterscheidet. Die Erschopfung ist naturgemaB 
nur insofem eine besondere Erkrankung des Nervensystems, als sie 
sich auf dieses beschrankt und nicht, wie es viel haufiger ist, gleich- 
zeitig mit hochgradigem Gewichtsverlust, mit Veranderungen des 
Stoffwechsels, mit Verarmung oder Anderung des Blutbildes und mit 
Schwund des Muskelgewebes einhergeht. Immerhin liegt es im Wesen 
der.heute besonders maBgeblichen Schadigung, daB die nervose Er¬ 
schopfung, die trotz guten Allgemeinzustandes bestehen kann, beson¬ 
ders haufig zur Beobachtung kommt und zu ausgepragten Krankheits- 
bildem fiihren kann. Die beiden Krankheitsformen der nervosen Er¬ 
schopfung, wenigstens die beiden, die sich am haufigsten mit der Zweck- 
neurose verbinden, sind die Untergruppen der nervosen Rreislauf- 
schwache und der krankhaften Ermudbarkeit. Beide sind unschwer 
als krankhafte klinische Einzelbilder abgrenzbar und zeigen so scharfe 
Untersuchungsmerkmale, daB sie selbst bei mehrfacher Dberlagerung, 
also selbst bei gleichzeitigem Vorhandensein etwa von Zweckneurosen 
und Himerschiitterungsfolgen, noch im Krankheitsbilde aufgefunden 
werden konnen. Das wesentliche Zeichen der nervosen Kreislaufschwache 
ist die Gleichgewichtsstorung von Puls und Blutdruck bei Anstrengungen. 
Hier ist auch eine scharfe Abgrenzung der durch akute Schadigungen 
entstandenen Erschopfung von der angeborenen Unterwertigkeit des 
vegetativen Nervensystems durchaus moglich. 

Wenn man im Arbeitsversuch den zu Beobachtenden zunachst 
einer mehrtfigigen Wachsaalbeobachtung unterzieht, die abwechselnd 


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als sozialpsychologische Entwickluntrsfonnen der Xervosit&t. 


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in Bettruhe, Spaziergangen und Urlauben besteht, wenn man dann 
weiter die Arbeitsversuche gleichmaBig und methodisch an verschie- 
denen Tagen auf kurze starke Anstrengungen (10 Kniebeugen), auf 
langere maBige Anstrengungen (Treppensteigen), auf geistige Arbeits- 
leistungen und auf Schmerzpriifung ausdehnt, so verhalten sich der 
Abwehraffekt des Zweckneurotikers, die seelische Erregbarkeit des 
Uberreizten, die Labilitat der Erschopften und die angeborene Schwache 
vollig verschieden. Der Nerven- und Kreislaufschwache und ebenso 
der Zweckneurotiker, der sich ja auBerhalb der Untersuchungen wie ein 
Gesunder verhalt, zeigen in Wachsaalruhe und bei leichten Spazier¬ 
gangen vollig gesunde, gleichmaBige, nicht besonders schwankende 
Puls-, Temperatur-, Atem- und Blutdruckziffern, deren Schwankungen 
die eines vollig Gesunden keinesfalls iiberschreiten. Die akute Erschop- 
fung zeigt dagegen fast immer starke Schwankungen von Puls und Blut- 
druck, oft auch der Korperwarme, so daB schon aus der angelegten 
Wachsaalkurve, besonders wenn diese auch auf die Nachte erstreckt 
wird, die starke Labilitat des vegetativen Nervensystems hervorgeht. 
Von den seelisch Reizbaren und tTberreizten unterscheidet sich der 
Erschopfte bei diesen Wachsaalbeobachtungen dadurch, daB sein Blut- 
druck in der Ruhe meist erniedrigt ist, wahrend der Blutdruck des 
tlberreizten fast immer stark erhoht ist. 

Wahrend also die Kreislaufschwache meist einen Blutdruck von 
70/90, also einen durchschnittlichen Pulsdruck von 20 mm zeigt, findet 
sich in relativer seelischer Ruhe bei den meisten Erregten ein Blut¬ 
druck von 90/150, also ein Pulsdruck von 60 mm. Jener geringen 
Lebenskraft, die iibrigens auch bei der angeborenen Kreislaufschwache 
zur Beobachtung kommen und in gleicher Weise auch den alkoho- 
listischen und toxischen Formen eigen sein kann, entspricht nun die 
meist zu findende Neigung zu Erkaltungen, zu haufigen Verdauungs- 
8torungen, zu UngleichmaBigkeiten der Urinausscheidung, das iiber- 
starke Schlafbedurfnis, das dauenide Schlaffhcitsgefuhl, das sich im 
interesselosen Herumsitzen, der Ablehnung jedes Gesprachs, jedes 
Spieles und jeder Anregung auBert. DaB auf dieser Grundlage von 
Unlustempfindungen abwehrneurotische Krankheitsvorgange, selbst 
bei den hochst entmckelten und beherrschtesten Charakteren, sich 
aufbauen konnen, wird jedem klar sein, der sich aus eigener Er- 
fahrung der Stimmungslage einer erschopfenden und schmerzhaften 
Erkrankung zu entsinnen weiB. Obgleich also in solchem Zustandt^ 
bei den Arbeitsversuchen trotz guter Charakterschulung und ohne 
bewuBte Willensversagung seelisch bedingte Reizschmerzen und 
Erregungszustande auf Grund der befurchteten Zumutungen zu- 
stande kommen konnen, wird man doch immer imstande sein, die 
Abwehrvorgange von den Erschdpfungsvorgangen zu trennen, nur 


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W. Cimbal: Die Zweck- und Abwehrneurosen 


muB man sich die Muhe der Wachsaalbeobachtung nicht verdrieBen 
lassen. 

Die allgemeine nervose Uberreizung, insbesondere die Uber- 
reizungsformen, die durch Schreck, durch Schlaflosigkeit und durch 
geschlechtliche Spannung sowie durch NicotinmiBbrauch zustande 
kommen, sind viel schwerer von den rein seelisch bedingten Reizzeichen 
der Zweckneurotiker abzugrenzen als die Erschopfungsformen. Auch 
hier wird man festhalten mussen, daB eine dauernde Blutdrucksteige- 
rung und Pulsbeschleunigung, die in mehrwochiger Wachsaalbeobach¬ 
tung gleichmaBig besteht, die womoglich das gesamte vegetative 
NervensyBtem betrifft und die den Schlaf und die Ernahrung wesent- 
lich beeintrachtigt, iiber das MaB dessen hinausgeht, was durch Ab- 
wehrvorgange allein erzielt sein kann, selbst wenn starke und an- 
dauemde Reizzeichen offenbar auch schon unter dem EinfluB von 
Abwehraffekten zustande kommen. In den meisten Fallen ist die Ent- 
scheidung dadurch leicht, daB die allgemeine Uberreizung des Zentral- 
nervensystems sich in objektiven Zeichen auBert, welche dem EinfluB 
von Abwehrvorstellungen und Abwehraffekten vollig entzogen sind, 
also in der bis zum FuBzittem und Kniescheibenzittem gesteigerten 
Erhohung der Sehnenreflexe, in dem Zittem und Wackeln der Augen 
beim Einriicken in die Endstellungen, das fiir die nervose Uberreizung 
cbenso kennzeichnend ist wie die Blickschw’ache fiir die nervose Er- 
schopfung. 

Die Vortauschung der in den vorstehenden Abschnitten genannten 
Kennzeichen ist meist von nur geringem Erfolge. Das Kauen von Kaffee- 
bohnen und Tabak am Tage der Untersuchung steigert zwar den Puls 
um 30—50 Schlage, den Blutdruck aber nur wenig; beide sind in den 
Zahnen nachweisbar, langerer TabakmiBbrauch, der auch den Blut¬ 
druck steigert, durch Braunfarbung der Finger und der Zahne. Die 
besonders haufige Masturbations- und Alkoholschadigung am Vortage 
verrat sich durch den Geruch und setzt den Blutdruck herab. Atem- 
anhalten, beschleunigtes und gepreBtes Atmen, Zahlen des eigenen 
Pulses und der Atemziige wirken immer nur fiir einige Minuten und 
gleichen sich im Arbeitsversuch rasch aus. Alle diese Tauschungs- 
versuche bleiben im Erfolg weit hinter den krankhaften Storungen 
zuriick. 

Auch wenn weitere objektive Krankheitezeichen fehlen, wenn nur 
bei den arztlichen Untersuchungen unmaBige Blutdrucksteigerungen 
und Pulsbeschleunigungen zustande kommen, ist ein RiickschluB auf 
die krankhafte Grundstorung des vegetativen Systems moglich. Eine 
Pulsbeschleunigung auf 160—180 Schlage bei der arztlichen Unter¬ 
suchung ist selbst dann krankhaft, wenn diese Pulsbeschleunigung 
willkiirlich hervorgerufen wird dadurch, daB der Kranke bewuBt krampf- 


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als sozialpsychologische Entwicklungsfonnen der Nervosit&t. 413 

haft semen Atem anhalt, beschleunigt, bei der Ausatmung p re fit. oder 
seine Aufmerksamkeit auf die Herztatigkeit lenkt. Das gleiche gilt 
von Blutdrucksteigerungen, die in der seelischen Erregung auf mehr 
als 170 mm Hg heraufgeschnellt werden, oder die nach den maBigen 
Anstrengungen von nur 10 Kniebeugen liber die Dauer von 10 Minu- 
ten hinaus ein regelloses Sehwanken des diastolischen Blutdrucks zei- 
gen. In alien diesen Fallen ist es ganz gleichgiiltig, wie die Beaktion 
zustande gekommen ist, die Tatsache, daB eine derartige iiberstarke 
Reaktion der wichtigsten ftir uns meBbaren Indikatoren des vegeta- 
tiven Nervensystems zustande kommt, ist ein Beweis fiir die krankbafte 
tlberreizung dieses Nervensystems und berechtigt uns aus diesen Krank- 
heitszeichen alle weiteren, bei dem Kranken zutage tretenden Reiz- 
erscheinimgen und Beschwerden als Folgezustande der nervosen tJber- 
reizung anzunehmen. Von auBerordentlicher Bedeutung ist dieser 
Nachweis auf dem forensischen Gebiet der Reizneurose, namlich bei 
den Straftaten, die bei nervos Uberreizten im Affekt zustande kommen 
und die dann gewohnlich falschlich unter dem Schutze der Erinnerung6- 
losigkeit gebracht werden. Zweifellos kommt es in der seelischen Er¬ 
regung der nervos t)berreizten zu AffektauBerungen, die vollig krank- 
haft bedingt sind, die dem inneren Charakter des Kranken durchaus 
fremd sind und die einer so starken Affektspannung bei so erleichter- 
ter und beschleunigter motorischer Auslosung entstammen, daB ihre 
Beherrschung durch einen noch so zielbewuBten Willen unmoglich ist. 
In diesem BewuBtsein der Fremdtatigkeit der Handlung brauchen die 
Angeklagten dann entweder den Ausdruck, daB sie sich nicht erklaren 
konnen, wie sie zu diesen Vorgangen gekommen seien, oder aber sie 
behaupten eine vollige Erinnerungslosigkeit, da ja eine teilweise Un- 
klarheit der Erinnenmg bei diesen Affektverbrechen tatsachlich zu 
bestehen pflegt. Wenngleich fiir solche Falle eine gerichtsarztliche 
Praxis noch nicht vorliegt, da tTberreizungszustande, wie sie der Krieg 
hervorgebracht hat. bei sonst beherrschten und ruhigen Menschen in 
friedbchen Verhaltnissen nicht vorkommen, halte ich es doch fur be¬ 
rechtigt, auf Grund des Nachweises (iberstarker Erregbarkeit des vege- 
tativen Systems unter Umstanden die krankhaften Affekte des seelisch 
Uberreizten als krankhafte Storung der Geistestatigkeit im Sinne des 
§51 anzuerkennen, auch wenn eine iibergelagerte Zweckneurose eine 
gewisse moralische Unterwertigkeit des Angeklagten beweist. 

Die Unterlagerung von Zweckneurosen durch Himerschiitterungs- 
folgen und Nervenquetschungen ist naturgemaB leichter nachweisbar, 
da die Kennzeichen dieser beiden Krankheitsbilder im allgemeinen 
grober und von den seelisch auslosbaren Krankheitsvorgangen leichter 
abtrennbar sind. Immerhin mussen zwei Krankheitsgruppen hervor- 
gehoben werden, bei denen die Uberlagerung durch Zweckneurosen 


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W. Cimbal: Die Zweck- und Abwehrneurosen 


auffallig haufig ist und auffallig haufig zu einem volligen ttberaehen 
der organischen Grundlage fiihrt. Diese beiden Krankheitsgruppen sind 
einerseits die Quetschungslasionen der hoheren Sinneszentren, anderer- 
seits die trophischen Storungen, die sich unter bestimmten Verhalt- 
nissen nach Nerven- und Gelenkverletzungen in den reflektorisch zuge- 
horigen Geweben entwickeln. NaturgemaB und aus den logischen Ge- 
setzen der Zweckneurose heraus verstandlich wird eine eindeutige 
Halbseitenlahmung, eine Querschnittslahmung oder die Durchschie- 
Bung eines Nervengeflechts Zweckneurosen immer uberfliissig machen. 
Ganz anders verhalt es sich dagegen bei den Prellschiissen des Seh- 
zentrums, der Sprachgegenden und bei den feineren Zerrungsvor- 
gangen der peripheren Nerven, die zwar zu schwereren Funktions- 
storungen, aber keineswegs immer zu den allgemein bekannten 
objektiven Krankheitszeichen fuhren. Eine Himquetschung, die weder 
zu FuBzittern noch zu Babinski fuhrt und die auch nicht in die all¬ 
gemein bekannten Schemata der aphatisch-apraktisch-agnostischen 
Krankheitsbegriffe hineinpaBt, wird von dem arztlichen Untersucher 
leicht von vornherein als simulicrt oder hysterisch angesehen und bei 
den Untersuchungen dementsprechend behandelt. Aus dieser Behand- 
lung entspringt dann nicht selten und ganz naturgemaB ein Abwehr- 
affekt, der die Befundaufnahme auch des sachkundigsten Untersuchers 
erschwert und schlieBlich selbst mit bewuBten Ubertreibungen und 
leicht nachweisbaren Widerspriichen einhergeht. So ist mir besonders 
nach Hinterhauptschiissen iibergelagerte zweckneurotische Blindheit bei 
tatsachlich vorhandener Erschwerung des Orientierungsvermogens zur 
Beobachtung gelangt. Nach einer Verletzung des linken Stimhims 
waren die tatsachlich vorhandenen Reste einer Wortstummheit tiber- 
lagert durch allerhand Matzchen, die durch Hypnose beseitigungsfahig 
waren und anfangs jede Innervation der Zunge und Lippen begleiteten. 
Eine andere Entstehungsforin solcher seltsamer und schwer zu ent- 
wirrender tTberlagerungen bilden die Charcot-Sudeck-Bottiger- 
schen Trophoneurosen, bei denen einerseits die starke Schmerzhaftig- 
keit zu Schonungen und Bewegungssperrungen, andererseits die reflek- 
torische Entartung des beteiligten Nervengeflechts zu GefaBstauungen. 
Blaufarbungen, Geschwursbildungen und Gewebsentartungen fuhrt und 
bei denen infolgedessen der selfsame Irrtum zustande kam, daB hyste- 
rische Krankheitsvorstellungen trophische Gewebsveranderimgen, sei 
es nur durch die Ausschaltung der willkurlichen Bewegungen, hervor- 
bringen konnten. Die grundliegende und beide Krankheitsbilder ver- 
bindende Tatsache ist die, daB ein unterwertiges Nervensystem 

1. dazu neigt, Zweckneurosen in der Form der Schonung eines 
sehmerzenden Gliedes zu bilden, 

2. an trophischen Storungen zu erkranken, bei denen Kreislauf- 


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als sozialpsychologische Entwicklungsformen der X ervositiit. 


415 


lahmungen und Gewebsveranderungen schon nach geringen Nerven- 
schadigungen zustande kommen konnen, und 

3. daB ein unfcerwertiges Zentralnervensystem erfahrungsgemaB 
Leitungsunterbrechungen einea peripheren Nerven unendlich viel schwe- 
rer uberwindet als ein vollwertiges. Wahrend es als allgemeine Regel 
gelten kann, daB bei einem vollwertigen Zentralnervensystem das Lei- 
tungsver mbgen flir die Willensbahnungen viel rascher zustande kommt 
als fur die faradische Reizbarkeit, ist im geschwachten Zentralnerven¬ 
system jede andere Verteilung moglich. Der Nachweis, daB die Storung 
hier in der organischen Unterwertigkeit der Nervensubstanz, nicht in 
der Willenssperrung liegt, ist, abgesehen von den trophischen Storungen 
und der Beobachtung in Schlaf und Halbnarkose, fast immer dadurch 
moglich, daB derartig unterwertige Nervensysteme bei fortdauemder 
Myoroboratorreizung iiberschnell bis zur Aufhebung der Reflexe ermii- 
den, oder daB sich auch im gesunden Gewebe das Rumpfsche Muskel- 
wogen bei mechanischer oder elektrischer Reizung, ja nicht selten ein 
Ansteigen der AnodenschluBzuckung bis zur Starke der Kathoden- 
schluBzuckung besonders im ermiideten Muskelgewebe nachweisen laBt. 
Die Abgrenzung aller dieser Krankheitsbilder, die nicht wie die Zweck- 
neurosen seelisch bedingt sind, sondem organische von Affekt- und 
Willensrichtungen der Kranken vollig unabhangige Krankheitsbilder 
sind, von den Zweckneurosen ist auch dann unbedingt notwendig, 
wenn sie von Zweckneurosen tiberlagert sind. Mit der Zusammen- 
ziehung derartiger Krankheitsbilder unter den Ausdruck Hysterie oder 
Neurasthenic, traumatischen Neurosen, Psychogenien oder dergleichen 
geschieht nicht nur dem Kranken unrecht, sondem vor allem wird 
durch sie auch die wissenschaftliche Forschung irregeleitet. 

Die Abgrenzung der Reiz- und Abwehrkrankheiten des Zentral- 
nervensystems von den Krankheitsbegriffen der Hysterie oderNeur- 
asthenie ist in gewissem Sinne dadurch auBerordentlich erschwert, 
daB von seiten einzelner Schriftsteller der Ausdruck Hysterie vollig 
im Sinne der Wunschkrankheit der seelisch Unterwertigen geordnet 
und der Ausdruck Neurasthenic alle Zustande von korperlicher, ner- 
voser und seelischer Schwache umfaBt, so daB er einerseits Zustande 
schwerer Kreislaufschwache, andererseits die psychasthenischen Formen 
des Zwangsirreseins und schlieBlich sogar die melancholischen Verstim- 
mungen der seelisch Abartigen umfaBt. Derartigen Krankheitsbegriffen 
gegenuber bleibt der klinischen Erforschung der Neurosen kein anderes 
Mittel als die vollige Ausschaltung aus dem wissenschaftlichen Sprach- 
schatz, da jede emsthafte Aussprache uber Krankheitsbeobachtungen 
durch den spielerischen MiBbrauch solcher sinnlos gewordenen Aus- 
driicke verhindert wird. Wenn man die Krankheitsbegriffe der 
Hysterie und nervosen bzw. psychischcn Asthenie nicht miBbraucht, 
Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVII. 27 


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W. Cimbal: Die Zweck- und Abwehrneurosen 


sondem sie in ihrem urspriinglichen Sinne umgrenzt, so treten sie 
nicht alizu haufig mit den Zweckneurosen in der vorstehend ge- 
schilderten Form in Verbindung. Die Organisation und arztiiche Uber- 
wachung unseres Heereswesens ist eine viel zu sorgfaltige, um nicht 
echte Hysteriker, deren auffalliges, phantastisches, wechselvoiles und 
unzuverlassiges Benehmen im Heeresdienst sehr fruh bemerkt wird, 
rasch und rechtzeitig zu erkennen und auszuschalten. Vor allem be- 
sitzt der Hysteriker in seiner hochgradigen Selbstsucht und in der 
ungemein erleichterten Auslosbarkeit auffalliger Krankheitszeichen aus- 
reichende Abwehrmoglichkeiten, um sich emsteren Strapazen des 
Lebens, insbesondere des Heeresdienstes, schon sehr fruh zu entziehen, 
ehe es zu schwereren Spannungsvorgangen imd Abwehraffekten kommt. 
NaturgemaB nehmen diese Matzchen der Hysteriker dann auch zweck- 
neurotischen Charakter an, sie sind jedoch weder von den unwillkiir- 
lichen Zeichen der Affektspannung begleitet, noch sind sie so hart- 
nackig und so einformig in ihrem Krankheitsbild wie die echten Abwehr¬ 
neurosen. Vor allem aber muB zur Annahme der Hysterie unbedingt 
gefordert werden, daB die hysterische Charaktergrundlage als unter- 
wertige, durch das ganze Leben sich hinziehende nachzuweisen ist. 
Die Abwehrstimmung der krankhaft Reizbaren oder Erschopften, die 
Denkhemmung des Schadelverletzten, die seelische Dauerspannung des 
Zweckneurotikers gleichzusetzen mit den wechselnden eigensuchtigen, 
selbstbewuBten und schillemden Charakterstorungen des Hysterikers, 
scheint mir bei der gutachtlichen Klarstellung nicht zweckdienlich zu 
sein. Den Ausdruck Neurasthenie konnte man in der geschilderten 
Form gern brauchen, wenn er nicht deutsch durch wesentlich klarere 
Begriffe besser ersetzt werden konnte. Die Trennung der erworbenen 
Erschopfung imd der angeborenen Abartigkeit und Unzulanglichkeit 
des Nervensystems mit ihren zahlreichen Teil- und Unterformen ist 
nur bei der Verwendung deutscher Ausdriicke moglich und ist mit 
Riicksicht auf die gutachtlichen Aufgaben sowohl vor Gericht, wie im 
Unfallgutachten, wie im militararztlichen Zeugnis unbedingt erforderlich. 

Der Ausdruck Zweckneurose ist manchmal sprachlich angefochten 
worden und bedarf deshalb auch in dieser Beziehung der Begriindung. 
Zweck ist objektiv, Ziel subjektiv, deshalb habe ich das Wort Zweck 
vor dem Wort Ziel bevorzugt, weil ein Ziel ebenso wie Wunsch und 
Begehren eine bewuBte oder doch halbbewuBte Absicht voraussetzt, 
die beim Zweckneurotiker in echten Krankheitsfallen nicht vorliegt. 
UnbewuBt instinktmaBiges Handeln und bewuBter (moralischer) Ge- 
dankeninhalt sind nicht nur unabhangig von einander, sondem oft gegen- 
satzlich. Wem das Wort Zweck zu hart klingt, der brauche den Ausdruck 
Abwehmeurose, da immerhin die Mehrzahl der Zweckneurosen den Ab- 
wehraffekt, den ich einleitend geschildert habe, als Krankheitsmittel 


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als sozialpsychologische Entwicklungsformen der Nervosit&t. 417 

besitzt, und der Begehrungsaffekt, der ja dem Abwehraffekt an krank- 
machender Starke bei weitem nachsteht, nur eine geringe Rolle dabei 
spielt. Die verwaltungsmaBig notwendigen Begriffe liegen iibrigens 
in den Ausdrucken Haftpsychose, Unfallneurose, Kriegsneurose schon 
feat. Als zusammenfassender Begriff der klinischen Einheit schien 
ein klarer und sprachlieh unanfechtbarer Name wichtiger als jede andere 
Rucksichtnahme. Die Ausdriicke Willenssperrung, Matzchen- und 
Faxenbildung decken immer nur vereinzelte Symptome des gesamten 
Krankheitsbildes und konnten zur Zusammenfassung nicht verwertet 
werden. Fur die grundlegende Charakteranlage, deren Erkennung 
schon friihe vorliegende MaBnahmen zur Vermeidung der Neurosen- 
bildung fordert, sind vollig andere Bezeichnungen zweckdienlich. 
Widerwilligkeit, Mangel an Arbeitswillen, an Dienstwillen und Kriegs- 
freudigkeit kennzeichnen das Charakterbild, auf dem die Zweck- und 
Abwehmeurosen wohl entstehen konnen, das ihnen in der einzelnen 
Willensspemmg wohl ahnlich sein kann, das aber klinisch, sprachlieh 
und verwaltungstechnisch scharf von ihnen getrennt werden muB. 

Die Grundgedanken und Ziele der vorstehenden Ausfuhrungen 
lassen sich in folgenden Satzen zusammenfassen: 

1. Die Zweck- und Abwehmeurosen (Kriegs-, Unfallneurosen, 
Haft- und Verantwortungspsychosen) sind eine einheitliche Krankheits- 
gruppe, deren unwillkurliche, fiir den Krankheitsbegriff wesentliche 
Krankheitszeichen einheitliche sind, gleichviel welche auBeren augen- 
falligen Erscheinungsformen im Vordergrund des Krankheitsbildes 
stehen. 

2. Die Zweckneurosen entstehen in genau der gleichen Weise mit 
der gleichen Krankheitsentwicklung und den gleichen Erscheinungs¬ 
formen, gleichviel ob ein das Seelenleben erschuttemdes Ereignis 
ihrem Ausbruch vorausgegangen ist oder ob der sie verursachende 
Abwehraffekt lediglich durch den Eintritt einer sozialpsychologischen 
Situation bedingt ist. Sie kommen in dieser Form niemals zustande, 
wenn die sozialpsychologische Situation fehlt. 

3. Von der Vortauschung unterscheiden sie sich 

a) durch Reizerscheinungen insbesondere des vegetativen Nerven- 
systems, die eine Folge krankhafter Affektspannungen sind, und 

b) durch die Entwicklung einzelner, zwar zweckmaBiger und dem 
Willen der Kranken zuganglicher Erscheinungsformen, die andererseits 
erfahrungsgemaB von Gesunden nicht eingeubt und zur Entwicklung 
gebracht werden konnen. Sie beruhen also auf der Fahigkeit des krank- 
haft iiberreizten Zentralnervensystem unter der Einwirkung starker 
Affekte Krankheitsformen zu entwickeln, deren Hervorrufung dem 
Gesunden in keiner Weise moglich ist. 

4. Die Durchbrechung eines Teiles dieser Einzelzeichen ist erfahrungs- 

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418 


W. Cimbal: Die Zweck- und Abwehrneurosen 


gemaB sowohl durch die Hypnose als durch starke Schmerzreize, als 
durch einfache Wachsuggestionen und einfache tlberredung moglich, 
vorausgesetzt, dafi der Kranke durch die Heilung oder trotz derselben 
glaubt, seine Zwecke erreichen zu konnen. Die gleichzeitig mit der 
Matzchenbildung einhergehenden unwillkiirlichen Veranderungen des 
Seelenlebens, insbesondere die einmal angebahnte Erregbarkeit der 
Affekte und die erleichterte Auslosbarkeit der einmal entwickelten 
Krankheitszeichen, werden durch die genannten Heilungsverfahren 
nicht beseitigt und weichen nur allmahlich, wenn iiberhaupt, den auch 
sonst fiir die Beseitigung seelischer und nervoser Storungen erprobten 
Heilungswegen, insbesondere der Beschaftigungstherapie und der ziel- 
bewuBten Kraftigung. 

5. Kriegs- und Unfallszweckneurosen sind nicht rentenberechtigt, 
wenn nicht die ihnen zugrunde liegende nervose Uberreizimg, Erschop- 
fung oder Erschutterung Unfallsfolge resp. im Sinne der Ziffer 150/51 
Kriegsbeschadigung ist. Einc Rentenentschadigung lediglich auf Grund 
der Willenssperrimg und Matzchenbildung ist rechtlich unzulassig, 
praktisch verfuhrerisch zur Vortauschung und Ubertreibung und volks- 
wirtschaftlich verderblich fiir die Erwerbskraft des Volkes. 

6. Zweck- und Abwehmeurotiker, denen eine Rente nach MaBgabe 
ihrer Matzchenbildung, nicht aber der voriibergehenden tlberreizungs- 
und Erschopfungskrankheiten verliehen ist, werden wahrscheinlich 
lebenslanglich unheilbare Rentner und Querulanten. Statt der Rente 
hat in dem Falle eines Notstandes eine Fursorge einzusetzen, welche 
die Familie des Verletzten und ihn selbst dem Notstand entzieht, ohne 
ihn in den GenuB einer Rente zu setzen. 

7. Derartige Einrichtungen konnen etwa in der Form psychiatrischer 
Koloniengiiter mit kleiner zentraler Behandlungsabteilung und land- 
lichem oder handwerklichem Betrieb moglichst verstreut auf dem 
flachen Lande unter Leitung der Landesversicherungsanstalten be- 
griindet werden, diirften nicht den Namen einer Irrenanstalt tragen, 
wiirden aber im wesentlichen nach ahnlichen Grundsatzen wie eine 
solche zu leiten sein. Die vorgrschlagene Verteilung selbstandiger 
kleiner Rentenguter an derartige Zweckneurotiker ist zunachst eine 
Ungerechtigkeit gegen die Schwerverletzten, dann aber besonders nn- 
zweckmaBig mit Riicksicht auf die auch wirtschaftliche Unterwertig- 
keit der zu Zweckneurosen neigenden Nervosen. 

8. Voll zu entschadigen sind dagegen die reinenErschopfungsformen, 
die Himerschiitterungsfolgen, die als krankhaft nachweisbaren t)ber- 
reizungszustande und die rheumatischen Muskelkrankheiten. Fiir diese 
Falle ist die Rentenentschadigung, nicht aber die Abfindung nach den 
Erfahrungen der zivilen Unfallspraxis, einstweilen bis zur Einrichtung 
zweckdienlicher Versorgungsmogliehkeiten der einfachste Weg. 


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als sozialpsychologische Entwicklungsformen der Xervosit&t. 419 

Nachtrag bei der Korrektor. 

In letzter Zeit haben mehrere Veroffentlichungen in ziemlich er- 
regter Stellungnahme die Bezeichnungen der Kriegshysterie, der Zweck- 
neurose, der Wunschkrankheit usw. fiir die im Felde, insbesondere 
durch Kriegsereignisse ausgelosten Abwehr- und Schreckneurosen als 
unberechtigt abgelebnt. Dieser Auffassung mochte ich mich fiir den 
praktischen Gebrauch imEinzelgutachten mit dem Vorscblag anschlieBen, 
einen moglichst unverbindbcben und nicht anstoBigen Ausdruck fiir 
die nach vollwertigem Kriegsdienst durch Kriegsereignisse erkrankten 
Xeurotiker festzulegen. Geeignet erscheint mir der Ausdruck Kriegs¬ 
neurose, der dann freibch auf die tatsachlichen Kriegsteilnehmer, 
das heifit die im mobilen Truppenteil durch Strapazen oder Kriegs¬ 
ereignisse Erkrankten beschrankt werden miiBte. Die in der Ausbil- 
dungszeit, schon bei der Musterung, wahrend des Urlaubs oder in der 
Lazarettpflege rein aus innerer Abwehr entwickelten Neurosen waren 
als Kriegsabwehmeurosen oder noch klarer als Abwehmeurosen zu 
bezeichnen. Allerdings miiBte dann die Berechtigung des Ausdrucks 
Kriegsneurose, welche gleichzeitig die Versorgungsberechtigung in- 
folge Dienstbeschadigung in sich schl6sse, auch tatsachlich ebenso 
sorgfaltig gepruft werden, wie die schwerwiegenden arztlichen Krank- 
heitsbezeichnungen iiberhaupt, die Angabe einer erhttenen Verschiit- 
tung bediirfte also der Nachfrage beim Truppenteil. Die Verwendung 
des Ausdrucks Kriegsneurose oder Kriegshysterie zur Verdeckung 
einfacher Widerwilligkeit oder Vortauschung miiBte dann fallen. tTbri- 
gens gehoren die durch Verschiittungen entstandenen Schreckneurosen 
nicht in das Gebiet der Abwehr-, sondem der tTberreizungskrankheiten, 
soweit sie sich auf die Zeichen der akuten nervosen tlberreizung (Puls- 
beschleunigung, Pulsdrucksteigenmg, Steigerung der Reflexerregbar- 
keit, Krampfzustande, Erregungszittem) beschranken. Die angedeu- 
teten Veroffenthchimgen sollen uns also zu immer scharfer differen- 
zierenden Kjankheitsbezeichnungen, nicht aber zur Milderung oder 
Verschleierung des Einzelausdrucks veranlassen. 


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Kritische Bemerknngen iiber den atiologischen Znsammen- 
hang zwischen Chorea minor und Syphilis. 

Von 

Dr. Kurt Boas, z. Zt. im Felde. 

7 I 

(Aus der st&dtischen Nervenheilanstalt Chemnitz 
[Direktor: Prof. Dr. L. W. Weber].) 

(Eingegangen am 29. Mai 1917.) 

Von jeher ist der Syphilis ein bedeutsamer EinfluB auf die Entstehung 
von Erkrankungen des Zentralnervensystems zugeschrieben worden. 
Vielfach wurde friiher ein solcher Zusammenhang ganz wilikiirlich oder 
unter Berufung auf eine erfolgreiche spezifische Behandlung angenom* 
men. So kam es, wenn man der atiologischen Bedeutung der Lues in 
der Neurologie und Psychiatrie vom historischen Standpunkt aus nach- 
geht, vorubergehend zu einer Uberschatzung der Syphilis. Erst die 
Entdeckung der Wassermannschen Reaktion und des Salvarsans 
haben zu einer niichtemen und objektiven Bewertung der atiologischen 
Bedeutung der Syphilis gefiihrt. 

Es soli im folgenden die Frage nach den atiologischen Beziehungen 
zwischen Chorea minor und Syphilis kritisch gepriift und unter Bei- 
bringung neuen Materials untersucht werden. Gerade die Untersuchung 
dieses atiologischen Zusammenhanges wird uns gewisse prinzipielle 
Fehler erkennen lassen, welche die atiologische Forschung zunachst auf 
eine falsche Fahrte geleitet haben. 

Wenn wir die einschlagigen Lehr- und Handbucher nachschlagen, 
so ist die Ausbeute eine recht geringe. Nonne 1 ) erwahnt lediglich 
die Falle von Zambaco 2 ) und Kowalewsky 8 ) und bemerkt dazu, 
ohne in eine nahere kritische Wiirdigung dieser Falle einzutreten, daB 
ihm eigene Beobachtungen nach dieser Richtung hin nicht zu Gebote 
stehen. Oppenheim 4 ) fiihrt in seinem Lehrbuch die Falle von 
Milian 6 ) und Flatau*) kurz an, lehnt aber die von Milian 5 ) in weit- 
gehendem MaBe angenommenen Zusammenhange zwischen Chorea und 
Syphilis ab, ohne aber streng in Abrede zu stellen, daB sich auf dem 
Boden der Lues eine symptomatische Form der Chorea entwickeln k5nne. 
Eine ahnliche Kritik an den Befunden Milians 6 ) wird von Hirschl 
und Marburg 7 ) geiibt, deren eigene Untersuchungen, iiber die sich 
jedoch nahere Angaben nicht finden, denen Milians 8 ) widersprechen. 


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K. Boas: Cber Chorea minor und Syphilis. 


421 


In der monographischen Darstellung der Chorea von Vogt 8 ) wird 
der Syphilis als eines atiologischen Faktors der Chorea iiberhaupt nicht 
gedacht. Auch fiber die Salvarsantherapie findet sich in den betreffen- 
den Kapiteln kein Wort. Ebenso laBt sich Eulenburg 10 ) in seiner 
ausffihrlichen Bearbeitung des Gegenstandes fiber diese Frage nicht 
aus. Eine kurze Ervvahnung des atiologischen Konnexes iindet sich 
bei Forster 11 ), der kurz auf die Untersuchungen von Brfining 12 ) 
und Mettler 13 ) verweist, einer kritischen Stellungnahme aber aus dem 
Wege geht. Ibrahim 14 ) meint, daft Syphilis nur als Ursache der 
Chorea minor in Betracht kommen dfirfte, und erwahnt auch die Er- 
folge der intravenosen und intramuskularen Salvarsan- bzw. Neo- 
salvarsanbehandlung bei Chorea minor. 

Die Sichtung des einschlagigen Materials ergibt folgende Falle, die 
mehr oder weniger ffir einen Zusammenhang zwischen Syphilis und 
Chorea beweiskraftig sind. • 

Der erste einschlagige Fall ist von Costilhes 16 ) verdffentlicht wor- 
den; die betreffende Arbeit, die aus dem Jahre 1852 stammt, findet sich 
kurz bei Kowalewsky 3 ) erwahnt. Einzelheiten darfiber fehlen. 

Der Fall Zambacos 3 ) betrifft eine 20jahrige Naherin. Keine Er- 
scheinungen vonseiten des Herzens, kein Rheumatismus in der Ana- 
mnese, keine Hereditat, keinerlei sonstige familiare nervose Antezeden- 
tien. Die Patientin hatte eine chronische Chorea, die sich jeder Be- 
handlung gegenfiber refraktar verhielt. Es handelte sich um choreatische 
Bewegungen des Rumpfes, der Zunge, verbunden mit starken Kopf- 
schmerzen, Schmerzen in den Extremitaten und Ohrenschmerzen, be- 
sonders nachts. Dazu kam eine ausgesprochene Taubheit. 

An syphilitischen Erscheinungen zeigte die Patientin: Roseola, 
starke Anschwellung der Lymphdrfisen am Hals, Hinterhaupt und an- 
deren Korperpartien, Plaques muqueuses an den Tonsillen. Es wurde 
nunmehr eine Hg-Behandlung eingeleitet, die eine Besserung und schlieB- 
lich ein volliges Verschwinden der Chorea zur Folge hatte. Ebenso lieBen 
die eigentlichen syphilitischen Erscheinungen, die Kopfschmerzen und 
Schwerhorigkeit eine bedeutende Besserung unter dem Einflusse der 
spezifischen Therapie erkennen. 

Eine kritische Betrachtung dieses Falles lehrt folgendes: 

Es handelte sich um eine erworbene Syphilis im Sekundarstadium, 
die gleichzeitig mit der Chorea einherging. Ob hier ein tatsachlicher 
atiologischer Zusammenhang vorlag, muB bezweifelt werden, besonders 
im Hinblick auf die Tatsache, daB die Chorea syphilitica, wenn man 
eine solche iiberhaupt anerkennen will, stets eine angeborene Lues zur 
Voraussetzung hat, also im w r esenthchen an das Kindesalter gebunden 
ist. Gerade die Tatsache, daB fast ausschlieBlich angeborene Lues 
im Spiele ist, beweist, daB es sich hier nicht um eine echte infektifise 


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422 K. Boas: Kritische Bemerkungen Uber den atiologischen 

Chorea minorl handelt, sondem um einen unter dem Bilde chorei- 
former Zuckungen verlaufenden Typus der angeborenen Lues cerebri. 
Schon Kowalewsky 8 ) hat betont, daB die erworbene Syphilis 
fiir die Atiologie der Chorea ein unerhebliches Moment darstelle. Fur 
diese Ablehnung fiibrt Kowalewsky 3 ) als auBeren Umstand an, daB 
beide Erkrankimgen verschiedenen Altersstufen angehoren und des- 
wegen zwischen ihnen wenig Gemeinsames gegeben sein konne. DaB 
eine solche Erwagung nicht stichhaltig ist, geht daraus hervor, daB 
hiemach Beziehungen zwischen Chorea minor, z. B. mit progressiver 
Paralyse, von vornherein ausgeschlossen sind. DaB dem nicht so ist, 
werden die spateren ErQrterungen zeigen. Die gesamte Literatur iiber 
Chorea und Syphilis kennt auBer dem Falle Zambacos 2 ) nur einen 
einzigen weiteren von Chartier und Rose 18 ) mitgeteilten Fall von Auf- 
treten einer Chorea im Verlaufe einer sekundaren Lues. Abgesehen 
aber hiervon, laBt der Fall von Zambaco 2 ) noch die Deutung zu, daB 
hier keine echte Chorea vorgelegen hat, sondem choreiforme Attacken 
im Verlaufe einer sekundaren Lues mit vorwiegender Beteiligung des 
Zentralnervensystems. Heranzuziehen waren hierzu die Ohrenscb merzen 
und Taubheit, die auf eine Beteiligung des vestibularen Apparates 
hindeuten, sowie die Kopfschmerzen. Es liegt somit jedenfalls die 
' Mdglichkeit einer Lues cerebri resp. einer meningealen Reizung auf 
syphilitischer Grundlage nahe, so daB der Fall keinesfalls als Beweis 
fiir einen atiologischen Zusammenhang zwischen Chorea und Syphilis 
dienen kann. 

Kowalewsky 8 ), der dem erwahnten Falle groBe Bedeutung bei- 
legt, erhebt den Einwand, ob hier nicht moglicherweise eine Chorea 
hysterica mit zutalligem Zusammentreffen mit Syphihs vorlag. Er 
beruft sich dabei darauf, daB die Kranke Zambacos 2 ) spaterhin eine 
,,syphilitische Hysterie“ bekam, und daB die Hysterie nicht selten 
unter dem Bilde der Chorea in Erscheinung trate. Kowalewsky 8 ) 
gibt aber selbst zu, daB es sich hierbei nur um einen Streit um Worte 
handle, da die syphilitische Grundlage auf jeden Fall gesichert erscheine. 

Im iibrigen laBt die Krankengeschichte Zambacos 2 ), soweit sie 
sich im Auszuge bei Kowalewsky 8 ) angegeben findet, fiir die An- 
nahme einer hysterischen Chorea keinen Raum, so daB nach dem strengen 
MaBstab, den wir jetzt an den modemen Begriff der Hysterie zu legen 
gewohnt sind, dieser Annahme damit der Boden entzogen wird. Kowa¬ 
lewsky 3 ) selbst hat die einschlagige Kasuistik um folgenden bemerkens- 
werten Fall bereichert: 

Es handelt sich um vier Kinder syphilitischer Eltem. Der Mann hatte zur 
Zeit manifesto syphilitische Erscheinungen tertiarer Natur, wie Ulcerationen an 
verschiedenen Korperteilen, Lymphdriisenschwellung und Entziindungen des 
Perioste. Die Frau hat vier Aborte durchgemacht und auBerdem einen spezi- 


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Zusammenhang zwisciien Chore*! minor und Syphilis. 


423 


fischen Ausachlag gehabt. Sie ist mit Quecksilber behandelt worden. Nervose 
Symptome sind bei den Eltern nicht beobachtet worden. 

Die vier lebenden, ails dieser Ehe hervorgegangcnen Kinder erkrankten nun 
in ziemlich kurzen Zeitintervallen samtlieh an Chorea minor. Zuerst machte sich 
die Erkrankung bei der a 1 ten ten Tochter gel tend und fuhrte bei dieser nach vier 
Jahren zu einem Rezidiv. Heniach wurden auch die ubrigen drei Kinder von der 
Chorea befallen, die zum Teil einen sehr hartniickigen Charakter hatte, z. B. bei 
dem einen Kinde elf Monate anhielt. Bei dem jiingsten Kinde trat die Erkrankung 
halbseitig auf, ein Moment, das vielleicht von einer gewis^en Wichtigkeit ist im 
Hinblick auf die Tatsache, daB von spateren Autoren die Halbseitigkeit der „syphi- 
litischen“ Chorea betont worden ist. 

Wenn war chosen Fall einer kritischen Betrachtung unterwerfen 
und die Frage priifen, ob hier eine echte syphilitische Chorea vorliegt, 
to muB zunachst im allgemeiiu n hervorgehoben werden, daB der Fall 
der vorwasscrmannschcn Ara angehort. Dadurch, daB der sero- 
logifcchc Beweis der Syphilis nicht zu erbringen ist, ist bereits ein ge- 
wisser Zweifel an der syphilitischen Atiologie des Falles berechtigt. 
In zweiter Linie ware von einer syphilitischen Chorea zu fordem, daB sie 
sich einer spezifischen Behandlung zuganglich gezeigt hat. Auch nach 
dieser Richtung versagt der Fall Kowalewskys 8 ). Es ist in seiner 
Publikation iiber die Art der vorgc nommcncn Behandlung nichts Naheres 
ausgesagt, speziell findet sich auch nichts iiber eine etwaige antisyphi- 
litische Behandlung angegeben. 

AuBer den bereits geiiuBerten Bedenkcn ist weiterhin zu erwahnen, 
ob das Auftretcn gehaufter Falle von Chorea in einer Familie sich nicht 
auf andere Weise erklaren laBt. Zunaehst ist jeder andere atiologische 
Faktor, wie Rheumatismus mit und ohne Endokarditis, Angina, psycho¬ 
gene Momente usw., auszusehlieBen. Dagegen konnte sehr wohl ein 
gewisses konstitutionelles Moment fiir das Auftreten dieser familiaren 
Falle verantwortlich gemacht werden. Viel naher aber liegt noch die 
Erklarung einer hysterischen oder imitativen Chorea. In der Tat laBt 
das zeitliche Zusammenfallen der vier Falle daran denken, daB hier eine 
gewisse Induktion mit im Spiele war, wie wir das haufig bei Chorea- 
epidemien bei Schulkindem sehen. 

Nun meint aber Kowalewsky 3 ) im AnschluB an den Fall von 
Zambaco 2 ), es sei im Prinzip gleichgiiltig, obman dessen Fall als eine 
hysterische Chorea oder als eine Hysterie unter dem Bilde der Chorea, 
beide aber auf dem Boden einer Syphilis ansehen wolle. Wir konnen 
heutzutage diese Auffassung und die Selbstandigkeit einer syphilitischen 
Hysterie nicht mehr anerkennen. 

Wenn wir unsere gesamten Erorterungen iiber den Fall Kowa- 
lewskys 3 ) zusammenfassen, so kommen wir zu dem Ergebnis, daB seine 
syphilitische Atiologie auf sehr zweifelhaften FiiBen steht. 

Einige kurze kasuistische IVDtteilungen aus den neunziger Jahren 
mogen hier nur kurz angefiihrt sein. So berichtet z. B. Major 17 ) iiber 


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424 K. Boas: Kritische Bemerkungen ttber den atiologischen 

einen Fall von juveniler Paralyse, in dem choreaartige Bewegungen 
als initiale Symptome einer Paralyse auftraten. Wir beschranken uns 
hier einstweilen auf die bloBe Registrierung dieses Falles, da wir spater 
in anderem Zusammenhange noch einmal auf die Beziehungen zwischen 
der Paralyse und der Chorea, die fiir die Entscheidung des atiologischen 
Zusamrr.enhanges zwischen Chorea und Syphilis von erheblicher Be- 
deutung sind, zuriickkommen miissen. 

Alison 72 ) teilt einen Fall von Chorea minor bei einem sieben- 
jahrigen Madchen mit angeborener Lues mit. 

Soltmann 9 ) berichtet iiber einen Fall von Chorea minor luetica 
hereditaria, der nicht nur wegen seiner Seltenheit als Veitstanz auf 
luetischer Basis, sondem auch durch seine prompte giinstige Beein- 
flussung und Heilung durch Darreichung von Jodkalium von Interesse 
ist. Er betrifft ein 15jahriges Madchen mit Anzeichen (welchen? Verf.) 
von hereditarer Syphilis. Ein Stiefbruder litt lange Zeit an einer syphi- 
litischen Knochenerkrankung. Der Vater war Tabiker. AuBerdem 
bestand starke erbliche Belastung: die Mutter war friiher sehr nervos, 
zwei Briider derselben waren geisteskrank. Eine Schwester des Vaters 
sowie ein Vetter und eine Kusine litten an Epilepsie. Aus dem korper- 
lichen Befunde ist zu erwahnen, daB bei der Patientin ein systolisches 
Gerausch am Herzen bestand. Bromkali, Chloralhydrat und Anti¬ 
pyrin wurden erfolglos angewandt. Nach groBen Gaben von Kalium 
jodatum erfolgte innerhalb von 14 Tagen eine auffallende und schnelle 
Besserung mit Ausgang in Heilung. 

Die Beweiskraft des vorstehenden Falles wird geschmalert durch 
den positiven Herzbefund. Das Vorhandensein eines systolischen Ge- 
rausches laBt vielmehr die Vermutung einer echten infektiosen Chorea 
minor mit vorhergegangener unbekannter Infektionskrankheit (An¬ 
gina? Rheumatismus?) aufkommen, obgleich der Promptheit der 
Jodkaliwirkung und dem Vorhandensein von Anzeichen einer ange- 
borenen Syphilis eine gewisse Beweiskraft nicht abgesprochen werden 
soli. Der Fall Soltmanns 9 ) liegt hier in gewissem Sinne ahnlich wie 
der von uns spater mitzuteilende Fall 2, bei dem einerseits die positive 
Wassermannsche Reaktion im Blute Anhaltspunkte fur Syphilis 
lieferte, andererseits der Befund am Herzen (Mitralinsufficienz) zu- 
gunsten einer anderweitigen Atiologie sprach. Beide Falle illustrieren 
die mannigfachen Schwierigkeiten, die sich der atiologischen Betrach- 
tungsweise mancher Falle von Chorea minor bisweilen in den Weg 
stellen konnen. 

Die ganze Frage ruhte dann langere Zeit, bis sie durch die Entdeckung 
der Wassermannschen Reaktion und di6 Einfuhrung des Salvarsans 
in den therapeutischen Heilschatz wieder aufgenommen wurde. Es lag 
sehr nahe, im Hinblick auf friiher vernAutete Zusammenhange von 


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Zusammenhang zwischen Chorea minor und Syphilis. 


425 


Syphilis und Chorea diese Frage nunmehr einer serologischen Nach- 
priifung zu unterwerfen. Merkwiirdigerweise findet sich in der Literatur 
keine systematische Untersuchung hinsichtlich der Hautigkeit positiver 
Wa8sermannbefunde bei Choreakranken. Nur iiber die Hunting- 
ton sche Chorea liegen nach dieser Richtung hin Angaben von Lo¬ 
renz 62 ) vor, die, wie von vomherein zu erwarten steht, einen negativen 
Ausfall nach der Richtung der Syphilis ergeben haben. Diese Tatsache 
sei hier nur der Vollstandigkeit halber registriert. Von Richardiere, 
Lemaire und Lourdel 66 ) wird ein haufiges Vorkommen von maBiger 
Lymphocytose im Liquor cerebrospinalis angegeben. 

Die einzigen Zahlenreihen, die uns iiber den Zusammenhang zwi¬ 
schen Chorea minor und Syphilis zu Gebote stehen, sind klinischen 
und statistischen Mitteilungen entnommen. Aus der Statistik von 
Briining 12 ) iiber 65 Falle von Chorea minor hat sich z. B. ergeben, 
daB in fiinf Fallen klinische Anhaltspunkte fiir eine Syphilis vorlagen. 
Diese bestanden lediglich in Angaben iiber etwaige Fehlgeburten. 
Die Zahl der Aborte schwankte zwischen 1 und 3. Die Falle Briinings 12 ) 
entbehren einer serologischen Kontrolle. Wie unzuverlassig die An¬ 
gaben iiber Fehlgeburten fiir die Annahme einer Erbsyphilis zu ver- 
werten sind, geht aus dem spater mitgeteilten Fall 1 hervor, der nach 
der anamnestischen Seite, was Fehl- und Friihgeburten betrifft, alle 
Vorbedingungen fiir die Annahme einer Syphilis erfiillt. Trotzdem 
zeigte die Mutter des Patienten sowohl als auch dieser selbst und sein 
Bruder negative Wassermannbefunde im Blute. Auch Fall 2 zeigte 
ein ahnliches Verhalten nach dieser Richtung. 

Kurz erwahnt sei ein von Marfan und Debre 18 ) mitgeteilter 
Fall, bei dem es sich um eine Chorea kompliziert mit Athetose bei einem 
kongenital-syphilitischen Kinde handelt, bei dem die Erscheinungen 
innerhalb der ersten Lebensmonate aufgetreten waren. Der Fall stammt 
aus dem Jahre 1909 und kann daher wegen der fehlenden serologischen 
Befunde nicht als emsthafter Beweis des syphilitischen Ursprungs 
der Chorea ins Treffen gefiihrt werden. Wahrscheinlich hat hier keine 
echte Chorea minor vorgelegen, sondem eine organische Gehimerkran- 
kung schwererer Art mit choreiformen Symptomen. 

Die Entdeckung des Salvarsans fiihrte dazu, zunachst rein empirisch, 
das Mittel auch in Fallen von Chorea minor zu versuchen. Der erste, 
der einen therapeutischen Versuch bei Chorea minor machte, war 
v. Bokay 18 ) 20 ). Dieser wurde zu der Anwendung des Salvarsans 
nicht durch atiologische Gesichtspunkte gefiihrt, sondem durch die 
arzneiliche Verwandtschaft des Salvarsans mit den seit Jeher bei Chorea 
angewandten Arsenpraparaten. Sein Fall, der eine rezidivierende Chorea 
bei einem 8jahrigen Madchen betrifft, sowie die weiteren drei Falle 
scheiden von vomherein fiir eine atiologische Betrachtung aus, weil 


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426 


K. Boas: Kritische Bemerkungen Uber den atiologischen 


schon rein klinisch und serologisch etwaige atiologische Beziehungen 
zur Syphilis nicht gegeben sind. 

Die im iibrigen zu Nachpriifungen ermutigenden Resultate v. 
Bokays 19 ) 20 ) fiihrten zu einer Reihe weiterer Pubbkationen von Fallen 
von rezidivierender oder hartnackiger Chorea, bei denen die Behandlung 
ebenfalls nicht unter dem atiologischen Gesichtswinkel eingeleitet wurde. 
Hierhin gehbren z. B. die Falle von Hainiss 21 ), Hahn 22 ), Scametz 88 ), 
Mayerhofer 24 ), Dufour und Loir 26 ), van Pee 26 ), Pawlow 27 ), 
Leuriaux 28 ), Gartner 29 ) (Fall 1) und Lenzmann 80 ). Briining*) 
hat, wie er mir mitteilte, mehrere Falle von Chorea ohne Erfolg einer 
Sal varsan behandlung unterzogen. 

Die ersten Autoren, die das Salvarsan in zielbewuBter Weise unter 
Voraussetzung der syphilitischen Herkunft der Chorea anwandten, 
waren Milian 6 ), sowie Marie und Chatelin 81 ). Milian 6 ) verOffent- 
hchte bereits in der ersten Zeit der Salvarsanara zwei Falle von syphi- 
litischer Chorea und konnte diesen in kurzer Zeit 15 weitere Falle 
anreihen, bei denen die Syphilis zum groBten Teile (73,33%) auch sero¬ 
logisch sichergestellt ist. Milian 6 ) wies auch auf die klinisch merkwiir- 
dige Tatsache hin, daB bei der syphilitischen Chorea die primare Er- 
krankung, die Syphihs sich in relativ harmloser Weise kundgabe, z. B. 
in Form einer Dystrophie, wahrend grobere syphilitische Veranderungen 
an der Haut, an den Schleimhauten und dem Knochensystem zu den 
Seltenheiten gehoren. 

Der bei den friiheren Fallen vermiBte Beweis des spezifischen Cha- 
rakters der Chorea wird auch in den Fallen Milians 6 ) durch die thera- 
peutischen Erfolge, die er mit Quecksilber in drei Fallen erzielte, er- 
bracht. Es ist auf cine Wirksamkeit gerade der Quecksilberbehandlung 
bei der syphihtischen Chorea ein um so groBerer Wert zu legen, als man 
bei Erfolgen mit Salvarsan stets entgegenhalten konnte, dafi das Sal¬ 
varsan ja nur eine andere Form des bei der Chorea auch bonst •wirk- 
samen Arsens darstelle. 

Die giinstigen Heilerfolge Milians 6 ) mit Quecksilber bei syphili- 
tischer Chorea stehen iibrigens keineswegs allein da. Guerrieri 81 ) 
hat einen Fall von Chorea minor mit intravenosen Sublimatinjektionen 
erfolgreich behandelt. Wie weit dieser Erfolg allein auf das Konto des 
Quecksilbers zu buchen ist und wieviel davon den gleichzeitig sub- 
cutanen Injektionen von kolloidalem Silber zukommt, soil hier nicht 
entscheiden werden. Weiterhin ist hier der Fall Soltmanns 9 ) zu nennen, 
der auf Jodkalium prompt reagierte. Doch kann dieser Fall, wie oben 
angefiihrt, nicht als sicherer Fall von Chorea syphilitica gelten. 

Im iibrigen hat schon Milian 6 ) darauf hingewiesen, daB die sypbi- 

*) Es ist mir ein Bediirfnis, Herrn Prof. Briining fur seine freundlichen 
Mitteilungen meinen verbindlichsten Dank auszusprechen. 


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Zueammenhaug zwisehen Chorea minor und Syphilis. 


427 


litische Chorea in iiirem Verlauf und in ihren Symptomen mannigfachc 
Abweichungen gegeniiber dem Bilde der gewShnlichen Chorea zeige. 
Er {and, daB diese Falle selten oder niemals fieberhaft verlaufen, daB 
aie in akuten Schiiben mit Neigung zu Reraissionen und Rezidiven 
auftreten, und daB sie durch Komplikationen mit Herdsymptomen, 
wie Aphasie, Hemiplegie und psychischen Ausfallserscheinungen, ge- 
kennzeichnet seien. Insofem nahert sich Milian 8 ) der spater von 
Fiore 33 ) geauBerten Ansicht, daB die syphilitische Chorea nicht als 
Folgeerscheinung einer allgemeinen kongenitalen Lues zu betrachten 
sei, sondem daB das Hauptgewicht auf kongenital-luetische Prozessc 
im Gehim zu legen sei. Fur diese Auffassung wurde weiterhin auch 
ein von Chevron 34 ) berichteter Fall sprechen, in dem das Auftreten 
eines einseitigen positiven Babinski beobachtet wurde. Dies wurde 
uns zu der weiteren Frage fiihren, inwieweit die Annahme einer orga- 
nischen Grundlage der Chorea minor zu Recht besteht. 

Gegen die Auffassungen von Milian 5 ) ha ben sich eine Reihe hervor- 
ragender franzdsischer Neurologen und Padiater gewandt, wie Co mb y 35 ). 
Guillain 36 ), Nob6court 37 ) und Claude 38 ). Den von ihnen an- 
gefiihrten Momenten kann eine gewisse Stichhaltigkeit nicht abge- 
sprochen werden. Zunachst w'ird das Vorherrschen der Chorea beim 
weiblichen Geschlecht geltend gemacht, das sich aber auch, wie schon 
von Neumann 39 ) hervorgehoben wurde, geniigend aus dem Gesichts- 
punkte der Predisposition und durch die Existenz einer als Chorea in 
die Erscheinung tretenden Hysteric ergibt. Gerade das Vorwiegen des 
weiblichen Geschlechtes unter den Choreakranken hat Neumann 39 ) 
dazu gefiihrt, von der echten infektios-toxischen Chorea eine Pseudo¬ 
chorea abzugrenzen, die als eine Abart der Hysterie aufzufassen ist. 
Ferner ihr Auftreten in den spateren Kinderjahren. Ob in dem letzteren 
Moment ein gewichtiger Einwand zu erblicken ist, muB bezweifelt wer¬ 
den, da ja ein groBer Teil der kongenital-luetischen Kinder, besonders 
solche mit wenig widerstandsfahigem Nervensvstem bereits friiher dem 
Tode verfallt und somit gar nicht erst in die Pradispositionsjahre der 
Chorea gelangen kann. — Auch das haufige Fehlen von kongenital- 
luetischen Erscheinungen an anderen Organen will nicht allzuviel be- 
sagen, da wir ja auch sonst gewohnt sind, die meisten metasyphilitischen 
Erkrankungen des Zentralnervensystems gerade in den Fallen zu sehen, 
in denen die Syphilis in milder Form aufgetreten ist. Mehr Wert hat 
das Moment der haufigen Herzkomplikationen bei der Chorea. Es stellt 
sich hier sofort die gelaufige Assoziation: Rheumatismus — Endo- 
karditis — Chorea ein. Es ist aber der Gedanke nicht von der Hand zu 
weisen, ob nicht gelegentlich auch einmal Herzveranderungen bei der 
Chorea auf luetischer Grundlage angetroffen werden konnen, wie etwa 
im Sinne einer Aortitis luetica oder dergleiehen, wie wir sie bei den 


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428 


K. Boas: Kritische Bemerkungen Uber den iitiologischen 


metasyphilitischen Erkrankungen des Zentralnervensystems sonst in 
so haufiger Weise finden. Allerdings gehoren nach Sektionsbefunden 
syphilitische Veranderungen am Herzen, besonders an den Herz- 
klappen, zu den Seltenheiten. 

Gegen Milian 6 ) ist auch das Verhalten des Fiebers bei der Chorea 
angefuhrt worden. In diesem Pmikte stehen sich die Ansichten dia¬ 
metral gegeniiber, indem Milian 6 ) meint, daB die syphilitische Chorea 
ohne Fieber verlaufe, wahrend die anderen Autoren in der Mehrzahl 
der Falle die Krankheit unter fieberhaften Erscheinungen verlaufen 
sahen. In der Tat wiirde das weit haufigere Vorkommen von Fieber 
mehr fiir ein infektios-toxisches Moment im Sinne eines Rhenmatismus, 
einer Angina usw. sprechen als fiir die meist ohne fieberhafte Erschei¬ 
nungen einhergehende Syphilis. 

Ausschlaggebend fiir die Beurteilung der vorliegenden Frage sind 
die serologischen Befunde im Blut und ira Liquor cerebrospinalis. Uber 
letztere liegen Untersuchungen in grdBerem MaBstabe iiberhaupt noch 
nicht vor, so daB nach dieser Richtung hin die Frage noch nicht spruch- 
reif ist. Jedenfalls miiBten wir von einem wirklich echten Falle von 
syphilitischer Chorea verlangen, daB zum mindesten die Wassermann- 
sche Reaktion im Blut einen positiven Ausfall liefert. Die wenigen bisher 
auf das Verhalten der vier Reaktionen untersuchten Falle, z.B. der Fall von 
Flatau®) geben keine Auskunft dariiber, ob der Liquor cerebrospinalis 
sich hinsichtlich der vier Reaktionen ahnlich verhalt, wie etwa die Lues 
cerebri oder andere sekundare oder tertiare syphilitische Spatprozesse des 
Zentralnervensystems. Wenn, um dies Resultat hier vorwegzunehmen, 
sich bei eingehender Betrachtung einem die Auffassung aufdrangt, 
daB die Chorea syphilitica nichts anderes als eine Abart der kongeni- 
talen Himlues darstellt, so miissen auch hier a limine ahnliche sero- 
logische Verhaltnisse im Liquor cerebrospinalis, wie sie auch sonst bei 
der Lues cerebri beobachtet werden, erwartet werden. Es wird daher 
zumeist mit einem negativen Ausfall der drei Liquorreaktionen (Wasser- 
mann, Nonne-Apelt, Pleocytose) zu rechnen sein, ohne daB dieses nega¬ 
tive Verhalten irgend etwas gegen einen Zusammenhang mit Syphilis 
beweist. Am ehesten wiirden diese Bedingungen noch bei Fallen im 
Sauglingsalter und Spielalter zu erwarten sein, wahrend mit zuneh- 
mendem Alter der positive Ausfall der serologischen Reaktionen progre- 
dient sinkt. AuBerdem ist in Betracht zu ziehen, daB bei der heredi- 
taren Syphilis die Wassermannsche Reaktion ganz allgemein schwii- 
cher auftritt und darum unsicherer wird [Kraepelin 70 )]. Gibtes doch 
zahlreiche Falle von unzweifelhafter Erblues, die keine Reaktion zeigen, 
vielleicht deswegen, weil der Krankheitsvorgang schon zum Stillstande 
gekommen ist oder doch die Fahigkeit verloren hat, die reagierenden 
Stoffe hervorzubringen. Jedenfalls sind derartige positive serologisch 


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Zusammenhang zwischen Chorea minor und Syphilis. 


429 


hohe Werte, wie sie Milian 6 ) an seinera Material festgestellt hat, von 
anderer Seite bisher nicht erhoben worden. Auch makroskopische oder 
mikroskopische Veranderangen am Gehim oder dessen Hauten, welche 
eine atiologische Beziehung der Syphilis zur Chorea minor zu stiitzen 
geeignet waren, haben sich bei Sektionen bisher nicht ergeben. 

SchlieBlich haben die erwahnten Autoren gegen Milian 6 ) die Tat- 
sacheangefuhrt, daB eine groBe Anzahl von Choreafallen sich gegen eine 
Quecksilbertherapie refraktar verhalten, und daB das Einschlagen einer 
Arsenbehandlung, mithin auch einer Salvarsanbehandlung, keineswegs 
eine syphiUtische Atiologie involviere. 

Crouzon 40 ) hatte unter 20 Fallen von Chorea achtmal negativen 
Wassermann. 

Babonneix 41 ) pfhehtete Milian 5 ) bei, daB die angeborene Syphilis 
zuweilen eine pradisponierende oder direkt bestimmende Rolle bei der 
Entstehimg der Syphilis spiele. In 145 Fallen von Chorea ergab sich 
in 36 davon, d. h. in iiber ein Viertel, eine syphilitische Atiologie, ohne 
daB Babonneix 41 ) damit absolut einen Zusammenhang zwischen 
beiden Erkrankungen annehmen will. 

Triboulet 42 ) leugnet jedenEinfluB der Syphilis aul die Entstehung 
der Chorea. Hierfiir spreche u. a. die Tatsache, daB die Chorea ganz 
von selbst ohne jede Therapie einer Heilung zuganglich sei. Im iibrigen 
fiihrt er als weiteres gegen einen atiologischen Zusammenhang sprechen- 
des Moment an, daB die todlichen Komplikationen der Chorea in keinem 
Zusammenhang mit der Syphilis stehen. Auffallend ware noch, daB 
diese Falle von Syphilis, wenn eine solche zugegen ware, niemals eine 
Tendenz zeigten, Erscheinimgen an anderen Organen zu machen. Gegen- 
iiber diesen Bedenken ist aber in Betracht zu ziehen, daB auch sonst 
die Syphilis sich Organe zur Lokalisation auserwahlen kann, ohne daB 
jemals andere Organe in Mitleidenschaft gezogen zu werden brauchen. 

Die Erfahrungen Maries und Chatelins 31 ) gehen dahin, daB auf 
Grand des negativen Ausfalls der Wassermannschen Reaktion ein 
innerer Zusammenhang zwischen Syphilis und Chorea nicht anzunehmen 
ist. In die sich hieran anschlieBende Debatte hat Pinard 48 ) ein Mo¬ 
ment hineingeworfen, das fur die vorliegende Frage von einer gewissen 
Bedeutung ist. Er wies namlich auf die Haufigkeit der zahlreichen 
Chorearezidive bei jungen Madchen wahrend der Pubertat hin und 
auBerte hierzu, daB dies Moment mit der Annahme einer infektiosen 
Grandlage der Chorea schwer vereinbar ware wegen der Neigung des 
Gehims gerade in diesen Zonen zu hyperkinetischen Storangen (vgl. 
Epilepsie). Andererseits konnen diese Momente aber auch nicht in 
Beziehung zu der Syphilis gesetzt werden. 

Einen klinisch sehr beweiskraftigen Fall von Chorea auf kongenital- 
luetischer Basis haben Grenet und S^dilot 44 ) mitgeteilt. Es handelt 


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K. Boas: Kritische Bemerkungen liber den fttiologischen 


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sich um ein Kind, dessen Vater an Paralyse, litt, und dessen Mutter 
eine Friihgeburt durchgeraacht hatte und auBer anderweitigen syphi- 
litischen Erscheinungen eine Iritis darbot. Das Kind selbst hatte einen 
positiven Wassermann. Es bestand bei ihm nicht nur eine latente 
kongenital-luetische Anlage oder war bei ihm die Chorea der einzig kli- 
nisohe Ausdruck der bei ihm vorhandenen Syphilis, sondem es fand sich 
bei ihm noch eine syphilitische Iritis, die einen inneren Zusammenhang 
zwischen Syphilis und Chorea als unabweisbar erscheinen laBt. 

In einer weiteren Reihe von Fallen wird von den Autoren aus der 
Tatsache der Wirksamkeit des Salvarsans und dem Vorhandensein 
einer kongenitalen Lues auf die syphilitische Natur der Chorea geschlos- 
sen. Dahin gehbrt z. B. der Fall von Salinger 45 ), der ein lOjahriges 
Madchen durch eine einmahge intravenose Salvarsaninjektion heilte, 
femer der Fall von Dufour und L evi 46 ), die eine Hemichorea von 
viermonatigem Bestehen auf organischer Grundlage durch Salvarsan 
heilten. Auch dieser Fall erweckt den Verdacht, daB hier keine „funk- 
tionelle“ Chorea minor vorlag, sondern daB liier vielleicht ein ence- 
phalitischer ProzeB auf syphilitischer Grundlage sich abgespielt hat, 
der zu einem choreiformen Zustandsbilde fiihrte. 

Unter dem Eindruck der durch das Salvarsan bei Chorea minor 
erzielten therapeutischen Erfolge hat dann Flatau 6 ) die Bezeichnung 
Chorea luetica gepragt und dieses Krankheitsbild durch einen ein- 
schlagigen Fall belegt. Flatau 6 ) ging von der Erwagung aus, daB auch 
andere Nerven- und Geisteserkrankungen im Kindesalter, z. B. der an- 
geborene Schwachsinn, auf dem Boden einer angeborenen Lues ent- 
stehen konnen. Der Fall Flataus 8 ) betrifft einen Knaben, der im Alter 
von 4 4 / 2 Monaten an einer Meningitis, wahrscheinlich syphihtischen 
Ursprungs, erkrankte. Aus einem neuntagigen Koma erwacht, er- 
krankte er weiterhin an Chorea, die an Intensitat immer mehr zunahm 
und nunmehr seit iiber fiinf Jahren bestand. Beim Eintritt in die Be- 
handlung war die Wassermannsche Reaktion im Blute positiv, wah- 
rend die Cerebrospinalfliissigkeit einen serologisch negativen Ausfall 
zeigte. Die ubliche antichoreatische Behandlung und auch die Sal- 
varsanbehandlung schlugen nicht an, bis schlieBlich durch eine lang- 
wierige Quecksilberbehandlung ein wesentlicher Erfolg erzielt wurde, 
der auch serologisch in einem negativen Blutwassermann zum Aus¬ 
druck kam. 

Es soil dem Fall Flataus 8 ) die Bewciskraft nicht abgesprochen wer- 
den. Es sind jedoch in dem vorliegenden Fall gewisse Zweifel an der 
Richtigkeit der Diagnose einer Chorea gerechtfertigt. Schon die fiir 
Chorea ganzlich atypische Anamnese (vorhergegangene Meningitis, so- 
wie das Auftreten im AnschluB an ein cerebrales Koma) lassen den Ver¬ 
dacht aufkommen, daB hier eine organi.-che Gehinierkrankung etwa 


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Zusammenhang zwischen Chorea minor und Syphilis. 


431 


im Sinne einer Encephalitis vorgelegen haben mag, obgleich nach dieser 
Richtung Angaben in der Krankengeschichte nicht vorliegen. 

Atypisch ist femer der lange Verlauf der Erkrankung, die sich iiber 
fiinf Jahre hinzog. Es wird spater an Hand des Hiibnerschen 48 ) Fal- 
les au£ die Bedeutung der Chronizitat der Choreafalle fur deren etwaige 
Beziehung zur Syphilis noch naher einzugehen sein. Einstweilen sei 
hier nur die Tatsache der langen Dauer der Erkrankung registriert. 

Flatau 8 ) hat die Beweiskraft seines Falles vor allem darin erblickt, 
daB erstens die Wassermannsche Reaktion vor Einleitung der Be- 
handlung im Blute positiv war, zweitens, daB sie unter dem EinfluB 
einer intensiven Quecksilberbehandlung negativ wurde, und daB drittens 
damit eine auffallige Besserung der choreatischen Symptome Hand in 
Hand ging. Aus dem negativen Ausfall der fiir Syphilis sprechend£n 
Befunde im Liquor cerebrospinalis lassen sich sichere Schliisse weder- 
nach der einen, noch nach der anderen Richtung ziehen. Ein sicheres 
AusschlieBen einer organischen Gehim- resp. Gehimhauterkrankung 
ist in dem Falle Flataus 8 ) nicht mbglich. Immerhin muB unter An- 
legung strengster Kriterien der Fall Flataus 8 ) von alien friiher oder 
spater mitgeteilten Fallen als der der Kritik am meisten standhaltende 
Fall aus der gesamten Literatur bezeichnet werden. 

Chevron 34 ) berichtet iiber ein 9jahriges Kind mit kongenitaler 
Syphilis. Die Wassermannsche Reaktion im Blute war positiv. 
Die Heilung erfolgte durch die ubliche Arsentherapie. Klinisch ist, 
wie schon oben hervorgehoben, das Auftreten eines einseitigen Babinski 
und die Erhohung des Tonus der Muskulatur der unteren Extremi- 
taten bemerkenswert. 

Es muB als eine auffallige Erscheinung vermerkt werden, daB man 
trotz der anfanglichen Erfolge des Salvarsans bei Chorea und der Ver- 
einfachung der Technik fast vollstandig wieder von der Salvarsan- 
bzw. Neosalvareantherapie abgekommen ist, ohne daB hierfiir ein an- 
derer Grund geltend zu machen ware. 

Li neuester Zeit haben sich Koplik 47 ), Gartner 29 ) und zuletzt 
Hiibner 48 ) mit dem atiologischen Zusammenhang zwischen Chorea 
minor und Syphilis beschaftigt. Das Material Kopliks 47 ) belauft 
sich auf elf Falle, von denen acht einen negativen Ausfall der Wasser- 
mannschen Reaktion im Blute zeigten. Niemals wurde ein positiver 
Wassermann im Blute beobachtet. In khnischer Beziehung sprach 
sonst nichts fiir einen inneren Zusammenhang zwischen beiden Er- 
krankungen und auch die Neosalvarsanbehandlung, die ganzlich er- 
folglos verlief, ist in diesem Sinne heranzuziehen. Alles in allem steht 
Koplik 47 ) einem atiologischen Konnex zwischen Syphilis und Chorea 
ablehnend gegenuber. 

Mehr unter therapeutischen Gesichtspunkten hat Gartner 29 ) die 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. 0. XXXVII. 28 


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432 


K. Boas: Kritisclie Beinerkungen liber den fttiologischen 


Frage des Zusammenhanges zwischen Syphilis und Chorea behandelt. 
Der erste Fall scheidet fur die vorliegenden Betrachtungen von vom- 
herein aus, weil sich hier weder klinisch noch serologisch Anhaltspunkte 
fiir das Bestehen einer Syphilis ergeben haben. Eine Angabe fiber die 
Wassermannsche Beaktion im Blute und fiber etwaige Befunde 
im Liquor fehlen. Der zweite Fall ist durch das Vorhandensein einer 
positiven Wassermannreaktion im Blut bemerkenswert. Es betrifft 
ein 7jahriges Madchen, das von der Mutter her mit Chorea, von Vaters 
Seite her u. a. durch Paralyse erblich belastet ist. Die Mutter hat eine 
Fehlgeburt gehabt und frfiher an einer „gummatischen Gelenkent- 
ztindung“ gelitten und ist deswegen operiert worden. Weitere klinische 
Anhaltspunkte fiir eine Lues der Patientin finden sich nicht in der vor- 
Hegenden Krankengeschichte, speziell findet sich der ausdrfickhche Ver- 
raerk, daB Hutchinsonsche Zahne bei ihr nicht beobachtet sind. 
Es wurden nun zwei intravenose Salvarsaninjektionen vorgenommen, 
von denen die eine miBgluckte, die andere gelang. Die Patientin war 
innerhalb 20 Tagen vollstandig geheilt. Leider findet sich in der Kran¬ 
kengeschichte Gartners 29 ) kein Vermerk fiber das Verhalten der 
Wassermannschen Beaktion im Blute nach AbschluB der Salvarsan- 
behandlung. Ein etwa erhobener negativer Befund ware nach der Rich- 
tung von groBer Bedeutung gewesen. Veranderungen am Herzen und 
etwaige rheumatische Antezedenzien fehlen. Immerhin ist auf die Be¬ 
deutung des endogenen Momentes (direkte Hereditat!) ein gewisses 
Gewicht zu legen. 

In seiner ausftihrlichen Studie fiber kongenitale Lues zu den Er- 
krankungen des Zentralnervensystems hat Hfibner 48 ) auch der Chorea 
minor einen besonderen Abschnitt gewidmet. Mit Recht erwahnt er 
die Schwierigkeiten, die sich einer genauen atiologischen Forschung ent- 
gegenstellen, und gibt u. a. zu bedenken, daB die Mdglichkeit einer 
Mischinfektion von Syphilis mit einer harmlosen Angina in den Fallen 
von Chorea luetica gegeben ist. Obgleich heutzutage die Angina als 
ursachliches Moment fiir viele Erkrankungen in ihrer Bedeutung gewiB 
fiberschatzt wird, so ist dem Verfasser doch zweifellos bis zu einem ge- 
wissen Grade darin beizustimmen, ebenso wie seiner Ansicht, daB aus 
der Wirksamkeit einer antisyphihtischen Therapie nicht unter alien Um- 
standen auf eine syphilitische Grundlage der Erkrankung geschlossen 
werden dfirfe. Speziell gilt dieser Satz von dem Salvarsan, in dem wir 
janureine andere Form der Arsenmedikation zu erblicken haben. AuBer- 
dem kann ja das Salvarsan als ,,therapia sterilisans magna“ im Sinne 
seines Erfinders gegen jede Infektionskrankheit wirken, und als eine 
solche ist doch wohl die echte Chorea minor aufzufassen. Beweisender 
waren nach dieser Richtung die Falle, in denen das Quecksilber oder 
Jodkali seine Wirksamkeit an den Tag gelegt hat, doch zahlen diese 


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Zusaminenhang zwischcn Chorea minor und Syphilis. 


433 


Falle, wie die vorangehende Kasuistik erwiesen hat, zu den groBen 
Seltenheiten. Hierher gehoren nur die Falle von Zambaco 2 ), Solt- 
mann 9 ), Milian 5 ), Guerrieri 82 ) und Flatau 8 ). Dafiir, daB das Sal- 
varsan nieht als Antisyphiliticum, sondem einfach als Arsenderivat 
bei Chorea wirkt, spricht schlieBlich am eklatantesten der TJmstand, 
daB ein Autor, Hartel 49 ), mit Salvarsan einen vollen Erfolg in einem 
Falle von Chorea gravidarum erzielt hat, in welchem doch gewiB 
jeder Zusammenhang mit einer Lues auszusohlieBen war. Auch in einem 
anderen Punkte begegnen sich die Anschauungen Hiibners 48 ) mit 
den oben vertretenen. Hiibner 48 ) ist der Ansicht, daB man in alien 
diesen Fallen nicht von Chorea als von einem wohl umschriebenen 
Krankheitssyndrom sprechen sollte, sondem ledighch von dem im Vor- 
dergmnd stehenden Symptom, namlich den choreatischen Zuckungen. 
Diese Betrachtungsweise liegt in Analogie zu anderen Krankheits- 
zustanden sehr nahe. Sehen wir doch z. B. epileptilorme Zustande 
auch bei anderen Erkrankungen des Zentralnervensystems auftreten, 
die mit genuiner Epilepsie sicherlich nicht das geringste zu tun haben. 
Es wird sich bei diesen choreiformen Zustanden vermuthch um nichts 
anderes handehi, als um Symptome der Encephalitis resp. der Lues 
cerebri, die besonders fur das Kindesalter pathognomonisch ist. 

Immerhin erkennt auch Hiibner 48 ) auf Grand eines selbst beobach- 
teten Falles eine echte syphilitische Chorea an. Die von ihm mitgeteilte 
Beobachtung betrifft einen lljahrigen Jungen, bei dessen Eltem die 
Syphihs anamnestisch, klinisch und serologisch in einwandfreier Weise 
festgestellt ist. Die Mutter des Patienten leidet an Erscheinungen, die 
auf einen syphilitischen ProzeB im Zentralnervensystem hindeuten, 
der Vater an Symptomen, die eine Tabes wahrscheinlich erscheinen 
lassen. Bei dem Kinde selbst war der Wassermann negativ, ein Moment, 
das u. E. die Beweiskraft des Hiibnerschen Falles beeintrachtigt. 
Eine Untersuchung des Liquor cerebrospinalis, die, gleichviel wie sie 
ausfallt, in jedem Falle von angeblich syphilitischer Chorea minor zu 
fordem ist, ist in dem Falle Hiibners 48 ) iiberhaupt ganzlich unter- 
blieben. Hiibner 48 ) selbst geht iiber die Tatsache des negativen Wasser- 
manns im Blut mit der Bemerkung hinweg, daB ein positiver Ausfall 
der Wassermannschen Reaktion kein notwendiges Attribut der kon- 
genitalen Syphilis sei, und daB bei kongenital-luetischen Kindem 
iiberhaupt die Zahl der positiven Wassermannschen Reaktion im 
Blute mit dem zunehmenden Alter abnehme. Dadurch, daB in diesem 
Falle die Wassermannsche Reaktion schon vor Einleitung der spezi- 
fischen Behandlung negativ war, fallt von vomherein die Kontrolle 
der syphilitischen Atiologie durch die Wirksamkeit der spezifischen 
Therapie weg. Insofem reicht der Fall Hiibners 48 ) an Beweiskraft 
nicht an denjenigen Flataus 8 ) heran, in welchem die erfolgreiche Queck- 

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434 K. Boas: Kritische Bemerkungen (lber den atiologischen 

silberbehandlung diese Kontrolle lieferte. Fiir einen Zusammenhang 
der Chorea und der Erbsyphilis scheint dem Verfasser eine gewdsse 
Atypie im Verlauf der Erkrankung zu sprechen, insofem die chorea - 
tische Erkrankung hier bereits seit zwei Jahren bestand. Es ist Hiib- 
ner 48 ) aber entgegenzuhalten, daB auch andere Falle von Chorea, in 
denen sicherlich ein Zusammenhang mit der Syphilis auszuschlieBen 
ist, eminent chronisch verlaufen, und daB sich gerade in diesen Fallen 
von verschleppter Chorea das Salvarsan glanzend bewahrt hat. Aller- 
dings ware andererseits auf die lange Dauer der Erkrankung in den 
Fallen Kowalewskys 8 ) (11 Monate) und Flataus 6 ) (5 Jahre) hin- 
zuweisen. Im iibrigen erwahnt Brizet 83 ), der sich speziell mit den 
exquisit chronisch verlaufenden Fallen von Chorea minor beschaftigt 
hat, zwei Falle von Cla ude , in denen die Dauer der Chorea sogar 14 Jahre 
betrug. Bei beiden hatte sie sich im vierten Lebensjahre etabliert. 
Brizet 88 ) meint mit Recht, daB die Falle von Chorea mit langern 
Verlauf die Annahme einer organischen Grundlage wahrscheinlich machen. 
Hierfiir sprechen die Steigerung der Reflexe und der positive Babinski 
in dem einen, die Abducens- und Facialisparese in dem anderen Falle. 

Wenn Hiibner 48 ) schheBlich auf die V^rksamkeit der Quecksilber- 
behandlung in seinem Falle verweist und hierin einen Beweis fiir einen 
Zusammenhang erblicken will, so sind dem seine eigenen eingangs mit- 
geteilten Bemerkungen iiber den Wert des Riickschlusses aus der Thera - 
pie auf die Atiologie entgegenzuhalten. 

Hiermit ware das in der Literatur vorliegende kasuistische Material 
im wesentlichen erechopft, und es bleibt nur noch der Hinweis, daB 
auch bei der chronischen degenerativen Huntingtonschen Chorea 
Beziehungen zur Syphilis festgestellt worden sind. Der einzige hierfur 
in Betracht kommende Fall riihrt von Neumann 80 ) her und betrifft 
eine Psychose bei Chorea, die durch eine Abstumpfung des ethischen 
Gefiihles, gehobenes SelbstbewuBtsein, Beeintrachtigungsideen, Neigung 
zu Gewalttatigkeiten und allmahliche Abnahme der intellektuellen 
Fahigkeiten bis zur ausgesprochenen Demenz charakterisiert war. In 
diesem Falle war die Wassermannsche Reaktion im Blute positiv. 
Dieser positive Ausfall ist geeignet, die Diagnose einer echten Hun¬ 
tingtonschen Chorea trotz der vorhandenen hereditaren Belastung 
etwas zu erschiittern. obgleich man sich ganz gut vorstellen kann, daB 
auch einmal ein Choreatiker sich svphilitisch infiziert. Gegen einen 
Zusammenhang von Syphilis und Huntingtonscher Chorea spriclit 
wohl auch der Umstand, daB in zwei Fallen von Lorenz 83 ), in welchen 
der Liquor cerebrospinalis einer Untersuchung unterzogen wurde, keine 
Pleocytose oder sonstige auf Syphilis deutende Veranderungen festzu- 
stellen waren. 

Fiir die Frage des atiologischen Konnexes von Chorea und Syphilis 


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Zus&mmeuh&Dg zwischen Chorea minor and Syphilis. 


4B5 


ist es wichtig, nach anderweitigen syphilitischen Manifestationen, spe- 
ziell solchen des Zentralnervensystems zu fahnden. Es ist oben bereite 
darauf hingewiesen worden, daB in einer freilich geringen Anzahl von 
Fallen sekundar resp. tertiar luetische Erscheinungen am Knochen- 
system, an den Schleimhauten usw. beobachtet sind. Es betrifft dies 
jedoch Falle von Chorea der Erwachsenen, bei denen man sich stets die 
Frage vorlegen mull, ob hier eine echte Chorea minor vorhegt oder ein 
choreiformes Syndrom als Ausdruck einer metasyphilitischen Gehim- 
erkrankung. Bei der Chorea minor auf kongenital-luetischer Basis sind 
dagegen gleichzeitige syphilitische Eruptionen an anderen Organen, 
speziell am Zentralnervensystem niemals beobachtet worden, ein Um- 
stand, der fiir die Frage des Zusammenhanges gleichfalls ins Gewicht 
fallt. 

Man kdnnte diesen Erwagungen entgegenhalten, daB in sehr selte- 
nen Fallen Beziehungen der Chorea zur Paralyse beobachtet worden 
sind. So laBt sich z. B. in dem oben angefiihrten Fall von Ne u mann 80 ) 
die MSglichkeit einer Paralyse schon wegen des positiven Wasser- 
mannschen Befundes im Blute nicht vollig von der Hand weisen. 
Kame in der Tat Chorea gleichzeitig mit Paralyse vor, so ware die 
Moglichkeit eines atiologischen Zusammenhanges zwischen beiden Er- 
krankungen auf ein und derselben Grundlage nicht ganz abzulehnen, so 
unwahrscheinlich es an sich ist, daB zwei in ihrem zeitlichen Auftreten 
sich so verschieden verhaltende Erkrankungen eine Kombination mit 
einander eingingen, worauf Kowalewsky 3 ) besonderen Wert ge- 
legt hat. 

Wenn wir daraufhin die Literatur einer kritischen Musterung unter- 
ziehen, so stehen uns aus der alteren Zeit vier Falle von choreatischen 
Bewegungen im Initialstadium der Paralyse zur Verfiigung. Es sind 
dies die Falle von Golgi, Schuchardt, Simon und Mendel. Dra- 
seke 61 ) berichtet uber vier weitere Falle aus neuerer Zeit, in denen 
die choreatischen Bewegungen — von einer eigentlichen Chorea laBt 
sich in diesen Fallen nicht reden — nur ein Beiwerk der Paralyse, und 
zwar vorwiegend der hamorrhagischen Form der Paralyse darstellte. Im 
iibrigen imponieren die mit Paralyse einhergehenden choreatischen Be- 
wegungsstorungen mehr als Huntingtonsche Chorea. Die erwahnte 
Form der Paralyse ist gekennzeichnet durch ein kurzes Prodromal- 
stadium und durch das relativ rasche Auftreten choreatischer Bewegungs- 
storungen, die manchmal iiberhaupt die Szene zuerst beherrschen k6n- 
nen. Die Krankheitserscheinungen, die schwerster Art sein k6nnen, 
setzen oft ganz akut ein, gehen mit starken halluzinatorischen Er- 
regungszustanden und heftigsten motorischen Reizerscheinungen ein- 
her. So schnell sie die Paralyse einleiten, so rapid fiihren sie zum gei- 
stigen Verfall. Nach Binswanger 51 ) konnen diese ausgepragten 


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436 


K. Boas: Kritische Bemerkungen Qber den atiologisclien 


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choreatischen Zuckungen, die mit psychischer Erregung einhergehen, 
bis zum Ende andauem. In einem seiner Falle wurde das Erregungs- 
stadium bereits nach sieben Wochen durch das einfache Bild der ter- 
minalen Demenz abgelost. Auf der H6he der in der hamorrhagischen 
Unterform auftretenden Krankheitsattacken bestehen nach Bins- 
wanger 64 ) Ahnlichkeiten mit den toxisch-infektiosen Cerebralerkran- 
kungen. Die Sektion solcher Falle ergibt neben den fiir Paralyse ty- 
pischen Befunden starke Blutungen im Subarachnoidalraum, sow ie 
kleine miliare Blutungen in der Himsubstanz selbst. 

Es ist Draseke 81 ) bereits von Buchholz 87 ) entgegengehalten 
worden, daB die Diagnose einer Paralyse nicht in alien Fallen des erst- 
erwahnten Autors anerkannt werden konne. So lage z. B. in deni einen 
Falle die Moglichkeit einer luetischen Affektion des Zentralnerven- 
systems sehr viel naher, wahrend in einem anderen mit dem Vorliegen 
einer Embolie bzw. eines Erweichungsprozesses stark zu rechnen sei. 
Auch die abnorm lange Dauer (iiber 14 Jahre!) in dem erwahnten 
Mendelschen Falle spreche gegen Paralyse. Buchholz 67 ) halt eine 
Kombination von Chorea imd Paralyse fiir ein eminent seltenes Vor- 
kommnis. Die einschlagige Literatur habe nicht einmal ein Dutzend 
einschlagiger Falle zu verzeichnen. 

Buchholz 57 ) bringt dann selbst eine einschlagige Beobachtung 
bei einem 39jahrigen Patienten bei. An Paralysesymptomen waren 
bei dem Kranken vorhanden: Trage Lichtreaktion einer Pupille imd 
Pupillendifferenz, Sprachstorung ahnlich der skandierenden Sprache, 
allgemeine Affekterregung, schwankender Gang, positiver Romberg. 
Dazu kamen choreatische Bewegungen. Die Sprachstorung war eine 
gemischt choreatisch-paralytische (artikulatorisch). Auch in diesem 
Falle war ein auffallend schneller Verlauf mit Demenz, wie ihn Bins- 
wanger 84 ) als charakteristisch fiir die hamorrhagische Form der Para¬ 
lyse bezeichnet, zu konstatieren. 

Der in diesem Falle erhobene Sektionsbefund stimmt im allgemeinen 
mit den auch sonst bei der Paralyse zu findenden makroskopischenVer- 
anderungen im Gehim und Ruckenmark iiberein. Auffallend war das 
fleckweise Auftreten des Krankheitsprozesses. Von feinen miliaren Blu¬ 
tungen in der Himrinde, wie sie Binswanger 54 ) fiir den hamorrha¬ 
gischen Typus der Paralyse als charakteristisch beschreibt, war in 
diesem Falle nichts zu bemerken. 

Buchholz 87 ) fiigt noch ausdriicklich hinzu, daB, wenn man von 
den choreatischen Bewegungen in seinem Falle abstrahiert, keinerlei 
Zweifel an der Diagnose Paralyse entstanden seien. 

Cimbal 88 ) lehnt die Annahme von Beziehungen zwischen Chorea 
und Paralyse im Gegensatz zu Draseke 81 ) und Buchholz 57 ) ab 
und nimmt fiir diese Falle eine Arteriolitis syphilitica in Anspruch. 


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Zusammenhang zwische* Chorea minor und Syphilis. 


437 


Saenger 5 ®), der den Fall von Buchholz 67 ) ebenfalls im Leben 
beobachtet hat, faBt diesen ala degenerative Chorea auf, wofiir die cha- 
rakteristischen choreatischen Bewegungen, die Art der Krankheita- 
entwicklung, daa Alter de8 Patienten, die Tendenz zur Progreaaion und 
die geiatige Schwacbe bei dem Kranken aprachen. Fiir Paralyae habe 
er auf Grand de8 Verhalten8 der Pupillen, der Reflexe und etwaigen 
Veranderangen an den Himnerven keine Anhaltapunkte gefunden. 
Immerhin aeien noch anderweitige differentialdiagnoatiache Erwa- 
gungen (z. B. Himtumor) durchaua in den Bereich der Mdglichkeit 
zu ziehen. 

In neuerer Zeit hat namentlich Euziere 58 ), z.T. in Gemeinachaft 
mit Pezet 68 ) auf den Zusammenhang von Chorea und Paralyse auf- 
merksam gemacht. In erster Linie berichtet Euziere 58 ) iiber einen 
Paralytiker, der nach einem paralytischen Anfall von epileptiformem 
Charakter ganz akut unter den Erscheinungen von Hemichorea und 
Hemiathetose erkrankte. Dieaer Fall legt den Gedanken einer gemein- 
samen Uraache der paralytischen Anfalle und der motorischen Reiz- 
erscheinungen, wie aie in dem Auftreten einer halbseitigen Chorea und 
Athetoae zum Ausdrack kommen, nahe. 

Aus einer weiteren Reihe von einschlagigen Fallen leiten Euziere 
und Pezet 58 ) folgende Gesichtspunkte ab: Zunachst gibt es Falle, in 
denen Chorea und Paralyse miteinder vergesellschaftet aind. Nach den 
erwahnten Autoren ein sehr seltenes Zusammentreffen. Ich selbst bin 
solchen Fallen, die einer strengen Kritik nach jeder Richtung stand- 
halten, in der Literatur nicht begegnet, bia auf einen Fall von Briasaud 
und Gy 64 ). Ea lag hier urspriinglich eine Chorea minor vor, zu der dann 
eine syphilitische Infektion hinzukam. Die Chorea nahm dann weiter 
ihren Fortgang, wahrend aich spater auf dem Boden der Lues eine pro¬ 
gressive Paralyae etablierte, die auch bei der Sektion deutlich in die Er- 
scheinung trat. Auch die ausfiihrliche Monographic von Spiel me yer 56 ) 
liefert in dieser Beziehung keinerlei Auabeute. Weiterhin gabe es Falle, 
von Halbseitenchorea im Gefolge von apoplektischen oder epileptischen 
Insulten im Gefolge einer Paralyse. Hierzu ware der obenerwahnte 
Fall von Euziere 58 ) selbst zu rechnen. An dritter Stelle machen die 
Autoren Falle von Paralyae namhaft, bei denen im ganzen Verlauf der 
Erkrankung choreatische StSrangen die Szene beherrschen. Hier ftige 
aich die Chorea ala ein Hauptsymptom in den Rreis der iibrigen Para- 
lyseaymptome ein und verleihe ihr dadurch ein besonderes Geprage. 
In solchen Fallen sei die Chorea ala der Ausdrack einer starken Him- 
rindenreizung anzusehen, welcher ala anatomisches Substrat feinste 
miliare Blutungen in der Hirnrinde zugrande lagen. Die genannten 
Autoren atehen also im wesentlichen auf den von Binswanger 84 ) 
eingenommenen Standpunkt. 


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488 K. Boas: Kritische Bemerkunfen ttber den dtiologisclien 

Auch Diefendorf 71 ) hebt die Komplikation der Chorea minor 
mit Paralyse hervor. Naheres ist aus den dariiber vorliegenden Refe- 
raten nicht ersichtlich. 

Wahrend Draseke 51 ) einen inneren Zusammenhang zwischen der 
echten Chorea mit der Paralyse ablehnt und im wesentlichen fiir ihre 
Entstehung die hamorrhagische Form der Paralyse [Binswanger 64 )] 
inAnspruch nimmt, meinen Euziere und Pezet 63 ) dem gleichzeitigen 
Vorkommen von Chorea und Paralyse miteinander eine gewisse patho- 
genetische Bedeutung fiir die Lehre von der Chorea minor zuschreiben 
zu miissen. In der Tat liegt hier die Sache so, daB wenn man einen 
inneren Zusammenhang zwischen Syphilis und Chorea anerkennt, man 
auch Kombinationen von Chorea minor mit infantiler und juveniler 
Paralyse resp. Tabes sowie mit der Paralyse und Tabes der Erwachsenen 
annehmen muB. Die in der Literatur mitgeteilten Falle scheinen nach 
dieser Hinsicht nicht beweiskraftig zu sein, da hier zweifellos keine 
echte Chorea minor vorgelegen hat, sondem gewisse atypische Formen 
der Paralyse, die auch hinsichtlich des Sektionsbefundes Abweichungen 
von dem gewohnlichen Bilde der Paralyse zeigten. Dies muB z. B. fiir 
den Fall von Major 17 ) gelten, der eine Beobachtung von juveniler 
Paralyse mit choreiformen Zustanden betrifft. Es wird sich wohl 
auch in diesem Falle um nichts anderes gehandelt haben als um eine 
hamorrhagische Form der progressiven Paralyse [Binswanger 54 )] im 
Kindesalter. 

Mithin ist auch nach dieser Richtung hin ein Beweis fiir einen atiolo- 
gischen Zusammenhang zwischen Syphilis und Chorea auf Grand des 
Vorkommens choreiformer Zustandsbilder im Verlauf einer Paralyse 
nicht zu erblicken. 

Im folgenden seien nunmehr zwei Falle geschildert, die fiir die Be- 
urteilung der vorliegenden Frage von einem gewissen Interesse sind. 

Fall 1: lOjahriger Junge mit folgender Vorgeschichte: Vater 43 Jahre alt, 
von der Ehefrau geschieden. War geschlechtskrank (Gonorrhoe?) und ist mehr- 
faoh wegen Sittlichkeitsverbrechen mit Zuohthaus bestraft worden. Er gehort 
zur Zeit dem Heere an. War starker Trinker. Nervenkrankheiten und Geistes- 
krankheiten sind in der Familie sonst nicht vorgekommen. Die Mutter 40 Jahre 
alt, ist gesund, klagt aber iiber eine gewisse Nervositat infolge der gemiitlichen 
Aufregung iiber den ersten Ehemann. Sie ist jetzt in zweiter Ehe verheiratet. 
Aus der ersten Ehe gingen im ganzen funf Schwangerschaften hervor: Das erste 
Kind ist eine Friihgeburt von sechs Monaten, das zweite Kind ist ein jetzt 15jah- 
riger Junge, iiber den weitere Daten unten folgen. Das dritte Kind kam in normaler 
Weise zur Welt, ging aber nach funf Wochen an Gelbsucht zugrunde. Das vierte 
Kind ist der Patient selbst. Das fiinfte Kind ist eine Friihgeburt von acht Monaten. 
Es soil mit schwarzen Flecken zur Welt gekommen sein. 

Aus der zweiten Ehe hat die Mutter des Patienten ein ausgetragenes Kind, das 
einige Stunden nach der Geburt an Nabelverblutung zugrunde ging; ein weiteres 
Madchen ist jetzt 15 Wochen alt und gesund. 


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Zusammenhang zwischen Chorea minor und Syphilis. 


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Der Patient selbst hat schwer sprechen gelemt, wahrend er das Laufen zur 
Zeit erlemte. Mit sechs Jahren kam er auf die Schule, wurde aber nach drei Tagen 
wieder herausgenommen. Mit sieben Jahren wurde ein neuer Einschulungsver- 
such untemoramen, er besuchte die Schule unregelmaBig, schrieb schlecht, war 
aber im iibrigen gut beanlagt. 

Die choreatischen Bewegungsstorungen bestehen bei ihm seit seinem fiinften 
Lebensjahre. Eine Ursache dafiir vermag die Mutter des Jungen nieht anzugeben. 
Rheumatismus oder andere Infektionskrankheiten, auBer Masern, sind der jetzigen 
Erkrankung nicht vorangegangen. Bettnassen besteht nicht. 

Aus dem Befunde sei folgendes initgeteilt: Der ganze Korper zeigt unregel- 
maBige Zuckungen, die abwechselnd oder gleichzeitig in beiden Armen oder Beinen 
auftreten. Das Gesicht ist fast standig zum Grimassieren verzogen. Weiterhin 
treten lebhafte Zuckungen im Bereich des Schultergebiets, der Brust- und Bauch- 
deckenmuskulatur auf, unabhangig von psychischer Ablenkung. 

Keine Degenerationszeichen, namentlich keine Hutchinsonsche Zahne, 
Scapula scaphoidea usw. 

Aus dem neurologischen Befunde ist hervorzuheben: Das Auftreten von 
sfcarkem Nystagmus links, besonders beim Blick nach oben. Auf dem rechten 
Auge besteht ebenfalls starker Nystagmus beim Blick nach auBen und oben. 
Beim Blick nach unten ist kein Nystagmus zu beobachten. Man sieht femer, daB 
nnter den geschlossenen Lidem, namentlich links, der ganze Augapfel hin und her 
rollt. Im Iibrigen ist der positive Oppenheim auf der rechten Seite zu erwahnen, 
sowie cine leichte Andeutung von Adiadochokinesis rechts. 

Fiir Rheumatismus ergaben sich keine objektiven Anhaltspunkte. Das Herz 
zeigte keinerlei Vcranderungen im Sinne einer Mitralinsuffizienz. 

In der linken Inguinalgegend drei harte, verschiebliche Driisen. 

Die Wassermannsche Reaktion im Blute hatte ein negatives Ergebnis. 

Die Untersuchung des Liquors ergab einen negativen Wassermann, die Nonne- 
Apeltsche Reaktion war negativ. Pleocytose war nicht vorhanden. Ebenso war 
die Weichbrodtsche Reaktion negativ. 

Eine Untersuchung des Vaters des Patienten war nicht moglich, da dieser 
zur Zeit im Felde steht. 

Die Untersuchung der Mutter des Patienten auf Wassermann im Blute ergab 
einen negativen Ausfall. Sie zeigte keinen Nystagmus. 

Die Untersuchung des Bruders des Patienten, eines jetzt 15jahrigen Fabrik- 
arbeiters, ergab folgendes: 

Anamnestisch gab die Mutter an, daB der Junge seit etwa 14 Tagen an Gelenk- 
rheumatismus leide, der besonders im Schultergelenk lokalisiert sei. Im iibrigen 
hatte er sowohl wie sein Bruder Masern sowie ofters geschwollene Mandeln ge- 
habt. Die Untersuchung ergab nun folgendes: 

Beim Blick nach der Seite und besonders nach oben treten leichte nystagmische 
Zuckungen auf, namentlich bei schnellem Wechseln der Blickrichtungen. Die Re- 
flexe sind lebhaft, rechts findet sich ein positiver Oppenheim; beim Vorstrecken 
der Hande mittelstarker Tremor. Romberg angedeutet. 

Die Wassermannsche Reaktion im Blute lieferte cin negatives Resultat. 

Bemerkenswert war mm in diesem Falle das Auftreten eines leichten 
Gerausches nach dem ersten Tone, das im Sinne einer Mitralinsuffizienz 
aufzufassen war und sich auch mit der Anamnese (kiirzlich durchge- 
machter Gelenkrheumatismus) gut vereinigen laBt. Der Puls betrug 
im Stehen 136, war unregelmaBig. Die einzelnen Pulsw r ellen waren 
quahtativ verschieden. 


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K. Boas: Kritische Bemerkungen tiber den atiologischen 


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Durch die Vorgeschichte, namentlich durch die haufigen Aborte 
und Friihgeburten der Mutter des Patienten wurden wir auf die Mog- 
lichkeit einer Chorea minor auf hereditar-luetischer Basis hingewiesen. 
In klinischer Beziehung laBt sich, abgesehen von der Schwellung 
der Inguinaldriisen, diese Annahme allerdings nicht recht stiitzen, 
ebensowenig spricht dafiir der Ausfall der serologischen Proben, 
auf die allerdings nach den Ausfiihrungen Hiibners 48 ), der ja aus- 
driickhch ein Seltenerwerden des positiven Ausfalles derWassermann- 
schen Reaktion mit zunehmendem Alter hervorhebt, nicht allzuviel 
Gewicht zu legen ist. Namentlich beweist der negative Ausfall der vier 
Reaktionen im Liquor cerebrospinalis nicht allzuviel. 

Immerhin geben einzelne Atypien im Verlaufe imd in dem Sympto- 
menkomplex der vorhegenden Erkrankung zu denken: 

Auffallend ist zunachst die sehr lange Dauer der Chorea, die in 
ihrem 5 jahrigen Bestehen schon an sich eine groBe Seltenheit darstellen 
diirfte. Soweit ich die Literatur iiberblicke, kann sich hierin nur der 
Flatausche Fall 8 ), der es ebenfalls zu einer 5jahrigen Dauer brachte, 
mit dem unsrigen messen. Hiibner 48 ) hat bekannthch im AnschluB an 
den von ihm berichteten Fall gerade das lange, iiber zwei Jahre dauemde 
Bestehen der choreatischen Zuckungen als einen Beweis fur die syphili- 
tische Atiologie des Leidens betrachtet. Wenn wir uns diesen Stand- 
punkt Hiibners 48 ) zu eigen machen, so wiirden wir in der Tat in dem 
eminent chronischen Verlauf unseres Falles einen Zusammenhang der 
Chorea minor und der Syphilis erblicken durfen. 

Aus dem Rahmen des gewohnlichen Symptomenkomplexes fallen 
femer heraus das Auftreten des Nystagmus, das sich bei beiden Briidem, 
weim auch in quantitativ hoherem MaBe bei unserem Patienten als bei 
seinem Bruder findet, und das Auftreten eines einseitigen Oppenheim 
und einer leichten Adiadochokinesis. Es hegt nahe, den Nystagmus 
ebenso wie die Bulbusunruhe, die der Patient bei LidschluB darbot, 
als eine Teilerscheinung seiner Chorea aufzufassen. Indessen ist doch 
zu bedenken, daB der Nystagmus auch in den zuckungsfreien Mo- 
menten auftrat und daher wohl als ein cerebrales Herdsymptom eine 
gewisse Bedeutung beanspruchen bedarf, zumal er scheinbar familiar 
auftritt. Bisher ist das Auftreten von Nystagmus bei Chorea noch 
niemals beschrieben worden. Speziell ist nach dieser Richtung bei 
Oppenheim 4 ) und Vogt 8 ) nichts zu finden. Auch eine Arbeit von 
Babonneix 80 ), welche sich speziell mit den Augensymptomen bei 
Chorea befaBt, tut des Nystagmus keine Erwahnung. Im ubrigen ge- 
hfjrt das Auftreten von Nystagmus wohl in dieselbe Kategorie wie 
das von anderer Seite [Claude 86 )] gemeldete Auftreten von Abducens- 
und Facialisparesen. Auch das Auftreten von Adiadochokinesis, nament¬ 
lich im Beginn der Chorea minor, ist hier zu erwahnen, auf dessen Vor- 


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Zusammenhang: zwischen Chorea minor und Syphilis. 


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kommen namentlich Marfan 67 ) sowie Grenet und Lou bet 69 ) hin- 
gewiesen haben. Dieses Symptom haben die letztgenannten Autoren 
beispielsweise in 43 von 74 Fallen beobachtet. 

Was das Auftreten eines positiven Oppenheim anbetrifft, so hat 
die Literatur wenige analoge Falle zu verzeichnen. Grenet und Lou- 
bet 69 ) wollen in 19 von 73 Fallen ein positives Oppenheimsches 
Phanomen konstatiert haben. Es besteht hier wohl eine gewisse Ahn- 
lichkeit mit dem mehrfach erwahnten Fall von Chevron 34 ), bei dem 
das Auftreten eines einseitigen Babinski zu beobachten war. Auch 
Babonneix 61 ), welcher dem Verhalten der Reflexe bei der Chorea 
minor besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, fand in drei von 21 Fal¬ 
len einen positiven Babinski, und zwar zweimal doppelseitig und ein- 
mal einseitig. Ein positiver Babinski sprache in differentialdiagno- 
stisch schwierigen Fallen stets fur echte und gegen hysterische Chorea. 
Ein Fehlen des Babinski habe nichts zu bedeuten. Auch in einem Falle 
von Claude 66 ) war ein positiver Babinski vorhanden. Namentlich von 
franzosischen Autoren wird auf das Auftreten von Pyramidenbahn- 
und Kleinhimsymptomen bei der Chorea groBer Wert gelegt. So bringt 
z. B. Cassard 68 ) drei einschlagige Beobachtungen bei. Der Nach- 
weis einiger oder eines von diesen Symptomen, z. B. ein positiver Ba¬ 
binski, geniigt, um eine gewohnliche neuropathische Chorea auszu- 
schlieBen. Grenet und Loubet 69 ) fanden in ihrer mehrfach erwahnten 
Arbeit unter 74 Fallen aus der Literatur 19mal einen positiven Babinski. 
An dieser Stelle ist auch das Gordonsche Phanomen (Extension der 
groBen Zehen bei Kompression der Wade) zu erwahnen, das die ge- 
nannten Autoren 5mal konstatierten, femer das Grasset- Gaussetsche 
Phanomen (bei Erheben beider Beine von der Unterlage sinkt das 
kranke Bein frtiher herunter als das gesunde Bein), das Grenet und 
Loubet 69 ) 9mal fanden, und endlich das Striimpellsche Tibialis- 
phanomen, das ebensooft festgestellt wurde. Einzureihen waren hier 
schlieBlich noch von anderen organischen Symptomen die sehr haufig 
vorhandene Hypotonie, femer Mitbewegungen, Dysmetrie, kombi- 
nierte Flexion des Oberschenkels und des Rumpfes sowie Steigerung 
der Patellarreflexe sowie des reflektorischen Verhaltens liberhaupt, 
denen man etwa in der Halfte aller Falle von Chorea minor begegnet. 
Es deuten diese Falle wohl doch daraufhin, daB es sich hier um besondere 
auf organischem Boden entstandene Falle von Chorea handelt, die mit 
der echten infektids-toxischen Chorea minor nichts zu tun haben, son- 
dem etwa auf dem Boden einer diffusen Hirnsklerose [v. Striimpell 68 )] 
entetehen. Besonders mufi dies im Hinblick darauf auffallen, daB so- 
wohl der Patient selbst als auch der altere Bruder genau dieselben 
organischen Symptome von seiten des Zentralnervensystems (Nystag¬ 
mus, einseitiger Oppenheim) zeigen. 


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K. Boas: Kritische Bemerkungen ttber den ktiologiscken 


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Fur die Beurteilung unseres Falles ist nun im weiteren die Tatsache 
heranzuziehen, daB der'altere Bruder desselben an rheumatischen Be- 
schwerden, verbunden mit Mitralinsuffizienz leidet. Vielleicht darf 
man hierin ein gewisses konstitutionelles Moment im Sinne einer ge- 
wissen Krankheitsbereitschaft erblicken. Jedenfalls zeigt der altere 
Bruder des Patienten nach jeder Richung hin eine erhohte Pradispo- 
sition fiir das Auftreten einer Chorea, deren Beurteilung sich in diesem 
Falle noch um so schwieriger gestalten wiirde, als hier zwei ganz ver- 
schiedene genetische Faktoren sich zur Auslosung einer Krankheit 
verbinden wfirden. 

Ein Wort ist noch fiber die Behandlung unseres Patienten zu sagen, 
auf deren Ergebnis ja von Hiibner 48 ) und anderen groBer Wert ge- 
legt wird. Wir ha ben in unserem Falle trotz des negativen Ausfalles 
der Wassermannschen Reaktion eine spezifische Behandlung mit 
Quecksilber eingeleitet und haben dabei im ganzen ein geringes Nach- 
lassen der choreatischen Zuckungen beobachtet. Von einer Neo- 
salvarsankur muBte wegen der groBen motorischen Unruhe des Patienten 
Abstand genommen werden. Aber selbst wenn in unserem Falle ein 
noch eklatanterer Erfolg zustande gekommen ware, so stande trotz- 
dem die Annahme eines atiologischen Zusammenhanges zwischen 
der Chorea minor und der kongenitalen Lues auf recht schwachen 
FiiBen. Im iibrigen hat die jetzt ubliche Behandlung mit feuchten 
Packungen, Arsen und Aspirin zu einem Nachlassen der choreatischen 
Zuckungen gefuhrt. Beilaufig sei bemerkt, daB nach den giinstigen 
Erfahrungen, die wir in einem anderen Falle mit Opsonogen (Heilung 
der Chorea durch zwei Injektionen Opsonogen) gemacht hatten, in 
diesem Fall auch einen, leider negativ verlaufenen Versuch mit Opso¬ 
nogen machten, der im Falle einer Wirksamkeit fiir eine infektidse 
Herkunft der Chorea bei unserem Patienten gesprochen hatte. 

Alles in allem darf dieser Fall wohl nicht als eine echte syphilitische 
Chorea betrachtet w r erden, da sie von den zu fordemden Kriterien 
einer luetischen Chorea die Mehrzahl vermissen laBt. 

Wie schwierig diese Verhaltnisse unter Umstanden in praktischer 
Beziehung, z. B. in der forensischen Gutachtertatigkeit sich gestalten 
konnen, mag der folgende Fall erweisen: 

Fall 2: Es handelt sich um ein jetzt 14jahriges Madchen, das auf Veranlas- 
sung des Landgerichts Freiberg zu Begutachtungszwecken der hiesigen Anstalt 
iiberwiesen wurde. 

Das betreffende Madchen soil im Alter von 12 1 / 2 Jahren in den Michaelisferien 
1914 von einem, einem gewissen K. gehorigen Bemhardinerhund umgeworfen 
sein und seitdem an heftigen Krampfanfalien leiden. Der Tag dieses angeblichen 
Unfalls war nicht mehr genau festzustellen, wahrscheinlich war es einer der letzten 
September- oder der ersten Oktobertage, vielleicht der 3. Oktober. 

Nach der Aussage des 9jahrigen Bruders des Madchens spielte sich der Vor- 
fall so ab, daB der Hund das Madchen von hinten ansprang, sie umwarf und fiber 


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Zusammenhang zwischen Chorea minor und Syphilis. 


443 


sie hinweglief, ohne ihr sonst etwas zu tun. Die Kleine sei erschrocken gewesen 
und habe geweint, sei aber bald wieder aufgestanden und mit ihrem Bruder nach 
Hause gegangen, babe auch etwas vom Mittagessen gegessen. Als sie zwei Tage 
darauf wieder in die Schule ging (dazwiscben lag ein Sonntag), habe sie den ersten 
Anfall bekommen. Nach Aussage des Schulhausmaimes K. war dies Montag, 
den 5. Oktober. Dieser Zeugc wurde in die Schulklasse gerufen, fand das Madchen 
dort bewuBtlos am Boden, trug es in seine Stube. wo sie eine Viertelstunde liegen- 
blieb. Er hat auch spa ter noch einige Anfalle beobachtet, die „wesentlich schlim- 
mer“ waren als der erste. Bei diesen Anfallen hat sie sich gegen die Sofalehne ge- 
stemmt, auch gelegentlich nach den sich um sie Beschaftigenden geschlagen. Ein- 
mal habe sie auch im Krampfanfall von einem Hund phantasiert. 

Nach Aussage der Mutter der St. hat das Kind vorher niemals Krampfe ge- 
habt, sei auch sonst imraer gesund gewesen. Seit dem Hundeiiberfall habe es an- 
fangs vier bis fiinf Krampfanfaile tiiglich gehabt, spater etwas seltener, so daB 
sie die Schule nicht mehr regelmaBig besuchen konnte. 

Nach Mitteilung der Schuldirektion hat sie vom 10. X. 14 bis 19. VIII. 15 
die Schule nicht besucht, ist dann wieder bis zum 4. IX. 15 in die Schule gegangen, 
muBte aber den Schulbesuch dann wieder der Krampfanfaile wegen aussetzen. 

0ber die Art der Krampfanfaile auBem sich folgende Zeugen: 

Der Brieftrager L.: Als im Marz 1915 bei einer Rucksprache mit K., bei der 
das Kind anwesend war, der Hund vorgeflihrt wurde, bekam das Kind gleich einen 
Anfall. 

Die Zeugin T.: Sah Mitte August 1915 einen KrampfanfalL Das Madchen 
wollte hinstiirzen, wmrde auf das Bett gelegt, krampfte die Hande zusammen, 
phantasierte von einem Hund und machte auch mit der Hand# eine Bewegung, 
mit der sie die GroBe des Hundes bezeichnen wollte. 

Die Zeugin H. hat in der ersten Zeit nach dem Hundeiiberfall sehr viele An- 
f&lle der Marie St. geeehen; die Krampfe seien sehr arg gewesen. „Sie tobte richtig 
und phantasierte, biB und spuckte die Personen an, die sich mit ihr zu tun mach- 
ten, phantasierte, daB ihr Vater gestorben sei, oder sprach von einem Hund.“ 

Alle diese Zeugen wollen vor dem Hundeiiberfall bei der St. keine Krampfe 
beobachtet haben. 

Der Zeuge und Sachverstandigc Dr. Sch. hat das Kind vom 18. X. 14 bis 
16. I. 15 behandelt. Sie litt an Veitstanz, nicht an Krampfen. Als Ursache fur 
die Erkrankung gab ihm die Mutter zuerst die Sorge um den cinberufenen Vater 
an; erst gegen Ostem 1915, als sie ein Zeugnis wollte, bezeichnete sie den Hunde- 
iiberfall als Ursache. Das Kind sei nervos belastet; auch eine Schwester sei nerven- 
krank. 

Der Zeugo und Sachverstandigc Dr. Ph. hat das Kind ebenfalls behandelt. 
Er sah einen „regelrcchten hysterischen Anfall 14 . Auch bei der iiltercn Schwester 
der Klagerin hat Dr. Ph. Hysterie festgestellt. 

Beide Arztc wissen nicht, ob das Kind schon vor dem Hundeiiberfall an An¬ 
fallen gelitten hat. 

Im Oktober 1915 wurde die Marie St. auch einige Tage im Stadtkrankenhaus 
zu D. behandelt, aber wieder entlassen, weil die durch die Krankheit notige stan- 
dige Beaufsichtigung nicht geboten werden konnte. 

Nach den Angaben der Mutter hat Marie St. noch eine iiltere Schwester und 
zwei jiingere Bruder. Die altere Schwester hat „Anfalle“ bekommen, als sie im 
landwirtschaftlichen Dienst vom Vorwalter geschlagen worden sei; dariiber habe 
sie sich aufgeregt. Auch seien drei Geschwister im ersten Vierteljahr nach der 
Geburt gestorben; die Mutter hat .sonst noch zwei Fehlgeburten durchgemacht. 

Marie St. sei friiher immer gesund gewesen, sei auch in der Schule gut weiter- 
gekommen, nur einmal sei sie sitzengeblieben. Anfalle habe sie friiher nie gehabt. 


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444 K. Boas: Kritische Beraerkungen tlber den Utiologischen 

Im Jahre 1915 habe sie alle Tage drei bis vier Anfalle gehabt Jetzt seien sie 
seltener. 

Wahrend der vierzehntagigen Beobachtungszeit in der hiesigen Anstalt wurdc 
bei der St. folgendes festgestellt: 

Die Zunge weicht beim Vorstrecken etwas nach links ab. Alle Reflexe in nor- 
maler Form und Starke vorhanden, nur der Himhaut- und Raehenreflex fehlt. 
Keine Storangen der Sensibilitat. Druckempfindlichkeit im Bereich der Scheitel- 
hohe und der Ovarialgegend. Geringe Verbreiterung der Herzdampfung nach 
beiden Seiten. t)ber der Herzspitze und iiber dem Sternum ist ein blasendes Ge- 
rausch zu horen. Puls 80 in der Minute. Der Urin enthalt standig etwas EiweiB 
ohne Nierenbestandteile. Sonst keine Storungen der inneren Organe. 

Die Wassermannsche Reaktion im Blut war positiv. 

In psychischer Beziehung fanden sich auBer einer gewissen Befangenheit ihrer 
Umgebung gegeniiber keine besonderen Defekte. 

Am Abend ihrer Aufnahme hatte sie im Bett einen Anfall: Sie lag fiinf Minuten 
steif da, alle Glieder gestreckt; dann stellte sie sich aufrecht mit geschlossenen 
Augen auf das Bett, fiel dann langsam hinteniiber, ohne sich zu verletzen, stemmte 
Kopf und FiiBe fest und baumte den Korper hoch. Nach einiger Zeit bffnete sie 
die Augen wieder. Wahrend des ganzen Anfalls bot sie keine Gesichtsverfarbung 
dar. Nachher wollte sie von dem Anfall nichts wissen. 

Am zweiten Tage ihres Hierseins erlitt sie ebenfalls abends im Bett einen 
Anfall, nur wiederholte sie die Bogenstellung des Korpers ofter und warf sich langere 
Zeit im Bett umher. Unmittelbar nach diesem heftigen Herumwalzen war sie so- 
fort wieder klar xmd geordnet. 

Seit diesen beiden Anfallen in den eraten Tagen ihres hiesigen Aufenthaltes 
sind weitere Anfalle, Ohnmachtszustande, BewuBtseinstriibungen bei ihr nicht 
mehr aufgetreten. Auch nach der sie aufregenden Blutentnahme traten keinerlei 
Anfalle bei ihr auf. 

In dem von Herm Professor Dr. Weber erstatteten Gutachten wird zunaehst 
auf das Vorliegen eines leichten Herzklappenfehlers verwiesen. 

Das Gutachten nimmt weiterhin in Ubereinstimmung mit der AuBerung 
des Dr. Ph. an, daB bei dem Kinde im Marz 1914 nicht Krampfe, sondem eine 
Chorea vorgelegen habe. Hierfiir spreche besonders die jetzige Feststellung einer 
Mitralinsuffizienz. 

Was die ursachlichen Beziehungen der choreatischen Erkrankung bei der St. 
zy dem Hundeiiberfall betrifft, so wird folgendes bemerkt: 

Die der Chorea zugrunde liegende Infektion und die residuare Mitralinsuffi¬ 
zienz sind sicherlich nicht durch den Schreck iiber den Hund verursacht worden, 
sondem jedenfalls schon friiher durch andere Ursachen, die sich zur Zeit einer 
naheren Feststellung entziehen, zustande gekommen. Es sei aber nicht unmoglich, 
daB als Ursache eine kongenitale Syphilis in Betracht komme. Daftir sprechen die 
wiederholten Fehlgeburten der Mutter, femer die zahlreichen Todesfalle alterer Ge- 
schwister der St. im f riihesten Kindesalter sowie die positive Wassermann sche 
Reaktion im Blute der Patientin. Es sei die Moglichkeit nicht von der Hand zu 
weisen, daB die Chorea schon vor dem Hundeiiberfall vorhanden war und von den 
Angehorigen nicht bemerkt oder absichtlich verschwiegen worden seL Es lage aber 
auch im Bereich der Moglichkeit, daB diese Zuckungen, aber auch nur diese allein, 
nicht die Mitralinsuffizienz, durch den Schreck iiber den Hundeanfall ausgelost 
oder zum mindesten verstarkt worden sei. Im iibrigen sei aber die ganze Frage 
des Zu8ammenhanges der Chorea mit dem Hundeiiberfall fiir die jetzige Entschei- 
dung unerheblich. Denn neben den hysterischen Anfallen spielten jene Zuckungen 
im Herbst 1915 eine geringe Rolle. Jetzt seien sie iiberhaupt ganz verschwunden, 
und das, was jetzt noch von der Chorea zuriickgeblieben sei, namlich die Mitral- 


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Zusaminenhang zwischen Chorea minor und Syphilis. 


445 


insuffizienz, habe mit dem Hundeuberfall gewiB nichts zu tun. Die Frage der 
Chorea konne also bei den weiteren Erhebungen ausscheiden. Weiterhin betont 
das Gutachten die hysterische Natur der Anfalle, die sich aus der obigen Schilde- 
rung der Anfalle und den korperlichen Stigmata derHysterie mit Sicherheit ergeben. 
Ebenso deuteten die friiher von arztlicher Seite beobachteten Anfalle auf Hysterie. 
Nach den ubereinstimmenden Aussagen aller Zeugen muB als erwiesen gelten, 
daB die Marie St. vor dem Oberfall durch den Hund hysterische Anfalle nicht ge- 
boten hatte. Da femer der erste dieser Anfalle hochstwahrscheinlich nur zwei 
Tage nach dem Hundeuberfall auftrat, so miisse dieses Ereignis als Ursache fiir 
das Auftreten der hysterischen Anfalle betrachtet werden. Diese Moglichkeit lage 
besonders auf der Hand in Anbetracht der nervosen Disposition der St., wie die 
gleichzeitige Erkrankung der Schwester anzeige. Zu dieser Disposition traten dann 
noch andere psychogene Momente, wie die Aufregung liber die Einberufung des 
Vaters, femer die bei ihr vorliegende Chorea und beginnende Mitralinsuffizienz. 
Es sei daher zu der Zeit des psychischen Traumas von vomherein eine erhohte 
Widerstandsunfahigkeit und Empfindlichkeit gegeniiber gemiitlichen Schadigungen, 
wie sie z. B. durch einen Schreck dargestellt werdc, gegeben gewesen. Es sei also 
begrciflich und glaubhaft, daB der Schreck liber den Hund bei ihr jene Anfalle aus- 
gelost habe, deren Grundlage aus anderen Ursachen schon vorhanden war. Es wird 
femerhin betont, daB bei der St. die hysterische Erkrankung im Herbst 1914 und 
wahrend des Jahrcs 1915 zweifellos schwerer war, als sie jetzt ist in bezug auf die 
Starke und Hiiufigkeit der Anfalle. Darauf deute der gescheiterte Versuch, die 
St. den Schulbesuch wiederaufnehmen zu lassen. Man bekomme aus dem Studium 
der Akten den Eindruck, daB bei den AuBerungen der Erkrankung, namentlich auch 
die Schwere und Haufigkeit der Anfalle auch noch ein anderes Moment eingewirkt 
habe: das Bestreben der Angehorigen und femerstehender Personen, z. B. Zeuge L., 
den Hundeuberfall und die ganze Erkrankung der St. als ein moglichst schwer- 
wiegendes Ereignis hinzustellen. Fiir diese Auffassung spricht z. B. die immer wie- 
derholte Aussage, daB das Kind in seinen Anfallen von einem Hund phantasiert 
habe. Dieser Gesichtspunkt sei bei der Bewertung der durch den Hundeuberfall 
hervorgerufenen Gesundheitsstorung in Beriicksichtigung zu ziehen. 

Ferner sei zu beriicksichtigen, daB in der letzten Zeit eine entschiedene Wen- 
dung zum Besseren in dem Befinden der St. eingetreten sei. Sie habe in 14 Tagen 
nur zwei Anfalle gehabt, die noch dazu durch auBere Momente, wie sie in der tJber - 
weisung in die Anstalt seien, hervorgerufen worden seien. Zu bedenken sei weiter¬ 
hin, daB das jetzt liber 1 1 / a Jahre bestehende Krampfleiden bis jetzt nicht zu 
einer geistigen Schwache gefiihrt habe. Es sei auch jetzt, wo Zahl und Schwere 
der Anfalle ersichtlich abgenommen haben, nicht zu beflirchten, daB sich nach- 
traglich noch eine geistige Schwache etabliert. Eine weitere Bessemng des hysteri¬ 
schen Krarapfleidens, ganzliches Verschwinden der hysterischen Anfalle sei be¬ 
sonders dann zu hoffen, wenn die Aufregung dieses Prozesses, immer emeute 
Wiedererorterung jenes Hundeuberfalles, Nachuntersuchung und Vemehmung 
dem Kinde erspart blieben. Es wiirde im Interesse seiner weiteren Gesundung 
liegen, wenn diese ganze Angelegenheit durch eine einmalige Abfindung ohne die 
die Notwendigkeit zu spaterer Untersuchung und Begutachtung erledigt wiirde. 
Ein nervoser, gegen gemiitliche Schadlichkeiten wenig widerstandsfahiger Mensch 
wiirde die Marie St. immer bleiben. Aber das sei sie schon von jeher und aus anderen 
Ursachen als infolge des Hundeuberfalles gewesen. Ihre nervose Widerstands- 
fahigkeit sei durch jenes Ereignis nicht wesentlich herabgesetzt worden. 

In dem ausfiihrlich mitgeteilten Falle sind die atiologischen Bezie- 
hungen zwischen Syphilis und Chorea noch schwieriger zu beurteilen 
als in dem ersten Falle. Zwar sprechen eine Reihe von Momenten aus 


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K. Boas: Kritische Bemerkungen fiber den atiologischen 


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der Anamnese, wie die wiederholten Fehlgeburten der Mutter der Pa- 
tientin und die zahlreichen Todesfalle von Geschwistem im zartesten 
Alter zugunsten dieser Auffassung. Auch der serologische Befund 
im Blute ist in demselben Sinne zu verwerten, wahrend ein solcher im 
Liquor cerebrospinalis leider fehlt. Aber hiermit sind die positiven 
Beweise fiir einen atiologischen Konnex zwischen der Chorea minor 
und einer etwaigea kongenitalen Syphilis erschopft. Namentlich feblen 
Angaben uber die Art der friiheren Behandlung, besonders iiber den 
Erfolg einer etwaigen spezifischen Behandlung. Eine besonders lange 
Dauer der Chorea, wie sie nach den Erfahrungen von Kowalewsky 3 ), 
Flatau 8 ) und Hiibner 48 ) sowie nach unserem ersten Falle zu er- 
warten ware, lag in diesem Falle nicht vor. Tm Gegenteil klang die 
Chorea minor bei dem Kinde relativ rasch ab und wurde bald infolge 
eines psychischen Traumas, namlich des Hundeiiberfalles, durch hyste- 
rische Zustande substituiert. Noch mehr neigt sich die Wagschale zu¬ 
gunsten der Annahme einer infektibsen, nicht syphilitischen Grand - 
lage der primaren choreatischen Erkrankung zu, wenn wir aus dem 
weiteren Verlaufe das spatere Auftreten einer Mitralinsuffizienz in Be- 
tracht ziehen. Im allgemeinen liegen ja die Dinge so, daB primar ein 
Rheumatismus und in dessen Gefolge eine Mitralinsuffizienz sich eta- 
bliert, und daB erst, wenn diese beiden Krankheiten aufgetreten sind 
oder noch bestehen, eine Chorea minor in die Erscheinung tritt. Hier 
haben sich die Krankheitsprozesse in etwas anderer Reihenfolge ent- 
wickelt, indem zunachst irgendeine leichte und darum vielleicht ttber- 
sehene infektiose Erkrankung, etwa eine Angina oder ein leichter Ge- 
lenkrheumatismus bestanden hat, an welchen sich dann die Chorea 
anschloB. Erst nach dem volligen Abklingen der letzteren ist dann 
die Mitralinsuffizienz aufgetreten. 

Moglicherweise kann auch unser erster Fall noch diese Entwicklung 
nehmen, obgleich dies bei der langen Dauer der Chorea minor jetzt 
ziemlich unwahrscheinlich ist. Wurde es dann zu den Erscheinungen 
einer Mitralinsuffizienz kommen, so ware eine Entscheidung sehr schwie- 
rig zu treffen, ob diese auf das Konto der vorhergegangenen Chorea oder 
der Syphilis zu setzen ist. 

DaB eine traumatische Entstehung der Chorea durch den Schreck, 
wie sie fur manche Falle von Chorea minor gewiB anzimehmen ist, fiir 
den vorliegenden Fall nicht in Betracht kommt, hat bereits das Gut- 
achten ausfuhrlich hervorgehoben. 

Sehr Avohl ware aber ein innerer Zusammenhang auch zwischen der 
Chorea und den spateren hysterischen Anfallen denkbar, wenn wir uns 
namlich auf den Boden einer hysterischen Chorea stellen wiirden. Eine 
solche Moglichkeit scheidet aber hier wohl aus, namentlich in Anbetracht 
des Umstandes, daB bei der Marie St. eine organische Herzerkrankung 


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Zusammenhang zwischen Chorea minor und Syphilis. 


447 


vorlag, die auf einen Zusammenhang mit einer echten, infektiosen 
Chorea minor hinweist. 

Wenn wir die Ergebnisse der vorstehenden Ausfiihrungen in wesent- 
lichen Ziigen zusammenfassen, so ist liber das atiologische Verhaltnis 
der Chorea minor zur Syphilis etwa folgendes zu sagen: 

Fine echte sy philitische Chorea minor gibt es nicht, 
weder auf der Grundlage einer angeborenen, noch auf der- 
jenigen einer erworbcnen Syphilis. 

Dagegen gibt es zweifellos gewisse Formen der kongeni- 
talen Hirnlues, die vorwiegend unter dem Bilde chorei- 
former Zuckungen verlaufen. Bci naherer Betrachtung die- 
ser Falle wird man auch anderweitige Symptome einer sy- 
philitischen Hirnerkrankung des Zentralnervensyste ms 
finden, wie z. B. Nystagmus, Adiadochokinesis, ferner 
positiven Babinski, Oppenheim, Gordonsches Phanomen, 
Striirapellsches Tibialisphanomen usw. Fiir diese Falle 
wird man verlangen miissen, daB sieerstens nachder sero- 
logischen Richtung den Hauptbedingungen einer syphili- 
tischen Erkrankung geniigen, d. h. zum mindesten posi¬ 
tive Wassermannsche Reaktion imBlute, unter Umstanden 
vielleicht — dies bleibt weiteren Untersuchungen vorbe- 
halten — in demselben Sinne sprechende Veranderungen 
des Liquor cerebrospinalis zeigen. In zweiter Linie miissen 
gewisse Atypien im Verlaufe , z. B. langeDauer undNeigung 
z u Rezidi ven, vorhanden sein, ferner gewisse symptoma- 
tologische Eigenarten, wie sie oben erwahnt wurden. An 
dritter Stelle ware als Kriterium fiir eine sy philitische 
Grundlage der Beweis durch die Wirksamkeit der anti- 
syphilitischen Therapie zu erbringen, wobei das Schwer- 
gewicht auf die Quecksilberbehandlung zu legen ist, wah- 
rend einer giinstigen Beeinflussung durch die Salvarsan- 
behandlung geringerer Wert beizumessen ware. 

Noch weniger als mit der echten, selbstandigen Chorea 
minor bestehen atiologische Zusammenhange zwischen der 
Syphilis und der Huntingtonschen Chorea. Hier liegen 
sicherlich bloB rein zufallige Komplikationen vor ohne 
jede innere Krankheitsverwandtschaft. 

Endlich bestehen auch keine Beziehungen zwischen 
Paralyse und Chorea. Es ist auch hier wieder darauf 
hinzuweisen, daB schon die Verschiedenheit in den Alters- 
stufen, in denen eine Paralyse einerseits, eine echte Chorea 
minor andererseits in die Erscheinung tritt, von vornherein 
gegen einen solchen Zusammenhang spricht, wenn man von 

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. XXXVII. 29 


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K. Boas: Kritische Bemerkungen liber den atiologischen 


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den eminent seltenen Fallen von Zusammentreffen der Cho - 
rea minor mit juveniler Paralyse abstrahiert, wie es bisher 
bloB in einem Falle (Major) in der Literatur beschrieben 
worden ist. Schon der Umstand, daB bei dem Zusammen- 
treffen von Chorea und Paralyse sowohl die Chorea als auch 
die Paralyse zahlreiche Abweichungen von dem gewohn- 
lichen Symptomenbilde jeder der beiden Erkrankungen 
aufweist, deutet daraufhin, daB wir es hier mit einer Abart 
der progressiven Paralyse zu tun haben, namlich dem von 
Binswanger als hamorrhagische Form der Paralyse bezeich- 
neten Typus, welchem auch ein entsprechendes anato- 
misches Substrat in Gestalt feinster miliarer Blutungen in 
der Hirnsubstanz zur Seite steht. Jedenfalls kann es sich 
hierbei niemals urn eine echte Form der Chorea minor han- 
deln, sondern stets nur um ein atypisches Syndrom der 
Paralyse, bei welchem choreiforme Zuckungen das Krank- 
heitsbild beherrschen, genau so wie in anderen Fallen para- 
lytische Anfalle u. dgl. dem ganzen Krankheitsbilde ein be- 
sonderes Geprage verleihen. 

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Zusarnmenhang zwischen Chorea minor und Syphilis. 


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450 


K. Boas: Kritische Bemerkungen Uber den atiologischen 


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Zusanimenhang zwischen Chorea minor und Syphilis. 


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des Arztlichen Vereins zu Hamburg. Sitzung vom 15. Juni 1905. Ref. 
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spinalflussigkeit bei der Chorea des Kindesalters. Bull, de la Soc. de p&L 
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Soc. de p4d. de Paris 1911, S. 124. Ref. Neurol. Centralbl. 31 , 1436. 1912. 

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70. Kraepelin, Psychiatric. 8. Aufl. Leipzig 1915. 4 . Klinische Psychiatrie 

III.Teil. 2316. 

71. Diefendorf, Mental symptoms of acute chorea. Journ. of nervous and ment. 

diseases 39 , 161. 1912. Ref. Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie. Literatur- 
heft. 14, 244 und Neurol Centralbl. 31, 1436. 1912. 

72. A1 ison, zit. nach Bruning (12). 


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Die Hysteric Neurose Oder Psychose? 

Von 

Dr. Ernst Herzig, 

Wien*8t«inhof. 

(Eingegangen am 7. Juni 1917.) 

Der Verfolg der Literatur, die im Laufe der Jahrhunderte uber 
HyBterie geschrieben wurde, laBt ein zu alien Zeiten als typisch hervor- 
gehobenes Symptom im Krankheitsbilde hervortreten: Die Auslosung 
und Veranderbarkeit korperlicher, unter Berticksichtigung des Menschen- 
typus als krankhaft zu bezeichnender Erscheinungen durch geistige 
Prozesse. Durch die letzten drei Worte hatten die alteren Autoren 
diese Krankheit gegen die Epilepsie abgegrenzt, welche ala ein rein 
nervoser ProzeB aufgefaBt wurde und als dasjenige, was heute als 
Reflexneuroae bezeichnet wird. Zu jenen Zeiten hatte man den Begriff 
der Hyaterie in den Krampfanfallen erschopft, da die experimentelle 
Untersuchung nicht weiter vorzudringen vermochte und man die heute 
stark betonten Stimmungs- und Charakteranomalien ala typisch hyste- 
rische zu betonen und von ahnlichen Schwankungen bei anderen Krank- 
heitsbildem zu trennen, weil ihnen in diesem Punkte differential- 
diagnostische Momente fehlten, keinen Anhaltapunkt zur Hand hatte. 
Wahrend man damals alle jene eben genannten Anomahen einfach un- 
beachtet lieB, sobald die Behandlung der Hysteriefrage als Thema auf- 
geworfen wurde, glaubt heute mancher, ohne weitere Unterstutzimg 
dieselben auf den Anblick hin ala hyaterische klassifizieren respektive 
von dieaer Klassifikation auaschheBen zu konnen. Der Fehler liegt beim 
Beobachter, der die ganze Geiatesarbeit, welche ihn nach wenn auch 
rascher Kenntnianahme aller aua der Beobachtung sicher hyaterischer 
Falle bekannten hysterischen Eigentximlichkeiten einen Wahrscheinlich- 
keitsschluB fur den gegebenen Fall zu machen, in den Stand setzt, 
ignoriert. Das Gefiihl eines GewiBheitsschluaaes ist in einem solchen 
Falle auch in seiner Verursachung rein aubjektive Beigabe. 

Welche korperlichen Symptome als hysteriache zu betrachten seien, 
darauf fuhrt die alte Auffassung hin, welche Krampfanfalle bestimmter 
Form als das Charakteristicum der Krankheit Hysterie ansah. Sie brachte 
damit zum Ausdrucke, daB in dem Auftreten jener Krampfe ein Ab- 
weichen vom allgemeinen Reaktionatypua liege, der dasselbe ala ein 


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E. Herzig: Die Hysterie Neurose oder Psychose? 


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krankhaftes kennzeichne. Dieses vom Typus Abweichende macht sie 
als etwas Abnormes kenntlich, als etwas, was zu dem voraufgehenden 
peychischen Prozesse die natiirliche Aquivalenz vermissen laBt. 

Die Ausdrucke Hysterie und hysterisch hat man im Ablaufe der 
Zeiten recht unbestimmt werden lassen, seitdem man die Hysterie mit 
der Hypochondria, der Epilepsie und mit der Neurasthenic zusammen- 
warf. In den letzten abgelaufenen drei Jahrzehnten ist man fast einstimmig 
dazu gekommen, die Neurose Hysterie von den anderen Neurosen ab- 
zutrennen, zum groBen Teile auf Grand der lebhaften Diskussionen, 
welche in dieser Zeit uber ihre Abgrenzung gefiihrt wurden. Viel Wirr- 
warr in der richtigen Deutung und Verwertung dieser Errangenschaft 
richtete die Lehre der Salpetriere an. Mit ihrer Behauptung der psycho- 
tischen Natur der Hysterie hat sie in vielen Kopfen den eben erst 
errangenen Erfolg, die nosologische Einheit der Hysterie erkannt zu 
haben, durch ihren Irrtum quitt gemacht. Derselbe ist auch heute noch 
in den Kreisen vieler Psychopathologen lebendig. Daher mag es kommen, 
daB man vielfach das vorziiglichste Erkennungsmerkmal der Hysterie 
in den psychisohen Eigenheiten der Hysteriker fand, wahrend man die 
korperlichen Krankheitszeichen in den Hintergrand schieben zu konnen 
vorgab. Ein Selbstbetrag, indem gerade Psychopathologen dieser 
Richtung darauf zittern, endlich einmal durch Beobachtung eines 
hysterischen Anfalles eine Bestatigung ihrer Diagnose zu erhalten. 
Die Mehrdeutigkeit der bei den Hysterikem vorkommenden geistigen 
Eigentiimlichkeiten gestattet namlich keine Abgrenzung gegenuber 
den anderen in Betracht kommenden Neurosen und gegebenenfalls 
Psychosen. Ebensowenig wie jene Eigentiimlichkeiten an sich, geben 
deren Intensitat und Form bestimmte MaBe an die Hand, aus denen 
auf ihre Grundlegung ein auch nur halbwegs richtiger SchluB gezogen 
werden konnte. DaB eine aus den psychischen Symptomen allein ohne 
von friiher her erworbene Kenntnis einer Person auf Hysterie lautende 
Diagnose schlieBlich wirklich in ihrer Richtigkeit bestatigt wurde, 
gebe ich ohne weiteres zu, frage aber: wodurch erfolgte jene Besta¬ 
tigung ? Durch Nachweis der korperlichen Stigmata. Damit wird nicht 
geleugnet, daB jene geistigen Symptome in gleicher Weise wie die korper- 
lichen tatsachliche Hervorbringungen der Krankheit Hysterie sind, 
respektive sein konnen. 

Die Auffassung der Hysterie als Psychose bringt keine Erklarung, 
weil sie eine unbekannte GroBe durch eine andere ebenso unbekannte 
erlautem will. Alle auf psychischem Wege entstandenen Krankheits- 
erscheinungen als hysterische zu erklaren, widerspricht der Erfahrung, 
welche z. B. die Angstneurosen und die nervosen Insuffizienzzustande 
als nur psychisch bedingte kennt, welche aber als hysterische Krankheits- 
erscheinungen zu bezeichnen, niemandem in den Sinn kommt. Selbst 


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E. Herzig: 


dann, wenn dieselben bei Hysterikern auftreten, tragt man Bedenken, 
sie in ihrer Atiologie mit anderen zu identifizieren, welche auf die 
Hysterie als ihre Grundlegung zurfickzuffihren sind. Mehr als alle 
anderen Hysterietheorien scheint mir gerade die in Frage stehende 
Theorie darunter zu leiden, daB sie nicht nach vorausgegangener Zu- 
sammenfassung alles dessen, was man als hysterisch bezeichnet, eine 
ftir alle diese Erscheinungen zutreffende Erklarung sucht, sondem in 
der fiberstromenden Freude dariiber, in einer groBen Zahl von sicher 
hysterischen Krankheitsfallen die gewiB zutreffende Erklarung gefunden 
zu haben, dieselbe nun auf alle F&lle tibertragt. Jene groBe Zahl sind: 
die Hysteriefalle durch Vorstellung ausgelost. Wenn man also „die Hy¬ 
sterie eine Psychose" als die bedeutendste Emmgenschaft der Hysterie- 
forschung hinstellt, so tibersehe man nicht, daB damit dem Belieben 
der einzelnen Autoren weiter Spielraum gelassen wird. Je nach der 
Definition wird man die Psychosen in weiterem und engerem Rah men 
abgrenzen konnen. SchlieBlich konnte man auch darauf hinweisen, 
daB zwischen Geistes- und Nervenkrankheiten kein prinzipieller Unter- 
schied zu machen sei, da Krankheiten der Seele Gehimkrankheiten 
seien. 

Damit berfihre ich einen Hauptpunkt der Hysteriefrage. Man hat 
die Hysterie von den anderen Neurosen abgetrennt, man hat sie als eine 
einheitliche Krankheit erkannt, man hat sie bald als Krankheit im 
eigentlichen Sinne, bald als krankhafte Reaktionsweise bezeichnet. 
Und das Charakteristicum der Hysterie? Die allgemeine Unklarheit 
fiber den Begriff bekundet sich in der Verlegenheit der Antworten, 
die sich mit gewissen und eigenartigen Storungen der Motilitat und 
Sensibilitat und eigenartiger seelischer Reaktionsweise fiber die Schwierig- 
keit derselben hinwegzuhelfen suchen. Nach den Ausffihrungen des 
vorhergehenden Absatzes brauche ich mich nur mit den korperlichen 
Eigentfimlichkeiten naher zu befassen. Die Vollstandigkeit der Auf- 
zahlung aller hierher gehorigen Stigmata in den verschiedenen Mono- 
graphien der Hysterie und den Arbeiten fiber dieselbe Qberhebt mich 
jeder Wiederholung. Keines dieser Stigmata, an sich betrachtet in seinem 
Auftreten als krankhafte Erscheinung, ist fur Hysterie charakteristisch. 
Charakteristisch ist die Art ihres Auftretens. Zu den haufigsten Sym- 
ptomen gehoren die Contracturen und die klonischen Krampfe, die 
Muskellahmungen, die Stimmbandlahmungen, die Hyperalgesie und 
die Analgesie. An sich sind diese Erscheinungen keine Symptome der 
Hysterie; denn sie konnen auch innerhalb einer Hysterie organisch, 
nicht nur funktionell bedingt vorkommen. Der Nachweis des funk- 
tionellen Ursprunges besagt zugleich, daB die grundlegende Krankheit 
die Hysterie sei; der Entstehungsmechanismus ist entscheidend ffir 
die Diagnose. 


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Die Hysterie Neurose Oder Psyihose? 


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Dieser Entstehungsmechanismus ist charakterisiert durch ein aktives 
Schaffen der Hysterie. Denn das Charakteristische derselben ist ihre 
Fahigkeit, Krankheitssymptome wirklich zu erzeugen, etwas an den 
Tag zu bringen, was vorher nicht da war. Semi Meyer hat vorge- 
schlagen, diese Eigenschaft in Anlehnung an das sonstige Leben als 
Produktivitat zu bezeichnen und die Krankheitserscheinungen als Pro- 
dukte. Dieser Ausdruck gibt die spezifische Eigenheit der Hysterie an 
und grenzt sie dadurch gleichzeitig von alien anderen funktionellen 
Neurosen ab. t)ber die Genese macht derselbe keine Andeutung. Jede 
Theorie der Hysterie kann sich ihre voile Selbstandigkeit wahren. 

In manchen Psychopathologen sitzt die Uberzeugung fest, daB es 
sich bei den hysterischen Symptomen um keine echten und wahren 
Krankheitserscheinungen handle ; sie haben sich gewohnt, Hysterikem, 
wenn sie dieselben schon nicht als Simulanten reinsten Wassere be¬ 
zeichnen, ihren Platz in unmittelbarster Nahe derselben zu bestimmen. 
Der Schmerz, den die Hysteriker zu haben vorgeben, soli kein Schmerz 
sein; was man an Contracturen und Lahmungen zu sehen bekommt, 
soil nur durch eine dauernde Willensverkehrtheit zustande kommen. 
Man vergiBt dabei, daB auch die Simulation eine adiiquate Motivierung 
verlangt. Ist schon der Gedanke an eine so weitverbreitete und weit- 
gehende Simulationstendenz, wie sie nach dieser Auffassung in der 
Hysterie sich ausdriicken wiirde, fur eine wissenschaftliche Auffassung, 
insbesondere fur eine teleologische Erfassung des Lebens, unfaBbar, 
so macht schon gar der Motivationsmangel ihn psychologisch unhaltbar. 
In treffender Weise wurden die von den Simulanten vorgetauschten 
Symptome als Produktionen gegeniiber den Produkten der Hysterie 
bezeichnet. 

Es konnen ubrigens auch korperliche Erscheinungen als Hervor- 
bringungen der Hysterie auftreten, welche man nicht zu den Krankheits¬ 
erscheinungen rechnen kann. So soil (ich weiB dariiber nur aus der 
Literatur, wahrend in der eigenen Erfahrung ein solcher Fall mir noch 
nicht unterkam) das Auftreten von Schwangerschaftszeichen in Form 
zunehmenden Volumens des Abdomens ein nicht selten zu beobachtendes 
Symptom der Hysterie sein. Das wiirde eben nur darauf hinweisen, daB 
iiberhaupt korperliche Erscheinungen durch die erwahnte Krankheit 
ausgelost werden konnen. Solange dieselben aber nicht durch ihre 
Krankhaftigkeit die Aufmerksamkeit des Beobachtenden in besonderer 
Weise erregen und zu therapeutischen MaBnahmen auffordern, kann 
deren Nichtbeachtung ohne Schaden geschehen. Sie konnen allerdings 
zu einer Erkenntnis der psychopathischen Personlichkeit fiihren unter 
Umstanden zu einem Zeitpunkte, wo das Fehlen von Krankheitser¬ 
scheinungen diese Erkenntnis noch nicht ermoglicht. Diese rein theore- 
tische Erwagung diirfte kaum jemals in Betracht kommen, wenn nicht 


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E. Herzig: 


vielleicht das genannte Auftreten von Schwangerschaftszeichen als 
erstes und vonderhand einziges Hysteriesymptom vorhanden ist. 

Dieser Meinung durfte die Dubois’ scharf gegeniiberstehen, der als 
das einzige wirkliche Charakeristicum der Hysterie die konvulsiven 
Anfalle ansieht, wahrend er von alien anderen Zufalien behauptet, daB 
sie zwar auch auftretep konnten, daB man sie aber nicht auf die Hysterie 
beziehen miisse. 

Die Hysterie bezeichne ich also als eine funktionelle Neurose, welche 
durch die Fahigkeit, wirkliche Krankheitserscheinungen entstehen zu 
lassen, charakterisiert ist. 

Krankhaft wird ein korperlicher Vorgang (hier selbstverstandlich 
im Sinne der einem affektiven Vorgang entsprechenden Ausdrucks- 
bewegung) dadurch, daB er in seiner Qualitat, Intensitat oder Exten- 
sitat von jenem abweicht, welcher nach der Norm mit einem bestimmten 
Affekte verbunden ist. Diese Abweichung findet ihren psychologischen 
Ausdruck in dem Fehlen der dem korperlichen Vorgange zugrunde 
liegenden Motivation, im Fehlen jeder regelmaBigen Koordination, 
welche zwischen Affekt und Ausdrucksbewegung samt den ihr voraus- 
gehenden Innervationen besteht und vermoge welcher wir — nach 
Wundt — jede Ausdrucksbewegung als ein adaquates Symptom der 
entsprechenden seelischen Regung betrachten lemen. In der Psycho- 
pathologie hat man seit langem die wichtige Tatsache aus dem Gebiete 
der Psychophysik des Gefiihlslebens verzeichnet, daB es eine Gruppe 
geistiger Erkrankungen gibt, in der jene die normale Psychognostik 
leitende Beziehung eine Anderung erfahren hat. Die Beobachtung fiihrte 
zur Erkenntnis, daB bei manchen geistigen Erkrankungen zwischen dem 
wirklichen seelischen Erlebnis mit seinem Affekte und dem psychischen 
Ausdruck des letzteren eine Kluft bestehe, so daB der Beobachter aus 
dem Ausdrucke der auBeren Erscheinungen auf einen ganz anderen 
Gefiihlszustand verwiesen wird, als derselben nach den in der normalen 
Psychologie gesammelten Kenntnissen dem Gegenstande entsprechen 
sollte. Neben der Dementia praecox erkannte man schon friihzeitig an 
der Hysterie ein Feld, auf welchem jene gesetzmaBige Zuordnung zu 
fehlen schien. Dieses Zusammentreffen durfte ein Grund sein, warum 
so oft eine beginnende Dementia praecox von einer Hysterie nicht mit 
wunschenswerter Scharfe abgegrenzt werden kann. Findet eine solche 
Abweichung nur in der Intensitat oder Extensitat statt, dann hat man 
damit noch keinen Vorgang vor sich, welcher jenes Merkmal an sich 
, hatte, das denselben als hysterischen charakterisieren wiirde. Ein solches 
ist erst dann gegeben, wenn dessen qualitative Neuheit gegeniiber der 
Norm zu Erscheinung kommt. 

Diese Definition legt das Wesen der Hysterie nicht einfach in eine 
abnorme Reizbarkeit des gesamten Nervensystems, infolge deren die 


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Die Hysterie Neurose oder Psychose? 


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verechiedenen Provinzen dieses Systems gegen die unbedeutendsten 
dynamischen, organischen und psychischen Einfltisse, welche andere 
gesunde Menschen gar nicht affizieren, eine exzessive Reaktion zeigen. 
Eine solche Reizbarkeit ist ja kein Spezificum der Hysterie, kommt in 
sehr ausgepragter Form z. B. bei Neurasthenic vor. Das Abnorme in der 
Qualitat biidet das verlangte Spezificum, die Fahigkeit, mit Krankheits- 
erscheinungen auf Reize zu antworten. 

Es existiert also ein prinzipieller Unterschied zwischen den Krankheits- 
gruppen Hysterie und Neurasthenie. Die Ansicht Steyerthals unter- 
schreibe ich nicht, dali die Hysterie nur einen hoheren Grad der Neur¬ 
asthenie darstelle. Wahrend letztere nur eine intensive und extensive 
Abnormitat gegenuber dem Typus biidet, ist die qualitative Abnormitat 
das spezifizierende Kennzeichen der ersteren. Nur fiir letztere kann man 
das hemmungslose Zum-Ausdruck-Gelangen der ubertriebencn physio- 
logischen Ausdruckshandlungen auf Vorstellungen und Empfindungen 
hin als Merkmal ansehen, wahrend fiir Hysterie gerade das Hinausfallen 
aus dem Umfange des Physiologischen das diagnostisch MaCgebende ist. 

Auf eine solche Vermengung lauft auch die Ansicht Vogts hinaus, 
daB ,,alle psychopathologischen Erscheinungen, welche uns im Krank- 
heitsbilde der Hysterie entgegentreten, nur Intensitatsveriinderungen 
normaler Phanomene sind“. 


Welche psychischen Prozesse kommen nun als auslosende in Betracht ? 
Die Psyche besitzt drei Vermogen: Denken, Fuhlen, Wollen. Das 
letztere ist der Urgrund aller menschlichen AuBerungen, seien dieselben 
normaler oder krankhafter Art. Die ersteren aber geben die inhaltliche 
Fundierung und das Fuhlen macht die Differenz in den Formen, wie 
die einzelnen Individuen auf die Produkte des Erkenntnisvermogens 
reagieren. Wahrend dieses letztere als ein seiner Natur nach rein passives 
Vermogen sich darstellt, erscheint das Gefiihlsvermogen als ein in weiten 
Grenzen durch sich selbst veranderliches. Da auch die Willenskraft 
bei verechiedenen Individuen eine verechiedene ist, so ergibt sich fiir 
Abnormitat in den Willenshandlungen eine zweifache Moglichkeit: 
entweder wird der Willenseffekt herbeigefiihrt durch die objektiv ab¬ 
norme Gefiihlsbetonung eines Erkenntnisaktes oder durch die Schwache 
des Willens. Im eraten Falle kann sowohl die groBe Heftigkeit jede 
Gegenarbeit des Willens unterdrucken, wie andererseits die zu geringe 
Lebhaftigkeit den notigen Willensanreiz fehlen lassen. 

Erst ganz kurzlich ist der Vorschlag gemacht worden 1 ), den „sinn- 
losen“ Namen Hysterie durch ein bezeichnenderes Wort, etwa Thymek- 
stasie, zu eraetzen. Die Autoren erhoffen sich von einem solchen Er- 

*) Rieder und Leeser, t)ber die Beurteilung und neuere Behandlung dor 
psyohomotorisohen StCrungen. Zeitschr. f. d. ges. Neurol, u. Psvoh. 35, 425 ff. 


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E. Herzig: 


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satze, daB damit vielem Streite der Boden entzogen wiirde. Indessen 
ersehe ich mir gar keinen Vorteil, weii dieses Wort das eben Gekenn- 
zeichnete, fur die Hysterie Charakteristische, nicht zum Ausdruck 
bringt, wogegen das Wort Hysterie auBer der Indifferenz fiber das be- 
ztiglich der Krankheitserscheinungen zu Sagende das Vorrecht einer 
eingesessenen Popularitat fiir sich hat. Die im Worte Thymekstasie 
liegende Anlehnung an die platonische Dreiteilung der menschlichen 
Seele durfte zu einer rascheren Einburgerung kaum etwas beizutragen 
imstande sein. 

„Ist eine nicht schnell voriibergchende Storung dcs gewohnlichen psycho- 
physischen Zusammenhanges entstanden, die wir als cine Krankheit auffassen, 
ho ist fur ihre Bezeichnung als Hysterie zunachst mafigebend, daB die Storung in 
erster Linie das Affektlebcn in folgender Weise betrifft: Die Einzelgefiihle be- 
kommen einen erhohten EinfluB auf die psychophysischen LebensauBerungen, 
sie werden hemmungsloser und sind schnellem Wechsel unterworfen. Sie neigen 
also zu unbercchenbaren, plotzlichen und hochgradigen Schwankungen und, 
ihrer Natur nach im psychischen Leben die einzigen Vorgange, die sich zwischen 
kontraren Gegensatzen bewegen, bedingen sie, indem sie iiberwertig werden, den 
wandelbaren Charakter aller Krankheitserscheinungen. 

Die Apperzeption bekommt dadurch, daB auch sie erhoht von Gefiihlen ge- 
leitet ist, eine starre Richtung auf das Subjekt. 

Bci den Willensvorgiingen tritt der zielstrebigc, verstandgeleitete Anted zu- 
gunsten dcs affektiven zuriick. Der Mangel an zielbewuBtem Wollen imponiert 
als Willensehwaehe und Haltlosigkeit, die sich also mit den gelegentlichen explo- 
siven WillensauBcrungen der Hysterischen sehr wohl vertragt. 

Diese Umanderung dcr psychischen GesetzmaBigkeit hat ihr Abbild oder ihre 
Wirkung (die Wahl des Ausdruckes hangt davon ab, ob man auf dem Boden des 
psychophysischen Parallelismus oder der Wechselwirkungstheorie steht) in den 
korperlichen AuBcrungen der Hysterie. Die hemmungslosen Affektschwankungen 
erscheinen als ubertriebene Ausdrucksbewegungen (bzw. als ihr volliges Versagen), 
fixiert durch die starre Richtung der Apperzeption und die Schw&che der Impulse 
zur Wiederherstollung der Ordnung. Von den theatralischen SchmerzensauBerungen 
bis zu den paradox anmutenden visceralen Storungen haben wir, was die Deutung 
aus den genannten psychischen Umanderungen betrifft, in den Ausdrucksbewe- 
gungen ein vollstandiges Analogon. So sind die sensorischen und sensiblen Ausfalls- 
und Rei^rscheinungen AuBerungen der eigenartigen Apperzeptionsrichtung.* 4 

Diese Ansicht erklart ausdriicklichst, daB die starken Schwankungen 
in den psychophysischen LebensauBerungen, welche durch die Eigen- 
art des hysterischen Affektlebens verursacht werden, das Bild der Hysterie 
zusammensetzen, andererseits aber AuBerungen der eigenartigen Apper- 
zeptionsrichtung seien. Hier ist es von Interesse, darauf hinzuweisen, 
daB mit dieser Auffassung eine Abgrenzung der Hysterie und auch der 
hysterischen Psychosen gegeniiber anderen neuropathologischen und 
psychopathologischen Abnormitaten und Krankheiten nicht moglich 
ist; denn bei alien Formen der Degeneration und des degenerativen 
Irreseins treten solche Schwankungen auf. Was die Eigentumlichkeiten 
der AffektauBerungen anbelangt, kann man eine charakteristische 


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Die Hysterie Neurose oder PsychoseV 


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Eigentiimlichkeit der hysterischen AffektauBerangen gegeniiber jenen 
bei den erwahnten Degenerationen nicht nennen. Die von den Autoren 
gegebene Schilderung beinhaltet nach meiner Uberzeugung eher eine 
peychologische Erfassung der Dementia praecox. 


Die verschiedenen Theorien einer Psychopathologie der Hysterie 
gehoren entweder der einen Richtung, welche rein psychisch diese Krank- 
heit erklaren will, an oder sie nehmen auch oder ailein eine psycho- 
physische Grundlage in die Atiologie hinein. Zu den erstgenannten 
gehoren die Theorien der groBen franzosischen Hysterieforscher, welche 
auch die deutschen Psychiater zum grofiten Teile gefangenhalt, welchem 
nur ein kleinerer als Anhangerschaft der zweiten Richtung gegen- 
ubersteht. Jene Unterschiede, wie jene psychische Grundeigenschaft 
zu benennen sei oder welche uberhaupt in Betracht kommen konne, 
betreffen nicht das Wesen der zugegebenen Losung. Man konnte diesen 
Theorien entgegenhalten, daB eine solche psychische unuberwindliche 
Schwache nur aus einem psychophysischen MiBverhaltnisse, aus einer 
peychophysischen Disproportion, ihre Erklarung finde, da die Natur 
der Psyche eine Erklarung aus sich heraus als eben ihrer Natur an sich 
widerstreitend nicht zulaBt. 

Charcot gilt heute allgcmein als derjenige Forscher, welchcr die Hysteri(‘ 
zur Psychose stempelte, wenn auch nicht gelcugnet- werden soil, daB er dam it 
zum Teile nur von seinem Lehrer Briquet ubernommene Gedanken zum Aus- 
drucke brachte. Jedenfalis war er derjenige, der dem Gedanken in scharfster Form 
und klarster Wcisc die Balm gebrochen hat. 

Dieser Gedanke liegt im Satze: Hysterisch sind korperliche Vorgange auBor- 
gewohnlicher Starke und Art, welche durch Vorstellungen erzeugt werden. Die 
rein korperlichcn Begleiterseheinungen der Hysterie hat Charcot nicht iibersehen. 
aber es kam ihm nie in den Sinn, dicsolbon fiir das Charakteristische der Hysterie 
zu halten. Das Kennzeichen verlegte er in das Psychogene der Vorgange. Da uni 
die Zeit der Charcot schen Lehrtatigkeit fiir somatiselie Erscheinungen, welche 
durch Vorstellungen erzeugt werden, der Kamen ,,Suggestion 4 * aufkam. bedcutet 
es nur eine Umschreibung jenes Satzc;s, wenn man die Hysterie als gestcigcrto 
Suggestibilitat bezeichnet. 

Der Begriff der Suggestion bedeutet etwas von auBen an das Invidi- 
duum Herantretendes, eine t3berrumpelung des Verstandes. DaB man 
den Begriff der Autosuggestion aufbrachte, hat wahrscheinlich seinen 
Grand darin, daB man damit eine Lucke auszufullen hoffte, welche die 
Erklarung durch die Suggestionen noch gelassen hatte. Ein Verlegenheits- 
begriff, da er in seiner Zusammensetzung im Begriffsworte negiert, was 
das Bestimmungswort eben behauptet hatte, nach Hellpach ein barba- 
ristisches Wort, das sich nach dem alten schlechten Gewohnheitsrecht 
der Pathologie auch heute noch tiberall einzustellen pflegt, wo Begriffe 
fehlen. Dieser Begriff der Autosuggestion wurde nur deswegen gebildet, 
w r eil man ja deutlich sah, daB die Suggestion weitaus nicht in alien 


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E. Herzig: 


Fallen als atiologischer Faktor der Hysterie herangezogen werden konnte, 
andererseits man aber von der vorgefafiten Meinung von einer Zugrunde- 
legung von Vorstellungen um so weniger lassen wollte, als es gelungen 
war, durch in der Hypnose beigebrachte Suggestion den hyste- 
rischen vollstandig gleichende korperliche Erscheinungen zur Aus- 
losung zu bringen. Auch das mag beigetragen haben, daB man aus der 
Art der Therapie ohne weiteres einen RiickschluB auf die Entstehung 
machte. Allerdings ubersah man dabei, daB eine andere Einwirkung 
auf ein fremdes Individuum im gebrauchlichen Lebensverkehre als wirk- 
same nicht in Betracht kommen kann als jene durch Vorstellungen, 
«1 m Individuum aber, auf welches man einwirken will, die angestrebte 
Wirkung erst durch die psychologische Verkniipfung mit dem Affekte, 
welcher in jedem Falle sich den Vorstellungen verbindet, auf den Willen 
erhalt. 

Das Wesen der Suggestion liegt in dem Wegfalle der zum Zustande- 
kommen einer Willenshandlung notwendigen nattirlichen Motivation, 
also in dem Wegfall eines Inhaltes des BewuBtseins, durch welchen in 
diesem ein Akt zustande kommt, durch welchen es sich ein Ziel setzt. 
Es kommt also bei der Suggestion zu einer Zielsetzung, ohne daB jener 
verlangte BewuBtseinsakt vorausging, es erfolgt die Zielsetzung ohne 
Motivationsakt. Nur nebenher weise ich darauf hin, daB diese Klar- 
legung ebenfalls dazu fuhrt, den inneren Widerspruch, den der Ausdruck 
Autosuggestion in sich birgt, aufzudecken. Auch das folgt daraus, daB, 
wie viele wollen, nicht jede Uberredung gleichbedeutend sei mit Sugge¬ 
stion. Wenn man einen Menschen mit guten oder schlechten Griinden 
iiberzeugt und zu einer Handlung veranlaBt, dann hat eine solche Hand- 
lung mit Suggestion nichts gemein, weil sie aus Uberzeugung auf Grund 
von normalerweise vorhandenen Motiven erfolgt, deren Verschiebung 
gegeniiber dem objektiven Richtigkeitswerte das Wesen der Handlung 
als natiirlich motivierte nicht tangiert. Bei ausgesprochenen Sugge- 
stionen kommt ein Uberzeugen iiberhaupt nicht in Frage, weil es sich 
um die Realisierung von Vorstellungen handelt, die aus irgendwelchen 
psychologisch verstandlichen Griinden nicht die notwendige Kraftent- 
faltung zu einer EinfluBnahme im Siime des Uberzeugers zu gewinnen 
vermogen. 

Man wird unter alien Umstanden die Suggestion in jeder Theorie 
der HyBterie zur Geltung kommen lassen miissen, weil die Tatsachen den 
Wert derselben nicht zu iibersehen gestatten. Nur das wird in Abrede 
gestellt, daB der Weg der Suggestion der einzige sei, auf dem die hyste- 
rischen Symptome zustande kommen. 

Unter den deutschen Autoren hat Mobi us den Begriff der Suggestion 
am deutlichsten als genetischen Faktor der Hysterie angesprochen: 
,,Hysterisch sind alle diejenigen krankhaften Veranderungen des K6r- 


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Die Hysterie Neurose oder Psychose? 


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pers, die durch Vorstellungen verursacht werden.“ Die Wahrheit dieses 
Satzes ist unbestritten geblieben, aber die Auffasssung seines Autors, 
demselben sei ein exklusiver Sinn zu unterlegen, so daB krankhafte 
Veranderungen des Korpers, welche auf eine andere Weise zustande 
komraen, nicht als hysterische bezeichnet werden diirften, wurde von 
vielen Autoren zuriickgewiesen. Denn in vielen Fallen vorkommender 
hysterischer Erscheinungen sind Vorstellungen sicher nicht vorhanden. 
Warum konnen Hysteriker, wenn man ihnen ihre Stigmata nachweist, 
ganz erstaunt und erschrocken sein? Die Einwendung, daB in solchen 
Fallen eben deutlich werde, daB die Vorstellungen vorhanden sind, 
aber der betreffenden Person nicht klar bewuBt werden, widerspricht 
aller Psychologie des Vorstellungslebens. Denn es wurde unerklarlich 
bleiben, daB eine so gewaltige Wirkung einer Vorstellung eintrete, ohne 
daB diese letztere bewuBt, und zwar klar bewuBt werde. 

Mit der Verschiebung der Vorstellung in das UnbewuBte, riickt man 
dieselbe liberhaupt aus dem Felde der Suggestion hinaus, weil die Reali- 
sierung der hysterischen Produkte sich dann nicht mehr den diesen 
adaquaten Vorstellungen, sondem Vorstellungen ganz anderen Inhaltes 
anschlieBt. Eine Vorstellung im UnterbewuBtsein konnte schon deshalb 
als Kausalitatsfaktor nicht geltend gemacht werden, weil dieselbe als 
eine Annahme gilt, welche zur Erklarung mangels einer Erkennungs- 
moglichkeit nichts beitragen kann. Die Lehre von den unbewuBten 
und den unterbewuBten Geistesprozessen ist ein bequemes Haus ge- 
worden, in welches man schlieBlich alles als glanzendes Meublement 
hineinstellen kann, was man dem kritischen Auge der Offentlichkeit 
entrucken will. 

Da die Hypnose hauptsachlich als jener psychische Vorgang gilt, 
in dem die Suggestion am meisten zur Geltung kommt, ist man auch 
weiter gegangen und hat die Hysterie als einen der Hypnose analogen 
ProzeB bezeichnet. Deswegen aber, weil ein Vorgang in der Hypnose 
durch Suggestion zustande kommt, muB doch noch lange nicht jedes 
Vorkommen desselben auf Suggestion beruhen. Weiter bedeutet es einen 
falschen FehlschluB, deswegen, weil die Suggestion in der Hypnose 
produktiv wird, jeden ProzeB, in welchem die Suggestion als reali- 
sierendes Moment in Betracht kommt, mit der Hypnose zu identifi- 
zieren, im gegebenen Falle die Hysterie als gleichbedeutend mit 
Hypnose zu bezeichnen oder gar als Art der Gattung Hypnose unter- 
zuordnen. 

Der Fehler im SchluBaufbaue liegt in jener Pramisse, welche das 
tatsachliche richtige Verhaltnis zwischen Suggestion und Hypnose in 
dem Sinne, der besagt, in der Hypnose kamen die Wirkungen durch 
Suggestion zustande, durch ein vorgesetztes nur in ihrem Sinne voll- 
standig andert. Nur in der Hypnose werden Suggestivvorstellungen 


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E. Herzig: 


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realisiert. Diese Realisierung ist eiii Charakteristicum der Hysterie. 
Folglich ist die Hysterie Hypnose. 

DieLehre von der Suggestion gelangte zu so allgemeiner Anerkennung, 
wie sie sie heute besitzt, groBenteils deswegen, weil sie auf therapeutische 
Erfolge hinwies. Ich nahm schon die Gelegenheit wahr, auf das Fehler- 
hafte des Ruckschlusses aufmerksam zu machen, der von einer Wirksam- 
keit in der Therapie auf die Genese gezogen wird. Ob die Suggestion 
auf dem Gebiete der Therapie wirklich so uneingeschrankt herrscht, 
wie es scheinen kann, ist eine um so schwerer zu entscheidende Frage, 
als die reine Wirkung der Vorstellung an sich kaum priifbar ist. Denn 
nicht als solche wird sie vom Individuum im BewuBtseinsschatze auf- 
tretend gefunden, sondem stets schon mit der psychologisch von ihr 
nicht zu trennenden Begleitung des Affektes. Man hat gerade in der 
Therapie sich zu sehr daran gewohnt, jede Art seelischer Beeinflussung 
Suggestion zu nennen. Dieser laxe Sprachgebrauch wirft den durch 
tJberzeugung erreichten Erfolg mit dem durch tlberredung erreichten 
zusammen, insbesondere dami, wenn neuro- und psychopathologische 
Eigenschaften, z. B. Neurasthenic, die Feststellung etwas erschweren. 
was auf Rechnung der einen und was auf Rechnung der anderen zu 
setzen sei. 

Charcot hat nirgends eine Definition der Hysteric* gegcben. Aber er benennt 
sie einmal die Psychose par excellence, ein andermal ein Leiden, welches zu divi 
Vierteilen als psychisches Leiden aufgefafit werden niiisse. Gegen die Auffassung 
ini erstcn »Sinne spreehen alle Falle von Hysterie, in denen dieselbe ohne geistige 
Stoning als reine Xcuro.se entgegentritt. DaB Charcot zu der Auffassung einer 
rein psychotischen Erklarung der Hysterie kani, liegt wohl an den Eigenheiten 
d(*s Krankenmaterieals, an welchem er seine Studien machte und an der Anleh- 
nung an G eorget, der vor ihm am gleichen Orte und zum groBen Teile am gleichen 
Materiale iiber das Thenui der Hysterie gcarbeitet hatte. Die zweite Stolle kann 
in der Kontroverse nicht verwertet werden, weil Charcot nirgendsangibt. als was 
das vierte Viertel zu betrachten sei. Sogar fur die traumatische Hysterie, fur welche 
die deutschen Autoren dem Unfall eine materielle Wirkung auf das Nervensystem 
cinraumten, hat Charcot nicht das Trauma, sondern lediglich die damit verbundene 
Gemutsersehiitterung als den Ausgangspunkt der anschlieBenden hysterisehen 
Erkrankung angcschen, indem die mit dem Schreek verbundenen Vorstellungen 
als Suggestionen fortwirkten. 

Den klarsten Aufbau der rein psychischen Auffassung des Wesens der Hysterie 
hat die franzosische Theorie in den Darlegungen Janets gefunden, fiir den die 
pathologische Zerstreutheit der Hystcriker und die dadurch bedingte Einengunu 
ihres BcwuBtseinsfeldes die Grundlage des Krankheitszustandes bildet. Xach 
J a net ist die Hysterie eine Gcisteskrankheit, welche zu der Gruppt* der Krankheiten 
durch cerebrale Erschopfung gehort, weshalb sic auch durch psychische Svmptonn* 
charakterisiert sei, wahrend die physischen Kranklieits<*rscheinungen unbestimmt 
bleiben. ,,Das Hauptsiichlichste ist eine Abschwachung der Fahigkeit zur psycho- 
logischen Synthese, eine Willensschwiiche, eine Eincngung des BewuBtseins, welche 
sicli auf eine eigenartige Art kundgibt 1 ). 44 

J ) Janet, Der G< isteszustand der Hysterisehcn. (Cbersetzt von Kahane). 


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463 


I Me* Hysteric Xcurose oder PsvchoseV 

Diesel be komme zustande, indomcino gowissc Zahl elementarer Empfindungs- 
vi »rs tell linden nicht niehr wahrg* nommen wird, wodurch diesclbo aus der person- 
lichen Auffassung au>g<*schalt<*t erseheine. Dieser Vonrang respektive Dcfokt er- 
z«*upe eine T< ndenz zur dauernden mid vblligrn Spultung der Persbnlichkeit; 
die zu den versehiedenen Per.dinliehkeiten pchbr nd< n p-vchologischcn Tatsachen 
l«>s» n sich grgenseitig ah oder bestehen nebeneiminder. Darauf beruht aueh, daB 
•uiBerhalb der Kontrolle des SrlbstbewuBtsc ins .dx ^tiimnte parasitare Vorstel- 
aingcn“ sich entwickeln. w.delie sicii durch verseliiedenartijrste. nur scheinbar 
jiiisschlieBlich psychischo Moningen kuun.vi h< n. Der Effekt jener Schwaclu* der 
p-ycv.ol gisohen Synthese s< i <i:;> Art von m i-tiire r Zcrsplittcrung. 

.Janet nininit al<<> zwei <bundle,n d< r Hysteric an: die Abspaltung von 
"Bewiiflt*ein.*antcilen und die Sehwiiehe des Komhinationsvermbgens (do la synthase 
psycholoyique). Indein Mobiussieh beniiiiite, zwi-eiien iliesen heiden Faktoren 
cine Verbindung ausfir.dig zu maelien, kani er dazu. die BewuBtscinsspaltung als 
das Primarc der Kombinationssehwaehv‘ als deni S kundaren g«geniiberzustellen. 
In der Analyse d< r Psvehologie jener Y T nr gauge g< langte .la net ulx r den Yorstel- 
luncslx griff nicht hinaus, weilerinder Empfindung ni< I t Psychisehes salt, sondern 
nur den physhehen Ikgleitvorgang der Empfindungsvor.-tellung. Hiitte sich 
.Janet weiter g< fragt mu h dein Drunde jener BowuBtM insspaltung und Kombi- 
nation.'Schwache, dann hiitte ihn di“ psvehol< igisehe Analyse zur Erkenntnis ge- 
fiihrt, daB beide ihre gemeinsame Fundic rung in der Wirkung von Geniiitshewe- 
gungi-n hahen, die erfahrungsgemaB die lk ziehuncr* n zwbehen AuBenwclt und 
BewuBtsein zu lenken vermbgen. 

Fur die Auslese lx : timmter kbrperlicher Erseheinungen glaubt Janet 
init unbewuBter Eklektik der Kranken auskommen zu kdnnen, welche init 
dein Alter in grsctznui Bigem Zusammenhange stehen soli: cine Annahme, 
welche nach den FesDtvllungen vieler Autoren init den Tatsachen in Wider* 
spruch steht. 

Wiihrend Janet gerade im Fehlen best imm ter psychologisehc r Vorstellungs- 
< leinente die Ursaehc* der Krankheit sucht, haben andere fast unigekehrt gerade 
im Heraushelxm hestimmter YYirstollungskoinplexe grgeniiber den anderen ihre 
Begriindung finden wollen. Wiihrend dort die* Sehwiiehe der Empfindungsvor- 
fctellungen und sehon gar deren Fehlen einen Willensakt uherhaupt nieht in Er* 
seheiming treten IiiBt, sell hier eine patholngisehe Stiirrigkeit gegeniiber aller Ver- 
nunftmotivation vorhanden sein. 

Diese beiden Ansichten haben das Gemeinsame, daB sie die rein 
psychologisehc Theorie der Hysteric an den Ausgangs- und an den End- 
punkt ihrer Erorterungen setzen. Insofern sie allein die ihnen passenden, 
tatsachlich durch Vorstellungen begrundeten hysterischen Krankheits- 
erseheinungen in Bet nicht ziehen, hat cincr, dor eine andere Theorie 
festhalt, keinen Grund, sich in eine Kontroverse zwisehen beiden Mei- 
nungen einzumisohen, ziunal er dot h die Pramisse iiberhaupt nicht gelten 
IiiBt, daB hysterisehe Krankhoitserscheinungon nur durch Vorstellungen 
hervorgerufen werden. In diesem Punkte gilt die Abweisung fur beide 
Theorien in der gleichen Weise. Ob man annimmt, wegen fehlender 
Vorstellungen koinmo es zum Fehlen eines zu ihrer Realisierung not- 
wendigen Willensaktes, oder die andere Meinung vertritt. ein einseitiges 
Festhalten an dieser oder jener Vorstellung oder \ T orstellungsreihe 
iindert nach der angekiimpften Richtung bin nichts, so daB fiir beide 

Z. f. d. g. Nt»ur. u. Psych. 0. XXXVII. 3Q 


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464 


E. Herzig: 


Theorien gemeinsam die Zuriickweisung gegeben ist, wenn die beiden 
gemeinsame Voraussetzung widerlegt ist. 

Janet selbst scheint mirdie zweite Ansicht abzuweisen, wenn er davor wamt, 
fixe Ideen zur Grundlage aller hysterischen Erscheinungen zu machen. Indem er 
n&mlich seine Theorie von der Einengung des Ich-BewuBtseins zur Erklarung der 
An&sthesien heranzieht, betont or, daB die cerebrale Tatigkeit in ihrer Gesamtmenge 
verringert zu sein scheine. Es konne noeh jedes einzelne corticale Zentrum in 
funktionelle Erregung versetzt werden, aber die verfiigbare nervose Kraft konne 
nicht mehr mehrere Zentren zu gleicher Zeit wecken. Wahrscheinlick seien diese 
corticalen Storungen in die Assoziationszentren zu verlegen, wahrend die Schwaehe 
aller anderen corticalen Zentren als sekundare Schwaehe aufzufassen sei. Die 
Empfindungen und Vorstellungen des kranken Individuums besitzen den groBten 
EinfluB auf die Verteilung des verfligbaren Restes der Aktivitat, woraus sich der 
Einflufl der fixen Ideen erklare. Da diese Erscheinung keine bei Hysterie allge- 
meine sei, konne sie nicht zur Erklarung des Ursprunges der Krankheit heran- 
gezogen werden. 

Unter jenen Autoren, welche sich in der energischsten und lebhaftesten Art 
fur die Suggestionsgenese der Hysterie eingesetzt haben, nimmt einen Platz in 
den Vorderreihen Babi nski l ) ein. Ein groBer Teil seiner wissenschaffclichcn Arbeit 
gait dem Thema der Zergliederung der Hysterie. Er gelangte zum Schlusse, daB 
als hysterisch nur das bezeichnet werden konne, was durcli Suggestion erzeugt und 
durch Persuasion wieder entfemt werden konne. Den Begriff der Persuasion setzt 
er gleich dem der Suggestion vernunftiger Dinge. Er weist jeden EinfluB von 
Gemiitsbewegungen auf die Genese der Hysterie ab und bemerkt, daB in keinem der 
Falle, in deren Atiologie diese eine Rolle spielen, es sich um Hysterie handle. 

Diese Trennung von suggestiver und gemlitlicher Beeinflussung ist 
psychologisch undurchflihrbar, da ja die Suggestion ebenso wie die Persua¬ 
sion immer aus das innigste mit Gemiitsbewegungen verknlipft ist und 
nach aller psychologischen Erfahmng erst die letzteren der Vorstellung 
jene Triebkraft verleihen, die ihr eine Einwirkung (in positivem oder nega- 
tivem Sinne) auf das Willens vermogen ermoglichen. Unter den vielen 
aus der Front unserer Anstalt zugewaehsenen Kranken befand sich eine 
betrachtliche Zahl von solchen mit ersten hysterischen Zufalligkeiten. 
Eine suggestive EinfluBnahme koimte in vielen gar nicht statthaben, 
weil eine verbale Verstandigung weder direkt noch indirekt (durch einen 
Dolmetsch) moglich war, ich es andrerseits vermied, durch meine Gesten 
eine suggestive Wirkung auszuiiben. Gleichwohl war es durch An- 
wendung des faradischen Stromes ohne weiteres moghch (wenn auch 
nicht immer), die hysterischen Symptome in kurzer Zeit zum Schwinden 
zu bringen. Offensichtlich war es bei dieser Wirkung wenigstens nicht 
eine Vorstellung allein, welche den Effekt der Losung zur Folge hatte 
und schon gar nicht jene, welche dem Effekte adaquat war, sondem die 
schmerzgefuhlsbetonte Empfindung. 

Diese psychologischen (oder rich tiger psychopathologischen) Theorien 
gehen liber den Begriff der Vorstellung nicht hinaus, stellen ihn als eine 

*) Babinski. Deniembremcnt de Physteric traditionelle. 


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Dio Hysterie -Neuro so oder Psych use? 


465 


elementare Einheit hin, wenn nicht explicite, so doch implicite, da sie 
keinen Versuch machen, denselben zu zerlegen. Ein solches Vorgehen 
ffihrt zu einer Losung, die nur im Sinne der Assoziationspsychologie 
als eine abschlieBende betrachtet werden kann. 

^Gegenuber dieser assoziationspsychologischen Auffassung hat Mobius her- 
vorgehoben, dafl es sich nicht urn reine Vorstcllungen, sondem um Vorstel- 
lungen plus Wollen handelt, um ein psychisches Gebilde, welches er seelisches 
Radikal nennt. Der Inhalt dieses Radikales soil beim Hysterischen ein Nicht- 
konnen sein. Es muB also, gemessen nach den allgemeinen psychologischen Be« 
griffen, dasselbe als cine Anderung der psychpphysischen Funktionalitat sioh 
darstellen, nicht wie die rein psychischen Theorien notgedrungen annehmen, ein 
Nicht-Wollen-Konnen. 

Den psychischen Theorien gegeniiber ist darauf hingewiesen worden, 
daB zahlreiche hysterische Krampf- und Lahmungserscheinungen sowie 
hysterische paroxystische Zufalligkeiten Folgewirkungen von emotivem 
Shock sind, welche nur durch intense Erapfindungen, also rein sensorielle 
Geftihle verursacht sind. In alien diesen Fallen ist die in einer korperlichen 
Fixierung sich ausdrfickende hysterische Konversion vollstandig unab- 
hangig von einer affektbetonten Vorstellung; in ihnen wurde ilberhaupt 
keine Vorstellung und keine assoziative Vorstellungsreihe geweckt. Bei 
denselben kann auch eine Erinnerungsvorstellung zur Erklarung nicht 
herangezogen werden. Diese Falle sind ganz besonders geeignet, nach* 
zuweisen, daB dem Ausdrucke „durch psychische Vorgange" in der in 
den Eingang gestellten Definition der Hysterie eine Ausdehnung ge- 
geben werden mfisse, die fiber den nachstliegenden Sinn der Worte 
hinausgeht, wenn man es nicht vorzieht, mit Rticksicht auf die Tat- 
sachen der psychologischen Analyse diese heute noch fibliche Definition 
fallen zu lassen. 

Diese Erscheinung, daB nur aus Empfindungen entstehende, also 
sensorielle Geffihle, die Auslosung werden ftir hysterische Erscheinungen, 
ist in der gegenwartigen Kriegszeit klar vor die Augen gestellt worden. 
In den abgelaufenen zwei Jahren habe ich eine groBe Zahl von hyste¬ 
rischen Krankheitsfallen gesehen, bei denen dieselben nur durch die 
schweren Kriegstraumata, insbesondere durch Minen- und Granaten- 
explosionen in Erscheinung gebracht wurden. Zum groBten Teile bieten 
gerade diese Falle die hysterischen Stigmata in solcher Klarheit, daB 
man unter den anderen, durch Wahmehmungs- und Erinnenmgsvor- 
stellungen ausgelosten Fallen kaum annahemd eine gleiche Prazision 
im Krankheitsausdrucke findet. In der Friedenszeit konnte ich analoge 
Falle unter den Frauen beobachten, wahrend unter den Mannern kaum 
fihnliche zu finden waren. Wollte man hier mit einer psychischen Er- 
klanmgstheorie das Auskommen zu finden hoffen, dann stieBe man wohl 
immer und immer wieder auf unfiberwindliche Schwierigkeiten in der 
psychologischen Analyse. Diese Erkrankungen ffihren zur Festigung 

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E. ITerzisr: 


cler Auffassung, daB das Zustandekommcn dr-r hysterischen Symptome 
durch Beeinflussungen sich vollzieht, die aus den unwillkurlichen korper- 
lichen Ausstrahlungen von Gemutsbewegungen entspringen. 

Diese Falle beweisen, daB zahlreiche hysterische Krampf- und Lah- 
mungserscheinungen sowie hysterische Paroxysmen Folgewirkungen 
eines emotiven Shocks sind. Die bei den meisten unserer Kriegspatienten 
vollstandig unzureichende Anamnese gestattete mir nicht die Bildung 
eines festen Urteiles, ob bei den meisten oder alien oder nur wenigen 
der Betroffenen fur die Vorzeit eine hysterische Veranlagung nachge- 
wiesen werden kann. Da ich deswegen keinen AnlaB habe, von der 
allgemeinen Annahme abzugehen, ineine ich, daB jene Erscheinungen 
hauptsachlich dann eintreten werden, wenn auf dem Boden hysterischer 
Stimmungsanomalien ein verhaltnismaBig geringfiigiger Zuwachs emo- 
tioneller Erregung Entladungen der Gehirnzentren herbeiftihrt. Hier 
ist die Auslosung der hysterischen Erscheinungen von Vorstellungen 
ganz unabhangig, weil gerade die Hemmung der Assoziationsvorgange 
die Folgewirkung der Emotion war. Ebensowenig wie um aktive Vor- 
stellungen kann es sich hier um Wirksamkeit bestimmter Erinnerungs- 
bilder handeln. 

Die zweifache Moglichkeit der Hervorrufung hysterischer korper- 
licher Erscheinungen durch Vorstellungen und durch sensorielle Vor- 
gange fiihrt dahin, den Grand der Entstehung jener Erscheinungen in 
einem Faktor zu suchen, welcher beiden genannten psychischen Vor- 
gangen gemeinsam ist, der bei beiden vorkommt. Dieser gemcinsame 
Faktor ist der Affekt, dessen Genese eine doppelte psychologisclie Atio- 
logie haben kann: aus den Vorstellungen oder aus den Empfindungen. 
Die zweite Art der Atiologie laBt namiich eine Erklarung, wie man sie 
fur die erste zurechtgelegt hatte, uberhaupt nicht zu, wodurch die Not- 
wendigkeit entsteht, entweder die Gleichheit der verursachten Er¬ 
scheinungen zu leugnen oder einen weder mit den Vorstellungen noeh 
mit den Empfindungen identischen. denselben ubergeordneten Faktor 
oder einen mit denselben in gleicher Weise verknupften psychischen 
oder psychologischen Faktor als verursachendes Moment einzusetzen. 
Die Leugnung der Gleichheit widerspniche aller Erfahrung, der ge- 
suchte iibergeordnete Faktor existiert nicht. Der drittc Weg fiihrt zu 
dem eben angefiihrten Result at. 

Zu den psychischen Theorien gehoren selbstverstandlich aueh jene. 
welche das Wesen der Hysteric in einer Eigenart des Affektlebens er- 
schopft sehen. Ein(‘ eigcne Widerlegung derselben ist nicht notwendig, 
wenn man das schon Gesagte liber die Unmoglichkeit des Psychischen 
uberhaupt, die normalen Ausdrucksbewegungen in abnormale umzu- 
setzen, ohne daB das Psychische in sich eine Abanderung seiner Seins- 
form erfahren hat. nicht aus dem Auge verliert. Diejenigen. welche. 


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Die Hysterie Neurose oder Psychoses 


467 


uni jene Eigenheit des Affektlebens zu erklaren, auf die den Affekten 
zugrunde liegenden Vorstellungen hiniibergreifen, geraten damit in 
dieselben Schwierigkeiten, wie ich sie fiir die Suggestionstheorie der 
Hysterie auseinandersetzte. Andere, welche auch das niedere, an die 
Organempfindungen gebundene Affektleben einbeziehen, offnen sich 
damit noch nicht die Pforte zur Erkenntnis, wie gerade das Atypisehe 
der Ausdruckserscheinungen zu erklaren ist, solange sie den physischen 
Riegel vor der Psychologic der Hysterie nicht zuriickgeschoben haben. 
Tm eigenen VatcTlande erstand den Hauptverteidigem der psychischen 
Theorie ein scharfer Gegner. 

Bernh(M'm hat au.s der Gen esc der Hysterie das psychische Element als not* 
wendigen kausalen Faktor ansgeschieden. Xach ihm stellen sich die hysterischen 
Erscheinungen, welche als kbrperliche Krankhcitserscheinungcn zur Erscheinung 
koinmen, als reine Reflexe dar. Personen, welche sich in cinem besondcrs gesteiger- 
ten reflektorischcn Errcgungszustande bcfinden, nennt er hyst^risablcs, gleich- 
giiltig, ob sie goistig gcsund oder krank sind. Diese Neigung zu einer gesteigerten 
Reaktion sei erst dann als hydcrisch anzuschen, wenn sie einen besondcrs hohen 
Grad erreicht hat und < inr' besondcrs leichte Ansprechbarkeit der Reflexe gegeben 
ist. Die hvsterischen Stigmata schaltct er au.s deni Bilde dieser Reaktionsforni 
aus und wrist ihnen cine* "rnlJe Si Ibstandigkcit zu, indern er sie als Psychoneurosen 
der Sendbilitiit und Motilitat auf fa lit, die durch Suggestion und Autosuggestion 
leicht hervorgerufen werden konnen. Da sie auch bei anderen als hysterischen 
Individuen sich finden, hangen sie nicht von der Hysterie, sondern von den zu 
ihr hinzutretenden psychischen Erkrankungen ab. Das Wort Hysterie miisse den 
Krisen vorbehalten werden, die als gesteigerte psychophysiologische Reaktionen 
aufzufassen st ien. 

Breuer stollt das psychische Moment des Affektes nur fur den Anfang 
der Krankheit als notwendig hin. wahrend es spater verschwinden soli, indem dann 
die urspriinglich affektive Vontellung nicht mehr den Affekt, sondern nur den 
abnormen Reflex hervorrufe. Diese Meinung laBt also gerade jenen Vorgang ver¬ 
schwinden, welcher nach aller Psychologic nicht fehlen darf, damit es zum Auftreten 
einer Handlung konin.e, die als von einer Vorstellung ausgelost anzusehen ist, 
Eine solche Loslosung einer Vorstellung vorn Affekte ist eine Unmoglichkeit. 
Jede auftretende Vorstellung wird sofort. von dem ad ii qua ton Affekte umgeben. 
Denken und Fiihlen sind zwei untrennhar verbundcnc St elcnmerkmale; eines ohne 
das andere kann nicht existieren. Es ist daruin undenkbar, da 13 eine Vorstellung, 
nach noch so Linger Gewohnung oder nach noch so haufiger Wiedorholung, jemals 
ohne ihre zugehdrige Gefii his he tonung auftrete. Eine Abschwachung des Affektes 
kann eintreton und wird nach psycho logi seller Erfahrung irn Laufe der Zeit 
t intreten, eine Verschwinden des Affektes nie. Die Ansicht Breuers begegnet also 
e iner uniiberwindlichen psyehologischen Schwierigkeit. 

Eine ganz besondere Stellung unter den Hysterietheorien nimmt jene 
ein, welche die Hysterie zu einer reinen Willenspsychose macht. Soko- 
lowski 1 ) hat als Anhanger derselben die Hysterie bezeichnet als: 
Kranksein als Aquivalent des psychischen Gleichgewichtes bei subjektiv 
empfundener Unzulanglichkeit entarteter Individuen. In dieser Defi¬ 
nition wird vor allem iibersehen, daB es sich bei der Hysterie nicht um 

*) Sokolowki, Zontralbl. f. Xervcnhcilk. 189B. 


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468 


E. Herzig: 


ein Kranksein einfachhin, sondem um eine ganz bestimmte Form des 
Krankseins handelt, welche durch das Auftreten von korperlichen Er- 
scheinungen bei Affekten charakterisiert ist, von Erscheinungen, 
welche nicht als der typische Ausdruck der letzteren anzusehen sind. 
Der Wille kann nur jene korperlichen Ausdruckserscheinungen hervor- 
bringen, welche bereits in dem Korper ihre Grundlegung haben, so dafi 
der Wille in der Hervorbringung an das Physische gebunden scheint, 
also auch nur dann eine abnorme, vom Typus abweichende korperliche 
Ausdruckserscheinung auftreten lassen kann, wenn dieselbe in den Eigen- 
heiten des Nervensystems begriindet ist. Fur gewohnlich geniigt ja 
der Wille zum Kranksein nicht, um krank zu sein, auch dann nicht, 
wenn das psychische Gleichgewicht schwer gestort ist, auch dann nicht, 
wenn die Unzulanglichkeit recht intensiv empfunden wird und schliefi- 
lich auch bei einer Entartung im allgemeinen nicht. Es wird eine ganz 
bestimmte Entartung gefordert, und zwar eine nervose, nicht eine rein 
psychische Entartung. Diese Theorie hat das Bestreben, die HyBterie 
im Begriffe der psychischen Degeneration aufgehen zu lassen. Die Inten¬ 
tion schlechtweg krank zu sein, bildet das Primare, wahrend die Krank - 
heit, ihr Charakter und ihre Symptome erst als Ausfliisse dieser Intention 
sich ergeben oder zwar als schon vorhanden in ihren Dienst treten und 
pathognomonisch erst in zweiter Linie stehen. Nach meiner Meinung 
besteht zwischen den beiden Disjunktionen dieses Satzes ein wesent- 
licher Unterschied. Im ersten Falle erscheint das ganze Krankheitsbild 
als Resultat des Wollens, im zweiten aber erscheint die Selbstandigkeit 
des korperlichen Krankheitsbildes ganz ebenso sichergestellt, wie dort, 
wo dasselbe ausdnicklich als der Ausdruck eines eigenen neurotischen 
Prozesses aufgefafit wird. Diese erstere Auffassung wiirde sich mit dem 
Janetschen Fehlen der psychologischen Synthese decken, zumal (nach 
Sokolowski) der Wille einen assoziativen ProzeB bedeuten soli, dessen 
Korrektheit lediglich von der Klarheit und Korrektheit der vorhandenen 
Erinnerungsbilder und von der Exaktheit, mit welcher sie zitiert werden, 
abhangig ist, darin aber wtirde sie iiber Janet hinausgehen, dafi sie 
alles Neurotische aus dem Begriffe der Hysterie ausscheidet. 

Als die erkennbaren Bestandteile jeder menschlichen Handlung 
bilden Affektursache und Affektausdruck die beiden Enden einer Reihe, 
welche ihre psychologische Verbindung durch den aus der Innenerfahrung 
bekannten Affekt findet, der im Falle der Hysterie mit der Affektursache 
kausal, mit dem korperlichen Phanomen funktional verbunden ist. Was 
tatsachlich vorgefunden wird, ist die Inadaquatheit zwischen Affekt¬ 
ursache und Affektausdruck. Ob nun ein Mifiverhaltnis zwischen Affekt¬ 
ursache und Affekt oder zwischen Affekt und Affektausdruck besteht, 
hat die psychologische Untersuchung zu entscheiden. 


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Die Hysterie Neurose oder Psychose? 


469 


Im eraten Falle ergibt sich die von einer Reihe von Autoren ala 
Dissoziation, im zweiten die von anderen als psychophysische Dis¬ 
proportionalitat bezeichnete Erscheinung. Auf die erstere Deutung 
fiihren alle Theorien hin, welche im Psychischen das Wesen der Hysterie 
erschopft haben wollen, wahrend znr zweiten alle jene hinneigen, welche 
fur die hystqpschen Korpererscheinungen eine rein psychische Genese 
als nicht zureichend zur Erklarung halten und meinen, dab das Ab- 
weichen derselben von der funktionellen Norm eine eigene Erklarung 
nur aus den Innervations verhaltnissen, also aus einem physischen 
Momente, finden konne. Die nervenmechanische Erklarung Bins- 
wangers tragt diesem Postulate voll und ganz Rechnung. Hellpach 
riigt an derselben, dab sie sich zu weit in den Bereich der nervenmecha- 
nischen Theorie hinein entfeme, weil ,, Inner vationsvorgange hypo- 
thetische Prozesse sind, von denen noch niemals jemand etwas beob- 
achtet hat“. Die Definition Kraepelins sagt ihm mehr zu. Den Aus- 
druck: psychophysische Disproportionalitat bei Bi ns w anger und Hell¬ 
pach hat Skliar dahin gedeutet, es solle mit ihm eine Inkongruenz 
zwischen Reizstarke und psychischer Reaktion bezeichnet werden, 
weil mit der Zunahme des Reizes beim Hysteriker in vielen Fallen gar 
keine oder zuweilen gar eine entgegengesetzte Reaktion erfolge. Das 
Wort selbst fand ich bei Binswanger nicht. Er redet von„Storungen 
des Gleichgewichtes zwischen den erregenden und den hemmenden 
Vorgangen innerhalb der Zentralnervensubstanz“, „von Storungen im 
Ablaufe der Vorgange der materiellen Reihe einerseits und jener der 
geistigen Reihe andererseits“. Solche Redeweisen konnen wohl noch 
ftir fehlende Reaktion, aber wohl nur durch gewaltsame Interpre¬ 
tation fiir eine der normalen entgegengesetzte Reaktionsart angewendet 
werden. Hellpach bezeichnet als psychophysische Disproportionalitat 
die Storung der normalen Zuordnung der Ausdruckserscheinungen zu 
den Geftihlserlebnissen, welche nach drei Richtungen: als qualitative, 
intensive oder extensive sich aubern konne. Die einzelne Storung konne 
nur nach einer, nach zwei oder nach alien drei Richtungen erfolgen. Nur 
die qualitative Storung konnte an sich als eine der Norm entgegenge¬ 
setzte Reaktion betrachtet werden. Hellpach erklart dieselbe aber 
ausdrucklich nur als eine unter den normalerweise auftretenden Reak- 
tionen nicht vorkommende und hebt hervor, dab unter aubergewohn- 
lichen Umstanden und bei schweren Affekten die Vorbilder aller jener 
in der Hysterie vorkommenden Erscheinungen gegeben sind. 

Besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Auffassung 
Binswangersund jener Kraepelins, nach welcher als das wesentliche 
Kennzeichen der Hysterie zu betrachten ist die „auberordentliche 
Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit welcher sich psychische Zustande 
in mannigfaltigen korperlichen Storungen wirksam zeigen?“ Diese wie 


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E. Herzig: 


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jene enthalten sich jeden Urteiles iiber die Art des in Betracht kommenden 
Nervenprozesses. Binswanger hat allerdings seiner psychologisehen 
Grundanschauung, dem psychophysischen Parallelismus, auch bei 
dieser Gelegenheit der Feststellung des Charakters der hysterischen 
Veranderung Ausdruck gegeben, indein er das Wesen der hysterischen 
Veranderung darein verlegt, daB die gesetzmaBigen Wechaelbeziehungen 
zwischen der psychischen und materiellen Reihe gestort sind, indeni einer- 
seits fur bestimmte Reihen materieller Rindenerregungen die psychischen 
Parallelprozesse ausfallen oder nur unvollstandig durch jene gedeckt 
werden, andererseits einer materiellen Rindenerregung ein Gbermafi 
psychischer Leistung entspricht, das die verschiedensten Riickwir- 
kungen auf die gesamten Innervationsvorgange, die in der Rinde ent- 
stehen oder von ihr beherrscht werden, hervorruft. Hellpach wurcie 
seinen Tadel wahrscheinlich nicht ausgesprochen haben, wenn er jene 
Stelle in der Monographic Binswangers (S. 15) beachtet hatte. an 
der Binswanger auch im Ausdrucke Kraepelin so nahekommt: ..Die 
pathologische Mehrleistirng an psychischer Arbeit gibt sich demnac-h 
nicht allein in einer Steigerung der Gefuhlserregungen, in einer Yer- 
scharfung der Empfindungen oder in dem Auftauchen liberwertiger 
Vorstellungen kund, sondern auch durch die auffallende Leichtig- 
keit, mit welcher die psychischen Vorgange, vor allem die Vorstellungen, 
auf alle hysterischen Funktionsstorungen einwirken. 44 

Die psychophysischc Disproportionalitat finch t nach Hellpach darin ihren 
Ausdruck, daB die normale Zuordnung der Ausdrmksersehcinungen zu den Gefiilds- 
erlebnissen qualitativ, intensiv und extensiv — jeweils in einer oder in zwei oder 
in alien d ic.se n Tlichtungcn — go?-tort orscheint. Ich deutete schon einmal an. 
daB die fiir Hysteric charakteristische »Stdrung «it:e qualitative ist, wahrond die 
intensive und extensive Stoning die Hysteric mit anden n Neurosen und IVy chosen 
gemeinsam hat. Auf welche Grundeigensohaft der nervosen Bahnen diesel be zuriiok- 
zufiihrcn sci, kann nach meiner Ansicht nicht gesagt werden. Das hindert aber nicht. 
daB die Forderung t iner nervdsen Stoning in ihrem Reehte bestehen bleibo. 

Der Versuch, jenen schon offer erwuhnten Innervations zustand in .u iiu‘r 
Qualitat zu bcstimmen. liat bei Sollicr die Ansicht au^gcbildct, dor?c lbe besteh.*' 
in eineni Zu stand des Schlafes einer mehr oder minder groBen Zahl von Hirnzcntren, 
welche einzeln oder mit andereii, gleichzeitig oder nacheinander davon befallen 
werden kdnnen. Die Ursaehe dazu liege am haufigsten in einer Erregung, welche 
das Individuum gegen das Entstohen und die Entwicklung von BewuBtsein gefuhl- 
los maehe. Als die Hauptursachc der Hysterie bezeichnrt er tine p.-ychixhe .Std¬ 
rung, einen Zustand von Erstarrung und mehr rdcr weniger tiefcm Schlafo dc r i r- 
wahnten Hirnzcntren, welcher durch die? Erregung au«gtdost und in Szeno gebracht 
wird. Diese Ansicht weieht schon incinem bemerkcn.swerton Punktv der Ausdrucks- 
weise von der seiner engeren franzdsischen Kollegen ab, da sie nie von jenen Z*n- 
tren spricht, wJchc schon damals als die Vorstdlung? zentren Ixkam.t wan n, 
namlich von den Hirnri nden zentren. Sollier hat st lbst die Abweichung in< r 
Ansicht von jener Janets erkannt und k larges tel It: Janet sehe bed der Hysteric 
nur eine psychologisehe Stoning, or aber cine phvsiologicshc; von jenem sci die 
elenientare Sensibilitat in der Hysterie als erhalten amrniomnu n, ihm gel to das 


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Die Hysterie Neuroso oder PsychoseV 


471 


Eehlen (ler Gehirnsensibilitat als wesentlich. Darum sei diesel be bei Janet eine 
Kolge der pcrsonlichen Synthese, with rend bei ihm von vornherein und primar 
die Gc hirnsendbilittLt an sich ins Auge zu fossen sei. Sollier tritt dor Meinung ent- 
grgen, a!s sei di? Vorstellving (Pidec) imstande. eine h\>terische Storung hervor- 
zurufen. Erst die durch sic bcstimmte Enxgung bringe das zuwege. Ob nun jene 
Emotion durch cine von auBen kommende Vor.-tel lung (par une image ext^rieure) 
oder durch eine Erinnerungsvorstellung (par une image ancienne, une id6e, un 
souvenir) verursacht wcrde, sei von keim r Bcdcutung. Der dadurch bewirkte 
Untcrsehied sei nur tin Unterschied in der Starke der Erregung. 

Zu dieser Theorie Solliers ist vor allem anzumerken, daB er mit 
der Heranziehung des Schlafzustandes zur Erklanmg nichts beigetragen 
hat, da uns liber das Wcsen des Schlafes bis heute nichts Sicheres be- 
kannt ist. Die einen schen den Grund in einer Anamie des Gehimes, 
andcre in einer Hyperamie. Es ist heute wissenschaftliehes Gemeingut, 
daB der Schlaf zwar ein Aufhoren des SelbstbewuBtseins und eine Unter- 
brechung des zeitlichen Zusammenhanges der psychischen Erlebnisse, 
aber kein Schwinden des BewuBtseins schlechthin bedeutet, da ja im 
Trail me sich psychisches Geschehen abwickelt. Sollier hat an der 
Thcorie Janets, deren Genialitat er anerkennt, ausgesetzt, sie sei nur 
eine Eeststellung. Und die seine? Was Sollier zum einfachen Tat- 
bestande, daB bei den Hysterischen zuzeiten bestimmte psychische 
Kornplcxe riicht verfligbar zu sein scheinen, hinzufiigt, ist Hypothese 
und nicht einmal gut begrundete. Demi furs erste: konnen die hysterischen 
Korperplianomene aus der Funktionsunfahigkeit bestimmter Him- 
partien erklart werden ? Z. B. die Tastempfindungen ? Furs zweite 
jene schon gekennzeichnete Sehlafhvpothese ? Mir weekte die Theorie 
Solliers den Eindruck, als habe dieser Autor den Begriff der Hysterie 
cinfach durch einen anderen, ebensowenig klaren und erklarten ersetzt: 
den des partiellen Somnambulismus. Was ist partieller Somnambulis- 
mus ? 

Den Mangel der Sollicrschen Theorie, eine Erklarung der Hysteric miteinem 
nuch unerklarten Begriffe versucht zu haben, suchte Oppenheim zu vermeiden, 
indem er eine Mechanik des nervosen Geschehens angab, welclie fahig und geniigend 
sein soil, die Grundlcgung der hysterischen Symptom a to logic zu bilden. Die Grund- 
lage der Hysterie sei in einer verminderten inneron Reibung der Molekiile des Nerven- 
systems zu suclien. Oppenheim selbst hat seine Ansicht als einen physiologischen 
Deutungsversuch bezeichnet. Als mehr kann sie auch nicht angesehen werden, 
da bei dem heutigen Stande der Gehirnphysiologic jede physiologisclie Dcutung 
notwendig in radikaler Theorie sich erschopfen muB. Dicse Theorie hat mit jenni 
von O nan off und Pitres gcmcinsam, daB sie als das Wesentliche an der Hysterie 
einen krankhaften Gehinizustand ansieht, aus dem sich zahlreiche pathognostischc 
Storungcn der Empfindung und Bewegung aueh ohne psychogene Eimnischung 
ergeben. 

Geboren wurden diese Auffassungen aus der seinerzeit noch mehr als 
heute vertretenen Anschauung, daB eine Theorie, welche auf objektiven 
Wert Anspruch erheben will, nur anatomischen Charakter haben konne. 


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472 


E. Herzig: 


Diese Anschauung wurde in weitreichendem MaBe von Meynert und 
Flechsig auf die Nerven- und die Geisteskrankheiten iibertragen, 
nach denen alles Psychische sich in einer mosaikartig gemusterten Hirn- 
rinde erschopfte. „Die schlechte Gewohnheit ist so eingewurzelt, dad 
Manner, die berufen waren, psychologische Fragen vom Fleck zu bringen. 
offenbar an nichts Psychisches ohne die gleichzeitige Halluzination 
eines Stiickes Gehim zu denken vermogen. Neun Zehnteln aller psycho- 
logischen Einfalle und Interpretationen wird der Weg mit der Cber- 
setzung ins Anatomische oder, was neuerdings mehr in Mode komnit, 
ins Physiologische verschiittet.“ (Hellpach.) 

Die Psychopathologie scheint in ganz besonderer Weise zur Beleuch- 
tung der Hysteriefrage beitragen zu konnen. Nur darf man nicht von 
vomherein jeden Fall geistiger Erkrankung, bei dem hysterische Sym- 
ptome sich geltend machen, als hysterische Psychose bezeichnen unddamit 
einen Standpunkt einnehmen, welcher, trotzdem er weder logische noch 
psychologische Berechtigung hat, von einem groBen Teile der Psycho- 
pathologen vertreten wird. Auch der Vorschlag Krafft-Ebings und 
Schules, als hysterische Psychose eine bestimmte Geistesstorung ab- 
zugrenzen, namlich jene, bei der ausgesprochen hysterische Symptome 
vorhanden sind, geht dem gemachten Vorwurfe der Nichtberechtigung 
nicht aus dem Wege. Daher finde ich die Bezeichnung hysterische 
Geistesstorungen fur Psychosen bei Individuen, welche Hysteriker sind, 
ohne weiteres Vordringen in die Eigenart der Psychose unzukommlich. 
Der Begriff des hysterischen Irreseins unterliegt bei solcher Auffassung 
naturgemaB weiten Schwankungen und gerade von psychiatrischer 
Seite ist man gegen ihn aufgetreten. 

Man stelle sich vor, wie viele von den Psychosefalien, welche nach 
klinischer Betrachtungsweise einer anderen bestimmten Form von 
Geisteskrankheiten zugewiesen werden, nach der vorerwahnten Auf¬ 
fassung aus derselben ausgeschieden werden miiBten, wie sehr aber 
gleichzeitig durch sie das Bild der Hysterie verschwommen gemacht 
und verzerrt wiirde. 

Die Stellung in der Frage Hysterie-Geisteskrankheiten ist ausschlag- 
gebend fundiert in der grundsatzlichen Losung: Ist Hysterie Psychose 
oder Neurose ? Ist Hysterie eine psychische oder psychophysische 
Krankheit? In ersterem Falle, in welchem die psychische Disposition 
allein das Fundament der Krankheit bildet, bleibt nur die Wahl, anzu- 
nehmen, daB zwei in ihren Merkmalen verschiedene Geisteskrankheiten 
gleichzeitig die Psyche beherrschen oder bei Vorhandensein von hyste¬ 
rischen Stigmatis die anderen Merkmale in ein psychologisches Prokrustes- 
bett zu spannen und auf diese Weise kiinstlich eine Konformitat dieser 
mit jenen zu erzwingen. Die erste Annahme ist nicht durchfiihrbar, 


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Die Hysterie Neurose oder Psychose? 


473 


weil sie der psychopat hologischen Erfahrung widerspricht. Die zweite 
wird dem Widerspruche nicht entgehen, zum Zwecke der Erreichung 
einea vorgefafiten Zieles den Erfahrungen Gewalt angetan und eine 
Pramisse des Schlusses zielentsprechend zugestutzt eingesetzt zu haben. 

Diesen Schwierigkeiten weicht die zweite, das Wesen der Hysterie 
betreffende Annahme ungezwungen aus. Sie spricht von Verbindung 
einer Neurose mit einer Psychose und hat es deswegen auch gar nicht 
notig, die Einschatzung der nicht ihrem Charakter vollstandig ent- 
sprechenden psychischen Symptome erst zu modellieren. 

Man mu6, sagt Charcot, die Hysterie fiir das nehmen, was sie ist, namlich 
fur eine Geisteskrankheit par excellence. Tut man das, so verstehe man auch, 
meint Gillesde la Tourette, daB es notwendigerweise einen besonderen hyste- 
rischen Geisteszustand geben muB, der, wie die dauernden Stigmata, zum allge- 
meinen Krankhcitebilde gehbrt. 

Charcot selbst hat den fur die Hysterie anzuwendenden Begriff der Geistes¬ 
krankheit iibrigens gar nicht in dem gebrauchlichem Sinne einer zeitlich begrenzten 
Erscheinung verstanden, sondem in dem, welcher eine psychopathologische Ab- 
weichung von der Norm einfachhin bedeutet, eine psychopathologische Charakter- 
anderung. Neben dieser kann eine Geisteskrankheit im engercn Sin no ganz gut 
selbstandig auftreten und bestehen, was bei der anderen Auffassung nicht moglich 
ware, da die Einfachheit der Psyche uniiberwindliche Schwierigkeiten entgegen- 
stellte. Die Hysterie ware dann bei alien nicht fiir sic spezifischen Geisteskrank- 
heiten nur etwas denselben einen bestimmten Ton und eine ganz eigentiimliche 
F&rbung Gebendes* was bei jeder derselben in derselben Weise auftreten und darum 
aus alien heraus als von jeder einzelnen Verschiedenes und Selbstandiges erkannt 
werden kann. | 

Wenn die Krankheitsgeschichten, welche er an seinen Demonst rations - 
fallen erlautert, in diesem Sinne aufgefaBt werden, diirften sich damit 
jene Vorwtirfe erledigen, welche man Charcot und seiner Schule machte, 
weil sie hysterische Erscheinungen an verschiedenartigen geistigen Er- 
krankungen und nicht an gleichartigen demonstrierten. Vielleicht lag 
es in der Absicht Charcots, seine Meinung von der Hysterie als psycho- 
pathologischer Charakterveranderung auf diese Weise zu bekunden, 
indirekt zu tim, was er direkt nicht aussprach. Die Hysterie bliebe dann 
nicht nur in der theoretischen Betrachtung jenes unteilbare, in sich 
geschlossene Ganze, welches auch in der Kombination mit den ver- 
schiedenen Geisteskrankheiton seine Selbstandigkeit bewahrt. 

Noch Jeichter ergibt sich die Losung der Frage nach der Verkniipfung der Hy¬ 
sterie mit Geistesstbrungen fiir diejenigen, welche mit Ziehen in der Hysterie eine 
funktionelle Neurose sehen. In diesem Falle scheint eine solche Verbindung ohne 
jede Schwierigkeit stattfinden zu konnen, weil dann dieselbe nirgends hindernd im 
Wege steht. Das sich hier ergebende Verhaltnis ware dasselbe wie zwischen Neur¬ 
asthenic und Geistesstbrungen. Abgeselien davon, daB dieser Vergleich die Stel- 
lung zu den andersartigen Geisteskrankheiten zu beleuchten imstande ist, bietet 
er auch die Moglichkeit, die Entstehung der spezifisch hysterischen Psychosen ins 
Iicht zu riicken. Denn wie man dann von neurasthenischen Geistesstbrungen 
spricht, wenn Psychosen in ihrem Charakter nicht die Symptome anderer Geistes- 


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474 


E. Herzig: 


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stoning til cincltutig erkennen lassen, sondern in ihrem Ablaufe die Merkmale der 
grundlcc x nden Xcurosc bieten, so hat man auch erst dann das Recht, von hvste- 
risdirr Psychose zu re den, wenn der Verlauf dcrselben olme Sckwierigkeit nnd ein- 
wandfrei die Symptome der im Korperlichcn vorher nachgewiesenen nnd gleiehsam 
ins Psychische iibertragenen hysterischen Eigenart erkennen labt. Alle anderen 
Falle bctrachte man als Koinbinationen. 

Eine dritte Auffassung nimmt der Hysteric ini Verlaufe von Ueistesstbrungen 
ihrc iSelbstiindigkcit, indem sie behauptct, das Vorkommen hysterischer Symptome 
bei letztoren sage blob, dab die vorhandenen Rindenerkrankungsprozes.se in der 
gleichen Weise wie bei dem Rindenerkrankungsprozeb der Hysteric kbrperliche Er- 
scheinungen machen konnen, welehe den bei den It tzteren auftMenden git ich sind. 
Die Eigenart der Hysteric wild al o damit gcleugnet, insoweit sic ihrcn Ausdruck 
in den hysterischen Stigmatis fir.det. Dicse \v< rdcn (naeh Xissl) nur dadurch zu 
hysterischen Symptomen, dab sir auf dem Roden des hysterischen Zustandes ent- 
stehen, dab sie psyehisch a us lbs bar nnd beeinflubbar sind nnd infolge des andaut rnd 
wirksamen hysterischen Zustandes jederzeit auftreten und ebenso spurlos wittier 
versehwinden konnen. Dieselben Stigmata konnen aber auch bei anderen Psycho- 
sen auftreten und gelten dann als der Effckt derselben allein. cine Kombination: 
Psychose plus Hysteric st i auszuschliebt n. 

Der groCte Teil der Falle von Seelenstorungen mil ,,sogenannten‘ 4 
hysterischen Symptomen gehort im Sinne der letzterwahnten Auffassung 
zur Katatonie und Hebephrenie, der Ideinere zum manisch-depressiven 
Irresein und zur Melancholic des Rtickbildungsalters. 

Mir scheint diese Auffassung ein circulus vitiosus zu sein, da sie ja 
die hysterischen Symptome aus dem hysterischen Zustande erkennen 
soil, zu dessen Kenntnis sie doch erst wieder aus ersteren gelangt. 

Dieser Auffassung g< gen liber luvt man den Xaehweis zu liefern, dab jene 
Geistesstbrungen nicht imstande sind, die hysterischen Kbrpererscheinungen 
hervorzurufen: Das Wesen derselben erschopft sich in den psyehischen Auberungen, 
jeder Affcktausdruck ist lx»i denselben dem tatsachlich vorhandenen Affekte qualita- 
t-iv ackujuat. Kommtcsdarum zu korperlichcn Erscheinungen. welehe nicht mehrals 
tie r naturiiehe. aus dem mensehlichen Typus abgeleitete Ausdruck der Affekte an- 
zuseht n sind, so mub fiir dieselben eine von dt*r spezit lien Gcisteskrankheit unab- 
hangige kausalc Be l riintluntr gefunden werclen konnen. Diesel be mub im Korper- 
lichen gesuelit werden, Weil die Insuffizicnz tier Psyche aus tier Xatur der Saehe 
gegeben ist. Man darf zur Bekraftigung dieser Ablehnung auch darauf hinweisen, 
dab im Falle der Richtigkeit der Theorie jene Fiiile gewib nicht, wie es tatsiichlich 
tier Fall ist, zu den Seltenheiten gehdren wiirden, in denen neben-den im einzelnen 
Falle spezifischen psyehischen Symptomen abnorme korperlichc Affektausdrucks- 
erscheinungen sieli kundgeben. 

Xissl glaubt, dab die Mt inungsverschiedeiiheiten fiber die Frage der Bezie- 
hungen zwischen Hysteric und den sogenannten einfachen Seelenstorungen von dem 
jeweiligen psychiatrischen Glaubonsbekenntnis der einzelnen Autoren abhangen. 
Er meint damit die Auffassung der Geistesstbrungen vom psychopathologischen 
Standpunkte, der inethodiseh seinen Ausdruck in der zweifachen Moglichkeit der 
syrnptomatologischen oder der klinischen Bet rachtungs weise findet. Zwischen diesen 
beiden Bet rachtungs weisen soil eine unuberbriickbare Kluft sich auftun. Ware 
sie aber vielleicht doch iiberbriickbar, wenn man iibcrlegtc, dab fiir eine vollkommene 
Erfassung die eine mit der anderen sich verbinden muB? Das psychologische Ge- 
biet verlangt ebon mehr als jedes andere, dab man sich von einer AusschlieBung 


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Die Hysteric Neurose oder PsychoseV 


475 


irgendeincs Gcsichtspunktes bei der Betrachtung seines Vorwurfcs fernhalte. 
Gerade die Hysteric ist geeignet. die Richtigkeit oincr solchen Auffassung zu be- 
weisen. zumal bci dicscr Krankheit die klinisehc Bo traehtungswei so allcin zu keinem 
befriedigenden Result ate fiiJirt, vielnichrc r.st durch die Vcrbindung mit der sympto- 
matologischen einen Einbliek verschafft. Allerdings darf man die symptomato- 
logische Betrachtiingsweise nicht a Is der psychologisohen inhaltlich gleich hin- 
stellen. Sonst wiirdc man aus ihr koine Sehliisse auf die hystorisehen Krankheits- 
zeichcn ziohon konnen, weil die Natur dorsclbcn durch cine psychologische Betrach¬ 
tung wenigstens nicht ersehbpft, somlorn nur durch cine psychophysiologische 
geniigend erf a lit wcrdcii kann. Die klinisehe Betraelitungsweisc soli bezuglich 
des Verhaltnissos zwischen der Hysteric und den einfachen Scelenstorungen zur 
Erkcnntnis fiihren. da 13 alle jene kbrpcrlichen Krankheit^zeielien, welche man ge- 
wbhniich a Is hysterisehe bezeiohnet , von jedor einzelnen der friiher erwahnten 
Geistestdrun.'icn hcrvorgebracht werden konnten, so da!3 es unnbtig sei, in der Dia¬ 
gnose iiberhaupt noeh die YYrseliicdenheit der Gchtosstorung und der Hysteric 
zum Ausdruck zu bringen. Unrichtig erseheint mir. da(3 Nissldie Kombination 
der beiden Krankhciten mit d«T Einsetzung der Hysteric in die Atiologie der be- 
stimmten Gcistcskrankheit glciele-etzt. Wenigstens diirfte seine Au^drucksweise 
keinen anderen Sinn zulassen: 1891 fiinde sich in der Heidelberirer Klinik zum 
letzten Male die Diagnose: Hystero-Mclancholio. ,,Von da tritt der atiologische 
Faktorder Hysteric nur nocli als h\>U risehes Irrescin diagnoetisch zutago/* 

Tatsachlich spielt nur bei diesem die Hysteric den ausschlaggebenden 
iitiologischen Faktor, wtihrend sie bei den anderen Geisteskrankheiten 
nur den Wert eines pradisponierenden Momentes hat. Als solches besagt 
sie eine Eigcntiimlichkeit des Nervensystems, welche wie alle neuropa- 
thischen Momente zugleich als priidisponierendes psychopathisches 
Moment gelten muB. Das hysterische Irresein hat daher notwendig die 
Symptome der Hysteric an sich, ist also durch die Veranderlichkeit 
und Fluchtigkeit des Zustandsbildes gekennzeichnet. Bei den anderen 
Geisteskrankheiten a her bilden die hvsterischen Krankheitserschei- 
nungen nur Zufalligkeiten, welche den Charakter und Ablauf des eigent- 
lichen chronischen Krankheitsprozesses nicht tangieren, demsclben nur 
eine Abandoning geben, durch welche sich der einzelne Fall von anderen 
der gleichen Krankheitsform abhebt. 

Die hystorisehen Psychosen sind in Diren Hauptsymptomen den gleich- 
benannten Psychosen nicht hysterischer Personen identisch. lhre Ab- 
trennung von letzteren erfolgt auf Grund von Eigentumlichkeiten, 
welche als die Spiegelbilder der kdrperlichen Merkmale betrachtet werden 
miissen. Die voile GewiBheit iiber den Charakter einer Psychose pflegt 
man allerdings erst nach dem Auftreten nnd durch den Nachweis von 
Korperkrankheitserscheinungen zu bekommen; aber man kann sich 
durch hiiufige Beobachtung eine grotie Gewandtheit in der Beurteilung 
unterkommender Krankheitsfalle erwerben, wobei noch dazu einiges 
Zuwartcn stets (lurch auftretende somatische Erscheinungen zum sicheren 
Urteile ftihrt, wenn nicht schon ein vorhergegangener hysterischer An- 
tall die Diagnose beleuohtet hat. Der unmittelbare Ursprnng aus einer 


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E. Herzig: 


Gemiitserregung lenkt die Aufmerksamkeit des Diagnostizierenden 
nach der Richtung zur hysterischen Psychose. 

Ala charakteristische Merkmale der hysterischen Psychose betrachtet 
roan allgemein: 

1. Den plotzlichen Beginn und den plotzlichen SchluQ des psycho- 
tischen Anfalles. 

2. Die verhaltnismaBig kurze Dauer (von selten mehr als einigen 
Wochen). 

3. Die plotzliche vollstandige Unorientiertheit iiber Ort, Zeit und 
Umgebung. 

4. Die Lebhaftigkeit und Mannigfaltigkeit der Sinnest&uschungen 
und die romanhafte Verkettung der halluzinatorischen Erlebnisse. 

5. Den phantastischen Inhalt der Halluzinationen. 

6. Die Verwebung der realen Empfindungen in die halluzinato¬ 
rischen Erlebnisse durch illusionare Auslegungen. 

7. Die nachfolgende partielle Amnesie. 

8. Die (meist totale) Analgesie. 

Die Diagnose des hysterischen Irreseins kann nie aus dem Ansehen des 
gerade vorliegenden Zustandsbildes gemacht werden, da in demselben 
keine Symptome vorkommen, welche dasselbe nach der erwahnten 
Seite charakterisieren und jede andere Grundkrankheit beweisend aus- 
schlieBen. Auch wenn korperliche hysterische Erscheinungen vorhanden 
sind, konnen dieselben nicht als Beweise gelten, daB es sich beim ge- 
gebenen Zustandsbilde um hysterisches Irresein handle, am wenigsten 
demjenigen, der die Hysteric als funktionelle Neurose auffaBt, aber auch 
jenem nicht, der die Lehren der Salpetriere verficht. Die von den meisten 
derselben veroffentlichten Krankheitsgeschichten reden zu deutlich 
eine entgegenlautende Meinung, als daB jemand hinter diesen Meistem 
Deckung finden konnte, wenn er sie zur Zeugenschaft ftkr eine diese 
Annahme bejahende Stellungnahme aufrufen wollte. Es bleibt darum 
auch hier, wie ich das im besonderen ftir die stuporosen und Erregungs- 
zustandsbilder beim mechanisch-depressivem Irresein einerseits und 
bei der Katatonie andererseits auseinandersetzte, nichts anderes iibrig, 
als aus der Zusammenfassung der iiber die ganze kranke Personlichkeit 
bekannt gewordenen habituellen Ziige und Eigenheiten, aller zeitlich 
auseinanderhegenden, ftir die Beurteilung des psychischen Wesens der¬ 
selben in Betracht kommenden Vorfallenheiten sich ein Bild von der 
atiologischen Abstammung des Zustandsbildes zu machen. Gelegent- 
liche, aus anderweitiger Erfahrung bekannte Ziige werden die — vielleicht 
sehr wahrscheinliche — Diagnose nahelegen, eine GewiBheit kann erst 
durch die eben erwahnte Erkenntnis gebracht werden. Die Schwierig- 
keit, Zustandsbilder des Stupors und der Erregung nach ihrer Atiologie 
zu katalogisieren, erfahrt also eine Weiterung iiber das katatone und 


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Die H.vsterie Neurose oder Psychose? 


477 


das manisch-depressive Irresein hinaus, wenn man an das hysterische 
Irre8ein herankommt. Doch ist hier eine Entscheidung leichter zu treffen, 
da die Dauer eine kurze ist, wahrend bei den genannten beiden Krank- 
heiten neben der auBeren Ahnlichkeit des Zustandsbildes dessen Chroni- 
zitat die Erkenntnis erechwert. 

Wird die Entscheidung ftir das hysterische Irresein auf Grand vor- 
liegender korperlicher Erscheinungen gefallt, dann konnte dieselbe 
nach Auffassung derjenigen, welche jede mit Hysterie verbundene 
Geisteskrankheit als hysterische bezeichnen, als richtig angesehen werden; 
auf jeden Fall ware aber eine Entscheidung allein nach psychischen 
Symptomen der Beachtung unwert, weil, wie schon ausgefuhrt, solche 
Symptome ohne Begleitung typischer korperlicher Erscheinungen eine 
zu groBe Vieldeutigkeit der Auffassung zulassen, auch keines de'rselben 
als nur fur Hysterie kennzeichnend angesehen werden kann. 

Auch in dieser Beziehung haben die gegenwartigen Kriegserfahrangen 
Vorteil gebracht, indem sie die Richtigkeit der eben ausgefiihrten An- 
schauung in einer groBen Anzahl der Falle erkennen lieBen. Wie Ojft 
mufite nach einiger Beobachtung eine im ersten Anhub gestellte uiid 
mit Zahigkeit verteidigte Ansicht geandert werden! Es gilt eben auch 
hier, daB es nur ein Gebot der Vorsicht ist, mit einem kategorischen 
Urteile so lange zuriickzuhalten, bis die auBeren Verhaltnisse und die 
Aufrollung der ganzen Personlichkeit eine Klarung der Sachlage herbei- 
fiihren. Gerade in den Kriegsfallen haben wir leider nur zu oft die 
notigen Anhaltspunkte nicht erlangt, weil wichtige Mitteilungen iiber 
das Vorleben der Rranken, den Beginn und ersten Anfang der Krank- 
lieit nicht nur in etwas zu kurzen Abbreviaturen gegeben, sondem groBen 
Teiles an den Zwischenstationen unter den Hbemahmsakten gebettet 
wurden. Gerade fiir Falle, welche hysterische Symptome zeigten, sind 
solche Mitteilungen von auBerordentlicher Wichtigkeit, weil die intellek- 
tuelle Potenz der Kranken nur an der Hand solcher Mitteilungen richtig 
beurteilt werden kann. So kann z. B. die Entscheidung, ob es sich um 
eine hysterische Psychose bei einem Imbezillen oder um eine Attacke 
einer Dementia praecox handle, kaum anders getroffen werden als unter 
Beriicksichtigung solcher Mitteilungen. DaB weder der eine noch der 
andere Rranke zum Militardienste tauglich sei, ist schlieBlich doch eine 
Sache, welche nur einen derzeit allerdings wichtigen, den Rahmen der 
medizinischen Beurteilung und Behandlung aber nicht umfassenden 
Faktor darstellt. Dem Arete obliegt die weitere Aufgabe, sich iiber 
den Kranken ein detailliertes Bild zu schaffen und die Moglichkeit einer 
sozialen Tatigkeit und Betatigung prognostisch festzulegen. 

Untersucht man viele Menschen, die mit den verschiedensten Krank- 
heitszustanden behaftet sind — sagt Ganser 1 ) — gleichmaBig nach 

*) Archiv f. Psych. 1904. Zur Lehre vom hysterischen D&mmerzustande. 


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478 


E. Herzig: 


alien Richtungen hin, so findet man ungemein haufig Storungen der 
Sensibilitat und der Schleimhautreflexe, wie sie in ausgesprochenen 
Fallen der Hysterie als mehr oder weniger wichtige Elemente des Krank- 
heitsbildes vorkommen und ebenso verhalt es sich mit der fur den hyste- 
rischen Charakter so bedeutungsvollen Suggestibilitat. Nur bei einem 
Bruchteil der Falle, die mit diesen Stigmatis behaftet sind, koinmt es 
zur Entwicklung des hysterischen Irreseins-Bildes. Der Prozentsatz 
an hysterischem Irresein Kranker bleibt hinter dem der Hysteriker zu- 
riick, woraus man den Schlufl ziehen kann und muB, daB, wenn man 
auch die Hysterie als eine weit verbreitete Krankheit ansehen darf, dock 
die Entstehung eines hysterischen Irreseins vom Vorhandensein und Ein- 
tritte be8timmter Umstande abhangt. Indem nun Nissl (fuBend aid 
Kraepelin) die bei anderen Krankheitsformen als dem hysterischen 
Irresein vorkommenden hysterischen Erscheinungen als, wenn auch 
nicht im Wesen, so doch in der Genese verschiedene bezeichnete und 
zur Unterscheidung hysteriforme nannte, zog er damit den Kreis der 
hysterischen Psychosen an sich nicht enger, aber er nahm der Hysterie 
viel von ihrer Selbstandigkeit. Wo es nicht gelingt, den hysterischen 
Charakter eines oder einer Kranken nachzuweisen, da konnen im Sinne 
Nissls Erscheinungen, welche man als hysterische aufzufassen nach 
wissenschaftlicher Gewohnheit berechtigt ist, nicht mehr als solehe 
gelten. Denn: ,,Unter Hysterie versteht Kraepelin eine angcborcne 
Krankheit, welche einen eigenartigen Zustand des Nervensyslems 
bedingt, der klinisch dadurch zum Ausdruck gelangt, daB er zur Ent¬ 
wicklung des sogenannten hysterischen Charakters fiihrt und sich an- 
dauernd insofern wirksam zeigt, daB jederzeit passagere korperliche 
Storungen und verschiedene Formen eines spezifischen Irreseins durcli 
gefiihlsstarke Vorstellungen hervorgerufen werden konnen.“ Vor alleni 
sci darauf hingewiesen, daB diese Auffassung aus dem Jahre 1902 
wenigstens nicht mehr in ihrer Ganze heute von Kraepelin festgehalten 
wird, da er in der letzten Auflage seines Lehrbuches (1915) nicht mehr 
nur gefiihlsstarke Vorstellungen als die iitiologischen Faktoren der 
Hysterie bezeicbnet, sondern psychische Zustande uberhaupt. 

Nissl folgert, daB nur dort von Hysterie gesprochen werden konne. 
wo der hysterische Charakter nachzuweisen sei. In den Worten K ra e pe- 
I ins scheint das nicht zu liegcn, auch durfte die Annahme sich nicht 
als richtig erweisen lassen, daB die Hysterie iminer zur Entwicklung 
des hysterischen Charakters fiihre, so daB also fur eine Kombinatiou 
einer Psychose mit Hysterie der Nachweis des hysterischen Charakters 
koine unbedingte Notwendigkeit bildet. AuBerdem widerspricht die 
Bezeichnung: angeborene Krankheit wohl zu offenkundig der Erfahrung. 
daB bei Personen, die seit Kindheit keinerlei Zcichen eines hysterischen 
Charakters hatten erkennen lassen, nach starken gemutlichen Em 


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Die Hysterie Neurose oder Psychose? 


479 


gungen, Unfallen und schmerzhaften Krankheiten der hysterische Cha- 
rakter sich entwickelt, der dann die ganze iibrige Lebenszeit oder fiir 
langere Zeit fortbestehn kann. Auch fiir diese Annahme kann ich auf 
meine gegenwartigen Kriegserfahrungen mich berufen. Soweit die 
Erlangung von Berichten tiber den geistigen und nervosen Zustand 
unserer Patienten moglich war, wurden dieselben in das Kalkul der 
Rrankheitsbeurteilung einbezogen. Bei Erkrankungen, die nach dem 
Beginne und dem Zustandsbilde die Vermutung nahelegten, daB sie 
dem hysterischen Irresein angehoren, war es meist doppelt wichtig, 
solche Berichte zu erhalten. Da wurde es nun Tatsache, daB in den weit- 
aus meisten Fallen wahrend der militarfreien Zeit man an den jetzt 
kranken Individuen keine Auffalligkeiten bemerkt hatte, was schlieBlich 
um so schwerer in die Wagschale fallt, als gerade bezuglich der Krankheits- 
zeichen der Hysterie eine so weitgehende und allgemeine Kenntnis 
auch in den Volkskreisen verbreitet ist, daB man es sicher nicht unter- 
lassen hatte, darauf hinzuweisen. Wahrscheinlich hatte man jene Zeichen 
nicht als hysterische bezeichnet, aber unter den Auffalligkeiten, Charakter- 
eigentumlichkeiten und epileptischen Anfallen genannt. 

Wie bezuglich der Neurosen Hysterie und Neurasthenie, hat man auch 
von der hysterischen und neurasthenischen Psychose behauptet, daB 
dieselben yoneinander wenigstens in vielen Fallen nicht zu unterscheiden 
seien. Wie man die ersteren nicht mit Sicherheit zu trennen vermag, 
wenn man allein den psychischen Habitus der betroffenen Person ins 
Auge faBt, und solange man nicht den Schwerpunkt der Unterscheidung 
in den korperlichen Erscheinungen der Hysterie festhalt, so kann eine 
Scheidung der hysterischen Psychose von der neurasthenischen Psychose 
gleichfalls nur an der Hand des neurotischen Befundes gemacht werden. 
Bezuglich des rein psychischen Bildes wird eine Differenz in den Zu- 
standsbildem kaum jemals festzustellen sein. Man muB den Standpunkt 
Mobius’ vertreten, der die Neurasthenie als eine von der Hysterie 
ganzlich verschiedene Krankheit ansah und diese Verschiedenheit auch 
fur die Beurteilung psychischer Storungen festhielt. 


Mobius, welcher die Neurasthenie als eine von der Hysterie ganz 
verschiedene Krankheit ansah, erklarte fiir moglich, daB ein Hysterischer 
so gut wie irgendein anderer neurasthenisch sein konne. Mit dieser 
Annahme halte ich es vertraglich, daB die hysterische Veranderung 
und die ihr entsprechenden spezifischen hysterischen Krankheitsmerk- 
male auf dem Boden der neurasthenischen Dauerermiidung zustande 
kommen. Denn der gemeinsame Untergrund bedingt noch lange keine 
Gleichheit der Ausdruckserscheinungen. 

Die Dynamik der bei der Hysterie zum Ausdruck kommenden 
Nervenerregungen ist eine vom Gefiihl abhangige, gleichzeitig von der 

Z. /. d. g. Neur. u. Psych. 0. XXXVII. 31 


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480 


E. Herzig: 


Norm abweichende. Das Abweichen von der Norm besteht in einer 
abnormen Verteilung der ErregungsgroBen. Denn etwas ganz Neues 
gegenflber dem Verhalten des normalen Menschen bedeuten jene Er- 
regungen nicht, dieselben treten ja auch vorttbergehend bei diesem auf, 
geandert erscheint bei der Hysterie erstens ihre Zuweisung zu voll- 
kommen inadaquat erscheinenden Reizen und zweitens das Mangel- 
hafte in ihrer Losung. Realisierung der hysterischen Erscheinungen ist 
undenkbar, wenn nicht Anknflpfungspunkte an wirkliches Erleben 
gegeben sind, da alles Krankhafte sich aus dem normalen Leben heraus 
entwickelt. Fttr diese Entwicklung ist dann allerdings der ,,6tat hyst4- 
rique“ mafigebend, den man gar nicht als einen mentale zu bezeichnen 
braucht, da er doch in nichts anderem als in einem hohen Grade von 
Nervenlabilitat einer bestimmten Spezifitat besteht, die man in einer 
Tendenz zu heftigen Schwankungen der Nervendynamik finden wird. 
•Die Auffassimg der Hysterie als Anderung der Nervendynamik gegen¬ 
flber der Norm ist geeignet, die Komplikation mancher Geistesstorangen 
durch hysterische Erscheinungen als leicht moglich zu erklaren. Diese 
dynamischen Storungen sind imstande, auch alle Storungen im Asso- 
ziationsvorgange, wie dieselben in erater Linie das hysterische Irresein 
charakterisieren, zu erlautem. 

Worin hat die erwahnte Anderung in der Nervendynamik ihren 
Grand ? Darflber sind verschiedene Theorien aufgestellt, denen gemein- 
sam ist, daB jede nur ein einzelnes Symptom oder einzelne Symptome 
der Hysterie erklart. Die Meynertsche Hypothese, daB es sich bei 
der Hysterie um Zirkulationsstdrungen im Gebiete der Arteria chorioi- 
dea handle, erklart eine eventuelle hysterische Hemianasthesie, wahrend 
sie die Erklarang anderer Symptome nicht gibt. Knies spricht von 
einer vasomotorischen Erweiterang der Arterien, die eine Kompression 
des Sehnerven im Foramen opticum herbeiftihre, eine Theorie, die man 
von dem Spezialfall der unilateralen Sehstorung auf andere hysterische 
Symptome nicht flbertragen kann. Auch die Theorie Waltons von einer 
mechanischen Kommotion hat nicht fur alle Falle von Hysterie Geltung, 
sondern nur fflr die traumatische Hysterie. Eine allgemeine Zusammen- 
fassirng aller hysterischen Erscheinungen gibt die Theorie F6r4s, 
wonach die Erschopfimg entweder an sich die hysterischen Erschei¬ 
nungen bedingt oder die infolge Erschopfung auftretende verminderte 
Leistungsfahigkeit eine Vorstellung (z. B. der Lahmung) weckt, die 
dann die Lahmung bewirkt. Auch Lowenfeld betrachtet die Hysterie 
als Produkt der Hirnerschopfung. Dieser Theorie gegenflber ist geltend 
gemacht worden, daB die eigentliche Erschopfungsneurose die Neur¬ 
asthenic darstelle. 

Nach Grasset kameu alle hysterischen Symptome zustande duroh Vereini- 
gung oder Tronnung des Zentrums fiir die holieren geistigen Funktionen (des 


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Die Hysterie Neurose oder Psychose? 


481 


prafrontalen Zentrums fiir Wille, BewuBtheit und Moral) von einem, zwei oder alien 
niederen Himzentren (die in Schlafen-, Hinterhaupte- and Scheitellappen gelegen 
und fiir Motilitat, Sensibilitat und Assoziationen bestimmend sein aollen). 

Schtscherbak sucht die fiir Hysterie spezifische Stoning in jenen Rinden- 
gebieten, in welchen Verkniipfungen zwischen den hoheren psychischen und den 
hoheren somatischen Zentren stattfinden. Das Wesen der Stoning sucht er durch 
Amoboismus zu erklaren, worunter er ein pathologisches Dendritenspiel versteht, 
das entweder eine pathologische Annaherung oder eine pathologische Trennung der 
Neurone bewirke. Durch erstere sollen motorische, vasomotorische und visoerale 
Erscheinungen, durch letztere Lahmungen und An&sthesien zustande kommen. 

Ebensowenig wie fiber die Art und Ursache der Dynamikanderung 
ist man fiber den Zeitpunkt der Entstehung der damit verknttpften 
krankhaften Disposition des Nervensystems zu einer einheitlichen An- 
sicht gekommen. Obwohl einwandfreie Tatsachen fiir eine Erwerbung 
dieser Anlage durch Gifte, Traumen und Uberanstrengung sprechen, 
halt doch noch der groBte Teil der Psychologen daran fest, daB dieselbe 
stets eine angeborene sei. 

Zu einem sicheren Resultate kann man bezfiglich des Ortes der hyste- 
rischen Veranderung gelangen. Theoretische Erwagungen, welche die 
Konsequenzen frtiherer Ausffihrungen fiber die den hysterischen Er¬ 
scheinungen zugrunde liegenden psychischen Vorgange sind, ftthren zum 
Ziele. Von den meisten Autoren ist diese Frage ttberhaupt nicht weiter 
behandelt worden, von den einen, weil die Losung derselben gegeben 
war in ihrer Annahme, daB Vorstellungen die Genese der Hysterie be- 
herrschen, von anderen, weil die Beeinflussung der Erscheinungen durch 
Vorstellungen eine andere Losung als die der erstgenannten nicht zu- 
zulassen schien und wieder anderen, weil sie alles Psychische in der Frage 
der Hysterie ausgeschaltet wissen wollten. Die ersten beiden Klassen 
von Autoren verlangten eine Lokalisation in der Himrinde, weil 
ohne eine solche weder das Zustandekommen noch die Losung durch 
Vorstellungen erklart werden konne; man statuierte also eine Theorie, 
welche ausgehend von der allgemeinen Annahme, daB die Himrinden- 
zentren die Zentren der Vorstellungsbildung seien, von vomherein als 
selbstverstandliche Zugabe zu den in Betracht gezogenen Hysterie- 
theorien erscheinen muBte. Die dritte Ansicht entzog sich aber durch 
ihre Behauptung selbst jeder Einbeziehung in eine cerebrale Deutung. 

In den frtiheren Darlegungen war die Feststellung gemacht worden, 
daB zum Zustandekommen von hysterischen Erscheinungen rein sen- 
sorielle Geffihle genttgend seien unter ausdrucklichem Ausschlusse der 
hoheren psychischen Vorgange der Vorstellungsbildung. Die Zentren 
ffir jene Geffihle liegen subcortical. Also braucht man ffir die Hysterie 
als notwendigen atiologischen Faktor ffir alle Falle nur die subcorti- 
calen Zentren. Die Schwierigkeit, welche aus den durch Vorstellungen 
verursachten hysterischen Krankheitserscheinungen gemacht wird, 

31 * 


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482 


E. Herzig: 


erledigt sich von selbst fur jene, welche den fur alle solche Erschei- 
nungen gemeinsamen Angriffspunkt gemaB der vorausgehenden Erkennt- 
nis der psychologischen Genese in den rein nervosen und nicht unmittel- 
bar mit dem Psychischen verkniipften Zentren des Gehimes sehen. 
Anderen gegenliber, welche im entgegengesetzten Sinne die Frage losen, 
gilt es, ihnen zuerst die Unrichtigkeit ihrer psychologischen Anschau- 
ungen nachzuweisen. Die fruheren Ausfuhrungen haben sich damit be- 
schaftigt. AnschlieBend konnen dann die eben erst dargelegten Folge- 
rungen geltend gemacht werden. 


Allgemein nimmt man heute an, die notwendige Bedingung, daB 
hysterische Symptome auftreten konnen, sei durch eine zeitlich dem Auf- 
treten derselben vorangehende Disposition gegeben. Soil diese Annahme 
sinnvoll sein, dann kann sie nur besagen, daB jenes der Hysterie Voran¬ 
gehende etwas von ihr qualitativ Unterschiedenes darstellen muB. 
Denn ein nur quantitativer Unterschied wiirde in dem Ausdrucke ledig- 
lich einen Intensititatsunterschied besagen, daB eine schwache Hysterie 
die Vorlauferin der starkeren sei. Jedenfalls ware auch sie bereits eine 
Hysterie, allerdings eine solche, welche bisher aus Mangel an objektiven 
Ausdruckserscheinungen noch nicht erkannt werden konnte. Die Fest- 
setzung eines solchen Begriffes ware zwecklos, weil sie doch nur ein 
theoretischer RuckschluB sein konnte, der unsere Kenntnisse um keinen 
Schritt vorwarts brachte und zur Vermehrung auch nichts beitragen 
konnte, weil er doch erst immer wieder aus der gewonnenen Kenntnis 
der eben erst als starker bezeichneten Hysterie gebildet werden konnte. 

Diese hysterische Disposition ist in einem anderen Sinne gedeutet 
von den Vertretern der psychischen Theorien als von jenen der psycho- 
physischen Theorien. Fur die ersteren erscheint sip als eine Tendenz 
der Psyche, im gegebenen Falle d. h. bei Erfullung der notigen Bedin- 
gungen sich in Form von abnormen Ausdruckserscheinungen zu offen- 
baren. Ob diese Tendenz in der Psyche selbst ihre Wurzel habe oder 
erst durch die Verbindung mit dem psychischen Anteile des mensch- 
lichen Wesens gewinnen konne, ist eine Frage, welche nur durch die 
rationale, nie durch die empirische Psychologie beantwortet werden kann. 
Zu ihrer Beantwortung muB von den Grundanschauungen liber das We- 
sen der Psyche ausgegangen werden. Alle jene Anschauungen, welche 
neben der Wesensverschiedenheit auch eine gegenseitige UnbeeinfluB- 
barkeit zwischen Psyche und Korper vertreten, begeben sich selbst der 
Moglichkeit, die korperlichen hysterischen Erscheinungen aus einer 
abnormen Tendenz der Psyche zu erklaren. Denn wenn eine kausale 
Einwirkung uberhaupt unmoglich ist, wie soli auf einmal eine abnonnc 
Tendenz zmvege bringon, was die normale nicht kann? Wie sollte ein 


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Die Hysterie Xeurose odor Psychose? 


483 


Defekt in der psychischen Reihe die Ursache zu einem solchen in der 
physischen werden ? Fiir alle anderen Vertreter der genannten Richtung 
ware die Entscheidung zu fallen nach ihrer Auffassung des Wesens der 
Psyche. Nachdem ich den psychophysischen Parallelismus ausgeschieden 
habe, frage ich jene, welche die Geistigkeit und Einfachheit der Psyche 
festhalten, wie sie mit dem einsinnigen Streben derselben eine solche 
abnorme und noch dazu nicht allgemein abnonne Zielstrebigkeit der 
Psyche vereinbaren wollen ? Eine solche Zielstrebigkeit liefe der Natur 
der Psyche entgegen. Und wollte man auch von dieser Schwierigkeit 
absehen, dann bliebe die andere, wie die Psyche dazu komme, sich durch 
korperliche Erscheinungen zu auBem, welche von der Form der son- 
stigen Ausdrucksweise abweichen. Die Auffassung der Psyche als un- 
mittelbarer Hervorbringungen der Gehimrindentatigkeit hat mit den 
vorgenannten Auffassungen nichts gemein; die Losung der Hysteriefrage 
wie jene der hysterischen Veranlagung stellt sie (in diesen Punkten) 
neben die psychophysischen Theorien. Ihr bedeutet ja der Name Psyche 
nichts weiter als den Gegensatz der Tatigkeit der Gehimrindenzentren 
zu jener der anderen Gehimzentren, also keinen Wesens-, sondem einen 
rein formellen Unterschied. 

Die hysterische Disposition wird nach der psychischen Hysterie- 
theorie durch einen (hysterischen) Geisteszustand, welcher lange vor 
dem Offenkundigwerden der Krankheit existiert, gebildet. Dieser Geistes¬ 
zustand ist die causa prima et radix aller Hysteriesymptome, der gei- 
stigen ebenso wie der korperlichen. Es ist also die hysterische Veran¬ 
lagung eine bestimmte Seelenbeschaffenheit, welche wesentlich in 
quantitativer Steigerung und eigenartiger Mischung gewisser allgemein 
menschlicher Charaktereigenschaften besteht (Gaupp). 

Wahrend von einer Reihe von Autoren an der Ererbtheit dieses 
Zustandes festgehalten -wird, lassen andere eine Erwerbung desselben 
zu, tragen damit der Tatsachenlage Rechnung, weichen aber den Schwie- 
rigkeiten, welche gegen die Auffassung als solche geltend gemacht werden, 
nicht aus. Diese Schwierigkeiten erheben sich vor allem von seiten der 
Korpersymptome. Der Psyche miiBte bei der hysterischen Anlage ein 
schopferischer EinfluB auf die korperlichen Vorgange zugeschrieben 
werden, durch den es ihr gelange, im Laufe der Zeit die nattirliche An¬ 
lage hauptsachlich der Nerven abzuandem, den ihr naturgemaB zu- 
kommenden EinfluB auf Unterbleiben oder Auftreten, Intensitat und 
Extensitat und Richtung in einen EinfluB auf die Qualitat im Sinne eines 
kontradiktorischen Gegensatzes zu verwandeln. Das gilt vom psychischen 
Vermogen uberhaupt. Deswegen ist es ganz gleichgiiltig, ob man die 
Zerstreutheit, die Lenksamkeit oder eine sonstige Eigentiimlichkeit 
zur Erklarung heranzieht. 

Auch das Affektleben bietet keine Eigentiimlichkeiten, welche von 


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484 


E. Herzig: 


vomherein ale kennzeichnend fur eine hysterieche Grundlegung be- 
trachtet werden konnfcen. Was man an demeelben ale fur hyBterische 
Disposition typisch bezeichnet hat, wurde nicht einmal von den eifrig- 
sten Vertretem dieser Meinung als beweisend angesehen und stete erst 
dann als ,,doch“ hysterisch anerkannt, wenn andere schlagende Beweise 
dazugekommen waren. Tatsachlich ist es auch nicht immer die Kraft 
der Anschauung, welche ihr zu ihrer groBen Verbreitung geholfen hat, 
sondem das Ansehen ihrer Wortfiihrer. 

Janet hat Trfibsinn und Traurigkeit als die vorhcrrschende Gemfitsstimmung 
ebenso bei hysterischen Mannern wie bei hysterischen Frauen bezeichnet, wahrend 
andere das hysterische Weib als erregt, heiter, riihrig, laut lachend, zu alien 
Torheiten geneigt hinstellen, den hysterischen Mann aber als traurig, schlaff und 
trubsinnig. Doch liegt aus seinen Schriften kein Anhaltspunkt vor, in diesen 
Merkmalen, wie man es ihm untcrstellt hat, die Grundlage zu suchen, welche 
eindeutig oder auch init Sicherheit als die Vorbedingung einer Uysterie zu 
deuten ware. 

Hellpach hat als die der Hysteric zugrunde licgende seelische Eigenschaft 
die Lenksamkeit bezeichnet. Er beantwortet die selbstgestellte Fragc nach dem, 
was nun die Lenksamkeit zur Hysterie fortentwickle, mit dem Hinweise auf eine 
in der Hysterie auftretende Isolierung der Personlichkeit. Die Antwort scheint mir 
ebensowenig wie die angeschlossene Erlauterung dieses Ausdruckes als eine „zu 
starke Nachinnenwendung der apperzeptiven Spannung“ Klarheit zu bringen. 
Andererseits muB man auf jene Ausfiihrungen des Autors verweisen, die von einem 
psychophysischen Riegel vor der Psychologie der Hysterie handcln. Nach denselben 
sollte man erwarten, daB er wenigstens neben der Lenksamkeit eine weitere phyaische 
Anlage in den nervosen Organen der Ausdrucksbewegungen annehme. Hellpach 
hat nirgends ausdriicklich davon gesprochen, auch nirgends eine Andeutung fiber 
diesen Punkt gemacht. 

Die Vertreter der psychophysischen Theorie legen folgerichtig auch 
in der jetzt nachstberiihrten Frage das Hauptgewicht auf eine nervoee 
Disposition. Man spricht von Nervenschwache und von Nervener- 
schdpfung; mir will scheinen: Synonyma. In beiden Fallen bezeichnet 
man mit diesem Ausdrucke die vorhandene Labilitat des nervosen 
Gleichgewichtes, welche weder mit der hysterischen Disposition noch 
mit der Hysterie identifiziert werden darf. Dieselbe ist auch bei anderen 
Krankheiten vorhanden, vollstandig unbestimmt in bezug auf ihren 
spateren Verlauf. Sie kann in sich begrenzt bleiben und es konnen sich 
Erscheinungen anschlieflen, die voll und ganz aus ihrem Rah men heraus- 
fallen. Dieses letztere ist bei der Hysterie der Fall. Welche inneren 
Griinde Mr die Entscheidung maBgebend sind, liegt fur uns auBer aller 
Moglichkeit der Erkenntnis. Die Kenntnis der auBeren ausldeenden 
Ursachen tragt dazu nichts bei, nicht einmal so weit, daB man bei Vor- 
handensein der gleichen auBeren Ursachen, welche bei einem nervosen 
Individuum einwirken, auch nur mit annahemder GewiBheit das Auf- 
treten einer bestimraten Krankheitsform voraussagen konnte. 

Die Vielfaltigkeit der Moglichkeiten fiihrte dazu, daB man theoretisch 


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Die Hysteric Neurose oder Psychose? 


485 


rtickwartsschauend jene Labilitat mit einem speziellen Namen belegte, 
ohne dab es gelungen ware, eine Charakteristicum auszufiihren, welches 
sie nach einer bestimmten Seite kennzeichne und welches darum auch 
eine praktische Bewertung verlangte. Man muB sich damit bescheiden, 
jene nervose Veranlagung als eine Krankheitsdiathese zu betrachten, 
welche die materielle Disposition zur Hysterie abgibt, wenn auch andere 
Momente als auslosende Faktoren, als unmittelbar auslosende Ursachen 
der Rrankheit Hysterie an den Anfang der erkenntlichen Vorgange zu 
stellen sind. Alles, was die Innervation iibermaBig steigert, kann als 
geeignet angesehen werden, zur Hysterie zu disponieren. Aus dieser 
Veranderung der nervosen Funktionen kann man die psychischen 
Eigentumlichkeiten der Hysterie nach psychologischer Erfahrung ab- 
leiten. Das Umgekehrte ist eine Unmoglichkeit. 


Zu wiederholten Malen schon habe ich darauf hingewiesen, daB 
man oft den sogenannten psychischen Stigmatis der Hysterie einen 
unzukommlichen Erkenntniswert beilege. Damit sage ich nicht, daB 
dieselben zur allseitigen und umfassenden Klaratellung des Rrank- 
heitsbildes nicht beitragen konnen und tatsachlich beitragen, sondem 
nur, daB dieselben in der Loslosung von den sicher hysterischen sen- 
siblen und motorischen Stonmgen das Rrankheitsbild mehrdeutig 
lassen. 

Als jene affektiven und intellektuellen Stonmgen, welche ohne Kennt- 
nis des Krankheitsverlaufes und der korperlichen Krankheitsmerk- 
male die Diagnose Hysterie zu stellen gestatten sollen, bezeichnet man: 
1. Die Beweglichkeit, nach Sydenham die Inkonstanz als das Kon- 
stanteste bei Hysterikem. 2. Die Neigung zu Widerspruch und Streit. 
3. Den Geist der Doppelziingigkeit, Luge und Verstellung. Ist ein 
einzelnes dieser Merkmale oder sind vielleicht alle im gemeinsamen, 
gleichzeitigen Vorkommen spezifisch fiir Hysterie? Nein. Die gleichen 
Symptome werden bald vereinzelt, bald gehauft bei alien degenerativen 
Geisteszustanden angetroffen, in ausgepragter Art bei Hebephrenie 
und Schwachsinn (besonders dem sogenannten moralischen Schwach- 
8inn). Man hat behauptet, daB die genannten Geistesanomalien durch 
die der Hysterie eigentiimliche psychische Veranderung und die mit 
ihr verknupfte Femwirkung psychischer (besonders affektiver) Reize 
auf korperliche Innervationen ein bestimmtes Kolorit erhalten, aus dem 
sie als hyBterische zu erkennert seien. Die Erfahrung hat die Bestatigung 
dieser Behauptung nicht gebracht. Denn es gibt eine nicht zu ilber- 
sehende Zahl von Hysteriefalien, welchen die genannten Charakter- 
eigentumlichkeiten abgehen. So habe ich wieder zur jetzigen Kriegs- 
zeit viele Falle von sicherer Hysterie gesehen, an denen bei ausgesprochen 


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486 


E. Herzig: 


hysterischen korperlichen Rrankheitserscheinungen intellektuell-ethische 
Defekte nicht nachgewiesen werden konnten und bei welchen aus der 
Anamnese ihres Vorlebens keine Anhaltspunkte erkennen liefien, daB 
sie die ihnen durch Beruf und Familie auferlegten Pflichten nicht voll- 
kommen erftillt hatten. 

Ich schlieBe mich der Anschauung Binswangers an, daB die de- 
generativen Charakteranomalien und die aus ihnen entspringende 
Handlungsweise der Kranken fiir sich allein keineswegs zur Aufstellung 
der Diagnose Hysterie geniigen, da sie in ahnlicher Weise auch anderen 
degenerativen psychischen Krankheitszustanden eigentumlich sein 
konnen. Die ubrigen, vorzugsweise aus den Stimmungsanomalien 
entspringenden Eigentiimlichkeiten hysterischer Kranker finden sich 
in gleicher Weise auch bei der einfachen Neurasthenic. Bei dieser Sach- 
lage wird man genotigt sein, die Diagnose Hysterie erst dann sicherge- 
stellt zu erachten, wenn auBer diesen Charakteranomalien noch andere 
Kardinalsymptome der Hysterie in Form korperlicher Krankheits- 
erscheinungen entweder zur Zeit der Beobachtung oder in der Vorge- 
schichte des Falles erkennbar auftreten oder aufgetreten sind. 

Als ein fiir hysterische Disposition und Hysterie psychisches Sym¬ 
ptom hat man die Suggestibility der Hysteriker angefiihrt. Auch von 
ihr gilt, was von den psychischen Symptomen im allgemeinen bereits 
gesagt wurde: auch sie kann als ein Spezificum so lange nicht betrachtet 
werden, als sie nicht in korperlichen Erscheinungen ihren Ausdruck 
findet. Solange rein psychische Erscheinungen die Folge einer Sugge¬ 
stion sind, gelingt es auf keine Weise, irgendeine bestimmte Farbung 
in denselben aufzuzeigen, wodurch sie von den gleichen Zustandsbildem, 
wie sie gelegentlich bei Degenerierten, Imbezillen und schlieBlich auch 
Simulanten sich darbieten, sich unterscheiden. 

Diese Eigenschaft der Suggestibility hat viele Autoren dazu gefuhrt, 
die Hysterie weder ftir eine Neurose allein, noch fur eine Psychose allein, 
sondem ftir eine Psychose und Neurose zu erklaren. Bei einer groBen 
Zahl von Hysteriefallen spielt in der Genese die Suggestion gar keine 
Rolle. Bei ihr kommt darum die Auffassung der Krankheit als einer 
Psychose nicht in Betracht, solange die ausgelosten Erscheinungen 
rein nervoser Natur sind. Damit fallt natiirlich die Allgemeingultigkeit 
der Annahme, daB das Wesen der Hysterie neben dem Neurotischen 
etwas Psychotisches enthalte, schon gar — wie friiher ausgefiihrt — 
jener, welcher die Hysterie tiberhaupt den Stempel des Psychotischen 
einfachhin aufdrucken will. * 

Es kann indessen nicht geleugnet werden, daB der Charakter der 
Hysterischen groBenteils eine psychische Eigenart darbietet, welche, 
obwohl an sich nicht fiir ihn allein festliegend, doch in einer groBen 
Zahl der Krankheitsfalle als Begleiterscheinung der sicher hysterischen 


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Die Hysterie Ne arose oder Psychose? 


487 


korperlichen Krankheitserscheinungen erkennbar ist. Nachdem ich 
nur diese letzteren als die Wesenskennzeichen der Hysterie betrachte, 
komme ich zu dem Schlusse, daB jene Eigenart etwas Sekundares, und 
zwar, weil nicht immer vorhanden, seiner Natur nach Sekundares dar- 
stelle. Es ergibt sich vollstandige Analogie mit der Sachlage bei Epi* 
leptikem. Auch bei diesen kommt es mit wenigen Ausnahmen zu einer 
Depravation des Charakters, welche im allgemeinen nach denselben 
Richtungen wie bei Hysterikem ablauft. Hier wie dort liegt die Ureache 
in jenen wiederkehrenden Storungen neurotischer Zufalligkeiten, welche 
mit Storungen der Perzeption und der Empfindungen, vor allem aber 
der mit den letzteren verbundenen Unlustgefiihle verkniipft sind, auf 
welcher Grundlage dann mit psychologischer Notwendiglceit eine psychi- 
sche Abnormalitat sich ausbildet. 

Eine groBe Zahl der Psychopathologen halt jenen sogenannten 
hysterischen Geisteszustand fiir das Primare im Krankheitsbilde, sie 
hat sich gewohnt, ihre Ansicht durch die Autoritat der Meister der 
Salpetriere zu stiitzen. Ich verweise ihnen gegeniiber auf meine friihe- 
ren Ausfiihrungen tiber die Theorien der psychischen Genese der Hysterie, 
berufe mich gleichzeitig auf die Autoritat Binswangers. Er weist 
in seiner Monographic die Umformulierung der Erfahrungserkenntnis, 
daB alle hysterischen Krankheitserscheinungen in unlosbaren Bezie- 
hungen zu Himrindenfunktionen stehen, in die Behauptung, daB alle 
hysterischen Krankheitserscheinungen psychischen Ursprunges seien 
und ausschlieBlich aus einer psychischen Storung erklart werden konnen, 
als unhaltbar zuriick. Sie widerspreche allgemein psychophysiologischen 
und klinischen Erwagungen. Die Erfahrung, daB auch jene Krankheits- 
symptome, welche bei ihrem ersten Auftreten einen BewuBtseinsvor- 
gang als Wirkursache erkennen lieBen, spaterhin durch psychische 
Phanomene ausgelost werden konnen, gibt keinen Beweis f ur die erwahnte 
Ansicht. Auch nicht jene andere Erfahrung, daB bei vielen hysterischen 
Empfindungsstorungen von vomherein der EinfluB psychischer Vor- 
gange auf ihre Entstehung und ihre besondere Lokalisation deutlich 
zutage tritt. 

Diese beiden Erfahrungstatsachen haben einen gemeinsamen Unter- 
grund. Die in den Himzentren liegende Storung der Zentrentatigkeit 
ist — mit Ziehen gesprochen — eine geringfiigige, so daB eben eine 
Beeinflussung durch die Psyche moglich ist. Vielleicht wiirde man nicht 
irregehen mit der Annahme, daB eben gerade die funktionelle Sto¬ 
rung (im Gegensatz zu einer anatomischen) jenes Moment bildet, welches 
eine BeeinfluBung von der psychischen Seite zulaBt. Die anatomische 
Fixation wiirde eine solche ausschlieBen, gerade in jenen Punkten, 
welche fiir die Hysterie als Hauptmerkmale bezeichnet werden: dem 
Wechsel und der Veranderlichkeit der hysterischen Krankheitser- 


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488 E. Herzig: Die Hysteric Neurose oder Psychose? 

scheinungen. Eine anatomische Festlegung muBte sich in typischen 
Assoziationsphanomenen oder in typisch gleichbleibenden neurotischen 
Erscheinungen auBern. Die entgegenlaufende Eigenart der Hvsterie 
diirfte auch der Grund sein, daB die Schilderungen liber die seelische 
Gesamtbeschaffenheit der Hysterischen, wie uber den hysterischen 
Intellekt so oft und so weit auseinandergehen und daB die Diskussion: 
Hysteric Neurose oder Psychose ? inuner noch zu keinem endgiiltigen 
Abschlusse gefiihrt hat. 


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UMVERSITY-OF 



Zu herdformiger Rindenverodung fuhrende 
hyaline Degeneration der Gefatte bei progressiver Paralyse. 

Von 

Privatdozeut Dr. Erast Fankhauser, 

Sekund&rarzt der lrrenanstalt Waldau bei Bern. 

Mit 3 Textfiguren. 

(Eingegangen am 27. Juni 1917.) 

AuBer Trunksucht bei einem Onkel keine Hereditat. 

Entwicklung o. B. Hat oft den Bcruf gewechselt. War t&tig im Buchhandel, 
ala Feilenfabrikant, Croupier eines Spielsaals, Theaterkassier, Photograph, Kassier 
verschiedener Bars. — 1. Ehe 1903. Die Frau hatte 8 Monate vor der Ehe mit 
einem Zirkusclown verkehrt und war von diesem syphilitisch angesteckt worden; 
sie sei gestort, hysterisch gewesen. Auch Pat. akquirierte eine venerische Krank- 
heit, die er aber nicht behandelte. Kinderlose Ehe, die drei Jahre dauerte. 2. Ehe 
1912; ein gesimdes Kind. Beginn der Storung Ende 1912. Versagte in ver- 
schiedenen Stellen, konnte sein Leben nicht mehr verdienen. Verlor das Gedftcht- 
nis, fand die Wohnung nicht mehr. GroBenideen: wollte alles mogliche verkauft 
ha ben, man hat ihm 125 000 Fr. gestohlen. Wird im Kantonsspital Genf mit Ein- 
spritzungen behandelt; muB aber wegen storendem Wesen nach der lrrenanstalt 
Bel-air in Genf versetzt werden. Dort 13. bis 20. Dez. 1913 und 3. bis 20. M&rz 
1914 unter der Diagnose einer progressiven Paralyse. Wassermann stark positiv. 

Eintritt in die Waldau 30. M&rz 1914. 

Korperlicher Status: An den Unterschenkeln mehrere rundliche und ovale 
Narben. Periostitische Verdickungen der Tibiae. Rechte Pupille groBer als L, die 
r. rhomboid, beide ohne Lichtreaktion. Verst&rkte Pat.-Refl. Zunge kommt gerade 
heraus, fibrill&res Zittem. Breitspuriger Gang. Monotone Sprache; Silbenstolpem. 

Psychisch: Ortlich und zeitlich orientiert. Will gesund sein. Labiler Affekt; 
heult laut, er miisse nun bis zum Tode hier bleiben, jammert fiir Frau und Kind. 
— Unbehilflich und unrein. Zieht das Hemd verkehrt an, verwechselt die Schuhe. 
Lebt teilnahmlos in den Tag hinein. —Rechnet schlecht; kann das Einmaleins 
nicht mehr. 

Korperlich und geistig rasche Abnahme. Wird immer unbehilflicher. MuB 
vom August an mit dem Loffel gefiittert werden; gibt fast nur noch unartikulierte 
Laute von sich. Retentio urinae. Z&hneknirschen. Alle 2 bis 4 Wochen geh&ufte 
paralytische Anf&lle, gefolgt von einer etwa 2 Tage dauemden BewuBtlosigkeit. 
Verf&llt langsaiq immer mehr und stirbt am 21. Okt. 1915. 

Sektion: Schluckpneumonie rechts, beginnende Schluckpneumonie links. 
Emphysem. Atelektase der Lunge. Eitrige Bronchitis. Hyj)er&mie der Nieren 
und der Leber. Verfettung des Herzens und der Leber. Riickenmark o. B. 

Sch&del: Dura nicht gespannt, hyperamisch. Innenfl&che glatt und gl&n- 
zend. Liquor klar, vermehrt. Pialgef&Be stark injiziert. Pia stark verdickt, leicht 
abziehbar. Gehimgewicht 1295 g. Gef&Be der Basis o. B. Konsistenz des Gehims 


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E. Fankhauser: Zu lierdformiger Rindenvertidung filhrende 


vermehrt. An der Oberflftche des Gehims einige, etwa 4 bis 6, gelbliche, rauh und 
derb anzufiihlende, hirsekom- bis erbsengroBe, nicht prominente Stellen von et- 
was rauher Schnittflache. Rinde verschm&lert, bis zu 1 1 / 4 mm. Blutgehalt herab- 
gesetzt, GefaBr&ume auffallend weit. In der Rinde mehrere punktforniige frische 
Blutungen. Ependyra bes. am Boden des 4. Ventr. deutlich gekornt. 

Mikroskopische Untersuchung des Gehims. Farbung nach NissI, 
mit Hamalaun-Eosin, nach van Gieson: 

Pi a: Infiltration mit Lymphocyten und Plasmazellen. Ab und zu eine Mast- 
zelle. Die GeffiBe mit etwas blasser und zellarmer Muscularis; in den Lymph- 
r&umen zahlreiche Schollen von Abbauprodukten. 

Rinde: Deutliche Stbrung der Architektonik. Degeneration der Ganglien- 
zellen: Chromatolyse, Auslaugung, Rarefikation. Massige Infiltration der Ge¬ 
faBe mit relativ zahlreichen Plasmazellen, auch der kleinen GefaBe; Mantel 
von Plasmazellen um die Capillaren. Stabehenzellen maBig. Auch hier stellen- 

weise die Muscularis der GefaBw&nde hell 
und kemarm. — Selten sind groBe GefaBe 
mit einer besondere aus Lymphocyten be- 
stehenden Infiltration versehen, die nicht 
au * Lymphscheide beschr&nkt ist, son- 


umgebende Gewebe 
iibergeht, dort bald sich verlierend. Ein- 
zelne der Infiltrationszellen ha ben groBe, 
sehr helle, eckige Kerne mit wenig Proto¬ 
plasma: seltene Zellteilungsfiguren im 
Kern. Die Muscularis dieser GefaBe hell 
und kemarm. — Ab und zu 2 bis 3 Ge¬ 
faBe zu Paketen vereinigt. 

In der weiBen Substanz stellen- 
weise groBe, mit feinkomigen Detritus- 
massen ausgefullte Rfiurae um die GefaBe. 

Herde: Diese sind von eigenartiger 
Ausdehnung, derart daB z. B. die Mey- 
nertschen Schiehten von der 3. an und 
der angrenzende Teil der weiBen Substanz 
ergriffen ist, die 1. und 2. Schicht aber 
frei bleiben; an audern Stellen sind auch 
e recht unregelmaBige sein. Der Cbergang 
in das ubrige Gewebe ist bald ziemlich scharf, bald allmahlich, beim gleichen Herd 
an verschiedenen Stellen verschieden. 

Die Pi a liber den Herden zeigt sehr viele hyalin entartete GefaBe: die ganze 
Wand stark verdickt, kaum gefjirbt, sehr kemarm, mit ganz feiner konzentrischer 
Schichtung (Fig. 1). 

Auch die Intima sehr zellenarm, oft ganz ohne Zellen odor nur mit etwas 
Detritus. Ahnlich die Adventitia. Die GefaBe sind meist leer, oder enthalten nur 
wenig rote Blutkorperchen. Das Piagewebe ist duichsetzt von Lymphocyten und 
relativ wenigen Plasmazellen; ziemlich zahlreiche Mast zellen. Haufige gelbe und 
griine, in Fibroblasten und Lymphocyten eingeschlossene Massen. 

Rinde: Die Ganglienzellcn in den Herden iibcrall aufs schwerste gescb&digt, 
blaB, geschrumpft, ohne Tigroid und Kemmembran; alle homogen, ausgelaugt. 
Sogar das Kernkorperchen blaB. Oft nur Schatten; auf groBe Strecken sind iiber- 
haupt die Ganglienzellcn geschwunden. —In der weiBen Substanz die Kerne sp&r- 


Fig. 1. Hamalaun-Eosin. Vergr. 45. Pia 
aus einem Windungstal. Die beiden an- 
grenzenden Windungen sind herdformig er- 
krankt. Hyaline Verdickung der Arterien- 
wAnde in der Pia. In der liinde starke 
Vermehruug der UefftUe, deren Wandungen 
ebenfalls verdickt sind. 


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hyaline Degeneration der GefaBe bei progressiver Paralyse 


Sehr starke Vermehrung der GefaBe (Fig. 2); diese sind oft zu Paketen 
vereinigt, nicht selten aber auch sind 1 bis 2 GefaBe in dem Lumen eines gro- 
Bern eingeschlossen; es ist dies mit Sicherheit daran zu erkennen, daB neben 
den eingeschlossenen GefaBen nock Reste roter Blutkorperchen im Lumen des 
groBten erkennbar sind. Die Muscularis dcr GefaBw&nde iiberall mehr oder 
weniger, oft sehr stark hyalin entartet: Entartung oder Schwund der Kerne, 
die Muscularis durch eine homogene oder feinst konzentrisoh geschichtete 
Masse ersetzt. Die Intima als detritusartiger Ring mit einigen Kernen erkenn¬ 
bar; ahnlich die Adventitia. Die Capillaren verdickt, mit glasig aussehcndcr 
Wand, ab und zu doppelt konturiert ; Varicosit&ten nur angedeutet. An einzelnen 
Stellen sind die paralytischen Infiltrationen der GefaBe noch vorhanden; 
es konnen aber noch ganz blasse Reste derselben eben noch erkennbar sein. — 
Der Inhalt der GefaBe ist im ganzen ein sparlicher; sehr viele sind leer. Keine 
Blutungen ins Gewebe. — Das Verhalten der Venen entspricht dem der Arterien, 

In einzelnen Herden ist das ganze, zwischen den GefaBen gelegene Gewebe 
luckenhaft, schwammig. 

AuBerhalb der ausgesprochenen 
Herde fallt eine SteLle mit sehr starker 
Wucherung und m&Biger hyaliner De- 

generation der GefaBe auf; daselbst cjS-W 

starker Schwund der nervosen Ele- 

mente. Um die GefaBe zahlreiche kriif- 

tige Infiltrate. (Es kann sich nur um 

einen sich entwiekelnden, noch nicht 


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E. Fankhauser: Zu herdfOrmiger HindenverOdung fuhrende 


Das Fibrin ist auch nach der Weigertschen Gliafarbung und nach van 
(lieson darstellbar. 

Der Fall bietet klinisch das gewohnliche Bild einer progressiven 
Paralyse dar. Tod an Pneumonie. Der Sektionsbefund des Ge- 
hims ist der gewohnte, nur finden sich zerstreut einige kleine, etwa 
erbsengroBe, rauh und derb anzufuhlende, nicht prorainente 
Herdchen mit etwas rauher Schnittflache. 

Mikroskopisch bieten das Gehim und die Pia das gewohnliche 
Bild der progressiven Paralyse dar. In der Pia Infiltrationen mit 
Lymphocyten und Plasmazellen, massige Abbaustoffe; haufige Mast- 
zellen. Im Gehirn Degeneration der Ganglienzellen; Vermehrung der 


Fig. 3. Weigertsche Gliafarbung. Vergr. 25. Aus einem Herd, obere Halite einer Windung. 
T'nregehn&Big angeordnete Massen von Fibrin. Sehr jt&hlreiche Gef&Oe. Der Randfllz ist schon 
bei dieser schwachen VergroBerung siclitbar. 


GefaBe, Infiltration derselben mit Lymphocyten und Plasmazellen; 
Stabchenzellen in maBiger Menge. Stoning der Rindenarchitektonik. 
— Auffallend ist in erster Linie die relativ haufige und stark ausge- 
sprochene hyaline Degeneration der GefaBwande. Damit ver- 
bindet sich cine Neigung zur Bildung von GefaBpaketen. In zweiter 
Linie weichen einzelne GefaBinfiltrationen vora gewohnlichen Bild 
der progressiven Paralyse ab, indem sie nicht auf die Adventitialscheide 
beschrankt bleiben, sondern cine, w'cnn auch nicht ausgedehnte Strecke 
weit auf das umgebende Gewebe iibergreifen; es sind Lympho- 
cyteninfiltrate. Die groBen hellen Kerne der Infiltrationszellen und 
die Zellteilungsfiguren deuten auf cine lebhafte Wucherung dieser 
Zellen hin. 


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hyaline Degeneration der Gef&fie bei progressiver Paralyse. 493 

Der wichtigste Befund ist der in den Herden zu erhebende: Die 
mikroskopische Untersuchung zeigt, daB diese sich im wesentliohen 
auch in der grauen Substanz ausbreiten, derart, daB namentlich 
die tiefen Schichten, etwa von der 3. Meynertschen Schicht an, er- 
griffen sind, daB aber stellenweise die graue Substanz auch in ihrer 
ganzen Breite, hier und da auch die angrenzende weiBe ergriffen sein 
kann. Die Form der Herde ist eine recht unregelmaBige und sie 
gehen stellenweise scharf, stellenweise allmahlich in das umgebende 
paralytische Himgewebe fiber. Die charakteristischen Erschei- 
nungen in diesen Herden sind: hochgradige Degeneration der 
Ganglienzellen, stellenweise Schattenbildung und Sohwund dersel- 
ben. Sehr starke Vermehrung der GefaBe; wiederum haufige Bil- 
dung von Paketen; namentlich trifft man oft 1 und sogar 2 Lumina 
von einem dritten umschlossen. Die GefaBe leiden alle an sehr starker 
h yaliner Degeneration der Media, die glasig aussieht und entweder 
homogen erscheint oder eine Andeutuhg einer konzentrischen Schich- 
tung aufweist; aber auch Intima und Adventitia sind degeneriert, 
oft nur durch Zelltrummer angedeutet. Ebenfalls die Elastic a ist 
entartet; sie ist nur als schwache, nicht selten gespaltene Linie er- 
kennbar. Die Wand der Capillaren ist verdiokt, glasig, oft dop- 
pelt konturiert, mit Andeutung aneurysmatischer Bildungen. Die para- 
lytischen Gef aBinfiltrate sind teilweise erhalten, aber blasser gefarbt, 
teilweise geschwunden. — Die Weigertsche Glia ist hoch- bis hochst- 
gradig gewuchert; es lassen sich Riesenastrocyten und die dick- 
sten Formen der Gliafasem in Masse nachweisen. — Im Gewebe zer- 
streut finden sich schlieBlich unregelmaBige Mengen von Fibrin, bald 
in kleinen Haufen oder Haufchen, bald in groBen Massen, bald dicht, 
bald locker angesammelt; reichliche Mengen von Fibrin finden sich 
auch in einzelnen GefaBinfiltraten des fibrigen Himgewebes. — Auoh 
die Pi a fiber diesen Herden zeichnet sich durch hochgradige hyaline 
Degeneration der GefaBe aus. 

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daB die im ganzen Gehim und 
der Pia diffus vorhandene hyaline Degeneration der GefaBe sich in 
kleinen, im wesentlichen auf die graue Substanz beschrankten Herden 
exzessiv entwickelt hat und darin durch lokale Stoning der Emahrung 
zu Degeneration der nervosen Elemente, hochstgradiger Gliawucherung 
und massenhaften Fibrinablagerungen im Gewebe gefiihrt hat. Das 
Alter der Herde kann kein groBes sein; sie miissen sich vielmehr nach 
der Entwicklung der Paralyse gebildet haben, indem die paralytischen 
GefaBinfiltrationen in den Herden teilweise noch erhalten, teilweise 
in Zerfall begriffen sind, ahnlich den nervosen Zellen. 

Die zwar nur an seltenen Stellen nachweisbaren, im wesentliohen 
lymphocytaren, die Adventitialscheide fiberschreitenden GefaBinfiltra- 


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E. Fankhauser: Zu herdfiirmiger RindenverOdung fuhrcnde 


tionen aufierhalb der Herde sind als luetische Infiltration aufzu- 
fassen; ebenso sind die inner- und aufierhalb der Herde haufig beobach- 
teten Bildungen von Gefafipaketen dieser Atiologie verd&chtig; des- 
gleichen in gewissem Grade die sehr starke Entartung der Elastica. 

Ich kann in der mir zuganglichen Literatur nur einen einzigen ahn- 
lichenFall finden, deraber den eben geschilderten in gliicklicher Weise 
erganzt; er ist von Witte unter dem Titel: ,,t)ber eine eigenartige 
herdformige Gefafierkrankung bei Dementia paralytica" 1 ) beschrieben 
worden. Es handelt sich auch hier um eine Paralyse, die klinisch und 
sogar histologisch sonst nichts Auffallendes darbot.. Es war nur ein 
etwas grofierer Herd vorhanden, ebenfalls im wesentlichen auf die graue 
Substanz beschrankt. Auch in diesem Herd hyaline Degeneration und 
Vermehrung der Gefafie; scharfe Konturierung der Capillaren; geringe 
Menge der nervosen Elemente, chronische Veranderung derselben; Glia- 
wucherung. Besonders die Gefafie umgebende Fibrinausscheidimg ins 
Gewebe; keine Zeichen von Erweichung. Die hyaline Degeneration ist 
offenbar weniger stark ausgesprochen. In den Muskelzellen der Media 
der Gefafie ist Fibrin zu erkennen, in unserm Fall nicht. Femer berich- 
tet Witte von einer eigenartigen Ringelimg der Gefafie, die hier nir- 
gends zu treffen war. 

Die Fibrinanhaufungen im Gewebe, besonders um die Gefafie herum, 
ftihrt Witte auf die Durchlassigkeit der Gefafiwande fur die flussigen 
Bestandteile des Blutes zuriick; in unserm Fall spricht nichts direkt 
gegen diese Auffassung. 

In beiden Fallen liegen schhefihch neben der paralytischen Verande- 
rung Erscheinungen vor, die als luetisch angesprochen werden mussen, 
sie sind aber nicht an beiden Orten die gleichen. In dem meinigen sind 
es die syphilitischen Gefafiinfiltrationen und die Paketbildung aufier- 
halb der Herde; auch die iiberall anzutreffende starke Degeneration 
der Elastica sei hier noch erwahnt. Angefuhrt sei femer die bei 
Paralyse sonst nicht haufige periostitische Verdickung der Tibiae. 
In dem Fall von Witte handelte es sich um eine Endarteriitis luetica 
Alzheimers, sowie um das Vorkommen einer Riesenzelle in der Pia: 
auch auf die wurmformige Gestalt mancher Arterien wird aufmerksam 
gemacht, die zur Periarteriitis nodosa hinuberfiihrt; auch von dieser 
wird angegeben, dafi sie syphilitischer Natur sei. Wir durfen daher auch 
fur die hyaline Degeneration der Gefafie, die in unserm Fall sicher, in 
dem von Witte wahrscheinlich die wesentliche Grundlage der eigen - 
antigen Erscheinung bildet, an eine luetische Genese zu denken. Ihr hau- 
figes Vorkommen bei der Paralyse ist schon von Alzheimer betont 
worden. 

Wir haben also einen, mit der progressiven Paralyse sich kombinie- 
Zeitschr. fiir d. ges. Xeur. u. Psych. Orig. Z. 


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