Zeitschrift
für
Sozialforschung
Herausgegeben im Auftrag des
INSTITUTS FÜR SOZIALFORSCHUNG
von Max Horkheimer
Jahrgang III 1934 Heft 2
LIBRAIRIE FlLIX ALCAN f PARIS
INHALT.
I. Aufsätze.
Seite
HERBERT MARCUSE
Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staats-
auffassung 161
ERICH FROMM
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie. . 196
KURT MANDELBAUM u. GERHARD MEYER
Zur Theorie der Planwirtschaft 228
Seite
INTERNATIONAL
II. Besprechungen. I PSYCHOANALYTIC
„,.., S I UNIVERSITY
Philosophie :
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Erich Rothacker, Geschichtsphilosophie. — Franz Böhm,
Ontologie der Geschichte. — Gustav Kafka, Geschichtsphi-
losophie der Philosophiegeschichte. — Paul Simon, Die
Geschichte als Weg des Geistes. — Edouard Krakowski,
Contre le fatalisme historique (Marcuse) 263
Donoso Cortes, Der Staat Gottes (Korsch) 266
EberhardConze, Der Satz vom Widerspruch (Marcuse) 266
J. B. S. Haidane, The Causes of Evolution (Irvine) 268
H. S. Jennings, The Universe and Life (Irvine) 268
John A. Hobson, Rationalism and Humanism (Rumney) 268
Njicolas Berdiaeff, Esprit et liberte (Berlh) 269
Allgemeine Soziologie :
The Sociological Review (Rumney ) 269
Bulletin de l'Institut francais de Sociologie. — Victor Leemans,
F. Tönnies (Tazerout) 270
L'Individualite (Tazerout) 271
Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk (Marx) 272
J. v. Uekküll, Staatsbiologie (Berger) 272
Jean Djordjevitsch, Les rapports entre la notion d'eiat et la
notion de classes sociales (Frank) 273
F. O. H. Schulz, Untergang des Marxismus (Korsch) 274
Henri Gouhier, La jeunesse d' Auguste Comte, I (Aron) 274
The Social and Political Ideas of some Representative Thinkers of
the Victorian Age (MarshaU) 276
Psychologie :
Sandford Fleming, Children and Puritanism (Fromm) 277
Otto Rank, Erziehung und Weltanschauung (Landauer) 277
Sidonie Matsner u. Benjamin C. Grünberg, Parents, Children
and Money (Fromm) 278
Henri PiSron, Le dlveloppement mental et l'intelligence. —
Susan Isaacs, Social Development in young Children (de
Saussure) 278
Fortsetzung des Inhaltsverzeichnisses am Schluss des Heftes.
to?. Verz, Hr. ,J£A£f
Der Kampf gegen den Liberalismus in der
totalitären Staatsauffassung.
Von
Herbert Marcuse.
Die Konstituierung des total-autoritären Staates wurde beglei-
tet von der Verkündigung einer neuen politischen Weltanschauung :
der »heroisch-völkische Realismus " wurde zur herrschenden Theo-
rie. „Es erhebt sich... das Blut gegen den formalen Verstand,
die Rasse gegen das rationale Zweckstreben, die Ehre gegen den
Profit, die Bindung gegen die .Freiheit' zubenannte Willkür, die
organische Ganzheit gegen die individualistische Auflösung, Wehr-
haftigkeit gegen bürgerliche Sckurität, Politik gegen den Primat der
Wirtschaft, Staat gegen Gesellschaft, Volk gegen Einzelmensch und
Masse 1 ). " Die neue Weltanschauung 2 ) ist das grosse Sammelbek-
ken all der Strömungen geworden, die seit dem Weltkrieg gegen
die „liberalistische " Staats- und Gesellschaftstheorie vorgetrieben
wurden. Der Kampf begann zunächst fern der politischen Ebene
als philosophische und wissenschaftstheoretische Auseinanderset-
zung mit dem Rationalismus, Individualismus und Materialismus
des 19. Jahrhunderts. Bald bildete sich eine gemeinsame Front
heraus, die mit der Verschärfung der ökonomischen und sozialen
Gegensätze in der Nachkriegszeit schnell ihre politische und gesell-
schaftliche Funktion offenbarte, dergegenüber der Kampf gegen
den Liberalismus sich (wie im folgenden gezeigt werden soll) nur
2 ) Ernst Kricck, Nationalpolitische Erziehung. 14-16. Aufl., 1933 S. 68
a ) Wir bezeichnen im folgenden terminologisch als „heroisch-völkischen Realismus"
das Ganze der Geschichts- und Gesellschaf tsaulTassung, die der total- autoritäre Staat
sich zuordnet. Auch wo wir von „totalitärer Staatsauffassung" sprechen, ist nicht
nur die eigentliche Staatslehre gemeint, sondern die von diesem Staate in Anspruch
genommene „Weltanschauung".
Die jüngste Entwicklung zeigt das Bestrehen, den Begriff des totalen Staates
aufzuspalten und ihn je nach der bestimmten Weise der Totalisierung zu differenzieren.
So spneht man für Deutschland von einem totalen „völkischen", „autoritären",
Fuhrerstaat" u. a, m, (vgl. Koellreutter, Allgemeine Staatslehre, 1933, S. 64;
Freisler in der „Deutschen Justiz" 1934, Heft 2 ; E. R. Huber fn der „Tat",
26. Jahrgang 1934, Heft 1). Aber diese Differenzierungen betreffen nicht die Grund-
lagen des totalen Staates, auf die sich die hier versuchte Interpretation richtet ; soweit
sie In ihren Bereich fallen, sind sie im folgenden mitgemeint, auch wenn sie nicht ter-
minologisch ausdrücklich gemacht sind.
Zötwhrift für SoaialforadiUDg 1II/2 11
T f.
162 Herbert Marcusc
als eine periphere Erscheinung darstellt. Wir geben vorgreifend
einen Ueberblick über die wichtigsten Quellen der gegenwärtigen
Theorie :
1) Die Heroisierung des Menschen. Schon lange vor dem Welt
krieg hat sich die Feier eines neuen Menschentypus durchgesetzt ; sie fan<
in fast allen Geisteswissenschaften von der Nationalökonomie bis zur Phi
losophie ihre Adepten. Auf der ganzen Linie wurde der Angriff eröffne]
gegen die hypertrophische Rationalisierung und Technisierung des Lebens.
gegen den „Bourgeois" des 19. Jahrhunderts mit seinem kleinen Glück
und seinen kleinen Zielen, gegen den Krämer- und Händlergeist und die
zersetzende „Blutarmut" des Daseins. Dem wurde ein neues Bild des
Menschen entgegengehalten, zusammengemischt mit den Farben der Wiki n >
gerzeit, der deutschen Mystik, der Renaissance und des preussischen Sol-
datentums : der heldische Mensch, gebunden an die Mächte des Blutes und
der Erde, — der Mensch, der durch Himmel und Hölle geht, der sich
fraglos „einsetzt" und opfert, nicht zu irgendeinem Zweck, sondern demütig
gehorsam den dunklen Kräften, aus denen er lebt. Dieses Bild steig ert
sich bis zur Vision des charismatischen Führers, dessen Führertum nicht
gerechtfertigt zu werden braucht aus dem, wohin er führt, dessen blosses
Erscheinen vielmehr schon sein „Beweis" und als eine unverdiente Gnade
hinzunehmen ist. In mannigfachen Abwandlungen, aber stets in dersel-
ben Frontstellung gegen die bourgeoise und intellektualistische Existenz
findet sich dieser Menschentypus im George- Kreis, bei M cell er van den
Brück, Sombart, Scheler, Hielscher, Jünger u. a. Seine phil 0so _
phische Begründung sucht man in einer sogenannten
2) Philosophie des Lebens. „Das Leben" als solches ist eine
„Urgegebenheit", hinter die man nicht zurückgehen kann, die jeder ratio-
nalen Begründung, Rechtfertigung und Zwecksetzung entzogen ist. rj as
so verstandene Leben wird zum unerschöpflichen Reservoir aller irratio-
nalen Mächte : mit ihm beschwört man die „seelische Unterwelt" herauf,
die „so wenig böse" ist „wie die kosmische..., vielmehr Hort und Mutter-
schoss aller zeugenden und gebärenden Kräfte, aller formlosen, aber jeder
Form zum Gehalt dienenden Mächte, aller schicksalhaften Bewegungen i)".
Indem man nun in diesem Leben „jenseits von Gut und Böse" die eig ent .
lieh „geschiehtsbildende" Gewalt sieht, gewinnt man eine anti-rationali-
stische und anti-materialistische Geschichtsauffassung, die im politischen
Existenzialismus und seiner Theorie des Totalen Staates ihre soziologi Sc j ie
Fruchtbarkeit erweisen wird. — Solche Philosophie des Lebens hat mit der
echten Lebensphilosophie Diltheys nur den Namen gemein und über-
nimmt von Nietzsche nur Beiwerk und Pathos; am offensten treten ij^
gesellschaftlichen Funktionen bei Spengler zutage 8 ), wo sie zum Unterbau
der imperialistischen Wirtschaftstheorie wird. — Die diesen beiden Strö-
mungen eigene Tendenz zur „Befreiung" des Lebens von dem Zwang ein
aer
*) Krieck, a. a. 0. S. 37.
2 ) vgl. die Besprechung von Spenglers „Jahre der Entscheidung" in Heft 3 ^
II. Jahrgangs dieser Zeilschrift.
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsaufiassung 163
„allgemein" über bestimmte gerade herrschende Interessen hinaus verpflich-
tenden Ratio (und der von ihr ausgehenden Forderung einer vemunitae-
massen Gestaltung der menschlichen Gesellschaft) und zur Ueberantwor-
tung des Daseins an vorgegebene „unverletzbare" Mächte führt zum
3) irrationalistischen Naturalismus. Die Interpretation des
geschichtlich-gesellschaftlichen Geschehens auf ein naturhaft-organisches
Geschehen hin greift hinter die wirklichen (ökonomischen und sozialem
Triebfedern der Geschichte zurück in die Sphäre der ewigen und unwan
delbaren Natur. Die Natur wird gefasst als eine Dimension mythischer
Ursprunglichkeit (treffend durch das Begriffspaar „Blut und Boden" bezeich
net), die sich in allem als eine vor-gesebichtliche Dimension charakte"
nsiert, mit deren umgestaltender Ueb er Windung die Menschengeschichte
in Wahrheit allererst beginnt. Die mythisch-vorgeschichtliche Natur hat
inder neuen Weltanschauung die Funktion, als der eigentliche Gegenspieler
gegen die selbstverantwortliche rationale Praxis zu dienen Diese Natur
steht als das schon durch ihr Dasein Gerechtfertigte gegen alles, was erst
der vernünftigen Rechtfertigung bedarf, als das schlechthin nur Anzuerken-
nende gegen alles erst kritisch zu Erkennende, als das wesentlich Dunkle
gegen alles, was nur im erhellenden Lichte Bestand hat, als das Unzerstör-
bare gegen alles der geschichtlichen Veränderung Unterworfene Der
Naturalismus beruht auf einer für die neue Weltanschauung konstitutiven
Gleichung : die Natur ist als das Ursprüngliche zugleich das Natürliche,
Echte Gesunde, Wertvolle, Heilige. Das Diesseits der Vernunft erhöht
sich, kraft seiner Funktion „jenseits von Gut und Böse", zum Jenseits der
Vernunft.
Doch noch fehlt dem ganzen Gebäude der Schlusstein. Allzu krass
sticht der Hymnus der naturhaft-organischen Ordnimg ab gegen die fak-
tisch bestehende Ordnung : ein schreiender Widerspruch der Produktions-
verhältnisse gegen den erreichten Stand der Produktivkräfte und der durch
ihn schon möglichen Bedürfniserfüllung, — eine Wirtschaft und Gesell-
schaft also wider alle „Natur", eine Ordnung, die durch die Gewalt eines
riesigen Apparates aufrechterhalten wird, — ein Apparat, der deshalb das
Ganze über den Individuen vertreten kann, weil er sie im Ganzen unter-
drückt, eine „Totalität" nur kraft der totalen Beherrschung von allen.
Die theoretische Verklärung solcher Totalität gibt
4) der Universalismus. Hier stehen nicht die echten Ansätze zu
neuen philosophischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Diskus-
sion, die im Universalismus vorliegen (etwa in der Gestalttheorie);
entscheidend für unseren Zusammenhang ist, dass der Universalismus auf
dem Gebiet der Gesellschaftstheorie sehr schnell die Funktion einer poli-
tischen RechtferUgungslehre übernommen hat. Das gesellschaftliche
Ganze als eigenständige und primäre Wirklichkeit vor den Individuen
wird kraft semer puren Ganzheit auch schon zum eigenständigen und pri-
mären Wert : das Ganze ist als Ganzes das Wahre und Echte Die Fra*e
wird nicht gestellt, ob nicht jede Ganzheit sich allererst auszuweisen hat vor
den Individuen, inwiefern deren Möglichkeiten und Notwendigkeiten hei
ihr aufgehoben sind. Indem die Ganzheit statt an das Ende an den
Anfang ruckt, wird der zu dieser Ganzheit führende Weg theoretischer
164 Herbert Marcuse
und praktischer Kritik der Gesellschaft abgeschnitten. Die Ganzhei
wird programmatisch mystifiziert : sie ist „niemals mit Händen zu
greifen, noch mit äusseren Augen zu sehen. Sammlung, Tiefe des Geistes
ist nötig, um sie mit dem inneren Auge zu erblicken" 1 ). Als die reale
Repräsentanz solcher Ganzheit fungiert in der politischen Theorie das
Volk und zwar als eine wesentlich „naturhaft-organische 11 Einheit und
Ganzheit, die vor aller Differenzierung der Gesellschaft in Klassen, Inte-
ressengruppen usw. liegt — mit welcher These sich der Universal ismus
wieder dem Naturalismus verbindet.
Leit
Wir brechen die Skizze der im heroisch-völkischen Realismus
zusammenlaufenden Strömungen hier ab ; ihre Einigung zur totalen
politischen Theorie sowie die gesellschaftliche Funktion dieser
Theorie soll später behandelt werden. Vor der zusammenhängen-
den Interpretation aber ist der geschichtliche Ort anzudeuten, an
dem ihre Einigung sich vollzieht. Er wird sichtbar von ihrem
Gegenpol her. Mit voller Einstimmigkeit fasst der heroisch-
völkische Realismus alles, wogegen er kämpft, unter dem Titel
„Liberalismus" zusammen : „Am Liberalismus gehen die Völker
zu Grunde", mit diesen Worten überschreibt Moeller v. d. Bru c k
das dem Todfeind gewidmete Kapitel seines Buches 2 ). Im Gegen-
zug zum Liberalismus ist die Theorie des total-autoritären Staates
zur „Weltanschauung" geworden; erst aus dieser Frontstell ung
gewinnt sie ihre politische Schärfe (selbst der Marxismus erscheint
ihm stets im Gefolge des Liberalismus 3 ) als dessen Erbe oder
Partner). Wir müssen also zunächst fragen : was versteht diese
Theorie unter dem Liberalismus, den sie mit einem beinahe eschato-
logischen Pathos verdammt, und was hat ihm diese Verdammung
zugezogen ?
Wenn wir die Programmatiker der neuen Weltanschauung f ra .
gen, wogegen sie in ihrem Angriff auf den Liberalismus kämpft,
dann hören wir von den „Ideen von 1789 " ,vom weichlichen Huma-
nismus und Pazifismus, westlichen Intellektualismus, selbstsüchti-
gen Individualismus, Auslieferung der Nation und des Staates an
die Interessenkämpfe bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, ab-
strakter Gleichmacherei, Parteiensystem, Hypertrophie der Wirt-
schaft über den Staat, zersetzendem Technizismus und Materials-
J ) O. Spann, Gesellschaftslehre. 3. Aufl. 1930, S. 98.
2 ) Das dritte Reich, Sonderausg. d. Hanseatischen Verlagsanstalt Hamburg 19^.
S. 69. — Den staatstheoretischen Antiliberalisinus kreiert Carl Schmitt ; ihm folgen
Koellreutter, Hans J. Wolff u. a.
3) Koellreutter, Allgemeine Staatslehre, 1933, S. 21 : „Der Marxismus i S t ^ n(
geistige Frucht des Liberalismus...".
.
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung 165
mus. Das sind noch die konkretesten Aeusserungen 1 ), — vielfach
dient der Begriff „liberal" ausschliesslich der Diffamierung :
„liberal" ist der politische Gegner, ganz gleich wo er steht, und als
solcher der schlechthin „Böse" 2 ).
An diesem dem Liberalismus vorgehaltenen Sündenregister
überrascht zunächst seine abstrakte Allgemeinheit und Ungeschick-
lichkeit : kaum eine einzige dieser Sünden ist für den historischen
Liberalismus charakteristisch. Die Ideen von 1789 sind keines-
wegs immer das Panier des Liberalismus gewesen : sie sind von
ihm zuweilen sogar aufs schärfste bekämpft worden. Der Libera-
lismus ist eine der stärksten Stützen der Forderung nach einer
mächtigen Nation gewesen ; Pazifismus und Internationalismus
waren nicht immer seine Sache, und er hat sich oft genug schwere
Eingriffe des Staates in die Wirtschaft gefallen lassen. Was übrig
bleibt, ist eine vage „Weltanschauung", deren historische Zuord-
nung zum Liberalismus durchaus nicht eindeutig ist; ihre Quali-
fikation zum Angriffsobjekt der totalitären Staatstheorie wird noch
verständlich werden. Doch gerade diese Abdrängung des wirkli-
chen Gehalts des Liberalismus auf eine Weltanschauung ist das
Entscheidende : entscheidend durch das, was dabei verschwiegen
und verdeckt wird. Die Verdcckung gibt einen Hinweis auf die
wahre Frontstellung : sie weicht aus vor der ökonomischen und
sozialen Struktur des Liberalismus. Deren summarische Rekon-
struktion ist notwendig, um den geschichtlich -gesellschaftlichen
Boden erkennen zu können, auf dem der Kampf der „Weltan-
schauungen" verständlich wird.
Der Liberalismus ist die Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie des
europäischen Industriekapitalismus in jener Periode, da der eigentliche
ökonomische Träger des Kapitalismus der „ Einzel kapitalist" war, der
Privat-Unternehmer im wörtlichsten Sinne. Bei aller strukturellen Ver-
schiedenheit des Liberalismus und seiner Träger in den einzelnen Ländern
und Epochen bleibt die einheitliche Grundlage erhalten : die freie Verfü-
gung des individuellen Wirtschaftssubjekts über das Privateigentum und
die staatlich-rechtlich garantierte Sicherheit dieser Verfügung. Alle öko-
nomischen und sozialen Forderungen des Liberalismus sind wandelbar
*) Eine gute Zusammenstellung aller antüiberalisüschen Schlagworte bei Krieck
a. a. O. S. 9. — Die beste Darstellung des Liberalismus vom Standpunkt der totali-
tären Staatstheorie aus gibt Garl Schmitt in der Einleitung und im Anhang zur
2. Aufl. des „Begriff des Politischen", ferner in „Die geistige Lage des heutigen Parla-
mentarismus", 2. Aufl. 1926.
2 ) So wenn Moellcr v. d. Brück „definiert" : „Der Liberalismus ist die Freiheit,
keine Gesinnung zu haben und gleichwohl zu behaupten, dass eben dies Gesinnung
sei" (a. a. O. S, 70). Der Gipfel der Verwirrung ist erreicht, wenn Krieck Liberalis-
mus, Kapitalismus und Marxismus als die „Formen der Gegenbewegung" zusammen-
nimmt (a. a. Ü. S. 32),
166 Herbert Marcuse
um dieses eine stabiie Zentrum, — wandelbar bis zur Selbstaufhebung.
So sind selbst gewaltsamste Eingriffe der Staatsgewalt in das Wirtschaftsle-
ben oft genug während der Herrschaft des Liberalismus geschehen, sobald
es die bedrohte Freiheit und Sicherheit des Privateigentums verlangte
besonders gegenüber dem Proletariat. Der Gedanke der Diktatur und
der autoritären Staatsfübrung ist dem Liberalismus (wie wir gleich sehen
werden) durchaus nicht fremd ; und oft genug sind in der Zeit des pazifi-
stisch-humanitären Liberalismus nationale Kriege geführt worden. Die
heute so verhassten politischen Grundforderungen des Liberalismus, die
Sich auf der Basis seiner Wirtschaftsauflassung ergeben (wie Rede- und
Pressfreiheit, volle Oeffentlichkeit des politischen Lebens, Repraescntaliv-
system und Parlamentarismus, Teilung bzw. Balanzierung der Gewalten)
sind faktisch niemals ganz verwirklicht worden * sie wurden je nach der
gesellschaftlichen Situation eingeschränkt oder ganz ausgesetzt 1 ).
Um hinter den üblichen Verschleierungen und Verschiebungen das
wahre Bild des liberalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems z\x
erkennen, braucht man nur die Darstellung des Liberalismus von Mises
(1927) zur Hand zu nehmen. „Das Programm des Liberalismus hätte.,
in ein einziges Wort zusammengefasst, zu lauten : Eigentum, das heisst ■
Sondereigentum an den Produktionsmitteln... Alle anderen Forderungen
des Liberalismus ergeben sich aus dieser Grundforderung 1 ' (S. 17). In der
freien Privatinitiative des Unternehmers sieht er den sichersten Garanten
des ökonomischen und sozialen Fortschritts. Deshalb gilt für den Libera-
lismus „der Kapitalismus als die einzig mögliche Ordnung der gescllschaf tlü
chen Beziehungen" (S. 75), und dementsprechend hat er nur einen einzigen
Feind : den marxistischen Sozialismus (S. 13 f). Dagegen hält der Libera
lismus dafür, dass „der Faszismus und alle ähnlichen Diktaturbestrebungen
für den Augenblick die europäische Gesittung gerettet hat. Das Verdienst'
das sich der Faszismus damit erworben hat, wird in der Geschichte ewio
fortleben" (S. 45). g
Wir können jetzt schon den Grund erkennen, warum der total,
autoritäre Staat seinen Kampf gegen den Liberalismus auf eineü
Kampf der „Weltanschauungen" ablenkt, warum er die gesell,
schaftliche Grundstruktur des Liberalismus beiseitelässt : er i & l
mit dieser Grundstruktur weitgehend einverstanden. Als i\ xr
Fundament war die privatwirtsehaftliche Organisation der Gesell,
Schaft auf der Basis der Anerkennung des Sondereigentums und der
Privatinitiative des Unternehmers bezeichnet worden. Und ebo
"n
x ) L. v. Wiese : „Ich wiederhole meine Behauptung, dass es ihn (den Lib e >.
lismus) praktisch in ausreichendem Grade überhaupt noch nicht gegeben hat «
(Festgabe für L. Brentano, 1925, I. S. 16). — „In keiner Periode der Weltgeschich;
hat sich ökonomische Rationalität auf längere Zeit massgebend ausgewirkt. M~
kann und muss bestreiten, dass der Liberalismus auch im 19. Jahrhundert jemals 7**
diesem Sinne als herrschende Macht gelten konnte" (Richard Behrendt in Schmo/ 1
lers Jahrbuch 57, Heft 3, S. 14). — Speziell für den deutschen Liberalismus V „T
H. Schroth, Welt- und Staatsideen des deutschen Liberalismus..., 1931, bes. S
und 95 ff. * OM
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung 167
diese Organisation bleibt auch für den total-autoritären Staat
grundlegend : in einer Fülle von programmatischen Kundgebungen
ist sie ausdrücklich sanktioniert worden 1 ). Die starken Abwand-
lungen und Einschränkungen, die überall vorgenommen werden,
entsprechen den monopolkapitalistischen Anforderungen der wirt-
schaftlichen Entwicklung selbst ; sie lassen das Prinzip der Gestal-
tung der Produktionsverhältnisse unangetastet.
Es gibt ein klassisches Zeugnis für die innerste Verwandtschaft zwischen
der liberalistischen Gesellschaftstheorie und der scheinbar so antiliberalen
totalitären Staatstheorie : ein Schreiben, das Gentile bei seinem Eintritt
in die faschistische Partei an Mussolini gerichtet hat. Dort heisst es :
„Als Liberaler aus tiefster Ueberzeugung habe ich mich in den Monaten,
die ich die Ehre hatte, an Ihrem Regierungswerk mitzuarbeiten und aus
der Nähe die Entwicklung der Prinzipien zu beobachten, die Ihre Politik
bestimmen, überzeugen müssen, dass der Liberalismus, wie ich ihn verstehe,
der Liberalismus der Freiheit im Gesetz und daher in einem starken Staate,
im Staate als ethischer Realität, heute in Italien nicht von den Liberalen
vertreten wird, die mehr oder weniger offen Ihre Gegner sind, sondern im
Gegenteil von Ihnen selbst. Daher habe ich mich davon überzeugt, dass
bei der Wahl zwischen dem heutigen Liberalismus und den Faschisten, die
den Gedanken Ihres Faschismus verstehen, ein echter Liberaler, der die
Zweideutigkeit verachtet und auf seinem Posten stehen will, sich in die
Scharen Ihrer Anhänger einreihen muss" 2 ).
Dass vollends ausser dieser positiven Verbundenheit die neue
Weltanschauung mit dem Liberalismus in seinem Kampf gegen
den marxistischen Sozialismus ganz einig ist, dafür bedarf es heute
keiner Belege. Allerdings finden sich im heroisch-völkischen Rea-
lismus auch häufig heftige Ausfälle gegen den kapitalistischen
Ungeist, gegen den Bürger und seine „Profitgier" usw. Aber da
die Wirtschaftsordnung, die allein den Bürger möglich macht, in
ihren Grundlagen erhalten bleibt, richten sich solche Ausfalle
immer nur gegen eine bestimmte Gestalt des Bürgers (den Typus
des kleinen und kleinlichen „Händlertums") und gegen eine be-
i) „Der korporative Staat erblickt in der Privatinitiative auf dem Gebiet der Pro-
duktion das wertvollste und wirksamste Instrument zur Wahrnehmung der Interessen
der Nation". — „F.in Eingriff des Staates in die Wirtschaft erfolgt nur, wo die Privat-
initiative fehlt, ungenügend ist oder die politischen Interessen des Staates auf dem
Spiele stehen" (Carta dcl Lavoro Art. VII u. IX, bei Niederer, Der Ständestaat des
Faschismus, 1932, S. 179). „Der Faschismus bejaht grundsätzlich den Privatunter-
nehmer als Produktionsleiter und als Werkzeug der Vermehrung des Reichtums
(W. Koch, Politik und Wirtschaft im Denken der faschistischen Führer, in : Schmol-
lers Jahrbuch 1933, Heft 5, S. 44). — Für Deutschland bes. das Zitat bei Koellreutter
a. a. O. S, 179 f.
2) Zitiert in der Zeitschrift „Aufbau", hrsg. v. F. Karsen, Jahrgang IV 1931,
S. 233.
168 Herbert Marcusc
stimmte Gestalt des Kapitalismus (repräsentiert durch den Typus
der freien Konkurrenz selbständiger Einzelkapitalisten), — nie aber
gegen die ökonomischen Funktionen des Bürgers in der kapitalisti-
schen Produktionsordnung. Die bekämpften Gestalten des Bürgers
und des Kapitalismus sind schon durch die ökonomische Entwicklung
selbst gestürzt worden, geblieben aber ist der Bürger als kapitalisti
sches Wirtschaftssubjekt. Die neue Weltanschauung schmäht den
„Handler" und feiert den „genialen Wirtschaftsführer" : dadurch
wird nur verdeckt, dass sie die ökonomischen Funktionen des Bür-
gers unangetastet lässt. Die antibürgerliche Gesinnung ist bloss eine
Abart der „Heroisierung" des Menschen, deren gesellschaftlicher
Sinn noch geklärt werden soll.
Da so die vom Liberalismus gemeinte Gesellschaftsordnung
in ihrer Grundstruktur weitgehend intakt gelassen wird, kann es
nicht Wunder nehmen, wenn sich auch in der ideologischen Inter-
pretation dieser Gesellschaftsordnung zwischen Liberalismus und
Antihberalismus eine bedeutsame Uebereinstimmung herausstellt
Genauer : aus der liberalistischen Interpretation werden entschei "
dende Momente aufgegriffen und in der von den veränderten öko~
nomisch-sozialen Verhältnissen geforderten Weise umgedeutet und
weiterentwickelt. Wir betrachten im folgenden die beiden wichtig
Step Ansatzstellen der neuen Staats- und Gesellschaftslehre im
Liberalismus : die naturalistische Interpretation der Gesellschaft
und den im Irrationalismus auslaufenden liberalistischen Rationa
lismus. a ~
T7 ? G , r ¥ beralismus si e h t hinter den ökonomischen Kräften und.
Verhaltnissen der kapitalistischen Gesellschaft „natürliche-
Gesetze, die sich m ihrer ganzen heilsamen Nahrhaftigkeit erweisen
werden, wenn man sie nur frei und ohne künstliche Störung zur
Entfaltung kommen lässt. Rousseau gibt das Stichwort 7 ce
qui est bien et conforme ä l'ordre est tel par la nature des choses'et
lndependamment des Conventions humaines 1 )". Es gibt eine
„Natur der Dmge", die unabhängig von Menschenwerk und Men
sciienmacht ihre ureigene Gesetzmässigkeit hat, die sich durch all«
Störungen hindurch immer wieder selbst herstellt. Ein neu<^
Naturbegriff kündet sich hier an, der im schroffen Gegensatz zu dem
mathematisch-rationalen Naturbegriff des 16. und 17. Jahrhundert«
wieder zurückgreift auf den antiken Begriff der Natur als <mW ■ se i„f
gesellschaftlichen Funktionen innerhalb des bürgerlichen Denkend
werden nach einer kurzen revolutionären Epoche wesentlich retar
dierende und reaktionäre (sie sollen später dargestellt werden)"'
x ) a. a. O. S. 258.
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Slaatsauffassung 169
Entscheidend wird die Verwendung dieses Naturbegriffs in der poli-
tischen Oekonomie. „Die Existenz natürlicher Gesetze war stets
die charakteristische Behauptung der klassischen Schule. Diese
Gesetze... sind ganz einfach .natürlich*, ganz so wie die physischen
Gesetze und folglich amoralisch ; sie können nützlich oder schädlich
sein : dem Menschen liegt es ob, sich ihnen, so gut er kann, anzupas-
sen 1 )". Der Liberalismus glaubt, dass bei Anpassung an diese
„Naturgesetze " das Gegeneinander der verschiedenen Bedürfnisse,
der Widerstreit zwischen Allgemein- und Privatinteresse, die soziale
Ungleichheit sich am Ende aufhebt in der allumfassenden Harmonie
des Ganzen und vom Ganzen aus auch dem Einzelnen zum Segen
wird 2 ). Hier, in der Mitte des liberalistischen Systems, findet sich
schon die Rückinterpretation der Gesellschaft auf die „Natur" in
ihrer harmonisierenden Funktion : als die ablenkende Rechtferti-
gung einer widerspruchsvollen Gesellschaftsordnung 3 ).
Vorgreifend stellen wir fest, dass auch der neue Antiliberalismus
ebenso wie der krasseste Liberalismus an die ewigen natürlichen
Gesetze im gesellschaftlichen Leben glaubt : „Es gibt ein Ewiges in
unserer Natur, das sich immer wieder herstellt und zu dem jede
Entwicklung zurückkehren muss... ". „Die Natur ist konservativ,
weil sie auf einer nicht zu erschütternden Konstanz der Erschei-
nungen beruht, die sich auch dann, wenn sie vorübergehend gestört
wird, immer wieder herstellt. " Das sagt kein Liberalist, sondern-
niemand anders als Mo eller van den Brück 4 ). Und mit dem
Liberalismus teilt die totalitäre Staatstheorie die Ueberzeugung,
dass im Ganzen schliesslich „das Gleichgewicht der wirtschaftlichen
Interessen und Kräfte hergestellt wird" (Mussolini) 5 ). Ja selbst
das Naturrecht, eine der typischsten liberalistischen Konzeptionen,
*) Gide-Rist, Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, 1913, S. 402.
— Charakteristisch ist der Satz W. v. Humboldts : „Die besten menschlichen Ope-
rationen sind diejenigen, welche die Operationen der Natur am getreuesten nachahmen"
(lieber die Grenzen der Wirksamkeit des Staates", Klassiker d. Politik Band ß, 1922,
S. 12).
2) Klassische Belegstellen bei Adam Sinjith das erste Kapitel des 3. Buches des
„Wealth of Kations" : „Vom natürlichen Fortschritt des Wohlstandes ". Ferner
Bastiat bei Gide-Rist a. a. 0. S. 373. — Für den Liberalismus steht „nichts auf so
schwachen Füssen wie die Behauptung von der angeblichen Gleichheit alles dessen,
was Menschcnantlitz trägt" (Mises a. a. 0. S. 25). Er geht gerade von der wesentli-
chen Ungleichheit der Menschen aus ; sie ist ihm Voraussetzung der Harmonie des
Ganzen, (vgl. R. Thoma in der Erinnerungsgabe für Max Weber, 1923, II S. 40.)
3 ) Zu dieser Funktion des liberalistischen Naturbegrifls vgl. Myrdal, Das poli-
tische Element in der nationalökonomischen Doktrinbüdung, 1932, S. 177 : der Natur-
begriff ist ein ,, Klischee, das ebenso gut für jede andere politische Rekommendation
passt". Er kommt zur Anwendung, „wenn irgend jemand in irgend einer politischen
Frage irgend etwas hat behaupten wollen, ohne Beweise dafür anzuführen".
*) a. a. 0. S. 200, 210.
*) „Der Faschismus", deutsch von Wagenführ, 1933, S. 38.
170 Herbert Marcuse
wird heute auf veränderter historischer Stufe wiederholt. „Wir
treten in eine neue naturrechtliche Epoche! "ruft Hans J. Wolff
in einer Abhandlung über „die neue Regierungsform des deutschen
Reiches" : in der Krise des Rechtsdenkens sind heute die Würfel
„zugunsten der Natur gefallen ". Nur dass es „nicht mehr die Natur
des Menschen" ist, aus der „die angemessene Normierung ent-
wickelt wird : es ist die Natur, die Eigenart des Volkes (der Völker)
als natürliche Gegeben- und historische Gewordenheit" 1 ).
Allerdings : der liberal istische Naturalismus steht iu einem
wesentlich rationalistischen, der antiliberalistische in einem wesent-
lich irrationalistischen Gedankensystem. Der Unterschied muss
festgehalten werden, um nicht die Grenzen beider Theorien künst-
lich zu verwischen und ihre veränderte gesellschaftliche Funktion
nicht zu verkennen. Aber im liberalistischen Rationalismus sind
schon jene Tendenzen präformiert, die dann später, mit der Wen-
dung vom industriellen zum monopolistischen Kapitalismus, irra-
tionalistischen Charakter annehmen.
Welche Stellungnahme zur Antithese Rationalismus — Irratio-
nalismus sich für eine wissenschaftliche Theorie der Gesellschaft
ergibt, ist in dieser Zeitschrift für einige Hauptpunkte dargelegt
worden 2 ). Im folgenden handelt es sich nur um eine Herausarbei-
tung der irrationalistischen Grundtendenz der zum Thema gemach-
ten Theorie der Gesellschaft. „Irrationalismus" ist ein Gegen-
Begriff : zum Verständnis einer wesentlich irrationalistischen
Weltanschauung ist die „idealtypische" Konstruktion einer ratio-
nalistischen Theorie der Gesellschaft notwendig :
Rationalistisch wäre eine Theorie der Gesellschaft, die cÜ e
von ihr geforderte Praxis unter die Idee der autonomen Ratio
stellt, d. h. des menschlichen Vermögens, durch begriffliches Denken
das Wahre, Gute und Richtige zu erfassen. Vor dem massgebenden
Richterspruch der Ratio hätte sich jedes Tun, jede Zielsetzung
innerhalb der Gesellschaft, aber auch die gesellschaftliche Organisa-
tion als Ganzes auszuweisen. In ihr bedarf alles der vernünftige
Rechtfertigung, um als Tatsache und Ziel bestehen zu können ; d as
Prinzip vom zureichenden Grunde, das eigentliche rationalistische
Grundprinzip, nimmt den Zusammenhang der „Sachen" als einen
„vernünftigen" Zusammenhang in Anspruch : der Grund setzt d as
von ihm Begründete eo ipso auch als ein Vernunftgemässes^
l ) Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart Heft 104, 1933, S, 8 f.
a > 3, Jahrgang, Heft, 1, S. 1 ff.
8 ) Dieses „Zusammenfallen" von Grund und Vernunft kommt schlagend in Leib-
nitzens Formulierung des rationalistischen Grundprinzips zum Ausdruck : „Ce pv m l
■cipe est cehü du b esoin d'une raison süffisante, pour qu'une chose existe, qu'un Gv^'
ment arrive, qu'une vöritfi ait lieu" (Briefe an Cfarke ; 5. Schreiben, zu § 46).
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staat s auflas sung 171
Niemals folgt schon aus der puren Existenz einer Tatsache oder
Zwecksetzung die Notwendigkeit ihrer Anerkennung, vielmehr muss
aller Anerkennung die freie Erkenntnis des Anzuerkennenden als
eines Vermmftgemässen vorangehen. Die rationalistische Theorie
der Gesellschaft ist daher wesentlich „kritisch" : sie stellt die
Gesellschaft unter die Idee einer theoretischen und praktischen,
positiven und negativen Kritik. Leitfaden dieser Kritik ist einer-
seits die gegebene Daseins-Situation des Menschen als eines ver-
nünftigen Lebewesens, d. h. eines Lebewesens, dem die freie, durch
das erkennende Wissen geführte Selbstgestaltung seines Daseins im
Hinblick auf sein irdisches „Glück" aufgegeben ist, — und anderer-
seits der gegebene Stand der Produktivkräfte und die ihm entspre-
chenden bzw. widersprechenden Produktionsverhältnisse, als der
Masstab für die jeweils realisierbaren Möglichkeiten der vernünfti-
gen Selbstgestaltung der Gesellschaft 1 ). Die rationalistische Theo-
rie weiss sehr wohl um die Grenzen menschlichen Wissens und um
die Grenzen der vernunftgemässen Selbstgestaltung, aber sie ver-
meidet es, diese Grenzen allzu vorschnell abzustecken, und sie ver-
meidet es vor allem, aus ihnen Kapital zu schlagen für eine unkri-
tische Sanktionierung bestehender Ordnungen.
Die irrationalistische Theorie der Gesellschaft hat es nicht
nötig, die Wirklichkeit der kritischen Vernunft radikal zu vernei-
nen : zwischen der Bindung der Vernunft an vorgegebene „natur-
haft-organische " Sachverhalte und der Versklavung der Vernunft
an das „Raubtier im Menschen" gibt es genügend grossen Spiel-
raum für alle Arten einer derivierten Ratio. Entscheidend ist, dass
hier vor die Autonomie der Vernunft als ihre prinzipielle (nicht
bloss faktische) Schranke irrationale Gegebenheiten gelagert werden
(„Natur", „Blut und Boden", „Volkstum", „existenzielle Sachver-
halte", „Ganzheit" usw.), von denen die Vernunft kausal, funktio-
nal oder organisch abhängig ist und bleibt. Gegenüber allen
abschwächenden Versuchen kann nicht oft genug betont werden,
dass eine solche Funktionalisierung der Vernunft bzw. des Menschen
als vernünftigen Lebewesens die Kraft und Wirkung der Ratio an
ihren Wurzeln vernichtet, denn sie führt immer dazu, die irrationa-
len Vorgegebenheiten in normative umzudeuten, die Ratio unter
die Heteronomie des Irrationalen zu stellen. — Das Ausspielen
x ) „Autonomie der Ratio" bedeutet also innerhalb einer rationalistischen Theorie
der Gesellschaft durchaus nicht schon die Absolutsetzung der Ratio als Grund oder
Wesen des Seienden. Sofern die Ratio vielmehr als Ratio der konkreten Individuen
in ihrer bestimmten gesellschaftlichen Situation gefasst wird, gehen die „materiellen"
Bedingungen dieser Situation auch als Bedingungen in die geforderte rationale Praxis
ein. Aber auch diese Bedingungen sind rational zu begreifen und auf Grund solchen
Begreif ens — zu verändern.
172 • Herbert Marcuse
naturhaft-organischer Sachverhalte gegen die „wurzellose" Ver-
nunft hat in der Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft den Sinn,
eine rational nicht mehr zu rechtfertigende Gesellschaft durch irra-
tionale Mächte zu rechtfertigen, ihre Widersprüche aus der Hellig-
keit des begreifenden Wissens in die verhüllende Dunkelheit des
„Blutes" oder der „Seele" zu tauchen und auf diese Weise die
erkennende Kritik abzuschneiden. „Die Wirklichkeit lässt sich,
nicht erkennen, sie lässt sich nur anerkennen" 1 ) : in dieser „klas-
sischen" Formulierung erreicht die irrationalistische Theorie den
äussersten Gegenpol zu allem vernünftigen Denken und enthüllt sie
zugleich ihre tiefsten Absichten. Die irrationalistische Theorie der
Gesellschaft ist heute so wesentlich unkritisch, wie die rationali-
stische kritisch ist, und sie ist wesentlich anti-materialistisch, denn
sie muss das diesseitige Glück der Menschen, das nur durch eine
vernünftige Organisation der Gesellschaft herbeizuführen ist, dif-
famieren und es durch andere, weniger „handgreifliche" W T erte?
ersetzen. Was sie dem Materialismus entgegenstellt, ist ein heroi-
scher Pauperismus : eine ethische Verklärung der Armut, des-
Opfers und des Dienstes und ein „völkischer Realismus" (Krieck),
dessen gesellschaftlicher Sinn noch aufgezeigt werden soll.
Verglichen mit dem heroisch-völkischen Realismus ist der Libe-
ralismus eine rationalistische Theorie. Sein Lebenselement ist der
optimistische Glaube an den endlichen Sieg der Vernunft, die sich
über allem Widerstreit der Interessen und Meinungen in der Har-
monie des Ganzen durchsetzt. Diesen Sieg der Vernunft bindet
der Liberalismus (und hier beginnt die typisch liberalistische Kon-
zeption des Rationalismus), konsequent seinen ökonomischen
Anschauungen, an die Möglichkeit eines freien und offenen Gegenei-
nander-wirkens der verschiedenen Ansichten und Erkenntnisse, als.
deren Resultat sich die vernünftige Wahrheit und Richtigkeit
ergeben soll 2 ).
Wie die ökonomische Organisation der Gesellschaft auf der
freien Konkurrenz der privaten Wirtschaftssubjekte aufgebant
wird, also gerade auf der Einheit der Gegensätze und der Einigung
des Ungleichen, so wird die Wahrheitsfindung gegründet auf dern
offenen Sich-aussp rechen, demfreiehRede und Antwort-stehen, auf
dem argumentativen Ueberzeugen und Sich-überzeugen-lassen, also
gerade auf dem Widerspruch und der Kritik des Gegners. All die
Tendenzen, aus denen die politischen Forderungen des Liberalismus
1 ) H. Forst hoff, Das Ende der humanistischen Illusion, 1933, S. 25.
a ) Eine glänzende Darstellung des liberalistischen Rationalismus gibt Carl
Schmitt in der „Geistesgeschiclitlichen Lage des heutigen Parlamentarismus' 1
2. Aufl. bes. S. 45 ff.
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung 173
ihre theoretische Gültigkeit holen (Rede- und Pressfreiheit, Publi-
zität, Toleranz, Parlamentarismus usw.) — es sind Elemente eines
echten Rationalismus.
Noch von einer anderen Richtung her wird die liberalistische
Gesellschaft rationalistisch unterbaut. Die Erklärung der Men-
schenrechte führt als drittes Grundrecht die „sürete" an. Diese
,, Sicherheit" meint sehr entschieden eine Sicherung der freien
Wirtschaftsführung und zwar nicht nur die staatliche Sicherung
der Verfügung über das Privateigentum, sondern auch die private
Sicherung seiner grösstmöglichen Rentabilität und Stabilität.
Hierzu gehört vor allem zweierlei : ein Höchstmass an allgemeiner
Rechtssicherheit der Privatverträge und ein Höchstmass an exakter
Berechenbarkeit von Gewinn und Verlust, Angebot und Nachfrage.
Die Rationalisierung des Rechtes und die Rationalisierung des
Betriebes (die Momente, die Max Weber als entscheidend für den
Geist des abendländischen Kapitalismus herausgestellt hat) werden
in der liberalistisclien Epoche des Kapitalismus in bisher nicht
gekannter Weise verwirklicht. Doch gerade hier stösst der libe-
ralistische Rationalismus sehr bald auf Schranken, die er aus sich
heraus nicht mehr überwinden kann : irrationalistische Elemente
dringen in ihn ein und sprengen die theoretische Grundkonzeption.
Die liberalistische Rationalisierung der Wirtschaftsführung (wie
überhaupt der gesellschaftlichen Organisation) ist wesentlich eine
private : sie ist gebunden an die rationale Praxis des einzelnen
Wirtschaf tssubjektes bzw. einer Vielheit einzelner Wirtschaftssub-
jekte. Zwar soll sich am Ende die Rationalität der liberalistischen
Praxis auch im Ganzen und am Ganzen erweisen, aber dieses Ganze
selbst bleibt der Rationalisierung entzogen 1 ). Der Einklang von
Allgemein- und Privatinteresse soll sich im ungestörten Ablauf
der privaten Praxis „von selbst" ergeben ; er wird prinzipiell nicht
in die Kritik genommen, er gehört prinzipiell nicht mehr zum ratio-
nalen Entwurf der Praxis.
Durch diese Privatisierung der Ratio wird der vernunft-
gemässe Aufbau der Gesellschaft um sein ziel gebendes Ende
gebracht (wie beim Irrationalismus durch die Funktionalisierung
der Ratio um seinen richtunggebenden Anfang). Gerade die
rationale Bestimmung und Bedingung jener „Allgemeinheit", bei
der schliesslich das „Glück" des Einzelnen aufgehoben sein soll,
fehlt. Insofern (und nur insofern) wirft man dem Liberalismus mit
Recht vor, dass seine Rede von der Allgemeinheit, der Mensch-
i) In der Rechtssphäre ist zwar die Rationalisierung prinzipiell eine „allgemeine' ,
aber sie erkauft diese Allgemeinheit mit einer völligen Fonnalisierung im Privatrecht
und mit einer völligen Abstraktheit im Staatsrecht.
174 Herbert Marcuse
heit usw., in puren Abstraktionen stecken bleibt. Struktur und
Ordnung des Ganzen bleibt letztlich irrationalen Kräften überlas-
sen : einer zufälligen „Harmonie", einem „natürlichen Gleichge-
wicht ". Die Tragfähigkeit des liberalistischen Rationalismus hört
daher sofort auf, wenn mit der Verschärfung der gesellschaftlichen
Gegensätze und der ökonomischen Krisen die allgemeine „Har-
monie " immer unwahrscheinlicher wird ; an diesem Punkt muss-
auch die liberalistische Theorie zu irrationalen Rechtfertigungen
greifen. Die rationale Kritik gibt sich selbst auf ; sie ist allzu
leicht bereit, „natürliche" Vorrechte und Begnadungen anzu-
erkennen. Der charismatisch-autoritäre Führergedanke ist schon
präformiert in der liberalistischen Feier des genialen Wirtschafts-
führers, des „geborenen" Chefs.
Die rohe Skizze der liberalistischen Gesellschaftstheorie hat
gezeigt, wie viele Elemente der totalitären Staatsauffassung in ihr
schon angelegt sind. Von der ökonomischen Struktur aus enthüllt
sich eine fast lückenlose Kontinuität in der Entwicklung der theo-
retischen Interpretation der Gesellschaft. Die ökonomischen
Grundlagen dieser Entwicklung von der liberalistischen zur totali-
tären Theorie müssen hier vorausgesetzt werden 1 ) : sie liegen ini
wesentlichen alle auf der Linie der Wandlung der kapitalistisch en
Gesellschaft von dem auf der freien Konkurrenz der selbständigen
Einzelunternehmer aufgebauten Handels- und Industriekapitalis-
mus zum modernen Monopolkapitalismus, in dem die veränderten
Produktionsverhältnisse (und besonders die grossen „Einheiten"
der Kartelle, Trusts, etc.) eine alle Machtmittel mobilisierende
starke Staatsgewalt fordern. Offen und klar spricht die Wirtschaf ts-
theorie es aus, weshalb der Liberalismus jetzt zum Todfeind der
Gesellschaftstheorie wird : „Der Imperialismus hat... dem Kapita-
lismus die Hilfsmittel einer starken Staatsgewalt zur Verfügung
gestellt,.. Die liberalen Ideen von der freischwebenden Konkurrenz
von Einzelwirtschaften haben sich für den Kapitalismus ... als
ungeeignet erwiesen" 2 ). Die Wendung vom liberalistischen' zum
total-autoritären Staate vollzieht sich auf dem Boden derselben
Gesellschaftsordnung. Im Hinblick auf diese Einheit der ökono-
mischen Basis lässt sich sagen : es ist der Liberalismus selbst, der den
total-autoritären Staat aus sich „erzeugt " : als seine eigene Vollen-
*) Wir können dies umso eher, als sie von F. Pollock im 3. Heft des 2. Jahrgangs
dieser Zeitschrift dargelegt worden sind.
8 ) Sbmbart, Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, 1927
I. Halbband, S. 09.
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung 175
dung auf einer fortgeschrittenen Stufe der Entwicklung. Der
total-autoritäre Staat bringt die dem monopolistischen Stadium,
des Kapitalismus entsprechende Organisation und Theorie der
Gesellschaft.
Diese Organisation und ihre Theorie enthält allerdings auch
„neue" Elemente, die über die alte liberalistische Gesellschaftsord-
nung und ihre blosse Negation hinausweisen : Elemente, in denen
sich ein echter dialektischer Gegenschlag gegen den Liberalismus
ankündet, die aber zu ihrer Verwirklichung gerade die Aufhebung
der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen voraussetzen,
die der total-autoritäre Staat noch festhält. Die neue Staats- und
Gesellschaftstheorie darf daher nicht einfach als ein Prozess der
„Ideologie- Anpassung" gedeutet werden. Um einen Beitrag zur
Erkenntnis ihrer wirklichen gesellschaftlichen Funktion zu geben,
soll sie im folgenden in ihren Grundzügen interpretiert werden
und zwar an ihren drei konstitutiven Bestandteilen : dem Univer-
salismus, Naturalismus (Organizismus) und Existenzialismus.
Der Universalismus.
Die Vorgängigkeit und der Vorrang des Ganzen vor allen „Glie-
dern " („Teilen") ist eine Grundthese des heroisch- völkischen Realis-
mus : das Ganze nicht nur als Summe oder abstrakte Totalität
verstanden, sondern als die die Teile einigende Einheit, in der jeder
Teil sich allererst erfüllt und vollendet. Die Forderung nach Ver-
wirklichung einer solchen Ganzheit steht in den programmatischen
Verkündigungen des total-autoritären Staates an erster Stelle. In
der organischen Lebensordnung „ist das Ganze in seiner organischen
Gliederung urgegeben : die Glieder dienen dem Ganzen, das ihnen
als Gesetz übergeordnet ist, aber sie dienen ihm nach ihrer gliedhaf-
ten Eigengesetzlichkeit..., worin sich zugleich im Grade ihrer Teil-
habe am Ganzen ihre persönliche Bestimmung, der Sinn ihrer
Persönlichkeit erfüllt 1 )". Als geschichtliche Grösse soll dieses
Ganze die Allheit der geschichtlichen Sachverhalte und Beziehungen
in sich fassen : „sowohl der nationale wie der soziale Gedanke" sind
von ihm „umschlossen" 2 ).
Wir haben gesehen, dass in der Aussonderung des Ganzen aus
dem rationalen Gestaltungsprozess ein schweres Versäumnis der
liberalistischen Theorie sichtbar wurde. Die liberalistischen For-
derungen, die über die Sicherung und Ausnutzung des Privateigen-
tums hinaus wirklich eine vernünftige Gestaltung der menschlichen
*) Krieck a. a. O. S. 23.
2 ) Nicolai, Grundlagen der kommenden Verfassung, 1933, S. 9.
176 Herbert Marcus e
Praxis betreffen, bedürften zu ihrer Realisierung gerade der ver-
nünftigen Gestaltung des Ganzen der Produktionsverhältnisse
innerhalb deren die Individuen ihr Dasein auszuleben haben. Der
Vorrang des Ganzen vor den Individuen besteht zu Recht, sofern
die Formen der Produktion und Reproduktion des Lebens als
„allgemeine" den Individuen vorgegeben sind und sofern die an«e-
messene Gestaltung dieser Formen die Bedingung der Möglichkeit
des individuellen Glückes der Menschen ist. Losgelöst von seinem
ökonomisch-sozialen Gehalt, hat der Regriff des „Ganzen " in der
Gesellschaftstheorie überhaupt keinen konkreten Sinn ; wir werden
sehen, dass auch seine organizistische Fassung : die Deutung des
Verhältnisses von Ganzheit und Gliedern als organisch-natürliche
Reziehung, diesen Sinn nicht zu geben vermag; auch das „Volk"
wird erst kraft einer ökonomisch-sozialen Einheit eine wirkliche
Ganzheit, — nicht umgekehrt.
Die starke universalistische Tendenz kommt nicht etwa als phi-
losophische Spekulation zur Wirkung ; sie wird von der ökonomi-
schen Entwicklung selbst geradezu gefordert. Es ist eines der
wichtigsten Kennzeichen des Monopolkapitalismus, dass er in der
Tat eine ganz bestimmte „Vereinheitlichung" innerhalb der Gesell-
schaft zur Folge hat. Er schafft ein neues „System von Abhängig,
keiten verschiedenster Art" : der kleinen und mittleren Betriebe
von den Kartellen und Trusts, des Grundbesitzes und der Grossin-
dustrie vom Finanzkapital usw. 1 )
Hier, in der ökonomischen Struktur der monopolkapitalistischen
Gesellschaft, liegen die faktischen Grundlagen des Universalismus
Aber in der Theorie erfahren sie eine totale Umdeutung : das von
ihr vertretene Ganze ist nicht die auf dem Boden der Klassengesell-
schaft durch die Herrschaft einer Klasse herbeigeführte Verein-
heitlichung, sondern eine alle Klassen einigende Einheit, die die
Realität des Klassenkampfes und damit die Realität der Klassen
selbst aufheben soll : die „Herstellung einer wirklichen Volksge-
meinschaft, die sich über die Interessen und Gegensätze der Stände
und Klassen erhebt" 2 ). Die klassenlose Gesellschaft also ist das
Ziel, aber die klassenlose Gesellschaft auf der Basis und im Rahmen
— der bestehenden Klassengesellschaft. Denn in der totalitären
Staatstheorie werden die Fundamente dieser Gesellschaft : die auf
dem Privateigentum an den Produktionsmitteln aufgebaute Wirt-
schaftsordnung, nicht angegriffen, sondern nur soweit modifiziert"
als es das monopolistische Stadium dieser Wirtschaftsordnung selbst
verlangt. Damit werden aber auch all die in solcher Ordnung U e ,
x ) Sombart in den Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik 1928, S. 30.
2 ) Koellreutter, Allgemeine Staatslehre, a. a. 0, S. 184 f.
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung 177
genden Gegensätze übernommen, die eine wirkliche Ganzheit
immer wieder unmöglich machen. Die Realisation des erstrebten
einigenden Ganzen wäre in Wahrheit primär eine ökonomische
Aufgabe : Beseitigung der Wirtschaftsordnung, die der Grund der
Klassen und Klassenkämpfe ist. Eben diese Aufgabe kann und
will der Universalismus nicht lösen, ja er darf sie nicht einmal als
eine ökonomische anerkennen : „Es sind nicht die ökonomischen
Bedingungen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen,
sondern es sind umgekehrt die sittlichen Auffassungen, die die
wirtschaftlichen Verhältnisse bestimmen" 1 ). Er muss sowohl von
dem einzig möglichen Weg zur Realisation des „Ganzen" wie von
der einzig möglichen Gestalt jenes Ganzen selbst ablenken und sie
auf anderem, weniger gefährlichen Boden suchen : er findet sie in
der „Urgegebenheit " des Volkes, des Volkstums.
Wir gehen auf die verschiedenen Versuche der Fassung des
Volksbegriffs hier nicht ein. Entscheidend ist, dass damit auf
eine „Urgegebenheit " abgezielt wird, die als „natürliche" vor dem
„künstlichen" System der Gesellschaf t Hegt, auf die „Sozialstruk-
tur der organischen Schicht des Geschehens" 2 ), die als solche eine
„letzte", „gewachsene" Einheit darstellt. „Das Volk ist kein
durch menschliche Macht entstandenes Gebilde" 3 ) ; es ist ein „von
Gott gewollter" Baustein der menschlichen Gesellschaft. So
kommt die neue Gesellschaftstheorie zu jener Gleichung, durch die
sie konsequent auf den Boden des irrationalistischen „Organizis-
mus " geführt wird : die erste und letzte Ganzheit, die der Grund und
die Grenze aller Bindungen ist, ist als naturhaft-organische auch
schon die echte, gottgewollte, ewige Wirklichkeit im Gegensatz
zur unorganischen, „abgeleiteten" Wirklichkeit der Gesellschaft.
Und sie ist als solche von ihrem Ursprung her weitgehend aller
menschlichen Planung und Entscheidung entzogen. Damit sind
alle Versuche, durch eine planmässige Umgestaltung der gesell-
schaftlichen Produktionsverhältnisse die jetzt noch anarchisch
gegeneinander kämpfenden Strebungen und Bedürfnisse der Indi-
viduen in einer wahrhaften Ganzheit aufzuheben, „apriori" diskre-
ditiert. Der Weg ist frei gemacht zum „heroisch-völkischen " Orga-
nizismus, auf dessen Boden die totalitäre Staatstheorie allein ihre
gesellschaftliche Funktion erfüllen kann.
>) Bern bar 4 Köhler, Das dritte Reich und der Kapitalismus, 1933, S, 10.
2 ) G. Ipsen, Programm einer Soziologie des deutschen Volkstums. 1933, S. 11.
— Vgl. Koellreutter, Allg. Staatslehre, S. 34 ff.
3 ) Forsthoff, Der totale Staat, a. a. O. S. 40 ff.
Zeitselirüt lür SozialforschuD? Ulli
12
178 Herbert Marcuse
Der Naturalismus.
In immer neuen Wendungen betont der heroisch- völkische
Realismus die natürlichen Eigenschaften der durch das Volk reprä-
sentierten Ganzheit, Das Volk ist „ blutbedingt ", aus dem „Boden ",
der Heimat schöpft es seine unverwüstliche Kraft und Dauer,
Charaktere der „Rasse " einigen es, deren Reinhaltung ist Bedingung
seiner „Gesundheit". Im Zuge dieses Naturalismus erfolgt eine
Verklärung des Bauerntums 1 ) als des einzig noch „naturgebun de-
nen" Standes : er wird als der „schöpferische Urquell", als das
ewige Fundament der Gesellschaft gefeiert. Dem mythischen Preia-
der Reagrarisierung entspricht der Kampf gegen die Grosstadt und
ihren „widernatürlichen " Geist ; dieser Kampf wächst sich aus
zum Angriff gegen die Herrschaft der Ratio überhaupt, zur Entbin-
dung aller irrationalen Mächte, — eine Bewegung, die mit der tota-
len Funktionalisierung des Geistes endet. Die „Natur" ist die
erste in der Reihe der bedingenden Voraussetzungen, denen die
Vernunft unterstellt wird, die unbedingte Autorität des Staates die
vorläufig letzte. Die vom Organizismus gefeierte „Natur " erscheint
aber nicht als Produktionsfaktor im Zusammenhang der faktischen
Produktionsverhältnisse, nicht als Produktionsbedingimg, nicht als
der selbst geschichtliche Boden der Menschengeschichte. Sie wird
zum Mythos, und als Mythos verdeckt sie die organizistische
Depravierung und Abdrängung des geschichtlich-gesellschaftlichen
Geschehens. Die Natur wird zum grossen Gegenspieler der
Geschichte.
Der naturalistische Mythos beginnt mit der Apostrophierung
des Natürlichen als des „Ewigen", „Gottgewollten". Dies gilt vor
allem für die von ihm geforderte natürliche Ganzheit des Volkes.
Die besonderen Schicksale der Individuen, ihre Strebungen und
Bedürfnisse, ihre Not und ihr Glück, — all das ist nichtig, vergäng-
lich, das Volk allein ist bleibend ; es steht in der Geschichte wie die
Natur selbst : als die ewige Substanz, das ewig Beharrende in dem
ständigen Wechsel der ökonomischen und sozialen Verhältnisse, die
ihm gegenüber akzidentiell sind, vergänglich, „unbedeutend".
In diesen Formulierungen kündet sich eine charakteristische
Tendenz des heroisch-völkischen Realismus an : die Depravieruns
der Geschichte zu einem „nur" zeitlichen Geschehen, in dem alle
Gestaltungen der Zeit unterworfen und deshalb „minderwertig"
sind. Eine solche Ent-geschichtlichung findet sich allenthalben
in der organizistischen Theorie : als die Entwertung der Zeit gegen-
J ) G. Ipsen, Das Landvolk, 1933, bes. S. 17,
m
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauftassung 179
über dem Räume, als die Erhöhung des Statischen über das Dyna-
mische, des Konservativen über das Revolutionäre, als die Ableh-
nimg aller Dialektik, als Preis der Tradition um der Tradition
willen 1 ). Niemals ist die Geschichte weniger ernst genommen
worden als jetzt, wo sie primär auf die Erhaltung und Pflege des
Erbes ausgerichtet wird, wo Revolutionen als „Nebengeräusche",
als „Störungen" der Naturgesetze gelten und wo naturhaften
Kräften des „Blutes" und des „Bodens" die Entscheidung über
Menschenglück und Menschenwürde ausgeliefert wird. In solcher
Entgeschichtlichung des Geschichtlichen verrät sich eine Theorie,
die das Interesse an der Stabilisierung einer vor der geschichtlichen
Situation nicht mehr zu rechtfertigenden Form der Lebensverhält-
nisse ausdrückt. Das wirkliche Ernstnehmen der Geschichte
könnte allzusehr an die Entstehung dieser Form erinnern und an
die Möglichkeiten ihrer Veränderung, die sich aus ihrer Entste-
hungsgeschichte ergeben, — kurz : an ihre Vergänglichkeit, und
dass „die Stunde ihrer Geburt... die Stunde ihres Todes ist " (Hegel).
Sie wird ideologisch verewigt, indem sie als „natürliche Lebensord-
nung" in Anspruch genommen wird.
Die neue Geschichts- und Gesellschaftslehre wehrt sich aller-
dings vielfach dagegen, durch die Inanspruchnahme von Rasse,
Volkstum, Blut, Boden usw. einem naturalistischen Biologismus das
Wort zu reden. Sie betont, dass ihr diese naturhaft-organischen
Gegebenheiten zugleich und wesentlich „geschichtlich-geistige"'
Sachverhalte sind, aus denen eine geschichtliche „Schicksalsge-
meinschaft " erwächst.
Aber wenn das Wort „Schicksal" nicht nur dazu dienen soll,
x ) Wir geben einige charakteristische Belege aus Mceller v. d. Brucks „Drittem
Reich" : „Das konservative Denken... ist nur aus dem Räume zu verstehen. Aber
der Raum ist übergeordnet Die Zeit setzt den Raum voraus". „In diesem Räume,
und aus ihm wachsen die Dinge. In der Zeit vermodern sie" . „Es mag sich in der
Geschichte eines Volkes mit der Zeit verändern was immer sich verändern will : das
Unveränderliche, das bleibt, ist mächtiger und wichtiger als das Veränderliche, das
immer nur darin besteht, dass etwas abgezogen oder hinzugefügt wird. Das Unver-
änderliche ist die Voraussetzung aller Veränderungen, und ewig fällt, was sich auch
verändern möge, nach Ablauf seiner Zeit wieder in das Unveränderliche zurück".
„Alle Revolution ist Nebengeräusch, Zeichen von Störungen, doch nicht Gang des
Schöpfers durch seine Werkstatt, nicht Erfüllung seiner Gebote, noch Uebercinstim-
mung mit seinem Willen. Die Welt ist erhaltend gedacht, und wenn sie sich verwirrt
hat, dann renkt sie sich alsbald aus eigener Kraft wieder ein : sie kehrt in ihr Gleichge-
wicht zurück" (a, a. O. S. 180-182). — Wie die „Gestalttheorie" zur Depravierung
der Geschichte verwendet wird, dafür nur ein charakteristischer Beleg : „Eine Gestalt
ist, und keine Entwicklung vermehrt oder vermindert sie. Entwicklungsgeschichte
ist daher nicht Geschichte der Gestalt, sondern höchstens ihr dynamischer Kommen-
tar. Die Entwicklung kennt Anfang und Ende, Geburt und Tod, denen die Gestalt
entzogen ist". „Eine historische Gestalt ist im tiefsten unabhängig von der Zeit und
den Umständen, denen sie zu entspringen scheint" (Ernst Jünger, Der Arbeiter,
2. Aufl., 1932, S. 79).
180 Herbert Marcuse
noch vor der Erkenntnis der wirklichen Triebfedern und Faktoren
der Geschichte Halt zu machen, dann hebt es gerade den organizi-
stischen Mythos der „natürlichen Gemeinschaft" und damit die
theoretische Grundlage dieser Geschichtsphilosophie auf. Gewiss
hat jedes Volk sein eigenes Schicksal (sofern es eine Ökonomische,
geopolitisehe, kulturelle Einheit ist), doch dieses Schicksal eben ist
es, welches die Einheit des Volkes aufspaltet in die gesellschaftlichen
Gegensätze. Die gemeinsamen Schicksale treffen die verschiede-
nen Gruppen innerhalb des Volkes sehr verschieden, und jede von
ihnen reagiert auf sie in anderer Weise. Ein Krieg, der zweifellos
das ganze Volk trifft, kann die Massen in furchtbare Not stossen,
während gewisse herrschende Schichten daraus nur Vorteile ziehen.
Eine allgemeine Krise bietet den ökonomisch Mächtigsten weit
reichere Möglichkeiten der Resistenz und des Ausweichens als der
wirtschaftlich schwächeren Mehrheit. Die Schicksalsgemeinschaft
geht fast immer auf Kosten des weitaus grössten Teiles des Volkes,
hebt sich also selbst auf. In der bisherigen Geschichte der Mensch-
heit ist diese Aufspaltung der volklichen Einheit in die gesellschaft-
lichen Gegensätze nicht blosses Beiwerk, nicht Schuld und Verfeh-
lung von Einzelnen, vielmehr macht sie ihren eigentlichen Inhalt
aus. Nicht durch Anpassung an irgendwelche natürliche Ordnun-
gen kann dieser Inhalt verändert werden. Es gibt in der Geschichte
keine natürlichen Ordnungen mehr, die als Vorbilder und Ideen der
geschichtlichen Bewegtheit dienen könnten. In dem Auseinan-
dersetzungsprozess zwischen den vergesellschafteten Menschen mit
der Natur und mit ihrer eigenen geschichtlichen Wirklichkeit (dessen
jeweiligen Stand die verschiedenen Lebensverhältnisse anzeigen) ist
die „Natur" längst vergeschichtlicht, d. h. in steigendem Masse
ihrer Naturhaftigkeit entkleidet und rationaler menschlicher Pla-
nung und Technik unterworfen worden. Die natürlichen Ordnun-
gen und Gegebenheiten geschehen als ökonomisch-gesellschaftliche
Verhältnisse (so dass z. B. der bäuerliche Boden nicht so sehr als
Scholle in der Heimat wie als Parzelle im Hypothekengrundbuch
liegt 1 )).
Freilich bleibt diese wirkliche Gestalt dem Bewusstsein der
meisten Menschen verborgen. „Die Gestalt des gesellschaftlichen
Lebensprozesses, das heisst des materiellen Produktionsprozesses
streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Pro-
dukt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewusster
planmässiger Kontrolle steht" 2 ). Bis dahin wird es im Interesse
derjenigen Gruppen, deren ökonomischer Situation die Erreichung
*) Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Berlin, 1927, S. 122 f.
a ) Marx, Das Kapital. Volksausgabe. Berlin, 1928, 1, S. 43.
7*
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung 181
dieses Zieles widerspricht, liegen, bestimmte gesellschaftliche Ver-
hältnisse als „natürliche" zu verewigen, um die bestehende Ord-
nung aufrechtzuerhalten und vor kritischen Störungen zu bewahren.
Der Weg, den die organizistische Theorie hierbei geht, führt
über die Naturalisierung der Wirtschaft als solcher zur Naturalisie-
rung der monopolkapitalistischen Wirtschaft und des von ihr
bewirkten Massenelends : alle diese Erscheinungen werden als
„natürliche" sanktioniert. Am Ende dieses Weges (den wir im
folgenden nur in seinen wichtigsten Etappen andeuten) liegt der
Punkt, wo die illusionierende Funktion der Ideologie in eine desillu-
sionierendc umschlägt : an die Stelle der Verklärung und Verdeckung
tritt die offene Brutalität.
Die Wirtschaf t wird als ein „lebendiger Organismus" aufgefasst,
den man nicht „mit einem Schlage" verwandeln kann ; sie baue
sich nach „primitiven Gesetzen" auf, die in der menschlichen
„Natur" verankert sind : das ist die erste Etappe.
Der Schritt von der Wirtschaft im allgemeinen zur gegenwärti-
gen Wirtschaft ist schnell getan : die gegenwärtige Krise gilt als
die „Rache der Natur" gegen den „intellektuellen Versuch, ihre
Gesetze durchbrechen zu wollen... Am Ende aber siegt immer die
Natur... " Die Verklärung wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse
als natürlicher Ordnungen muss j edoch immer wieder mit der so ganz
„unnatürlichen" furchtbaren Faktizität der gegenwärtigen Lebens-
formen zusammenstossen. Um diesen Widerspruch zu verdecken,
bedarf es einer radikalen Entwertung der materiellen Sphäre des
Daseins, der „äusseren Glücksgüter" des Lebens. Sie werden
„aufgehoben" in einem „Heroismus" der Armut und des „Dienstes",
des Opfers und der Zucht. Der Kampf gegen den Materialismus
ist für den heroisch-völkischen Realismus in Theorie und Praxis
eine Notwendigkeit : er muss das irdische Glück der Menschen, das
die von ihm gemeinte Gesellschaftsordnung nicht bringen kann,
prinzipiell desavouieren zugunsten „ideeller" Werte (Ehre, Sittlich-
keit, Pflicht, Heroismus usw.). Diesem Zug zum „Idealismus"
wirkt nun aber eine sehr starke andere Tendenz entgegen : die
durch den Monopolkapitalismus und seine politische Situation
geforderte äusserste Kraftaufbietung und dauernde Anspannung
der Menschen in der Besorgung der zu produzierenden „irdischen "
Güter ; sie führt dazu, dass das ganze Leben unter der Kategorie
des Dienstes und der Arbeit begriffen wird, — eine rein „innerwelt-
liche" Askese. Und dazu kommt ein Drittes, das den Idealismus
diskreditiert : der klassische Idealismus ist wesentlich rationalistisch
gewesen, ein Idealismus des „Geistes", der Vernunft. Sofern er
in irgendeiner Form immer die Autonomie der Vernunft enthält
und die menschliche Praxis unter die Idee des begreifenden Wis-
182 Herbert Marcuse
sens stellt, muss er sich die Feindschaft des total-autoritären Staates
zuziehen. Dieser hat alle Ursache, die Kritik der Vernunft für
gefährlich zu halten und unter vorgeordnete Tatbestände zu binden.
„Der deutsche Idealismus muss darum nach Form und Inhalt
überwunden werden, wenn wir ein politisches, ein handelndes Volk
werden wollen 1 )."
So durchzieht die antiliberalistische Theorie eine fundamentale
Zweideutigkeit. Während sie einerseits einen ständigen, harten,
fast zynischen Realismus fordert, preist sie andererseits die „ideel-
len " Werte als den ersten und letzten Sinn des Lebens und ruft zur
Rettung des „Geistes " auf. Nebeneinander finden sich Aeusserun-
gen gegen den weltfremden, schwachen „Idealisten", dem der neue
Typus des heroischen Menschen entgegengestellt wird : „er lebt
nicht aus dem Geist, sondern aus Blut und Erde. Er lebt nicht
der Bildung, sondern der Tat 2 )", — und Passagen wie diese : „Das
Banner des Geistes weht als ihr Wahrzeichen über der Menschheit.
Und wenn wir auch zuweilen von grossartigen und triebhaften
Willensstössen fortgerissen werden, der Geist tritt immer wieder in
seine Rechte ein" 3 ). Alle möglichen „metaphysischen Gewisshei-
ten" werden heraufbeschworen, aber niemals sind sie wohl leicht-
fertiger angeboten und zur offiziellen Weltanschauung erhoben
■worden als heute, wo unter der Knute des Imperialismus die
endgültige Ueberwindung der Metaphysik des humanistischen Idea-
lismus verkündet wird :
„Wir leben nicht mehr im Zeitalter der Bildung, der Kultur, der Huma-
nität und des reinen Geistes, sondern unter der Notwendigkeit des Kampfes,
der politischen Wirklichkeitsgestaltung, des Soldatentums, der völkischen
Zucht, der völkischen Ehre und Zukunft. Es wird von dem Menschen
dieses Zeitalters darum nicht die idealistische, sondern die heroische Hal-
tung als Lebensaufgabe und Lebensnotwendigkeit gefordert 4 )."
Niemals ist aber auch jene anti-idealistische „Wirklichkeitsge-
staltung" trostloser und ärmer gesehen und gedeutet worden, :
„Dienst, der nicht zu Ende geht, weil Dienst und Leben zusam-
menfallen" 5 ).
In der Tat : es gehört ein rational überhaupt nicht mehr zu
i) Ernst Krieck in „Volk im Werden", 1933. Heft 3, S. 4.
2 ) Derselbe, ebenda S. 1. — Noch deutlicher ebenda Heft 5, S. 09, 71 : „Radikale
Kritik lehrt einsehen, dass die sog. Kultur gänzlich unwesentlich geworden ist un d
jedenfalls keinen Höchstwert darstellt." — „Sehen wir 'endlich auch hier schlicht,
wahrhaft und echt, damit die wachsende Kraft und Gesundheit des Volkes nicht durch
den Kulturschwindel verfälscht wird. Sie mögen uns Barbaren schelten 1"
3 ) Eugen Diesel in der Deutschen Rundschau, Januar 1934, S. 2.
<■) Ernst Krieck ebenda. Heft 3, S. 1.
&) Der deutsche Student, Augustheft 1933, S. 1.
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung 183
rechtfertigender „Heroismus" dazu, um die Opfer zu bringen, die
die Erhaltung der bestehenden Ordnung verlangt. Gegenüber dem
alltäglichen Elend der Massen, gegenüber der Gefahr neuer furcht-
barer Kriege und Krisen kann auch die Berufung auf die „Natür-
lichkeit " solcher Ordnung nichts mehr fruchten. Das letzte Wort
spricht nicht mehr die „Natur", sondern der Kapitalismus, so wie
er in Wahrheit aussieht. Wir stehen an der letzten Etappe des
Weges, wo diese Theorie die verklärenden Schleier fallen Iässt und
das wahre Gesicht der Gesellschaftsordnung enthüllt : „Wir betrach-
ten... das Sinken des Lebensstandards als unvermeidlich und achten
für die dringendste Ueberlegung die, wie wir diesen Vorgang aufzu-
fassen und wie wir uns dazu zu verhalten haben "*). Nicht also
der Sorge um die Beseitigung des Massenelends gelten die Anstren-
gungen dieser Theorie ; sie betrachtet vielmehr das Wachsen dieses
Elends als ihre unvermeidliche Voraussetzung. Näher ist der
neue „Realismus" nirgends an die Wahrheit herangekommen. Er
folgt dieser Wahrheit getreulich weiter : „Das Erste, was not, ist die
Einsicht aller, dass Armut, Einschränkung, zumal Verzicht auf
Kulturgüter' von jedem gefordert wird ". Die Einsichtigkeit die-
ser Forderung dürfte allerdings nicht von jedermann zugestanden
werden : gegen sie „wehren sich zur Zeit noch immer biologische
Individualinstinkte ". Das Hauptanliegen der Theorie wird also
sein, diese Instinkte „zum Kuschen zu bringen" (ebd.). Mit
Scharfblick erkennt der Theoretiker, dass dies nicht durch „Ver-
nunftvermögen " geschehen kann, wohl aber, „sobald die Armut
wieder einen sittlichen Wertstempel erhält, sobald Armut weder
Schande noch Unglück mehr ist, sondern würdige und selbstver-
ständliche Haltung einem schweren und allgemeinen Schicksal
gegenüber" (ebd.). Und der Theoretiker offenbart uns auch die
Funktion dieser und ähnlicher „Ethik" : sie ist das „Fussgestell",
dessen „der Politiker bedarf..., um seine Massregeln sicher zu
treffen" (ebd.).
Der Heroismus, das Ethos der Armut als „Fussgestell" der
Politik : hier enthüllt sich der Kampf gegen die materialistische
Weltanschauung in seinem letzten Sinn : „Zum-Kuschenbringen "
der gegen das Sinken des Lebensstandards rebellierenden Instinkte.
Ein für bestimmte Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung cha-
rakteristischer Funkt ionswan del der Ideologie hat sich vollzo-
gen : sie zeigt unmittelbar das, was ist, aber mit einer radikalen
Umwertung der Werte : Unglück wird zur Gnade, Not zum Segen,
Elend zum Schicksal ; und umgekehrt Streben nach Glück, nach
l ) H. Kutzleb, Ethos der Armut als Aufgabe, in „Volk im Werden", 1933, Heft 1,
S. 24 ff.
r
184 Herbert Marcuse
materieller Besserung wird zu Sünde und Unrecht, Der Mensch
wird zum Tier gemacht, — doch das Tier im Menschen gilt als die
Krone des Menschentums.
Pflichterfüllung, Opfer und Hingabe, die der „heroische Realis-
mus " von den Menschen verlangt, werden im Dienst einer Gesell-
schaftsordnung gebracht, die Not und Glücklosigkeit der Indivi-
duen verewigt. Obwohl am „Rande der Sinnlosigkeit" darge-
bracht, haben sie doch einen verborgenen sehr „rationalen " Zweck :
das gegenwärtige System der Produktion und Reproduktion des
Lebens faktisch und ideologisch zu stabilisieren 1 ). Der heroische
Realismus versündigt sich gegen die grossen Ideen von Pflicht,
Opfer und Hingabe, indem er, was nur als freie Gabe freier Menschen
geschehen kann, programmatisch in die Apparatur eines Herrschafts-
systems einbaut.
Der Mensch, dessen Dasein sich in fraglosen Opfern und unbe-
dingten Hingaben erfüllt, dessen Ethos die Armut ist und dem alle
äusseren Glücksgüter in Dienst und Zucht untergegangen sind :
dieses Bild des Menschen, wie es der heroische Realismus der Zeit
als Vorbild entwirft, steht in schroffem Gegensatz zu allen Idealen,
die die abendländische Menschheit sich in den letzten Jahrhunderten
erobert hat. Wie ein solches Dasein rechtfertigen ? Es geht
nicht mehr um das irdische Heil des Menschen ; es gibt also keine
Rechtfertigung aus seinen natürlichen Bedürfnissen und Trieben.
Es gellt aber auch nicht mehr um sein überirdisches Heil : die
Rechtfertigung aus dem Glauben ist abgeschnitten. Und in dem
universalen Kampf gegen die Ratio gilt die Rechtfertigung aus
dem Wissen überhaupt nicht mehr als Rechtfertigung,
Soweit sich die Theorie auf dem Boden wissenschaftlicher
Diskussion bewegt, wird ihr wenigstens die Problematik des hier
vorliegenden Sachverhalts bewusst : für den „Ernstfall ", in dem das
Opfer des eigenen Lebens und der Tötung anderer Menschen ver-
langt wird, stellt Carl Schmitt die Frage nach dem Grunde solchen
Opfers : „Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige
Norm, kein noch so vorbildliches Programm, kein noch so schönes
soziales Ideal, keine Legitimität oder Legalität, die es rechtfertigen
könnte, dass Menschen sich gegenseitig dafür töten" 2 ). Was aber
bleibt dann noch als mögliche Rechtfertigung übrig ? Nur noch
die, dass hier ein Sachverhalt vorliegt, der schon durch seine
Existenz, sein Vorhandensein jeder Rechtfertigung enthoben ist,
d. h. ein „existenzieller", ein „seinsmässiger " Sachverhalt :
i) Ueber diese Funktion des heroischen Realismus siehe diese Zeitschrift, Jahr«aii"
III, Heft t, S. 42 ff. ° b
2 ) Der Begriff des Poh tischen a. a. 0. S. 37.
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauflassung 185
Rechtfertigung durch die blosse Existenz, Der „Existenzialismus K
in seiner politischen Form wird die Theorie von der (negativen)
Rechtfertigung des nicht mehr zu Rechtfertigenden.
Der Existenzialismus.
Wir haben es hier nicht mit der philosophischen Form des
Existenzialismus zu tun, sondern nur mit seiner politischen Gestalt,
in der er ein entscheidendes Moment der totalitären Staatstheorie
geworden ist.
Es muss gleich anfangs betont werden, dass im politischen
Existenzialismus auch nur der Versuch, das „Existenzielle" begriff-
lich zu umschreiben, völlig fehlt. Die einzige Flandhabe, den
gemeinten Sinn des Existenziellen sichtbar zu machen, bietet die
oben zitierte Stelle bei Carl Schmitt. Das Existenzielle steht
dort wesentlich als Gegenbegriff zum „Normativen" : etwas was
unter keine ausserhalb seiner selbst liegende Norm gestellt werden
kann. Daraus folgt, dass man über einen existenziellen Sachver-
halt überhaupt nicht als „unparteiischer Dritter'' denken, urteilen
und entscheiden kann : „die Möglichkeit richtigen Erkennens und
Verstehens und damit auch die Befugnis mitzusprechen und zu
urteilen ist hier nämlich nur durch das existenzielle Teilhaben und
Teilnehmen gegeben" 1 ). Welche Sachverhalte denn nun als exi-
stenzielle zu gelten haben, dafür gibt es im Existenzialismus keine
prinzipielle und allgemeine Bestimmung ; es bleibt grundsätzlich der
Entscheidung des existenziellen Theoretikers überlassen. Ist aber
einmal ein Sachverhalt von ihm als existenzieller in Anspruch
genommen, so haben alle, die nicht an seiner Realität „teilhaben
und teilnehmen", zu schweigen. Es sind vorwiegend die poli-
tischen Sachverhalte und Beziehungen, die hier als existenzielle
sanktioniert werden ; und innerhalb der politischen Dimension ist
es wieder — sehr bezeichnend ! — das Feind-Verhältnis 2 ), der
Krieg, der als die schlechthin existenzielle Beziehung gilt (als
zweite ist dann „Volk und Volkszugehörigkeit" ebenbürtig hinzu-
gekommen).
Bei diesem Mangel jeder exakten Begrifflichkeit ist es notwendig,
wenigstens in ganz roher Weise vom politischen auf den philoso-
phischen Existenzialismus zurückzugehen. Der Sinn des philoso-
phischen Existenzialismus war es, gegenüber dem abstrakten
„logischen" Subjekt des rationalen Idealismus die volle Konkretion
*) Der Begriff des Politischen, a. a. O. S. 15.
a ) Zwar lautet die Formel der politischen Beziehung : „Freund-Feind-Gruppierung" ,
doch ist vom Freund-Verhältnis immer nur beiläufig und im Gefolge der Feind-Grup-
pierung die Rede.
186 Herbert Mareuse
des geschichtlichen Subjekts wiederzugewinnen, also die von Des-
cartes bis Husserl unerschütterte Herrschaft des „ego cogito " zu
beseitigen. Die Position Heideggers bis „Sein und Zeit" bezeich-
net den weitesten Vorstoss der Philosophie in dieser Richtuno.
Dann erfolgt der Rückschlag. Die Philosophie hat es aus guten
Gründen vermieden, sich die geschichtliche Situation des von ihr
angesprochenen Subjekts auf ihre materiale Faktizität hin näher
anzusehen. Hier hörte die Konkretion auf, hier begnügte sie sich
mit der Rede von der „Schicksalsverbundenheit" des Volkes, vom
„Erbe ", das jeder Einzelne zu übernehmen hat, von der Gemein-
schaft der „Generation", während die anderen Dimensionen der
Faktizität unter den Kategorien des „Man ", des „Geredes " usw.
abgehandelt und auf diese Weise dem „uneigentlichen" Existieren
zugewiesen wurden. Die Philosophie fragte nicht weiter nach der
Art des Erbes, nach der Seinsweise des Volkes, nach den wirklichen
Mächten und Kräften, die die Geschichte sind. So begab sie sich
jeder Möglichkeit, die Faktizität geschichtlicher Situationen begrei-
fen und gegeneinander entscheidend abheben zu können.
Dafür bildete sich aber allmählich, unter ständig verflachender
Aufnahme der fruchtbaren Entdeckungen der existenzialen Analy-
tik, so etwas wie eine neue Anthropologie heraus, die jetzt die
philosophische Begründung des vom heroischen Realismus entwor-
fenen Menschenideals übernimmt.
„Der theoretische Mensch, auf den sich die umlaufenden Wertbegriffe
beziehen, ist eine Fiktion... Der Mensch ist wesentlich ein politisches
Wesen, d. n... er ist nicht ein Wesen, dessen Sein dadurch bestimmt ist
dass er teilnimmt an einer höheren »geistigen Welt'..., sondern er ist ein
ursprünglich handelndes Wesen 1 )."
Eine totale Aktivierung, Konkretisierung und Politisierung aller
Dimensionen des Daseins wird gefordert. Die Autonomie des
Denkens, die Objektivität und Neutralität der Wissenschaft wird
als Irrlehre oder gar als politische Fälschung des Liberalismus ver-
worfen. „Wir sind aktive, handelnde Wesen und machen uns
schuldig, indem wir dieses unser Wesen verleugnen, schuldig durch
Neutralität und Toleranz '% Programmatisch verkündet man die
„Lebensbedingtheit, Wirklichkeitsbezogenheit, geschichtliche
Bedingtheit und Standortgebundenheit aller Wissenschaft" 3 )
Viele dieser Thesen gehören seit langem zum Gedankengut der wis-
*) Alfred Bäumler, Männerbund und Wissenschaft, 1934 S Q4
2 ) a. a. O. S. 109.
3 ) Ernst Krieck : Zebu Grundsätze einer gaiizlieitlichen Wissenschaftalehre
in : Volk im Werden, Heft 6, S. 6 ff.
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung 187
senschaftlichen Theorie der Gesellschaft ; die ihnen zugrundeliegen-
den Sachverhalte haben im historischen Materialismus bereits ihre
Ausweisung erfahren. Wenn solche Erkenntnisse jetzt im Dienst
eben jener Gesellschaftsordnung verwendet werden, zu deren
Bekämpfung sie ursprünglich entdeckt worden waren, so setzt
sich hiermit auch im Gebiete der Theorie die Dialektik durch : die
Stabilisierung der gegenwärtigen Lebensordnung ist nur noch auf
eine Weise möglich, die zugleich vorwärtstreibende Kräfte der
Entwicklung befreit. Aber wie in der faktischen Gestaltung des
politischen Daseins diese Kräfte in eine Form gezwungen werden,
durch die ihre ursprüngliche Richtung gehemmt und ihre befreiende
Wirkung illusionär gemacht wird, so kommt auch in der zu ihrer
Begründung verwendeten Theorie dieser Funktionswandel zum
Ausdruck :
Die Ansetzung des Menschen als eines primär geschichtlichen,
politischen und politisch-handelnden Wesens enthüllt sich in ihrem
konkreten gesellschaftlichen Sinn erst dann, wenn gefragt ist :
welche Weise der „Geschichtlichkeit" ist gemeint, auf welche Form
des politischen Handelns, auf welche Art der Praxis ist abgezielt ?
Was für ein Handeln ist es denn, das in der neuen Anthropologie
als die „eigentliche" Praxis des Menschen gefordert wird ?
„Handeln heisst nicht : sich entscheiden für..., denn das setzt voraus,
dass man wisse, wofür man sich entscheidet, sondern Handeln heisst :
eine Richtung einschlagen, Partei nehmen, kraft eines schicksalhaften
Auftrags, kraft 'eigenen Rechts'... Die Entscheidung für etwas, das ich
erkannt habe, ist schon sekundär 1 )."
Diese typische Formulierung beleuchtet blitzartig das traurige
Bild, das sich die „existenzielle " Anthropologie vom handelnden
Menschen macht. Er handelt, — aber er weiss nicht, wozu er
handelt. Er handelt, — aber er hat sich garnicht selbst für sich
entschieden, wofür er handelt. Er nimmt einfach „Partei", er
„setzt sich ein", — „die Entscheidung für etwas, das ich erkannt
habe, ist schon sekundär". Diese Anthropologie gewinnt ihr
Pathos aus der radikalen Entwertung des Logos als des offen-
barenden und entscheidenden Wissens. Aristoteles war der
Meinung, dass sich eben hierdurch der Mensch vom Tier unter-
scheide : durch das Vermögen BtqXgüv to auu/pepov xal to ßXaßepov,
Äote xal to SLxcaov xal tö aSixov 2 ). Die existenzielle Anthropologie
glaubt, dass das Wissen um das Wofür der Entscheidung, um
J ) Baumler a. a. O. S. 108.
2 ) Aristoteles Pol. 1253 a 14 f.
188 Herbert Marcuse
das Wozu des Einsatzes, durch das alles menschliche Handeln
erst seinen Sinn und Wert bekommt, sekundär ist. Wesentlich ist
nur, dass eine Richtung eingeschlagen, dass jPartei genommen
wird. „Nicht im rein Sachlichen liegen die erschreckenden-
Differenzen der Standpunkte", sondern „in der synthetischen
Kraft existenziell verwurzelter Fragerichtungen ".*) Erst in dieser
irrationalen Tönung wird die existcnzielle Anthropologie fähig
ihre gesellschaftliche Funktion im Dienste eines Herrschaftssystems-
zu erfüllen, dem an nichts weniger gelegen sein kann als an einer
„sachlichen" Rechtfertigung des von ihm verlangten Handelns.
Von hier aus enthüllt sich auch die starke Betonung der Geschicht-
lichkeit des Daseins als nichtig : sie ist nur auf dem Grunde der
oben angedeuteten Depravierung der Geschichte möglich. Wäh-
rend echte Geschichtlichkeit das wissend-erkennende Verhalten des
Daseins zu den geschichtlichen Mächten und die hierin gegründete
theoretische und praktische Kritik dieser Mächte voraussetzt
wird solches Verhalten hier eingeschränkt auf die Uebernahme
eines „Auftrags ", der durch das „Volk " an das Dasein ergeht. Als
selbstverständlich gilt, dass es das „Volk" ist, das den Auftrag
erteilt und in das der Auftrag zurückgeht, — und nicht etwa be*
stimmte Interessengruppen. Ein säkularisiert-theologisches Ge-
schichtsbild wird entworfen : jedes Volk hat seinen geschichtlichen
Auftrag als „Sendung" ; sie bedeutet die erste und letzte, unbe-
grenzte Verpflichtung des Daseins. In einem Saltomortale (dessen
Geschwindigkeit nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass in ihm
die ganze Tradition der abendländischen Wissenschaft abgeworfen
wird) wird der „Wille zur Wissenschaft" dem angeblichen Auftrag
des eigenen Volkes unterworfen. Und das Volk gilt als Einheit
und Ganzheit unterhalb der ökonomischen und sozialen Sphäre •
auch der Existenzialismus sieht in „erd- und bluthaften Kräften £ *
die eigentlichen geschichtlichen Mächte 2 ). So werden auch die
existenzialistischen Strömungen aus dem grossen naturalistischen
Sammelbecken gespeist.
Der politische Existenzialismus ist an diesem Punkte feinfühli-
ger als der philosophische : er weiss, dass auch die „erd- und bluthaf-
ten Kräfte " eines Volkes nur geschichtlich werden in bestimmten
politischen Formen, wenn über dem Volk sich ein wirkliches Herr
schaftsgebildc aufgerichtet hat : der Staat. Auch der Existenzia-
lismus bedarf einer ausdrücklichen Staatstheorie : er wird zur
Grundlage der Lehre vom totalen Staate. Wir geben hier keine
*) E. Rot hack er, Geschichtsphilosophie, 1934, S. 96.
a ) Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, 1933, S. 13,
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsati ff assung 1S9
-explizite Auseinandersetzung mit dieser Theorie und heben nur
«las für unseren Zusammenhang Entscheidende heraus.
Die politischen Beziehungen und Sachverhalte werden als
«xistenzielle, seinsmässige in Anspruch genommen. Das wäre eine
blosse Selbstverständlichkeit, wenn nichts anderes gemeint wäre,
als dass der Mensch seinem Sein nach, f&iet, ein politisches Lebe-
wesen ist. Es heisst aber mehr. Wir sahen, dass das Existenzielle
als solches jeder über es hinausgehenden Rationalisierung und
Normierung enthoben wird : es ist sich selbst absolute Norm und
keiner rationalen Kritik und Rechtfertigung zugänglich. In die-
sem Sinne werden jetzt die politischen Sachverhalte und Beziehun-
gen als die in prägnantester Bedeutung über das Dasein „entschei-
denden" Verhältnisse angesetzt. Und innerhalb der politischen
Verhältnisse sind wieder alle Beziehungen auf den äussersten
„Ernstfall" hin orientiert : auf die Entscheidung über den „Aus-
nahmezustand ", über Krieg und Frieden. Der wahre Inhaber der
politischen Macht definiert sich jenseits aller Legalität und Legiti-
mität : „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entschei-
det" 1 ) ; die Souveränität gründet in der faktischen Macht zu dieser
Entscheidung (Dezisionismus). Die politische Beziehung schlecht-
hin ist die „Freund-Feind-Beziehung" ; ihr Ernstfall wiederum ist
der Krieg, der bis zur physischen Vernichtung des Feindes geht. —
Es gibt keine gesellschaftliche Beziehung, die nicht im Ernstfall
in eine politische Beziehung umschlägt : hinter allen Ökonomischen,
sozialen, religiösen, kulturellen Verhältnissen steht die totale Poli-
tisierung. Es gibt keine Sphäre des privaten und öffentlichen
Daseins, keine rechtliche und rationale Instanz, die sich dieser
Politisierung widersetzen könnte. — An diesem Punkte vollzieht
sich die Entfesselung vorwärtstreibender Kräfte, auf die wir
bereits hingewiesen haben. Die totale Aktivierung und Politi-
sierung entreisst breite Schichten ihrer hemmenden Neutralität und
schafft auf einer an Länge und Dichte bisher nicht erreichten Front
neue Formen des politischen Kampfes und neue Methoden der
politischen Organisation. Die Trennung von Staat und Gesell-
schaft, die das liberalistische 19. Jahrhundert durchzuführen ver-
sucht hatte, wird aufgehoben : der Staat übernimmt die politische
Integration der Gesellschaft. Und der Staat wird — auf dem
Wege über die Existenzialisierung und Totalisierung des Poli-
tischen — auch der Träger der eigentlichen Möglichkeiten des
Daseins selbst. Der Staat hat sich nicht dem Menschen, sondern
x ) Carl Schmitt, Politische Theologie, 1922, S. 1. — Die Grundthesen der Theorie
des totalen Staates werden nach Carl Schmitts „BegriiT des Politischen" referiert ;
die überreichliche N'achfolgeliteratur bringt nur Abhub von Schmitlschen Gedanken.
190 Herbert Marcuse
der Mensch hat sich dem Staat zu verantworten : er ist ihm in
Gänze ausgeliefert. — Auf der Ebene, in der sich der politische
Existenzialismus bewegt, kann es überhaupt kein Problem sein, ob
der Staat in seiner „totalen " Gestalt solche Forderungen mit Recht
stellt, ob die Herrschaftsordnung, die er mit allen Mitteln verteidigt,
überhaupt noch die Möglichkeit für eine mehr als illusionäre
Erfüllung des Daseins der meisten Menschen gewährleistet. Die
Existenzialität der politischen Verhältnisse ist solchen „rationali-
stischen" Fragen entrückt; schon die Fragestellung ist ein Ver-
brechen : „Alle diese Versuche, dem Staate das neu gewonnene
Wirkungsrecht zu bestreiten, bedeuten eine Sabotage... Diese
Art gesellschaftlichen Denkens mit aller Schonungslosigkeit auszu-
rotten, ist vornehmste Pflicht des heutigen Staates" 1 ).
Die Herrschaftsform dieses nicht mehr auf dem Pluralismus der
gesellschaftlichen Interessen und ihrer Parteien gegründeten, aller
formalrechtlichen Legalität und Legitimität enthobenen Staates
ist das autoritäre Führertum und seine „Gefolgschaft". „Die
politische und staatsrechtliche Prägung des nationalen Rechtsstaates
ist im bewussten Gegensatz zu der des liberalen bürgerlichen
Rechtsstaates die des autoritären Führerstaates. Der autoritäre
Führerstaat sieht in der Staatsautorität das wesentlichste Merkmal
des Staates 2 ) ".
Das autoritäre Führertum schöpft seine politische Qualifikation
wesentlich aus zwei Quellen, die untereinander wieder in Verbin-
dung stehen : es ist einmal eine irrationale, „metaphysische " Macht,
und es ist zweitens eine „nicht-gesellschaftliche" Macht. — Der
Gedanke der „Rechtfertigung" beunruhigt noch immer die Theo-
rie : „Eine autoritäre Regierung braucht eine über alles Persönliche
hinausgehende Rechtfertigung". Eine rnateriale und rationale
Rechtfertigung gibt es nicht, also : die „Rechtfertigung muss eine
metaphysische sein... Die Unterscheidung von Führern und
Geführten, als staatliches Ordnungsprinzip, ist nur metaphysisch
vollziehbar" 3 ). Der politisch-gesellschaftliche Sinn des Begriffs
„metaphysisch" verrät sich : „eine Regierung, die nur darum
regiert, weil sie einen Auftrag des Volkes hat, ist keine autoritäre
Regierung. Autorität ist nur aus der Transzendenz möglich... "*).
Das Wort „Transzendenz" darf hier einmal ernst genommen wer-
den : der Grund der Autorität übersteigt alle gesellschaftliche Fakti-
zität so, dass er auf sie zu seiner Ausweisung nicht angewiesen ist,
t) Forsthoff, Der totale Staat, a. a. 0. S. 29.
2 ) Koellreutter, Vom Sinn und Wesen der nationalen Revolution, 1933, S. 30.
— Vgl. Allgemeine Staatslehre, a. a. 0. S. 58.
s ) Forsthoff, a. a. O. S. 31.
*) a. a. 0. S. 30.
1
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauflassung 191
und er übersteigt vor allem die faktische Situation und das Fas-
sungsvermögen des „Volkes" : „Autorität setzt einen Rang voraus,
der darum gegenüber dem Volke gilt, weil das Volk ihn nicht ver-
leiht, sondern anerkennt" 1 ). Die Anerkennung begründet die
Autorität : eine wahrhaft „existenzielle " Begründung 1
Betrachten wir jetzt noch kurz das „dialektische" Schicksal
der existenzialistischen Theorie im totalen Staat. Es ist eine „pas-
sive " Dialektik : sie geht über die Theorie hinweg, ohne dass diese
sie aufnehmen und sich in ihr weitertreiben kann. Mit der Ver-
wirklichung des total-autoritären Staates hebt der Existenzialis-
mus sich selbst auf, oder vielmehr er wird aufgehoben. „Der
totale Staat muss ein Staat der totalen Verantwortung sein. Er
stellt die totale Inpflichtnahme jedes einzelnen für die Nation dar.
Diese Inpflichtnahme hebt den privaten Charakter der Ein-
zelexistenz auf" 2 ). Der Existenzialismus war aber ursprüng-
lich gegründet auf dem „privaten" Charakter der Einzelexistenz,
auf ihrer unüberholbaren personalen „Jemeinigkeit". Der totale
Staat übernimmt für die Einzelexistenz die totale Verantwortung ;
— der Existenzialismus hatte die unabnehmbare Selbstverant-
wortlichkeit der Existenz gefordert. Der totale Staat entscheidet
in allen Dimensionen des Daseins über die Existenz ; — der Existen-
zialismus hatte die nur vom je einzelnen Dasein selbst zu entwer-
fende „Entschlossenheit" als Gnmdkategorie der Existenz aufge-
stellt. Der totale Staat verlangt die totale Inpflichtnahme,
ohne auch nur die Frage nach der Wahrheit solcher Verpflichtung
zuzulassen ; — der Existenzialismus hatte (hierin mit Kant einig)
die autonome Selbstgebung der Pflicht als die eigene Würde des
Menschen gefeiert. Der totale Staat hat die individuelle Freiheit
als ein „Postulat menschheitlichen Denkens... überwunden" 3 ) ; —
der Existenzialismus hatte (wieder einig mit Kant) „das Wesen
der menschlichen Freiheit" als Autonomie der Person an den
Anfang des Philosophierens gestellt, die Freiheit zur Bedingung
der Wahrheit gemacht 4 ). Diese Freiheit war für ihn die „Selbst-
a ) a. a. O. S. 30. — Forsthoffs Rechtfertigung der Autorität wird unterboten
durch die geradezu zoologische Begründung, die Carl Schmitt in seiner neuesten
Schrift dem Autoritätsbegrill gibt : „Auf der Artgleichhcit beruht sowohl der
fortwährende untrügliche Kontakt zwischen Führer und Gefolgschaft wie ihre gegen-
seitige Treue. Nur die Artgleichheit kann es verhindern, dass die Macht des Führers.
Tyrannei und Willkür wird..." (Staat, Bewegung, Volk, 1933, S. 42 ; Sperrung von uns).
2 ) Forsthoff, a. a. O. S. 42 (Sperrung von uns).
8) a. a. 0. S. 41.
*) Der Vorwurf, dass hier der philosophische Existenzialismus gegen den poli-
tischen ausgespielt wird, ist dadurch widerlegt, dass (wie die letzten Veröffentlichungen
Heideggers zeigen) der philosophische Existenzialismus sich selbst politisiert hat.
Die anfängliche Gegensätzlichkeit ist dadurch aufgehoben.
192 Herbert Marcus e
Ermächtigung " des Menschen zu seinem Dasein und zum Seienden
als solchen ; — jetzt wird umgekehrt der Mensch von der „autori-
tativ geführten Volksgemeinschaft zur Freiheit ermächtigt" 1 ).
Noch scheint sich eine Ausflucht aus diesem hoffnungslo-
sen Heteronomismus zu bieten. Man kann die Aufhebung der
menschlichen Freiheit verdecken mit der Vorgabe, es sei nur der
schlechte liberalistische FreiheitsbegrifT, der aufgehoben werde,
und den „wahren" Freiheitsbegriff etwa so definieren : „Das Wesen
der Freiheit liegt gerade in der Bindung an Volk und Staat 2 )".
Nun hat auch der überzeugteste Liberalist niemals geleugnet, dass
Freiheit Bindung nicht ausschliesst, sondern vielmehr fordert.
Und seitdem Aristoteles im letzten Buch der Nikomachischen
Ethik die Frage nach der „Glückseligkeit " des Menschen untrenn-
bar mit der Frage nach dem „besten Staate" verknüpft, „Politik"
und „Ethik" (erstere als Erfüllung der letzteren) wesentlich inei-
nander fundiert hatte, wissen wir, dass Freiheit ein eminent
„politischer" Begriff ist. Wirkliche Freiheit der Einzelexistenz
<und zwar nicht bloss im liberalistischen Sinne) ist nur in einer
bestimmt gestalteten Polis, in einer „vernunftgemäss " organisierten
Gesellschaft möglich. In der bewussten Politisierung der Existenz-
begriffe, in der Ent-Privatisierung und Ent-Innerlichung der libe-
ralistisch-idealistischen Konzeption des Menschen liegt ein Fort-
schritt der totalitären Staatsauffassung, durch den sie über ihren
eigenen Boden, über die von ihr statuierte Gesellschaftsordnung
hinausgetrieben wird. Bleibt sie auf ihrem Boden, wirkt der
Fortschritt als Rückschritt : die Ent-Privatisierung und Politisie-
rung vernichtet die Einzelexistenz, statt sie in der „Allgemeinheit "
wahrhaft aufzuheben. Dies wird am antiliberalistischen Frei-
heitsbegriff deutlich.
Die politische Identifizierung von Freiheit und Bindung ist nur
dann mehr als eine Phrase, wenn das Gemeinwesen, an das der
freie Mensch apriori gebunden wird, die Möglichkeit menschenwürdi-
ger Erfüllung des Daseins gewährleistet bzw. in eine solche Möglich-
keit gebracht werden kann. Die Identität von Freiheit und poli-
tischer Bindung (die als solche durchaus anzuerkennen ist) enthebt
nicht, sondern zwingt erst recht zu der kritisch-rationalen Frage :
wie sieht dieses Gemeinwesen aus, an das ich mich binden soll ?
Kann bei ihm das, was das Glück und die Würde des Menschen
ausmacht, aufbewahrt sein ? Die „natürlichen" Gebundenheiten
des „Blutes" und des „Bodens" rechtfertigen allein noch niemals
») „Volk im Werden", 1933, Heft 2, S. 13.
2 ) Koellreutter Der deutsche Führerstaat, a. a. 0. S. 31. — Allgemeine Staats-
lehre, a. a. O. S. 101.
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung 193
die totale Ueberantwortung des Einzelnen an die Gemeinschaft.
Der Mensch ist mehr als Natur, mehr als Tier, „und das Denken
einmal können wir nirgends unterlassen. Denn der Mensch ist
denkend; dadurch unterscheidet er sich von dem Tier" 1 ). Und
ebensowenig kann bloss deswegen, weil der Mensch „seinsmässig "
ein politisches Wesen ist, weil die politischen Beziehungen „existen-
zielle" Beziehungen sind, die totale Auslieferung des Einzelnen an
den faktisch gerade vorhandenen Staat gefordert werden. Die
politische Bindung der Freiheit ist, wenn anders sie das Wesen
der menschlichen Freiheit nicht vernichten, sondern erfüllen soll,
nur als die freie Praxis des Einzelnen selbst möglich : sie beginnt
mit der „Kritik" und endet mit der freien Selbstverwirklichung des
Einzelnen in der vernuni'tgemäss organisierten Gesellschaft. Diese
Organisation der Gesellschaft und diese Praxis sind die Todfeinde,
die der politische Existenzialismus mit allen Mitteln bekämpft.
Der Existenzialismus bricht zusammen in dem Augenblick, da
sich seine politische Theorie verwirklicht. Der total-autoritäre
Staat, den er herbeigesehnt hat, straft alle seine Wahrheiten Lügen.
Der Existenzialismus begleitet seinen Zusammenbruch mit einer
in der Geistesgeschichte einzig dastehenden Selbsterniedrigung ; er
führt seine eigene Geschichte als Satyrspiel zu Ende. Er begann
philosophisch als eine grosse Auseinandersetzung mit dem abendlän-
dischen Rationalismus und Idealismus, um dessen Gedankengut
wieder in die geschichtliche Konkretion der Einzelexistenz hinein-
zuretten. Und er endet philosophisch mit der radikalen Verleug-
nung seines eigenen Ursprungs ; der Kampf gegen die Vernunft
treibt ihn den herrschenden Gewalten blind in die Arme. In ihrem
Dienst und Schutz wird er nun zum Verräter an jener grossen
Philosophie, die er einst als den Gipfel des abendländischen Den-
kens gefeiert hatte. Unüberbrückbar allerdings ist jetzt der
Abgrund, der ihn von ihr trennt. Kant war davon überzeugt, dass
es „unveräusserliche " Menschenrechte gibt, die „der Mensch nicht
aufgeben kann, selbst wenn er will". „Das Recht der Menschen
muss heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es
auch noch so grosse Aufopferung kosten. Man kann hier nicht
halbieren und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts...
aussinnen, sondern alle Politik muss ihre Knie vor dem erstem
beugen..." 2 ). Kant hatte den Menschen an die selbstgegebene
Pflicht, an die freie Selbstbestimmung als einziges Grundgesetz
gebunden ; der Existenzialismus hebt dieses Grundgesetz auf und
J ) Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte, Ausgabe Lasson,
a > Werke, ed. Cassirer VI, S. 468.
Zäteobrift für Somliomobaiig J1I/2 13
194 Herbert Marcuse
bindet den Menschen „an den Führer und die ihm unbedingt
verschriebene Bewegung ££1 ). — Hegel hatte noch geglaubt :
„Was im Leben wahr, gross und göttlich ist, ist es durch die Idee...
Alles was das menschliche Leben zusammenhält, was Werth hat und gilt
ist geistiger Natur und dies Reich des Geistes existirt allein durch das
Bewusstseyn von Wahrheit und Recht, durch das Erfassen der Ideen" 2 ).
Heute weiss es der Existenzialismus besser :
„Nicht Lehrsätze und , Ideen' seien die Regeln Eures Seins.
Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche
Wirklichkeit und ihr Gesetz " 3 ).
Die Frage nach dem „Standpunkt" der Philosophie ist damals
wie heute aufgeworfen worden. Kant : „Hier sehen wir nun die
Philosophie in der Tat auf einen misslichen Standpunkt gestellet»
der fest sein soll, unerachtet er wieder im Himmel, noch auf der
Erde an etwas gehängt oder woran gestützt wird. Hier soll sie
ihre Lauterkeit beweisen als Selbsthalterin ihrer Gesetze, nicht als
Herold derjenigen, welche ihr ein eingepflanzter Sinn, oder wer
weiss welche vormundschaftliche Natur einflüstert..." 4 ). — Heute
wird der Philosophie just der entgegengesetzte Standpunkt zuge-
wiesen : „was soll die Philosophie in dieser Stunde tun ? Vielleicht
bleibt ihr heute nur das Geschäft, aus ihrem tieferen Wissen um den
Menschen den Anspruch derjenigen zu rechtfertigen, die nicht
wissen, sondern handeln wollen " ! 5 ) Diese Philosophie ist den Weg
vom kritischen Idealismus zum „existenziellen " Opportunismus mit
unerbittlicher Konsequenz zu Ende gegangen.
Der Existenzialismus, der sich einst als Erbe des deutschen
Idealismus verstand, hat die grösste geistige Erbschaft der deut-
schen Geschichte ausgeschlagen. Nicht mit Hegels Tode, sondern
jetzt erst geschieht der Titanensturz der klassischen deutschen
Philosophie 6 ). Damals wurden ihre entscheidenden Errungen-
schaften in die wissenschaftliche Theorie der Gesellschaft, in die
Kritik der politischen Oekonomie hinübergerettet. Heute liegt
das Schicksal der Arbeiterbewegung, bei der das Erbe dieser Philo-
sophie aufgehoben war, im Ungewissen.
*) Heidegger in der Freiburger Studentenzeitung vom 10. November 1933.
2 ) Hegels Anrede an seine Zuhörer bei Eröffnung seiner Vorlesungen in Bh«>
1818 (Werke VI, 2. Aufl., 1843, S. XL).
3 > Heidegger in der Freiburger Studentenzeitung vom 3. November 1933
«) Kant a. a. 0. IV, S. 284.
& ) Der deutsche Student a. a. 0. S. 14.
s > Carl Schmitt spricht eine tiefe (freilich ganz anders gemeinte) Erkenntnis
aus, wenn er sagt : „An diesem Tage (dem 30. Januar 1933) ist demnach, so kann man
sagen, „Hegel gestorben"" (Staat, Bewegung, Volk, S. 32).
Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauflassung 195
La critique du liberalisme dans la conceprion totalitäre de l'Etat,
L'auteur cherche, au moyen d'une analyse de la theorie totalitaire de
l'Etat et de la societe, ä decrire les fonctions ideologiques de cette concep-
tion. Apres avoir esquisse les differentes sources de cette theorie et le deve-
loppement economique qui a precede l'etat autoritaire total qu'elle preco-
nise, 11 expose ses principaux elements : I' universal isme, l'organicisme le
„realisme heroique" et I'existencialisme politique (Carl Schmitt). Cette
theorie combat le liberalisme comme son grand advcrsaire. On voit toutefois
nettement que son anti-Iiberaüsme cachc sa position effective dans la
Situation actuelle : les bases economiques du liberalisme subsistent comme
telles et ne sont qu'adaptees aux necessites nouvelles de la societe monopolo-
capitaliste; l'etat autoritaire total organise la societö sans modifier sa
base d'une maniere decisive ; il n'est qu'une auto-transformation de l'etat
liberal. La theorie de l'etat autoritaire total n'est toutefois pas uniquement
le rcsultat d'une manoeuvre ideologique. Par l'etat autoritaire et par les
pensees qu'il suscite dans un hut propagandiste, se developpent des forces
qui depassent ses propres formes politiques et tendent vers un autre etat
de choses.
The Struggle against Liberalism in the Totalitariaa
Theory of the State.
The author attempts by means of an Interpretation of the historical and
social theory of the totalitarian State to demonstrate its social functions.
After sketching the various sources of the new world-outlook and of the
economic developments preceding the totalitarian state, the author pre-
sents the main points of his analysis : populär universalism, irrational orga-
nicism, „heroic realism" and political existencialism (Carl Schmitt). Libe-
ralism is the great antagonist of this political and social theory. It is clear,
however, that the anti-liberalism of the latter conceals the actual attitude
in the present Situation ; the economic foundations of liberalism remain
as they were and are merely adapted to the changed needs of the monopo-
listic capitalistic society. The totalitarian state organizes society without
any real change in its basis ; it is only a self-transformation of the libera-
listic state. The totalitarian state is however not merely an ideological
adaptation. The dialectics of an historical process emerge within it, and
unchain forces which point to something beyond the political forms by
which the totalitarian state stabilises social conditions.
Die sozialpsychologische Bedeutung
der Mutterrechtstheorie.
Von
Erich Fromm.
Das 1861 erschienene „Mutterrecht" des Basler Professors
Johann Jakob Bachofen teilt ein bemerkenswertes Schicksal
mit zwei fast gleichzeitig veröffentlichten wissenschaftlichen Unter-
suchungen : Darwins „Entstellung der Arten" und Marx' „Zur
Kritik der politischen Ökonomie " (beide 1859). Alle drei Untersu-
chungen behandelten wissenschaftliche Spezialfragen, erregten aber
weit über den Kreis der engeren Fachleute hinaus die Affekte von
Wissenschaftlern und Laien. Für Marx und Darwin ist dieser
Tatbestand ohne weiteres durchsichtig. Komplizierter liegt der
Fall bei Bachofen. Einmal deshalb, weil das Problem des Matriar-
chats weit weniger mit den für die Erhaltung der bürgerlichen
Gesellschaft vitalen Interessen zu tun zu haben scheint als Marxis-
mus und Darwinismus ; zum anderen, weil die begeisterte Zustim-
mung zur matriarchalischen Theorie aus zwei weltanschaulich und
politisch völlig entgegengesetzten Lagern kam. Zuerst w r urde
Bachofen entdeckt und gefeiert von sozialistischer Seite, von Marx,
Engels, Bebel u. a. ; dann, nach jahrzehntelangem fast völligem.
Totschweigen wurde er neu entdeckt und neu gefeiert von soziolo-
gisch und politisch entgegengesetzt eingestellten Philosophen wie
Klages und Bäumler. Diesen Extremen stand in fast geschlos-
sener Front der Ablehnung oder des Ignorierens die offizielle
Wissenschaft gegenüber, bis hin zu Vertretern sozialistischer
Anschauungen wie Heinrich Cunow. In den letzten Jahren hat
das Problem des Mutterrechts eine dauernd wachsende Rolle in der
wissenschaftlichen Diskussion gespielt. In einer Reihe mehr oder
minder ausführlicher Publikationen wurde das Problem immer
häufiger behandelt, teils zustimmend, teils ablehnend, fast stets
aber mit einem sichtbaren emotionellen Anteil der Autoren.
Die folgenden Ausführungen wollen zu zeigen versuchen, warum
das Problem des Matriarchats so starke Affekte auslöst oder, was
dasselbe ist, welche vitalen gesellschaftlichen Interessen es berührt ;
weiterhin, welches die Hintergründe einerseits der revolutionären
Die sozialpsjxhologische Bedeutung der Mutterreclitstheorie 197
und andererseits der ihnen entgegengesetzten Sympathien für die
Mutterrechtstheorie sind ; endlich wollen sie andeuten, worin die
Bedeutung des Problems für die Erforschung der gegenwärtigen
gesellschaftlichen Struktur und ihrer Wandlungen liegt.
Eine Gemeinsamkeit zwischen den Sympathien ist unschwer
zu finden. Sie liegt in der Distanz zur bürgerlich-demokratischen
Gesellschaft. Offenbar ist zumindest die Distanz notwendig, um
überhaupt eine gesellschaftliche Struktur verstehen und aus den
Zeugnissen von Mythen, Symbolen, Rechtsinstitutionen usw. ent-
decken zu können, falls diese Gesellschaft nicht nur in einzelnen
Inhalten, sondern in ihren grundlegenden sozialpsychologischen
Zügen radikal verschieden von der bürgerlichen Gesellschaft ist.
Bachofen hat dies selbst sehr klar gesellen. In der Vorrede zum
„Mutterrecht" 1 ) sagt er :
„Die Erreichung eines solchen Resultats (gemeint ist das Verständnis
der mutterrechtlichen Erscheinungen. E. F.) hängt hauptsächlich von einer
Vorbedingung ab. Sie verlangt die Fähigkeit des Forschers, den Ideen
seiner Zeit, den Anschauungen, mit welchen diese seinen Geist erfüllen»
gänzlich zu entsagen und sich in den Mittelpunkt einer durchaus verschie-
denen Gedankenwelt zu versetzen... Wer die Anschauungen späterer
Geschlechter zu seinem Ausgangspunkt wählt, wird durch sie vom Ver-
ständnis früherer immer mehr abgelenkt."
Die von Bachofen genannte Vorbedingung ist bei denjenigen
gegeben, die diese Zeit verneinen, sei es, dass sie die Vergangenheit
als ein verlorenes Paradies verherrlichen, sei es, dass sie an eine
bessere Zukunft glauben. Aber in dieser Distanz zur Gegenwart
dürfte wohl auch die einzige Gemeinsamkeit beider so verschiedener
Anhänger der Matriarchatstheorie liegen. Die schroffe Gegen-
sätzlichkeit dieser Gruppen in allen anderen wesentlichen Anschau-
ungen weist darauf hin, dass in der Mutterrechtstheorie selbst wie
in dem Gegenstand, den sie behandelt, ganz heterogene Elemente
vorhanden sein müssen, von denen die eine Gruppe die einen, die
andere davon verschiedene als entscheidend empfindet und zur
Basis ihrer Vorliebe für die Matriarchatstheorie macht. Sicherlich
liegt aber das Problem nicht so einfach, wie Bäumler es in seiner
Abhandlung „Bachofen als Mythologc der Romantik" 2 ) sieht :
„Wenn aber der Sozialismus Bachofen zusammen mit Morgan unter die
Begründer seiner Geschichtsphilosophie zählt, die die Entwicklung der
Menschheit mit kommunistischen Zuständen beginnen lässt, so kann man
x ) S. 16. — Bacliofen wird zitiert nach der von Manfred Schroeter herausgegebenen
Bachofen-Ausgabe „Der Mythus von Orient und Okzident", München 1926,
2) lu : „Der Mythus von Orient und Okzident", S. CCIV f.
198 Erich Fromm
sich keine schlimmere Verkennimg des Geistes, in dem Bachofen seine
Forschungen unternahm, denken als diese. ... Der völlig der Vergangenheit
zugewandte Romantiker Bachofen und der leidenschaftliche Revolutionär
und Fanatiker der Zukunft Marx sind die grössten Gegensätze des 19. Jahr-
hunderts. ... Es wäre zu begrüssen, wenn zukünftig der Name Bachofen
in der Literatur des Sozialismus mit grösserer Vorsicht gebraucht würde. 1 '
Einige Kenntnis der Dialektik hätte Bäumler belehren können,
dass Gegensätze oft mehr miteinander zu tun haben, als er ahnt, und
dass zum Verständnis ihrer Verwandtschaft mehr verlangt wird
als „Vorsicht",
II
Was begründet die besonderen Sympathien der romantisieren-
den, in ihren gesellschaftlichen Idealen rückläufig orientierten
Schriftsteller für die Mutterrechtstheorie ?
Engels hat auf einen Gesichtspunkt hingewiesen 1 ), den er
zum Kern seiner Kritik an Bachofen macht, nämlich auf seine
religiöse Grundhaltung. Dieser selbst drückt sich deutlich genug
aus :
„Es gibt nur einen einzigen mächtigen Hebel aller Zivilisation, die
Religion, Jede Hebung, jede Senkung des menschlichen Daseins entspringt
aus einer Bewegung, die auf diesem höchsten Gebiete ihren Ursprung
nimmt... Die kultischen Vorstellungen sind das Ursprüngliche, die
bürgerlichen Lebensformen Folge und Ausdruck 2 )."
Wenn diese Haltung auch gewiss nicht typisch für Bachofen
allein ist 3 ), so ist sie doch von grundlegender Bedeutung für seine
Theorie, die eine enge Verbindung zwischen der Frau und dem
religiösen Gefühl annimmt.
„Dass die gynäkokratische Kultur vorzugsweise dieses hieratische
Gepräge tragen muss, dafür bürgt die innere Anlage der weiblichen Natur,
jenes tiefe ahnungsreiche Gottesbewusstsein, das, mit dem Gefühl der Liebe
sich verschmelzend, zumal der Frau eine in den wildesten Zeiten am mäch-
tigsten wirkende religiöse Weihe leiht 4 )."
Hier wird also die religiöse Begabung selbst als besondere
„Anlage" der Frau angesehen und die Religion als ein für das
Matriarchat spezifischer Zug aufgefasst. Allerdings sieht Bachofen
1 Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des
Staates, 23. Aufl., S. XII ff.
2 ) Vorrede zum „Mutterreclit", a. a. O., S. 20.
3 ) Die folgenden Ausführungen berücksichtigen nur den Kern der Mutterrechts-
theorie und nicht Ihre allgemeinen philosophischen Grundlagen.
*) Bachofen, Vorrede zum „Mutterrecht", a. a. 0., S. 20.
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtslheorie 199
in der Religion durchaus nicht nur eine Form des Bewusstseins
und des Kultus. Es gehört vielmehr gerade zu seinen genialsten
Leistungen, dass er eine bestimmte Struktur der menschlichen
Psyche als einer bestimmten Religion zugeordnet ansieht, wenn er
auch die Verhältnisse auf den Kopf stellt und die psychische
Struktur aus der Religion hervorgehen lässt.
Die romantische Seite der Bachofenschen Theorie wird noch
deutlicher in seiner rückwärts gewandten, das Glück in der Ver-
gangenheit suchenden Einstellung. Sie drückt sich nicht nur darin
aus, dass Bachofen seine Liebe und sein Interesse in hohem
Masse der frühesten Vergangenheit der Menschheit zuwandte und
diese idealisierte, sondern noch mehr darin, dass er als einen der
wesentlichsten Züge der mutterrechtlichen Kultur ihre den Toten
zugewandte Haltung preist. In seiner Darstellung des lykischen
Mutterrechts sagt er, ,,dass die ganze Lebensrichtung eines Volkes
wesentlich aus seinem Verhalten gegenüber der Gräberwelt sich
erkennen lässt. Die Ehre der Toten ist von der Hochachtung der
Vorfahren, diese von der Liebe zu dem Herkommen und von einer
vorzugsweise der Vergangenheit zugekehrten Geistesrichtung unzer-
trennlich 1 ) ". In dem mütterlich-tellurischen Mysterienkult findet
er die „nachdrückliche Hervorhebung der finsteren Todesseite des
Naturlebens" verwurzelt, die für das matriarchalische Fühlen so
charakteristisch ist. Auch Bäumler drückt diesen Gegensatz
zwischen der romantischen und revolutionären Haltung sehr deut-
lich aus :
„Der Mensch, der Mythen verstehen will, muss ein durchdringendes
Oefühl von der Macht der Vergangenheit haben, so wie der Mensch, der
eine Revolution und Revolutionäre verstehen will, stärkstes Bewusstsein
des Zukünftigen haben muss 2 ). 11 — „Man muss sich, um die Eigenart dieser
Auffassung zu verstehen, immer vor Augen halten, dass es keineswegs
die einzig mögliche Auflassung der Geschichte ist. Auch aus dem Zeit-
gefühl der Zukunft kann eine Geschichtsanschauung entwickelt werden :
die männlich-aktive, die bewusst handelnde, die revolutionäre. Nach
dieser steht der Mensch frei und unabhängig in der Gegenwart da und
bringt die Zukunft selbsttätig aus sich wie aus dein Nichts hervor. Nach
jener ist er in den „Kreis der Geburten", in die Überlieferung des Blutes
und der Sitte eingereiht, Glied eines „Ganzen"', das sich nach rückwärts
in unbekannte Fernen verliert... Die Toten wollen dabei sein, wenn die
Lebenden Beschlüsse fassen. Sie sind nicht ein für alle mal gestorben und
von der Erde verschwunden : die Ahnen sind, und sie raten und taten fort
in der Gemeinde der Enkel 3 )."
!) a. a. 0., S. 92.
*) a. a. O., S. CXII.
3) a. a. 0., S. CXVIII.
200 Erich Fromm
Der entscheidende Zug der Bachofenschen Konzeption der
matriarchalischen psychischen Struktur wie der dem Matriarchat
zugeordneten chtonischen Religion ist die Stellung zur Natur,
zum Stofflichen als Gegensatz zum Geistigen.
„Das Mutterrecht gehört dem Stoffe und einer Religionsstufe, die nur
das Leibesleben kennt... 1 )" — „In der Hervorhebung der Paternität liegt
die Losmaehung des Geistes von den Erscheinungen der Natur, in ihrer
siegreichen Durchführung eine Erhebung des menschlichen Daseins über die
Gesetze des stofflichen Lebens. Ist das Prinzip des Muttertums allen
Sphären der tellurischen Schöpfung gemeinsam, so tritt der Mensch durch
das Übergewicht, das er der zeugenden Potenz einräumt, aus jener Ver-
bindung heraus und wird sich seines höheren Berufes bewusst. Über das
körperliche Dasein erhebt sich das geistige, und der Zusammenhang mit den
tieferen Kreisen der Schöpfung wird nun auf jenes beschränkt. Das
Muttertum gehört der leiblichen Seite des Menschen, und nur für diese
wird fortan sein Zusammenhang mit den übrigen Wesen festgehalten ; das
väterlich — geistige Prinzip eignet ihm allein. In diesem durchbricht
er die Bande des Tellurismus und erhebt seinen Blick zu den höheren
Regionen des Kosmos 2 )."
Zwei Züge sind es also, die das Verhältnis der matriarchalischen
Gesellschaft zur Natur kennzeichnen : die passive Hingabe an die
Natur und die ausschliessliche Anerkennung aller natürlichen,
biologischen Werte im Gegensatz zu geistigem So wie im Mittel-
punkt dieser Kultur die Mutter steht, so auch die Natur, der
gegenüber der Mensch immer das hilflose Kind bleibt 3 ).
„Dort (in der mutterrechtlichen Kultur. E. F.) stoffliche Gebundenheit
hier (in der vaterrechtlichen Kultur. E. F.) geistige Entwicklung ; dort
unbewusste Gesetzmässigkeit, hier Individualismus ; dort Hingabe an die
Natur, hier Erhebung über dieselbe, Durchbrechung der alten Schranken
des Daseins, das Streben und Leiden des prometheischen Lebens an der
Stelle beharrender Ruhe, friedlichen Genusses und ewiger Unmündigkeit
im alternden Leibe. Freie Gabe der Mutter ist die höhere Hoffnung des
demetrischen Mysteriums, das in dem Schicksal des Samenkorns erkannt
Wird. Der Hellene dagegen will alles, auch das Höchste sich selbst erringen
Im Kampf wird er sich seiner Vaternatur bewusst, kämpfend erhebt er sich
über das Muttertum, dem er früher ganz angehörte, kämpfend ringt er sich
zu eigener Göttlichkeit empor. Für ihn liegt die Quelle der Unsterblichkeit
nicht mehr im gebärenden Weibe, sondern In dem männlich-schaffenden
*) a. a. 0., S. 74.
2 ) a, a. 0„ S. 48.
8 ) Der Romantik war dieser Gedankengang geläufig; Görres etwa vergleicht die
frühe Menschheit mit einem Kind im Mutterleib, dessen Plazenta noch nicht gelöst
ist.
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie 201
Prinzip, dieses bekleidet er nun mit der Göttlichkeit, die die frühere Weit
enem allein zuerkannte 1 )."
Der passiven Hingegebenheit an Mutter, Natur, Erde und ihrer
zentralen Rolle entspricht das Wertsystem der mutterrechtlichen
Kultur. Das Naturale, Biologische allein ist wertvoll, das Geistige,.
Kulturelle, Rationale wertlos. Bachofen hat diesen Gedanken am
ausführlichsten und klarsten für die Rechtsvorstellung durchge-
führt. Im Gegensatz zum bürgerlichen Naturrecht, in dem die
,, Natur" die Verabsolutierung der patriarchalischen Gesellschaft
ist, wird sein Naturrecht durch das Vorherrschen der triebhaften,
natürlichen, blutmassigen Wertungen charakterisiert. In ihm gibt
es kein verstehendes vernünftiges Abwägen von Schuld und Sühne,
in ihm herrscht das „natürliche" Prinzip der Talion, der Vergeltung
von Gleichem mit Gleichem- Die ausschliessliche Bewertung der
Blutsbande im „Naturrecht M des Matriarchats ist von Bachofen am
eindrucksvollsten in seiner Deutung der Orestie des Aeschylos
dargelegt worden. Klytemnaestra hat ihres Geliebten Aegysthos
wegen ihren aus dem Kampf um Troja heimkehrenden Gatten
Agamemnon erschlagen. Diesen Gattenmord rächt ihr und Aga-
memnons Sohn Orestes, indem er seine Mutter tötet. Die Erin-
nyen, die alten mütterlichen gestürzten Gottheiten verfolgen ihn
für diese Tat, während Apollo und Athene, die aus dem Haupt des
Zeus und nicht aus dem Mutterleib stammende, die neuen Gotthei-
ten des siegreichen Vaterrechts, ihn verteidigen. Worum geht
der prinzipielle Streit ? Für das Mutterrecht gibt es nur ein
Verbrechen : die Verletzung der Blutsbande. Warum verfolgen
die Erinnyen nicht die treulose Gattenmörderin ?
„Sie war dem Mann, den sie erschlug, nicht blutsverwandt".
Die hinterlistige Verletzung der Treue geht die Erinnyen nichts
an ; aber wo Blutsbande verletzt sind, kann kein vernünftiges
Abwägen gerechter oder doch entschuldbarer Motive des Täters ihn
vor der mitleidslosen Strenge des naturalen Talionsprinzips retten.
Die Gynäkokratie ist „die Weltzeit des Blutbandes und der
Liebe, im Gegensatz zu der männlich-apollinischen der bewussten
Tat 2 ). " Ihre Kategorien sind : „Tradition, Generation, lebendiger
Zusammenhang durch Blut und Zeugung" 3 ). Diese Kategorien
erhalten bei Bachofen einen konkreten Sinn. Sie werden aus dem
Bereich philosophischer Spekulation in den der Erforschung empi-
rischer ethnologischer Dokumente gehoben und verleihen damit
l ) Bachofen a. a. O., S. 4P.
») Bäumler, a. a. O , S. CCXXXIIJ.
3 ) Bäumler, a. a. O., S. CX1X.
202 Erich Fromm
auch jener neues Gewicht, An Stelle des vagen Begriffs der
Natur und einer „natürlichen" Lebensordnung tritt die konkrete
Gestalt der Mutter und einer empirisch nachweisbaren matrizen-
trischen Rechtsordnung.
Bachofen teilt nicht nur die rückwärtsgewandte, naturergebene,
naturale Werte bejahende Haltung, die weitgehend die der Roman-
tik war, sondern er hat einen der fruchtbarsten Gedanken der
Romantik zu einem Kerngedanken seines Werkes gemacht und
ihn gleichzeitig weit über das hinaus entfaltet, was er in der roman-
tischen Philosophie bedeutet hatte : den Unterschied zwischen
Männlichem und Weiblichem als zweier Qualitäten, die sich sowohl
in der ganzen organischen Natur als auch im Geistigen und Seeli-
schen als grundlegende Unterschiede vorfinden. Die Romantik,
und mit ihr einige Vertreter des deutschen Idealismus standen mit
dieser Auffassung in striktem Gegensatz zu den Theorien, wie sie
besonders im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich in den Vorder-
grund getreten waren. Der Kerngedanke dieser Theorien war
der Satz : „Les ämes n'ont point de sexe.' : In einer Reihe von
Schriften wurde das Verhältnis von Mann und Frau diskutiert,
und immer wieder kam man zum Ergebnis, dass Männliches und
Weibliches keine Qualitäten seien, die sich auch im Geistigen und
Seelischen ausdrückten, sondern dass der Unterschied, der sich
psychisch zwischen Männern und Frauen vorfände, einzig und
allein auf die verschiedenartige Erziehung zurückzuführen sei.
Diese bewirke ein Anderssein der Frau, wie sie auch bei gewissen
anderen Gruppen der Gesellschaft (etwa Fürsten und Dienstboten,
wie Helvetius sagt) den gleichen Effekt habe 1 ).
Die Anschauung von der grundsätzlichen Gleichheit der Ge-
schlechter 2 ) war eng verknüpft mit einer politischen Forderung, die —
mehr oder weniger deutlich und radikal vertreten — in jener Epoche
der bürgerlichen Revolution eine wichtige Rolle spielte, der Emanzi-
pation der Frau, ihrer geistigen, gesellschaftlichen und sogar poli-
tischen Gleichstellung. Es ist leicht zu sehen, in welchem Verhält-
nis hier Theorie und politische Forderung stehen. Die Theorie
von der Gleichartigkeit der Frau war die Begründung für die Forde-
rung ihrer politischen Gleichberechtigung. Gleichartigkeit der
J ) Vgl. hierzu und zu den folgenden historischen Ausführungen vor allem die
reiche Materialsammlung bei Paul Kluckhohn, Die Auflassung der Liebe im 18. Jahr-
hundert und in der Romantik. 2. Aufl. Halle 1931.
2 ) Eine Konsequenz dieser Auffassung dürfte es auch gewesen sein, wenn man in
der Aufklärung die Frau vielfach für sexuell unempfindlich hielt. Diese Auffassung
findet man auch heute bei solchen Personen, für welche die Frau in Wirklichkeit nur
ein verstümmelter Mann ist. Auch Freuds Psychologie der Frau zeigt in diesem
Punkt eine enge Beziehung zur Aufklärung.
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie 203
Frau hiess aber ausgesprochener- oder Unausgesprochenermassen,
dass die Frau ihrem Wesen nach dem Manne der bürgerlichen
•Gesellschaft gleich sei, und Emanzipation bedeutete in erster Linie
nicht Befreiung der Frau zur Entfaltung ihrer als solcher noch gar
nicht bekannten spezifischen Anlagen und Möglichkeiten, sondern
ihre Emanzipation zum bürgerlichen Mann. Die „menschliche"
Emanzipation der Frau hiess in Wirklichkeit ihre bürgerlich- männ-
liche Emanzipation.
Mit der politisch rückläufigen Bewegung (1793 werden in Paris
■die Frauenklubs geschlossen) ändert sich die Theorie über das
Verhältnis der Geschlechter bezw. über das „Wesen" von Mann
und Frau, Männlichem und Weiblichem. An Stelle der Theorie
von der Geschlechtslosigkeit der Seele und der prinzipiellen Gleich-
artigkeit von Mann und Frau tritt die Auffassung von der grund-
legenden „natürlichen" und unveränderbaren Verschiedenheit der
Geschlechter 1 ).
Bei den Spätromantikern wird der universelle Unterschied
.zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit noch weiter ausgebaut und
durch seine Anwendung auf historische, soziologische, linguistische,
mythologische und physiologische Probleme bereichert. Zum
Unterschied vom deutschen Idealismus und der Frühromantik
scheint sich dabei aber tendenziell ein Bedeutungswandel mit dem*
was unter Frau verstanden wird, zu vollziehen. Ist dort die Frau
wesentlich Geliebte und die Vereinigung mit ihr das Eingehen in
wahre „Menschlichkeit", so wird sie allmählich immer mehr Mutter
und die Beziehung zu ihr eine Rückkehr zum „Natürlichen", eine
■neue Harmonie im Schosse der Natur 2 ).
Wenn die Aufklärung den Geschlechtsunterschied im Seelischen
leugnete und die Gleichheit der Geschlechter proklamierte, so ver-
stand sie zwar unter dem Menschlichen das Bürgerlich-Männliche,
aber diese Theorie war der Ausdruck ihres Strebens nach der gesell-
schaftlichen Befreiung und Gleichstellung der Frau. Die bürger-
liche Konsolidierung bedurfte der Idee der Gleichheit der Geschlech-
ter nicht mehr. In dieser Periode musste eine Theorie von der
natürlichen Verschiedenartigkeit der Geschlechter entstehen und
aus dieser Verschiedenartigkeit des Wesens auf eine Verschiedenheit
der gesellschaftlichen Funktionen von Mann und Frau geschlossen
*) Diese Auffassung wird in neuerer Zeit mehr oder minder deutlich vertreten von
Rousseau, Herder, W. v. Humboldt, Schiller, Fichte, Schlegel, Schleier-
ina eher und Schellin g. Vgl, Kluckhohn, a. a. O., passim.
3 ) Hierin liegt wohl ein wesentlicher Unterschied zwischen Früh- und Spätromantik
und nicht nur, wie Bäumler meint (a. a. 0., S. CLXXVII1), darin, dass erst diese die
Frau als Mutter auffasst. — Vgl. hei Kluckhohn die Referate bes. über Görres,
A. Müller und J. Griinm.
204 Erich Fromm
werden. Wenn dabei auch psychologisch ungleich tiefere und in
vielem richtigere Auffassungen als die der „flachen" Aufklärung
zutage gefördert wurden, so dienten diese Theorien, mögen sie noch
so erhabene Worte über die Würde der Frau gefunden haben, doch
dazu, die Frau in ihrer unselbständigen Position als Dienerin des
Mannes zu erhalten. Es wird später noch zu zeigen sein, warum
und in welcher Weise die Klassengesellschaft so eng mit der Herr-
schaft des Mannes in der Familie verknüpft ist. Aber soviel dürfte
schon klar geworden sein, dass die Theorie von der universellen
Bedeutung des Geschlechtsunterschiedes für die Vertreter einer
männlich- hierarchischen Klassenherrschaft sehr anziehend sein muss
und dass hierin einer der wichtigsten Gründe der Sympathien für
Bachofen aus dem konservativen Lager liegen dürfte. Es soll
allerdings schon hier betont werden, dass Bachofen, indem er das
Prinzip der Geschlechterverschiedenheit am konsequentesten durch-
führt und auf frühe gesellschaftliche und kulturelle Erscheinungen
anwendet, in denen er gerade die Überlegenheit und Autorität
der Frau entdeckt, selbst schon bis zu einem hohen Grade den
möglichen reaktionären Sinn jener Theorie überwindet.
Ein wesentlicher Zug der romantischen Auffassung besteht auch
dann, dass der Geschlechtsunterschied durchaus nicht als etwas
sozial Bedingtes, historisch Gewordenes, sondern als etwas biolo-
gisch Gegebenes und Ewiges erscheint. Um die Begründung der
Natürlichkeit männlicher und weiblicher Qualitäten hat man sich
verhältnismässig nicht viel Mühe gegeben. Entweder man nahm
den Charakter der bürgerlichen Frau als Ausdruck ihres „Wesens",
oder man leitete den Wesensunterschied zwischen männlichem und
weiblichem Prinzip in so oberflächlicher Weise, wie Fichte es tat,
von den „natürlichen" Verschiedenheiten des Verhaltens beim
Geschlechtsakt ab. Indem die Spätromantiker den Begriff des
Weibes auf den der Mutter reduzieren und gleichzeitig über vage
Ableitungen hinaus zu empirischen Untersuchungen über die Rolle
des mütterlich-weiblichen Prinzips in der geschichtlichen und biolo-
gischen Wirklichkeit zu kommen beginnen, geben sie den Begriffen
eine ausserordentliche Vertiefung. - Wenn 'auch Bachofen selbst
teilweise in der Vorstellung der „Natürlichkeit" der Wesensun-
terschiede befangen bleibt, so kommt er doch andererseits schon zn
Einsichten wie der, dass das weibliche Wesen sich aus der Lebens-
praxis der Frau, ihrer durch die biologische Situation bedingten
frühen Fürsorge für das hilllose Kind entwickelt, ein Gedanke, der
dann, vielfach unterbaut, eine entscheidende Rolle inBriffa'ults
Werk spielt 1 ).
*) Vgl. Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. II (1933), S. 355 ff. u; S. 382 (T.
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie 205
Aus diesen, wie aus anderen zum Teil schon erwähnten Tatsa-
chen geht hervor, dass Bachofen bei weitem nicht der eindeutige
Romantiker war, zu dem ihn die Gruppe Klages-Bäumler machen
will. Die matriarchalische Gesellschaft, die Bachofen in den
höchsten Worten eine „segensreiche" nennt, enthält, worauf
später ausführlich eingegangen wird, in seiner Darstellung Züge,
die eine enge Verwandtschaft mit Idealen des Sozialismus haben :
die Sorge für die materielle Wohlfahrt und das irdische Glück der
Menschen wird als einer der zentralen Gedanken der mutterrechtli-
chen Gesellschaft hingestellt. Auch in anderen Punkten ist die
Realität der mutterrech tliehen Gesellschaft, wie sie von Bachofen
dargestellt wird, ebenso sozialistischen Zielsetzungen verwandt wie
romantisch-reaktionären Wünschen entgegengesetzt. Er stellt sie
als eine Gesellschaft dar, in der die Sexualität frei war von der
christlichen Entwertung, als eine Gesellschaft urwüchsiger Demo-
kratie, in der mütterliche Liebe und Mitleid die tragenden mora-
lischen Prinzipien waren und die Verletzung des Mitmenschen die
schwerste Sünde, eine Gesellschaft, in der noch kein Privateigentum
existiert und zu deren Charakterisierung er, worauf Kelles-Krauz 1 )
hinweist, in den „Antiquarischen Briefen" dem Athenaeus das
schöne Märchen nacherzählt von dem üppigen Fruchtstrauch, der
zu wachsen aufhörte, und von der wunderbaren Quelle, die nicht
mehr floss, als die Menschen sie in Privateigentum verwandelten.
Bachofen erweist sich auch häufig, wenn auch durchaus nicht
durchgängig, als dialektischer Denker. So etwa, wenn er sagt :
„Die demetrische Gynaikokratie fordert, um begreiflich zu sein,
frühere, rohere Zustände, das Grundgesetz ihres Lebens ein entge-
gengesetztes, aus dessen Bekämpfung es hervorgegangen ist. So
wird die Geschichtlichkeit des Mutterrechts eine Bürgschaft für die
des Hetärismus" 2 ). Die Geschichtsphilosophie Bachofens ist in
mancher Weise der Hegels verwandt :
„Der Fortschritt von der mütterlichen zu der väterlichen Auflassung
des Mensehen bildet den wichtigsten Wendepunkt in der Geschichte des
Geschlechtsverhältnisses... In der Hervorhebung der Paternität liegt die
Losmachung des Geistes von den Erscheinungen der Natur, in ihrer sieg-
reichen Durchführung eine Erhebung des menschlichen Daseins über die
Gesetze des stofflichen Lebens 3 )."
Das höchste Ziel der menschlichen Bestimmung ist ihm „die
Erhebung des irdischen Daseins zu der Reinheit des göttlichen
*) „Neue Zeit", Jahrß. 1901/02, Bd. |, S. 522.
*) Vorrede a, a. O., S. 31.
3 ) a. a. O., S. 48/49.
208 Erich Fromm
Vaterprinzips" 1 ). Die geschichtliche Verwirklichung des Sieges
des väterlich-geistigen Prinzips über das mütterlich-stoffliche sieht
er im Siege Roms über den Orient, speziell über Karthago und
Jerusalem.
„Römisch ist jener Gedanke, durch welchen die europäische Menschheit
sich bereitet, dem ganzen Erdball das eigene Gepräge aufzudrücken, der
nämlich, dass kein stoffliches Gesetz, sondern nur allein das freie Walten
des Geistes das Los der Völker bestimmt 2 )."
Zwischen diesem Bachofen und dem Baseler Aristokraten, der
sagt : „Die Demokratie führt immer durch die Macht der Umstände
die Tyrannei herbei ; mein Ideal ist die Republik, die nicht von
vielen, aber von den besten Bürgern regiert wird", 3 ) und der ein
Gegner der politischen Emanzipation der Frau ist, besteht ein.
schroffer Widerspruch. Der Widerspruch liegt in verschiedenen
Ebenen : in der philosophischen ist es der Widerspruch zwischen
dem gläubigen Protestanten und Idealisten und dem Romantiker
wie der zwischen dem Dialektiker und dem naturalistischen Meta-
physiker ; in der sozialen und politischen Ebene ist es der zwischen
dem Antidemokraten und dem Verehrer einer kommunistisch-
demokratischen Gesellschaftsstruktur ; in der moralischen ist es-
der zwischen dem Anhänger protestantisch-bürgerlicher Moral und
dem Verteidiger einer Gesellschaft, in der an Stelle der Monogamie
sexuelle Ungebundenheit herrscht.
Im Gegensatz zu Klages und Bäumler macht Bachofen kaum
den Versuch, diese Widersprüche zu harmonisieren, und die Tat-
sache, dass er sie stehen liess, bildet die Grundlage dafür, dass er in
so hohem Masse die Zustimmung jener Sozialisten fand, denen es-
nicht auf Reformen, sondern auf eine grundlegende Veränderung
der sozialen und seelischen Struktur der Gesellschaft ankam.
Die Tatsache, dass Rachofen solche Widersprüche in sich trug
und kaum versuchte, sie zu verdecken, dürfte zu einem wesentlichen
Teil auf psychologischen und ökonomischen Bedingungen seiner
individuellen Existenz beruhen. Zunächst auf der Tatsache seiner
menschlichen und geistigen Weite ; ferner darauf, dass seine Liebe
zum Matriarchat offenbar auf der intensiven Fixierung an seine
Mutter beruhte, was in der Tatsache, dass er erst nach dem Tode
seiner Mutter, mit 40 Jahren heiratet, einen deutlichen Ausdruck
findet. Ferner ermöglichte ihm wohl sein ererbtes Vermögen von
*) a. a. 0., S, 57.
2 ) a. a. 0„ S. 571.
3 ) Bachofens Lebensbeschreibung von Rusanow, zit. in : „Russkaja Mysel",
1889, zitiert bei Keiles- Kra uz, a. a. 0., S. 522.
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie 207
10 Millionen jene Distanz von gewissen bürgerlichen Idealen, wie
sie. für Bachofen als Bewunderer des Mutter rechts notwendig ist.
Andererseits war dieser Baseler Patrizier aber so eingewurzelt in
seiner festen und unerschütterten patriarchalischen Tradition, dass
er an seinen traditionellen protestantisch-bürgerlichen Idealen
festhalten musste.
Es ist nur der eine Bachofen, dem die Liebe der Neuromantiker
wie Schüler, Klage s und Bäumler gilt. Sie kennen nur den
Bachofen des Irrationalismus, der Hingegebenheit an die Natur,
den Bejaher der ausschliesslichen Herrschaft naturalistischer Werte
von Erd- und Blutverbundenheit und machen sich die Lösung des
gerade in seinen Widersprüchen liegenden Problems Bachofen
dadurch sehr leicht, dass sie ihn einseitig interpretieren.
Klages, dem der „Geist" als Zerstörer des „Lebens " erscheint,
wird mit der Schwierigkeit fertig, indem erBachof ens naturalistische
Metaphysik für den wesentlichen Kern seiner Gedanken, seinen
protestantischen Idealismus für nebensächliches Beiwerk erklärt-
Er bedient sich dabei der wertenden Terminologie des Gegen-
satzes von Kopf- und Herzgedanken. Bäumler, der gegen Klages*
Bachofeninterpretation polemisiert, nimmt aber eine noch viel
unangemessenere Verstümmelung vor. Während Klages wenig-
stens den antiprotestantischen und antiidealistischen Bachofen
sieht, erklärt Bäumler aus seiner patrizentrischen Grundhaltung
heraus gerade den wichtigsten Teil des Bachofensehen Werkes,
seine historischen und psychologischen Feststellungen über die mut-
terrechtliche Gesellschaft, für nebensächlich und allein seine natu-
ralistische Metaphysik für bedeutsam. Er sagt, es sei ganz gewiss
eine „falsche Annahme", wenn Bachofen das Weib „den Mittel-
punkt und das Bindeglied der ältesten staatlichen Vereinigung"
nenne. „Die Seiten des Mutterrechts" gehörten „auch zu den
systematischen, d. h. zu den schwächsten Partien des Werkes" 1 ).
Auch dass die Monogamie nicht schon am Anfang der Menschheits-
geschichte zu finden sei, erscheint ihm sehr zweifelhaft. Das
Mutterrecht als gesellschaftliche Realität ist für ihn Nebensache :
„Die chtonische Religion bleibt auch dann noch von entscheidender
"Wichtigkeit für das Verständnis der alten und ältesten Geschichte, "wenn
sich herausstellt, dass es niemals ein indogermanisches Mutterrecht gegeben
hat. Bachofens Deutung ist von den Ergebnissen ethnologischer und
sprachwissenschaftlicher Untersuchungen in allem Wesentlichen unabhän-
gig, denn die Fundamente dieser Deutung liegen nicht in Hypothesen sozio-
logischer oder historischer Art. ... Die Grundlagen der Bachofenschen
Geschichtsphilosophie liegen in seiner Metaphysik, Auf die Tiefe dieser
• !
i) a. a. 0., S. CCLXXX.
208 Erich Fromm
Metaphysik kommt es an ; die kulturphilosophischen (lies : soziologischen
und historischen. E. F.) Irrtümer sind leicht zu berichtigen — indessen ein
irrtumfreies wissenschaftliches Werk über die Anfänge des Menschenge-
schlechts zwar nichts zu berichtigen, aber auch nichts zu erkennen geben
wird 1 )."
Bachofen sei mit der Theorie, die erste Erhebung des Menschen-
geschlechtes dem Weibe zuzuschreiben „zu weit gegangen ". Dies
sei eine „falsche Hypothese". Wichtig sei freilich gar nicht die
Mutter als reale gesellschaftlich oder seelisch bedeutsame Erschei-
nung ; auch wenn wir diese falschen Hypothesen fallen lassen,
„so behalten wir das Wesentliche immer noch übrig : die religiöse
Kategorie der Mutter, um die Bachofen das bewusste Denken der
Menschheit überhaupt und besonders die Philosophie der Geschichte
bereichert hat" 2 ). Es nimmt nicht wunder, wenn Bäumler die
Bejahung der Sexualität, einen von Bachofen als für das Matriarchat
wesentlich hingestellten Zug, als typisch „orientalisch" verdammt
und die Unbefangenheit Bachofens sexuellen Tatbeständen gegenü-
ber mit Begriffen wie dem seiner persönlichen „Reinheit" begründet.
Die Art der Interpretation Bäumlers ist durchsichtig. Die
wesentlichsten, nämlich die soziologischen und psychologischen
Teile des Bachofenschen Werkes werden als falsch oder unerheblich
bei Seite gelassen, allein seine naturalistische Metaphysik behandelt
und gepriesen. Wenn man, wie Bäumler es tut, diese Metaphysik
mit extrem patriarchalischen Idealen mischt, so kommt man zu
einem Gesamtbild, welches selbst die Grenzen einer einseitigen Inter-
pretation Bachofens unterschreitet.
III
Die Sozialisten sahen zwar auch den „Mystiker" Bachofen,
aber sie wandten ihre Aufmerksamkeit und Sympathie dem Ethno!
logen und Psychologen und damit dem Teil des Werkes zu, das
seine Grösse und Bedeutung in der Geschichte der Wissenschaft
ausmacht.
Bachofens Mutterrecht dürfte seine Bekanntheit im 19. Jahrhun-
dert niemand mehr verdanken als Friedrich Engels, der es im
„Ursprung der Familie" im Zusammenhange mit dem Werke
Morgans ausführlich erwähnt. Er sagt, dass die Geschichte der
Familie erst von Bachofens Mutterrecht an datiere. Er zitiert die
wichtigsten Thesen Bachofens, kritisiert zwar den idealistischen
J ) A. a. O., S. CCLXXX f.
2 J A. a. 0., S. CCLXXX I.
^
Die sozialpsychologische Bedeutung der Muit errech tstheorie 209
Standpunkt des Verfassers, der die gesellschaftlichen Verhältnisse
aus der Religion ableite, fährt aber dann fort :
„Aber alles das schmälert nicht sein bahnbrechendes Verdienst ; er,
zuerst, hat die Phrase von einem unbekannten Urzustand mit regellosem
Geschlechtsverkehr ersetzt durch den Nachweis, dass die altklassische
Literatur uns Spuren in Menge aufzeigt, wonach vor der Einzelehe in der
Tat bei Griechen und Asiaten ein Zustand existiert hat, worin nicht nur
ein Mann mit mehreren Frauen, sondern eine Frau mit mehreren Männern
geschlechtlich verkehrte, ohne gegen die Sitte zu Verstössen ; dass diese
Sitte nicht verschwand, ohne Spuren zu hinterlassen in einer beschränkten
Preisgebung» wodurch die Frauen das Recht auf Einzelehe erkaufen muss-
ten ; dass daher die Abstammung ursprünglich nur in weiblicher Linie von
Mutter zu Mutter gerechnet werden konnte ; dass diese Alleingültigkeit der
weiblichen Linie sich noch lange in der Zeit der Einzelehe mit gesicherter
oder doch anerkannter Vaterschaft erhalten hat ; und dass diese ursprüng-
liche Stellung der Mütter, als der einzigen sichern Eltern der Kinder,
ihnen und damit den Frauen, eine höhere gesellschaftliche Stellung sicherte,
als sie sie seitdem wieder besessen haben. Diese Sätze hat Bachofen zwar
nicht in dieser Klarheit ausgesprochen, das verhinderte seine mystische
Anschauung. (Engels nennt ihn an einer anderen Stelle einen „genialen
Mystiker" .) Aber er hat sie bewiesen, und das bedeutete 1861 eine vollstän-
dige Revolution 1 ).' 1
Morgan, der amerikanische Ethnologe, führt 16 Jahre später
den Nachweis für das Vorhandensein einer matriarchalischen
Gesellschaftsstruktur an einem anderen Material und mit ganz
anderen Methoden als Bachofen, und sein Werk „ Ancient society "
wurde von Marx und Engels gründlich studiert und lag der Engels-
schen Arbeit über die Familie zugrunde. Engels sagt über die von
Morgan endeckte mutterrechtliche Gens, dass sie „für die Urgeschich-
te dieselbe Bedeutung" habe, „wie Darwins Entwicklungstheorie
für die Biologie und Marx' Mehrwerttheorie für die politische
Oekonomie 2 )", sicherlich das höchste Lob, das Engels spenden
konnte. ,, Die mutterrechtliche Gens ist der Angelpunkt geworden",
sagt er, „um den sich die ganze Wissenschaft dreht; seit ihrer Ent-
deckung weiss man, in welcher Richtung und wonach man zu
forschen und wie man das Erforschte zu gruppieren hat" 3 ).
Der grosse Eindruck, den die Entdeckung des Mutterrechts
machte, beschränkte sich keineswegs auf Engels. Marx hatte
ausführliche kritische Anmerkungen hinterlassen, die Engels in
seiner Geschichte der Familie mit verwendete. Bebel stellte sich
») a. a. o., s. XIV.
a ) A. a. O., S. XXI.
*) A. a. O., S. XXII.
ZtittehrW für SoziaUorFriiuun HI, '2 u
X
210 Erich Fromm
in seinem Buch „Die Frau und der Sozialismus", das mit über
50 Auflagen trotz seiner 516 Seiten zu den vielgelesensten Büchern
der sozialistischen Literatur gehört, ganz auf den Boden der
Matriarchatstheorie, Paul Lafargue spricht im Geiste Bachofens-
von der „erhabenen Rolle der Priesterin, der Hüterin des Geheim-
nisses (mitiatrice), die die Frau in der primitiven Gemeinschaft
hatte 1 )" und von der Wiedererlangung dieser Rolle durch die
Frau in einer zukünftigen Gesellschaft. Während sozialistische
Autoren wie Keiles — Krauz, der von Bachofen sagt, dass er „unter
der Schicht der bürgerlichen Renaissance die kostbaren Elemente
einer neuen gewaltig revolutionierenden Renaissance hervorgrub
— der Renaissance des kommunistischen Geistes 2 )", die positive
Bedeutung der Matriarchatstheorie würdigten, rückten andere
sich auf Marx berufende Autoren wie Heinrich Cunow ebenso
entschieden von Bachofen ab wie die Mehrzahl der übrigen Wis-
senschaftler. Es ist Robert Briffault, der, ohne es zu wissen, im
Sinne des historischen Materialismus die Linie der Bachofen und
Morgan fortsetzt und in seinen „Mothers £: 66 Jahre nach Bachofea
die Frage des Mutterrechts neu zur Diskussion stellt 3 ).
Was zunächst den Sozialisten ihre positive Einstellung zur Mut-
terrechtstheorie ermöglichte, war, worauf schon oben hingewiesen
wurde, ähnlich wie bei den romantischen Schriftstellern ihregefühls-
und anschauungsmässige Distanz zur bürgerlichen Gesellschaft.
Schon der Nachweis der Relativität der bestehenden gesellschaftli-
chen Verhältnisse, der Tatsache, dass die monogame Ehe durchaus
keine ewige und keine „natürliche'" Institution war, ein Nachweis,
den Bäumler für nicht geglückt oder für unerheblich hält, musste
einer Theorie und Praxis, die auf die grundlegende Veränderung der
bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ausging, ähnlich will-
kommen sein wie Darwins „Entstehung der Arten".
Bachofen selbst drückt das Problem dieser von seinem eigenen
politischen Standpunkt aus bedenklichen Seite seiner Theorie
folgendermassen aus :
„Dem Adel der menschlichen Natur und ihrer höheren Bestimmung
scheint die Ausschliesslichkeit der ehelichen Verbindung so innig verwandt
und so unentbehrlich, dass sie von den meisten als Urzustand betrachtet,
die Behauptung tieferer, ganz ungeregelter Geschlechtsverhältnisse als
traurige Verirrungen nutzloser Spekulationen über die Anfange des mensch-
lichen Daseins ins Reich der Traume verwiesen wird. Wer möchte nicht
J ) Zitiert bei Kellcs-Krauz, a. a. O., S. G.
-) A. a. 0., S. 524.
3 ) Wir müssen aus Raumgründen darauf verzichten, auf die sonstige, besonders
in den letzten Jahren anwachsende Literatur über das Mutterrecht einzugeben.
Die sozialpsychologischc Bedeutung der Mutterrechtstheorie 211
gern dieser Meinung sich anschiiessen und unserem Geschlecht die schmerz-
liche Erinnerung einer so unwürdigen Kindheit ersparen ? Aber das
Zeugnis der Geschichte verhindert es, den Einflüssen des Stolzes und der
Eigenliebe Gehör zu geben und den äusserst langsamen Fortschritt der
Menschheit zu ehelicher Gesittung in Zweifel zu ziehen. Mit erdrückendem
Gewicht dringt die Phalanx völlig historischer Nachrichten auf uns ein und
macht jeden Widerstand, jede Verteidigung unmöglich 1 )."
Aber weit über die Tatsache hinaus, dass die Mutterrechtstheo-
rie die Relativität der bürgerlichen Gesellschaftsstruktur aufzeigte,
musste sie auch ihrem speziellen Inhalt nach die Sympathien der
Marxisten gewinnen. Zunächst deshalb, weil die Entdeckung einer
Periode, in der die Frau, statt Handelsobjekt und Sklavin des
Mannes zu sein, Autorität und Zentrum der Gesellschaft war, eine
wichtige Unterstützung im Kampf für politische und gesellschaft-
liche Emanzipation der Frau war. Der Kampf des 18. Jahrhun-
derts musste von denen wieder aufgenommen werden, die für eine
klassenlose Gesellschaft kämpften. In Ergänzung dessen, was
Bebel zu diesem schon von Fourier hervorgehobenen Problem in
„Die Krau und der Sozialismus " ausführt, sei hier noch auf
einen sozialpsychologischen Gesichtspunkt hingewiesen.
Die patriarchalische Gesellschaftsstruktur ist in ihren sozial-
psychologischen Grundlagen eng mit dem Klassencharakter der
bestehenden Gesellschaft verbunden. Diese beruht nicht zuletzt
auf bestimmten seelischen, zum Teil in unbewussten Triebstrebun-
gen fundierten Haltungen, die den äusseren Zwang des Herrschafts-
apparates aufs wirksamste ergänzen. Die patriarchalische Familie
ist eine der wichtigsten Produktionsstätten der für die Stabilität
der Klassengesellschaft wirksamen seelischen Haltungen 2 ). Es han-
delt sich hier, um nur das Wichtigste anzudeuten, um einen Gefühls-
komplex, den man den „patrizentrischen " nennen könnte und für
den charakteristisch ist : affektive Abhängigkeit von der väterlichen
Autorität im Sinne einer Mischung von Angst, Liebe und Hass,
Identifizierung mit der väterlichen Autorität gegenüber Schwä-
cheren, strenges Überich, das Pflicht wichtiger sein lässt als Glück,
und ein aus der Diskrepanz zwischen Forderungen des Überichs
und der Realität stets neu produziertes Schuldgefühl, welches wieder-
um in Sinne der Gefügigkeit gegenüber der Autorität wirksam ist.
Gerade im diesem sozialpsychologischen Tatbestand liegt ebenso-
wohl der Grund dafür, warum die Familie fast durchgehend als
Fundament oder zumindest als eine der wichtigsten Stützen der
Gesellschaft betrachtet wird, wie eben andererseits dafür, warum
*) A. a. O., S. 30.
2) Vgl. Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. I (1932), S. 35.
212 Erich Fromm
der theoretische Angriff auf die Familie, wie ihn die Matriarchats-
theorie darstellt, die Sympathien sozialistischer Schriftsteller finden
musste.
Besonders wichtig für unser Problem ist die Darstellung, die
Bachofen wie Morgan in fast übereinstimmender Weise von den
sozialen, psychischen, moralischen und politischen Verhältnissen
des Matriarchats geben. Während Bachofen jene gesellschaftliche
Stufe mit einer gewissen Wehmut als überwunden ansieht, sagt
Morgan von einer kommenden höheren Stufe der Zivilisation :
„Sie wird eine Wiederholung sein — aber in höherer Form — der
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit der alten Gentes." Dieses
Bild der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit der matriarchalischen
Gesellschaft wird von Bachofen in seinen einzelnen Zügen aus-
führlich und plastisch gezeichnet.
Die die mutterrechtliche Gesellschaft beherrschenden Prinzipien
sind nicht Angst und Unterwürfigkeit, sondern Liebe und Mitleid.
„Dasjenige Verhältnis, an welchem die Menschheit zuerst zur Gesittung
emporwächst, das der Entwicklung jeder Tugend, der Ausbildung jeder
edleren Seite des Daseins zum Ausgangpunkt dient, ist der Zauber des
Muttertums, der inmitten eines ge walterfüllten Lebens als das göttliche
Prinzip der Liebe, der Einigung, des Friedens wirksam wird. In der Pflege
der Leibesfrucht lernt das Weib früher als der Mann seine Hebende Sorge
über die Grenzen des eigenen Ich auf andere Wesen erstrecken und alle
Erfindungsgabe, die sein Geist besitzt, auf die Erhaltung und Verschönerung
des fremden Daseins richten 1 ). Von ihm geht jetzt jede Erhebung der
Gesittung aus, von ihm jede Wohltat im Leben, jede Hingebung, jede Pflege
und jede Totenklage 2 )."
„Aber nicht nur inniger, auch allgemeinere und weitere Kreise umlassend
ist die aus dem Muttertum stammende Liebe... wie in dem väterlichen
Prinzip die Beschränkung, so liegt in dem mütterlichen das der Allgemein-
heit ; wie jenes die Einschränkung auf engere Kreise mit sich bringt, so
kennt dieses keine Schranken, so wenig als das Naturleben. Aus dem
gebärenden Muttertum stammt die allgemeine Brüderlichkeit aller Menschen,
deren Bewusstsein und Anerkennung mit der Ausbildung der Paternität
untergeht. Die auf das Vaterrecht gegründete Familie schliesst sich zu
einem individuellen Organismus, die mutterrechtliche dagegen trägt jenen
typisch allgemeinen Charakter, mit dem alle Entwicklung beginnt und der
das stoffliche Leben vor dem höheren geistigen auszeichnet. Der Erdmutter
Demeter sterbliches Bild, wird jedes Weibes Schoss den Geburten des
Andern Geschwister schenken, das Heimatland nur Brüder und Schwestern
kennen, und dies solange, bis mit der Ausbildung der Paternität die Einheit-
x ) Man beachte, dass Bachofen hier die spezifische Qualität der mütterlichen Liebe
nicht aus einer „Anlage" oder dem „Wesen" der Frau abieilet, sondern aus der Lebens-
praxis, wenn auch einer biologisch bedingten.
s) Vorrede, a. a. Ü., S. 14 f.
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie 213
lichkeit der Masse aufgelöst und das Ununterschiedene durch das Prinzip
der Gliederung überwunden wird.
In den Mutterrechtsstaaten hat diese Seite des Mutterprinzips viel-
fältigen Ausdruck, ja rechtlich formulierte Anerkennung gefunden. Auf
ihr ruht jenes Prinzip allgemeiner Freiheit und Gleichheit, das wir als einen
Grundzug im Leben gynaikokratischer Völker öfter finden werden... auf
ihr endlich das besondere Lob verwandtschaftlicher Gesinnung und einer
Sympatheia, die keine Grenzen kennt, alle Glieder des Volkes gleichmässig
umfasst. Abwesenheit innerer Zwietracht, Abneigung gegen Unfrieden,
wird gynaikokratischen Staaten besonders nachgerühmt... besondere Straf-
barkeit körperlicher Schädigung der Mitmenschen, ja der ganzen Tierwelt
tritt nicht weniger charakteristisch hervor..., ein Zug milder Humanität, den
man selbst in dem Gesichtsausdruck ägyptischer Bildwerke hervortreten
sieht, durchdringt die Gesittung der gynaikokratischen Welt und leiht ihr
ein Gepräge, in welchem alles, was die Muttergesinnung Segensreiches in sich
trägt, wiederzuerkennen ist 1 )."
Wichtig für die Rezeption Bachofens bei den Sozialisten ist noch
ein weiterer Zug, den er als wesentlich für die mutterrechtliche
Gesellschaft darstellt, die entscheidende. Rolle der Fürsorge für
das irdische, materielle Glück der Menschen :
„Ausgehend von dem gebärenden Muttertum steht die Gynaikokratie
ganz unter dem Stoffe und den Erscheinungen des Naturlebens, denen sie die
Gesetze ihres inneren und äusseren Daseins entnimmt, fühlt sie lebendiger
als spätere Geschlechter die Unität alles Lebens, die Harmonie des Alls,
welcher sie noch nicht entwachsen ist, empfindet sie tiefer den Schmerz
des Todesloses und jene Hinfälligkeit des tellurischen Daseins, welcher das
Weib, die Mutter zumal, ihre Klage widmet, sucht sie sehnsüchtiger nach
höherem Tröste, findet ihn in den Erscheinungen des Naturlebens und
knüpft auch ihn wiederum an der Gebärenden Schoss, die empfangende,
hegende, nährende Mutterliebe an... ganz materiell widmet sie ihre Sorge
und Kraft der Verschönerung des materiellen Daseins 2 )."
Wenn sich dieser naturalistische Materialismus theoretisch auch
wesentlich vom dialektischen Materialismus unterscheidet, so
enthält er doch einen sozialen Hedonismus, der seine Rezeption bei
den Vertretern des historischen Materialismus verständlich macht.
Eine für unser Problem instruktive Zusammenfassung der wichtig-
*) Vorrede, a. a. O., S. 14 ff. — Der hier in idealisierender Weise verwandte
Begriff der Humanität Ist nüssverständlich ; er kann angesichts der völligen Ver-
schiedenheit der gesellschaftlichen Struktur nicht denselben Sinn haben wie der der
Aufklärung. Hieraus erklärt sich auch der scheinbare Widerspruch, der zwischen
dieser Schilderung und der Herrschaft des Talionsprinzips im Straf recht (s. S. 8 /9>
vermutet werden könnte. Dass man, soweit es sich um Verbrechen und Strafe
handelt, in naturalistischen Vergeltungsvorstellungen fühlte, schliesst nicht aus, dass
ausserhalb der Rechtssphäre ein Geist der Lebensbejahung herrschte.
a) A. a. O,
214 Erich Fromm
sten Prinzipien der matriarchalischen Gesellschaft, in der Bachofen,
über das bisher schon Dargestellte hinausgehend, besonders den
politischen Charakter dieses Materialismus zum Ausdruck bringt,
gibt er in seiner Analyse des Dionysoskultes :
„Durch seine Sinnlichkeit und die Bedeutung, welche er dem Gebote
der geschlechtlichen Liebe leiht, der weiblichen Anlage innerlich verwandt,
ist er zu dem Geschlechte der Frauen vorzugsweise in Beziehung getreten...
Der dionysische Kult... hat alle Fesseln gelöst, alle Unterschiede aufgehoben,
und dadurch, dass er den Geist der Völker vorzugsweise auf die Materie und
die Verschönerung des leiblichen Daseins richtete, das Leben selbst wieder
zu den Gesetzen des Stoffes zurückgeführt... an der Stelle reicher Gliederung
macht sich das Gesetz der Demokratie, der ununterschiedenen Masse und
jene Freiheit und Gleichheit geltend, welche das natürliche Leben vor dem
civil geordneten auszeichnet und das der leiblich- stofflichen Seite der mensch-
lichen Natur angehört. Die Alten sind sich über diese Verbindung
völlig klar, heben sie in den entschiedensten Aussprüchen hervor und zeigen
uns in bezeichnenden historischen Angaben die fleischlische und politische
Emanzipation als notwendige und stets verbundene Zwillingsbrüder. Die
dionysische Religion ist zu gleicher Zeit die Apotheose des aphroditischen
Genusses und die der allgemeinen Brüderlichkeit, daher den dienenden
Ständen besonders lieb... Nicht um in den Armen eines Einzelnen zu verwel-
ken, wird das Weib von der Natur mit allen Reizen, über welche sie gebietet,
ausgestattet : das Gesetz des Stoffes verwirft alle Beschränkungen, hasst
alle Fesseln und betrachtet jede Ausschliesslichkeit als Versündigung an ihrer
Göttlichkeit 1 ). "
Indem Bachofen hier ausdrücklich auf den klassenmässigen
Hintergrund der matriarchalischen Struktur und auf den Zusam-
menhang zwischen sexueller und politischer Emanzipation hinweist,
bedarf es von unserer Seite her kaum mehr eines Kommentares zu
der sich hieraus ergebenden Stellungnahme der Sozialisten. Ande-
rerseits aber ist das Problem der Beziehung zwischen der bürgerli-
chen Gesellschaft und der in ihr herrschenden Sexualmoral zu
wichtig und zu kompliziert, als dass nicht wenigstens einige andeu-
tende Bemerkungen notwendig wären.
Auf der einen Seite wäre es gewiss falsch zu behaupten, dass
Einschränkungen im Bereich des Sexuellen rein aus dem Wesen der
Klassengesellschaft zu erklären sind und dass eine klassenlose
Gesellschaft eine Wiederholung jener von Bachofen dargestellten
regellosen und uneingeschränkten Geschlechtsbeziehungen notwen-
digerweise mit sich bringen müsste. Andererseits dürfte es festste-
hen, dass eine den sexuellen Genuss entwertende und einschränkende
Moral eine wichtige Funktion für den Bestand der Klassengesell-
*) A. a. 0., S. 39 IT.
Die sozial psychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie 215
schaft hat und dass der Angriff auf diese Moral, den Bachofens
Theorie faktisch bedeutete, ein weiterer Grund für die Art seiner
Rezeption bei den Sozialisten sein konnte. Zur Erläuterung, nicht
zum Beweis dieser These seien die folgenden Gesichtspunkte
erwähnt.
Die Sexualität bietet eine der elementarsten und stärksten
Befriedigungs- und Glücksmöglichkeiten. Wäre sie in den Grenzen,
wie sie aus der Notwendigkeit der produktiven Entfaltung der Per-
sönlichkeit, nicht aber aus den Zwecken der Beherrschung der
Massen bedingt sind, zugelassen, so würde die Erfüllung dieser
einen wichtigen Glücksmöglichkeit notwendigerweise zu einer
Verstärkung der Ansprüche auf Befriedigung und Glück in anderen
Lebenssphären führen, Ansprüche, die, da ihre Sättigung materielle
Mittel erforderte, zur Sprengung der bestehenden gesellschaftlichen
Ordnung führen niüssten. Hiermit eng verknüpft ist eine weitere
gesellschaftliche Funktion der Einschränkung sexueller Befriedi-
gung. Indem der Sexualgenuss als solcher zu etwas Sündhaftem
erklärt wird, muss diese moralische Verfemung, da ja sexuelle
Wünsche eine dauernd wirksame Strebung in jedem Menschen
darstellen, zu einer ständig arbeitenden Produktionsstätte von —
wenn auch häufig unbewussten bzw. auf andere Inhalte übertrage-
nen — Schuldgefühlen führen. Diese aber sind von entscheidender
gesellschaftlicher Bedeutung. Sie sind die Ursache, dass das Leiden
als gerechte Strafe für eigene Schuld empfunden statt auf Mängel
der gesellschaftlichen Organisation zurückgeführt wird. Sie bewir-
ken endlich eine affektive Einschüchterung, die wiederum eine
Einschränkung der intellektuellen und besonders der kritischen
Fähigkeiten bedeutet, eine Einschränkung, die mit der gefühlsmäs-
sigen Bindung an die Repräsentanten der gesellschaftlichen Moral
verknüpft ist. Es ist dabei nicht zu vergessen, dass es nicht
entscheidend ist, ob die Sexualität tatsächlich mehr oder weniger
unterdrückt ist oder nur mit dem Makel des Nicht-moralischen
belastet wird, was schon durch die Tabuisierung der Sexualität den
Kindern gegenüber erfolgt. In jedem Falle bleibt die entwertende
Stellungnahme zur Sexualität eine ständige Produktionsstätte von
Schuldgefühlen.
Endlich sei auch noch auf einen weiteren Gesichtspunkt hinge-
wiesen. Die analytische personalpsychologische klinische For-
schung konnte wenn auch erst in Ansätzen zeigen, dass die Zulas-
sung bzw. Unterdrückung der Sexualbefriedigung von wichtigen
Folgen für die Trieb- und Charakterstruktur ist 1 ). Auf der einen
i) Vgl. diese Zeitschrift, Bd. I (1932), S. 253 £f.
216 Erich Fromm
Seite ist die Bildung des „genitalen Charakters " durch den Wegfall
von — dem Prinzip der optimalen Entfaltung der Persönlichkeit
heteronomen — Sexualeinschränkungen bedingt ; zu den unbestreit-
baren Qualitäten des genitalen Charakters gehört eine seelische und
intellektuelle Selbständigkeit, deren gesellschaftliche Relevanz
nicht bewiesen zu werden braucht. Auf der anderen Seite führt
die Unterdrückung der genitalen Sexualität zur Entstehung bzw.
Verstärkung solcher Triebtendenzen, wie der analen, sadistischen
und latent — homosexuellen, die für die Triebbasis der bestehen-
den Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sind..
Es war die Absicht der bisherigen Ausführungen, die Tatsache zu
erklären, warum die Mutterrechtstheorie mit soviel geistiger und
seelischer Anteilnahme von zwei extrem verschiedenen politischen
Richtungen rezipiert wurde. Wir versuchten zu zeigen, dass die
Bedingung hierfür in den Widersprüchen bei Bachofen selbst liegt
und dass die Neuromantiker ihre Sympathien — zum Teil unter
Ausmerzung des anderen Bachofen — dem Metaphysiker, die
Sozialisten — wenn auch bei klarer Kenntnis des „Mystikers"
Bachofen — dem Entdecker und Bewunderer demokratisch freiheit-
licher Gesellschaftsstrukturen zuwandten. Darüber hinaus aber
kann die Analyse der Rezeption Bachofens zeigen, welche Schwie-
rigkeiten auch heute der unbefangenen wissenschaftlichen Bearbei-
tung des Mutterrechtsproblems gegenüberstehen. Wenn es auch
gewiss nicht Aufgabe des Soziologen oder des Psychologen sein
kann, in den Streit um die Mutterrechtstheorie in ihren Einzelheiten
einzugreifen, so darf er doch wohl auf Grund seiner Einsicht in die
gesellschaftliche Bedeutung dieser Theorie zu dem Verdacht kom-
men, dass, soweit die Mutterrechtstheorie weitgehende Ablehnung
gefunden hat, dies zum Teil von affektiven und apologetischen
Momenten bestimmt ist. Beim heutigen Stand der Ethnologie ist
es gewiss leicht, eine Reihe von Einzelbehauptungen der Vertreter
der Mutterrechtstheorie sachlich zu widerlegen. Wenn aber der
Ethnologe aus ausserwissenschaftlichen Motiven gegen die Theorie
voreingenommen ist, so erhält die sachliche Kritik anstelle einer
positiven Funktion die negative, durch Einzeleinwände die Theorie
zu „erschlagen" ; eine solche „kritische" Haltung dient oft erkennt-
nisfeindlichen Zwecken nicht weniger gut als dogmatische Ableh-
nung, ja oft besser, denn sie ist schwerer durchschaubar.
IV
Wie es auch mit den einzelnen Ergebnissen der Mutterrechts-
forschung bestellt sein mag — dass es gesellschaftliche Strukturen
gibt, die man als matrizentrisch bezeichnen kann, dürfte feststehen.
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterreclitslheorie 217
Es seien im folgenden über die eigentliche Absicht dieses Aufsatzes
hinaus einige Andeutungen gemacht, warum die Beschäftigung mit
den schon vorliegenden und gewiss noch mehr mit den zukünftigen
Ergebnissen der Mutterrechtsforschung für das Verständnis der
sozialen Struktur der Gegenwart und ihrer Wandlungen wichtig
und fruchtbar ist.
Zu den gesellschaftlichen Produktivkräften gehören die libidi-
nösen Strebungen der Menschen. Infolge der Plastizität und
Veränderbarkeit dieser Strebungen passen sie sich weitgehend
wenn auch in gewissen Grenzen — der gegebenen ökonomischen
und sozialen Situation ihrer Gruppe an. Die den Mitgliedern einer
gesellschaftlichen Gruppe gemeinsame psychische Struktur stellt
zugleich eine unentbehrliche Stütze bei der Erhaltung der gesell-
schaftlichen Stabilität dar. Diese Struktur wirkt allerdings im
Sinne der Stabilität nur solange, als die Widersprüche zwischen der
psychischen Struktur und den ökonomischen Bedingungen ein
gewisses Mass nicht überschreiten. Ist dies der Fall, so" wirken
die psychischen Kräfte im Sinne der Auflösung und Veränderung
der bestehenden Ordnung ; dabei ist allerdings nicht zu vergessen^
dass sich die psychischen Strukturen verschiedener Klassen in
dieser Hinsicht je nach ihrer Rolle im gesellschaftlichen Prozess
völlig verschieden und auch entgegengesetzt verhalten 1 ). Wenn
auch der Einzelne durch seine individuelle Konstitution und seine
individuellen Lebensschicksale, besonders die frühkindlichen, sich
von den Mitgliedern der gleichen Gruppe psychisch unterscheidet,
so ist doch ein grosser Sektor seiner psychischen Struktur ein
Produkt der Anpassung an die Situation seiner Klasse und der
Gesamtgesellschaft, in der er lebt. Die Kenntnis der Bedingtheit
dieser für eine bestimmte Klasse und Gesellschaft typischen Struk-
tur und damit der in einer bestimmten Gesellschaft wirksamen
psychischen Produktivkräfte ist noch weniger weit fortgeschritten
als die der ökonomischen und sozialen Struktur. Der Grund liegt
zum Teil darin, dass der Forscher selbst durch die für seine gesell-
schaftliche Situation typische psychische Struktur geprägt ist
und dass er nur den Geist begreift, dem er gleicht. Er wird
leicht in den Fehler verfallen, seine eigene psychische Struktur
wie die seiner Gesellschaft für eine natürliche oder „menschliche "
zu halten und zu übersehen, dass ganz andere Triebstruktu-
ren als Produktivkraft unter anderen gesellschaftlichen Bedingun-
gen wirksam gewesen sind und noch wirksam werden können.
Die Bedeutung des Studiums matrizentri scher Kulturen für die
!) Vgl. zu diesem Problem die oben zitierten Aufsätze im I. Jahrgang dieser
Zeitschrift.
218 Erich Fromm
Sozialforschung liegt darin, dass in ihnen ganz andere psychische
Strukturen sichtbar werden, als sie dem Beobachter " unserer
Gesellschaft geläufig sind und dass die Einsicht in solche anderen
Möglichkeiten eine wichtige Bereicherung der Forschung darstellt.
Dies gilt ganz besonders für das, was wir als „matrizentrischen *i
Komplex im Gegensatz zum „patrizentrischen ' : bezeichnen möch-
ten. Diese Behauptung sei im folgenden andeutungsweise illu-
striert; dabei sollen nur Problemstellungen aufgezeigt, nicht Lösun-
gen gegeben werden.
Unter patrizentrischem Komplex ist eine psychische Struktur
verstanden, in der die Beziehung zum Vater bzw. seinen psycholo-
gischen Äquivalenten die zentrale Objektbeziehung darstellt.
Freud hat in seiner Konzeption des (positiven) Ödipuskomplexes
einen der entscheidenden Züge dieser Struktur entdeckt, wenngleich
er ihn auch infolge des oben angedeuteten Mangels an Distanz zu
„seiner" Gesellschaft in seiner Allgemeingültigkeit überschätzt.
Die sexuellen Impulse des Knaben, die sich auf die Mutter als das
erste und wichtigste weibliche Liebesobjekt beziehen, lassen ihn
den Vater als Rivalen empfinden, eine Konstellation, die erst
dadurch ihre charakteristische Bedeutung erlangt, dass der Vater
in der patriarchalischen Familie gleichzeitig auch die Funktion
der das Leben des Kindes beherrschenden Autorität hat. Diese
Doppelrolle des Vaters, abgesehen von der physiologischen Unmög-
lichkeit der Erfüllung der kindlichen Wünsche, bewirkt, wie Freud
weiter gezeigt hat, dass der Wunsch, an die Stelle des Vaters zu
treten, bis zu einem gewissen Grade zu einer Identifizierung mit
dem Vater führt : der Vater wird als Träger moralischer Forderun-
gen introjiziert, und diese Introjektion stellt eine mächtige Quelle
der Gewissensbildung dar. Da dieser Prozess aber nur teilweise
gelingt, führt die Rivalität mit dem Vater zur Ausbildung einer
ambivalenten Gefühlshaltung, charakterisiert einerseits durch den
Wunsch, von ihm geliebt zu werden, andererseits durch mehr oder
weniger offene trotzige Auflehnung gegen ihn.
Der patrizentrische Komplex wird aber auch durch die psy-
chischen Vorgänge, die sich im Vater selbst abspielen, formiert
Auch von seiner Seite besteht eine Eifersucht gegen den Sohn*
die zum Teil in der Tatsache begründet ist, dass die Lebenslinie
des Vaters im Verhältnis zu der des Sohnes eine relativ abstei-
gende ist. Wichtiger ist eine andere, eine sozial bedingte Quelle
der Eifersucht des Vaters, die auf die von sozialen Pflichten noch
relativ freie Lebenssituation des Kindes. Es ist klar, dass diese
Eifersucht umso grösser ist, je stärker der auf dem Vater lastende
Druck ist.
Noch wichtiger für die Einstellung des Vaters zum Sohn und
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie 219
für die Formation seiner psychischen Struktur dürfte ein anderer
gesellschaftlich und ökonomisch bedingter Tatbestand sein. Der
Sohn ist entweder — unter gewissen ökonomischen Verhältnissen —
der Erbe des väterlichen Vermögens oder, wo nichts zu vererben
ist, in desto höherem Masse der künftige Ernährer des Vaters für
den Fall einer durch Alter oder Krankheit bedingten Erwerbsunfä-
higkeit- Er stellt eine Art Kapitalsanlage dar, und die für seine
Aufzucht und Erziehung investierten Beträge spielen, ökonomisch
gesehen, eine ähnliche Rolle, wie die Beiträge zu einer Alters- oder
Invaliditätsversichcmng. Hierzu kommt noch, dass der Sohn
für das soziale Prestige des Vaters eine wichtige Rolle spielt, dass
er es durch sozial anerkannte Leistungen erhöhen, wie auch durch
Erfolglosigkeit bis zur Zerstörung schwächen kann. (Auch eine
ökonomisch oder prestigemässig erfolgreiche Heirat des Sohnes
spielt die gleiche Rolle für den Vater wie andere soziale Leistungen.)
Diese soziale und ökonomische Funktion des Sohnes bewirkt, dass
im Qurchschnittsfall das Ziel der „Erziehung" durchaus nicht das
Glück des Sohnes im Sinne der maximalen Entfaltung seiner Per-
sönlichkeit ist, sondern die maximale Nützlichkeit für die ökono-
mischen und Prestigebedürfnisse des Vaters. Zwischen Glück und
Nützlichkeit des Sohnes besteht so zwar häufig ein objektiver Wider-
streit, der aber dem Vater gewöhnlich nicht bewusst wird, da die
gesellschaftliche Ideologie beide Ziele für ihn identisch sein lässt.
Der Tatbestand wird noch dadurch kompliziert, dass sich der
Vater häufig mit seinem Sohne identifiziert und von ihm nicht nur
das sozial Nützliche, sondern gleichzeitig auch die Erfüllung seiner
eigenen unbefriedigt gebliebenen Wünsche und Phantasien erwar-
tet. Diese sozialen Funktionen des Sohnes sind entscheidend
für die Liebeseinstellung des Vaters. Er liebt den Sohn unter
der Bedingung, dass dieser die an ihn geknüpften Erwartungen
befriedigt/ Ist dies nicht der Fall, kann die Liebe bis zum Um-
schlagen in Hass und Verachtung geschwächt werden 1 ).
Die Bedingtheit der väterlichen Liebe führt typischerweise zu
zwei Konsequenzen : zunächst zum Verlust, jener seelischen Sicher-
heit, wie sie durch die Gewissheit eines unbedingten Geliebtwerdens
geschaffen wird ; weiterhin zur Verstärkung der Gewissensinstanz
bzw. zu einer Haltung, in der Pflichterfüllung zum Zentrum des
Lebens wird, weil nur diese wenigstens ein Minimum von Liebes-
2 ) Auf dieser Konstellation beruht es auch, dass für die patrizentrische Struktur
ein Lieblingssohn charakteristisch ist, d. h, derjenige Sohn, der die Erwartungen des
Vaters am meisten befriedigt. Die Vorstellung des Lieblingssohns lindet sich bei
vielen patrizentrisch strukturierten Völkern und Religionen und spielt dort eine grosse
Rolle.
220 Erich Fromm
Sicherheit garantieren kann. Allerdings wird auch die maximale
Erfüllung der Gewissensforderung nicht die Produktion von Schuld-
gefühlen verhindern, da diese Erfüllung immer hinter den idealen
Forderungen zurückbleibt.
Demgegenüber trägt die Liebe der Mutter zum Knaben typi-
scherweise 1 ) einen ganz anderen Charakter, vor allem darum, weil
in den ersten Lebensjahren diese Liebe eine unbedingte ist. Die
Fürsorge der Mutter für das hilflose Kind ist nicht abhängig von
irgend welchen moralischen oder sozialen Verpflichtungen, die das
Kind zu übernehmen hätte, noch nicht einmal von der Verpflich-
tung der Gegenliebe. Diese Unbedingtheit der mütterlichen Liebe
ist in der Lebenspraxis begründet, wie sie sich aus der biologischen
Sitution ergibt, Sie mag verstärkt werden durch Züge, die aus dem
gleichen Grunde anlagemässig in der Frau vorhanden sind. Auf
der anderen Seite wird sie in viel geringerem Masse durch die soziale
Situation gestört, da die Mutter nicht die ökonomische Funktion
hat, Mehrer und Bewahrer von Vermögen und Prestige zu sein.
Die Gewissheit einer von keinen Bedingungen abhängigen Liebe
der Mutter (oder ihrer psychologischen Äquivalente) hat zur Folge,
dass die Erfüllung von moralischen Forderungen eine geringere
Rolle spielt, da sie ja nicht erst die Befriedigung des Bedürfnisses
nach Liebe ermöglicht.
Diese Züge weichen allerdings erheblich von dem konventionel-
len Bild der Mutter in der gegenwärtigen patrizentrischen Gesell-
schaft ab. Diese kennt im wesentlichen nur Mut und Heldentum
des Mannes (bei dem diese Eigenschaften in Wirklichkeit in hohem
Masse mit dem Narzismus verknüpft sind), während die Gestalt der
Mutter im Sinn des Sentimental-Schwächlichen umgedeutet wird.
An Stelle der mütterlichen Liebe, die an sich nicht nur dem eigenen
Kinde, ja nicht einmal nur dem Kinde, sondern dem Menschen
überhaupt gilt, tritt im Bild der Mutter das spezifisch bürgerliche
Eigentumsgefühl hervor. Diese Veränderung der Figur der Mutter
ist ein Ausdruck für die gesellschaftlich bedingte Störung der Mut-
ter-Kind Beziehungen von Seiten sowohl der Mutter wie des
Kindes. Eine weitere Folge dieser Störung — zugleich auch
Ausdruck des Ödipuskomplexes — ist eine Einstellung, in der
an Stelle des Wunsches nach der Liebe der Mutter der Wunsch
tritt, Beschützer der Mutter zu sein, die „hochgehalten" und
„über alles " gestellt wird. Nicht mehr die Mutter hat die Funk-
!) Wenn hier von väterlicher oder mütterlicher Liebe gesprochen wird, so sind
diese BegrM'e im Sinne eines „Idealtypus" gebraucht. Es versteht sich, dass die
Hebe eines bestimmten Vaters oder einer bestimmten Mutter häufig aus den verschie-
densten Gründen nicht diesem Idealtypus entspricht.
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mntterrechtstheorie 221
tion des Schützens, sondern sie muss beschützt und „rein"
erhalten werden. Diese Reaktionsbildung auf die Zerstörung der
ursprünglichen Beziehung zur Mutter erstreckt sich auch auf die sie
repräsentierenden Symbole wie Land, Volk, Erde u. s. w. und
spielt in den extrem patrizentrischen Ideologien der Gegenwart eine
wichtige Rolle. Die Mutter und ihre psychologischen Äquivalente
sind in diesen nicht verschwunden, aber sie haben ihre Funktion
gewechselt : aus der Schützenden ist sie zur Schutzbedürftigen
geworden. Dem entspricht auch die Stellung der Frau in diesen
Systemen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der patrizentrische
Typ durch einen Komplex charakterisiert ist, in dem strenges
Überich, Schuldgefühle, gefügige Liebe gegenüber der väterlichen
Autorität, Herrschlust gegenüber Schwächeren, Akzeptieren von
Leiden als Strafe für eigene Schuld und gestörte Glücksfähigkeit
dominierend sind. Der matrizentrische Komplex hingegen ist
durch ein Gefühl optimistischen Vertrauens in eine unbedingte
mütterliche Liebe, geringeres Schuldgefühl, geringere Stärke des
Überichs und stärkere Glücks- und Genussfähigkeit gekennzeichnet
— bei gleichzeitiger Idealbildung im Sinne der Entwicklung der
mütterlichen Qualitäten des Mitleids und der Liebe zu Schwachen
und Hilfsbedürftigen 1 ).
*) Der patrizentrische Typ ist verwandt mit dem , .analen Charakter" und dem
„Zwangscharakter" der analytischen Terminologie, während der matrizen Irische
Typ dem oralen Charakter verwandt ist. Er ist jedoch ganz verschieden vom
oral-sadistischen Charaktertyp, den man als parasitären bezeichnen könnte und
für den die Tatsache charakteristisch ist, dass er nur nehmen und haben, nie aber
geben will. Dieser reagiert auf ein Versagen seiner Wünsche mit Wut, nicht wie der
matrizentrische mit Trauer. Trotz dieser Verwandtschaft besteht jedoch ein grund-
sätzlicher Unterschied zwischen der Typenbildung im Sinne der praegenitalen Cha-
rakterstrukturen und der hier vorgeschlagenen. Jene bedeuten gleichzeitig eine
praegenitale Fixierung im oralen oder analen Sinn und stehen in einem prinzipiellen
Gegensatz zum reifen, „genitalen Charakter". Der durch die dominierende Objekt-
beziehung charakterisierte Typ dagegen steht nicht im Gegensatz zum genitalen
Charakter. Der matrizentrische Typ kann ein oraler, d, h. praegenital fixierter Cha-
rakter sein ; dann ist er mehr oder weniger passiv, unselbständig und hilfsbedürftig.
Er kann aber auch ein „genitaler" Charakter sein, d. h. mit andern Worten psychisch
erwachsen, aktiv, ungehemmt und unneiirotisch. Die hier gewählte Typenbildung
lässt diesen Unterschied der Reife unberücksichtigt und betrifft nur die inhaltliche
Färbung der Charakterstruktur. Eine ausführlichere Darlegung hätte sich natürlich
gerade mit den Unterschieden zwischen dem genitalen und praegenitalen Charakter
innerhalb der palrizentrischen bezw. matrizentrischen Struktur zu befassen. Eine
eingehende Auseinandersetzung mit den analytischen Kategorien kann an dieser
Stelle nicht erfolgen (vgl. dazu W. Reich, Charakteranalyse, Wien 1933); wir glauben
aber, dass eine Typenbildung, die weder von der „erogenen Zone", noch von der kli-
nischen Symptomatologie ausgeht, sondern von der Art der Objektbeziehung, gerade
für die Sozialforschung fruchtbare Möglichkeiten eröffnet. Das Verhältnis dieser
Typen zu denen der Schizothymen und Cyclothymen (Kretschmer), integrierten und
desintegrierten (Jaensch) und introvertierten und extravertierten (Jung) kann an
dieser Stelle nicht behandelt werden.
222 Erich Fromm
Während beide Typen in jeder Gesellschaft erscheinen dürfte»
— bedingt vor allem durch die individuelle Familienkonstellation
der Kindheit — , so scheint es doch, dass sie als durchschnittlicher
Typ jeweils für verschiedene Gesellschaftsformationen charak-
teristisch sind. Der patrizentrische Typ dürfte in der bürgerlich
protestantischen Gesellschaft dominierend sein, während für das
katholische Mittelalter wie auch für den europäischen Süden der
matrizentrische Komplex eine relativ grosse Rolle spielen wircT
Wir stossen hier auf ein Problem, das von Max Weber in fruchtba-
rer Weise behandelt worden ist, nämlich des Zusammenhangs
zwischen dem bürgerlichen Kapitalismus und dem Protestantismus
bzw. seinen Abkömmlingen, wie des Zusammenhangs zwischen dem
Katholizismus und dem Wirtschaftsgeist der katholischen Länder
Bei allen Einwänden, die gegen einzelne Thesen Webers in der
beträchtlichen Literatur zum Teil mit Recht erhoben worden sind,
gehört doch die Feststellung dieses Zusammenhanges zum gesicher-
ten Gut der Wissenschaft. Max Weber hat das Problem bewusst-
seinspsychologisch behandelt. Ein volles Verständnis des Zusam-
menhangs wird aber nur durch eine Analyse der Triebstruktur
möglich sein, die sich als Basis des kapitalistisch — bürgerlichen
Geistes ebenso wohl wie des protestantischen erweist. In diesem
Zusammenhang sei nur darauf hingewiesen, welche Rolle der patri-
zentrische bzw. der matrizentrische Komplex in dieser Triebstruk-
tur spielt.
Wenn auch der Katholizismus in seinem väterlich — männlichen
Gott, wie in seiner männlichen Priesterhierarchie viele patrizen-
trische Züge aufweist, so ist doch andererseits die bedeutende Rolle
des matrizentrischen Komplexes in ihm unverkennbar. Die gna-
denreiche heilige Jungfrau und die Kirche selbst bedeuten psycho-
logisch die grosse Mutter, die alle ihre Kinder in ihrem Schosse
birgt, ja Gott selbst dürften, wenn auch unbewusst, gewisse mütter-
liche Züge zugeschrieben werden. Der einzelne „Sohn der Kirche "
kann der Liebe der mütterlichen Kirche sicher sein, solange er ihr
Kind ist oder wenn er in ihren Schoss zurückkehrt. Diese Kind-
schaft wird sakramental bewirkt ; gewiss spielen moralische Forde-
rungen eine grosse Rolle, aber durch einen komplizierten Mechanis-
mus wird erreicht, dass sie zwar das gesellschaftlich notwendia e
Schwergewicht haben, dass aber der einzelne Gläubige unabhänÄ*
von der moralischen Sphäre eine Gewissheit des Geliebtwerdens
haben kann. Schuldgefühle produziert der Katholizismus in nicht
geringem Masse, doch liefert er gleichzeitig das Mittel, von diesen
Schuldgefühlen frei zu werden ; der Preis, der dafür gezahlt werden
muss, ist die affektive Bindung an die Kirche und ihre Diener.
Der Protestantismus hat die matrizentrischen Züge des Christen-
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie 223
tums radikal ausgemerzt. Mütterliche Aequivalente wie die Ge-
stalt der heiligen Jungfrau oder die Kirche oder alle mütterlichen
Züge Gottes sind verschwunden. Im Mittelpunkt der Theologie
Luthers 1 ) steht der Zweifel oder auch die Verzweiflung darüber,
dass der sündige Mensch doch eben keine Sicherheit des Geliebtwer-
dens haben könne, und für diesen Zweifel gibt es nur eine Heilung,
den Glauben 2 ). Diese Heilung erweist sich im Calvinismus und
vielen anderen protestantischen Richtungen sogar als ungenügend
und wird entscheidend durch die Rolle der Pflichterfüllung ergänzt,
die „innerweltliche Askese", und durch die Notwendigkeit des
„Erfolgs" im bürgerlichen Leben als einzigen Reweises der göttli-
chen Liebe und Gnade 3 ).
^Der Protestantismus ist gewiss in seiner Entstehung durch
dieselben sozialen und ökonomischen Faktoren bedingt, welche
die Entstehung des „Geistes" des Kapitalismus möglich gemacht
haben. Er hat gleichzeitig, wie jede Religion, die Funktion, die
für eine bestimmte Gesellschaft notwendige Triebstruktur immer
1 ) Luther persönlich ist psychologisch gesehen ein extrem patrizentrischer Typ.
Sein Leben ist von der ambivalenten Einstellung gegen den Vater erfüllt ; sie drückt
sich darin aus, dass er immer gleichzeitig eine Vaterfigur findet, der seine Liebe,
und eine andere, der sein Huss und seine Auflehnung gilt. Er steht dem Lebens-
genuss und einer Kultur, in welcher der Genuss eine zentrale Rolle spielt, weitgehend
verständnislos gegenüber und ist dafür selbst einer der grössten Hasser. Er ist dem
zwangsneurotischen, homosexuellen Typ verwandt ; damit ist freilich nicht gemeint,
dass er zwangsneurotisch oder homosexuell im klinischen Sinn gewesen ist.
3 ) Die volle Bedeutung der „Rechtfertigung durch den Glauben" lüsst sich ganz
nur aus dem zwangsneurotischen Zweifel- und Denkmechanismus verstehen ; an dieser
Stelle müssen wir uns mit einem Hinweis begnügen.
3 ) Die jüdische Religion hat in Bezug auf unser Problem einen recht komplizierten
Charakter. Sie trägt deutlich den Stempel einer Reaktion gegen die vorderorienta-
lischen matrizentrischen Religionen, und ihr Gottesbegrül ist wie der des Protestan-
tismus ein rein väterlich männlicher. Die Begriffe Pflicht, Lohn und Strafe bilden
die Grundlagen ihrer Moral. Auf der anderen Seite aber ist die Gestalt der grossen
Mutter nicht ausgemerzt worden, sondern hat sich in der Idee des heiligen Landes,
das „von Milch und Honig" fliesst, erhalten. Der hier entscheidende Gedanke der
jüdischen Religion lautet :°Wir haben gesündigt, sind von Gott mit der Vertreibung
aus dem Lande bestraft worden, werden aber wieder in das Land zurückkehren dürfen,
wenn wir genug gelitten und Busse getan haben. Dieses Land, das in den propheti-
schen Schilderungen wie auch in der talmudischen Literatur alle Qualitäten des
üppigen, fruchtbaren, nichts versagenden Bodens hat, übernahm die Rolle der grossen
Mutter matriarchalischer Religionen. In der Konzeption des Messianismus, in dem
Glauben an die einstige Rückkehr in das .Heilige Land (eine Zeit, die in der talmudischen
Literatur charakterisiert ist durch das gleichzeitige Scheinen der Sonne und des
Mondes, also des männlichen und des weiblichen Gestirnes, durch die Schmerzlosigkeit
des Gebarens und durch das Aufhören der Notwendigkeit der Arbeit) hat sich die
Idee einer bedingungslos liebenden Mutter erhalten. Für die seelische Struktur der
Juden dürfte gerade dieses Stück des matrizentrischen Komplexes von entscheidender
Bedeutung sein. Man könnte -grob gesprochen- den Protestantismus auch als Juden-
tum ohne Messianismus, d. h. eben als ein radikales patrizentrisches System bezeichnen.
In einer religiösen Bewegung der ost jüdischen Massen des 17. und IS. Jahrhunderts,
dem Chassidisrnus, haben die matrizentrischen Züge einen besonders deutlichen und
starken Ausdruck gefunden.
224 Erich Fromm
wieder zu reproduzieren und zu verstärken. Der patrizentrische
Komplex, jene Haltung, in der Pflichterfüllung und Erfolg zu den
zentralen Motoren des Lebens gehören, während Glück und Lebens-
genuss eine sekundäre Rolle spielen, stellt eine der mächtigsten
Produktivkräfte dar, die für die ungeheuren wirtschaftlichen und
kulturellen Leistungen des Kapitalismus bedingend waren. Er hat
es ermöglicht, dass die ausschliessliche Hingabe aller Energie für
wirtschaftlich nützliche Arbeit, die bis dahin, wie bei den Sklaven,
durch Mittel der physischen Gewalt erzwungen werden musste[
„freiwillig" erfolgte, indem der äussere Zwang verinnerlicht wurde!
Die Verinnerlichung des Zwangs fand am stärksten in der herrschen-
den Schicht der bürgerlichen Gesellschaft Platz, die der eigentliche
Träger des spezifisch-bürgerlichen Arbeits- und Berufsethos war.
Sie hatte aber, im Gegensatz zum äusseren Zwang, zur Folge, dass
die Erfüllung der Gewissensforderung eine Befriedigung bot, die zur
Verfestigung der patrizen frischen Struktur wesentlich beitrug 1 ).
Die Befriedigung dieses Bedürfnisses war aber doch nur eine
sehr beschränkte, da auch Pflichterfüllung und wirtschaftlicher
Erfolg keinen genügenden Ersatz für die verloren gegangene Fähig-
keit zum Lebensgenuss und für die innere Sicherheit des unbeding-
ten Geliebtwerdens boten und da andererseits die durch den Kampf
Aller gegen Alle bedingte Isoliertheit und Liebesunfähigkeit sich
als schwerer seelischer Druck äussern mussten, der im Sinn der
Zerstörung der patrizentrischen Struktur wirkt. Die entscheiden-
den Faktoren, die zur Auflösung der patrizentrischen Struktur
führen, liegen in den ökonomischen Veränderungen begründet.
War die patrizentrische Struktur der psychische Motor für die
wirtschaftlichen Leistungen der bürgerlich- protestantischen Gesell-
schaft gewesen, so trugen diese auch wiederum die Bedingungen
in sich, die eine Zerstörung der patrizentrischen Struktur und eine
Erneuerung matrizentrischer Züge bewirken. Das Anwachsen der
Produktivkräfte lässt zum erstenmal in der Geschichte der Mensch-
heit einen Zustand als realisierbar erscheinen, der in aller bisherigen
Geschichte nur Inhalt von Märchen und Mythen sein konnte : den
Zustand, wo alle Menschen ausreichend und kontinuierlich mit den
für ihr reales Lebensglück notwendigen Gütern versorgt werden und
dies nur einen verhältnismässig kleinen Aufwand an Arbeit
des Einzelnen erfordert, wo also die Entfaltung der menschlichen
1) Wenn hier von Arbeitsgesinnung und Arbeit die Rede ist, so ist die spezifisch
bürgerliche Arbeitsgesinnung gemeint, also ein ganz bestimmtes, konkretes Phänomen
Die Arbeit bat noch ganz andere psychische Funktionen, die in unserem Zusammenbang
nicht behandelt werden mussten : sie ist ein Ausdruck sozialer Verantwortlichkeit
wie auch schöpferischen aktiven Verhaltens. Es gibt ein Arbeitsethos, in dem diese
Seiten die dominierenden sind,
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie 225
Anlagen, nicht die Beschallung der als Bedingung der Kultur not-
wendigen wirtschaftlichen Güter den Hauptinhalt des menschlichen
Energieaufwandes ausmachen. Wenn auch schon die fortgeschrit-
tensten französischen Aufklärungsphilosophen der patrizen Irischen
Gefühls- und Denkstruktur entwachsen sind, so wird doch zum
eigentlichen Träger neuer matrizentrischer Tendenzen jene Klasse,
bei der die Antriebe zu einem ganz der Arbeit gewidmeten Leben im
wesentlichen von einem ökonomischen und nur zum Teil von einem
verinnerlichten Zwang ausgehen. In dieser Gefühlsstruktur lag
auch eine der Bedingungen für die Wirkung des marxistischen
Sozialismus bei der Arbeiterklasse, insoweit diese Wirkung auf
der Eigenart ihrer Triebstruktur beruhte. Sein soziales Programm
hat als seelische Basis 1 ) überwiegend den matrizentrischen Komplex.
Der rationale Gedanke, dass bei einer entsprechenden Organisation
der Wirtschaft die Produktivkräfte es erlauben, jeden Menschen
unabhängig von seiner Stellung im Produktionsprozess ausrei-
chend mit den zu seinem Wohlbefinden notwendigen Gütern zu
versehen und dies ausserdem mit viel weniger Arbeit, als bisher nötig
war, der Gedanke ferner, dass jedes menschliche Wesen Anspruch
auf Lebensglück hat und dass dieses Glück in der „harmonischen
Entfaltung der Persönlichkeit" liegt, sie appellierten alle an die
matrizentrischen Kräfte. Sie waren der rationale wissenschaftliche
Ausdruck dessen, was unter anderen ökonomischen Bedingungen
nur die phantastische Form annehmen konnte : die Mutter Erde
gibt allen ihren Kindern das für sie Notwendige, unabhängig von
deren Verdiensten. In diesem Zusammenhang zwischen den matri-
zentrischen Tendenzen und den sozialistischen Ideen liegt der
eigentliche Grund, warum die matriarchalischen Gesellschaften
jenen „materialistisch - demokratischen" Charakter haben, wie
er von Bachofen bis Briffault beschrieben wird, und warum die
sozialistischen Autoren der Mutterrechtstheorie mit so viel Wärme
und Sympathie gegenüberstanden.
Die Weltwirtschaftskrise brachte eine neue Erschütterung der
patrizentrischen Struktur mit sich. Die persönlich unverschuldete
Arbeitslosigkeit vieler Millionen Menschen steht im Widerspruch
zu einer Ideologie, die besagt, dass der Sinn und die Bechtfertigung
des Lebens Arbeit sei. Das Dasein der Arbeitslosen verliert im
Rahmen dieser Ideologie und der ihr zugrunde liegenden Triebstruk-
tur jeden Sinn und jede Rechtfertigung. War im aufsteigenden
») Es bedarf wohl kaum des besonderen Hinweises darauf, dass eine solche psycho-
logische Fragestellung nur auf psychische Produktivkräfte sich bezieht, aber weder
den Sozialismus als ein psychologisches Phänomen „erklären", noch gar an Stelle
der rationalen Diskussion seiner Theorie psychologische Deutung setzen will.
Zeitschrift für Soiiaüorflelmnp IU/8
16
226 Erich Fromm
Kapitalismus der patrizentrische Komplex durch die positiven
Möglichkeiten der Wirtschaft und den Sozialismus bedroht, so
bringt die Krise eine Gefährdung von der negativen Seite. Die
zur Drosselung der Produktivkräfte führenden gesellschaftlichen
Widersprüche wirken im Sinne einer rückläufigen psychischen
Entwicklung, im Sinn der Verstärkung des patrizentrischen Kom-
plexes, wie er bei den im Kampf gegen den Marxismus entstande-
nen Bewegungen sich vorfindet. An Stelle der Forderung nach
einem allen Menschen zustehenden Lebensglück stellen ihre ideolo-
gischen Repräsentanten wieder die Pflicht in den Mittelpunkt des
Wertsystems, wobei allerdings, durch die ökonomische Situation
bedingt, diese Pflicht in erster Linie keinen wirtschaftlichen Inhalt
mehr hat, sondern den des heroischen Handelns und des Leidens
für die Gesamtheit. Das Prinzip einer streng hierarchischen Glie-
derung des Volkes und der Menschheit, begründet auf moralischen
und biologischen Verdiensten, ist ein typischer Bestandteil dieser
patrizentrischen Ideologien. Der patrizentrische Komplex bedeutet
für diese Bewegungen eine ebenso wirksame psychische Produktiv-
kraft wie der matrizentrisehe für den Sozialismus. Es sei aber
daran erinnert, dass eine solche Produktivkraft zwar aus den
Inhalten und den Mechanismen des seelischen Apparates zu
verstehen ist, dass aber ihr Auftreten zu einer bestimmten Zeit
und in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation von der öko-
nomischen und gesellschaftlichen Realität bedingt wird.
Wie schon oben gesagt, sollten diese Bemerkungen über die
Rolle des patrizentrischen Komplexes für den Zusammenhang
zwischen Religion und Gesellschaft und für bestimmte politische
Bewegungen nicht mehr bieten als Problemstellungen und sollen
zeigen, dass die Verwendung jener psychologischen Kategorien für
das vollständige Verständnis der sozialen Struktur einer bestimm-
ten Gesellschaft und ihrer Wandlungen fruchtbar ist.
La signifieaiion sociopsychologique de la theorie du droit maternel.
Cet article Studie surtout les ralsons de l'accueil favorable reserve ä la
theorie du droit maternel de Bachofen par des milieux de tendances aussi
divergentes que le socialisme et le neoromantisme. II montre qu'il y a chez
Bachofen des tendances correspondant d'une part ä la philosophie roman-
tique et d'autre part ä la critique de la societe patricentrique. L'une ou
Tautre de ces tendances se trouve etre ä la base des sympathies exprimees
pour la theorie de Bachofen, selon i'orientation spirituelle ou politique de son
public. Au delä de cette question, l'auteur cherche ä demontrer que la
connaissance du „complexe matricentrique" , fondee sur l'etude des civi-
lisations matriarcales, enrichit la doctrine des motifs psychiques qui sont ä la
base de la societe moderne.
Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie 227
The social and the psychological significance
of the mother-right theory.
This paper concerns itself mainly with the reason why Bachofen 's
mother-right theory met with so positive a reception by two such opposed
circles as the Socialists and the New Romantics, It shows that in Bachofen
there were present tendencies of romantic philosophy as well as Statements
leading to a criticism of the patricentric society — and that according to
one's spiritual and political affiliations this or that aspect of Bachofen
was raade the basis for sympathy with the theory. It is also shown that
the extensive knowledge of „matricentric complexes" obtained from study of
matriarchal cultures, afford fruitful possibilities for the understanding of the
psychological impulses lying at the root of modern society.
Zur Theorie der Planwirtschaft.
Von
Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer,
Vobemerkung des Herausgebers.
Wegen der Unfähigkeit, die Erzeugung und Verteilung der zum Leben
auf seiner gegenwärtigen Entwicklungsstufe notwendigen Mittel vernünftig
zu regeln, ist die Menschheit gegenwärtig dazu gezwungen, auf einem uner-
messlich viel tieferen materiellen und geistigen Kulturniveau zu existieren,
als es auf Grund ihrer Sehätze an Rohstoffen und ihrer hohen technischen
Fähigkeiten möglich wäre. Nicht bloss das Elend des weitaus grössten
Teils aller Menschen, sondern auch die Gefahr neuer Kriege, von denen
jeder an Schrecklichkeit den vorhergehenden noch überbietet, gehen daraus
hervor, dass der ökonomische Apparat, welcher in der vergangenen Epoche
von den Menschen geschaffen wurde, ihnen über den Kopf gewachsen ist.
Dass die Menschen die ökonomischen Verhältnisse, d. h, ihre gegensei-
tigen Beziehungen bei der Produktion und Reproduktion des gesellschaft-
lichen Lebens, heute einer sinnvollen Regelung nicht zu unterziehen vermö-
gen, die dem Grad der Einsicht auf anderen Gebieten entspräche, lässt
sich nicht bloss aus theoretischer Ohnmacht erklären. Vielmehr drückt
das Vorhandensein der Nationalökonomie als einer in sich geschlossenen
Sonderdisziplin, welche sich immer weniger von gesamtgesellschaftlichen
Problemstellungen bestimmen lässt, den tiefer liegenden Sachverhalt aus,
dass die gegenwärtigen Machtverhältnisse einer Regelung zugunsten der
Mehrzahl der Menschen entgegengesetzt sind. Es handelt sich um eine
Frage der Praxis, deren Lösung den Inhalt der unmittelbar vor uns liegen-
den Geschichte bilden wird. Von ihrem Ausgang hängt das Glück der
kommenden Generationen ab.
Wenn aber die Theorie für sich allein das Problem nicht lösen kann, so
bilden doch die intellektuellen Anstrengungen, welche bei dem Kampf
um Herbeiführung und Gestaltung einer vernünftigen Wirtschaft richtung-
gebend sind, ein notwendiges Moment der vorwärtstreibenden Praxis.
Dies gilt nicht bloss im Hinblick darauf, dass die Entwicklungstendenzen
der gegenwärtigen Gesellschaftsform zu erforschen sind, sondern im An-
schluss daran auch für den Nachweis, dass und wie Planwirtschaft möglich
ist. Dabei ist vor allem an die grossen Erfahrungen anzuknüpfen, welche
die Menschheit gegenwärtig mit planwirtschaftlichen Versuchen macht ;
auf sie vor allem müssen heute Problemstellung und Terminologie bezogen
bleiben.
Der nachfolgende Aufsatz stellt den Versuch einer theoretischen Vorar-
beit für solche konkrete Analysen bestehender oder geforderter Planwirt-
schaft dar. Er will die grundsätzlich möglichen Formen und Aufgaben
zureichender Wirtschaftsplanung skizzieren. Mit einer solchen Aufgabe
Zur Theorie der Planwirtschaft 229
ist nach dem Stand der fachlichen Diskussion eine Kritik der liberalisti-
schen Einwände notwendig verknüpft. Wenn einer solchen Kritik hier
Raum gegeben wird, so geschieht dies nicht im Glauben, dass diese Einwände
bei den entscheidenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einen
besonders wichtigen Faktor bildeten. Die liberalistische Wirtschafts-
theorie, deren Argumente auch bei den innersozialistischen Kontroversen
eine grosse Rolle spielen, ist gegenwärtig für die Politik keines grossen
Landes mehr ausschlaggebend. Einige ihrer Vertreter behaupten sogar, sie
habe auch in der Vergangenheit nie wirklich Anwendung gefunden. Dass
dies aber in der Zukunft geschehen werde, steht gewiss nicht zu erwarten.
Das „laissez faire, laissez passer !" war in der Tat gegenüber der Bevor-
mundung durch den französischen Absolutismus und gegenüber der Grund-
besitzerklasse in England in früheren Jahrhunderten eine fortschrittliche
Devise der Industrie. Die damals beschränkt gültige Ansicht, dass die
Entfesselung der privaten Initiative und das Absehen von jeder gesell-
schaftlichen Regelung der Wohlfahrt des Ganzen am besten dienen werde,
die Meinung, dass die Interessen der auf sich selbst gestellten ökonomischen
Einzelsubjekte zum Glück der Allgemeinheit zusammenstimmen müssten,
ist im heutigen Augenblick, da mindestens die europäische Gesellschaft
infolge sich widerstreitender ökonomischer Interessen am Rande des Unter-
gangs steht, ausschliesslich zum metaphysischen Dogma geworden. Soweit
es als thema probandum festgehalten wird, führt es fortgesetzt zur Ausbil-
dung seh ein wissenschaftlich er Methoden und Probleme. Den Vertretern
entscheidender Industriezweige und vielen praktischen Politikern, die
früher dem Liberalismus zugehörten, hat es jedoch die innere Verwandt-
schaft dieser über die sozialen Unterschiede hinwegsehenden harmonisti-
schen Metaphysik mit der totalitären Staatsauffassung — eine Gleichheit,
die in einem anderen Aufsatz des vorliegenden Heftes nachgewiesen wird,
— leicht gemacht, den ideologischen Übergang vom Liberalismus zum
kapitalistischen Etatismus zu finden. Das liberalistische Dogma, dass die
freie Konkurrenz auf Grund der wirtschaftlichen und psychischen Ungleich-
heit der Menschen einen bestmöglichen Wirtschaftszustand herbeiführen
müsste, ist so falsch, dass Einschränkungen dieses Prinzips schon in der
Vergangenheit häufig deshalb vorgenommen werden mussten, damit der
Schrecken, den es für weite Schichten aller Erdteile von Anfang an
bedeutete, für das Gesamtsystem nicht verderblich wurde. Die Grund-
forderung des Liberalismus, die freie Initiative des Unternehmers, die
private Verfügung über die ökonomischen Mittel der Gesellschaft, lässt sich
heute nur durch eine ungeheure Steigerung der Machtsphäre des Staates
aufrechterhalten, so dass die Praxis der totalitären Staatsauffassung zur
Zeit die wirkliche Folge der üb er ausfischen Oekonomik darstellt, eine
Folge, wie sie zahlreiche ihrer Anhänger bereits gezogen haben.
Die im folgenden Aufsatz mitenthaltene Widerlegung von Beweisgrün-
den, welche die heute noch liberalistischen Theoretiker gegen einebewusste
Beherrschung der wirtschaftlich enJVorgänge anführen, geschieht im Hinblick
darauf, dass nicht bloss die ohnmächtige liberalistische Strömung, sondern die
faktischen Vertreter der gegenwärtigen Gesellschaftsform in ihrer heutigen
Phase sich dieser Argumente noch immer gegen die notwendige Neuordnung
230 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
bedienen. Zu wählen haben die Menschen gegenwärtig keineswegs zwischen
einer liberalistischen Wirtschaft und der totalitären Staatsordnung, denn
die eine geht notwendig in die andere über, eben deshalb, weil diese die libe-
ralistische Forderung des Weiterbestehens der privaten Verfügung über die
wichtigsten gesellschaftlichen Hilfskräfte heute am besten erfüllt. Zu wäh-
len haben die Menschen vielmehr zwischen diesem individualistischen
Moment, das freilich in seiner heutigen Gestalt nur für ganz wenige Indivi-
duen wirkliche Befriedigung bedeutet, und einem anderen Ziel der libera-
listischen Theorie, nämlich dem Leben der Allgemeinheit, das heute in der
Tat mit dem Glück aller Individuen zusammenfallen könnte, aber gebiete-
risch eine Veränderung der Wirtschaftsweise verlangt. Manche NichtÖko-
nomen lassen sich durch die unrichtige Verkuppelung der beiden Prinzipien
unter dem einen Titel des Liberalismus darüber täuschen, dass nicht bloss das
Prinzip der Unternehmerinitiative, sondern auch dieser Grundsatz des allge-
meinen Glücks, der Freiheit und Gerechtigkeit von der liberalistischen Theo-
rie in ein anderes Lager, freilich in das entgegengesetzte, übergegangen ist.
Die echten Liberalen werden, je nachdem sie das eine oder das andere Prin-
zip vorziehen, sich immer mehr zu einer der beiden kämpfenden Gruppen
bekennen müssen, die um die Aufrechterhaltung oder Veränderung der
bestehenden Gesellschaftsform miteinander kämpfen. In diesem Klä-
rungsprozess können auch die folgenden ökonomisch-theoretischen Bei-
träge zur Theorie der Planwirtschaft eine Rolle spielen.
MaX HORKHEIMER.
* *
Es machen sich gegenwärtig in aller Welt planwirtschafthche Bestre-
bungen geltend, die mehr oder weniger deutlich auf eine ökonomische und
politische Neubefestigung der herrschenden Gesellschaftsordnung hinaus-
laufen. Zur kritischen Überprüfung der Möglichkeiten und Grenzen einer
solchen Systemstabilisierung wird die klare Umreissung der sozialistischen
Konzeptionen vermutlich von grösserem Wert sein als der Vergleich mit
einem System liberaler Marktordnung. Eine positive Darstellung des
sozialistischen Zielbildes ist überdies umso unentbehrlicher, als sich die
modernen Planwirtschaftsbewegungen häufig zugleich als die Erfüllung
sozialistischer Erwartungen ausgeben. Selbstverständlich kann es sich
bei den folgenden Ausführungen über die Struktur der sozialistischen Wirt-
schaft nur um einen Ausschnitt aus einem viel umfassenderen Problem-
kreis handeln. Die entscheidenden Fragen des ökonomischen und beson-
ders des politischen Weges zum Sozialismus sollen nur am Schluss dieses
Aufsatzes gestreift werden. Die Erfordernisse der Übergangswirtschaft
im engeren Sinne, das heisst jene Massnahmen, die eine sozialistische
Regierung als erste Ansätze zu einer neuen Ordnung treffen müsste, lassen
wir ganz unerörtert 1 ) ; ebenso den in der marxistischen Literatur mit
*) Damit fallen auch die besonderen Probleme der russischen Planwirtschaft
aus dem Rahmen des Aufsatzes. Die in diesem Zusammenhang besonders aktuelle
Frage des sozialistischen Aussenhandels, des Verhältnisses zur kapitalistischen Umwelt
soll ebenfalls vernachlässigt werden.
Zur Theorie der Planwirtschaft 231
dem Begriff der „zweiten Phase" des Sozialismus gemeinten Zustand,
in dem das Verteilungsprinzip „jedem nach seinen Bedürfnissen" voll zur
Geltung kommen könnte. Zwischen diesen beiden Stufen muss jedoch
eine besondere Epoche sozialistischer Wirtschaft gedacht werden, die einer
theoretischen Behandlung bedarf.
Wir wollen im folgenden zeigen, dass und wie eine solche Wirtschaft
möglich ist. Die besonders von liberaler Seite gegen ihre Durchführbarkeit
erhobenen grundsätzlichen Einwände werden sich als nicht stichhaltig
erweisen. Die oft sehr scharfe Entgegensetzung unterschiedlicher Typen
sozialistischer Planwirtschaft berührt ebenfalls nicht die prinzipielle Möglich-
keit des einen oder des anderen Vorschlags, sondern höchstens „technische"
Vorzüge oder Mängel der verschiedenen Lösungen.
I, Begriff und Typen der Planwirtschaft.
Es gilt zunächst, über den Begriff der Planwirtschaft Verständigung
zu erzielen 1 ). Soll ihre Definition die aktuellen Probleme in sich aufnehmen,
so muss sie zwei Elemente enthalten : Planwirtschaft ist sowohl durch ein
charakteristisches Ziel wie durch eine charakteristische Methode ausge-
zeichnet. Für die Fassung des mit Planwirtschaft gemeinten Zieles genügt
es, auf bestimmte Schäden der kapitalistischen Marktwirtschaft zurückzu-
greifen. Dieser sind typische Störungen eigentümlich, deren wichtigste
die konjunkturellen Krisen und Depressionen bilden. Alle Planwirtschafts-
bestrebungen der Gegenwart zielen nun einfach auf eine störungsfreie Wirt-
schaft oder genauer : auf ein störungsfreies Wachstum der Wirtschaft hin.
Insofern jene Krisen nicht partielle Bewegungen im System sind, sondern von
vornherein oder durch bestimmte Generalisierungsprozesse hindurch als
Umbruchst eilen des Gesamtablaufs der Wirtschaft erscheinen, muss jede
planwirtschaftliche Regelung ihr Augenmerk notwendig auf die Gestaltung
des totalen Wirtschaftsprozesses richten. Es wäre demnach verfehlt,
in jedem bewussten Eingriff in den Marktmechanismus schon eine plan-
wirtschaftliche Massnahme zu erblicken. Solche Eingriffe betrafen bislang
nur einzelne Gebiete und stellten der Absicht oder dem Erfolg nach immer
bloss partikulare An- oder Einpassungen dar. Unter Planwirtschaft — jetzt
als Methode gefasst — kann sinnvollerweise nur ein System von Vorkehrun-
gen verstanden werden, durch das der gesamte Verlauf des Wirtschafts-
prozesses reguliert wird. Eine solche Regulierung ist offensichtlich nur
möglich auf Grund eines bewussten Planes. In diesem Zusammenhang
bekommt der Begriff der Planwirtschaft, der oft dem Bedenken begegnet,
dass jeder Wirtschaft irgendeine Planung zugrunde liege, einen genügend
klaren Inhalt. Wir verstehen darunter die bewusste, planorientierte
Gestaltung des totalen Wirtschaftsablaufs im Dienste der Krisenverhütung
und Wachstumsstetigkeit.
Über die Mittel und Organisations formen, deren sich die Regulierung
*■) Vgl. hierzu die Sammelbesprechung „Neuere Literatur über Planwirtschaft"
(G. Meyer) in dieser Zeitschrift, Jahrgang I (1932), S. 379 ff. Ferner : Emil Le derer,
Artikel „National Planning" in „Encyclopaedia of Social Sciences".
232 Kurt Mandel bäum und Gerhard Meyer
bedienen müsste, ist damit noch nichts ausgesagt. Der geforderte totale
Charakter der Planung verlangt zum Beispiel nicht unbedingt, dass alle
wirtschaftlichen Einzelvorgänge direkt zu determinieren wären. Im Grenz-
fall einer „universalen" direkten Planung würde sich die Gesamt Wirt-
schaft als ein einziger Grosshaushalt darstellen. Es muss aber als durchaus
offene Frage gelten, ob sich die Planwirtschaft nicht auch indirekter
Mittel bedienen könnte, so dass die marktmässige Verknüpfung der Wirt-
schaftseinheiten in mehr oder minder grossem Umfange erhalten bliebe.
Eingriffe erfolgten dann nur an zentralen Stehen des Kreislaufs, soweit
die Verwirklichung des zugrunde gelegten Planes das erfordert. Diese
Differenzierung ist für die Diskussion der Planwirtschaft von grosser
Bedeutung. Jedoch ist es sinnlos, allgemein von Wirtschaftsplanung zu
sprechen, vielmehr müssen deren spezifische gesellschaftliche Vorausset-
zungen mitgedacht werden.
Kapitalistische Planwirtschaft.
Wenn wir nur die historisch relevanten Möglichkeiten ins Auge fassen,
ist zwischen kapitalistischer und sozialistischer Planwirtschaft zu unter-
scheiden. Das wesentliche Kriterium im ersten Fall ist die Beibehaltung
der privaten Verfügung über die Produktionsmittel und damit auch über
die freien Arbeiter. Wiederum lassen sich in diesem Rahmen verschiedene
Unterformen, und zwar zunächst nach dem Organisationsprinzip, auseinan-
derhalten. Mitten in die Problematik der kapitalistischen Planwirtschalt
fuhren bereits jene Vorschläge hinein, die eine Ausschaltung der Konkur-
renz durch Zusammenfassung der einzelnen Wirtschaftszweige beinhalten,
mag man bei diesen Zusammenschlüssen nun an dauernde Zwangs Verei-
nigungen oder an reine Selbstverwaltungskörperschaften denken. Solche
Konzeptionen, die in den Vereinigten Staaten heute sehr verbreitet sind und
ebenso in weiten Gebieten Mitteleuropas eine grosse Rolle spielen (Korpo-
rativsystem), laufen praktisch auf eine Stärkung der monopolkapitali-
stischen Tendenzen hinaus 1 ). Sie lassen das konjunkturpolitische vordring-
liche Problem des Ausgleichs zwischen den einzelnen Produktionszweigen
ungelöst oder packen es höchstens von der technisch-organisatorischen
Seite her an. Erst da, wo eine wirtschaftliche Zentralinstanz mit Anord-
nungsmacht geschaffen wird, kann eine planmässige Gestaltung des Wirt-
schaftsablaufs in Angriff genommen werden. Beachtlicher sind daher
jene Projekte, die eine zentrale Kontrolle und Lenkung der Investitionstä-
tigkeit, vornehmlich mit den Mitteln der staatlichen Kreditpolitik, befür-
worten. Können diese Versuche erfolgreich sein ?
Die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen durch rechtzeitige
und richtig dosierte Anwendung kreditpolitischer Mittel die Investitionen
derart zu lenken, dass ein ungestörtes Wirtschaftswachstum gesichert ist
soll als prinzipiell gegeben einmal unterstellt werden. Die erste kritische
Frage gegenüber einer solchen Konjunkturpolitik im Kapitalismus betrifft
aber bereits die Vollständigkeit und Neutralität des Materials, auf das eine
x ) Vgl. F. Pol] ock, Bemerkungen zur Wirtschaftskrise, in dieser Zeitschrift Jahr-
gang II (1933), S. 321 ff.
Zur Theorie der Planwirtschaft 233
Kreditzentrale, die mit selbständigen Unternehmern zu tun hätte, bei
ihrer regulierenden Tätigkeit angewiesen ist. Es ist anzunehmen, dass
dieses Material überall da, wo Besitzinteressen im Spiel sind, interessen-
mässig gefärbt ist, ja, dass es die wirtschaftspolitischen Entscheidungen,
die zu treffen sind, bereits enthält und vorwegnimmt. Wäre diese Schwie-
rigkeit behoben, so bliebe immer noch höchst problematisch, ob die Zentrale
auch fähig wäre, ihre Entscheidungen gegenüber den privaten Wirt seh afts-
leitungen durchzusetzen. Wenn es zum Beispiel richtig ist, dass ein be-
stimmter Typ des technischen Fortschritts, solange er unreguliert ist, an
erster Stelle zu den Ursachen der konjunkturellen Dynamik zählt, dann
muss die Zentrale immer wieder auf die Zurückdrängung und zeitliche Ver-
teilung solcher Fortschritte hinarbeiten und zwar gerade auch dann,
wenn sie rentabel sind. Soll die Kreditpolitik hier nicht nur Palliativmittel
sein, so müsste sie zu einer qualitativen Kreditkontrolle vorschreiten.
Hier aber stehen den Unternehmern mannigfache Ausweichmöglichkeiten
zur Verfügung, insbesondere die Selbstfinanzierung, die kaum zu unter-
binden ist, weil bei der Bewertung der Abschreibungen, der Generalunkosten
oder der Lagervorräte immer erhebliche und schwer kontrollierbare Spiel-
räume bestehen. Solche Ausweichmöglichkeiten beruhen letzten Endes
auf der individuellen Verfügungsmacht über die Produktion. Wenn diese
auch nur beschränkt erhalten bleibt, ist eine Harmonisierung von Privat-
und Gesamtinteresse, also eine „sachrichtige" Planung undurchführbar.
Erst im sogenannten „Generalkart eil", das das individuelle Eigentum
zwar nicht als Rentenquelle, wohl aber als Anordnungsmacht aufhöbe,
wäre unter irgendeinem System des Gewinnausgleichs die Verwirklichung
eines Wirtschaftsplanes möglich. Aber es handelt sich dabei eher um
einen theoretischen Grenzfall als um eine praktische Chance.
Mit diesem Auf weis der Bedingungen und Grenzen einer Planung im
Kapitalismus fällt zugleich ein Licht auf jene Bewegungen, die in sozial-
reformerischer Absicht für den Einbau planwirtschaftlicher Regulative in
das gegenwärtige Marktsystem eintreten. Wir denken dabei an die Pro-
gramme der Wirtschaftsdemokratie und den neuerdings vieldiskutierten
de Man-Plan x ). Durch zentrale Überwachung einzelner Produktions-
zweige oder durch ihre Übernahme in die öffentliche Hand soll hier allmäh-
lich eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in die Wege geleitet
werden. Vielfältige Erfahrungen haben jedoch gezeigt, dass alle Kontrollen
der privaten Industrie wenig erfolgreich sind, solange Risiko und Anord-
nungsmacht nicht zusammenfallen. Partielle Verstaatlichungen mögen
aus Gründen rationellerer Produktion oder besserer Versorgung da und dort
zweckmässig sein, aber sie sichern längst nicht einen geregelten Wirt-
schaft sablauf. Häufig liegen solche Massnahmen, die das kapitalistische
Eigentum zu beschränken bestimmt sein sollen, gleichzeitig im gesamt kapi-
talistischen Interesse. Und solange die ökonomischen und politischen
Grundlagen der Klassenordnung erhalten bleiben, fördert jede formale
Unterstellung von Wirtschaftsvorgängen unter öffentliche Kontrolle allzu
*) Vergleiche hierzu die Besprechungen in dem vorliegenden Heft dieser Zeitschrift
sowie den Schlussabsclmitt dieses Aufsatzes.
234 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
leicht nur die Kumulierung privater Macht über Staat und Wirtschaft
zugleich 1 ). Der sozialistische Charakter irgendeiner institutionellen Rege-
lung ist daher an ihrer organisatorischen Form nicht ablesbar. Primär
entscheidend ist die gesellschaftliche Machtverteilung.
Sozialistische Planwirtschaft.
Um eine höhere Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, der
individuellen Bedürfnisse und ihrer Befriedigungsmöglichkeiten durchzu-
setzen, erstrebt der Sozialismus die Beseitigung des „Kapitalverhältnisses 4 *
und die bewusste, rationale Gestaltung des sozialen Gesamtgeschehens.
Die Voraussetzung dafür ist das Gemeineigentum an den Produktions-
mitteln. Mit ihrer Vergesellschaftung wäre die Basis der Klassenherr-
schaft beseitigt und die ökonomische Machtgrundlage für eine planmässige
Wirtschaftsleitung hergestellt. Ais endgültige Erfüllung des sozialistischen
Ziels darf wohl erst die „zweite Phase" gelten, so dass alle Einrichtungen
und Prozesse der von uns ausschliesslich behandelten ersten Phase immer
auch dem Kriterium unterliegen, ob sie die Annäherung an jenen zukünf-
tigen Zustand fördern oder hemmen.
Wir versuchen zunächst, die verschiedenen sozialistischen Vorschläge
zu sichten und nach bestimmten Typen zu ordnen. Dabei knüpfen wir
an eine bereits angeführte Differenzierung an : Planwirtschaft kann sich
entweder direkter Mittel bedienen, so dass der Markt mit seinen Funktio-
nen durch den Wirtschaftsplan und die an ihm orientierten Anweisungen
ersetzt wird, oder sie arbeitet — zum Teil wenigstens — mit indirekten
Methoden, behält also den Reaktionsmechanismus des Marktes bis zu
einem gewissen Grade bei und versucht nur, ihn in bestimmter Weise zu
lenken bzw. umzuformen. Un diese Scheidung durchzuführen, bedarf es
einiger terminologischer Klarstellungen.
Wir wollen von Markt überall da reden, wo Angebots- und Nachfrage-
parteien bestehen, ganz gleichgültig, ob und wie diese organisiert sind.
Da Angebot und Nachfrage sich sinnvollerweise nur auf knappe Güter und
Leistungen beziehen, gibt es notwendig Preise, seien diese nun freie, d. h.
aus dem automatischen Wirken der Konkurrenz heraus gebildete, mono-
polistische oder autoritär nach irgendwelchen Prinzipien festgesetzte Preise
(Taxen), seien sie beweglich oder starr. Da die Entscheidungen der beiden
Marktparteien nicht von einer dritten Stelle einheitlich diktiert werden,
sind mengenmässige Diskrepanzen möglich. Diese Diskrepanzen werden
tendenziell entweder durch Schwankungen der Preise und entsprechende
Anpassungen auf der Angebots- und Nachfrageseite oder aber, bei fixierten
Preisen unter Ausschaltung der Marktkinetik durch Mengenregulierung
ausgeglichen. Verwaltung liegt da vor, wo von irgendeiner Zentrale
gleichzeitig der produzierenden und der aufnehmenden Stelle eine ganz
bestimmte Produktmenge normiert wird, sei es mit oder ohne Veran-
schlagung in einer Recheneinheit, gleichgültig, ob bei der Entscheidung
der Zentrale irgendwelche Kosten- oder Nützlichkeitsberechnungen mitge-
spielt haben. Markt ist in dem oben umschriebenen Sinne nicht denk-
!) Vgl. den letzten Abschnitt in Paul Herrn berg, Planwirtschaft. Berlin, 1933.
Zur Theorie der Planwirtschaft 235
bar, ohne dass der Nachfragende mit Kaufkraft ausgestattet ist, über
die er frei verfügt. Die Form dieser Kaufkraft und ihre Benennung
ist belanglos ; es kommt nur darauf an, dass Preise und Kosten in
den gleichen Einheiten berechnet sind. Nennt man jene Kaufkraft
Geld, so sind jedenfalls nur zwei Funktionen wesentlich : das Geld ist
gleichzeitig Kauf mittel, Anweisung auf einen aliquoten Teil des wert-
massigen Gesamtprodukts, und Verrechnungsmittel, nicht aber not-
wendig Mittel der Wertaufbewahrung und (privaten) Kapitalbildung.
Zahlgeld ist stets zugleich auch Zählgeld. Aber es gibt Recheneinheiten,
die an keine Kaufmittelfunktion geknüpft sind. In einem solchen Falle
wollen wir bei einem System, in dem es überhaupt keine Kaufkraft gibt,
die den einzelnen Produkten in irgendeiner Einheit aufgeprägten Rech-
nungsgrössen als blosse Quasipreise bezeichnen. Hiervon seien die
sogenannten Verrechnungspreise unterschieden, die zwar selber keine
Marktpreise sind, die aber in irgendeiner Weise, vorwärts oder rückwärts,
auf Grund von Marktpreisen berechnet worden sind und bei der Kosten-
kalkulation der einzelnen Produktionsstufen veranschlagt werden müssen.
1. Reiner Verwaltungssozialismus.
Verwaltungssozialismus nennen wir eine sozialistische Wirtschaft, die
unmittelbar Naturalien beschafft und verteilt und in der ein Wirtschaftsplan
— statt der Geldpreise — berufen ist, Produktion und Bedarf in Einklang
zu halten 1 ). Dieser Plan muss bestimmen, was und wieviel produziert
werden soll und was jeder einzelne konsumieren darf. Er setzt eine sta-
tistische Erfassung der vorhandenen Produktionsmöglichkeiten sowie eine
entsprechende Bedarfsstatistik voraus. Freie Konsumwahl steht den ein-
zelnen Individuen nicht zu, weil die Ausübung dieser Freiheit das Spiel
von Angebot und Nachfrage auf dem Konsumgütermarkt wieder in Gang
setzen und damit erneut zur Bildung von Preisen führen würde. Die
Zuteilung der Konsumrationen, über deren Ausmass und Zusammenset-
zung diktatorisch oder demokratisch, auf jeden Fall aber zentralistisch
entschieden wird, könnte so geschehen, dass jeder Einzelne Bezugsscheine,
lautend auf bestimmte Quantitäten genau bezeichneter Güter ausgebändigt
erhält. Die Entscheidung über die Verteilung der vorhandenen Arbeits-
kräfte und Produktionsmittel auf die verschiedenen Beschaffungszweige
muss dem Konsumplan entsprechen und seine Durchführung ermöglichen.
Manche Verwaltungssozialisten sind der Meinung, dass es in einer solchen
Wirtschaft eine Rechnung mit Einheiten, die Aufwand und Erfolg ziffern-
mässig zu veranschlagen und miteinander zu vergleichen erlauben, nicht
geben kann und dass sie auch gar nicht notwendig ist, weil der Grad der
*) Aus der verwaltungssozialistischen Literatur seien genannt : Otto Neuralh,
Wirtschaftsplan und Naturalreehnung (und viele andere Schriften dieses Verfassers) ;
N. Bucharin, Programm der Kommunisten, Leipzig, 1918 ; Felix Weil, Gildensozia-
listische Rechnungslegung, Archiv für Sosialwissenschaft, Bd. 52 ; für Spezialprobleme
auch Tschajanoff, Zur Frage einer Theorie der nichtkapitalistischen Wirtschafts-
systeme, Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 51, und Eugen Varga, Die Kostenberech-
nung in einem geldlosen Staat, Kommunismus, II. Jahrgang, Heft 9/10.
236 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
„Erfreulichkeit" verschiedener Konsum- und Produktionskombiriationen
unmittelbar zu beurteilen sei. Andere halten eine spezifische Natural-
rechnung (mit Quasipreisen) für möglich und unentbehrlich. Gewöhnlich
will man diese Rechnung auf objektive Faktoren (Arbeitsstunden, Energie-
einheiten usw.) basieren. Aber auch diejenigen Vertreter der subjektiven
Wertlehre gehören hierher, die in Fortführung von Wiesers Theorie des
natürlichen Wertes eine sozialistische Ordnung für denkbar halten, in der
ohne irgendwelche Preise der Nutzenkalkül der Wirtschaftszentrale den
einzelnen Wirtschaftselementen Bedeutungsgrössen zuzuordnen erlaubt 1 ).
Durch die Beziehung auf den zentralen „Bewerter" ist ein derartig enger
Zusammenhang zwischen allen einzelnen Wirtschaftsprozessen gegeben,
dass allenfalls ein Unbeschäftigtsein einzelner Faktoren, nicht aber sich
generalisierende Systembrüche möglich sind.
2. Modifizierter Verwaltungssozialismus.
Eine Modifizierung des „reinen Verwaltungssozialismus" bedeuten bereits
die Vorschläge von Marx und Engels 3 ), „Der einzelne Produzent erhält von
der Gesellschaft einen Schein, dass er soundsoviel Arbeit geliefert hat (nach
Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds) und zieht mit diesem
Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumptionsmitteln soviel
heraus, als gleichviel Arbeitsstunden kosten 3 ). " Das Arbeitszertifikat,
das Marx hier vor Augen hat, ist ein Mittel der Güterverteilung in einer
Ordnung mit Konsumfreiheit. Der ausdrücklich hervorgehobene abstrakte
Charakter dieser Anweisung erlaubt Bedarfs Variationen des Einzelnen, so
dass es hier bei den Konsumgütern schon ein Angebot und eine Nachfrage
gibt, freilich ein Angebot ohne Konkurrenz der Produzenten und eine
Nachfrage, die auf „feste Preise" (Taxen) stösst und keinen Einfluss auf
sie hat. Diskrepanzen zwischen den faktisch produzierten Mengen und
den Bedarfswünschen der mit Kaufkraft ausgestatteten Konsumenten sind
prinzipiell möglich. Die Zentrale wird dann mengenmässige Änderungen
der Gesamtproduktion vornehmen. Im ganzen übrigen Bereich der Wirt-
schaft herrscht verwaltungsmässige Regelung und Abrechnung nach
Arbeitsstunden. Variationen der grundlegenden Daten (Konsumbedarf,
Technik usw.) und entsprechende Neuverteilung der Produktionsmittel
werden uno actu für den ganzen Block der integrierten Produktionsstufen
durch die Planbehörde bewältigt. Fehl dir ektiven werden nicht durch eine
Marktkinetik ausgeglichen, sondern durch neue Verfügungen der Zentrale
behoben. Mit der Marktkinetik entfällt aber zugleich die heute so wichtige
Problematik der zu grossen, zu kleinen und vor allem der zeitlich zu späten
*) Vgl. die Arbeiten von Carl Landauer, zuletzt : Planwirtschaft und Verkehrs-
wirtschaft, München und Leipzig, 1931, S. 114 ff.
a ) Die wichtigsten Stehen zur Charakteristik der Marx-Engelssdien Position finden
sich in den „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei" sowie im
Antidühring.
3 ) K. Marx, Randglossen, a. a. O., S. 26.
Zur Theorie der Planwirtschaft 237
und nicht koordinierten Teilanpassungen. Das Wachstum der Wirtschaft
ist grundsätzlich in dieser Konzeption eine Angelegenheit der Wirtschafts-
verwaltung 1 ).
'S. Reiner Marktsozialismus,
Im reinen Marktsozialismus bleibt generell das Marktprinzip, ja sogar
die Konkurrenz aufrecht erhalten 3 ). Der Markt wird hier als eine Orga-
nisationsform angesehen, die mit verschiedenen sozialen Bedingungen
verträglich ist und nur unter der spezifischen Voraussetzung des privaten
Kapitaleigentums die Klassengegensätze und Krisen reproduziert. Von
hier aus wird das Bild einer sozialistischen Konkurrenzwirtschaft entworfen,
in der relativ selbständig geleitete, aber in öffentlichem Eigentum stehende
Unternehmungen auf Märkten ein- und verkaufen und — evtl. unter dem
Stachel von Absatztantiemen — miteinander in Wettbewerb stehen. Es
gibt Arbeits-, Boden- und Kapitalmärkte. Die einzelnen Betriebe müssen
an eine Zentralstelle Grundrenten und Zinsen abführen. Diese Summen
bilden zusammen mit den durch Besteuerung aufgebrachten Beträgen sowie
mit etwaigen privaten Sparsummen das Kapitalangebot, um das die
Betriebe nach ihren Marktaussichten konkurrieren. Jedoch ist hier beim
Kapitalmarkt die Stelle, wo die zentrale Leitung, die im wesentlichen eine
scharfe Konjunkturpolitik beinhaltet, in den sonst nahezu geschlossenen
Marktautomatismus beherrschend eingreift. Die mit der Planzentrale in
engstem Zusammenhang stehende staatliche Kreditbank führt eine quali-
tative Kreditpolitik durch und zwar gegebenenfalls im Gegensatz zu den
durch die Preis- und Rentabilitätskonstellationen anscheinend gebotenen
Marktnotwendigkeiten. Gesamtwirtschaftlich unerwünschte Kapitalin-
vestitionen werden durch Verweigerung der Kredite oder durch diskrimi-
native Zinserhöhung unterbunden. Dieser Politik liegt die Auffassung
zugrunde, dass die entscheidenden Wirtschaftsstörungen sich aus bestimm-
ten intensiven und extensiven Wachstumsprozessen ergeben und gerade
auch dann erfolgen, wenn die Betriebsleiter auf Preisänderungen wirt-
schaftlich rational reagieren. Die marktsozialistische Regulierung beruht
ganz ebenso wie die verwaltungssozialistische auf einem Gesamtplan, der
alle wertmässigen und naturalen Grössen in sich vereinigt. Denn eine
Wirtschaftspolitik, die die gefährlichen Fern Wirkungen z. B. technischer
Fortschritte ausschalten will, muss vor allem die Sachform der Pro-
dukte, das mengenmässige Ineinandergreifen der einzelnen Produktions-
zweige in Rechnung stellen. Mit dem Kapitalbedarf soll zugleich die
Kapitalbildung zentral reguliert werden. Dem Gesamtplan liegt also
jeweils eine generelle Entscheidung über das Tempo des Wachstums, d. h.
*) Otto Leichter, Die Wirtschaftsrechnung in der sozialistischen Gesellschaft,
Wien, 1923, hat versucht, einige der von Marx und Engels gegebenen Hinweise theo-
retisch auszubauen.
2 ) C. Landauer, a. a. O. ; ferner E. Heimann, Mehrwert und Gemeinwirtschaft,
Jena, 1922 ; derselbe, Sozialismus und Kapitalismus, Potsdam, 1931 ; derselbe, Sozia-
listische Wirtschafts- und Arbeitsordnung, ebenda 193'2, Da es uns im Text auf die
Herausarbeitung des Typus ankommt, sehen wir von den Modifikationen des reinen
Marktsozialismus, die auch diese Autoren vertreten, vorerst ab.
238 Kurt Mandelbauin und Gerhard Meyer
über die Verteilung der Produktion auf Gegen wart s- und Zukunftsgüter
zugrunde. Diese Entscheidung könnte hier trotz gewisser Interessendifl
ferenzierungen relativ neutral getroffen werden, während sie gegenwärtig
in den Klassengegensatz hineingezogen ist. Der gesamtwirtschaftliche
Erfolg dieser Planwirtschaft verlangt offenbar eine Beseitigung des kapi-
talistischen Privateigentums. Die Ausweichmöglichkeiten der privaten
Unternehmer sind erst bei Gemeineigentum nicht mehr gegeben,
4. Modifizierter Marktsozialismus.
Mehrere Modifikationen und Einschränkungen dieses extremen Falls
einer sozialistischen Konkurrenzwirtschaft führen in die Richtung des
Verwaltungssozialismus. Man kann von einer quantitativen oder sphären-
mässigen und einer qualitativen Einschränkung sprechen, insofern der
freie Konkurrenzmarkt als Ausgangspunkt gewählt wird. Die Annähe-
rung an die Verwaltungswirtschaft erfolgt bei verschiedenen Autoren
zunächst einmal durch „Herausnahme" bestimmter Sphären aus dem
Marktverkehr, weil das konjunkturpolitisch für nötig gehalten wird.
Während es bei dem reinen Marktsozialismus oft zweifelhaft erscheinen
könnte, ob ein manipulierter Kapitalmarkt oder eine kapitalzuteilende Ver-
waltung vorliegt, ist bei anderen Vorschlägen ganz eindeutig das letztere der
Fall 1 ). Mehr noch : die Produktionseinheiten sollen auch nicht befugt
sein, auf dem Markt Produktionsmittel zu kaufen. Man muss dann von
einer direkten Realkapitalzuteilung sprechen (oder eine enge Integration
der Konsumgüterindustrien und ihrer Vorstufen annehmen). Konsum-
güter- und Arbeitsmärkte bleiben dagegen bestehen. In den Sphären ohne
Marktverkehr herrscht verwaltungsmässige Regelung, aber diese ist nach
vorn und rückwärts an Märkten orientiert und arbeitet daher mit Ver-
rechnungspreisen für Kredit und Produktionsmittel. Noch einen Schritt
weiter gehen die Autoren, die überhaupt nur noch Konsumgütermärkte
kennen 8 ). Obwohl in diesem Fall die einzelnen Produktionen nicht direkt
nach den Schwankungen der Preise und Einnahmen, sondern nach Weisun-
gen der Zentrale variiert werden, gibt es auch hier noch Preise, nach denen
sich die Planstelle richten kann. Aber es sind — mit Ausnahme der
Konsumgutpreise — im ;Sinne einer modifizierten Zurechnungstheorie
bezw. einer mathematisch formulierten Knappheitstheorie auf dem Papier
abgeleitete Verrechnungspreise.
Wir kommen mit diesen Verrechnungspreisen bereits zu den qualita-
tiven Modifikationen des Marktmechanismus, die in Etappen über Mono-
polmärkte und manipulierte Märkte zu den zentral völlig normierten Tax-
märkten und schliesslich zur Verwaltung hinführen. Manche Vorschläge
!) Vgl. Walter Schiff, Die Planwirtschaft und ihre ökonomischen Hauptproblem*.
Berlin, 1932. Aehnlich P. Hermberg, a. a. 0., S. 34 ff.
8 ) Kläre Tisch, Wirtschaftsrechnung und Verteilung im zentralistisch organisier-
ten sozialistischen Gemeinwesen. Wuppertal-Elberfeld 1932; H. D. Dick in so n
in : The Economic Journal, Vol. XXXXIII, 1933, 170, S. 237 ff. Gegen Dickinson ■
Maurice Dobb, Economic Theory and the Problems of a Socialist Economy, ebenda
172, S. 588 ff.
Zur Theorie der Planwirtschaft 239
ersetzen die freie Konkurrenz durch syndikatmässige Zusammenfassung
der einzelnen Produktionszweige. Hier ist eine Loslösung der Preise von
den Kosten und eine Diskriminierung der Abnehmer nach Schichten und
Gebieten durchführbar 1 ). Von einer Preisfestsetzung durch die einzelnen
Monopole, die durch die Zentralstelle beaufsichtigt wird, bis zu einer zen-
tralen Regulierung aller Preise ist theoretisch nur noch ein Schritt. Diese
behördlich festgesetzten Taxen wird man sich in der Regel als ziemlich
starre und nur nach ganz bestimmten Prinzipien variierbare Preise vorstel-
len müssen, und hier kommt ein neues Element in die Modifikation des
Marktes hinein. Entweder werden die Taxen nach dem Kostenprinzip
oder aber „willkürlich" nach irgendwelchen anderen Gesichtspunkten
fixiert. Im ersten Fall kann die Kostenaddierung mit „echten" Preisen
oder aber mit „willkürlichen" Taxen für Arbeitsleistungen usw. vorge-
nommen werden. Immer aber kommt es hier darauf an, die marktmässige
Kinetik mit ihren Preisschwankungen und daran orientierten Produktions-
schwankungen möglichst auszuschalten 2 ). Der Ausgleich zwischen Ange-
bot und Nachfrage muss dann auf andere Weise als bei den üblichen Märkten
geschehen. Die Taxregulierung schliesst sinnvollerweise eine bewusste
Produktionsmengenreguherung in sich und enthält implizit eine plan wirt-
schaftliche Konjunkturpolitik ; sie stellt einen bedeutenden Schritt zur
Verwaltungswirtschaft hin dar, so dass oft Unklarheit darüber besteht, ob
Verrechnungs- und Taxpreise bei weiterbestehenden Märkten noch als
„echte" Preise zu bezeichnen seien. Jedenfalls ergibt sich so eine geschlos-
sene Kette, die vom Marktsozialismus zu verwaltungsmässigen Formen
der sozialistischen Planwirtschaft führt.
II. Hauptprobleme der sozialistischen Planwirtschaft (Analyse und Antikritik).
Die theoretische Untersuchung der verschiedenen Vorschläge soll wie-
derum an die Frage anknüpfen : Markt oder Verwaltung? Die damit gestellten
Probleme lassen sich in roher Weise gliedern in Produktivitäts-probleme
im weiteren Sinne des Wortes, worunter vor allem die Frage der Rechenhaf-
tigkeit und der Planmässigkeit der Wirtschaft zu verstehen sind, und in
die aus der Forderung der Freiheit und Gerechtigkeit entstehenden zusätzli-
chen Aufgaben, welche eine sozialistische Ordnung zu lösen hat.
1. RechenhaftigkerL
Seit Max Weber und Mises ist es einer der Haupteinwände gegen die
Durchführbarkeit des Sozialismus, dass hier eine Wirtschaftsrechnung
unmöglich sei und die sozialistische Wirtschaft daher „versumpfen" müsse,
Was ist eigentlich mit Rechenhaftigkeit, mit „formaler Rationalität'
gemeint ? Fürs erste muss negativ festgestellt werden, dass wirtschaft-
J ) Derartige Modifikationen finden sich auch bei Hei mann.
*) Vergleiche hierzu vor allem Georg Klein, System eines idealistischen Sozia-
Iismus, Wien-Leipzig, 1931 ; ferner Schiff, a. a. 0. Bei Klein sind die organisatorischen
Probleme (z. T. in Anlehnung an die Webbs) besonders ausführlich behandelt.
240 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
liches Rechnen und Wirtschaften nicht identisch sind. Von den subjekti-
ven Werttheoretikern wird diese Scheidung durch die Konzeption des Nut-
zenkalküls allzu leicht verwischt. Neurath hat mit vollem Recht darauf
hingewiesen, dass Wirtschaften vor allem eine Entscheidung über die
Verwendungszwecke von knappen Mitteln, über den Vorrang der einen oder
der anderen Konsumkombination darstellt. Diese Entscheidung muss
sich notwendig auf Gebrauchswerte selbst beziehen und ist auch im Ver
waltungssoziahsmus strengster Observanz durchaus möglich. Die Lage
ist hier im Grunde gar nicht anders als beim Konsumenten der modernen
Marktwirtschaft. Allerdings orientiert sich dessen Entscheidung an
Preisen. Diese stellen für ihn die „objektiven" Beschaffungs widerstände
dar, die für den Verwaltungssozialismus durch die jeweiligen Produktions-
möglichkeiten direkt gegeben sind. Das eigentliche Rechnungsproblem
entsteht erst in der Produktionssphäre, dort nämlich, wo die Frage gestellt
wird, ob bei gegebenem Zweck die Mittel so rational, so sparsam wie möglich
eingesetzt worden sind. Dies ist keine Frage der blossen Entscheidung
mehr, sondern eine „Fest Stellungsfrage". Hier ist in der Tat Rechnung
notwendig. Ihre Bedeutung kann nicht, wie es im verwaltungsso/ialisti
sehen Schrifttum gelegentlich geschieht, durch den Hinweis auf die Mängel
der kapitalistischen Kostenrechnung verringert werden. Denn die Kritik
betrifft doch nur die kapitalistischen Bedingungen und die kapitalistische
Ausrichtung der Kostenrechnung, nicht das Prinzip der Rechnung überhaunt
sei diese eine geldwirtschaftliche oder nicht. Auch die Leitung einer sozia-
listischen Gemeinwirtschaft hat, solange der Bedarf die vorhandenen Mittel
überschreitet, ein Interesse daran, zu wissen, wie sie die vorhandenen Produk
tionsfaktoren am zweckmässigsten verteilt, selbst wenn der Bedarf inhaltlich
bereits fixiert ist. Denn es gibt für die meisten Produktionen verschie-
dene Produktionsverfahren mit ganz verschiedener Zusammensetzung der
Elemente, die wiederum in verschiedenem Grade knapp sind. Vor allem
niuss die Leitung berechnen können, ob eine technische Erfindung wirklich
ein ökonomischer Fortschritt ist. Selbst wenn sie aus bestimmten Gründen
davon absieht, die jeweils ergiebigste Produktionsmethode zu wählen, wird
es nützlich sein, das Ausmass der Abweichung zu kennen. Es gibt daher
auch Theoretiker des reinen Verwaltungssozialismus, die eine Wirtschafts-
rechnung für erforderlich halten. Nun setzt jede Kostenrechnung not-
wendig eine Recheneinheit voraus. Es ist einleuchtend, dass Geldpreise
diesem Erfordernis Genüge leisten. Wenn es im Verwaltungssozialismus
keine in Einheiten abstrakter Kaufkraft ausgedrückten Preise gibt was
kann dann an deren Stelle treten ? Jeder Aufwand kann als Verbrauch
knapperobjektiver Mittel oder,imSinnederopportumtycost- und Grenznut
zentheone, als entgangener Nutzen betrachtet werden. Es fragt sich ob
man m diesen beiden naturalen Sphären, der „technischen" und der psycho
logischen, eindeutige und anwendbare Masstäbe besitzt. Wir wollen auf
das Problem der subjektiven Nutzkomputation hier nicht ausdrücklich
eingehen, zumal da diese Lösung in der Literatur gewöhnlich nur subsidiär
herangezogen wird. Sie erscheint uns schon theoretisch, vor allem aber
praktisch kaum möglich. Im Vordergrund des Interesses stehen die Ver-
suche, zu objektiven Recheneinheiten zu gelangen, besonders die Versuche
Zur Theorie der Planwirtschaft 241
der Berechnung nach aufgewandten Arbeitsmengen. Die Veranschlagung
nach diesem Prinzip liegt auch dem „modifizierten Verwaltungssozialis-
mus" (mit Arbeitszertifikaten) zugrunde.
Vorweg sei ein üblicher Einwand ausgeschaltet : die Arbeitsstunden-
rechnung könne „die verkehrswirtschaftliche Preisrechnung nicht ersetzen,
weil die Frage der Wirtschaftsrechnung ist, nicht wieviel Arbeitsstunden
aufgewendet sind, sondern ob sie in der richtigen Richtung aufgewendet
sind 1 )" . Unter dem Eindruck der in der Geld Wirtschaft tatsächlich vor-
handenen Verkuppelung von preisorientierter Konsumentenschätzung und
ebenso preisorientierter Kostenkalkulation der Unternehmungen werden
in diesem Einwand die Probleme der Nützlichkeitsentscheidung und der
Kostenberechnung konfundiert Das zitierte Argument trifft die (auch
von Marx scharf kritisierten) Arbeitsgeldsysteme von Gray, Proudhon u. a.,
bei denen individualistische Marktwirtschaft vorausgesetzt ist, nicht aber
die verwaltungssozialistische Lösung. Was produziert werden soll, ist
in diesem letzten Fall grundsätzlich schon über alle Wahlfreiheit der
Konsumenten hinweg durch die Zentrale vorentschieden. In dem auf-
gestellten Plan sind alle Produkte gleich nützlich. Von daher kommt also
den Arbeitsleistungen keine verschiedene Nützlichkeit mehr zu. Wichtig
ist nur noch, das Produkt mit möglichst wenig Aufwand an Arbeitsstunden
herzustellen. Wenn Marx erklärt, dass in der sozialistischen Gesellschaft
die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmit-
telbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren 2 ), so ist damit jener
Einwand implizit bereits erledigt. Die individuelle Arbeit ist hier gesell-
schaftlich notwendig im doppelten Sinne, in dem Marx dieses Wort
gebraucht : sie ist von der Zentrale angeordnet worden sowohl unter
Berücksichtigung der gesellschaftlich gewollten optimalen Technik wie
auch im Hinblick auf den gesellschaftlich verfügten Bedarf.
Aber es fragt sich jetzt, ob die Arbeitsmengen untereinander technisch
vergleichbar sind und ob sich auch wirklich alle Kosten in dieser Einheit
ausdrücken lassen. Das viel diskutierte Problem der Umrechnung von
qualifizierter in durchschnittliche Arbeit bietet prinzipiell für die normalen
Fälle nicht die oft vermuteten Schwierigkeiten. Qualifizierte Arbeit er-
scheint, zumal nach Brechung des Bildungsmonopols, als Kombination
durchschnittlicher Arbeit mit der aufgehäuften Arbeit, die in der Ausbil-
dung der Qualifikation investiert ist und die unter Annahme einer bestimm-
ten Ausnutzungsdauer der Qualifikation für bestimmte Zeiteinheiten
berechnet werden kann. Was die Naturleistungen anlangt, so scheint
uns die ricardianische Methode der Ausschaltung des Boden elementes aus
der Produktionskostenrechnung richtig zu sein. Gewiss ist auch in der
sozialistischen Wirtschaft der Grund und Boden für die Wahl der Stand-
ortsverteilung und der Intensität der Bodenbearbeitung von Belang. Aber
diese „Aufwände" lassen sich stets als Arbeitsersparnis berechnen, wenn
die Grenzkosten auf Arbeit reduziert werden können. In die Grenzkosten
J ) Hei mann, Kapitalismus und Sozialismus, S. 29. Vgl. auch: Sozialistische
Wirtscliafts- und Arbeitsordnung, S, 18.
■) a. a. O-, S. 25.
Zeitschrift für S" -äai Jorsohmig 1 11/2 j fj
242 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
aber gebt keine Aufwandsgrüsse für den Boden ein, solange eine weitere
Intensivierung überhaupt noch Mehr ertrage erbringt. Grössere und in
der Regel ganz übersehene Schwierigkeiten macht jedoch die Umrechnung
des Sachkapitals — der produzierten Produktionsmittel — in Arbeitsmen-
gen. Man kann das Sachkapital nicht einfach durch einen theoretischen
oder historischen Regressus in Arbeit „auflösen". Denn es ist nirgends
im Kreislauf eine Stelle anzutreffen, an der Arbeit ohne Unterstützung von
Maschinen (an deren Herstellung wieder Maschinen beteiligt sind) tätig
ist 1 ). Indessen ist unter gewissen Voraussetzungen, wenn auch keine
Auflösung, bei der jährliches Gesamtprodukt und Sozialprodukt gleichge-
setzt würden, so doch eine Umrechnung möglich : nämlich wenn man Stel-
len findet, an denen aus der Kombination eines Produktionsmittels (Ma-
schine, Saat, etc.) mit lebendiger Arbeit eine bestimmte Menge desselben
Produktionsmittels hervorgeht, so dass eine Aequivalenz zwischen einer
bestimmten Menge Arbeit und einer bestimmten Menge Produktionsmittel
herstellbar ist.
So bleibt schliesslich das Zinsproblem. Bereits in der heutigen
Wirtschaft ist der Zins, wie in strenger Deduktion nachgewiesen werden
kann, zur Erhaltung des Sachkapitalbestands nicht erforderlich ; dasselbe
gilt für den Fall einer sozialistischen Wirtschaft. Ein Problem entsteht
überhaupt erst bei der Erweiterung dieses Bestandes, sei es zur Erstellung
neuer Arbeitsplätze für zuwachsende oder freiwerdende Arbeiter, sei es
zum Zwecke der Durchführung kapitalbindender technischer Fortschritte,
sei es bei Übergang zur Konsumtion mehr kapitalintensiv erzeugter Pro-
dukte. Nehmen wir einmal an, für jeden Produktionsplan sei die Ko-
stenberechnung in Arbeitsstunden möglich, und überlegen wir, welche
Fragen bei einer Entscheidung der Zentralstelle, die den Kapitalbestand in
irgendeiner Weise betrifft, auftreten. Bei dieser Überlegung muss sich
zeigen, ob durch die Vernachlässigung des Zinses die Rationalität der
Planentscheidung leidet. Jede Vergrösser ung des Kapitalbestandes bedeu-
tet für eine bestimmte Zeit eine Einschränkung der bestehenden oder sonst
möglichen Versorgung. Es ist dies ein „Aufwand", der unmittelbar in
Arbeitsstunden berechnet werden kann : und zwar muss notwendig die
Summe der Produktionskosten des zusätzlichen Sachkapitals gleich sein
der Arbeitsmenge, investiert in jenen Konsumgütern, auf die während der
Aufbauzeit verzichtet werden muss. Desgleichen ist feststellbar, ob und
um wieviel die Produktion nach einer Umstellung ergiebiger geworden ist
(in Arbeitskosten je Stück). Die Entscheidung darüber, ob eine Auswei-
tung des Kapitalstocks erwünscht ist, beinhaltet nun die Abwägung der
Vorzüge der neuen Konsumversorgung gegenüber der alten und des Opfers,
das mit der vorübergehenden Absteuerung von Produktivkräften zur
Produktionsmittelherstellung verbunden ist. (Die Bindung von Produk-
tivkräften für die blosse Reproduktion des neuen Sachkapitals braucht
nicht zuzüglich veranschlagt zu werden, da voraussetzungsgemäss die
Gesamtversorgung bei gleichbleibender Arbeitszeit verbessert ist). Es
!) Vgl. Fritz Burchardt, Die Schemata des stationären Kreislaufes bei Böhm-
Bawerk und Marx, Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 34 Jena, 1931.
Zur Theorie der Planwirtschaft 243
ist klar, dass es sich hierbei um eine „Wohlfahrtsentscheidung" der Zen-
tralstelle handelt. Der psychologische Nutzen kann grundsätzlich nicht
berechnet werden, ebensowenig wie in der Marktwirtschaft. Aber die
Kostenrechnung kann auch im Verwaltungssozialismus einen quantitativen
Überblick geben über das Ausmass, in dem Aufwandseinheiten gebunden
oder freigesetzt, anderen Verwendungszwecken entzogen oder gewidmet
werden können. Dasselbe gilt dann, wenn die Einführung einer anderen
Produktionstechnik mit einer qualitativen Veränderung des Gesamtkon-
sums verknüpft ist. Man wird dann fragen und berechnen können, mit
welchem Arbeitsaufwand die neue Konsumkombination bei alter Technik
zu produzieren wäre und mit welchem bei neuer. Die Differenz zusammen
mit der Summe der Kapitalbildungskosten gibt genügenden Anhalt für die
Entscheidung. Die Kostenberechnung in der heutigen Wirtschaftsordnung
bietet grundsätzlich kein anderes und besseres Orientierungsmittel. Es
kann also auch in der Verwaltungswirtschaft festgestellt werden, ob und in
welchem Ausmass jeweils ein technischer Fortschritt vorliegt. Die Zen-
tralstelle hat nur noch über die Durchführung zu bestimmen. Spielt nun
bei diesen Wachstumsprozessen der Zins irgendeine Rolle ? Als Kosten-
bestandteil ist der Zins auch heute für die Durchsetzung und Lenkung
technischer Fortschritte nicht entscheidend. Er markiert jeweils nur eine
Untergrenze. Ebensowenig hat er in der kapitalistischen Marktwirtschaft
die „Funktion", die Kapitalien in einer dem Bedarf der Konsumenten
entsprechenden Weise auf die einzelnen Produktionszweige zu verteilen.
Vielmehr besorgt das schon die Kinetik der Marktpreise mit Gewinnen und
Verlusten. In der Verwaltungswirtschaft wird das von der Zentralstelle
direkt entschieden. Und wenn heute durch die Einrechnung von Zinsen in
den Produktionspreis die Nachfrage der Konsumenten nach kapitalintensiv
erzeugten Produkten und damit indirekt nach der „Kapitaldisposition"
beschränkt wird, so ist selbstverständlich auch diese Ausgleichsfunktion
im Verwaltungsplan schon mitenthalten.
Nun gibt es noch eine andere Funktion des Zinses, und hier stossen
wir in der Tat auf ein neues Problem rationaler Verwaltung; auch für
Zustände eines relativen Gleichgewichts muss man stets, wenn man nicht
die Erreichung eines höchstmöglichen technischen Standes ausdrücklich
unterstellt, eine ganze Reihe möglicher Produktionsmethoden annehmen,
die mehr oder weniger kapitalintensiv sind ; ihre Auswahl wird im Kapi-
talismus durch die jeweilige Höhe von Lohn und Zins, durch die relative
Knappheit von Arbeit und Kapital bestimmt. Diejenige Produktions-
methode wird angewandt, bei der die Netto grenzproduktivität des Kapitals
mit dem Zins identisch ist. Dahin drängt die Konkurrenz. Es kann hier
offen bleiben, ob sich dieser Mechanismus heute genügend durchsetzt.
Aber das damit aufgegebene Problem ist auch für die Verwaltungs Wirt-
schaft gestellt, wenn in den einzelnen Produktionszweigen gleichzeitig
mehrere verschieden kapitalintensive Produktionsmethoden möglich, also
die Produktionskoefflzienten variabel sind. Nehmen wir an, die Produk-
tion sauf gäbe sei hinsichtlich der Konsumgüter genau festgelegt ; dann kann
man für jedes einzelne Produkt eine ganze Reihe von Kombinationen von
Sachkapital und Arbeit angeben, mit denen die gewünschte Menge produ-
244 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
ziert werden könnte. Ist die verfügbare Gesamtarbeitsmenge bekannt, so
muss es eine bestimmte Verteilung der Arbeit auf die einzelnen Zweige
geben, bei der die Gesamtsumme des zusätzlich benötigten Kapitals ein
Minimum ist 1 ). Es ist nun zu fragen, ob die für diesen Kapitalbedarf etwa
benötigte Neukapitalbildung tragbar erscheint, und daraufhin ist die Pro-
duktionsaufgabe zu überprüfen. Man kann auch umgekehrt Konsumplan
und zur Verfügung stehende Kapitalmenge als gegeben annehmen und nach
dem Minimum an notwendiger lebendiger Arbeit fragen, oder endlich, wenn
Kapital und Arbeit gegeben sind, feststellen, welche möglichen Konsum-
kombinationen damit herstellbar wären, und aus diesen die am meisten
wünschenswerte auswählen. Ist die Entscheidung getroffen, dann ist
zugleich die Verteilung der Kapitalien bestimmt. Im allgemeinen wird
die Zentrale die bestehenden Möglichkeiten durch sukzessive Variierung
der drei Hauptelemente eingrenzen und dabei nicht stets von neuem die
Gesamtordnung in Frage stellen, sondern von einer gegebenen Basis aus
Zusatzprobleme entscheiden. Die Kostenrechnung mit Arbeitsmengen-
einheiten reicht also ohne besondere Zins Veranschlagung aus, um die
sparsamste Verteilung der Produktionsfakto/en zu bestimmen. Deren
Beschaffung selber ist dann ein Problem, dessen Lösung durch die Kosten-
rechnung erleichtert, aber grundsätzlich nur durch eine gleichzeitige Gesamt-
entscheidung über die Tragbarkeit der Aufwände und die Erwünschtheit
des Ergebnisses bewältigt werden kann. In der freien Marktwirtschaft
wird diese Entscheidung dem Willen vieler Einzelner überlassen, zum Teil
auch durch den Mechanismus des Marktes mehr oder minder kräftig
erzwungen. In der Verwaltungswirtschaft wird sie bewusst und von einer
Stelle getroffen. Darin liegt der Grundunterschied — nicht aber in der
grundsätzlichen Möglichkeit oder Unmöglichkeit formaler Rationalität der
Wirtschaftsrechnung.
Angesichts der üblichen Stellungnahme in der Literatur lag uns daran,
wenigstens die Denkbarkeit einer solchen Naturalrechnung zu betonen.
Natürlich hat diese Berechnung der Arbeitsaufwände grosse praktische
Schwierigkeiten, die das System recht schwerfällig gestalten würden.
Immerhin werden die meisten der für diese Rechnung erforderlichen Daten
auch bei jedem anderen Nat uralplan, ohne den selbst der Markt Sozialismus
nicht auskommt, benötigt 2 ).
*) Das Minimum an Gesain tkapitalauf wand bei Vollbeschäftigung ist dann gegeben,
wenn in keinem Produktionszweig die zusätzliche Einführung einer (kleinen) Kapital-
menge eine grössere Ersparnis an lebendiger Arbeit ermöglicht als in den anderen.
Man verteilt also Kapital und Arbeit nach dem Prinzip der gleichen Einsparungsrate,
jeweils bezogen auf den komplementären Faktor.
a) Es wurde bisher vorausgesetzt, dass im Verwaltungssozialismus nur mit „natu-
ralen", z. B. mit technischen Einheiten gerechnet werden kann, da es weder Markt
noch Preise gibt. Vielleicht ist aber auch ein reiner Verwaltungssozialismus mit
Konsumrationierung denkbar, in dem man mit Geltungsgrössen („Preisen") für Pro-
dukte und Produktionsfaktoren rechnet. Wenn man auch für die staatlichen Vertei-
lungsstellen Nachfragekurven aufstellen kann und eine bestimmte Wertsumme des
Volkseinkommens, weiter die gegebenen technischen Möglichkeiten sowie die Mengen
und Qualitäten der vorhandenen Produktionsfaktoren zugrunde legt, so könnte es
ebenso wie für die Fälle mit individueller Konsumfreiheit (und effektiven Konsum gü-
Zur Theorie der Planwirtschaft 245
Die wenigen neuen Probleme, welche die Systeme des modifizierten
Verivallungssozialisnms mit Arbeitszertifikaten unter dem Gesichtspunkt
der Kostenrechnung bieten, sind mit dem der fixen Preise überhaupt
identisch und sollen unten behandelt werden. Hier möge nur noch eine
Frage gestreift werden, die das spezielle Gebiet der Kostenrechnung schon
überschreitet, aber im Zusammenhang mit dem Problem der Zinsrechnung
steht. Der Zins hat, wie erwähnt, auch die Funktion, die Nachfrage nach
kapitalintensiv produzierten Gütern einzuschränken. Im Verwaltungs-
sozialismus geschieht das mit der Entscheidung über Konsumplan und
Kapitalbildung. Bei Arbeitsgeld aber kann die Zentrale ein Interesse
daran haben, die kapitalintensiven Konsumbedarfe niedrig zu halten, ohne
die Nachfrage wieder direkt zu rationieren oder den Zufall des Zuerst-
kommens bei knappgehaltenem Angebot entscheiden zu lassen. Bei
Preisbemessung nach den im Produkt enthaltenen Arbeitsmengen würden
die Konsumenten der mit relativ grossem Kapitalaufwand erzeugten Güter
gegenüber den anderen Konsumenten bevorzugt werden, da sie die Lasten
der Kapitalbildung zu einem un verhältnismässigen Teil auf diese anderen
abschieben könnten. Daraus lässt sich das Prinzip ableiten, auf die Preise
der Konsumgüter entsprechend der grösseren oder kleineren Kapitalin-
tensität sowohl der Konsumgüterproduktion selber wie der sie beliefernden
Produktionsmittelindustrien Auf schlage zu erheben. Bei diesem Aufschlag
handelt es sich aber keineswegs um einen Kostenfaktor, der in Rechnung
gestellt werden muss, sondern nur um eine von vielen Methoden zur Beein-
flussung der Bedarfs Verteilung. Daher fällt es auch nicht ins Gewicht,
dassfür diese Berechnung die Kapitalintensität der das Sachkapital für die
Produktionsmittelindustrien selber liefernden Industrien nicht berücksich-
tigt wird. Übrigens dürften auch im Marktsozialismus die besonders kapi-
talintensiven Konsumbedarfe nicht der freien Entscheidung des Einzelnen
überlassen bleiben, sondern irgendeinem Rationierungsprinzip zu unter-
werfen sein.
Die Probleme der marktsozialistischen Rechnung, die abstrakte
Kaufkraft und Rechnungseinheiten kennt, liegen auf einer ganz anderen
Ebene. Die Frage ist hier nicht, ob man rechnen kann, sondern ob die
Rechnung vollständig und richtig sein kann. Mises und Halm erklären
immer wieder, dass im Marktsozialismus eine Preisbildung der Produk-
tionsmittel unmöglich sei und dass sich daher auch der für richtige Kosten-
rechnung unentbehrliche Zins nicht herausbilden könne. Denn da das
Eigentum an Produktionsmitteln, also auch die Nachfrage danach, in einer
Hand konzentriert sei, könne von Markt und Marktpreis hier nicht
gesprochen werden. Mit Recht ist ihnen entgegnet worden, dass mit dem
Gemeineigentum an den Produktionsmitteln eine Dezentralisierung- der
Produktionseinheiten verträglich ist 1 ). Erzeugung von und Bedarf an
termärkten) ein eindeutig bestimmbares statisches System simultaner Gleichungen
geben. Hier wäre weder Markt noch Kaufkraft vorhanden. Es liegen Quasipreise
vor, die den Verrechnungspreisen im oben bezeichneten Sinne nahestehen. Praktisch
ist diese Möglichkeit wohl nur von geringem Belang.
*) Vgl. vor allem Heimann, Kapitalismus und Sozialismus, S. 19 ff. und 226 ff.
246 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
Produktionsmitteln sind dann getrennt ; es besteht ein echtes Marktver-
hältnis, bei dem sich Parteien gegenüberstehen, die gegensätzlich interes-
siert sind, da die Höhe der Leistungsziffern und vielleicht auch die Tan-
tiemen von einem möglichst vorteilhaften Kauf und Verkauf abhängig sind.
Auf das daran geknüpfte Zinsargument gehen wir erst später ein. An
dieser Stelle soll zunächst die Antikritik gegen die liberale Position noch
weitergeführt werden.
Max Weber, Mises und andere behaupten, dass man nur mit „echten"
Preisen rechnen könne. Als Grundvoraussetzung für die Bildung echter
Preise sehen sie den Marktkampf an. Es steht also die Möglichkeit und
Brauchbarkeit von Verrechnungspreisen zur Diskussion. Wäre es nun
nicht seltsam, wenn gerade ein Vertreter der Zurechnungstheorie wie Mises
eine Konzeption missbilligen sollte, die nur einen Konsumgütermarkt kennt
im übrigen aber lediglich auf dem Papier abgeleitete Verrechnungspreise ?
Man braucht nicht einmal wirklich marktmässig gebildete Löhne, um von
der Kostenseite her die Kostenfaktoren aufzurechnen. Denn das Prinzip
der blossen Verrechnung kann auch so weit getrieben werden, dass man
mit „marktrichtigen" Löhnen und Zinsen rechnet, aber die Einkommens-
gestaltung, die personelle Verteilung, völlig von der funktionellen los-
trennt 1 ). Allerdings setzen Verrechnungspreise voraus, dass es irgendwo
einen effektiven Markt gibt. Auf Grund einer umfassenden Berechnung
sowohl der Nachfrage- und Angebotselastizitäten wie der Zusammenhänge
zwischen den einzelnen Elementen der Bedarfs- und Kostenfaktoren müsste
es prinzipiell möglich sein, bei einer Störung auf der Nachfrage-oder
Angebotsseite die Bedingungen eines neuen (labilen oder stabilen) Gleich-
gewichts zu finden und entsprechend die Produktion so rasch wie möglich
umzustellen. Die praktischen Schwierigkeiten einer solchen Berechnung
dürften allerdings gross sein. Indessen würde unter den allgemeinen
Bedingungen der sozialistischen Wirtschaft (geringere Einkommensdiffe-
renzierung, Beherrschung der Wachstumsprozesse) die Aufgabe leichter und
gleichzeitig das statistisch erfassbare Material umfassender und durchsich-
tiger sein als heute 2 ).
Wir haben vorläufig noch angenommen, dass die Preise „marktrichtig' «
d. h. als Ergebnis der vorliegenden Knappheitsverhältnisse berechnet
worden seien. Es gilt aber auch zu prüfen, was es in einem materialen
Sinne mit dem Begriff der „echten", der „richtigen" Preise auf sich hat.
x ) Ebenda, S. 47 ; ganz ähnlich Dickinson.
2) Wir unterstellten im Text entsprechend der üblichen Auffassung, dass Markt-
Sozialismus und Geldpreisrechnung irgend einen effektiven Markt voraussetzen
Gewöhnlich werden Marktsozialismus und individuelle Konsumfreiheit eng mitei-
nander verkoppelt, so dass als Minimum das Bestehen von Konsumgütermärkten
betrachtet wird, auf denen sich die einzelnen Konsumenten und die staatlichen
Verteilungsstellen gegenüberstehen. Indessen kann die Marktzone auch zwischen
den Vcrteilungsstellen und den Produktionseinheiten liegen, bei rationierten oder
unrationierten üratisiieferungen an die Konsumenten. Gemäss unseren Ausführungen
gäbe es hier einen geschlossenen Kreislauf mit Nachfragemonopol des Staates
Dieses System könnte an beliebig vielen Stellen Märkte einschalten ; allerdings
müssten nicht nur Zinsen und Renten, sondern auch die Löhne an die staatliche
Zentralstelle abgeführt werden.
Zur Theorie der Planwirtschaft 247
Man versteht darunter gemeinhin die „frei" gebildeten Preise und setzt
diese den beweglichen Preisen der freien Konkurrenz gleich. Alle anderen
seien für die Kosten- und Erfolgsrechnung und demnach für rationale
Produktionsorientierung unbrauchbar. Offenbar können jedoch die ein-
zelnen Betriebe auch mit manipulierten Preisen, mit Monopolpreisen oder
Taxen (einschliesslich Steuern) rechnen. Aber wiederum : kann man
mit ihnen richtig rechnen ? Gegen die Monopolpreise wird ein doppelter
Vorwurf erhoben : sie seien erstens nicht eindeutig bestimmbar, und sie
seien zweitens nicht „wirtschaftliche" Preise, weil sie die Produktion in
eine „falsche" Richtung drängen und die wirtschaftspolitischen Entschei-
dungen irreführen. Auf diese Frage, mit der sich besonders Marschak
kritisch beschäftigt hat 1 ), ist hier nur kurz einzugehen, obwohl die
neuerdings stärker bearbeitete Problematik einer völlig monopolistisch
durchorganisierten Wirtschaft für die Theorie der Planwirtschaft recht
wichtig ist. Mag die Auseinandersetzung darüber, ob sich bei einer derart
organisierten Wirtschaft automatisch Tendenzen zu einem stabilen Gleich-
gewicht herausbildeten und durchsetzten, positiv oder negativ entschieden
werden, jedenfalls ist sicher, dass durch zusätzliche Regelungen einer Zen-
trale ein stabiles Gleichgewicht geschaffen werden kann. Auch die libe-
rale These, dass die Gesamtversorgung bei monopolistischer Regelung
notwendig geringer sei als bei freier Konkurrenz und dass darum eine mit
Monopolpreisen arbeitende sozialistische Wirtschaft die Versorgung ver-
schlechtern müsse, scheint uns theoretisch schwach begründet. Man kann
gegen die kapitalistischen Monopole solche und andere Einwände erheben.
Aber zwischen ihnen und den — man könnte sagen — formalen, instru-
mentalen Monopolen einer sozialistischen Planwirtschaft bestehen grosse
Unterschiede. Nicht notwendig müssen z. B. alle Monopole den grösstmög-
lichen Gewinn erstreben. Die sozialistischen könnten eindeutig auch an
das Grenzkostenprinzip gebunden werden.
Indessen gut die Kritik nicht einmal so sehr den Monopolpreisen als
vielmehr den eigentlichen Taxen. Für diese ist sowohl autoritäre Festset-
zung wie relative Starrheit gegenüber der Kinetik der Nachfrage und des
Produktionsausfalls wesentlich. Es wird eingewandt, dass die Zentral-
stelle zur Orientierung Preise nicht verwenden könne, die sie selber erst
künstlich festgesetzt habe und durch besondere Manipulationen zur Geltung
zu bringen versuche. Aber dieses Argument entfällt, wenn die Preisfixie-
rung nicht völlig willkürlich, sondern in Orientierung an die Bedarfswünsche
(Konsumgüterpreise) und unter Berücksichtigung aller sonstigen Knapp-
heitsdaten erfolgt. Die Befugnis der Zentrale, alle möglichen Preise, die
vielleicht untereinander ganz unvereinbar sind, festzusetzen und festzuhal-
ten, darf nicht zu dem Schluss verleiten, dass diese Möglichkeit sich tat-
sächlich durchsetzen müsse. Vielmehr ist für die einzelnen Produktions-
stufen und -zweige eine Fixierung der Preise nach den Kosten durchführbar.
Solche Kostenpreistaxen würden bei Veränderung der Preise der Kosten -
*) Vgl. Jakob Marschak, Wirtschaftsrechnung und Gemcurwirtschaft. Zur
Misesschen These von der Unmöglichkeit sozialistischer "Wirtschaftsrechnung. Archiv
für Sozialwissenschaft, Bd. 51.
248 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
faktoren natürlich verändert werden müssen. Es kommt nun alles darauf
an, dass diese Grundpreise nicht völlig „willkürlich" angesetzt werden.
Wenn das der Fall wäre, würde in aller Regel ein Ungleichgewicht im Sinne
einer Minderbeschäftigung des einen oder des anderen Produktionsfaktors
entstehen, selbst wenn die übrigen Preise nach dem Kostenprinzip aufgebaut
wären. Unter mehr oder minder grossen Reibungsverlusten müssten dann
Korrekturen erfolgen. Es ist aber eine ganz andere Lösung möglich ■
dass man nämlich die Mengenverhältnisse der zur Verfügung stehenden
Produktionsfaktoren mitreguliert, z. B. bei zu hohem Lohn und zu nie-
drigem Zins die Kapitalbildung bewusst forciert. Das heisst aber : bei
einer derartigen zentralen Konstituierung von Taxen (auch von Lohn-
und Zinstaxen) sind in Anpassung an die technischen und die Bedarfs-
strukturen auch die Produktionsmengen, mindestens aber das Mengenan-
gebot von Kapital und Arbeit, festzulegen 1 ). In diesem Fall macht man
keine Eingriffe in bestehende Knappheitsverhältnisse, sondern schafft
bewusst neue. Selbstverständlich darf eine solche Fixierung von Preisen
und Mengen nur eine gesamtplanwirtschaftlich orientierte sein. Man
kann dieses Ergebnis geradezu aus einer Kritik der heutigen Preismani-
pulaüonen, Valorisationen usw. ableiten. In der Tat ist gegenüber den
meisten gegenwärtig vorgenommenen Eingriffen zu sagen, dass sie will-
kürlich sind und Störungen nach sich ziehen. Aber das gilt, weil sie jeweils
nur partielle Gebiete betreffen und diese aus dem Kreislauf herausheben
wollen, weil sie niemals die Produktion wirklich erfassen, oder wenn sie es
zu tun versuchen, durch die individuellen Gewinninteressen sabotiert
werden.
Bei der relativen Starrheit der Taxen können sich die einzelnen Betriebe
hinsichtlich der Ausdehnung oder Einschränkung ihrer Produktion natür-
lich nicht an einer Preiskinetik orientieren ; aber sie sind darum nicht
notwendig richtungslos, weil die mengenmässigen Aufträge, eventuell
differenziert für verschiedene Preisstellungen, zur Orientierung durchaus
genügen. Ein Problem tritt nur bei der Konsumgüterindustrie auf, und
hier handelt es sich nicht eigentlich um ein Rechnungs-, sondern um ein
Anpassungsproblem. Wenn die Preise starr sind und eine Bedarfsverschie-
bung eintritt, dann fragt sich, wie die Nachfrage nach zu knappen Gütern
zu beschränken ist und wie der Mechanismus der Anpassung an diesen
Bedarf funktionieren kann. Man müsste schon die zu knappen Güter
vorübergehend rationieren oder den Zuerstkommenden ausliefern. Die
meisten Schwierigkeiten werden aber durch eine vernünftige Vorratspolitik
leicht zu beheben sein. Dabei hat die relative Starrheit von Preisen und
Produktion den Vorteil, dass sie vorübergehende Bedarfs Verschiebungen
mit den Reibungen einer mehr oder minder starken oscUlatorischen Kinetik
zu einem guten Teil auszuschalten erlaubt. Übrigens kann man in der
Konsumgutsphäre, d. h. bei den Auslieferungsstellen der Konsumgüter,
sehr wohl mit gewissen Aufschlägen und Abzügen von den Produktions-
l ) Vgl. den Artikel „Preistaxen" von L. Mises im Hw. d. Staatsw., 4 Aufl.
Bd. VI S. 1055 ff,, wo die Möglichkeit einer sozialistischen Taxwirtschaft zugegeben
wird.
v
lUttlt t
für i * *
'• » r \\ «J
Zur Theorie der Planwirtschaft 249
preisen arbeiten, wodurch der Absatz einer einmal produzierten Menge
gesichert und doch in der Produktionssphäre an dem Prinzip der Kosten-
preise festgehalten wird.
Der Nachweis der grundsätzlichen Möglichkeit einer Preisrechnung im
Marktsozialismus, der natürlich nicht die Forderung in sich schliesst, es
dürfe nur nach dem Kostenprinzip produziert werden, soll noch durch eine
kurze Bemerkung zum Zinsproblem ergänzt werden. Bisher haben wir
stillschweigend Zinsrechnung angenommen. Da diese ja nicht privaten
Zinsbezug bedeutet, ist an und für sich gegen eine solche Bechnung sowie
gegen die Zahlung von Zinsen an die staatliche Zentralbank nichts einzu-
wenden. Es fragt sich nur, ob sie notwendig ist, und, wenn ja, ob der
Zins einheitlich sein muss. Die erste Frage ist durch die Ausführungen
über den Verwaltungssozialismus noch keineswegs entschieden. Denn dort
war die Bestimmung der Produktionsaufgabe und der Höhe der Real-
kapitalbildung von einer Stelle aus zu erledigen. Hier aber konkurrieren
viele Betriebe und indirekt alle Konsumenten mit verschiedener Intensität
um die verfügbare Kapitaldisposition. Vom Standpunkt des Einzelnen
her gesehen wird daher der Zins — abgesehen vom Grenzfall der reinen
Statik — zu einem echten Kostenfaktor. Will man die Einschränkung
des Kapitalbedarfs nicht durch den Zins vornehmen, dann müsste man
wieder rationieren, also verwalten. Aber wir sehen keinen praktischen
Vorteil gegenüber einer generellen Zinsrechnung. Mit ihrer Befürwortung
ist nicht gesagt, dass eine Zinsdiskriminierung nicht möglich, erlaubt oder
rationell sein könnte. Die Methode der qualitativen Kreditpolitik, die im
„reinen Marktsozialismus" im Mittelpunkt steht, kann geradezu als eine
Abart diskriminativer Zinspolitik betrachtet werden 1 ).
2. Planmässigkeit.
Die vorhergehenden Erörterungen haben die engere Problematik der
Kostenrechnung gelegentlich schon überschritten und die aus der Kosten-
und Preisrechnung resultierenden Anpassungsprozesse gestreift. In der
Marktwirtschaft haben die Preise ausser ihrer Orientierungsfunktion tenden-
ziell auch die Wirkung, auf den verschiedensten Märkten Angebot und
Nachfrage mengenmässig auszugleichen. Die Frage der Planmässigkeit ist
nichts anderes als die Frage nach den Möglichkeiten, an allen erforderlichen
Stellen ein Gleichgewicht herzustellen und zu bewahren. Da die Erfahrung
gezeigt hat, dass weder die liberale noch die monopolkapitalistische Wirt-
schaft die partiellen Anpassungsprozesse zu einem generellen und dauern-
den Gleichgewicht hat zusammenordnen können, ist zu fragen, ob und auf
welche Weise einer mit unbedingter Verfügungsgewalt ausgestatteten Zen-
tralstelle der Ausgleich von Bedarf und Deckung, die Herstellung der Pro-
portionalität der einzelnen Produktionszweige und ihre zeitliche Aufein-
x ) Vgl. zur Zinsfrage im Sozialismus auch Maurice DobL, Russian Economic
Development since the Revolution, London, 1928, und neuerdings (davon abweichend)
a. a. O., S. 595 IT. D, begründet hier mit sehr schönen Argumenten Zinsdiskriminie-
rungen ; nur sieht er darin unnötigerweise eine Durchbrechung des Marktsozialismus.
250 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
anderstimmung gelingt. Zugrunde liegt überall ein Generalplan, der die
gesamte Wirtschaft umfasst. Die Unterscheidung von strengem Verwal-
tungssozialismus und allen anderen mehr oder weniger marktsozialistisch en
Typen bedeutet aber schon eine ■wichtige Modifikation dessen, was unter
Generalplan zu verstehen ist. Im reinen Verwaltungssozialismus ist der
Plan in seinem Gesamtumfang eine bindende direkte Norm. Bei den
übrigen Typen wird wenigstens ein Teil der Direktiven auf die Konsu-
menten delegiert. Der Plan enthält dadurch ein „stoehastisehes" Element :
es bestehen von vorneherein gewisse Spielräume. Die zentralen Eingriffe
müssen darum in einem besonderen Sinne elastisch sein. Das rahmen-
mässig geplante Gleichgewicht soll durch den mehr oder minder automa-
tischen Marktmechanismus nicht nur durchgesetzt, sondern zum Teil erst
inhaltlich bestimmt werden.
Betrachten wir unter dem Gesichtspunkt der Planmässigkeit zunächst
den Verwaltungssozialismus, so ist eigentlich aus der Gesamtkon-
struktion schon selbstverständlich, dass bei rationaler Planaufstellung,
ausreichender Kontrolle und Macht der Zentralstelle ernsthafte Störungen
kaum entstehen können. Partielle Kehlproduktionen sind durchaus
möglich, woraus Beschäfügungslosigkeit in Vor- und Nachstufen entspringen
kann. Aber derartige Fehler können nie eine Generalisierung erfahren -
sie lassen sich relativ leicht isolieren und durch neue Planung überwinden.
Zum Teil ist dies eine Frage der Elastizität des Planes, auf die bei der
ursprünglichen Planaufstellung Rücksicht zu nehmen wäre, und vor allem
eine Frage gewisser Reserven, die es in jeder Wirtschaft geben muss.
Natürlich gibt es auch im Verwaltungssozialismus wirkliche Gleichgewichts-
probleme. Man hat die Macht, bestimmte Umänderungsprozesse, die sich
im Marktsozialismus und noch hemmungsloser in der kapitalistischen
Marktwirtschaft durchsetzten, einfach zu verhindern. Aber wenn man
sich für eine Änderung entschliesst, dann treten analoge Probleme auf
wie in der Marktwirtschaft, nur die Mittel zu ihrer Bewältigung sind andere.
So muss bei Einführung arbeitsparender technischer Fortschritte auch im
Verwaltungssozialismus zugleich mit dem Bau der neuen Maschinen die
Arbeitsplatzausrüstung für die durch sie ersetzten Arbeiter beschafft wer-
den. Auch für den verwaltungssozialistischen Gesamtplan ist die ständige
Beschäftigung des einmal hergerichteten und noch nicht veralteten Appa-
rates der Dauergüterindustrien ein ernsthaftes Problem ; nicht minder der
moralische Verschluss des fixen Kapitals und anderes mehr.
Beim Marktsozialismus in seinen verschiedensten Formen ist wegen
der z. T. indirekten Methoden, der Dezentralisierung gewisser Produktions-
entscheidungen, prinzipiell eine grössere Störungsmöglichkeit gegeben.
Vielleicht kommt man am besten zu Feststellungen darüber, welche Pro-
zesse besonders gefährlich und welche planwirtschaftlichen direkten oder
indirekten Eingriffe demgemäss notwendig sind, wenn man von dem
Grenzfall einer in ihren Einheiten selbständigen Produktion ausgeht und
fragt, was die Zentrale tun muss, um die Planmässigkeit des Gesamtablaufs
zu sichern. Unter diesem Gesichtspunkt wären vor allem Bedarfsverschie-
bungen (originärer und abgeleiteter Natur), Schwankungen in der Produk-
tion der Rohstoffe (Ernteschwankungen), Wachstum der Bevölkerung
.
Zur Theorie der Planwirtschaft 251
Erfindung neuer Güter und besonders die Einführung technischer Fort-
schritte mannigfacher Art (arbeitsparende, kapitalsparende usw.) zu unter-
suchen. Die Störungen, die von der Konsumseite her eintreten können,
sollten nicht überschätzt werden. Die relative Egalisierung der Ein-
kommen im Sozialismus wird die Stabilität der Bedarfsrichtungen erheblich
fördern. Ferner haben viele Konsumgüter, zwischen denen der Bedarf
jeweils sehwankt, verwandte Vorproduktionen, so dass die Fernwirkungen
an einem früheren Punkte aufhören als bei Störungen, die von der Ange-
botsseite her nahezu alle Zweige und Stufen erfassen. Immerhin können
schon bei so einfachen Prozessen wie Nachfrageverschiebungen Kapital-
probleme auftreten, und es besteht dann die Gefahr von Überinvestitionen
in einzelnen Produktionszweigen. Daher könnte die Zentralstelle bereits
hier gezwungen sein, die Verfügung über die kinetischen Gewinne, den
Ausbau und Abbau bestimmter Produktionsstätten entweder in eigene
Hand zu nehmen oder doch streng zu überwachen.
Die entscheidenden Probleme ergeben sich erst bei der Regulierung
des Wachstums. Hier sind unter den Bedingungen der marktmässigen
Massenproduktion und der Kredit Wirtschaft selbst bei völlig rationalem
Verhalten der Einzelnen eine ganze Reihe von verschiedenartigen Dispro-
portionalitäten denkbar. Generelle Rezepte versagen hier naturgemäss.
So hat z. B. das Prinzip der „Kaufkrafthebung um jeden Preis" einen
viel begrenzteren Anwendungsbereich, als vielfach angenommen wird.
Prinzipiell wird in jedem Falle die Aufgabe darin bestehen, entweder
die Störungsprozesse ganz zu unterbinden oder ihre Generalisierung auf
die Gesamtwirtschaft unmöglich zu machen oder aber, was schliesslich auf
dasselbe hinausläuft, konterkarrierende Prozesse in Gang zu setzen. Um
das unseres Er achtens wichtigste, schon beim Verwaltungssozialismus
erwähnte Beispiel anzuführen : arbeitsparende technische Fortschritte
setzen Arbeiter frei, so dass die Ordnung des Gesamtgefüges von der Ein-
kommensseite her gefährdet wird. Die rechtzeitige Überleitung der frei-
gesetzten Arbeiter auf neue Arbeitsplätze ist, wie die reifsten Darstel-
lungen der Freisetzungstheorie zeigen, keineswegs das Ergebnis eines
automatischen Anpassungsprozesses durch Freisetzung von Konsumen-
tenkaufkraft, sondern eine Frage der Kapitalbildung, der Herstellung
eines zusätzlichen Kapitalstocks, an dem die freigewordenen Arbei-
ter wieder beschäftigt werden können 1 ). Nur durch Zufall entsprechen
sich jeweils, wenn nicht besondere Regelungen getroffen werden, Kapital-
bildung und Kapitalbedarf ; auch der Zins hat keine genügende regulie-
rende Kraft. Die Planzentrale wird also von vornherein den mit einem
technischen Fortschritt nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar
verbundenen Kapitalbedarf veranschlagen und danach die Durchführung
der Fortschritte, die sich heute massieren und auf bestimmte Konjunktur-
phasen konzentrieren, zeitlich je nach den Kapitalbildungsmöglichkeiten
x ) Alfred Kahler, Die Theorie der Arbciterfreisetzung durch die Maschine, Leipzig,
1933; Hans Neisser, Lohnhöhe und Beschäftigungsgrad im Marktgleichgewi cht,
Weltwirtschaftliches Archiv, Oktober, 1932, S. 415 ff. ; eine kurze Zusammenfassung
findet sich auch hei Heim an n, Sozialistische Wirtschaftsordnung usw., S, 30 ff.
252 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
verteilen müssen. Die anti/.ipatorische Bereitstellung zusätzlicher Arbeits-
plätze erfordert dabei stets auch eine Übersicht über die beim neuen Stand
der Versorgung wahrscheinlichen bezw. möglichen privaten und öffentli-
chen Bedarfe. Selbstverständlich kommt für die Anpassung an technische
Fortschritte prinzipiell auch eine Verkürzung der Arbeitszeit in Frage,
Da sich eine solche aber kaum auf einige wenige Industrien beschränken
lässt und da andererseits jede generelle Arbeitszeitregel ung mannigfaltige
Umstellungen in den Arbeitsprozessen wie in der Zusammensetzung der
Produktion voraussetzt, wird dieser Ausweg keineswegs immer zu beschrei-
ten sein.
Mit welchen Mitteln kann die Zentrale diese und mannigfache andere
Aufgaben der Wachstumsregulierung planmässig bewältigen ? Nach den
Vorschlägen des „reinen Marktsozialismus" soll alles Wesentliche durch
das Kreditmonopol der Zentralbank, die der Planstelle als Exekutive dient,
geleistet werden. Der Terminus Kredit oder Kreditpolitik ist hier im wei-
testen Sinne aufzufassen. Gemeint ist die quantitative und qualitative
Leitung der Investitionstätigkeit, deren ungeordneter Gang heute die
entscheidenden Störungen verursacht. Wir haben oben gezeigt, dass eine
solche Wachstumsregelung von einer Kreditzentrale her bei privater Kapi-
talbildung und Kapital Verfügungsmacht auf unüberwindbare Schwierigkei-
ten stösst. Aus dieser Kritik sind bestimmte Konsequenzen für ein sozia-
listisches Kreditmonopol zu ziehen. Grundsätzlich müsste die Verfügung
über die Kostenüberschüsse (wovon gewisse Leistungsprämien abzuziehen
sind) den Produktionseinheiten des Marktsozialismus entzogen und der
Zentrale unterstellt sein. Trotzdem könnten natürlich bei der Verteilung
der Anlage- und Betriebskapitalien diejenigen Produktionszweige und
Betriebe, in denen sich besondere Überschüsse ergeben haben, vornehmlich
berücksichtigt werden, und es wäre wohl auch unbedenklich, den Betrieben
einen gewissen finanziellen Spielraum für kleinere Verbesserungen des
Arbeitsprozesses zu geben. Aber die eigentliche Investition dürfte niemals
ohne Mitwirkung der Zentrale erfolgen. Dabei ist es relativ gleichgültig
ob die Planstelle selbst die Anlagen bauen lässt und sie dann einer Arbeits!
gruppe in Regie überlässt oder ob sie dieser die notwendigen Investitions-
kredite zur Verfügung stellt. Immer aber ist Produktionskontrolle not-
wendig. In wichtigen Fallen wird man von selbst zu einer Fixierung von
Mengen und Preisen gedrängt. Wird die Anlagetätigkeit der Zentrale
überantwortet, so ist für Veränderungen der Produktionsmengen durch die
Betriebseinheiten, sofern das Prinzip möglichst niedriger Produktionskosten
innegehalten wird, nur eine ziemlich geringe Spanne gegeben. Es wird
nun zu erproben sein, in welchem Ausmass eine direkte Lenkung notwendig
und in welchem eine bloss indirekte ausreichend ist. So oder so wird die
Regelung umso starrer sein müssen, je mehr man zu den Grundindustrien
(einschliesslich der Maschinenindustrie) vorstösst. Zweckmässigerweise
wären hier wenigstens die Hauptzweige straff monopolistisch zu organisie-
ren. Die Monopole müssten in ihrem eigenen Bereich eine gewisse Lei-
stungskonkurrenz der Betriebe gewährleisten, aber die Zentralstelle hätte
nur noch mit den grossen Einheiten zu verkehren, deren InvestitionspoÜtik
und Marktverbindungen zu überwachen und direkt oder indirekt Zu
Zur Theorie der Planwirtschaft 253
regulieren. In der Regel müssten die Monopole gehalten sein, nach
Grenzkosten zu kalkulieren. Der Zentrale steht es frei, aus konjunktur- und
sozialpolitischen Gründen Subventionen oder Belastungen zu verfügen. Ein
Unterfall davon ist die oben erwähnte Zinsdiskrimination. Die notwendi-
gerweise sehr straffe Investitionskontrolle (die in wichtigen Fällen auch über
die Reinvestierung der Amortisationssiimmen mitentscheiden müsste)
braucht dabei keineswegs in der Form eines Befehls zu erfolgen. Oft wird
ein Druck mit marktmässigen indirekten Mitteln genügen, eine bewusste
Veränderung der Daten, die die rational wirtschaftenden Produktionsein-
heiten in ihrem Verhalten determinieren.
Die Befugnisse der Zentrale werden also grösser sein müssen, als es im
allgemeinen den Vertretern des reinen Marktsozialismus vorschwebt. Die
Planungsprobleme der Taxwirtschaft sind in früherem Zusammenhang
schon behandelt worden. So bleibt nur noch übrig, gegenüber den
radikalen Vertretern des Verwaltungssozialismus die Planmässigkeits-
funktion der eingebauten Marktprozesse anzudeuten. Der kapitalisti-
sche Marktverkehr führt zu Fehlproduktionen, zahllosen partiellen und
generellen Krisen und „wastes in industry". Aber die Kritik trifft im
Grunde gar nicht den Marktprozess selber, sondern die kapitalistischen
Bedingungen, unter denen er heute abläuft. Durch das Gegenspiel der
Marktparteien, durch die Kommunikation aller Märkte, sowohl von der
Seite der Einkommensverausgabung wie von der Seite der Produktions-
faktoren her, sind in der Marktwirtschaft immer starke Gleichgewichtskräfte
wirksam. Die Schwierigkeit entsteht selbst bei freier Konkurrenz dadurch,
dass manche Störungen nicht durch blosse statische Anpassungsvorgänge
bewältigt werden, sondern Entwicklungsprozesse notwendig sind, die
unter kapitalistischen Voraussetzungen nicht automatisch in der richti-
gen Richtung, Schnelligkeit und Grösse erfolgen. Bei Gemeineigentum
an den Produktionsmitteln lassen sich aber Elemente einbauen, die die
Gleichgewichtigkeit des Marktablaufs verstärken bezw. erst gewährleisten,
z. B. Öffentliche Kapitalbildung und qualitative Kreditpolitik 1 ). Eine
vorsichtig eingeschränkte indirekte Regelung, also Dezentralisierung be-
stimmter Befugnisse, ist überdies technisch auch insofern zweckmässig, als
sie vor bürokratischer Überlastung der Zentrale bewahrt und als die Regu-
lierungen (sogar bei dem etwas komplizierteren Fall des Taxsozialismus)
prompter und gleichzeitig umfassender erfolgen können. Sonderregelungen
für einzelne Produktionszweige werden, wenn Preise und Kosten markt-
mässig bekannt sind, behutsamer vorgenommen, wodurch die Sachlichkeit
der Entscheidungen gegenüber den Ansprüchen der verschiedenen Gruppen
gefördert werden kann.
Im ganzen dürften die Unterschiede zwischen Markt- und Verwaltungs-
sozialismus hinsichtlich der Planmässigkeit relativ gering sein. Inhaltlich
*) Ganz generell versucht man, die „Daten" des Marktes besser aufeinander abzu-
stimmen. Darunter ist allerdings gegebenenfalls auch die Form des Marktzusainmen-
hanges selbst mitzuverstehen. Bestimmte Daten-Kombinationen sind unter Umstän-
den nur bei Veränderung auch der „Mechanismen" (Versteifung oder Auflockerung)
möglich.
254 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
sind die Probleme grösstenteils dieselben. Den verschiedenen Methoden
sind spezifische Vor- und Nachteile eigen. Aber in jedem Fall kann unter
sozialistischen Voraussetzungen das Gleichgewicht des Wirtschaftsprozesses
gesichert werden.
3. Produktivität.
Mit der Rechenhaftigkeit und Planmässigkeit der sozialistischen Wirt-
schaft ist zugleich auch ihre „Produktivität" im wesentlichen gesichert
Der Sozialismus hätte unter dem Gesichtspunkt mengenmässiger Ergie-
bigkeit gegenüber der heutigen Ordnung mit ihren grossen Fehlproduk-
tionen auch dann noch einen Vorsprung, wenn man die planwirtschaftüchen
Verwaltungskosten (Bürokratie) nicht gering veranschlagte und sich das
Tempo des intensiven Wachstums der Wirtschaft (kraft technischer Fort-
schritte) etwas verlangsamt dächte. Von einer Belastung durch die sozia-
listische Bürokratie sollte man indessen nie auf dem Hintergrund einer
liberalen, sondern der heutigen, weitgehend bürokratisierten monopolka
pitalistischen Ordnung sprechen. Die objektiven Chancen einer Ste!
gerung der Ergiebigkeit liegen in vieler Hinsicht, auch abgesehen von der
Krisenvermeidung, im Sozialismus günstiger als in der gegenwärtigen
Wirtschaft. Es besteht grössere Freiheit bei der Bestimmung der optima
len Betriebsgrosse und der Wahl der Standorte. Die relative Egalisierurie
der Einkommen fördert die Massenproduktion und zwar nicht nur im rei-
nen Verwaltungssozialismus, sondern praktisch auch im Marktsozialismus
zumal wenn die Einebnung der Einkommensunterschiede durch Preisdis-
kriminierungen bei den Konsumgütern verstärkt wird. Entscheidend ist
natürlich die Frage der technischen Fortschritte, deren Regulierung i m
Mittelpunkt stehen soll. Liberale Autoren pflegen von einer Wahl zu
sprechen, die zwischen Fortschritt und kapitalistischer Dynamik einerseits
und Stetigkeit der Versorgung und Beschäftigung andererseits zu treffen
sei. Indessen kann die Erfindertätigkeit durchaus von ihren kapitali-
stischen Antrieben losgelöst werden. Und die Lenkung der ökonomisch-
technischen Fortschritte bedeutet nicht ihre Bremsung, sondern nur eine
zeitliche Verteilung, bei der das Durchschnittstempo der für den Konsum
nutzbar zu machenden Rationalisierungen eher grösser sein wird als heute
Schliesslich ist die Produktivität des Systems abhängig von den Leistungsan-
tneben der an der Produktion ummittelbar Beteiligten. Den Betriebslei-
tern wird wohl ein gewisses Mass von Freiheit und Unabhängigkeit
gegenüber der Zentrale eingeräumt werden müssen. Auf sie wie auf
die Betriebsangehörigen wird man sowohl dureh Ehrungen wie durch
Tantiemen, Prämien einwirken können. Einer derartigen Differenzierung
der Einkommen steht prinzipiell nichts im Wege. Sie ist sowohl im
Verwaltungssozialismus wie im Marktsozialismus durchführbar Auf
längere Sicht ist die Produktivitätssteigerung ein Problem der Erziehun*
der richtigen Berufsauslese und Vorbildung. Bei Fortfall des Bildnngs'
monopols ist hier eine bessere Regelung möglich als unter den gegenwärti-
gen Bedingungen.
Zur Theorie der Planwirtschaft 255
4. Konsumfreiheit.
Aus dem Kreis der teils ökonomischen, teils sozialpsychologischen
Probleme, die mit der Forderung des Sozialismus, nicht bloss eine ergie-
bigere, sondern auch eine freiere und gerechtere Ordnung zu verwirklichen,
gegeben sind, greifen wir zunächst die oft diskutierte Frage der Konsum-
freiheit heraus.
Um Missverständnisse zu vermeiden, wird man hier einige Unterschei-
dungen treffen müssen. Unter formaler Konsumfreiheit haben wir
schon im vorhergehenden das Recht des einzelnen Konsumenten ver-
standen, ein bestimmtes Geldeinkommen nach Belieben für diese oder jene
Güter auszugeben. Dieses Prinzip ist eng mit dem Bestehen von Märkten
und Preisen verbunden. Je nach den Preisrelationen wird bei gegebenem
Einkommen von dem betreffenden Konsumenten eine verschiedene Kombi-
nation von Waren bzw. Diensten gekauft werden. Die formale Konsum-
freiheit kann auf zweierlei Weise modifiziert werden : direkt und indirekt,
durch Einschränkung ihres potentiellen Geltungsbereichs und durch
Einschränkung ihrer faktischen Geltung. Die direkte Modifikation bzw.
Aufhebung erfolgt durch eine autoritäre Rationierung und Zuweisung der
Konsummengen, wie sie etwa im reinen Verwaltungssozialismus vorgesehen
ist. In der Marktwirtschaft findet eine indirekte Determinierung der
Ausgabengestaltung durch eine Beeinflussung der den Kaufentscheidungen
zugrundeliegenden individuellen Bedarfsordnungen statt, so dass die for-
male Konsumfreiheit nur noch eine „formale" (im wertbetonten Sinne
des Wortes) ist. Der Terminus Konsumfreiheit wird in einem ganz
anderen Sinne gebraucht, wenn man darunter nicht nur die Befugnis
versteht, in den durch das Einkommen gegebenen Grenzen die Dring-
lichkeit der Bedarfe zu ordnen und demgemäss effektive Nachfrage aus-
zuüben, sondern die Freiheit von jenen Grenzen, die Macht zur Bedarfs-
deckung selber. Dieser Begriff der materialen Konsumfreiheit bezieht
sich also auf den Stand der Versorgung, sei es des einzelnen, sei es der
Gesamtheit 1 ). Von liberaler Seite wird zwischen formaler und materialer
Konsumfreiheit gewöhnlich eine sehr enge Verbindung hergestellt. Man
sagt, das Höchstmass an Versorgung des Einzelnen und bei gegebener
Einkommensverteilung auch der Gesamtheit sei bedingt nicht nur durch
die Freiheit der Produktion, sondern auch des Konsums. Im Sozialismus
aber sei (formale) Konsumfreiheit unmöglich und schon darum auch die
rnateriale Konsumfreiheit ausserordentlich begrenzt. Diese Doktrin ist in
ihren beiden Hauptbestandteilen falsch.
Sie ist in ihren theoretischen Voraussetzungen unhaltbar oder zumindest
wertlos, sofern das übliche Maximumtheorem das Bestehen der gegenwär-
tigen Besitz-, Einkommens- und überhaupt Wirtschaftsordnung nicht in
Frage stellt. Auch die Tatsachen widerlegen sie : jedermann sieht, dass
mit der recht eingeschränkten, oft sogar verfälschten formalen Konsum-
*) Diese Unterscheidungen finden eine genaue Entsprechung in den Begriffen, die
die Problematik der politischen Demokratie zu fassen erlauben.
256 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
freiheit material für grosse Massen eine starke Unsicherheit und Mangel-
haftigkeit der Versorgung verknüpft ist. Andererseits glauben wir gezeigt
zu haben, dass im Sozialismus sowohl formale Konsumfreiheit möglich ist
wie auch, ganz unabhängig von den Verteilungs-formen, für die grosse
Mehrzahl eine erhebliche Steigerung der materialen Konsumfreiheit dank
einer Fehlproduktionen und Krisen vermeidenden Wirtschaftsplanung.
Es handelt sich also hier nur noch darum, die Vor- und Kachteile der
verschiedenen formalen Prinzipien, Konsumfreiheit oder Rationierune
in einer sozialistischen Gesamtordnung zu erwägen. Liesse sich nur bei
Rationierung der Massenkonsum und damit die Massenproduktion d h
aber die Gesamtergiebigkeit der Wirtschaft erheblich steigern und die
Planmässigkeit des Wirtschaftsprozesses sichern, dann bestünde wenig
stens für die von uns behandelte „erste Phase" eine Spannung zwischen
formalem Zwang und materialer Freiheit, Indessen, auch im Arbeitsgeld-
und im Marktsozialismus ist Krisenverhinderung möglich, und auch hier
wurden sich infolge der relativen Egalisierung der Einkommen für die
wichtigsten Konsumgüter soziale Bedarfsnormen (d. h. eine legitime indi
rekte Determinierung der Konsumwahl) durchsetzen, die eine Ausweitune
der Massenproduktion über das heutige Mass hinaus erlauben. Neben
diesen Produktivitätserwägungen handelt es sich aber auch um ein sozial
psychologisches Problem. Wir wissen zwar nicht, ob in der sozialistischen
Gemeinwirtschaft auf die Dauer das Verlangen nach individueller Freiheit
der Konsumwahl erhalten bliebe. Aber jedenfalls wird für absehbare
Zeit und mindestens im Bereich des über die blosse Existenzsicheruna
hinauszielenden kulturellen Bedarfs, der ja gerade im Sozialismus geför-
dert werden soll, die formale Konsumfreiheit für viele einen positiven Wert
darstellen 1 ). Dass die privaten Konsumentenwünsche immer auf das
individuell und gesamtwirtschaftlich Richtigste abzielen und darum sakro-
sankt seien, ist allerdings nur ein liberales Dogma. Aber zur Vermeidung
von psychologischen Reibungen wäre vermutlich auf lange Zeit eine Dele-
gierung der Bedarfsentscheidungen auf die einzelnen Konsumenten am
zweckmässigsten. Sie sollte nur soweit eingeschränkt werden, als Plan-
mässigkeit und Ergiebigkeit der Produktion es dringend erfordern 2 ).
5.' Einkommensordnung.
Neben der inhaltlichen Zusammensetzung des Realeinkommens ist die
Bildung und Höhe des Einkommens ein wichtiger Gegenstand des soziali-
stischen Wirtschafts- und Sozialplans. Wir wollen im folgenden vornehmlich
>) Generelle Rationierung könnte unter Umständen eine Steigerung von wealth«
aber eine Minderung von „welfare" gegenüber anderen Lösungen bedeuten Vom
Graüspnnzip ist im Text abgesehen. Es kann in der hier behandelten ^ Phase n™
ausnahmsweise zur Geltung kommen. ^
») Ausserdem setzen Preisrechnung und a fortiori Markt (abgesehen von den
früher erwähnten Grenzfällen) freie Einkommensverwendung der einzelnen Konsu
menten voraus. Sofern durch Marktpreisrechnung die Rationalitat der Wirtschafts
führung gesteigert werden kann, fördert die formale zugleich die materiale Konsum"
freiheit.
Zur Theorie der Planwirtschaft 257
nur die Möglichkeiten und Konsequenzen der in Frage kommenden Lösun-
gen erörtern. Wiederum ist zwischen dem formalen Prozess der Einkom-
mensbildung und dem inhaltlichen Prinzip der Einkommensbemessung zu
unterscheiden. In formaler Hinsicht kann entweder marktmässige
Einkommensbüdung oder autoritäre Zuweisung erfolgen. Letztere ist
immer im Verwaltungssozialismus gegeben, aber auch mit einem modi-
fizierten Marktsozialismus vereinbar, wo zwischen knappheitsorientierter
Lohnkostenrechnung und Arbeitereinkommen, zwischen funktioneller und
personeller Verteilung grosse Differenzen bestehen können. Während die
marktmässigen Einkommen notwendig in Kaufkraft gegeben werden, kann
das diktierte Einkommen sowohl in Naturalform wie in Geldform (inclu-
sive Arbeitsgeld) zuf Hessen. Mit diesen formalen Möglichkeiten sind ganz
verschiedene Normen für die Bemessung der Lohnhöhe verträglich. Man
kann zunächst — generelle Arbeitspflicht vorausgesetzt — die Wahl des
Berufs und des Arbeitsplatzes völlig frei lassen und auf dieser Grundlage
marktmässige Löhne (mit oder ohne Gewerkschaften) sich bilden lassen 1 ).
Die Arbeiter verteilten sich auf diese Weise ziemlich automatisch ent-
sprechend dem Bedarf auf die einzelnen Produktionszweige. Die markt-
mässige Einkommensbildung lässt natürlich gewisse Lohndifi erenzen entste-
hen. Aber auch hier wird eine relativ egalitäre Einkommensverteilung das
Ergebnis sein, wenn es gelingt, die Berufs Vorbildung bezw. Umschulung
dem Arbeitsbedarf und seinen Wandlungen anzupassen, wobei vorausge-
setzt wird, dass Herstellung von Arbeitsplätzen rechtzeitig erfolgt. Nur
eine Grenze der Egalisier ung gäbe es : die „disutility" der einzelnen
Berufe ist verschieden gross ; man muss daher lästige Arbeiten durch
höhere Löhne entgelten. Dieser Faktor setzt sich bei Marktlohnbil-
dung von selbst durch, er ist aber auch in den zusätzlichen bezw. das
Knappheitsprinzip ersetzenden Lohnbestimmungsnormen, vor allem im
„Leistungsprinzip", enthalten. Was nun die autoritäre Lohnbildung
angeht, so kann diese die Lohnhöhe so bemessen, als ob es Arbeitsmarkt
gäbe. Dies ist sowohl bei den berechneten Löhnen möglich wie auch bei
den Lohntaxen, wenn nämlich unserem allgemeinen Taxprinzip entspre-
chend zugleich die Mengen der verschiedenen Arbeitsqualitäten reguliert
werden. Sofern die sozialistische Lohnpolitik auch die individuelle Lohnbe-
messung regelt, muss sie sich entweder am Leistungs- oder am Bedürfnis-
prinzip orientieren. Das Leistungsprinzip, das im Grunde im Knappheits-
oder Grenzpro duktivitätsprinzip enthalten ist, wird überall dort vertreten,
wo man Akkordlöhne, Tantiemen usw. im Interesse der Produktions-
steigerung für notwendig hält. Es ist aber auch schon da akzeptiert, wo
man das Arbeitseinkommen nach der Menge der geleisteten Arbeit bemisst,
also vor allem im System des sozialistischen Arbeitsgeldes. Gewiss Hesse
sich die Gesamtsumme der Arbeitszertifikate der geleisteten Gesamtarbeit
gleichsetzen, ihre Verteilung auf die einzelnen Einkommensbezieher aber
völlig von der Leistung loslösen. Tatsächlich sind jedoch die meisten
i) Es ist wohl klar, dass marktmassige Lohnbildung im Sozialismus noch keineswegs
eine Fixierung des Lohnes auf derjenigen Höhe bedeutet, die zur Reproduktion der
Arbeitskraft gerade noch ausreicht.
Zeitschrift für Sozialforschun? III/2 ,_
258 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
Arbeitsgeldkonzeptionen mit einem Aequivalenzprinzip hinsichtlich Lei-
stung und Entgelt (unter Berücksichtigung der notwendigen Sozialabzüge)
verbunden worden. Überhaupt scheint der Gedanke des Arbeitsgeldes an
einer bestimmten Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit orientiert zu
sein, die man wenigstens für die erste nachbürgerliche Phase des Sozialis-
mus für adaequat erachtet, während das Bedürfnisprinzip erst später in
Kraft treten soll. Die Gründe für diese Entscheidung scheinen uns durch-
schlagend. Eine Verteilung nach dem Bedürfnisprinzip, z. B. eine prin-
zipiell egalitäre, müsste bei einer gegebenen und nur langsam zu wandelnden
Arbeitsmoral mit den Anforderungen grösstmöglicher Effizienz der Arbeit
ernstlich in Konflikt geraten 1 ). Jedoch ist eine teilweise Berücksichtigung
des Bedürfnisprinzips sowohl bei der Nominallohnbemessung wie bei der
Realeinkommenspolitik (durch monopolistische Preisdiskriminierungen)
möglich. Man kann darin umso weiter gehen, je mehr die Versorgung steigt
und ver stetigt wird. Im übrigen stehen im Sozialismus dem Arbeitenden
nicht nur die marktmässig oder sonstwie bestimmten Arbeitseinkommen
zur Verfügung, sondern das gesamte Volkseinkommen (abzüglich der für
Kapitalbildung, Verwaltung, Reserven usw. bestimmten Fonds), d. h. auch
ein Teil derjenigen Überschüsse, die wenigstens im Marktsozialismus rechen-
mässig als Rente und Zins von den einzelnen Betrieben an die Zentrale
abgeführt werden.
Damit sind die wesentlichsten ökonomischen Probleme der sozialisti-
schen Planwirtschaft umrissen. Wir haben uns ferner bemüht, den
verschiedenen Typen, die man oft in einer ziemlich einseitigen Weise
einander entgegensetzt, gerecht zu werden, indem wir versuchten, die innere
I Konsequenz eines jeden einzelnen herauszusarbeiten. Je nach den Voraus-
setzungen kann der eine oder der andere Typus unter dem Gesichtspunkt
der Ergiebigkeit, der Stabilität und der Entwicklung zur höheren Phase hin
verschieden zweckmässig sein. Anwendbar sind sie prinzipiell alle. Unter
den heutigen Bedingungen scheint uns ein modifizierter Marktsozialismus
die geringsten Schwierigkeiten zu bieten : grundsätzlich Monopole und
Leistungslöhne, partiell Einbau von Taxen, Verrechnungspreisen und
Rationierung des Bedarfs an Dauerkonsumgütern (Wohnungen usw.).
Wenn über diese mehr „technischen" Fragen einigermassen Klarheit
geschaffen ist, wird es umso notwendiger, auf einige politische Probleme und
Voraussetzungen einer sozialistischen Wirtschaft hinzuweisen. Hier liegen
heute die eigentlichen Gegensätze.
*) Dies gilt auch gegenüber H. St. Jevons, Equality in the Cooperative Common
Wealth, London, 1933. J. s Hauptargument für egalitären Kommunismus ist, dass
die Verschiedenheit der Arbeitseinkommen zu dauernden und gefährlichen Rivalitäten
führen müsse. Seine Befürchtungen müssen aber entsprechend auch für seine eigene
Lösung Anwendung finden. Indessen können derartige Spannungen kaum das Sy-
stem gefährden.
Zur Theorie der Planwirtschaft 259
HI. Sozialismus und Privateigentum.
Die Entwürfe einer sozialistischen Wirtschafts- und Sozialordnung
unterscheiden sich sehr erheblich nach dem Umfang, in dem die Soziali-
sierung der Produktionsmittel vorgesehen wird. Wir fragen, zunächst unter
Vernachlässigung der Durchsetzungs- und Anfangsprobleme, ob die öko-
nomische und vor allem auch politische Stabilität der sozialistischen Ord-
nung durch Konzessionen an das Privateigentum bedroht wird. Solche
programmatischen Konzessionen pflegt man heute als besonders „reali-
stisch" hinzustellen. Es gäbe dann also im Sozialismus — nicht nur in
der Übergangswirtschaft — ausser den Arbeitern, Angestellten, Beamten
und Betriebsleitern noch eine Schicht von selbständigen Unternehmern und
Handwerkern, von Bauern und sonstigem Kleinbürgertum mit Eigenbe-
sitz 1 ). Dass die Zulassung grösserer Unternehmerschichten — etwa aller
bisher nicht monopolistischen Klein- und Mittelunternehmer — im Sozia-
lismus unmöglich ist, dürfte von vorneherein feststehen. Die Planzentrale
könnte ihnen gegenüber ihre Politik kaum oder nur mit grossen Schwie-
rigkeiten durchsetzen. Die Sozialisierung der Banken, der Rohstoff-,
Kraft- und Transportindustrien reicht noch keineswegs aus, um die
Ausweich- und Sabotagemögliehkeiten genügend einzudämmen. Ausser-
dem lässt man eine Schicht bestehen, die, von weiteren Sozialisierungs-
aktionen ständig bedroht, alles daran setzen muss, sich durch offenen
und versteckten Angriff zu schützen, eine Schicht, die durch die Verfü-
gung über Sach- und Geldkapital auch politische Macht besitzt, selbst
wenn eine Arbeiterregierung am Ruder ist. Gewöhnlich wird daher
die Forderung, eine Sphäre mit Privateigentum zu erhalten (wenigstens
für den echten „Sozialismus") auf das sogenannte Arbeits- oder Klein-
eigentum eingeschränkt, auf alle jene Fälle also, wo das Eigentum
sich nur auf den eigenen Arbeitsplatz erstreckt und keine Ausbeutung
fremder Arbeitskräfte stattfindet. Vor allem ist dabei an Bauern und
Handwerker gedacht, Schichten, die in den grossen Ländern heute noch
Millionen von Menschen umfassen 2 ). Selbst diese Lösung ist — zumindest
auf die Dauer — bedenklich und zwar schon z. T. aus ökonomischen
Gründen. Zunächst geht der Streit um die technische Notwendigkeit
bezw. Überlegenheit von Kleinbetrieben besonders in der landwirtschaft-
lichen Veredelungs Wirtschaft. Man kann heute schon die Triftigkeit der
Argumente für landwirtschaftliche Kleinbetriebe mit guten Gründen
bestreiten und überdies darauf hinweisen, dass Kleinbetrieb nicht notwendig
*) In der Regel handelt es sich bei diesen Vorschlägen gleichzeitig um marktsozia-
istische Pläne. Indessen ist diese Verknüpfung nicht notwendig. Zwar wird man,
wenn kleines und mittleres Eigentum erhalten bleiben soll, eine marktsozialistische
Lösung vorziehen müssen, da hier die Aneinanderschaltung von öffentlicher and pri-
vater Sphäre leichter möglich ist. Doch kann man sich durchaus Marktsozialismus
ohne jegliches Sondereigentum an Produktionsmitteln vorstellen.
2) Hei mann hat die Theorie des sozialistischen Arbeitseigentums neu zu begrün-
den gesucht. Vergleiche vor allem seinen Aufsatz : „Sozialismus und Mittelstand".
Neue Blätter für den Sozialismus, 3.Jahrgang Heft 7. Potsdam 1932. Seine Berufung
auf Marx dürfte kaum zutreffen.
260 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
auch Kleinbesitz voraussetzt. Das zweite ökonomische Problem betrifft
die Vereinbarkeit von Kleinwirtschaft und "Wirtschaftsplanung. Die in
den kleinen Einheiten gemachten Investitionen, technischen Fortschritte
und Gewinne bereiteten kaum ernsthafte Schwierigkeiten. Aber die
Ausschaltung der aus technischen Gründen für die Landwirtschaft typischen
„endogenen" Zyklen von Über- und Unteranpassungen erfordert eine
scharfe Produktionskontrolle. Diese aber ist mit massenhaften Kleinwirt-
schaften unvereinbar. Entweder muss man grössere Produktionseinheiten
schaffen, und das heisst den Grund und Boden faktisch sozialisieren, oder
aber eine straffe Vergenossenschaftlichung durchführen, die fast auf dasselbe
hinausläuft. Indessen setzen hier schon die politischen Probleme ein.
Ob die Genossenschaften funktionieren, hängt stärker von dem Willen
der Genossen ab, als das bei Gemeinbetrieben der Fall ist. Wenn unter
den Trägern der Gesamtplanwirtschaft in der ökonomischen und poli-
tischen Zentrale die Bauernschaft nicht vertreten ist, so bekommen die
Genossenschaften notwendig den Charakter eines Kampfwerkzeuges ent-
weder der Planzentrale gegen die Bauern oder der Bauern gegen die Zen-
trale. Differenzen zwischen Einzel gruppen und Zentrale werden gewiss
in keiner sozialistischen Ordnung fehlen. Aber es besteht ein qualitativer
und quantitativer Unterschied zwischen den Spannungen mit einer Masse
von Einzeleigentümern einerseits und mit den Gruppen des sozialistischen
Sektors andererseits. Bei jenen wird zwangsläufig die Intensität der
Abwehr oder des Angriffs durch rationale und irrationale Auswirkungen
der Eigentümerposition verstärkt werden. Ist das Gefüge der sozialisti-
schen Ordnung von aussen oder innen auch durch andere Kräfte ökono-
mischer oder politischer Natur bedroht, so kann das Vorhandensein breiter
Massen relativ selbständiger oder sich selbständig fühlender Eigentümer
die Gefahr beträchtlich verstärken. Die Schwierigkeiten werden sich erst
recht geltend machen, wenn die Kleineigentümer bei der Leitung und
politischen Sicherung der Planwirtschaft mitbeteiligt würden. Für eine
erfolgreiche, stetige Durchführung der sozialistischen Neuordnung von
Wirtschaft und Gesellschaft ist eine möglichst homogene Gruppe als
Machtträgerin wesentlichste Voraussetzung. Diese Homogeneität wäre
durch das Nebeneinander von institutionell und psychologisch ganz ver-
schiedenen Gruppen recht erheblich gestört. Sozialistische Planwirtschaft
Planwirtschaft überhaupt verlangt eine starke Bereitschaft zu rationaler
Bewältigung der sozialen Probleme. Es ist dies eine Haltung, die typi-
scherweise nur solchen Schichten möglich ist, die in Grossorganisationen e u
leben gewohnt sind : bestimmten Unternehmerschichten und Teilen des
Proletariats. Von allen sozialen Schichten sind daher diejenigen, die
faktisch, traditionell oder durch sonstige psychologische Zwischenglieder an
persönliches Sondereigentum gebunden sind und diese Position zu retten
suchen, für ernsthafte Planwirtschaft die ungeeignetsten — was nicht
ausschliesst, sondern vielmehr nahelegt, sie als Stützen einer Pseudoplan-
Wirtschaft zünftlerisch- feudalistischen Stils zu werben. Solche Gruppen
scheinen uns z. B. für Planwirtschaft weit weniger disponiert als etwa
die Bürokratie. Diese pflegt nach aller Erfahrung keine selbständige
soziale Macht zu bilden, sondern schliesst sich der jeweüs ausschlaggeben-
Zur Theorie der Planwirtschaft 261
den Schicht an. Sie ist dann für eine bestimmte Ordnung selber konser-
vativ, für deren Einzelinhalte im ganzen mehr oder minder reformatorisch
eingestellt. Da aber die für die Durchführung einer Politik noch als not-
wendig erachteten „Grenzschichten" jeweils ausschlaggebend sind, würde
der Einfluss selbst zahlenmässig nicht allzu grosser Mittelstandsgruppen
auf die Bürokratie relativ stark sein und so das Schwergewicht der anti-
öder asozialistischen Elementen noch verstärken. Über kurz oder lang
müssten diese verschiedenen, ohne institutionelle Änderungen nur begrenzt
beeinflussbaren Attitüden entweder den Schwung der ökonomischen und
sozialen Aufbauarbeit lähmen oder aber die Arbeiter dazu drängen, die
Millionen von Kleineigentümern direkt oder indirekt ebenfalls in „Arbei-
ter" zu verwandeln.
Ihr ganzes Gewicht bekommt die Frage des Einbaus von grösseren Pri-
vateigentumssphären indessen erst, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt
des Weges zum Sozialismus betrachtet. Dass die Arbeiterschaft nicht
notwendig und immer „spontan" Träger sozialistischer Zielvorstellungen
ist, mag richtig sein, aber sie ist doch wenigstens nach ihrer sozialen Position
mehr oder minder stark für den Sozialismus disponiert. Die Mittelschich-
ten aber sind dies keineswegs. Im Gegenteil, sie müssen alle „Sozialisie-
rungen" mit Ausnahme vielleicht derjenigen, von der sie unmittelbaren
Vorteil erwarten können (Verkehr, Kraft, Banken), als Einbruch in das
Prinzip des Privateigentums und als Bedrohung ihrer eigenen Position
auffassen und bekämpfen. Und selbst wenn ihr ökonomisches Interesse
(im engeren Sinne) für ein Bündnis mit den Arbeitern spräche, so bestehen
doch traditionell starke Hemmungen gegen die Förderung einer Klasse,
die dem sozialen Rang nach unter ihnen steht und deren Heraufkommen
die eigene Vorrangstellung beseitigte. Wer daher mit den Mittelschichten
Sozialismus zu verwirklichen unternimmt und ihnen dafür machtmässige
und programmatische Konzessionen nicht bloss vorübergehender Natur
zugesteht, erreicht bei noch so gutem Glauben bestenfalls einige Soziali-
sierungen ohne Sozialismus — Formalsozialismus. Dieser aber ist in der
heutigen Epoche in Wirklichkeit politisch und ökonomisch korporativ
aufgezogener Monopolkapitalismus mit staatskapitalistischen Einbauten.
Das ist das Gegenteil derjenigen gesellschaftlichen Organisation, deren
oekonomische Möglichkeit der vorliegende Aufsatz darzulegen versuchte ;
der klassenlosen Gesellschaft mit planorientierter gesellschaftlicher Produk-
tion und Verteilung.
Contributions ä la theorie de l'economie dirigee.
Cet article d£bute par quelques breves considerations sur la notion
meme de F6conomie dirigee et sur les limitations inevitables d'une ßconomie
dirigee du type capitaliste. Les auteurs cherchent ensuite ä demontrer que
dans les conditions actuelles une economie dirigee socialiste est parf aitement
possible au point de vue economique. Ils etudient les principaux types d'es-
sais de Solutions, differenciant entre les deux types fondamentaux („Verwal-
tungssozialismus" et „Marktsozialismus") ainsi que pour chaque type
entre les formes pures et les formes modifiies. H n'y a pas d'opposition
262 Kurt Mandelbaum und Gerhard Meyer
irreductible entre ces deux types ; l'article montre au contraire l'exis-
tence de relations entre eux. Dans une exposition objective des pro-
blemes essentiels, il examine en detail la question de savoir si et comment
on peut etablir des calculs economiques dans les differentes conditions et
assurer un developpement sans crises de Teconomie. L'analyse est completee
par des reeherches sur la productivite d'une economic dirigee socialiste et
sur les principes de l'integration de l'individu, en tant que consommateur
et benöftciaire de revenus, dans l'economie planne. II resulte de Fetude
que les objections de principe soulevees par la critique liberale ne se justi-
fient aucunement. Les diflerences existant entre les divers types sont pure-
ment de nature „technique", et les veritables oppositions dans la theorie
du socialisme ne resident pas du tout dans le mode d'organisation de l'eco-
nomie dirigee, mais dans les conditions sociologiques et politiques prealables.
Pour terminer, les auteurs critiquent severement l'introduction dans le
socialisme d'un „secteur d'economie privee".
Contributions to a Theory of Economic-Planning.
After a short exposition of the coneept of economic planning, and of
tbe deflnite limits to capitalist planning, it is shown how on the basis of
present-day suppositions, socialist planning is economically possible. a
typology of the most important Solutions oflered distinguishes between
„administrative" and „market" socialism, and between the pure and
modified forms in both types. Between these two main types there does
not exist an Opposition that cannot be bridged — indeed passages of contact
run from one to the other. A positive analysis of the main problems offered
in reply to a criticism treats in detail of the problem of whether and how
under several suppositions we can economically calcutate and ensure a
planned economic society free from crises. There then follow investiga-
tions into the produetivity of a socialistically planned society, and into the
principles governing individuals as consumers and income reeeivers in the
totality of economic life. It is seen that the basic objections raised by
liberal criticism do not meet the case. The differences between the types
are only of a technical nature. The essential antitheses in the theory of
socialism is not to be sought in the kind of Organization of the planned eco-
nomy, but in fundamental sociopolitical suppositions. Finally concessions
towards a private economy section under socialism reeeive a thorough
criticism.
.
Besprechungen.
Philosophie.
Rothacker, Erich, Geschichtsphilosophie. R. Oldenbourg. München
u. Berlin 1934. (156 S. ; RM. 6,50 J
Böhm, Franz, Ontotogie der Geschichte. J. C. B. Mohr. Tübingen
1933. (140 S. ; RM. 7.20>
Kafka, Gustav, Geschichtsphilosophie der Philosophiegeschichte.
Ein Längsschnitt durch die Geschichte der abendländischen Philosophie
als Beitrag zu einer Philosophie der Geislesgeschichte. Junker u. Dünn-
haupt. Berlin 1933. (VI u. 66 S. ; RM. 3.20J
Simon, Paul, Die Geschichte als Weg des Geistes. Badersche Verlags-
buchhandlung. Roüenburg a. N. 1933. (43 S, ; RM. 1.20J
Krakowski, Edouard, Conlre le fatalisme historique. Le retour
au culie des hiros. Editions Victor Attinger. Paris und Neuchatel
1933. (63 S. ; Schw. Pres. 4.50 ;
"Was RJo;thacker unter dem Titel Geschichtsphilosophie vorlegt, ist ein
Konvolut aller möglicher Begriffe und Thesen, die in den letzten Jahrzehnten
im Zusammenhang mit dem Problem der Geschichte aufgetreten sind :
„Kulturen als Lebensstile", „Verhalten", „Haltung", „gelebte Welten",
„Bauplan", „existenzielle Reduktion", „Rasse", „Volksgeist" usw. Das
Ganze ist eingetaucht in ein verschwommenes Philosophieren über Leben
und Welt, das sich von jeder sachlichen Konkretion fernhält, mit Vorliebe
in die Aesthetik und Biologie ausweicht (während von der Geschichte in dem
Buche kaum je die Rede ist) und es, sobald eigene Ergebnisse verkündet
werden sollen, nur zu grossen Belanglosigkeiten bringt. So z. B. das
„fundamentale Schema für menschliches Verhalten zur Aussenwelt über-
haupt" : „Das menschliche Leben ist eine unausgesetzt pulsierende Folge
von Stellungnahmen zu dem erlebten Gegenspieler, den wir Welt nennen.
Wo dieses Leben von aussen zermalmt wird, da liegt allerdings ein unmiss-
verständlicher Kausalzusammenhang von Ursache und Wirkung vor ; wo es
sich aber hält..., da ist sein Grund verhalten nur nach dem oben entworfenen
Modell zu verstehen : es folgt nicht nur kausalen Anstössen der wirklichen
Umgebung, sondern es antwortet (wenn immer mit kausalen Vermittlun-
gen) auf erlebte Situationen" . Auch was wir schliesslich über das „Gefüge
des Volksgeistes" erfahren, sind nur dunkle Andeutungen folgender Art :
ein Kulturstil findet seine „Wahrheit und den Beweis seiner Fähigkeit, dem
Leben selber Sinn und Form zu geben, nur in der Bewährung als gestal-
tendes Prinzip und ideeller Leitfaden eines leiblich-seelisch-sittlich-geistigen
264 Besprechungen
Lebensstiles eines Volkes". — Ein Schlusskapitel „Im dritten Reiche"
befragt die „Staat und Volk erneuernde Bewegung nach ihrem Beitrag zur
theoretischen Auffassung des geschichtlichen Lebens" ; R. wertet diesen
Beitrag sehr hoch. — Soweit man bei dieser Geschichtsphilosophie über-
haupt von einer geschichtsphilosophischen Grundorientierung sprechen
kann, lässt sie sich etwa in dem Programm einer universalen existenziel]
anthropologischen Reduktion sehen, das R, entwirft : alle geschichtlichen
Phänomene „in den Menschen und seine Uraktionen" zurückzuleiten
„Ontotogie" wird bei Böhm (im Sinne der Rickertschen Abhandlung
über die „Logik des Prädikats") als ein Problembezirk innerhalb der trans
zendentalphilosophischen Orientierung verstanden : B. fragt nach der onto
logischen Möglichkeit von Geschichte überhaupt", nach den „Bedingungen
des Bewusstseins, unter denen der Charakter der Geschichtlichkeit überhaupt
begnffen werden kann". Gegen die Fragestellung Diltheys und seine Idee
einer Kritik der historischen Vernunft verteidigt B. die transzendental
kritische Methode : da die „apriorischen Bedingungen der Geschichtlichkeit
selbst... nicht wiederum geschichtlich sein können", zugleich aber alles
Geschichtliche abhängig ist von einem es setzenden Bewusstsein besteht
der Versuch einer transzendentalen Konstruktion der Geschichte zu Recht
Er findet seinen Ansatzpunkt in der „Kritik der Urteilskraft", in der Kant
bereits die Konstruktion eines „vortheoretisch selbständigen" (d h nicht
aus den Kategorien des Verstandes ableitbaren), metalogischen Seins in
Angriff genommen hat. Und ein solches irrationales Sein ist auch das
geschichtliche : es sind „ausser theoretische Spontaneitäten", die seinen
Aufbau bedingen. Die die geschichtliche Welt konstruierende Synthesis
hat demnach nur eine nicht-konstitutive Gültigkeit : es ist die „komposi-
tionelle Synthesis" der Verbindung der zeitlichen Wirklichkeit mit der
zeitlosen Sinnhaftigkeit zur geschichtlichen Totalität. „Geschichtlich ist.,
eine Sinnwirklichkeit dann, wenn sie neben ihrer zeitlos geltenden Deutung
zugleich in das Ganze der geschichtlichen Welt kompositionell synthetisch
eingeordnet erscheint". Das „Schema" der transzendentalen Theorie
der Geschichte ist das „Sollen", das der Konstitutionsform der zeitlosen
„Gültigkeit" die Anwendung auf die zeitlich-geschichtliche Wirklichkeit
ermöglicht. — B.s Buch ist unseres Wissens der erste Versuch einer Anwen-
dung der transzendentalen Methode auf das Problem einer Ontologie der
Geschichte. Er verdient als solcher Beachtung, — gerade weil er so klar
die Grenzen der transzendentalen Konstruktion des Geschichtlichen zeigt
Über die materiale Struktur des Geschichtlichen kann und will sie nichts
aussagen und was sie als apriorische Konstitution des Geschichtlichen
herausstellt trifft nur ganz abstrakte und allgemeine Charaktere (die das
Geschichtliche weitgehend auch mit anderem Seienden teilt), - die spezi
fische Dimension des geschichtlichen Seins wird nirgends erreicht
Kafkas Buch hält nichts von dem, was der anspruchsvolle Titel vorgibt
K. will den Nachweis einer „zyklischen Struktur des historischen Gesehe'
hens" erbringen und durch ihn die Berechtigung einer (analogiemässigl
„biologischen Deutung der Geistesgeschichte" erweisen. Er findet in
Altertum, Mittelalter und Neuzeit jeweils eine durch fünf Epochen geglie-
derte Struktur : die Periode des Aufbruchs, die kosmozentrische und anthro-
Philosophie 265
pozentrische Periode, die Periode der Integration und die Periode der Desin-
tegration. Sofern K. hierbei über die oberflächlichsten traditionellen
Gliederungen der Lehrbücher und Kompendien hinausgeht, muss er — um
die schematische Einteilung aufrechterhalten zu können — zu puren Gewalt-
samkeiten greifen (so beim Mittelalter die Einordnung Augustins, den er als
„Repräsentant einer kosmozentrischen Periode" ansieht). Als „Unterbau"
der so „strukturierten" Geistesgeschichte wird dann plötzlich (ohne die
geringste innere Verbindung) die individuelle Periodizität (unter Aufnahme
der von Charlotte Büliler aufgestellten Perioden) angesprochen : den fünf
Perioden der Geistesgeschichte sollen entsprechen : Frühkindheit, Spät-
kindheit, Pubertät, Reife und Greisenalter, Zum Schluss wird das Ganze
durch einen „religiösen Überbau" gekrönt : die „Unruhe des Gefühls", die
durch den Anblick der ständigen zyklischen Wiederkehr des historischen
Geschehens erzeugt wird, wird aufgehoben durch den Trost : „die Entwick-
lung der Seele... verläuft in einer aufsteigenden Linie..., die in der Vergan-
genheit auf den Sündenfall, in der Zukunft auf die ewige Seligkeit hinweist".
Die kleine Schrift von Paul Simon erörtert die Frage nach Sinn und
"Wesen der Geschichte am Leitfaden des augustinischen Personbegriffs :
in der Mitte der Geschichte steht der Mensch als personales und das heisst
als geistiges Sein, in der Dreieinheit von intelligentia, memoria, voluntas.
Von diesem Boden aus werden die modernen irrationalistischen und natura-
listischen Geschichtsauffassungen abgelehnt und ihnen die katholische
Deutung der Geschichte entgegengestellt : die Geschichte als der Weg des
Geistes im Handeln der Ideen-schauenden und Werte- verwirklichenden sitt-
lichen Person. Die anspruchslose Arbeit steht an Sauberkeit und Niveau
beträchtlich über den heute kursierenden neuen Geschichtsbildern.
Krakowski hält die gegenwärtige Weltkrise für eine „suite logique"
der „abdication de nous-memes en presence du phenomene volontaire dont
nous avons ddtourne notre volonte". Der allgemeine historische Fatalis-
mus, dessen bezeichnendster Ausdruck der durch Hegel und Marx um seine
ursprünglichen Impulse gebrachte Sozialismus sei, habe die menschliche
Energie tötlich gelähmt. Zur Rettung aus der Not appelliert K., unter
Berufung auf Bergson und Sorel, an die Intuition gegenüber dem Verstand,
an die freie schöpferische Energie gegenüber den materiellen Kräften und
der Übermacht der Massen. Nur die grossen Individuen, die Heroen, kön-
nen nach seiner Meinung noch den Glauben an eine bessere Zukunft aufrecht-
erhalten. K. ist bereit, den Heroismus selbst in der entarteten Form der
Diktatur noch als wertvoll für die Entwicklung der Menschheit zu ertragen.
Er definiert den Heros als den Menschen „qui tranche sur la moyenne en ce
qu'il peut se sacrifier allegrement ä des causes que l'humanite en general
venere". Dass bei dem von ihm gemeinten Heroismus die wirklichen
Sachen der Menschheit nicht gerade am besten aufgehoben sind, zeigt die
Rechtfertigung, die K. auch dem bloss nationalistischen Heroismus ange-
deihen lässt : dass solcher Heroismus mit der nationalen Sache die Sache der
Menschheit wenigstens „vorbereiten" will.
Herbert Marcuse (Genf).
266 Besprechungen
Cort^s, Donoso, Der Staat Gottes. Eine katholische Geschichtsphilosophie.
Aus dem spanischen Original übersetzt und herausgegeben von Ludwig
Fischer. Badenia Verlag. Karlsruhe 1933. (XII u. 405 S. ; RM 5. '
geb. RM. 6.— )
Das grosse wissenschaftliche Verdienst dieser neuen deutschen Ausgabe
des Hauptwerks eines Meisters der Gegenrevolution im 19. Jahrhundert
wird etwas geschmälert durch die wenig glückliche Veränderung, die der
Herausgeber an dem Titel des Werkes aus eigener Machtvollkommenheit
vorgenommen hat. Im Original lautete der Titel zugleich anspruchsloser
und aufschlussreicher : Ensayo sobre el catolicismo, el liberalismo y el
socialismo considerados en sus principios fundamentales (Madrid 1851).
Hier kommt mit grosser Deutlichkeit zum Ausdruck, dass dieses Werk, das
ursprünglich als Beitrag für eine „Gegen-Enzyklopädie" gegen den moder-
nen revolutionären Geist gedacht war, viel weniger eine religiöse und philoso-
phische als eine politische Auseinandersetzung mit den beiden Hauptgrup-
pen der damaligen revolutionären Bewegung, dem Liberalismus und dem
Sozialismus, bezweckte. Hieraus und aus der grossen Ähnlichkeit der
damals durch die Revolution und Konterrevolution in Frankreich und
anderen europäischen Ländern geschaffenen Lage mit der heutigen euro-
päischen Situation erklärt sich auch die in der Tat erstaunliche Zeitgemäss-
heit dieser vor acht Jahrzehnten erschienenen Streitschrift, die der Heraus-
geber von seinem theologischen Standpunkt aus als einen Beweis für die
„divinatorische Begabung" des Verf. dieses „durch und durch übernatürli-
chen Werkes" anführt. Ganz besonders eindrucksvoll erscheint in diesem
Zusammenhang vor allem jene ausserordentliche Einseitigkeit, mit der G.
in seiner Auseinandersetzung mit den verschiedenen Spielarten des damali-
gen Liberalismus und Sozialismus den ersteren nur verächtlich beiseite-
schiebt, dagegen den Sozialismus und von ihm wiederum die Lehre Prou-
dhons, als den im Grunde allein ernstzunehmenden und darum radikal zu
vernichtenden Hauptfeind behandelt. Wie heute der Marxismus so erscheint
damals der Proudhonismus seinem energischsten Gegner als „die Personifi-
kation von drei verworfenen Jahrhunderten", durch deren radikale Ver-
nichtung zugleich alle anderen Spielarten des Liberalismus und Sozialismus
mit zur Strecke gebracht werden sollen. Karl Kor seh (London),
Conze, Eberhard, Der Satz vom Widerspruch. Zur Theorie des dia-
lektischen Materialismus. Selbstoerlag Hamburg 1932-33. (26 Lie-
ferungen; RM. 10. — )
G. macht den Versuch, „die Methode des historischen Materialismus
auszudehnen auf das logische Denken, seine Gesetze und Kategorien". Er
will zeigen, wie „das Sein des Menschen die Grundlage auch seines logischen
Bewusstseins ist und wie die Seinsgrundlagen und Verwirklichungsbedingun-
gen des logischen Denkens im praktischen und gesellschaftlichen Leben des
Menschen liegen". In dieser Absicht werden der Satz vom Widerspruch
und der ihn tragende Satz der Identität, also die klassischen Axiome der
traditionellen Logik, untersucht. Nach einer ausführlichen Interpretation
Philosophie 267
der verschiedenen Fassungen dieser Axiome soll der „Grund der Geltung"
des Satzes vom Widerspruch aufgewiesen werden. Dieser Aufweis soll
seine logische Verbindlichkeit auf „bestimmte Subjekte und Gegenstandsge-
biete einschränken".
C. findet, dass die „Evidenz" dieses Axioms schliesslich auf eine bestimmte
menschliche Praxis zurückführt : „die den Satz vom Widerspruch tragende
Praxis ist eine Praxis der Arbeit".
Der letzte Paragraph gibt dann die eigentliche „soziologische Deutung"
des SvW, indem er die ihm zugrundeliegende Praxis als „gesellschaftliche
Arbeit des vergesellschafteten Menschen" konkretisiert : es soll gezeigt
werden, dass die „Eigenschaften des logischen Denkens selbst" und die
»»psychischen und ethischen Eigentümlichkeiten, die es voraussetzt, nur
üi der Gesellschaft und durch die Vergesellschaftung entstehen können".
C.s Interpretation und Kritik der traditionellen Logik ist im wesentlichen
geleitet durch den marxschen Begriff der Entfremdung. Die traditionelle
Logik steht insofern unter der Herrschaft der Entfremdung, als in ihr die
Gegenstände des Denkens und seine Gesetze „als vorgefunden" erscheinen,
„ohne dass ihre Wechselwirkung mit dem praktisch tätigen und arbeitenden
Menschen" berücksichtigt wird. Diese Logik nimmt die Objekte des
Denkens nicht als „Umweltdinge", d. h. so wie sie in voller Konkretion im
praktisch-alltäglichen Verhalten wirklich sind, sondern als blosse „Gegen-
stände", wie sie die Abstraktion von den Umweltdingen zu Objekten der
reinen Theorie macht. Nur in der Form abstrakter Gegenständlichkeit
erscheinen die Umweltdinge in den Urteilen der traditionellen Logik, und
aus diesem Urteilsdenken sollen die Normen des Denkens überhaupt gewon-
nen werden. Damit ist aber das wahre Verhältnis zwischen Umweltsdenken
und Gegenstandsdenken auf den Kopf gestellt, denn „das Umweltverhalten
des Menschen ist nicht auf sein Verhalten zur Gegenstandswelt zurückzufüh-
ren" . C. unterscheidet den „Satz" als Ausdruck konkreten Umweltdenkens
vom „Urteil" des abstrakten Gegenstandsdenkens und sagt : „die tradi-
tionelle Logik verlangt, dass die Aussagesätze als Urteile deutbar seien.
Umgekehrt sind die Urteile als besondere Formen von Sätzen zu deuten,
ist die Logik des Urteils auf die Logik des Satzes zurückzufuhren und die
logische Betätigung des Menschen als Spezialfall seiner sozialen aufzufassen .
Der Versuch einer Anwendung des historischen Materialismus auf die
Logik ist ein grosses Wagnis, da Vorarbeiten so gut wie ganz fehlen und es
sich um ein vom gesellschaftlichen „Unterbau" sehr entferntes Gebiet der
Theorie handelt, zu dem ein Zugang nur durch eine ganze Reihe von Ver-
mittlungsstufen gewonnen werden kann. Die Unsicherheit eines ersten
Schrittes in Neuland des Materialismus kommt in C.s Buch deutlich zum
Ausdruck : nicht immer sind die notwendigen „Vermittlungsstufen" durch-
schritten ; die stellenweise allzu „direkte" Interpretation ist in Gefahr, vom
dialektischen in den mechanistischen Materialismus zurückzufallen. Jedoch
schon in der vorliegenden Form zeigt sich die grosse Fruchtbarkeit des
historischen Materialismus : die erstarrte logische Theorie wird überall
aufgelockert und auf ihre ursprünglichen Antriebe hin destruiert (wir
verweisen besonders auf C.s Interpretation des Nominalismus und Prag-
matismus). Herbert Marcuse (Genf).
268 Besprechungen
Haidane, J. B. S., The C aus es of Evolution. Longmans, Green & Co
London, New- York 1933. (235 pp. ; 7 s. 6 d.)
This book is an excellent and welltimed survey of all the important
researches bearing on the subject, and of the account of the evolutionary
process which they make it possible to construct. The Darwinian Theory
of Natural Selection involved Lamarckian assumptions as to the nature of
hereditary Variation which have been disproved by later genetic research
and this fact has been exploited by obscurantists to discredit the whole
theory of Evolution. Haidane shows that such an attitude is entirely
unjustified, and that the same researches provide ample evidence of the
appearance of variations, even in a pure strain, on which selection can work.
Passing to the consideration of the actual working of selection, the
author shows how quite small changes in environment may alter the relative
survival value of a species ; he also describes the way in which, though unable
itself to produce new types, selection, if it should favour a number of pre-
viously rare types, will greatly increase the probability of their combining
to form a new one. He sounds a welcome challenge to the dogma of the
Survival of the Fittest, by showing that intra-specific competition may
easily favour the dominance of types less well adapted to the external
environment than those they replace, and that such a process may very
likely have been responsible for the extinction of many species.
E. E. Irvine (London).
Jennings, H. S., The Universe and Life. Yale University Press. New
hauen 1933. (94 pp. ; $ 1.50J
The author presents an epic theme in the compass of a nutshell. Any
attempt to develop in 94 pages the bearing of a certain body of knowledge
on the nature of things in general, and on the problems of religion arid
ethics, is bound to he very Condensed in form ; but this book displays stri-
king inequalities of treatment, The argument that the existence of cons-
ciousness must be recognised, since it is known to us by direct introspection
hardly seems to require such elaborate presentation, while more difficxüt
points, such as the attribution of consciousness to animals, and the proposi-
tion that consciousness ceases with death, do not receive the consideration
which so formal an approach had led one to expect. The author is an
adherent of the doctrine of emergence, and it is this doctrine which colours
the world-picture which he presents. The unprofessional philosopher wUl
find this a stimulating and provocative work.
E. E. Irvine (London).
Hobson, John A., Rationalism and Humanism. Watt & Co Lon
don 1933. (4S pp. ; sh. 1.—)
H. opposes the anti-intellectualism of a world that is turning to mysti-
cism and the glorification of emotion and instinct, and argues that not less
Allgemeine Soziologie 269
but more reason is necessary, What is required is a synthesis of rationalism
and hunianism so that reason is applied to every field of social life in the
service of humanity. J, Rumney (London).
Berdiaeff, Nicolas, Esprit et liberlS. Essai de philosophie chritienne.
Editions „Je sers" . Paris 1933. ( 379 S, ; frs. fr. 24.—;
B. betrachtet seine Untersuchung als einen Beitrag zur „Existenzphilo-
sophie" und Philosophie des Lebens, aber alle Philosophie des Lebens hat
für ihn „une source et une nourriture religieuse" ; die „religiöse Anthropolo-
gie" ist ihr Zentralproblem. Dieser Einstellung entspricht die „Geschichts-
philosophie" B.s. Alle historischen Geschehnisse, die im „monde naturel"
stattfinden, haben symbolische Realität ; sie sind nur der Reflex des
monde spirituel. Die völlige Entwertung des geschichtlichen Seins muss
gerade für eine Untersuchung von Geist und Freiheit verhängnisvoll
werden : beide Probleme sind von Anfang an als Fragen religiöser Existenz
angesetzt, als Grundfragen des christlichen Daseins. In der Durchführung
zeigt sich ein Mangel an exakter Begrifflichkeit. Die ständige Beteuerung
der Einzigartigkeit geistigen Seins, das sich jeder Frage nach seiner Realität
wesensmässig entziehe und für die jedes Kriterium der Wahrheit sinnlos
werde, ist auch für eine religionsphilosophische Untersuchung ungenügend.
Allzuschnell wird alles gleich „Mysterium", von dem nur der schon „Wis-
sende" reden kann. So bleiben für die Bestimmung des geistigen Seins
bloss vage Prädikate wie Leben, Tiefe, Einheit aller Gegensätze, Unendlich-
keit, mouvement embras6 usw. — Bei der Explikation der Freiheit als der
entscheidenden Seinsbestimmung des Geistes macht B. einige Versuche
begrifflicher Besinnung (so die Abgrenzung des Freiheitsproblems vom
Problem der Willensfreiheit, die Andeutung eines dialektischen Zusammen-
hangs zwischen Freiheit und Notwendigkeit u. a.), aber die Berufung auf
den „irrationalen" Charakter der Freiheit verhindert auch hier ein Durch-
halten der aufgeworfenen Fragen. Hans Berth (Berlin).
Allgemeine Soziologie.
The Sociological Review, Journal of the Institute of Sociology.
Published quarterly. The Le Play House Press, 35, Gordon Square, Lon-
don, W. C. 1. ( Annual subscriplion 1. 1. 0; Single copies 5 5. plus postage).
The Sociological Review which for twenty-five years has been the only
British Quarterly devoted exclusively to Sociology, has recently made
changes in its direction and policy. The Editorial control is now in the
hands of a Board consisting of Professor A. M. Carr-Saunders, Mr. Alexan-
der Farquharson and Professor Morris Ginsberg, whose names will be fami-
liär to all who are acquainted with sociological thought and research.
Tbe intention of the Board is to make the Review fully representative
of all aspects of sociological enquiry in Great Britain. In particular, it
270 Besprechungen
is hoped to cover four main divisions, namely : comparative social insti-
tutions, the application of biology and psychology to social problems
contemporary social conditio ns and social philo sophy including metho-
dology.
In the two numbers already published under the new auspices, the
influence of this policy is manifest in the articles and book reviews. Of
outstanding interest we may mention articles by Edward Westermarck
on „Exogamy", Christopher Dawson on „Prevision in Religion" and
T. H. Marshall on „Social Class" in the January issue, and by Karl Mann-
heim on „The Crisis of Culture" and G. G. Leybourne on „The Future
Population of Great Britain" in the April number.
J. Rumney (London).
Bulletin de l'Instilut francais de Sociologie, säance du 8-J/-33.
Filix Alcan. Paris 1933.
Leemans, Victor, F. Toennies et la sociologie contemporaine en
Allemagne. PrSface de Reni Maunier. These. Filix Alcan. Paris
1933. ( X et 125 p. ; frs. fr. 15.— }
Dans le Bulletin, MM. BouglE, Fauconnet et Mauss prEparent une
rEponse ä une reforme Eventuelle du programme de sociologie dans les
ecoles normales primaires. Certains partis politiques se sont declarEs des le
dEbut plus ou moins hostiles ä l'enseignement de cette discipline dans les
Ecoles du 2 e degrE. Faut-il les calmer en acceptant de distraire de la sociologie
l'enseignement de la morale et de T Instruction civique, comme le propose
M. Fauconnet, ou bien, selon M. Bought, en adoptant la maxime bis-
marckienne du Quieta non movere ? Teile est la question qui se pose et
qui n'a pu Etre rEsolue.
Quant au „Toennies" de M. Leemans, il donne l'impression d'etre Ecrit
par un militant des jeunesses catholiques ou un partisan de la Jugend-
bewegung. Ge qui a attirE l'auteur, ce qui l'a „sEduit et envoüti" , comme
dit excellemment son professeur et prEfacier, M. Maunier, c'est en effet
beaucoup moins la sociologie de Tönnies, trop „materialiste'% trop „ratio-
naliste" et trop irr&igieuse ä son grE, que les ratio cineries communautaires
ou sociEtaires de Freyer, Dunkmann et Spann. Or il se trouve justement que
ces pseudo-sociologues Etaient tous trois les promoteurs des „mouvements
de jeunes" Allemands ou Autrichiens dont ils systEmatisaient les ideologtes
communautaires, mais pas precisement les continuateurs et les propagatenrs
de la pensee de Tönnies. Sur ces efforts de propagation et de continuation de
la sociologie scientifique par Plenge, lequel a pourtant fait modifier ä l'auteur
le plan dejä arretö de sa thcse, L. ne nous donne qu'un Schema, d'ailleurs
iüisible sans un vaste commentaire ici absent. Enfin l'elahoration positive
de cette sociologie, par von Wiese et d'autres, a completement Echappe a
notre auteur qui n'a pu l'apercevoir qu'ä travers sa lunette deformante.
Par ex., il y a un contre-sens ä vouloir traduire par „Institutions" 1^
Gebilde de von "Wiese, ä voir dans sa catEgorie dite Beziehung ou dans
Gemeinschaft et Gesellschaft de Tönnies des Normalbegriffe au lieu a e
Allgemeine Soziologie 271
Grundbegriffe. De m&me, les Verhältnisse de Tönnies ne sont pas des
„liens", mais des situations ; les Verbundenheiten ne sont pas des „entites
sociales", mais des liens tout court ; les Bezugsgebüde sont des ideologies
ä caractere finaliste, etc. La grande difference entre Tönnies et von Wiese
est que Tun voit dans la Societe entiere une volonte immense a l'exemple
de Schopenhauer ou un Corps social ä l'exemple de Hegel, Fautre, von "Wiese,
une simple relation de distance ou de distancement entre les hommes.
C'est une difference „d'objet" ou d'optique, mais non de methode ; et c'est
pourquoi Plenge ne reussira pas ä les accorder sans renoncer ä sa propre
methode qui lui est encore commune avec eux. Car il n'y a pas deux methodes
scientifiques, il n'y en a qu'une seule, malgre toutes les vaticinations
„phenomenologiques" de Husserl ä Frey er et de Dilthey ä Sombart, et
L. a tort de les considerer comme des sociologies ou des „methodes".
M. Tazerout (Nantes).
L' Indiüidualiti. Exposä fait au Centre international 'de synthise ä
Paris par MM. Catillery, P. Janet, C. BougU, J. Piaget, L. F&bre. Filix
Alean. Paris 1933. (III et 156 p. ; frs. fr. 15. — J
„Partant, dit le pref acier, M. Henri Berr, directeur du Centre de synthese,
de la remarque qu'un certain concept d'individualite, degage de l'experience
interne et externe, a pris en logique un caractere absolu, nous avons voulu,
du concept, retourner ä la realite." — Ce retour a consiste dans Fetude
minutieuse, suivie de discussion, de Tindlvidualite chez les animaux et les
plantes, chez l'individu humain, dans les groupes sociaux, chez les enfants
des ecoles, finalement dans l'histoire, D'une seance finale reservee aux inter-
ventions et discussions, „une id6e d'ensemble s'est degagee : c'est que le
Probleme fundamental de l'individualite reside dans la recherche des causes
qui realisent l'uniflcation d'elements varies". L'individualite elle-
meme est cet „effort de synthese par lequel le divers se trouve unifie et
oTganise" en vue de realiser son „maximum d'etre". — Cemaximum se
realise :
a) dans la naturc, par la „fusion du soma et du germen", sauf cas de dis-
sociation ; — b) dans le moi, par des „reflexes" d'abord inexistants dans la
conscience, mais qui par adaptation les uns aux autres, au moyen de
„conduites intellectuelles" qui les relient, peuvent finalement entrer en
relation ; — c) dans la societe, par la liberation progressive et automatique
de Findividu ä mesure qu'il fait partie de groupes de plus en plus nombreux,
dont la possibüite pour lui de les satisfaire tous reviendrait purement et
simplement ä se confondre avec chacun d'eux ; — d) dans la vie en general,
par une „reflexion rationnelle qui echappe ä la fois ä l'individu en tant
qu'egocentrique et ä la societe en tant que coercitive, pour se fonder sur la
double Constitution de la conscience personnelle et des rapports sociaux de
Cooperation" ; — e) enfin dans l'histoire, par un compromis tacite entre
„les hommes d'humanitö moyenne" dans un milieu donn6, et celui ou ceux
qui depassent ce type par la double „tendancederepliementetd'expansion".
L'individualite maximale doit rfiunir au moins les cinq conditions ci-dessus.
;M. Tazerout (Nantes).
272 Besprechungen
Schmitt, Carl, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen
Einheit. Hanseatische Verlagsanstalt. Hamburg 1933. (46 S. • HM
1.— )
Der wesentliche Inhalt der Schrift lässt sich dahin zusammenfassen •
Die Weimarer Verfassung existiert nicht mehr. An ihre Stelle ist das
Ermächtigungsgesetz vom 24.3.33 getreten. Ihm kommt die Bedeutung
einer vorläufigen Verfassung zu. Die legal erworbene Macht ist völlig
frei in der weiteren Gestaltung. Die liberal-demokratische Zweiteilung
von Staat und Gesellschaft, staatlicher Machtausübung und Organisations-
freiheit in der nichtstaatlichen Sphäre ist durch ein dreigliedriges Staatsge-
füge ersetzt. Die organisatorischen Grundlinien sind mit dem Dreiklang
Staat, Bewegung, Volk gegeben. Das Berufsbeamtentum braucht nicht
mehr wie bisher die ihm unmöglich gewordene Aufgabe zu erfüllen, staats-
tragende Schicht zu sein und den Staats willen politisch zu integrieren
Diese auf Hegel beruhende Konzeption ist mit dem 30.1.1933 beiseitegescho-
ben. „An diesem Tage ist, so kann man sagen, Hegel gestorben".
Der Führer allein bestimmt das staatliche Handeln. Der Begriff der
Führung ist etwas spezifisch Deutsches, das mit Diktaturen anderer Völker
gamichts zu tun hat. „Er ist im Begriff unmittelbarer Gegenwart und
realer Präsenz. Aus diesem Grund schliesst er auch, als positives Erforder-
nis, eine unbedingte Artgleichheit zwischen Führen und Gefolg-
schaf t (im Text gesperrt) in sich ein. Auf der Artgleichheit beruht sowohl
der fortwährende untrügliche Kontakt zwischen Führer und Gefolgschaft
wie ihre gegenseitige Treue. Nur die Artgleichheit kann es verhindern
dass die Macht des Führers Tyrannei und Willkür wird ; nur sie begründet
den Unterschied von jeder noch so intelligenten oder noch so vorteilhaften
Herrschaft eines fremdgearteten Willens. Artgleichheit des in sich einigen
deutschen Volkes ist also für den Begriff der politischen Führung des
deutschen Volkes die unumgänglichste Voraussetzung und Grundlage"
Artgleichheit ist überdies auch unbedingte Voraussetzung für richtiges
Funktionieren des ganzen Staatsapparates.
Es bleibt völlig ungeklärt, welche Art der Artgleichheit als unbedingtes
Erfordernis angesehen wird. Der Beweis für das Erfordernis der Artgleich-
heit beschränkt sich auf ein einfaches „also", das, wie das oben wiedergege-
bene Zitat zeigt, unmittelbar an das Postulat angeschlossen ist. Seh. ist
allem Anschein nach unter die Anhänger einer Wissenschaft aus dem Glau-
ben gegangen. Hugo Marx (Zürich).
Uexküll, J. v., Staatsbiologie. Anatomie-Physiologie-Pathol gi e
des Staates. Hanseatische Verlagsanstalt. Hamburg 1933 H9 <? -
RM. 1.50J
Der Staat ist für U. ein „vielgestaltiges Wabenwerk von Umweltzellen" -
seine Aufgabe ist es, „die Naturprodukte in nutzbare Gegenstände zu *
verwandeln und dem Bedürfnis entsprechend zu verteilen". Er besteht
wie jeder andere Organismus aus „Organen" : Erzeugungsorganen, Ordnungs-
organen und einem Tauschmittelorgan. Ein Erzeugungsorgan ist z. B. „die
Allgemeine Soziologie 273
Menschenkette, die das Getreide in Brot verwandelt". Es gleicht einem
Baum, der seine festen Wurzeln (den Acker), seinen Stamm (Bauernhof,
Mühle, Backer) und seine weitverzweigten Äste (die verschiedenen Abneh-
mer des Brotes) hat. — Die Primitivität, zu der die naive Uebertragung der
Biologie auf die Gesellschaftstheorie durch diesen auf seinem Spezialsebiet
bedeutenden Gelehrten führt, ist schwer vorstellbar : „Jeder Brief den wir
absenden, jedes Telegramm, das wir erhalten, jede Eisenbahnfahrt sollte
uns mit tiefer Dankbarkeit dem Staat gegenüber erfüllen... Freilich wer kein
Auge hat für den Wert der ihm gemachten Geschenke, der bleibt arm im
grössten Reichtum... Und für alle seine Gaben verlangt der Staat nichts
anderes, als dass der einzelne an seiner Stelle innerhalb einer Menschenkette
seine Arbeit tut". — Für die ökonomischen Einsichten dieses Biologismus
diene folgendes Beispiel : „ Es besteht für Leistung und Gegenleistung in
jedem Augenblick ein festes Verhältnis... Für die Innehaltung dieses Ver-
hältnisses sorgt automatisch der durch das Tauschmittel ausgedrückte Preis,
der sofort sinkt, wenn eine Übererzeugung eintritt — oder steigt, wenn eine
Untererzeugung vorhanden ist 4 '. — Ungleich treffender sind die Erkennt-
nisse über Funktion und Bedeutung der Ideologie im gegenwärtigen Staate :
Da die Erfüllung der Organisationsregeln des Staates heute dem „persönli-
chen Interesse meist schnurstracks zuwiderläuft", muss der einzelne durch
einen „inneren Imperativ" dazu bewogen werden, seine persönlichen Wünsche
beiseitezustellen und zu gehorchen. „Dazu dient das Gewissen... Es liegt
daher im Interesse des Staates, dass das Gewissen von den einzelnen gepflegt
werde, damit sie immer bereit sind, ihre Pflichten im Staate zu erfüllen.
Aus diesem Grunde unterstützt der Staat die Kirche..." . Die gesellschaftli-
chen Kämpfe seien organische „Krankheiten" des Staates, die durch
ziemlich einfache Heilmittel (wie z.B. Beseitigung der fremdrassigen
„Parasiten") behoben werden können. Adolf Berger (München).
Djordjevitseh, Jean, Les rapports entre la nolion d'itat et la notion de
classes sociales. L. Rodstein. Paris 1933. (422 S. ; frs. fr. 55.— )
D.s Buch gibt eine systematische Darstellung der marxistischen
Staatstheorie : Erörterung ihrer Grundbegriffe, Bestätigung ihrer Richtig-
keit durch die Geschichte, Auseinandersetzung mit ihren hauptsächlichsten
Kritikern. Besonders eindringlich wird der demokratische Revisionismus
abgelehnt : auf dem Boden der Klassengesellschaft kann die Demokratie
nichts anderes sein als ein „instrument des interets des classes dominantes".
Die Konzeption der „Wirtschaftsdemokratie" ist eine blosse Utopie : sie
macht die unhaltbare Voraussetzung einer Trennung ökonomischer und poli-
tischer Verhältnisse. Den Klassencharakter hat die kapitalistische Demo-
kratie mit dem korporativen Staat gemeinsam ; dieser ist in seinem eigentli-
chen Inhalt nur die „consecration de l'asservissement economique, social
et politique des classes laborieuses". Diesen beiden jüngsten Formen des
kapitalistischen Klassenstaates stellt D. die wahre „dialektische" Aufhebung
des Staates gegenüber : die Diktatur des Proletariats. Sie bildet tatsächlich
nicht eine blosse Abwandlung der früheren Formen des Staates, sondern
Zatochrift für Soxulfor&ohung 111/2
18
274 Besprechungen
„un nouveau type d'etat de classes" : die letzte Form des Staates vor der
Konstitution des klassenlosen Gesellschaft. In der Interpretation dieses
Uebergangs vom Klassenstaat über die Diktatur des Proletariats zur klas-
senlosen Gesellschaft stellt sich D. auf den Boden des Leninismus.
Obgleich das Buch nichts wesentlich Neues bringt, ist es durch das
umfangreiche vorgelegte Material und die gute Berücksichtigung der neuesten
geschichtlichen Entwicklung ein wichtiges Dokument für den Stand der
marxistischen Staatstheorie. Werner Frank (Genf).
Schulz, F. O. H., Untergang des Marxismus. L Engelhorns Nachf.
Stuttgart 1933. (371 S. ; RM. 4.50, geb. RM. Q.—)
Dieses Buch eines ehemaligen Marxisten gründet seinen „Anspruch, auf
Geltung" darauf, dass es ebensowohl ein „Bekenntnis — " als ein „Erkennt-
nisbuch" sei. „Die Geschichte lehrt, dass diejenigen Menschen, die sich
aus dem marxistischen Denken ideell befreit haben, insgesamt ihren Anker
in den Grund eines Idealismus senken, der sich in staatenbildenden
Energien umsetzt". Nicht unähnlich wie mit solchen „Bekenntnissen"
des Autors verhält es sich auch mit seinen „Erkenntnissen". Er kennt
von der theoretischen und geschichtlichen Gesamterscheinung des Marxis-
mus allenfalls die Parteigeschichte und auch diese nur oberflächlich und in
ihren letztvergangenen Phasen. Infolge dieser ungenügenden Sachkenntnis
bewegen sich seine Ausführungen in einer blossen Wiederholung längst
bekannter und von anderen Kritikern innerhalb und ausserhalb des marxi-
stischen Lagers weit besser formulierter und begründeter Angriffe. Trotz
dieser Belanglosigkeit besitzen aber die Be- und Erkenntnisse Seh.' als
ein Beitrag für die vollständige Erfassung der letzten Phasen der sozial-
demokratischen Parteigeschichte eine gewisse Bedeutung. Besonders
interessant sind in diesem Zusammenhang die von dem Verf. in zwei
Kapiteln seines Buches liebevoll geschilderte Hofgeismarer Bewegung der
Jungsozialisten von 1923 und nach deren formeller Überwindung im Jahre
1925 für die spätere Periode der „religiöse Sozialismus". Es ist gewiss kein
Zufall, dass gerade in den „Neuen Blättern für den Sozialismus" noch 1932
das letzte, dem hier besprochenen unmittelbar vorhergehende Buch von
Seh, als das Werk eines Mannes bezeichnet wurde, der „eine neue Bresche
in die Mauer des doktrinären Marxismus geschlagen" und „die Aufgabe
unserer Zeit und die Aufgabe des Marxismus erkannt" habe.
Karl Korsch (London).
Gouhier, Henri, La jeunesse d' Auguste Comic et la formation du
positiuisme : /. Sous le signe de la Liberli. Vrin. Paris 1933.
(301 p. ; fr$. fr. 32.— )
J'ouvrais avec mefiance le nouveau livre de M. Gouhier. Celui qu'i]
avait en 1932 consacre ä la vie d ! A. Comte m'avait deplu (pour ne pas dire
davantage) ; j'avais ete choqu6 par la mani&re enjouee, par 1'ironie facile
(l'ironie est le defaut que doit s'interdire tout biographe d'A. Comte),
Allgemeine Soziologie 275
comnie si l'auteur avait recherche des merites litteraires plus que la rigueur 1 ).
Je n'en suis donc que plus ä l'aise pour reconnaltre le caractere rigoureuse-
ment scientifique du premier tome du grand ouvrage queM. Gouhier prepare.
Sans doute il continue ä aimer les fleurs de rhetorique. Reconnaissons que ce
delaut est l'envers peut-etre d'un style facile et agreable, qui rend une
indiscutable Erudition fort supportable,
M. Gouhier a toujours concu I'histoire de la Philosophie plus comme une
histoire des esprits (ou meme des hommes) que comme une histoire des
idees. (Cf. Avant-propos de ce livre et tout le livre du meme auteur sur
Malebranche.) II rattache les systemes ä leurs createurs et ä leur epoque
plus qu'il ne s'efforce d'en degager la signification authentique ou la valeur
de veritä. On leur prefere une autre melhode : cette melhode biographique
n'en est pas moins legitime, en particulier dans le cas d'A. Comte.
Le premier tome est consacre ä la jeunesse d'A. Comte depuis les annees
de lycee ä Montpellier jusqu'en aoüt 1817. Plus importants que les evene-
ments de cette periode sont les enseignements que l'auteur en tire. Des
trois problemes poses dans V avant-propos, un seul est aborde dans ce tome.
En effet en ce qui concerne l'hypothese historique selon laquelle la religion
positiviste serait liee ä la religion revolutionnaire, en ce qui concerne aussi
l'unite de la pensee d'A. Comte, la jeunesse d'A. Comte ne nous apprend rien,
Mais il n'en va pas de meme en ce qui concerne la question traditionnelle
des relations avec Saint-Simon. En effet, M. Gouhier apporte la demonstra-
tion de cette proposition, trop souvent meconnue, que la pensee d'A. Comte
existe dejä avant la rencontre de l'autre „Messie positiviste". II a dejä subi
les influences qui devaient l'orienter, il a dejä puise dans les milieux qu'il a
traverses, les idees directrices de son Systeme. Encontre, ä la fois mathema-
ticien et philo sop he, lui a montre" pour la premiere fois reunis les deux
personnag es qu'il a voulu etre simultan 6m ent : pedagogue et philosophe.
D' autre part, beaucoup des polytechniciens de sa gendration avaient en
tete, semble-t-il, deux grandes idees, er 6er une Philosophie des sciences
naturelles et une politique scientifique. Ainsi, avant la rencontre avec
Saint-Simon, A. Comte possedait dejä les idees essentielles de son Systeme,
qu'il aurait, pretend-on, empruntees ä Saint-Simon : philosophie des
sciences, politique positive, regen eration sociale fondee sur I'une et sur
l'autre, sens de la relativite (p. 227 et 239-43). II faudrait donc eher eher
ailleurs l'influence de Saint-Simon si eile existe, de meme qu'il faudrait
apercevoir la veritable originalite de Comte dans la realisation geniale
d'ambitions alors banales.
Regrettons seulement que le caractere de Comte soit jusqu'ä prösent
aussi peu dessine; Sans doute M. Gouhier compte-t-il achever le portrait dans
les tomes suivants. Raymond Aron (Le Havre).
l ) Sans parier des doutes que M. Gouhier semblait suggerer au sujet de la sante
mentale d'A. Comte.
276 Besprechungen
The Social and Polilical Ideas of some Representatioe Thinkers
of the Victorian Age. Edittd by F. J. C. Hearnshaw. Harrap.
London. 1933. (pp. 271 ; 8 s. 6 d.)
This is the final volume of a series of nine, „covering the whole process
of European thougth from St. Augustine to Matthew Arnold". The
persons treated are Carlyle, Spencer, Maine, de Tocqueville, Marx, Green
Matthew Arnold, Bagehot and Taine, and there is an Appendix on the
predecessors of Bagehot. Professor Hearnshaw writes on Spencer, stresslng
his political individualism and treating his view of the organic nature
of Society rather as a regrettable inconsistency. Professor Dover Wilson
writes with authority on Arnold, but without convincing us that his poli-
tical theories were of any great iraportance. The two best essays are
those of H. J. Laski on de Tocqueville and A. D. Lindsay on Green. Both
bear the stamp of their origin as lectures, in that they are comprehensive
without being exhaustive. Both are admirably lucid, and sympathetic
without being partial, except that Lindsay is, perhaps, inclined to slur
over Green's difficulties in reconciling the freedom of the individual judg-
ment with the supremacy of the common good.
C. H. Driver contributes two essays, one on Bagehot and one (the
Appendix) on the development of the psychological approach to politics
before Bagehot. In the latter he pays particular attention to T. R. Edmonds.
Without introducing anything that is either original or controversial, he
has written an excellent analytical account of this branch of methodology
which helps to identify the trend of thought exemplified by the other
thinkers discussed in this volume and to relate it to another great Victorian
Darwin, who does not appear among them. He is able to expose the
common element in the diverse theories of Spencer, Marx, Bagehot, Arnold
and, to some extent, Maine, namely the concept of a cultural evolution
a social heritage, which is conditioned by the psychological lif e of the indi-
vidual and apart from which the individual is a meaningless abstraction.
The most provocative essay is that of J. L. Gray on Marx. He writes as
a philosopher, omits all consideration of the purely economic doctrines and
finds the core of Marx's System in the use of the Hegelian dialectic and
in the doetrine of historical materialism. Both of these he subjects to
severe criticism, though admitting the value of the latter as expressing the
adaptability of man in a social, and not Individualist, form. Marx's socia-
lism was the faith of an idealist. It is not implied in his system, His
reasoning is fundamentaUy a priori. And yet „he created the beghmings
of a scientific outlook in social studies" by giving a rational, and not an
ethical, basis to the doetrine of revolution.
T. H. Marshall (London).
Psychologie 277
Psychologie.
Fleming, Sandford, Children and Puritanism. Yale Uniüersily Press.
New Hauen 1933. (236 S. ; $ 2.50;
Die Arbeit beschreibt die Stellung der Kinder im Leben und in den
Anschauungen des neuenglischen Puritanismus von 1620 bis 1847, Auf
eine Darstellung der Geschichte und der dogmatischen Entwicklung der
Neuengland-Kirchen folgt eine ausführliche Beschreibung der Einstellung
der Kirche zu den Kindern, speziell zum Problem der Mitgliedschaft der
Kinder in der Kirche, der Bücher und Predigten für Kinder und der reli-
giösen Erziehung, Unter reichlicher Benützung der zeitgenössischen Doku-
mente wird dann die Beaktion der Kinder auf den religiösen Appell der
Kirche beschrieben, im besonderen die religiösen Zusammenkünfte der
Kinder und Jugendlichen und ihre seelischen Reaktionen. Zum Schluss
werden die Veränderungen, die im 19. Jahrhundert vor sich gingen, kurz
behandelt.
Der Verf. zeigt vor allem zwei Tatsachen mit grosser Klarheit auf.
Zunächst die, dass die Kirche die Kinder nicht als von den Erwachsenen
psychologisch verschieden, sondern höchstens als verkleinerte Erwachsene
betrachtete und dementsprechend von einer religiösen Erziehung, die
der seelischen Besonderheit des Kindes angepasst war, keine Rede gewesen
ist. Zweitens, dass dementsprechend dieselben Mittel der religiösen Beein-
flussung, die man bei den Erwachsenen als die entscheidenden ansah,
auch den Kindern gegenüber angewandt wurden. Die Bücher und die end-
losen Gottesdienste boten Kindern wie Erwachsenen die gleichen Gedanken
an Tod, Verderbtheit des Menschen und die Furchtbarkeiten der Hölle
als Triebfedern ihres Gefühlslebens. Dass Kinder von 8 Jahren nachts
laut weinend sich als Sünder bekannten und sich auch durch beruhigende
Worte der Eltern darum nicht trösten Hessen, weil Gott sie wohl nach einem
so sündigen Leben nicht mehr begnadigen werde, war nichts Seltenes und
wurde als ein Zeichen der religiösen Begabung des Kindes angesehen.
Indem das Buch die religiöse Erziehung der Kinder zum Gegenstand hat,
gibt es ein besonders deutliches Bild von den seelischen Antrieben, die
natürlich in noch viel stärkerem Masse bei den Erwachsenen massgebend
waren : Angst, Zweifel, seelische Unterwerfung, Trotz und Schuldgefühl.
Der Verfasser bietet so einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Trieb-
struktur des Puritanismus und damit indirekt auch zur Analyse der bürger-
lich-protestantischen Gesellschaft. Erich Fromm (Genf).
Rank, Otto, Erziehung [und Weltanschauung. Eine Kritik der psy-
chologischen Erziehungs-Ideologie. Ernst Reinhardt München 1933.
(183 S.; RM. 3.80, geb. RM. 5.80;
Dieses Buch ist schwer referierbar, da es eine klare Linie nicht aufweist.
Dagegen ist eine Fülle erwägenswerter Gedanken vorhanden. Die Erzie-
278 Besprechungen
hung zerfalle in eine kollektive und individuelle. In den Zeiten der Primi-
tiven sei die individuelle Erziehung am Anfang gestanden, die kollektive
in Form der Männerweihe habe nur kurze Zeit gedauert, sei aber umso
eindrucksvoller gewesen, da sie sich der Mystik bedient habe. Dann sei
das Individuum weitgehend Kollektivwesen geblieben. Späterhin sei die
Erziehung eine religiöse gewesen ; das sei die soziale Stufe des Sexualzeital-
ters (Patriarchat). Die dritte Stufe, die heutige, sei die individuelle der
psychologischen Ideologie. Was dies ist, wird nicht recht klar. Sicher
aber ist, dass zwar ausserordentlich viel von Ideologie die Rede ist die
kapitalistische Ideologie aber, in deren Bereich das heutige Bürgertum' auf-
wächst und von dessen Erziehung doch das Buch handelt, nicht erwähnt
wird. Überhaupt scheint das Buch in grosser Distanz von der Realität
geschrieben zu sein : „ ... diese im 19. Jahrhundert aufblühende Weltideolo
gie des Humanismus wurde bald durch kleinere Gruppeninteressen ver-
drängt, die sich schliesslich innerhalb der einzelnen nationalen Gemeinschaf-
ten zum Klassenkampf verschärften, wie er das 19. Jahrhundert beherrschte.
Der Weltkrieg ist als Gegenwirkung darauf zu verstehen, da er wenigstens
die einzelnen Völker vorübergehend einigte — ja sogar grössere Bündnisse
schuf — und in seinen Folgen wieder dem humanistischen Ideal der Men
schenverbrüderung zuneigte." Karl Landauer (Amsterdam).
Grünberg, Sldonle Matsner und Benjamin C. Grünberg, Parents f Children
and Moneg. The Viking Press. New York 1933. (219 S. ; % 1,751
Die Autoren behandeln das pädagogische Problem, wie sich Eltern am
richtigsten in Geldangegelegenheiten ihren unerwachsenen Kindern gegen-
über verhalten. Es wird erörtert, ob und in welcher Höhe die Kinder
Taschengeld erhalten sollen, in welcher Weise auf ihre Ausgaben Einfluss
genommen werden soll, ob und wie sie zum Sparen veranlasst werdeß
sollen, weiterhin ob es zweckmässig ist, dass das Kind versucht, selbst Geld
zu verdienen, wie es sich zum Leihen und Borgen einstellen soll und endlich
welchen Einfluss das Geld auf die Beziehungen innerhalb der Familie hat
Das Buch geht theoretisch nicht tief genug, um die Erforschung dieses
wichtigen sozialpsychologischen Problems wesenüich zu bereichern.
Erich Fromm (Genf).
Pleron, Henri, Le BiDeloppement mental et fintelligence. «v«,
Alcan. Paris 1933. (95 p. ; fr. frs. 10.— )
Isaacs, Susan, Social Development in young Children. Roulledat.
London 1933. (XII & 480 p. ; sh. 15.—; uu *tgt.
Dans la premiere de ces quatre Conferences donnees ä l'Universite Hp
Barcelone en 1926 M. Pieron expose chez le tout petit enfant que is
obstacles, physiques surtout, peuvent conduire ä des arrets de deveIon De -
ment. S'en referant aux travaux de Piaget, il signale aussi l'importance de
l'element social dans le döveloppement de la pensee. Dans le chapitre
suivant, P. passe en revue les differentes mesures de FinteUigence (Bi ne t,
.
Psychologie 279
Simon, Terman, Yerkes, etc.). Celles-ci n'ont vraiment de valeur que pour
les enfants qui sont encore ä Tage scolaire. Pour l'adolescent et l'adulte,
Involution de l'intelligence doit etre surtout qualitative (profus psycholo-
giques) et eile ne doit plus se faire en fonction de l'äge. P. resume les efforts
de Rossolimo, Vermeylen et d'autres pour parvenir I une Evaluation analy-
tique des fonctions mentales. Tout en reconnaissant les difficult.es que
souleve l'emploi des tests, l'auteur se montre optimiste quant ä leur valeur
pratique.
Mme Isaacs ecrit son livre qu'elle divise en deux, une part psycholo-
gique et une part pedagogique, pour des lecteurs au courant dela psychana-
lyse. La grande experience que Susan Isaaes a des enfants, sa connaissance
etendue de la litter ature psychologique, son sens critique donnent ä ce livre
une grande valeur. Piaget avait fait remonter le debut des processus de
Cooperation ä Tage de 7-8 ans, l'auteur montre par de nombreux exemples ä
l'appui que cette Cooperation est ä l'ceuvre des les premiferes annees. Le
developpement social de l'enfant deborde du reste le cadre de La Cooperation
d'autres facteurs tels que l'hostilite, les sentiments de culpabihte et de
responsabilite, la sexualite aussi y jouent un röle important. Or tous ces
sentiments complexes existent dejä dans les relations emotives qui lient
l'enfant ä la mere. Susan Isaacs insiste sur les manifestations precoces
de la sexualite chez l'enfant. Les parents ne doivent pas simplement les
admettre, car elles cr6ent uneanxiete spontanee qu'il est necessaire d'apaiser.
La meffleure ceuvre de propbylaxie est de renseigner largement et intelli-
gemment les parents sur tous ces faits.
Raymond de Saussure (Genfeve).
Kellogg, W.N., und L. A. Kellogg, The Ape and the Child A study 0/
environmental influenae upon early behauior. McGraw-HM Book Com-
pany, Inc. New York and London 1933. (XIV u. 341 S. , S 3.-,
12 s. 6 d.)
,, , . ^ «****< mit pinem 9 Monate alten Kind
Ein Halbjähriger Schimpanse wird ■«*££ wifd g Monate lang
unter identischen Bedingungen erzogen. Der yersucn w nu &
durchgeführt. Die Entwicklung der beiden Indmdu n wird durch ^ de
ExperLentalsituation nirgends eingeengt. Der Versuch fuhrt zv einer
^..■., ^ ,. • Jm )t vnrhildlich er Lebendigkeit und Exaktheit
Fülle von Ergebnissen, die mit vormicm^"^ ^« & «.u«i*i
dargestellt werden. Aus der Fülle der Anregungen, die von dem reichhal -
gen Material ausgehen, kann lediglich folgendes zusammenfassend heraus-
gehoben werden : . ,
Die Entwicklung des zwei Monate jüngeren Schimpansen überschneidet
die des Kindes innerhalb kurzer Zeit. Er beherrscht mit seinem Bewe-
gungsapparat seine Umwelt schneller als das Kind, lernt darum auch
schneller alle Anstandsregeln, die der Mensch für notwendig hält. Das
Essen mit dem Löffel z. B. fällt ihm leichter als dem Kind. Dagegen ist er
in all seinen Handlungen viel unmittelbarer von seinen Pflegeeltern abhan-
gig, an die er viel mehr, viel „äusseriicher" zumindest, gebunden scheint.
Er ist unglücklich, wenn er sie aus der Sicht verliert. Er ist in weitaus
geringerem Masse imstande, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Man
280 Besprechungen
beobachtet bei ihm keine Neigung zum Spiel mit seinen Fingern, er hat
keine Ansätze zu einer Lall spräche. Seine paar Laute entwickelt
allein im aktiven Erleben an den Objekten der Umgebung.
Während das Kind in den ersten Zeiten sein Verhalten in der Umwelt
nachahmt, ihn also gewissermassen als Führer anerkennt, kehrt sich das
Verhältnis später in einer Beziehung um : Besonnenes Verhalten lernt der
Affe vom Menschen. Einen Gegenstand von allen Seiten betrachten
ihn nach einander in Kontakt mit verschiedenen Dingen der Umwelt
bringen, ihm also verschiedene Bedeutungen abgewinnen, darin ist der
Mensch dem Tier von Anfang an überlegen. Diese „meditative" Veranla
gung also, die einhergeht mit einem Mangel an ursprünglichem motorischem
Verankertsein in der Umgebung, hat schon im ersten Lebensjahr der Mensch
vor dem Anthropoiden voraus. Gustav Bally (Zürich).
Bevington, Sheüa, Occupational Misfits. A Comparative Sludu ©f
North London Boys Employed and Unemployed. Wüh a Foreword bu
Charles S. Myers. Allen & Umuin. London 1933. (102 S. ; sh. 6.-JJ
Miss Bevington hat mit Hilfe des National Institute of Industrie
Psychology 400 Jugendliche des Bezirkes Tottenham untersucht um
festzustellen, auf welche soziologischen, psychologischen usw. Unterschiede
berufhcher Erfolg oder Misserfolg zurückzuführen sei. Als beruflich
erfolgreich" werden dabei diejenigen 16- bis 18- Jährigen angesehen die
seit Verlassen der Schule stets Arbeit gehabt hatten, als „beruflich geschei-
tert" diejenigen, die zur Zeit der Untersuchung erwerbslos waren. Es zeiet
sich, dass soziologische Umstände (Beruf des Vaters, Zahl der Geschwister!
intellektuelle Unterschiede (Grad der Schulbildung) und Unterschiede der
beruflichen Tüchtigkeit (Höhe der Arbeitsverdienste) für den beruflichen
Erfolg oder Misserfolg nicht entscheidend waren, wohl aber Unterschiede
des Charakters, wie sie in den Schulzeugnissen für Betragen, in der Plausi-
bilität der für Stellenwechsel angeführten Gründe, in der Berufsstabilität
und in den zukünftigen Berufsaussichten in Erscheinung treten. Weitere
Ergebnisse der Untersuchung sind : Wenn ein Beruf ohne Berufsneigunc
ergriffen wird, so schädigt dies die ganze weitere Berufslaufbahn. Die von
Lehrern und Eltern den Jugendlichen erteilte Berufsberatung ist äusserst
mangelhaft ; am Schlüsse der Arbeit werden Vorschläge zur Verbesserung
gemacht. — Die Arbeit enthält zahlreiche tabellarische Übersichten • .t*
zeichnet sich durch Sorgfalt und Vorsicht aus, mit der die zahlenmässiaen
Befunde analysiert werden. otto Lipmann (Berlin)! 8
Mac Curdy, J. T., Mind and Money. Faber. London 1933. (319 D .
10 s. 6 d.) **• >
Dans la crise actuelle, les facteurs economiques qu'etudient les specia
Ilstes ne sont pas seuls en jeu, U y a des facteurs psychologiques qui doivent
etre mis en evidence, et ceci d'autant plus que, par le suffrage universel
chaque citoyen peut influer sur le sort economique du pays. Ici rantagonisnae'
w
Psychologie 281
des partis joue un röle nelaste. Capitalistes et socialistes s'accusent reci-
proquement au Heu de s'unir et etudier en commun et en toute objectivite
les problemes. — Puis Mac Curdy retrace les grandes lignes des travaux
modernes sur la psychologie du groupe. 11 fait un tableau de la Situation
economique actuelle en Allemagne, aux Etats-Unis et dans FEmpire
britannique, denon^ant les principaux facteurs psychologiques de la crise.
Dans un dernier chapitre, Fauteur montre comment il pense que l'on
pourrait eviter certaines catastrophes en unissant mieux Fetude psycholo-
gique ä celle des problemes economiques.
Raymond de Saussure (Genfeve).
Psycho-anatysis Today. Its Scope and Function. Edited by Sandor
Lorand. Allen & Unwin. London 1933. (370 p. ; &h. 18. — )
Ce livre contient une serie d'articles sur les principaux problemes de la
psych analyse. Son merite est d'etre redige par une serie de medecins parti-
culierement qualifies. La place nous manque pour analyser la pensee de
chacun d'eux, mais une liste choisie des articles et de leurs auteurs donnera
une juste idee de Finteret de ce volume. Ferenczi : L'influence de Freud
sur la mödecine. Alexander : Developpement de la psychologie du moi.
Meyer : Mecanisme des reves et leur Interpretation. Nunberg : Les bases
theoriques du traitement psychanalytique. Lorand : Formation du caractere
et psychanalyse. Williams : Le developpement de I'hygiene mentale.
BriU : La sexualit6 et son röle dans les nevroses. Oberndorf : Relations entre
enfants et parents. Klein : Les premiers Stades du developpement de la
conscience chez l'enfant. Kardiner : Hysteries et phobies. Laforgue : Les
schizophr6nies. Hinsie : La paranoia. Jelliffe : Psychanalyse et mödecine
interne. Roheim : Psychanalyse et anthropologie. Jones : Psychanalyse et
religion. Witteis : Psychanalyse et litterature. Schilder : Psychanalyse
et criminoiogie. Raymond de Saussure (Geneve).
Kankeleit, Otto, Die schöpferische Macht des Unbeivussten. Ihre
Auswirkung in der Kunst und in der modernen Psychotherapie. Mit
Beiträgen von Blunk, Claudius, Hermann Stehr, Emil Abderhalden,
C. G. Jung, Graf H. Keyserling, Alfr. Kubin u. a. Walter de Gruy-
ter u. Co. Berlin u. Leipzig 1933. (89 S. ; RM. 4.50J
Egeydi, Henrik, Die Irrtümer der Psychoanalyse. Eine Irrlehre mit
einem genialen Kern. Wilh. Braumüller. Wien und Leipzig 1933.
(86 S. ; RM. 2.80;
Das Buch von Kankeleit steht in psychologischer Beziehung ganz im
Ranne von C. G. Jung. Der Autor will sich einreihen in die Schar derer, die
der seelischen Hilfe bedurften, da sie vom schöpferischen Prinzip des
Unbewussten abgeirrt waren, welche gesundeten, als ihre Seele in seelischem
Erdreich wieder Wurzel schlug. Das Individuum erhält erst einen Sinn,
wenn es Instrument der Art ist, und so reiht sich dies Buch ein in eine Reihe
früherer rassenhygienischer Arbeiten des Autors. Zu dem eigentlich inte-
ressierenden Prozess, wie nun dieses Unbewusste sich zum Bewussten und
282 Besprechungen
anderen Menschen Verständlichem und Nacherlebbarem gestaltet, kann man
hier nichts erfahren.
Der Untertitel der Schrift von Egeh/di charakterisiert das Büchlein
trefflich : einerseits — andererseits, und mit Superlativen wird nicht gespart.
Trotz reichlicher Zitate ist die Kenntnis Freuds sehr oberflächlich. An
Stelle der ursprünglichen psychoanalytischen Methode benütze Freud jetzt
die freie Assoziation zur Eruierung der unbewussten verdrängten Traumen.
Die schonend und diplomatisch mitgeteilte Deutung all dieser Konflikte
solle zur Heilung führen. In der Tat aber werden die freien Assoziationen
die Ursache einer hypnotischen Relation, und so sei die Psychoanalyse
in Wirklichkeit eine missgedeutete Psychometamorphose.
Karl Landauer (Amsterdam).
Revesz, Geza, Das Schöpferisch-Persönliche und das Kollektive in
ihrem kulturhistorischen Zusammenhang. J. C. B. Mohr.
Tübingen 1933. (58 S. ; RM. 2A0)
Die Schrift stellt sich die Aufgabe, zur „Klärung der Frage nach dem
persönlichen und kollektiven Anteil in der individuellen Schöpfung**
beizutragen. Der Verf. kommt zum Ergebnis, dass sich „die Frage nach
dem Verhältnis des persönlichen und kollektiven Anteils an einem indivi-
duellen Werk...nur durch eine historische Betrachtungsweise beant-
worten" lässt. Das Resultat der Untersuchung ist dürftig genug : „eine
genaue Analyse der Faktoren zeigt... dass ohne grosse Persönlichkeit
geschichtliches Geschehen gar nicht entfesselt werden kann, denn sie ist es,
die die kollektiven Kräfte sowohl sublimiert als auch entbindet. Gleichzei-
tig aber steckt in ihr sehr viel vom Kollektiven" . „In grossen Zügen gesehen
besteht also in dieser Wechselbeziehung das Verhältnis des Schöpferisch-
Persönlichen zum Kollektiven..." Friedrich Winkl (München).
Heidbreder, Edna, Seven Psycholagies. The Centarg Company. New-
York 1933. (450 S. ; S 3.— )
Verf. will weder eine erschöpfende Studie über einzelne psychologische
Systeme noch eine vollständige Darstellung der amerikanischen Psychologie
geben. Das Buch soll vielmehr den gebildeten Laien mit den wichtigsten
Strömungen der amerikanischen Psychologie bezw. der in Amerika wich-
tigsten europäischen psychologischen Schulen bekanntmachen. Die sieben
psychologischen Systeme, die H. darstellt, sind : der Strukturalismus, die
Psychologie von William James, Funktionalismus, Behaviorismus, Psy-
choanalyse, dynamische Psychologie und Gestaltpsychologie. Jedes Sy-
stem wird in seiner historischen Entwicklung dargestellt und Nachdruck
auf den Beitrag gelegt, den es für die gesamte Entwicklung der Psychologie
liefert. Verf. ist sparsam in der Verwendung technischer Ausdrücke, so dass
er im grossen und ganzen die gestellte Absicht erreicht, wenn auch gewiss
zu einer Reihe von Einzelfragen kritische Anmerkungen gemacht werden
können. Ein Literaturverzeichnis zu jedem Kapitel erhöht den didakti-
schen Wert. Erich Fromm (Genf).
Geschichte 283
Geschichte.
Hampe, Karl, Das Hochmittelalter, Geschichte des Abendlandes von
900-1250. Propyläenverlag. Berlin 1933. (X u. 346 S. ; RM. 12. — ,
geb. RM. 15.—)
WIeruzowski, Helene, Vom Imperium zum nationalen Königtum.
Vergleichende Studien über die publizistischen Kämpfe Kaiser Fried-
richs 11. und Königs Philipps des Schönen mit der Kurie. R. Olden-
bourg. München 1933. (241 S. ; RM. 9.—;
Günther, Franz, Der deutsche Bauernkrieg. R. Oldenbourg. Mün-
chen 1933. (XIII u. 494 S. ; RM. 17.—, geb. RM. 18.50J
Ernst, Fritz, Eberhard im Bart Die Politik eines deutschen Lan-
desherrn am Ende des Mittelalters. W. Kohlhammer. Stuttgart
1933. (X u. 244 S. ; RM. 9.—)
Hampe ist einer von den wenigen mittelalterlichen Historikern, die
nicht nur forschen, sondern auch die Ergebnisse ihrer Forschungen lesbar
darstellen können. In diesem Bande behandelt er, in Erweiterung seiner
Darstellung in der Propyläen- Weltgeschichte, nicht nur die Kaiser-
geschichte der Salier und Staufer und hebt nicht mehr nur einzelne markante
Herrscherfiguren hervor, sondern er fasst seine verschiedenen Arbeiten zu
einem grossen, geschlossenen und einheitlichen Bild zusammen, wobei er
allerdings ebenso wie in seinen früheren Schriften auf wirtschaftliche
Probleme nicht eingeht.
H. Wieruzowski, eine Meineckeschülerin, weist eindringlich nach
welche Veränderungen sich in der Zeit von Friedrich II. bis zu Philipp
dem Schönen in der Entwicklung vom Imperium zu dem von nationalen
Kräften getragenen Königtum durchgesetzt haben — eine Entwicklung,
die dem mittelalterlichen Universalismus das für den Nationalstaat
bahnbrechend wirkende Argument entgegenstellte, dass die Natur der
Menschheit eine Vielheit von Staaten verlange.
Franz Günther legt jetzt als Ergebnis achtjähriger Forschungsar-
beit eine modernen Ansprüchen genügende zusammenfassende Darstellung
des Bauernkrieges vor, die auf einer ebenso gründlichen wie umfassenden
Bearbeitung des in vielen Archiven zerstreuten urkundlichen Materials
beruht. Er betrachtet den deutschen Bauernkrieg als das grösste Naturer-
eignis der deutschen Geschichte, das er weder feiert noch als Rebellion
verurteilt, noch zu einer religiösen Bewegung umdeutet ; er sucht zu
erklären und zu verstehen.
Der Hallerschüler Fritz Ernst untersucht einen besonderen Entwick-
lungsabschnitt eines der vielen innerhalb der universaleren Reichswelt sich
ausbildenden staatlichen Mikrokosmen und beweist im einzelnen, wie sehr
auch der württembergische Partikularfürst gleich den anderen Landesher-
ren das Bestreben hat, seinem Territorium eine einheitliche und abgerundete
Form nach aussen zu geben, Macht und Recht gegen Kaiser und territoriale
Nachbarn zu erweitern und zu umgrenzen und auch nach innen hin sein
Land verfassungsmaessig, administrativ, finanziell und militärisch zu
konsolidieren. Walter Schwär tz (Frankfurt a. M.).
284 Besprechungen
Nordstroem, Johan, Moyen Age et Renaissance. Essai historique
Librairie Stock. Paris 1933. f238 S. ; frs. fr. 20. )
Petlt-Dutaillis, Ch., La monarchie fiodale en France et en Angleterre
X*-XIII* stiele. La Renaissance du Livre. Paris 1933. fXVTT »
477 S. ; frs. fr. 40.—; U '
Nordstroem liefert in seinem Buch eine Kritik der traditionellen
insbesondere von Burckhardt vertretenen Auffassung der Benaissance*
Er ist der Ansicht, dass keineswegs die italienische Benaissance das Erbe
der antiken Kultur in Europa zum Wiederaufleben brachte ; das Wesent
hebe dieser Arbeit sei bereits im Laufe der vorhergehenden Jahrhunderte
geleistet worden. Im Lichte der modernen Forschung sei es immer schwie
nger, die herkömmliche Einteilung der geschichtlichen Perioden in Mittelal"
ter und Benaissance aufrechtzuerhalten. Die Auffassung, dass erst die"
italienische Benaissance die moderne Auffassung von Natur und Mensch
geschaffen und so die Grundlage für die moderne Wissenschaft und Kunst
gelegt habe, sei falsch, man müsse die italienische Benaissance als ein
Moment der kontinuierlichen Entwicklung der europäischen Zivilisation
betrachten. Nach der Periode des Verfalls und der Anarchie, die auf Z
Auflösung des Karolingerreichs folgte, seien in der zweiten Hälfte de!
11. Jahrhunderts in den zivilisierten Ländern Europas die Anzeichen ein«
neuen Lebens aufgetaucht. Die Tatsache, die nach N. vom Standpunkt
der weiteren Entwicklung der europäischen Kultur vor allem entscheidend
wirkte, war der Aufschwung der Städte und das Auftreten des Bürgertums
An dieser Veränderung des kulturellen Lebens nahm Frankreich den grössten*
Anteil. N. behandelt die klassischen Studien des mittelalterlichen Frank
reich und die scholastische Philosophie des XIII. und XIV. Jahrhundert*"
diese sei allmählich dazu gelangt, eine wissenschaftliche Methode auszuar*
beiten, dank der Philosophie und Theologie voneinander abgegren?»
wurden, so dass sich eine unabhängige Erforschung des Menschen und der
Natur entwickeln konnte. Auch inbezug auf die Naturwissenschaft die
Literatur und Kunst habe die Benaissance nur das Werk, das im Mittelkit«,
begonnen wurde, fortgesetzt. OT
Petit-Dutaillis hat sich das Ziel gesetzt, die Entwicklung dermonar
einsehen Gewalt in Frankreich unter den ersten KapetingL und Se
gleichzeitige Geschichte der Königsgewalt in England im Zusammenhat zu
^t °« Geschichte Frankreichs und Englands ist in jenem 2eit
räum dadurch eng miteinander verquickt, dass die englischen Könige am
den Hausern Wilhelms des Eroberers und der Plantagenet, über ^e
franzosische Besitzungen verfügten und dass ferner die VerwaltungsnSth^
den der normannisch-englischen Monarchie von den Kapetingern z T ÜW
nommen wurden P -D. verweilt ausführlich bei den Beziehungen zwischen
der monarchischen Gewalt und der Kirche, deren klare Darstellung etn
besonderer Vorzug des auch sonst auf Grund einer hervorragenden KenntnU
des Stoffes geschriebenen Buches ist. Seine Ausführungen lassen erkennen
welchen Einfluss die Stellung der Kirche darauf hatte, dass die monar
chische Gewalt sich in England und Frankreich verschieden entwickelte!
dass sie hier einen starken Zuwachs an Autorität erhielt, während sie i«
1 [ 1
Geschichte 285
England vor den Forderungen des Adels zurückweichen musste. P.-D-
beschränkt sich darauf , die Entwicklung der Königsgewalt und ihrer Organe
zu schildern, >vas z. T. daraus zu erklären ist, dass sein Buch im Rahmen der
Reihe „Evolution de I'Humanite" erscheint, in der die feudale Gesellschaft
und Wirtschaft von anderen Autoren gesondert behandelt werden. Daher
wird bei ihm die allgemeine gesellschaftliche Rolle der Kirche in jener Zeit,
die ihre politische Wirksamkeit ermöglichte, ebensowenig klar sichtbar wie
die Entwicklung der einzelnen Schichten der feudalen Gesellschaft, die für
die Geschichte der Monarchie bestimmend war. P.-D. begnügt sich hier
mit Andeutungen, während er z. B. den persönlichen Eigenschaften der
einzelnen Monarchen einen verhältnismässig breiten Raum widmet und diese
persönlichen Eigenschaften z. T. (wie im Falle Johanns o. L.) als für die
geschichtliche Entwicklung in erster Linie entscheidend ansieht.
Albert Dorn er (Basel).
Pascal, R-, The Social Basis of the German Reformation. Martin
Luther and his times. Watts & Co. London 1933. (IX u. 246 S. ;
7 s. 6 d.)
Bestrebt, die Widersprüche im politischen und gedanklichen Verhalten
Luthers zu erklären, stiess P. auf die gesellschaftlichen Hintergründe, aus
denen Luther und die Reformation erwuchsen. Hierbei genügt es nicht,
so stellt der Cambridger Dozent fest, von „der Zeit" Luthers als von etwas
Festem und Einfachem zu sprechen. „Die Gesellschaft befand sich damals
in rascher Bewegung. Sie bestand aus einer Reibe von Gruppen, von
Klassen mit bestimmten Interessen und bestimmten moralischen und meta-
physischen Auffassungen, die miteinander um die gesellschaftliche Führung
kämpften. Dieser Krieg ging auf allen Gebieten vor sich, in der Meta-
physik wie im praktischen Leben. Für das Verständnis Luthers ist es grund-
legend wichtig, zu sehen, dass er einer dieser Gruppen angehört und dass
er ihren Kampf führt und leitet." P- kommt mittels Untersuchung der
ökonomisch-sozialen Voraussetzungen der Reformation und mittels Unter-
suchung der Theologie und Politik Luthers zu dem Ergebnis, dass Luther
(unbewussterweise ; auf diesen Umstand legt P. grossen Nachdruck) in Ideo-
logie und Praxis als Vertreter bestimmter mittlerer Schichten des damaligen
deutschen Bürgertums wirkte, von Schichten, die sich politisch hinter die
absolutistisch fürstliche Zentralgewalt stellten.
P.s Buch behandelt Luthers Theologie, seinen Konflikt mit dem Papst,
die Gründung der lutherischen Kirche, die Entwicklung von Luthers poli-
tischen Theorien — unter ausführlicherer Schilderung seiner Stellung zu den
Bauern und zum Bauernkrieg — , Luthers ökonomische Auffassungen und
endlich seinen Platz in der zeitgenössischen Kulturentwicklung,
Dem Buche P.s, das übrigens auf sorgfältigem Studium der Quellen
beruht, kommt wegen seiner sozialwissenschaftlichen Orientierung in der
unübersehbaren Lutherliteratur ein hervorragender Platz zu. Eine Neuauf-
lage würde gewinnen, wenn der Verf. seine Auffassungen an den Geschichts-
studien F. Mehrings und vor allem an Fr. Engels' klassischer Analyse der
Bauernkriege überprüfte. K. A. Wittfogel (London).
286 Besprechungen
Kretschmayr, Heinrich, Geschichte von Venedig. Band 3. Perthes
A. G. Stuttgart 1934. (XV u. 687 5. ; RM. 24.— )
!14 Jahre nach dem zweiten ist nun der dritte Band dieses ausgezeichne-
ten Werkes erschienen. Er ist in sechsjähriger Arbeit hergestellt worden"
nachdem das fast vollendete Manuskript im Juli 1927 bei dem Brand des
Wiener Justizpalastes zugrunde gegangen war. Es gibt kein Kulturgebiet
aus der venetianischen Geschichte, das der Verf. nicht eingehend verfolgt
hätte. Die Politik sowohl wie die verschiedenen Künste, der Betrieb der
Wissenschaften ebenso wie die Darstellung der Entwicklung von Land-
wirtschaft, Industrie und Handel sind sachkundig ausgeführt. Und bei
all dieser Einzelarbeit scheint doch der Zusammenhang überall gewahrt
Dieser dritte und letzte Band behandelt den Niedergang von Venedig*
Seine Ursachen werden, obgleich der Verf. der materialistischen Geschichts-
theorie zweifellos ganz fernsteht, keineswegs in idealistischer Weise gedeu-
tet, sondern vornehmlich in der Wirtschaftsgeschichte aufgezeigt. „Für
den Ausfall des Handels in der Wirtschaft von Venedig gab es keinen
Ersatz" . Aus K. s Schilderung geht hervor, dass dieser Ausfall im wesentli-
chen aus der Entwicklung der Produktivkräfte zu erklären ist. Nach der
Umsegelung des Kaps der Guten Hoffnung und der Herstellung eines unmit-
telbaren Seeverkehrs von Indien nach den Atlantischen Küsten war der
alte Orienthandel, „die Hauptquelle venetianischen Reichtums", nicht mehr
zu retten.
Angesichts der Gefahr, dass die Geschichtsschreibung gegenwärtig weit-
gehend in Mythologie versinkt, mutet eine solche Leistung bürgerlicher
Geschichtsschreibung wie eine Erinnerung aus verflossener Zeit an.
M. Hochberger (Zürich).
Schnabel, Franz, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Bd. 11 :
Monarchie und Volkssouveränität. Herder. Freiburg i. B. 1933
(X u. 414 S. ; RM. 7.40, geh. RM. 9.80;
Oncken, Hennann, Das deutsche Reich und die Vorgeschichte des
Weltkrieges. 2 Teile. J. A. Barth. Leipzig 1933. (Xu. V u
870 S.; RM. 33.-;
Windelband, Woltgang, Grundzüge der Aussenpolitik seit 1871
Zentralverlag G. m. b. H. Berlin 1933. (109 S. ; RM. 2.40>
Dietrich, Richard, Die Tripolis — Krise 1911/2 und die Erneue-
rung des Dreibundes 1912. Diss. Konrad Trilisch. Würzburg 1933
(116 S.)
Die auswärtige Politik Preussens 1858 - 1871. Diplomatische Aktenstücke
herausgegeben von der Historischen Reichskommission unter Leituna
von Brich Brandenburg, Otto Hoetzsch, Hermann Oncken; bearbeitet von
Christian Friese, Rudolf Ibbeken und Herbert Michaelis. Abt. 1 u 2
Gerhard Stalling. Oldenburg 1933. (858 u. 776 S. ; RM. 45.50 geb
RM. 49.— und RM. 42.—, geb. RM. 45.50 J
Deutschland und Polen. Be iträge zu ihren gesch ichtlichen Beziehungen •
herausgegeben von Albert Brackmann. R. Oldenbourg. München 1933*
(VI u. 279 S. ; RM. 6.— )
Geschichte 287
Holstein Friedrich von, Lebensbekenntnis in Briefen an eine Frau.
Eingel u. hrsg. von Helmut Rogge. Ullstein Verlag. Berlin 1932.
(L V u. 357 S. ; RM. 9.—, geb. RM. 12.— )
Pourtales, Graf Albert, Ein preussisch — deutscher Staatsmann ;
herausgegeben von Albert von Mutius, Einführung und Anmer-
kung von Hermann Oncken. Propyläenverlag. Berlin 1933. (190 S. ;
RM. 4.—, geb. RM. 5.—)
In dem ersten Bande seines grossangelegten Geschichtswerkes hat
Sehn ab el, der zur Elite der gegenwärtigen deutschen Historiker gehört, die
Grundlagen untersucht, auf denen das 19. Jahrhundert ruht. Bd. II schil-
dert die Auseinandersetzung zwischen Monarchie und Volkssouveränität,
in der Seh. mit Bänke die leitende Tendenz des 19. Jahrhunderts erkennt.
Der Kampf der aufbrechenden staatsbürgerlichen Kräfte des liberalen
Bürgertums gegen die alten, starken konservativen Mächte um die Durch-
setzung neuer staatlicher Verfassungs- und Lebensformen steht im Zentrum
der Darstellung. In der Überwindung des vom Absolutismus her überlie-
ferten Polizeistaates und in der Durchführung des staatsbürgerlichen Prinzi-
pien angepassten Rechtsstaates findet Seh. die eigentliche politische Lei-
stung des Liberalismus. Freilich weiss auch er, dass die entscheidenden
Leistungen des liberalen Bürgertums nicht auf politischem, sondern auf
geistigem, technischem und wirtschaftlichem Gebiete liegen. Aber die
Behandlung dieser Dinge scheint den folgenden Bänden vorbehalten zu
sein,
Oncken verliert sich nicht an Spezialprobleme, sondern erfasst den
ganzen Komplex der aussenpolitischen Fragen, mit denen das deutsche
Reich von 1871 bis zum Weltkrieg zu ringen hatte. Ja noch mehr : er
baut die Vorgeschichte des Weltkrieges in den universellen Zusammenhang
der mit dem europäischen Gesamtgeschehen verflochtenen deutschen
Geschichte ein. Die abendländische Machtgeltung des mittelalterlichen
Kaiserreiches, sein Zerfall in partikulare Autonomien, das Zusammenfügen
der staatlich zerrissenen europäischen Mitte zu einem Nationalstaat und
das 1871 einsetzende Ringen dieses neuen Reiches um die Behauptung
und Sicherung seiner wiedergewonnen europäischen Existenz, schliesslich
die Katastrophe des Weltkriegs erscheinen vor dieser Perspektive als
ein „sinnhafter und zweckerfüllter Zusammenhang von durchgreifender
Einheit". , a " _ _
Windelband entwickelt kurz und klar Grundzüge und Probleme der
Aussenpolitik von Bismarck bis zur Gegenwart. Seine Fähigkeit, aussen-
politische Zusammenhänge und Linien übersichtlich darzustellen, kommt
auch in dieser kleinen Schrift zur Geltung, der eine Reihe von Vorträgen
zugrunde liegen, die er im Auftrage der Reichszentrale für Heimatdienst
gehalten hat.
Dietrich hat die Tripolis-Krise von 1911/12, die in den bekannten
grösseren Darstellungen der Vorgeschichte des Weltkrieges meist eine
summarische Behandlung erfährt, zum Gegenstand einer Spezial Studie
gemacht. Er will die Verbindungen aufweisen, die zwischen dem Tripo-
liskonflikt und der letzten Erneuerung des Dreibundes bestehen. Der
288 Besprechungen
Verf. stützt sich hauptsächlich auf deutsche und Österreich-ungarische
Akten. Da italienische Akten nicht herangezogen worden sind, kann von
einer erschöpfenden Behandlung des Tripoliskonfliktes nicht die Rede
sein
Im Jahre 1928 bildete sich unter dem Vorsitz von Mein ecke die Histo
rische Reichskommission zu dem Zwecke, die Quellen zur Geschichte des
deutschen Reiches und seiner unmittelbaren Vorgeschichte herauszugeben
Die Kommission sah es als eine ihrer ersten Aufgaben an, das gesamte
Aktenmaterial der zur Reichsgründung hinführenden auswärtigen
Politik Preussens zu edieren. Die Publikation wird demnach die
Epoche von der Neuen Aera bis zum Frankfurter Frieden umspannen Es
ist geplant, das umfangreiche Aktenmaterial auf 12 Bände zu verteilen
Em grosser Teü des nach den Grundsätzen moderner Editionstechnik
herausgegebenen diplomatischen Materials ist schon in früheren Publikatio
nen zum Druck gelangt ; doch bringt diese Edition darüber hinaus sehr
viel neues Material. Namentlich veröffentlicht sie nicht nur die preussi
sehen Akten und die der deutschen Mittelstaaten, sondern sie zieht auch"
soweit es ihr möglich ist, die diplomatischen Urkunden und Papiere der
Archive von Wien, London, Moskau, Paris, Rom, Turin, vom Haag, Konen
hagen Stockholm und Turin heran, so dass ein möglichst geschlossenes
Gesamtbild entsteht.
In 19 verschiedenen Beiträgen des Sammelwerkes „Deutschland und
i oien werden der Komplex der deutsch-polnischen ;Probleme, die Vor
geschichte des deutschen Ostraumes, die historisch-geographischen Grundla-
gen des deutsch-polnischen Verhältnisses, die Entwicklung der politischen
Beziehungen beider Staaten und Nationen zu einander in dem wechselvollen
Geschehen vom Mittelalter bis zur Nachkriegszeit, schliesslich auch die
kulturellen und geistigen Berührungen beider raumpoliüsch eng nebeneinan-
der lebender Völker untersucht. Dieses Buch geht, wie der Herausgeber
im Vorwort ausführt, von der Tatsache aus, dass Deutschland und Polen
über ein Jahrtausend in engen politischen und kulturellen Verbindungen
gelebt haben, und will sich dementsprechend, anstatt die Geschichte „zur
Erregung von Gegensätzen und Leidenschaften missbrauchen zu lassen"
„in den Dienst des Verständnisses der so erwachsenen Berührungen"'
Friedrich von Holstein ist 'eine der problematischsten Figuren de*
wühelminischen Zeitalters, die man nicht einfach als Sonderling abtun
Kann. Es ist daher im Interesse der historischen Forschung sehr 2 „
begrussen dass Helmut Rogge in einem dicken Bande die Briefe der ööent
ichkeit übergibt, welche H von seinen Kindertagen bis zu seinem Sterbe!
lager seiner Kusine Ida von Stülpnagel geschrieben hat. Erst diese Briefe"
vermitteln uns ein deutliches, von allem legendären Beiwerk befreites Büd
des Menschen H. Darüber hinaus enthält die Publikation auch inter
essantes Material zur Vorkriegsgeschichte. Insbesondere zeigen die Briefe"
in welchem Masse H. eine anglophüe Politik befürwortete, wie er offen
und heimlich gegen die verfehlte Flottenpolitik, die „unsinnigen und
friedensgefährlichen" Bestrebungen des Flottenvereins eintrat und m
Zeitungen die Meinung verbreitete, dass Deutschland mit der Möglichkeit
Geschichte 289
eines anglo-franko-russischen Krieges zu rechnen habe, solange die Eng-
länder die deutsche Flottenpolitik als die Hauptgefahr betrachten müssten.
Ein abgerundetes Holsteinbild wird sich die Öffentlichkeit aber erst machen
können, wenn das in dem Archiv des Herrn von Schwabach noch ruhende
Material ediert wird.
Graf Albert Pourtalös, ein preussisch-deutscher Politiker französischer
Herkunft, gehörte zu dem Kreise der preussischen Wochenblattspartei, die
in den Jahren nach der Revolution von 1848 im Sinn eines liberalen Konser-
vatismus auf den Fortgang der preussisch-deutschen Staatsverhältnisse
einzuwirken versuchten. In aussenpolitischer Hinsicht stiess P.'s Gruppe
stets auf die Gegnerschaft Bismarcks, besonders in der Frage des Krim-
krieges, ebenso in der preussischen Frankreichpolitik, die P. als Vorgänger
Bismarcks in der Pariser Gesandtschaft eine kurze Zeit lang zu beeinflussen
vermochte. Die von Albert von Mutius veröffentlichten Briefe und Auf-
zeichnungen P.s bilden besonders für die preussische Märzkrise des Jahres
1854 wie auch für die Vorgeschichte der neuen Aera eine neue unsere
Kenntnisse erweiternde Quelle von persönlichem und intimem Reiz.
Walter Schwär tz (Frankfurt a. M.).
Charpentier, Armand, Historique de l'af faire Dreyfus. Fasquelte.
Paris 1933. f336 S. ; frs. fr. 20.— ;
Herzog, Wilhelm, Der Kampf einer Republik. Die Affäre Dreyfus.
Dokumente und Tatsachen. Europa- Verlag. Zürich 1933. (XIII
u. 983 5. ; Schw. fr. 7.40, geb. Schiv. fr. 9.50;
Charpentier gibt eine gedrängte, alle wesentlichen Einzelheiten berück-
sichtigende Darstellung der Affäre Dreyfus, wobei er sich auf den eigent-
lichen Fall, das Fehlurteil und dessen Geschichte beschränkt. Die politi-
schen Hintergründe und Auswirkungen erwähnt Ch. nur chronikartig und
nur soweit dies notwendig ist, um die einzelnen Phasen des Kampfes um
Revision und Rehabilitierung zu schildern. Ein besonderes Kapitel widmet
Ch. der Besprechung der Aktenpublikation des deutschen Auswärtigen
Amtes und des Nachlasses des Obersten von Schwartzkoppen. Auf Grund
dieser Materialien kommt Ch. zur Feststellung, „dass diejenigen, welche in
Frankreich die Vorkämpfer der Revision des Prozesses von 1894 waren,
bis auf einige Einzelheiten klar gesehen hatten und dass die am 12. Juli 1906
vom Kassationshof gefällte Entscheidung in ihrer Gesamtheit der Wahrheit
entspricht".
Herzog hatte sich in seinem vom Verlag ausgezeichnet ausgestatteten
Buch das Ziel gesetzt, den „ungeheuren Komplex der „Affäre", die über
ein Jahrzehnt hindurch die Welt erregte, wissenschaftlich mit den Mitteln
der dokumentarischen Forschung" zu erschliessen und „in der Darstellung
der Bewegung wie der grossen Figuren der „Affäre" einen Beitrag zu einer
Biographie Frankreichs um 1900 zu geben." Beiden Aufgaben ist H. nicht
gerecht geworden,
H. teilt sein Buch in zwei grosse Abschnitte ein. Im ersten behandelt
er in Essayform u. a. den französischen Nationalismus sowie die wichtigsten
Zeitschrift für Sozialfoisohung II 1/2 19
290 Besprechungen
Persönlichkeiten des Prozesses, im zweiten gibt er eine „Chronik der
Tatsachen". Diese ist sehr ungleichmässig ausgefallen. Ihr Hauptteil
ist der wörtliche Abdruck von Aufsätzen Zolas, von Berichten über den
Zola-Prozess und von Auszügen aus der Aktenpublikation „Die grosse
Politik der europäischen Kabinette" und aus dem Schwartzkoppenschen
Nachlass ; dagegen werden die Verhandlungen vor dem Kassationshof 1899,
der Revision sprozess in Renn es und die späteren amtlichen Untersuchungen,
die schliesslich zu dem endgültigen Freispruch von 1906 führten, nur sum-
marisch, zum Teil in wenigen Zeilen erwähnt. — Auch über die politischen
Auswirkungen gibt die „Chronik" keine zusammenhängende Übersicht.
In der Affäre Dreyfus sieht H. „die Auseinandersetzung zwischen den
Republikanern und allen Feinden der Republik, die sich steigert bis zum
Bürgerkrieg für den Sieg des Rechts um die Macht". Und an einer anderen
Stelle : „Zwei Frankreich stehen sich wieder wie 17S9 als Feinde gegen-
über, der Adel, das Militär und das beide aushaltende Kapital auf der
einen Seite und auf der andern Seite eine Gruppe kühner bürgerlicher
Intellektueller mit einigen Sozialisten und einem Teil der wieder betrogenen,
nach Wahrheit und Gerechtigkeit verlangenden Massen... Von neuem bricht
eine Revolution aus, durch die Tat eines einzelnen Mannes, eines Schriftstel-
lers". Die faktische Front im Kampf um Dreyfus verlief ganz anders :
einerseits gehörte ein Flügel der bürgerlichen Republikaner zu den Gegnern
der Revision, andererseits kämpfte ein Teil des Kapitals für sie, wahrend
bürgerliche Politiker die Führung dieses Kampfes innehatten und beibe-
hielten. Tendenzen, die Legalität zu sprengen, kamen von Seiten der
extremen Gegner der Revision und führten zu deren missglückten Putschver-
suchen. Die Art, in der H. diese Kämpfe schildert, bringt es mit sich, dass
er nicht die Ursachen schildert, warum, wie er selbst sagt, „die politische
und gesellschaftliche Struktur... durch die „Affäre" im Grunde nicht
verändert" wurde. Albert Dorner (Basel).
Soziale Bewegung und Sozialpolitik.
Reisig, Hildegard, Die Lehren vom politischen Sinn der Arbeiter-
bildung. Ein Rückblick auf das politische Denken der deutschen
Arbeiterbewegung von den 40er Jahren bis zum Weltkrieg. Hermann
Beyer Sc Söhne. Langensalza 1933. (190 S. ; RM. 5.40 )
In dem von Hans Freyer angeregten Buch soll „keine Geistesgeschichte,
keine Systemanalyse getrieben werden, ... denn die Frage der Bildung soll
nur dort aufgesucht werden, wo sie eine Funktion im organisierten poli-
tischen Kampf für die Emanzipation des Proletariats hat" . Unter diesem
Gesichtspunkt werden im ersten Teil vier Vorstufen und Entwicklungsfor-
men der modernen Arbeiterbewegung, nämlich „Wilhelms Weitlings kom-
munistische Organisation der Arbeiter in der Schweiz (1840-1843)", „Der
Kommunistenbund unter Marx und Engels (1847-1851)", „Die Arbeiterver-
brüderung unter Stefan Born (1848-1850)" sowie „Der Vereinstag deutscher
Arbeitervereine und die Fortschrittspartei ( Schulze-D elitzsch) (1863-1 86 8)"
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 291
betrachtet. Im zweiten Teil wird „Die Rolle der Bildung in der deutschen
Sozialdemokratie vor dem Weltkrieg" behandelt und in einem Schlussab-
schnitt „Das pädagogische Denken der verschiedenen marxistischen Partei-
richtungen in der Gegenwart" gestreift. — Die 1932 beendete Schrift lässt
in fast allen Teilen Vertrautheit mit den Quellen und einschlägigen Darstel-
lungen erkennen.
Zur Abrundung der Untersuchung wäre es wünschenswert gewesen,
wenn auch auf die gewerkschaftliche Bildungsarbeit, die fast immer mit der
geistigen Entwicklung der politischen Organisationen der Arbeiterbewegung
in engem Zusammenhang gestanden hat, ein Blick geworfen worden wäre.
Die Beziehung zwischen den Bildungsideen der proletarischen Bewegungen
und der ökonomischen Situation der Arbeiterschaft wird von R. nicht
aufgewiesen. Erich Trier (Frankfurt a. M.).
Halevy, Elle, Sismondi. Füix Alcan. Paris, 1933. (146 S.; fr. frs. 15.— ).
Das kleine Bändchen — das zehnte in der von C. Bougl6 herausgege-
benen Textkollektion „Reformateurs sociaux" — , ist eine gediegene, in
wenige übersichtlich geordnete Kapitel (Contribution des peuples libres ;
Critique de la chrematistique ; Vices de la societe economique moderne ;
Vue d'histoire economique et sociale ; Les remedes) gedrängte Auswahl
von Texten, die uns die Ideenwelt S. s veranschaulicht. Die kurze Ein-
führung Halövys zeigt prägnant das Verhältnis der Lehren S. s zur klas-
sischen Ökonomie, insbesondere zur harmonistischen Gleich gewichtslehre
J. B. Says, sowie die wachsende Bedeutung von S.s Krisentheorie für die
Gegenwart. Man vermisst vielleicht den Hinweis darauf, dass die ver-
schiedenen in der Arbeiterbewegung der Gegenwart und auch sonst ver-
breiteten Unterkonsumtionstheorien (z. B. L. Boudins, H. Cunows,
K. Kautskys, Rosa Luxemburgs, der C. G. T. in Frankreich usw.) trotz
ihrer marxistischen terminologischen Verschleierung in Wirklichkeit eine
Renaissance der Sismondischen Krisentheorie bedeuten,
Henryk Grossmann (Paris).
Pinloche, A., Fourier et le socialisme. Felix Alcan. Paris 1933,
(200 S. ; frs. fr. 15.— )
In der ersten Septemberhälfte des vorigen Jahres hat man, in kleinem
Kreise, das hundertste Jubiläum der Gründung der Fourier sehen „pha-
lansteres" gefeiert. Diesem Anlass verdankt das vorliegende Buch seine
Entstehung, und aus gedachtem Kreise ist es hervorgegangen. Es ist ein
apologetischer Versuch ; seinem Verf. ist vor allem angelegen, Fouriers
Verdienste im Gegensatz zur Schule Saint-Simons auf der einen, im Gegen-
satz zum Marxismus auf der anderen Seite zu unterstreichen. Der subjek-
tive Einschlag ist unverkennbar und angenehm der Freimut, mit dem er
zum Vorschein kommt. Der Verf., heute professeur honoraire ä la facultd
de lettres von Lille, leugnet nicht, es seien eigene Erfahrungen der harten
Jugendzeit gewesen, die sein Herz der Lehre Fouriers erschlossen haben.
292 Besprechungen
„Nous nous sentions peut-etre plus port^s vers l'illustre „sergent de
boutique" par nos propres souvenirs de „garcon de boutique" ayant connu
comme lui toutes les duretes du Proletariat commercial, et, plus tard, le sort
reserv£ ä Vintrus, malgre les promesses des Droits de l'Homme, qui ose
encore se frotter aux fils barbeles de certaines citadelles de privilegies
sociaux," Im Rahmen objektiver Argumentationen ist es der Geist der
kapitalistischen Initiative, den er den Saint-Simonisten zum Vorwurf
macht, indessen ihn Marx vor allem der materialistischen Ideen wegen, die
er dem Klassenkampfe anvertraut, abstösst. Sind die Saint-Simonisten
„gros brasseurs d'affaires, soutenus par la puissance des banques", so ist,
was den Marxismus auszeichnet, nach Meinung des Verf., Intoleranz und,
schlimmer noch, „la haine, dirigee contre quiconque ne souscrit pas inte-
gralement". Diese letztere Kluft drastisch zu machen, hat P. einige
Auszüge aus dem kommunistischen Manifest dem Buch beigegeben. Dessen
wertvollster Teil jedoch ist in der Blütenlese aus Fouriers eigenen Schriften
und den Schriften seiner Anhänger zu erblicken. Bekanntlich ist der ideale
Gesellschaftszustand nach Fouriers Überzeugung in der Natur angelegt ; er
lässt sich im Verfolg ihrer aufmerksamen Pflege und Wartung finden.
Jedes gewaltsame Vorgehen des Menschen ist nur imstande, die Spuren
zu verwischen, die in ihr Arkadien geleiten können. Der Autor hat sich
bemüht, einen Aufriss dieser Lehre zu geben, in dem ihre oft utopischen und
pittoresken Elemente zugunsten der konstruktiven zurücktraten. Der
utopische Kern allerdings, welcher der Vorstellung einer gegen die Politik
indifferenten Arbeit am Aufbau der Gesellschaft anhaftet, tritt in diesen
Proben nur um so drastischer hervor. Ohne den Studien von Gide, Bougle,
Bourgin und anderen Abbruch zu tun, behauptet die sorgfältige Arbeit als
Einführung in Fourier ihren Wert. Walter Benjamin (Paris).
Mönlg, Roman, Heinrich von Treitschkes und Bismarcks Systeme
der Sozialpolitik. Eine philosophisch-ökonomische Untersuchung über
die apologetische Funktion des deutschen Liberalismus. Robert Noske.
Leipzig 1933. (170 S. ; RM. 6.50)
Craemer, Rudolf, Der Kampf um die Volksordnung. Von der preus-
sischen Sozialpolitik zum deutschen Sozialismus. Hanseatische Verlags-
anstatt. Hamburg 1933. (302 S. ; RM. 6.B0)
S c hu h m ann , Walter und Ludwig Brueker, Sozialpolitik im neuen Staat.
Verlag für Sozialpolitik. Berlin 1934. (557 S. ; RM. 12.—;
Richter, Lutz, Die faschistische Arbeitsverfassung. Carl Heymcuw.
Berlin 1933. (32 S. ; RM. IAO)
Nlegisch, Helene, Die Auffassungder frühliberalistischendeutscheR
Nationalökonomen von der Armenfrage. Carl Heymann. Berlin
1934. (116 S. ; RM. 5.—)
Franzen-Hellersberg, Lisbeth, Jugendpflege und Jugendrecht im neuen
Staat. J. C. B. Mohr, Tübingen 1934. (45 S. ; RM. 1.50)
Wie in der Sozialpoltik des neuen Deutschland Elemente aus stän-
discher und absolutistischer Vergangenheit eingebaut sind, so werden aus
der Ideengeschichte der Sozialpolitik die Gedankensysteme hervorgesucht,
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 293
die zur Fundierung der Gegenwart dienen können. So sind jetzt eine Reihe
sozialpolitischer Schriften entstanden, die die Autorität der Vergangenheit
heranziehen, um das Handeln der Gegenwart zu begründen.
Für dieses Bestreben ist namentlich die Schrift Mönigs kennzeichnend.
In den Wirtschaftstheoretikern der vergangenen liberalist ischen Epoche
sieht er durchwegs Apologeten des Kapitalismus. „Weder Kant noch
Marx" können Gegengewicht sein, weder der heroische Idealismus des
Kantschen Staatsbegriffs noch der revolutionäre Materialismus, sondern
der Gedanke der nationalen Macht, wie ihn Treitschke und Bismarck geformt
haben. Das Eindringen der englischen Wirtschaftswissenschaft hat auch in
Deutschland zu einer Verteidigung der Ökonomik über ihre politischen und
sozialpolitischen Grenzen hinaus geführt. Die Romantik war die erste
grundlegende Reaktion auf deutschem Boden gegen die Herrschaft der
klassischen Wirtschaftslehre. Dieselbe historische Funktion hat später der
Verein für Sozialpolitik gegen die Apologie des Manchestertums und der
Grenznutzen schule übernommen. Treitschke hat als Konsequenz seiner
starken Betonung des staatlichen Machtgedankens im Primat der Aussen-
politik die Grenzen für Mass und Inhalt der Sozialpolitik erkannt.
„Höher als die augenblicklichen Forderungen der sozialen Ethik steht die
innere Konsequenz des Machtgedankens." Bismarck hat sich den histo-
rischen Notwendigkeiten gebeugt, denen sich Treitschke entgegenstemmte,
hat mit der Begründung der deutschen Sozialpolitik die Einheit zwischen
Staat und Gesellschaft herzustellen gesucht. So hat die Überbetonung des
Machtgedankens den einen zur Ablehnung, den andern zur Schaffung der
Sozialpolitik geführt. Für die Gegenwart zieht der Verf. den Schluss, dass
erst die Verbindung des Machtgedankens mit sozialer Ethik eine politisch-
sozialorganische Einheit verbürgt.
Auch für Craemer ist der „Kampf um die Volksordnung" der Weg
von der preussischen Sozialpolitik zum deutschen Sozialismus. Der
Ursprung deutscher Sozialpolitik ist für ihn der Erlass Friedrich Wilhelms III.
aus dem Jahr 1828. Königliche Erlässe, Einsicht des deutschen Unter-
nehmertums, frühzeitige sozialpolitische Erkenntnis von Männern wie
Adam Müller, Rodbertus und Wichern haben nach C. verhindert, dass das
deutsche Proletariat so ausgestossen war wie das englische. Lassalle wird
zuerkannt, dass erst sein Versuch, den Staat dem Proletariat zu verbünden,
die Wende zur wirklichen Sozialpolitik gebracht hat. Von ihm geht der
Weg über die Kathedersozialisten und Max Weber zu Rathenau und Nau-
mann. Aber die Voraussetzung für die deutsche Sozialpolitik sei doch
durch Bismarck, durch die Einigung Deutschlands geschaffen worden, so wie
die Sozialpolitik der Republik sich in Wirklichkeit durch den Verlust der
politischen Hoheit nie wesentlich über die alte Wilhelminische Sozialpolitik
erheben konnte. Erst die grosse Wirtschaftskrise hat klar gemacht, dass
Sozialpolitik staatlich allein zu begründen ist. In Spann und Spengler voll-
zieht sich die Verjüngung der deutschen sozialpolitischen Tradition, in der
nationalsozialistischen Bewegung die Erfüllung der deutschen Sozialpolitik.
In der Sozialpolitik, die sich selbst überwinden und in den deutschen Sozia-
lismus übergehen wird, „geht die Aufgabe aus Bismarcks Ansatz über die
Form des Bismarckschen Staates hinaus".
294 Besprechungen
Leichter machen es sich Schuhmann und Brückner. Hier enthebt
die politische Phraseologie der Notwendigkeit historischer Begründung.
„Die Arbeiterbewegung ist keine Frage des Magens, sondern der Seele, keine
Frage der Klasse, sondern der Nation." Die Sozialpolitik wird nur mehr
„ausgerichtet" auf das allgemeine, nationale Wollen, Keine schwächliche
Liebe humaner Weltverbesserer, sondern „den guten Volkskern züchten"
ist die Aufgabe. Was aber nach dieser Einleitung als „neue Sozialpolitik" ent-
wickelt wird, ist nichts anderes als das alte System von Gesundheitsschutz
im Betrieb, Arbeitszeitregelung, Mutterschutz, Sonntagsruhe, Urlaub
Arbeits aufsieht. Nur dass der Schutz der Arbeitskraft der Wehrfähigkeit
des Volkes, der Mutterschutz der rassischen Aufbesserung zu dienen hat
Grundsätzlich andere Wege freilich werden im Arbeitsrecht beschritten : der
Arbeitsvertrag als Treue- und Vertrauensverhältnis, das Arbeits ehrengericht
die Schaffung eines Arbeitspasses, an Stelle der vertraglichen Lohnregelung
die amtlich festgelegte, der staatliche Tarif an Stelle des Tarifvertrages
die vom Betriebszellenobmann der N. S. B. O. eingesetzten Betriebsräte, die
Arbeitsgerichte, deren Beisitzer nur aus den Reihen der nationalen Arbeits-
front genommen werden dürfen.
Nicht an deutscher Vergangenheit, sondern an italienischer Gegenwart
will Richter das deutsche Arbeitsrecht orientieren. Einer genauen Wie-
dergabe des Textes der Carta del Lavoro in italienischer und deutscher
Sprache wird eine im wesentlichen juristische Erläuterung angehängt, die
bei aller positiven Einstellung zur italienischen Arbeitsverfassung doch auch
kritisch ist. Die Carta wird nicht als Verfassung, sondern als grundle-
gende Kundgebung des Regimes gewertet. Von ihrer Durchsetzung heisst
es, dass sie sich erstaunlich rasch und leicht im Volk selbst vollzieht, wobei
die Presse planmässig Dienste leiste und Gegeneinflüsse unterdrückt würden
Es scheint dem Verf. wichtig, dass in Italien der Ausdruck Arbeitsrecht in
der öffentlichen Diskussion durch die Ausdrücke Kollektiv- oder Korpo-
rationsrecht ersetzt wird. — Die Darstellung soll der Entwicklung in Deutsch-
land Wege weisen.
Helene Niegisch untersucht die Auffassung einer wenig bekannten
Gruppe frühliberalistischer Nationalökonomen zur Armenfrage. In den
ersten drei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts, der Zeit grösster wirt-
schaftlicher Rückständigkeit, standen auch die liberalistischen Schriftsteller
ob sie nun vorwiegend am Sozialprinzip orientiert waren wie Weber, Latz*
Jakob, Sartorius oder vorwiegend am Individualprinzip wie Luder und
Hufeland, zum erstenmal dem Problem der Armut gegenüber. Die Rechts-
pflicht des Staates zur Fürsorge wird von den meisten noch nicht anerkannt
Aber es ist nach N. nicht die pessimistische Auffassung von Malthus, sondern
die optimistische von Smith, die diese Frühliberalen und ihre Stellung zur
Fürsorge bestimmt-im ganzen ein nicht uninteressanter Beitrag zur Wirt
Schaftsideologie des Frühkapitalismus,
In ein zentrales soziales Problem der Gegenwart greift dagegen Lisbeth
Franzen-Hellersbergs Schrift über Jugendpflege und Jugendrecht i m
neuen Staat. Die Verf. hat vor 2 Jahren die sozialpsychologische Literatur
der Gegenwart durch eine ausgezeichnete Untersuchung über die jugendliche
Arbeiterin bereichert. Von der wissenschaftlichen Objektivität und metho-
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 295
dischen Exaktheit der ersten Arbeit aber ist diese weit entlernt. Seheint
doch der Verf. die Frage, die für die Neugestaltung der Jugendpflege vor
allem zu klären ist : „Welche Gedanken der nationalsozialistischen Welt-
anschauung sind geeignet, in der Jugendpflege und Erziehung eine sinnvolle
Kritik am Vergangenen einzuleiten und gleichzeitig richtunggebend für neue
Prinzipien zu werden ?" Mit Schärfe kennzeichnet sie die Unklarheit des
Ziels, die Unsicherheit des Wollens, die verminderte Verantwortung aller
Instanzen, die Hoffnungslosigkeit der Fürsorgeerziehung als das Ergebnis
einer „bankrotten Demokratie". Um zu einer neuen Jugendpflege für
die neue Volksgemeinschaft zu gelangen, erscheint es der Verf. zunächst
notwendig, das individualistische Bildungsideal zu überwinden. Der „bil-
dungsbeflissenen" und sentimentalen S. P. D. -Jugend, dem Unheil, das
Volks- und Arbeiterbildung gestiftet haben sollen, wird die die körperliche
Qualität des Menschen in den Vordergrund rückende Hitlerjugend rühmend
entgegengehalten. Die Reform der Jugendämter und ihrer Aktenerledi-
gung, die Schaffung eines neuen Typus des Fürsorgers täten not. Jugend-
schutzstellen, deren Träger die privaten Jugendbünde sein sollen, hätten die
amtliche Jugendfürsorge zu ergänzen, ein Reichsjugendamt die zentrale bera-
tende und beurteilende Instanz zu sein. Richtige fürsorgerische und sozial-
pädagogische Erkenntnis wird in ihrem Wert durch Schlagworte, die bei
einer früher ernst zu nehmenden Wissenschaftlerin verwundern, gemindert.
Käthe Leichter (Wien).
Les Services sociaux. Bureau International du Travail. Geneve 1933
(724 S. ; Schw. fr. 11.50)
Die neue Veröffentlichung des Internationalen Arbeitsamtes bringt eine
Übersicht über die sozialen Aufwendungen in 24 Ländern. Es ist auf diese
Weise über die verschiedenen Arten der Sozialversicherung und Wohl-
fahrtspflege, der billigen Wohnungsbauten, der Famllienzuschüsse, des
bezahlten Urlaubs und über das Verhalten des Unternehmers bei Erkran-
kung des Arbeitnehmers ein Material zusammengetragen worden, durch
welches das Buch zu einer kleinen Encyklopädie auf diesem sozialpolitischen
Spezialgebiet wird. Andries Sternheim (Genf).
Klein, Philipp, Some Basic Statistics in Social Work. Columbia Uni-
versily Press. New-York 1933. (XIV u. 218 S. ; $ 3.50)
Das Werk analysiert den Wert der sozialen Arbeit („social work") für
die gegenwärtige Gesellschaft und behandelt zugleich ausführlich die Metho-
den, wie diese Bedeutung so exakt wie möglich festgestellt werden kann.
Hier stösst K. auf eine grosse Lücke in der sog. „soziologischen Statistik",
soweit diese sich mit Einrichtungen der Sozialarbeit befasst. Immerhin
wurde ein statistisch zulänglicher Versuch mit dem Studium der soziolo-
gischen Bedeutung der in den Vereinigten Staaten vorhandenen „Family
Agencies" unternommen, Institutionen, die eine wichtige soziale Funktion
zu erfüllen haben. Die Untersuchung beschränkt sich auf einige Teile der
Stadt New-York, wobei viel Material herbeigeschafft wird. — Die Bedeutung
296 Besprechungen
des Buches liegt hauptsächlich in dem Versuch einer Theorie über den Wert
der sozialen Arbeit.
Da die Schrift bereits 1928, also vor dem Beginn der Wirtschaftskrise,
begonnen und bis zur Gegenwart fortgesetzt wurde, sind die Darstellungen
besonders wertvoll. So wird z. B. gezeigt, dass — obwohl die „Family
Agencies" sich immer mehr mit ausständen und schwierigen Verhältnissen
aller Art in der Familie befassen — ihre Hauptaufgabe darin besteht, den
unter der Krise leidenden Familien beizustehen.
Andries Sternheim (Genf),
Epstein, Abraham, Insecurity : A C hallen gc to America. A study on
social insurance in the United Slaies and abroad. Introduction by Frances
Per k ins, U. S. Secretary of Labor. Harrison Smith and Robert Haas
New- York 1933. (XV & 680 pp. ; $ 4.—)
This book appeared in the United States at a psychological mornent
since it almost coincided with the introduction of the ,,ne\v deal". The
United States have hitherto lagged behind the countries of Europe in their
social legislation, for the good reason that social insecurity has never, until
the coming of the present depression, been considered a really serious
Problem, There was a general feeling that people should make their o\vn
Provision for the risks of life, and the only form of social protection that has
gained a serious footing in the United States is compensatio!! for industrial
accidents. The present depression, however, has opened people's eyes
to the fact that the workers of the United States are subject to the same
risks as the Citizens of other countries, and there has been a growing demand
in particular for some form of unemployement insurance.
Mr. Epstein will assuredly hasten this development with his admirable
book. He finds it necessary to devote the first 190 pages to a plea in favour
of the idea of social insurance in general, and he demolishes the claim that
private insurance, Company welfare plans or Philanthropie and haphazard
relief are adequate. He passes on to an examination of unemployment
only to discover that, whatever other steps may be taken, there is always
the problem of the unemployed persons who are out of work through no
fault of their own, and who need some assistance during their periods of
involuntary idleness. He then argues in favour of unemployment insu-
rance as against the unemployment reserves schemes which are to be found
in the Wisconsin Act and in a large number of other American proposals
Finally, he has chapters on insurance against sickness, invalidity and old
age pensions, workmen's compensation, and subsidies for mothers and
children. The book contains a mass of facts concerning not only the
Situation in the United States, but also existing legislation in other countries.
D. Chris tie Tait (Geneve).
Yoder, Dale, Labor Economics and Labor Problems. McGraw-Um
Book Company. New- York 1933. (X und 630 S. ; $ 3.50;
Der Verf. versteht unter Ökonomie der Arbeit das Studium der Umstände
die sich auf die Funktion des Arbeiters im gegenwärtigen ökonomischen
Soziale Bewegung und Sozialpolitik 297
Leben beziehen. Unter den vielen Problemen, die von Y. behandelt werden
und die bereits auf die breite Konzeption dieses Werkes hindeuten, nennen
wir : den Arbeiter als menschliche Persönlichkeit, der Hintergrund der
Ökonomie der Arbeit in seiner sozialen Struktur, die Art der kapitalistischen
Industrie, die Unsicherheit, Vorschläge zur Stabilisierung der Arbeit. Die
Behandlung der verschiedensten mit dem Arbeitsproblem zusammenhängen-
den Faktoren geht viel tiefer als die meisten Arbeiten auf diesem Gebiet, da
der Autor die Rolle des Arbeiters nicht nur als eine rein ökonomische ansieht,
sondern als im Zusammenhang mit den verschiedenen Sphären des gesell-
schaftlichen Lebens stehend. In seinen Betrachtungen sind auch die
Resultate anderer sozialer Wissenschaften mitverwertet worden. Die
vielen theoretischen Ausführungen werden von einem hauptsächlich dem
amerikanischen Wirtschaftsleben entnommenen Tatsachenmaterial belegt.
Andries Sternheim (Genf).
Bloodworth, Jessie A,, Social Consequences of Prolonged Unem-
ployment. Bulletins of the Employment Stabilization Research Institute,
University of Minnesota, voL II, Nr. 5. Minneapolis 1933.
Grimm, Viktor, Unser täglich Brot gib uns heute. Soziologische
Studie in der Arbeitslosenkrise. Richard Schoetz. Berlin 1933. (128 S.;
RM. 5.—;
Die Schrift von Bloodworth gibt in kurzer Fassung eine Analyse
von 500 Arbeitslosenfällen, die aus einer grösseren Anzahl Angestellter und
geschulter und ungeschulter Arbeiter ausgewählt wurden. 373 Personen
waren zwischen 18 und 45 Jahre, die übrigen 127 älter. Aus den vielen
interessanten Bemerkungen heben wir besonders hervor, dass — soweit es
sich um Familienernährer handelte — das Einkommen der anderen Fami-
lienmitglieder bei Dauerarbeitslosigkeit am allerstärksten herangezogen
wurde. Bevor die öffentliche Arbeitslosenhilfe in Anspruch genommen
wird, leben die meisten Familien noch von ihren Spargeldern oder von Kre-
dit. Von den Öffentlich unterstützten Personen waren 61,9 % ein Jahr
oder länger arbeitslos, ehe sie von dieser Hilfsmöglichkeit Gebrauch
machten. . .:...,
Grimm gibt zunächst eine Übersicht über die Lage der Arbeiterklasse
in der ersten Epoche des Industrialismus, dieser Geschichte des Hungers
und seiner physischen Folgen. Es wird dann die Lebenslage in den letzten
80 Jahren, besonders ihre allmähliche Verbesserung gezeigt. Beide Rück-
blicke sind reichlich mit Material belegt. Ein weiteres Kapitel behandelt
eine aktuelle Frage : die Folgen der Arbeitslosigkeit und ihr Einfluss auf den
Lebensstandard. Für G. steht es fest, dass die Arbeitslosigkeit eine ganz
auffällige Besserung des Gesundheitszustandes der Arbeiter mit sich gebracht
hat. Es lässt sich ein deutlich erkennbares Absinken des Krankenbestands
feststellen. Wer nicht arbeitet, braucht nach G.s Meinung auch weniger
Nahrung. Die durch die Ruhe gewonnene Kräfteersparnis bildet einen
gewissen Schutz gegen viele Krankheiten ; so sei die Tuberkulose-Sterblich-
keit bei Arbeitslosen geringer als bei den in Arbeit Stehenden. Die erstaun-
liche Schlussfolgerung G.s lautet, dass die Menschen gegenwärtig zuviel und
298 Besprechungen
zwar zu ihrem blossen Vergnügen ässen und dass eine Rationalisierung der
Ernährungsmethode dazu führen könne, sich der Krise anzupassen, ohne
dass das Existenzmininum unterschritten werde.
Andries Sternheim (Genf),
Spezielle Soziologie.
Laun, Rudolf, Der Wandel der Ideen Staat und Volk als Ausserunq
des Weltgewissens, Barcelona 1933. Bruno Cassirer. Berlin 1<m
(XXX ü. 463 S. ; Rm. 20,— / "
Dieses grossangelegte Werk ist die als beste Arbeit anerkannte Mono-
graphie, welche auf Grund eines Preisauschreibens der katatonischen
Institutio Patxot „über den Einfluss des gegenwärtigen internationalen
Rechts und der diesbezüglichen Einrichtungen auf das innere öffentliche
Recht" eingegangen ist. Das Werk erscheint zweifellos als ein wichtiger
Beitrag zur politischen und völkerrechtlichen Lehre vom Verhältnis zwischen
Staat und Volk. In diesem Sinne enthält es zahlreiches Material, welches
trotz der etwas breitgeratenen Zusammenstellung beachtenswerte Aus
kunfte gibt über die modernen Rechtsgrundsätze des Minderheitenschutzes
die Bestrebungen, welche zu einer Abschwächung des Souveränitätsdogmas"
in der Staatenpraxis führen sollen, sowie auch über die rechtstheore
tischen Ausführungen jener, welche, wie z. B. Politis, Duguit, Krabbe eine
souveränitätsfeindliche Grundlegung der Völkerrechtstheorie erstreben Als
Einführung ist somit die Schrift recht geeignet, wenn wir auch andererseits
betonen möchten, dass sie wenig Neues zu der bestehenden Kenntnis der
Dinge hinzufügt, da ja auch die eigenen rechtstheoretischen Gedanken des
Verfassers über den autonomen Charakter des Rechts bereits in früheren
Schriften von ihm dargelegt worden sind. Auf keinen Fall ist aber mit
diesem Werk der Zusammenhang von Völkerrecht und Landesrecht in sei-
nen inhaltlichen manigfaltigen Ausgestaltungen erschöpfend dargestellt
Grosse Gebiete wie z. B. das Verkehrsrecht, das so wesentliche Sanktions-
recht des Völkerbundes sind beiseite gelassen bzw. nur gestreift.
Paul Guggenheim (Genf).
Modern Theories of Law. Oxford University Press, Humphrey Milford
London 1933 f229 S.;8s.6d.) ' *
Es war eine glückliche Idee der London School of Economics, in einem
Sammelbande die wesentlichsten modernen Grundlegungen der Recht?
Philosophie und Rechtstheorie durch zuständige Referenten dem ansei
sächsischen Publikum vorzuführen. Dass hiebei die nicht-englischen
Theorien in den Vordergrund gesteht worden sind, verdient besondere
Beachtung. So in erster Linie die knappe kritische Analyse, die Morris
Ginsberg der neu-kantischen Rechtstheorie Stammlers widmet, deren
lediglich formal-logischer Gehalt, ausgehend von einem „zu abstrakten
Spezielle Soziologie 299
Vernunftsbegriff", zutreffend hervorgehoben wird. Recht eindringlich
ist sodann auch der knappe Überblick Laskis über Duguits Staatslehre
und deren zentrale Idee der sozialen Solidarität. Wertvoll aus dem
doppelten Grunde, weil, neben der Herausarbeitung dieser im Grunde
anti-normativen, ausschliesslich das Individuum als Realität anerkennen-
den Theorie, der Schnittpunkt aufgezeichnet wird, in welchem Laskis
eigene Auffassung von derjenigen Duguits abzweigt. Laskis Bestreben,
jenseits des Begriffes der sozialen Solidarität ein materielles Kriterium für
den Gerechtigkeitsbegriff herauszufinden, wird hiebei deutlich. Die psycho-
logistische Doktrin des in West-Europa wenig bekannten polnischen Rechts-
soziologen Leo Petraszycki findet in A. Meyendorff einen an äusseren
Dingen haftenden Darsteller. Andererseits gibt Lauterpacht in klarem
Aufbau einen guten Überblick über Kelsens reine Rechtslehre, wobei er
eine bemerkenswerte Kritik an Kelsens Leugnung des Naturrechts übt
und auf die zahlreichen, von der reinen Rechtslehre nicht genügend beach-
teten rechtsschöpferischen Ermächtigungen des Richters im Rahmen des
positiven Rechtes hinweist. Begrüssenswert sind ebenfalls die Ausfüh-
rungen Sir Maurice Sheldon Arnos über die soziologisch-eklektische
Doktrin des bekannten amerikanischen Juristen Roscoe Pound, die insbe-
sondere für die Interpretationslehre dank ihrer starken Berücksichtigung
des Gesichtspunktes weitgehender Interessensabwägung bedeutungsvoll
erscheint. Das moderne katholische Naturrecht findet in einer Darstellung
über den Franzosen F. Geny eine auf englische Verhältnisse berech-
nete Beurteilung. Vielleicht am aufschlussreichsten sind die drei Auf-
sätze, welche den modernen englischen und amerikanischen rechtsphilo-
sophischen Strömungen gewidmet sind, insbesondere die Mitteilungen über
die beiden Rechtsschulen Sir Henry Maines und Austins. Symptomatisch
erscheint uns hiebei insbesondere die Haltung des erst-genannten Autors,
dessen unfassende rechtshistorische und rechtsvergleichende Interessen
so recht symptomatisch sind für die weltoffene Haltung des englischen
Liberalen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die aber andererseits begleitet
ist von einem mangelnden erkenntnistheoretischen Interesse am Recht,
was ja auch heute noch wesentlich sein dürfte für die angelsächsische
Einstellung zur rechtsphilosophischen Problematik.
Paul Guggenheim (Genf).
Bonger, Willem Adriaan, Problemen der Demokratie. P. Noord-
hoff N. V. Groningen- Batavia 1934. (VI u. 175 S. ; Hfl. 2.50 ;
Dies ist einer der ersten Versuche holländischer Soziologen, das Problem
der Demokratie vielseitig zu beleuchten. Nach einer Begriffsbestimmung
von Demokratie und Autokratie folgen Ausführungen über die Psychologie
der Demokratie und der Autokratie, die soziologische Bedeutung der Demo-
kratie, die an ihr geübte Kritik, die Demokratie im Staatsleben, in der
Industrie und innerhalb der Arbeiterbewegung. B. ist ein eindeutiger
Anhänger der Demokratie und glaubt nicht an die Ansteckungsgefahr auto-
kratischer Auffassungen für eine Reihe demokratischer Staaten wie die
300 Besprechungen
skandinavischen Länder, Frankreich, die Schweiz, Belgien, England und
Holland, ,, welche geblieben sind, wie sie waren".
Leider fehlt ein Abschnitt über die Möglichkeit einer sozialen Demokratie
in der gegenwärtigen Gesellschaft. Es wird dargestellt, dass Demokratie
eine auf Selbstverwaltung gegründete Kollektivität bedeutet ; nur wird nicht
angegeben, inwieweit die sozialen Gegensätze die Auswirkung der demo-
kratischen Institutionen beeinträchtigen. Zwar spricht B. über den Unter-
schied von Demokratien mit homogenen und heterogenen Zusammenstellun-
gen und weist dabei hin auf „die soziale Ungleichheit, welche sich natürlich
jedesmal trotz der politischen Gleichberechtigung durchsetzt", doch wird
dieser Gedanke, einer der Kernpunkte zur Beurteilung des Wertes der
Demokratie, nicht weiter verfolgt. Leider fehlt auch eine nähere Untersu-
chung, inwieweit demokratische Grundsätze sich gegenüber autokratischen
Methoden faktisch aufrecht erhalten lassen.
Andries Sternheim (Genf),
Cole, G. D. H. und Margaret Cole, The Intelligent Man's Review o/
Europe To-Day. Victor Gollancz, Ltd. London 1933. (864 S ■
sh. 6.—;
Diese „Europa-Übersicht" enthält u. a. folgendes : Eine Geschichte
Europas von Karl dem Grossen bis zum September 1933, wirtschaftsgeogra-
phische und wirtschaftspolitische Querschnitte durch das Europa vor und
nach dem Kriege (mit zahlreichen Tabellen, Karten, Diagrammen illu-
striert), Übersichten über die politische Verfassung und wirtschaftliche
Struktur der einzelnen europäischen Länder, über die Tätigkeit von Völker-
bund und internationalem Arbeitsamt, sowie über die Geschichte des
Abrüstungsproblems, eine Analyse der Arbeiterbewegung, Auseinanderset-
zungen mit Faschismus und Sowjetismus u. a. m. Selbstverständlich sind
Fehler unterlaufen, manche Einzelheit kann man für überflüssig halten
manches wiederum vermissen, in der oder jener Beziehung hätte man sich
den Aufbau anders gewünscht. Das alles ändert jedoch nichts daran, dass
im grossen und ganzen das Buch ein gelungener Wurf ist, zumal wenn man
bedenkt, dass diese Art eines politisch-wirtschaftlichen Nachschlagewerkes
in fortlaufender Darstellung, nicht in Lexikonform, hier so ziemlich zum
erstenmal für die Nachkriegszeit versucht worden ist.
Als entscheidend für ihren eigenen Standpunkt heben die Verf. in ihren
Schlussbetrachtungen hervor : die Notwendigkeit einer durchgängigen
nicht partiellen Verwirklichung des Sozialismus, die Unmöglichkeit einer
organisierten und krisenlosen kapitalistischen Wirtschaft, das strategische
Erfordernis der Gewinnung der Mittelschichten, die sie nicht für notwendig
faschistisch oder kapitalistisch halten, für einen sozialistischen Offensiv-
feldzug. Diese Schlussfolgerungen sind dem Buch eigentlich mehr als
Nachwort beigegeben, die Darstellung enthält, soweit möglich, kau m
Werturteile. W . Qrundal (Paris).
Spezielle Soziologie 301
Recovery through Revolution ; a Symposium. Edited by D. Schmal-
hausen. Covici. New York 1933. (pp. 504 ; $ 3.75J
Dr. Schmalhausen, who has edited a number of symposia, has gathered
together in the present collection authoritative articles on the internal
social and politkal Situation in most countries of the world, Irom China
to South America. Many of the articles are very able expositions by well-
known specialists on their subject. Such are those of G. D. H. Cole and
Professor Laski on England, of Carleton Beals on Mexico, of Louis Fischer
on Russia, of Gaetano Salvemini on Fascist Italy, of H. N. Braüsford
on India, of Max Nomad on Poland, of V. F. Calverton on America. The
German Situation is adequately treated by Ludwig Lore. Although
one or two of the articles, such as that on France and that on China, are
insufficiently informed, the general level of excellence is considerably
higher than is generally the case in collective works of the kind. The tone
is one of careful objectivity and analysis and the book is singularly free
from evidences of partisanship. The writers vary widely in the point of
view afforded by their political opinions, but in general refrain from obtru-
ding them on their descriptive and historical accounts.
The work affords in a form convenient for reference a survey of the
present crucial Situation in all countries. It brings out the fact of the
similarity of that Situation in all parts of the world. Everywhere there
is the same great economic depression and misery ; everywhere the mecha-
nism of capitalistic enterprise is out of gear ; everywhere is the same ten-
dency to abandon „constitutional guarantees" and to throw aside the
pretences of democracy in order to invoke force and violence for the main-
tenance of power. In every country there is the same obliteration of
middle and moderate parties, and the same tendency is shown for all
contests of power, economic control, and opinions to resolve into a struggle
between extremists. Liberalism and social democracy are seen everywhere
gravitaüng, if they have not already completed the evolution towards
Fascism. Robert Br.ffault (Paris).
Strachey, John, The Menace of Fascism. Victor Goüancz Ltd. London
1933. (280 pp.; sh. 5.— )
Mr. John Strachey's analysis of Fascism is the clearest and soundest
which has appeared. He effectually disposes of the psychological explana-
tions put forward by several able radical writers, which represent the pheno-
menon as a middle-class delusion, the product of bewilderment, or as a
youth movement", the fruit of ignorance and of the blank outlook of
post-war generations. Those may be f actors in the development of Fascism,
but, Mr. Strachey insists, it is primarily a definite policy of capitalist power
at bay, promoted, supported, and financed by threatened capitalistic
interests. Without such support, neither middle-class pauperisation nor
youthful restlessness would have brought about the Fascist coups d'etats
in Italy and in Germany, and secured the triumph of Fascist tendencies
in all the countries where it represents to-day, overtly or tacitly, the domi-
302 Besprechungen
nant policy. The means of control over the exploited classes which consti-
tutional democracy afforded were adequate so long as capitalist society was
safe from serious menace ; they are inadequate to resist the forces which are
now in revolt against it. The pretenses of Constitution al democracy have
never been but a disguise for domination by lorce and economic power.
Fascism consists in throwing off that disguise. It is the open declaration of
class war, taking the place of the pretence of armed peace.
Mr. Strachey shows that Fascism cannot be regarded as an Italian
or German, or Polish phenomenon. Every country where the capitalist
regime is menaced by social and intellectual revolt must inevitably, whether
it desires it or no, resort to the methods of Fascist violence. England is no
exception. In a very interesting chapter, Mr. Strachey, who was lately
secretary to Sir Oswald Moseley, analyses the gravitation of English politics
towards Fascism, the betrayal of the socialist and labourite parties, the
growth of authoritarianism and ultra-nationalism. He gives at the same
Urne an autobiographical aceount of the evolution of his own mind towards
the logic of Communism. The only portion of the book in which Mr. Stra-
chey's realism fails him is that in which he seeks optimistic comfort in the
pious hope of a resistance against social trends which he has shown to be
inevitable.
The author analyses very ably and thoroughly the Claims put forward
for the organising success of Fascism in Italy and Germany, Fascism has
no economic or social remedies to offer for the breakdown of capitalist
society. The only prospect it holds out is that of war.
There is no book more timely, and none better on the timeliest of themes.
Robert Briffault (Paris).
Tempel, Wilhelm, Aufbau der Staatsgewalt im fascistischen Italien.
2. uerm. u. verb. Aufl, C. L. Hirschfetd. Leipzig 1933. (VI2I u
166 S. ; RM. 3.50>
T. gibt eine klare und gründliche, überall auf die Quellen zurückgehende
und bei aller Zustimmung zugleich kritisch selbständige staatsrechtliche
Untersuchung über die Entwicklung des Problems der Gewaltenteilung i m
vorfaschistischen und im faschistischen Italien. Daran schliesst sich als
Anhang eine sehr brauchbare Zusammenstellung der wichtigsten einschlägi-
gen Gesetze, die in dieser Auflage u. a. durch eine vollständige Übersetzung
der „Dottrina Fascista" von Berlutti erweitert ist. Leider ist der Text
dieser interessanten populären Einführung in den Gedankenkreis des
Faschismus in Anhang IX und X in verschiedene Teile auseinandergerissen
und überdies das der amüichen italienischen Veröffentlichung von Augusto
Turati beigegebene Vorwort weggelassen, so dass der Leser nur schwer
erkennen kann, welche Bedeutung er diesem Dokument im Rahmen einer
staatsrechtlichen Studie beilegen soll. Es wäre zu wünschen, dass diese
Publikation und andere jetzt nur im Anhang ausführlich mitgeteilte Doku-
mente (Garta del Lavoro, Gesetze über den körperschaftlichen Nationalrat)
auch im Buche selbst nicht nur beiläufig mitbehandelt würden. — Das
.
Spezielle Soziologie 303
sachliche Hauptergebnis der Untersuchung besteht in der richtigen These,
dass im heutigen italienischen Staat unter Beiseiteschiebung der noch von
der „Achtzehnerkommission" des Jahres 1925 unter Vorsitz Gentiles
empfohlenen Gewalten teilung nach Montesquieuschem Muster durch Funk-
tionsverschiebungen der vorhandenen und Schaffung zusätzlicher neuer
Staatsorgane eine neuartige Form der Gewaltenordnung getreten ist, die
von der „allumfassenden obersten Exekutivgewalt" gekrönt wird, als deren
wichtigste Bestandteile für die staatliche Zentralgewalt der Regierungschef
und der „Grosse Rat des Faschismus" , für die heute zentralisierte ehemalige
Selbstverwaltung der Regierungschef mit seinen 96 Präfekten erscheinen.
Weniger unbestreitbar erscheint seine mehrfach aufgestellte Behauptung
über den noch im heutigen Regierungssystem Italiens verbliebenen demo-
kratischen Einschlag. Man wird wohl besser von einem „plebiszitären"
Einschlag sprechen, wie dies auch der vom Verf. S. 70 erwähnte offizielle
Sprachgebrauch tut („Riforma plebiscitaria del 1928"). In ähnlicher
Richtung liegt auch eine beim Verf. hervortretende, von seinen eigenen
Ausführungen gelegentlich selbst widerlegte Überschätzung der in den
Provinzen und Gemeinden mehr formell als praktisch fortbestehenden
Selbstverwaltung. Karl Korsch (London).
Die Erziehung im nationalsozialistischen Staat. Vorträge gehalten
auf der Tagung des Pädagogisch-psychologischen Instituts in München
(1.-5. August 1933). Ar manen- Verlag. Leipzig 1933. (158 S. ; RM.
3.80;
Rein, Adolf, Die Idee der politischen Universität. Hanseatische
Verlagsanslalt. Hamburg 1933. (39 S. ; RM. 1.50)
Mannhardt, J, W., Hochschulreoolulion. Hanseatische Verlagsanslalt.
Hamburg 1933. (112 S. ; RM. 2.20J
Die Vorträge „Die Erziehung im nationalsozialistischen Staat"
geben z. T. mehr als bloss polemische Auseinandersetzungen mit der auto-
nomen, katholischen und marxistischen Erziehungslehre und als allgemeine
Hinweise auf die grundsätzliche Geisteshaltung der nationalsozialistischen
Pädagogik : in einigen Referaten wird zu Einzelfragen des Erziehungswesens
Stellung genommen. Beispielsweise legt Friedrich Hill er (Dessau) in
seinem Vortrag „Der organisatorische Aufbau der deutschen Schule" einen
Plan für die Neugliederung der schulischen Einrichtungen vor. Er will
die Oberstufe in zwei Abteilungen aufgliedern, von denen die eine die wis-
senschaftlich ausgerichteten und die andere die mehr praktisch veranlagten
Schüler erfasst. Diese beiden Zweige, die „Lehrschule" und die „Berufs-
schule" sollen völlig gleichgesetzt werden, so „dass auch denjenigen, die die
Berufsschule mit Erfolg durchlaufen haben, der Weg zur Hochschule eröffnet
wird". Für die Lehrerbildung verlangt H. u. a., „dass unsere sämtlichen
Lehrer, zum mindesten diejenigen bis zum 45. Lebensjahr, in Kurse für
Jugend ertüchtigung... abkommandiert werden, damit sie eine Ahnung
vom Wehrsport bekommen". Anregungen für die Gestaltung des zukünfti-
gen Geschichtsunterrichts will Karl Alexander v. Müller in seinem Referat
304 Besprechungen
„Deutsche Tugenden — deutsche Erb übel'' geben, indem er versucht, die
deutsche Geschichte als „eine Projektion des deutschen Charakters in den
geschichtlichen Ablauf' 1 darzustellen. Der Vortrag von W. Pin der „Die
deutsche bildende Kunst im neuen deutschen Staat" verbindet freimütige
Kritik an manchen Vorgängen in der Kunstpolitik der letzten Monate mit
grundsätzlichen Ausführungen über den Zusammenhang von Kunst und
Politik. Weitere Berichte beziehen sich auf „Die Erziehung zum deutschen
Menschen" (J. Bauer), „Die Grundlagen und Zielgedanken der nationalso-
zialistischen Kulturpolitik" (E. Rothacker), „Die geistige n Wurzeln der
nationalsozialistischen Revolution" (H. Schemm), „Rassenpflege und
Schule" (M. Stämmler).
Den Strukturwandel der deutschen Hochschule glaubt Rein durch
drei Typen bezeichnen zu können. Er unterscheidet die theologische
Universität vom 14.-17. Jahrhundert, die philosophisch - humanistische
im 18. und 19. Jahrhundert und die sich in der Gegenwart herausbildende
politische Universität. Seine Schrift will die Forderung nach der Realisie-
rung der politischen Universität begründen. Dass diese Aufgabe zu einer
Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsbegriff des liberalen Zeitalters
auffordert, ist verständlich. Mit Recht fragt R., ob „in der Liberalisierung
der Wissenschaft nicht auch, trotz der Negation, eine wesentlich politische
Tendenz wirksam ist" . R.s Postulat, von der Universität alle Strömungen
auszuschliessen, „welche Existenz und Fortdauer des Staates selbst bedro-
hen", lässt die Frage nach der Instanz aufkommen. Die Antwort des
Verf. lautet : „Es bleibt... letztlich... dem Staatsmann die Entscheidung
überlassen" .
Die Schrift von Mannhardt fragt, wie die deutsche Hochschule „die
Umstellung von der alten auf die neue Zeit" zu vollziehen habe. Die
Struktur der zukünftigen Hochschule wird in allgemeinen Zügen und in
zahlreichen Einzelheiten beschrieben. Die Bedeutung der wissenschaftli-
ehen Erkenntnis wird im Gegensatz zu anderen Darstellungen durchaus
bejaht : „Kein Volk kann auf die Wissenschaft verzichten, ohne sich selbst
den Todesstoss zu geben" . Freilich : Freiheit der Wissenschaft kann nicht
Freiheit vom Staate bedeuten" ; es müsse „die Regierung zunächst mit der
völligen Freigabe der Wissenschaft etwas vorsichtig sein" , denn die herr-
schende Wissenschaft habe „zur Zersetzung der Werte erheblich beigetragen
die jetzt neu gewonnen werden sollen, ... und die neuen Männer bei ihren
Bemühungen gänzlich im Stich gelassen" . Bei den praktischen Forderun-
gen spielt die Unterscheidung von „Akademie" und „Universität" eine
wichtige Rolle. Die erstere soll von Abiturienten, die an eine praktische
Berufsausbildung denken oder zur Universität gehen wollen, besucht
werden. Die Aufgabe dieser Akademie soll „Übermittlung von Verständnis
Können und Wissen einer- und Lebens Vorbereitung in der Gemeinschaft
andererseits" sein. Die Besucher der Universität sollen bereits durch die
Akademie in die „historischen, theoretischen und technischen Voraussetzun-
gen ihres Faches" eingeführt werden. Für die Erziehungsaufgabe schwebt
M. vor allem die Unterbringung der Besucher in Internaten vor. Zur
Universität, zu der man nach seinem Vorschlag nur nach Absolvier ung der
Akademie zugelassen wird, sollen lediglich die künftigen Gelehrten und
Spezielle Soziologie 305
„diejenigen, die für ihren... Beruf eine wirklich wissenschaftliche Vorbil-
dung benötigen". Weitere Ausführungen beziehen sich auf die Veranke-
rung des Führerprinzips in der Universität. Paul Siegrist (Wien).
Christianity and the Crisis. Edited by P. Dearmer. Victor Gollancz,
Ltd. London 1933. (pp. 616 ; sh. 5.—)
Dawson, Christopher, Enquiries inlo Religion and Culture. Sheed
and Ward. London & New York 1933. (pp. X & 346 ; 8 s. 6 d. )
The first of these volumes consists of thirty-two articles, each by a
different author, with a preface by the Editor, Dr. Percy Dearmer. The
authors are scholars and men of authority in the Church of England and the
Free Churches in England : they stand, taking them as a whole, for a broad
and tolerant, but definitely religious and ecclesiasücal view of the present
world crisis. The second volume includes fifteen papers by the finest
of the younger Catholic scholars in England, with an introduction in which
Mr. Dawson explains that they all have reference to his constant preoccupa-
tion with the critical post-war Situation and its dangers for crvilisation.
Both volumes profess themselves sociological, at least in part, and are
largely so in content if not in method and treatment. They may therefore
be taken as giving an adequate view of anything that all the principal
Christian churches in England have to say about the present world Situation
and the main problems involved in it.
Christianity and the Crisis contains (in addition to some general
studies) three main sections : (1) a description of the present chaos — intel-
lectual, moral, social, economic and literary : (2) a study of Christianity as a
social religion : and (3) suggestions towards a Christian Solution of current
Problems, economic, civic and international. No reader could neglect the
earnest note that can be feit in every page of the volume. Criticism here
seems appropriate on two general grounds only : the first being the sociolo-
gical theory of the book, the second — strictly in relation to that, and not
in any theological sense — its Christianity.
There is no consistent sociological theory apparent anywhere in the
book, though several contributors use the word „sociology" and nearly all
have risen superior to a merely traditional outlook on society. This lack
of sociological and historical f oundations causes a tendency to over- simplify
the problem and to suggest that Christianity possesses a secret remedy
capable of immediate application. But the remedies there suggested have
nothing specifically Christian about them ; they are the current coin of
thought in Western Europe among serious and moderate people, Christian
or not.
And this leads to the second field of criticism. What is this Christia-
nity — sociologically speaking — to which we are bidden to turn for a
Solution ? Not one defines it in comprehensible practical social terms.
Surely an essential preliminary of the task Christianity endeavours to
accomplish is a sociological Interpretation of the various ways in which
economic and social influences in different times and places have been
Zeitschrift für Soäalforseliung III/2 20
306 Besprechungen
moulded by and helped to mould Christian Organisation, Christian doctrine
and Christian worship. This. with the awareness that accompanies it,
seems to the reviewer the only way of reaching or approaching a conception
of essentials : if she were even partially accomphished in this book it would
make it impossible to hold up the latest secular specific — e. g. credit control
— as a Christian remedy, and might lead to some faint adumbration of a
possible Christian Society,
There is indeed a dilemma from which it is not easy for any of the
writers to escape. It is possible to argue that so far as „mercy, pity, peace
and love" are apparent in our civilisation, they derive wholly from Christian
sources. But if so, no wholesale condemnation of the present Order is
possible ; it is a mixture of good, bad an indifferent — Christian and non-
Christian ; and organised Christianity has no exclusive remedy for our ills,
though it may claim to possess the central Inspiration upon which all must
depend. It is possible, on the other hand, to hold that salvation lies only
in some form of ecclesiastical Organisation, with the spirit and doctrine
associated with that. But if so, must not the existing churches in Western
Europe stand condemned ? Is it possible that these — with their wide-
spread acceptance of present Standards — should he the means of creating
a new order ?
We enter a different World when we turn to Mr. Dawson's book. Here
we have the product of a mind which has given itself over for many years
to profound thought on sociology and religion : to read it is to experience
a gentle but füll and penetrating Illumination. The subjects dealt with
in the papers, which were written on various occasions and most of which
have already appeared in print, vary from Islamic Mysticism to Cycles of
Civilisation and the Nature and Destiny of Man. The book has, hoWever,
a unity of ideas. In its treatment of the present crisis it has a good deal in
common with the former book : but it Stands out as superior to that in two
respects. Its grasp of history is profound, and its sociological interpretation
of history admirable : like Spengler (though without debt to him) Mr. Daw-
son sees history as a cycle or series of cycles in which cultures are born,
grown and mature. Mr. Dawson's sociology of culture goes far beyond
anything to be found in Christianity and the Crisis. He sees culture as
an expression of life ; he understands the links between life and environment,
and between instinctive animal life and the spiritual elements. He is fully
conscious of devitalisation as the best definition of our modern problem ■
and he knows that a return to the sources of life is the only eure. Readers
interested in this position will do well to tum to Mr. Dawson's earlier works
in which it is fully set forth. Alexander Farqharson (London).
Barth, Karl, Theologische Existenz heute! Chr. Kaiser. München
1933. (40 S. ; RM. 1.— j
Barth, Karl, Für die Freiheit des Evangeliums, Ebenda. (16 S. ■
RM. 0.50;
Gogarten, Friedrich, Einheit von Evangelium and Volkstum ? Han-
seatische VerlagsanstaU. Hamburg 1933, (30 S. ; RM. 1.—)
Spezielle Soziologie 307
Müller, Hans Michael, Der innere Weg der deutschen Kirche.
J. C. B. Mohr. Tübingen 1933. (72 S. ; RM. 0.80;
Müller, Hans Michael, Was muss die Welt von Deutschland wissen ?
Nationcde Revolution und Kirche. Ebenda. (48 S. ; RM. 1. )
Adolph, Heinrich, Theologie, Kirche, Universität. Ebenda. (22 S •
RM. 0.60 J
Die Darstellung von Barth über „Theologische Existenz heute"
ist auf rein theologische Sachverhalte eingestellt und soll keine aktuelle
Abhandlung im üblichen Sinne sein. Dennoch ist sie ein bedeutsamer Bei-
trag zu wichtigen Grundfragen des geistigen und staatlichen Lebens. In
ihrem Zentrum steht die eindringliche Warnung vor dem heute drohenden
Verlust der theologischen Existenz, d. h. vor der Preisgabe der Existenz
in der Kirche, die dem „berufenen Prediger und Lehrer" des Evangeliums
zufällt. Wie leicht diese Existenz zerbröckeln könnte, will der Verf. an
drei Gegenwartserscheinungen verdeutlichen : der Kirchenreform, der
Bischofsfrage und der „Glaubensbewegung Deutsche Christen". Die
Haltung, von der aus die Kirchenreform in Angriff genommen und vollzogen
wurde, lässt nach B. erkennen, „dass die Kirche sich selber wieder einmal
untreu war" und „zwischen Theologie und Politik nicht zu unterscheiden
wusste" . Die „Glaubensbewegung Deutsche Christen" wird von B. „unbe-
dingt und vorbehaltslos" abgelehnt. — Dass die Forderung, gerade jetzt
nicht die theologische Existenz aufzugeben, in keiner Weise als Ausweichen
vor den brennenden Problemen des Tages angesehen werden kann, sondern
die Stellungnahme zu ihnen in sich enthält, gehört zu den stärksten Ein-
drücken dieser wertvollen Darstellung.
Inhaltlich stimmt die Schrift „Für die Freiheit des Evangeliums"
weitgehend mit den zuerst besprochenen Ausführungen des Verf. überein.
Friedrich Go garten, der mit Karl Barth zu den Begründern der in sich
allerdings keineswegs einheitlichen dialektischen Theologie gehört, geht in
seiner Schrift von einer Grundeinstellung aus, die den Gedankengängen von
Barth scharf entgegengesetzt ist. Er glaubt, dass wir keineswegs die
theologische Existenz verlieren, „wenn wir meinen, uns mühen zu müssen,
in Gottes Wort gebunden, in dem grossen Geschehen unserer Tage einen
neuen Auftrag unseres Herrn an unsere Kirche zu erkennen" . Die Schrift,
die der Begründung dieser These gewidmet ist, tritt mit Nachdruck für das
Bekenntnis der Kirche zur Idee des totalen Staates ein. Nach der Ansicht
des Verf. „macht... der Anspruch der Kirche auf den Menschen das tiefste
Recht des staatlichen Anspruchs offenbar und bestätigt ihn als den Anspruch,
den der Staat von Gott dem Herrn über die irdische Existenz des Menschen
erhalten hat". Die zur Verteidigung dieser Ansicht durchgeführten
Betrachtungen bedürften zu ihrem völligen Verständnis der Anwendung von
Kategorien der soziologischen Analyse.
Müller geht in seiner Schrift „Der innere Weg der deutschen
Kirche" von der Idee der „Schöpfung" aus, deren Wesen nicht etwa mit
den Mitteln der philosophischen Anthropologie oder Kulturtheorie beschrie-
ben, sondern in der ursprünglichen religiösen Bedeutung aufgefasst wird.
Das Instrument dieser im theologischen Sinn gedachten Schöpfung sei
308 Besprechungen
heute der Führer. M. tritt nicht nur der wiedergegebenen kirchenpoliti-
schen Stellungnahme von Barth, sondern der dialektischen Theologie als
solcher ablehnend entgegen. Diese Haltung drückt er mit den Worten
aus r „Was alles Reden vom Zorne Gottes nicht zuwege brachte, das besorgt
die SA und die Vision des deutschen Sozialismus, gewiss ohne theologische
Absicht, aber desto wirksamer" . Welche theologische Lehre M. der dialek-
tischen Theologie entgegensetzen will, wird allerdings aus seiner Schrift
nicht klar.
In der Schrift „Was muss die Welt von Deutschland wissen ?"
bekennt sich M. auch als Theologe rückhaltlos zur Idee des totalen Staates.
Er deutet das Wort von der „Freiheit evangelischer Kirche" so, dass es sich
mit der uneingeschränkten Bejahung des souveränen Staates vereinbaren
lässt. Der neue Staat müsse „in seinem Ethos überkonfessionell und
eigenständig" sein, denn „die soziale und völkische Neuordnung geschieht
vom Staate her, nicht von der Theologie und nicht von der Kirche her".
Adolph will zeigen, wie stark die Auffassung des liberalen Protestan-
tismus vom Wesen der Theologie durch rationalistische und individuali-
stische Gedankengänge bestimmt gewesen ist. Nach Meinung des Verf. ist
heute die Aufgabe gestellt, „Theologie ihres formal-autonomen Charakters
zu entkleiden und existentiell zu begründen". Von der Erfüllung dieser
Forderung hänge das Schicksal des Protestantismus ab : „Der Protestantis-
mus wird in Zukunft nur dann etwas zu bedeuten haben, wenn es ihm gelingt,
die in ihm besonders tief eingenistete Persönlichkeitskultur zu überwinden".
Heute erkenne man, „dass es im Bereich des Existentiellen in erster Linie
nicht auf korrektes Denken, sondern auf wesenhafte Vollmacht, Substani-
gewalt, gläubige Entscheidungskraft ankommt" und „dass der theologische
Mensch mehr und mehr in den Hintergrund und der seinsmächtige Mensch
an seine Stelle" zu treten habe. Die Überwindung des Rationalismus sowie
die gesamte kulturelle Erneuerung erwartet A, von der völkischen Bewe-
gung ; die Frage nach den sozialen Bedingtheiten, an die ein solcher Umbruch
des geistigen Seins gebunden ist, wirft er freilich nicht auf,
Erich Trier (Frankfurt a. M.).
Schwiedland, Eugen, Zur Soziologie des Unternehmertums. C. L.
Birschfeld. Leipzig 1933. f52 S. ; RM. 2.20)
S. versucht in grossen Zügen eine Übersicht über Wesen und gesellschaft-
liche Bedeutung des heutigen Unternehmertums zu geben. Ohne auf die
modernen Lehrmeinungen oder die ökonomische und soziologische Proble-
matik einzugehen, fasst er die herkömmlichen Anschauungen kurz zusam-
men. Der Unternehmer ist nach ihm eine mit besonderer Tüchtigkeit und
speziellen Fähigkeiten ausgestattete Persönlichkeit. „Weltkundigkeit und
Lebensfähigkeit" ermöglichen ihm, Produktionsmittel in seiner Hand zu
vereinigen und Gewinnchancen auszunützen. Seine Bedeutung beruht
darauf, dass der grösste Teil der Bevölkerung unter seiner Leitung tätig
ist und er die gesamte Gesellschaft mit allem versorgt. Der erwerbsstre-
bende Unternehmer wird im Konkurrenzkampf ständig zu höchster Anspan-
nung, zu immer neuen Verbesserungen gezwungen. Dadurch aber \yinJ
Spezielle Soziologie 309
fortlaufend der Lebensstandard und das kulturelle Niveau der Gesellschaft
gehoben. S. spricht auch von der Kehrseite : Das Erwerbsstreben kann
in verantwortungslosen Egoismus ausarten. Der Konkurrenzkampf wird
zum Machtkampf, in dem die staatliche Autorität untergraben und den
wirtschaftlichen Zielen der Unternehmerschaft untergeordnet wird. Stär-
kung der Staatsautorität ist unerlässlich, um das Erwerbsstreben in gesun-
den Grenzen zu halten und damit das System vor schwerem Schaden, ja
vor Zusammenbruch zu bewahren. Gestützt auf die traditionelle Theorie,
dass nur das persönliche Erwerbsstreben beste Ausnützung aller Kräfte
und Fortschritt garantiere, verwirft S. den Sozialismus und die Verstaatli-
chung der Wirtschaft. Vielmehr erblickt er im faschistischen Korpora-
tionsstaat die glückliche Verbindung von freier Unternehmerinitiative
und staatlicher Kontrolle. Emil Grünberg (Genf).
Crime for Profit. A Symposium on Mercenary Crime. Edited by
Ernest MacDougaU, President of the National Institute on Mercenary
Crime. The Stratford Co. Boston 1933. (XX a. 355 S. ; S 2.— )
Der vorliegende Sammelband ist eine lose Aneinanderreihung von teils
publizistischen Essays, teils wissenschaftlichen Beiträgen, als deren Verfas-
ser Wissenschaftler, Rechtsanwälte, Geschäftsleute, Pädagogen und Geist-
liche in buntem Nebeneinander fungieren. Sein grösster Vorzug ist, dass
dies Nebeneinander verschiedener Blickpunkte und Betrachtungsweisen in
gewisser Weise einen Querschnitt durch die Sorgen und Interessen der
geistigen Mittelschicht in ü. S. A. darbietet. Der sachliche Inhalt des
Bandes lässt sich schwer auf eine knappe Formel bringen. Der amerika-
nische Begriff des „Mercenary Crime" umschliesst gleichzeitig Eigentums-
delikt im engeren Sinne — Diebstahl, Raub, Unterschlagung — , sozusagen
das Vergehen des „kleinen Mannes", einerseits, organisiertes System halble-
galen Geschäftes und korrupter Regierung, Verwaltung und Rechtspre-
chung anderseits. Behandelt man so verschieden gelagerte Komplexe
neben- und durcheinander, so kann das positive Ergebnis nicht allzu fruchtbar
sein. So findet man in dem Band zwar wohldurchdachte Beiträge von
Sozialpolitikern und Sozialpädagogen über Strafvollzug, Kriminalität der
Jugendlichen, Kleinkreditwucher, Arbeitslosigkeit und Mercenary Crime,
Zusammenhang zwischen Krise und Gangstertum, aber nicht einmal den
Versuch eines Gesamtüberblicks über den Gegenstand. Und was zu dem
Thema Mercenary Crime im amerikanischen Sinne — Finanzschwindel,
Gründergeschäft, Börsenspekulation und Börsenbetrug, finanzielle Umgar-
nung der Behörden, Organisation der Gangs usw. — gesagt wird, hat
eigentlich fast nur noch journalistischen Anstrich und liefert abgesehen
von einigen neuen Gesichtspunkten praktisch nicht viel anders denn als
Illustration verwertbares Material. — Dass das „Verbrechen um des Profite
willen" ein spezifisches Produkt der Gesellschaftsordnung ist, in der es sich
entwickelt, kann man fast in jedem Artikel des Sanimelbandes lesen, und
dass es nicht zu beseitigen ist ohne „radikale Aenderung des Systems", in
den meisten. Aber für die Pädagogen, Geistlichen und idealistischen
310 Besprechungen
Gelehrten bedeutet diese Forderung lediglich die Notwendigkeit einer idea-
listischeren Charakterbildung, der Verlegung des sozialen und kulturellen
Wertakzentes vom Gelde nach den geistigen Dingen hin, und die Juristen
Wirtschaftler und Politiker begreifen darunter nicht mehr als Schutzmass-
nahmen gegen gewissenlose Börsenmakler oder Kleinkreditwucherer,
unabhängiges Berufsbeamtentum , „Verbot" des Handels mit politischen
Aemtern und Einflüssen. Im Vorwort des Herausgebers indes kann man
nachlesen, dass „idealistische Predigten nicht genügen können". Freilich
verlangt auch der Herausgeber nicht mehr als Aufklärung des Publikums
über die Praktiken der Bank- und Börsenjobber, aber auch das erfordert
gründlichere Arbeit, als hier geleistet worden ist.
W. Grundal (Paris).
Hicks, Granville, The Great Tradition. An inlerpretation of American
literature since the ciuil war. The Macmillan Company. New York
1933. (X u. 317 S. ; % 2,50)
Wäre H.' Literaturgeschichte im Stile der herkömmlichen mehr oder
minder „rein literarischen" Darstellungen gehalten, dann käme ihr seitens
der Sozialwissenschaft, vom Symptomatischen abgesehen, keine Bedeutung
zu. H. jedoch sieht die Entwicklung der modernen amerikanischen Litera-
tur im Rahmen und als Ausdruck der Entwicklung der amerikanischen
Gesellschaft, wie diese seit dem Ende des Bürgerkrieges, von allen Hemmun-
gen befreit, sich entfaltete. Welches ist die Stellung der Emerson, Thoreau
und Whitman an der Schwelle der neuen Epoche ? Von welchem gesell-
schaftlichen Standort aus haben ein Bret Harte, Mark Twain und James,
ein Bellamy und ein Hearn — um nur einige der in Europa bekanntesten
Namen herauszugreifen — sich mit der industriekapitalistischen Welt
ihren Widersprüchen und Kämpfen, auseinandergesetzt ? Haben sie sich
ihr gestellt und falls ja, auf welcher Seite ? Oder suchten sie auszuweichen,
zu fliehen in eine zeitlich und räumlich entlegene, idyllischere — scheinbar
idyllischere — Welt ?
Diese Fragestellung macht aus H.' Werk einen Beitrag zur Sozialge-
schichte der U. S. A. von erheblichem Interesse. H,' Analyse der Schriften
eines F. Norris, Jack London, Upton Sinclair, eines Dreiser, Anderson, Sin-
clair Lewis, O'Neil, Dos Passos und seiner Gruppe wirft Licht auf den
Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung, der sich auch in Nordamerika
neuerdings so intensiv vollzieht. Solange Amerika ein der Siedlung offenes
Kolonialland blieb, schien dort ungültig, was für Europa galt. Allein die
jüngste Entwicklung hat bewiesen, dass Amerika keine Ausnahme von der
allgemeinen Regel darstellt, d. h. dass die sozialen Gegensätze auch „die
zentrale Tatsache des amerikanischen Lebens" darstellen.
Man mag das Bedürfnis fühlen, einzelne Auffassungen und Analysen
des Verf. kritisch zu modifizieren. Trotzdem unterliegt es keinem Zweifel
dass H.' Arbeit als ganzes einen überaus wichtigen Schritt zur Schaffung
einer wirklich wissenschaftlichen, d. h. einer sozialwissenschaftlich gesehe-
nen Literaturgeschichtsschreibung bedeutet.
K. A. Wittfogel (London).
Spezielle Soziologie 311
Segers, Arthur, La Chine. Le peupte, sa vie quotidienne etses cir6-
monies. Editions „De Sikkel". Antwerpen 1933. (242 S. ; belg.
fr. 360.—>
Das Buch des früheren Missionars S. behandelt keineswegs „la" Chine, son-
dern lediglich ein Teilgebiet innerhalb des nördlichen Chinas. Es behandelt
ferner, obgleich 1932 herausgegeben, nicht die Erscheinungen des Übergangs,
die für das gegenwärtige China so charakteristisch sind. Nein, wie bereits
die Zöpfe auf den beigegebenen Photos erkennen lassen, sind hier Verhält-
nisse geschildert, die etwa 15-20 Jahre zurückliegen und zwar auch diese
unter sorgsamer Vermeidung der Modernisierungstendenzen, die schon
damals reichlich vorhanden waren.
So ist denn der Wert des Buches räumlich wie zeitlieh begrenzt, um so
begrenzter, als der belgische Missionar, wo er reflektiert, voll ist von Vorur-
teilen über China. Trotzdem ist das Buch als sozial wissenschaftliche Mate-
rialsammlung durchaus nicht ohne Wert. S, hat lange unter Chinesen
gelebt. Es eignet ihm eine weit überdurchschnittliche Fähigkeit zur
Beobachtung von Einzelheiten des Alltags, wobei ihn speziell auch die
Ökonomie und Soziologie dieses Alltags, mit der er als Missionar dauernd
zu tun hatte, ganz besonders interessiert. So vermittelt das Buch dem
kritischen Leser eine Reihe von Einsichten, die er den konventionellen
romantisch-ästhetisch-bädekerhaften Büchern ähnlicher Art nicht entneh-
men kann. Die beigegebenen Photos stehen technisch grossenteiis nicht
auf hoher Stufe. Inhaltlich dagegen gehören sie, da sie zumeist wirkliches
chinesisches Alltagsleben zum Gegenstand haben und u. a. den chinesischen
Arbeitsprozess (alten Stils) in mancherlei Formen schildern, zu den interes-
santesten Bildern, die in Europa über die Lebensverhältnisse der chinesi-
schen Bauern, Handwerker und Arbeiter veröffentlich worden sind.
K. A. Wittfogel (London),
Frazer, Sir James George, The Fear ofthe Dead in Primitive Religion.
Lectures deliveredon the William Wyse Foundation at Tnmtij
CollegeCambridge t 1932-1933. The Macmillan Co. London 1933.
(pp. 204 ; 10 s. 6 d.)
As far back as 1886, Sir James Frazer published an article in the J o urnai
of the Anthropological Society of London, on „Certain Burial
Customs as illustrative of the Primitive Theory of the Soul", which is,
as regards the convincing character of the evidencc brought togehter, one
of the most briiliant examples of his work. It proved conclusively that
the customs generally observed in the lower cultures in connection with
the disposal of the dead have been originally due to definite sentiments of
fear of the dead person's ghost.
In his William Wyse Foundation lectures, now published in book form,
Frazer amplifies the original evidence and somewhat develops its scope.
He gives füll consideration to seeming exceptions, which can either be
shown to be only apparent, or to arise out of the subsequent development of
collateral ideas. He also endeavours to indicate the various effects, either
312
Besprechungen
beneficial, such as the control of human and earthly fertility, or calamitous
such as storms and disasters, disease and death itself, which are ascribed to
the influence of dead men's ghosts.
The latter part of the evidence is not so definite and convincing as
that first brought forward. The chief reason for this is that any supernatural
being is, in primitive cultures, usually spoken of as an „ancestor", although
the expression has, in most instances, a purely mythical, and not a literal
sense. A very large number of people regard the moon, or some animal, or
mythical being as their „ancestor' 1 . But it does not follow that when they
ascribe the control of generation, fertility, rain, or the sources of disease
and death to the moon or to a god, those phenomena are regarded as having
their source in the influence exercised by the ghosts of dead people.
The rieh collection of examples set down with his usual ehann by
Sir James Frazer is not aecompanied by any extensive discussion or elabo-
rate thesis. But in his preface, Frazer remarks that „there can be little
doubt that the fear of the dead has been a prime source of primitive reli-
gion". It would be, however, rash, for the reasons above indicated, to
look to the tbeory of „ancestor worship" as the main key to religious
origins.
Sir James Frazer implies that the facts to which he draws attention
show the universality of the belief in the immortality of the soul. But
the notions of the survival of the dead, found in the lower cultures, differ
considerably from a belief in the immortality of the soul as understood in
more advanced theologies. That the doctrine of immortality is not a
fundamental constituent of primitive ideas is shown by the otherwise
improbable fact that no trace of the belief has existed in cultures so advanced
as that of the Semites of Western Asia.
As with all Sir James Frazer's contributions to the history of eulture
bis carefully presented facts demand the close attention, and his interpre-
taüons the critical discrimination of all students of the social sciences.
Robert Briffault (Paris).
Ökonomie.
Mises, Ludwig, Grundprobleme der Nationalökonomie. Untersuchun-
gen über Verfahren, Aufgaben und Inhalt der Wirtschafte- und Gesellschafts-
lehre. Gustav Fischer. Jena 1933. (XVI u. 216 S. ; RM. 9.—, ae h
RM. 10.50; * * °'
M.' jüngste Veröffentlichung ist keine systematische Darlegung der
ökonomischen Grundprobleme, sondern (mit einer Ausnahme) der Wieder
abdruck von 8 Monographien, die der äusseren Form nach nur lose mitei
nander verbunden sind. Drei kleinere Abhandlungen sind der Darstellung
und antikritischen Sicherung der subjektivistischen Wertlehre in österrei-
chischer Auffassung gewidmet. Der Gedankengang ist aber in beiden
Richtungen so sehr übervereinfacht, dass er dem heutigen Stand des Pro-
blems, wie ihn die neueren Arbeiten Hans Mayers oder des Kreises um die
Ökonomie 313
London School of Economics schildern, nicht gerecht wird. Gerade der
Gegner der Grenznutzenlehre wird stärkere und umfassendere Positionen
angreifen müssen, wenn er nicht, wie M. gegenüber der Wissenssoziologie
(in der Abhandlung „Die psychologischen Wurzeln des Widerstandes gegen
die nationalökonomische Theorie") durch Scheinsiege über veraltete Argu-
mente seinen eigenen Erkenntnisspielraum verengen will.
Umso interessanter sind die beiden einleitenden Arbeiten, die eine
methodologische Sicherung der ökonomischen Theorie und auf dieser
Grundlage der gesamten Soziologie anstreben. Von dem Versuch, das
ökonomische Prinzip als eine „Kategorie" von gleicher erkenntnistheoreti-
scher Dignität wie die Kausalität zu erweisen, führt bei M. ein direkter Weg
zu der Behauptung, dass der Liberalismus keine Weltanschauung, sondern
frei von Metaphysik und Wertung die a priori deduzierbare Maxime des
menschlichen Handelns sei. Auch hier ist es nicht die Neuheit der Gedan-
ken, sondern die vor keiner Folgerung zurückscheuende Methode der
Deduktion, die diese Abhandlungen zu einem einzigartigen Demonstra-
lionsobjekt sozialwissenschaftlicher Methodenkritik macht. Die „Wertfrei-
heit' 1 der liberalen Marktordnung ist etwa von Robbins in seinem „Essay
on the Nature and Significance of Economic Science" weit subtiler und in
dem von Max Weber gewiesenen Rahmen erörtert worden. Die Begründung
ökonomischer Apriori hat neuerdings Bernadelli in seinen „Grundlagen der
ökonomischen Theorie" auf einer viel solideren erkenntnistheoretischen
Basis versucht. M. aber bleibt das Verdienst, gerade durch seine Uebertrei-
bungen die logischen Bruchstellen dieser Deduktion sichtbar zu machen und
durch die Form seiner Polemik zu einer erneuten Auseinandersetzung über
Sinn und Grenzen reiner Theorie herauszufordern. Dass diesen extremen
Rationalisten die modernen Dunkelmänner der intellektuellen Reaktion
mit besonderem Hass verfolgen, scheint ihm ein halbes Recht zu geben.
Es ist umso mehr die Aufgabe derer, die an einer „echten Aufklärung"
arbeiten, durch richtige Zuordnung von Wissenschaft zu Politik, von
Ökonomie zu Soziologie und Geschichte diesem in Form und Inhalt gleich
masslosen „Idealismus" die logischen Schranken zu weisen. Umfang und
Form einer Rezension können dieser Aufgabe nicht gerecht werden. D ie
positive Auseinandersetzung mit der neuen Methodologie des Liberalismus
müsste einer besonderen Studie vorbehalten bleiben.
Adolf Löwe (Manchester).
Preiser, Erich, Grundzüge der Konjankturtheorie. J. C. B. Mohr
Tübingen 1933. ( VIII u. 160 S. ; RM. 5.— )
P. versucht eine Synthese der verschiedenen vorhandenen Konjunk-
turtheorien. Methodisch fordert er die Ableitung des Zyklus aus dem
System der „reinen Theorie" . Er fragt nach einer typischen Datenkonstella-
tion, die die Steuerung der Wirtschaft immer wieder lahmlegt, sei es, weil
die Marktlage in den Preisen nicht richtig zum Ausdruck kommt, sei es,
weil besondere Umstände die Produzenten verhindern, den Preissignalen zu
folgen. Zur inhaltlichen Bestimmung dieser Konstellation gelangt P. nach
314 Besprechungen
einer Kritik der monetären Konjunkturtheorie durch eine eingehende Ana-
lyse des Spar- und Investitionsprozesses. Ein bestimmter Typus des
Sparens — das „heteronome" Sparen, das auf eine Änderung der Einkom-
mensverteilung zugunsten der Unternehmerklasse zurückgeht — führt
nach ihm zu Überakkumulation und Krise. Denn während beim „autono-
men" Sparen (aufgrund veränderter Einkommensverwendung) der Zins
die Kapitalleitung reguliert, so dass jeweils nur den rentabelsten Unterneh-
mun gen die Sparsummen zukommen und die Produktion den Zusammenhang
mit der letzten Nachfrage wahrt, setzt im anderen Fall diese Steuerung
aus. Den Unternehmern f Hessen durch Lohnersparnis automatisch neue
Mittel zu, die sie da investieren, wo die Gewinne anfallen, ohne dass eine
ähnliche Auswahl der Erweiterungspläne stattfindet, wie bei Investition
von Fremdkapital. Daher geht nach P. der Kontakt mit dem definitiven
Konsum verloren, der Produktionsapparat erweist sich ihm gegenüber
schliesslich als zu gross. Bei Beginn des Aufschwungs finde sich immer diese
Datenkonstellation des heteronomen Sparens. Der Rückschlag tritt nach
P. nicht nur dann ein, wenn die Lohnquote im Aufschwung weiter sinkt,
sondern auch im Falle ihres allmählichen Ansteigens. Denn es werden dann
zwar weitere Fehlinvestitionen verhindert, aber es erfolgt keine Korrektur
der bereits vorhandenen Überakkumulation, die bei sinkenden Gewinnen
(wegen Lohnsteigerung) und anschliessender Überprüfung der Investitions-
aussichten „ans Licht kommt' 4 . Das Ergebnis ist eine Zurückhaltung der
Investoren, die die Investitionen über den Rückgang des Kapitalangebots
hinaus sinken lässt. Der Schrumpfungsprozess hält bei immer weiteren
Stillegungen an, bis sich die Wirtschaft in einem „Quasigleichgewicht" (mit
Arbeitsreserven) fängt. Aber damit durch Reinvestition stillgelegter
Kapitalien ein neuer Aufschwung eingeleitet wird, bedarf es nach P. beson-
derer Anstösse von aussen. Insofern ist die Überwindung der Depression
exogen bedingt, und es ist nach ihm möglich, dass der Aufschwung einmal
ausbleibt. Die typische Datenkonstellation begründet nur die Möglichkeit
des im Wesen immer gleichen Zyklus. Kurt Mandelbaum (Paris).
Bordaz, Robert, La loi de Marx sur les capiiaux ä la lumi&re des
ivönements confemporains. L. Rodstein. Paris 1933. (200 5 ■
frs. fr. 36.—;
Der Buchtitel ist missverständlich. Auch im Texte spricht der Verf.
stets vom „loi sur les capitaux", als ob bei Marx nur ein einziges „Gesetz
der Kapitalien" bestünde I Um welches Gesetz handelt es sich ? Etwa
um das Gesetz der fallenden Profitrate ? Dieses im Zentrum der Marxschen
Krisenlehre stehende Fundamentalgesetz wird vom Verf. nicht behandelt
und in einer Fussnote S. 175 als „durch die Erfahrung nicht bestätigt" mit
zwei Worten abgefertigt 1 Das Buch erörtert die wechselnde organische
Kapitalkomposition, d. h. das Gesetz des steigenden Wachstums des kon-
stanten Kapitalteils im Verhältnis zum variablen im Verlauf der Akkumula-
tion. Marx hätte keine schlüssigen Beweise für sein Gesetz geboten (S. 69)
da zu seiner Zeit industrielle Produktionsstatistiken nicht existierten. Der
Ökonomie 315
Verf. will daher auf Grund eines umfangreichen modernen Materials die
Richtigkeit des Gesetzes nachweisen.
Das herangezogene Material ist lückenhaft, unsystematisch, die Tabellen
sind (abgesehen von offenbaren Nachlässigkeiten wie S. 106) oft unverständ-
lich (S. 119), die Tabelle S. 123 wollte für die Periode 1899-1919 in U. S.A.
den steigenden Anteil der Löhne am Produkten wert zeigen, zeigt aber das
Gegenteil (sinkender Lohnteil von 36 % im J. 1899, auf 20 % im J. 1919).
Der Verf. beschränkt sich jedoch nicht auf die statistische Beweisfüh-
rung. Im ersten Teil des Buches beschreitet er das Gebiet der Theorie und
konstruiert aus dem Gesetz der steigenden Kapitalkomposition — eine
Krisentheorie ! Die steigende Produktivität als Folge der höheren organi-
schen Kapitalzusammensetzung ist vom sinkenden Lohnanteil, daher
sinkender Kaufkraft der Arbeiterklasse begleitet. Aus dem Widerspruch
beider Entwicklungsreihen muss sich in einem „bestimmten Augenblick"
eine Gleichgewichtsstörung ergeben (S. 55). In dieser simplistischen Weise
wird die Marxsche Krisenlehre als eine Unterkonsumstionstheorie dargestellt,
die nur eine Paraphrase der Sismondi'schen Krisenlehre ist (S. 55, 59).
Dem Verf. entgeht, dass bei einer solchen Konstruktion die Hausse über-
haupt nicht möglich wäre, die Krise dagegen eine permanente sein müsste.
Die seit 35 Jahren vor allem in Deutschland und Russland geführte ältere
und neuere Diskussion über die Marxsche Krisentheorie, an der sich Tugan-
Baranowsky, Kautsky, Pannekoek, L. Bondin, Bulgakow, Gharasoff, Lenin,
R. Luxemburg, Bucharin, H. Grossmann beteiligten, ist dem Verf. unbe-
kannt.
Dass die durch den technischen Fortschritt freigesetzten Arbeiter bei
einem beschleunigten Rythmus der Akkumulation wieder in den Arbeits-
prozess eingesaugt werden könnten, wird zwar S. 53-59 erwähnt, zugleich
jedoch gesagt, „dass dies immer schwieriger wird" . Mit dieser nichtssagen-
den Phrase wird die entscheidende Seite des Problems und der Nachweis
dieser Unmöglichkeit übergangen.
Ad. Smith' Optimismus, meint der Verf., sei verständlich, da er 1776
die schädlichen Wirkungen des Maschinismus nicht voraussehen konnte
(S. 14). Dass Montesquieu bereits 30 Jahre vor Ad. Smith die schädliche,
Arbeitskräfte freisetzende Wirkung der Maschinen betonte (L'Esprit des
Lois, livre 23, chap. 15), sollte dem Verf. bekannt sein. — Bei Vertiefung
seiner Studien wird B. in späteren Publikationen wohl noch Besseres
leisten können.
Henryk Grossmann (Paris).
Pirou, Gaetan, La crise du capitalisme. Recueil Sirey. Paris 1934.
(138 S. ; frs. fr. 15.— )
P. behandelt den Reflex der heutigen Krise des Kapitalismus in der
französischen Diskussion. Es stehen also weniger die Tatsachen selber
als vielmehr die Doktrinen zur Erörterung, und gerade darin vermag sich
die schon erprobte Kraft P.s zu klarer Gliederung und sorgfältig abwägender
Darstellung der Positionen erneut zu bewähren. Der Verf. stellt zunächst
316
Besprechungen
die vorgebrachten Kritiken am Kapitalismus, sodann die Forderungen und
Ansätze einer (partiellen) „economie dirigee" in Frankreich zusammen.
Darauf gibt er zu antikritischer und positiver Verteidigung den Liberalen
das Wort. Obwohl er die erheblichen Mängel der kapitalistischen Plan-
wirtschaftsversuche deutlich sieht, hält er sie doch in Zukunft für unaus-
weichlich und zwar nicht als Massnahmen gegen den Kapitalismus, sondern
ausdrücklich zu seiner Konsolidierung. Diese Sicht der „e. d." und über-
haupt des Verhältnisses von Staat und kapitalistischen Mächten scheint
zutreffend zu sein. P, befestigt seine für das kapitalistische System relativ
günstige Prognose durch eine Untersuchung der Chancen einer sozialistischen
Neuordnung, Hierbei beschäftigt er sich vor allem mit den Neosozialisten ;
er spricht ihnen ausdrücklich die bona fides, aber wegen der Verflechtung
ihrer Bundesgenossen mit dem Finanzkapital nur einen recht engen Wirk-
raum im sozialistischen Sinne zu. Solange die Spaltung der Arbeiterbewe-
gung anhalte, sei an einen sozialistischen Sieg überhaupt nicht zu denken.
Auf der anderen Seite scheinen P. auch die nationalistischen Bewegungen
in Italien und Deutschland keine ernsthafte Gefährdung des kapitalistischen
Systems zu bedeuten, eher das gerade Gegenteil. Für Frankreich hält P.
das Heraufkommen eines diktatorischen Regimes für sehr unwahrscheinlich.
P.s Grundhaltung selbst ist deutlich antikapitalistisch und zugleich allen
romantischen Scheinlösungen feind, allerdings so, dass eine Zuordnung zu
einer der kämpfenden Gruppen kaum möglich ist. Diese offene „Voreinge-
nommenheit" hat indessen der ebenso aktuellen wie sachlich hervorragenden
Schrift — die nach der Seite der inhaltlichen Problematik der Planwirtschaft
wohl noch eine gewisse Vertiefung verdiente — im ganzen offenbar nichts
von ihrem Realismus geraubt. Um so seltsamer daher die Selbstverständlich-
keit, mit der die sozialistischen Kritiker des Kapitalismus mehrfach als
Propheten eines zwangsläufig raschen Zusammenbruchs der kapitalistischen
"Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung angesehen werden. Diese Ver-
wirrung von Wunsch und Prognose ist gewiss recht häufig, aber doch alles
andere als notwendig. Gerhard Meyer (Paris).
De Man, Henri, Pour un Plan d' Actio n. Marcel Riviere, Paris 1934.
f33 S. ; frs. fr. 2.— )
Buset, Max, L' Actio n pour le plan. L'gglantine Bruxelles et Marcel
Riviere. Paris 1933 (S6 S. ; frs. fr. 7.50 j.
Le Plan da Travail. Compte rendu sttnographique XXXXVUI* Congres
du P. O. B. Bruxelles 24 et 25 de'cembre 1933. L'ßglantine. Bruxell
1934 (160 S.)
Der Aktionsplan Hendrik de Mans hat sehr bald auch ausserhalb
Belgiens als Symptom einer strategischen Schwenkung der reformistischen
Arbeiterbewegung starke Beachtung gefunden. Die erste der angeführten
Schriften enthält nach einem leicht einschränkenden Geleitwort der fran-
zösischen Gruppe „Revolution Constructive" Aufsätze de Mans, die neben
dem Schlusskapitel seines neuen Buches „Die sozialistische Idee" am
besten die Grundlagen und Ziele des „Plans" entwickeln. Die Arbeit von
Ökonomie 317
Buset, dem Leiter des sozialistischen Arbeiterbildungswesens in Belgien
und nächsten Mitarbeiter de Mans ist für die Propaganda bestimmt. Sie
ist aber doch bemerkenswert, weil sie zum mindesten in die Auffassungen
der rechtssozialistischen Träger der Planbewegung einen besonders offenen
Einblick gewährt. Der Bericht über die Weihnachtstagung der belgischen
Arbeiterpartei, auf der der Plan nahezu einstimmig angenommen wurde,
zeigt die mit der Aktion aufgegebenen Probleme mehr von der konkreten
belgischen Situation aus. Besonders oft wird hier in den Referaten und
Diskussionsreden die Forderung einer friedlichen demokratischen Durch-
setzung des Planes angesichts drohender faschistischer Angriffe behandelt.
Trotz einer gewissen Skepsis in dieser Beziehung schliesst sich auch der
bisherige Führer der Opposition, Spaak, de Man an ; fundierte politische
Kritik übt nur Liebaers.
Die Hauptelemente des ein unteilbares Ganzes bildenden Planes —
die technischen Einzelheiten stehen noch aus — sind etwa folgende : eine
„strukturelle" Reform des belgischen Kapitalismus zu einer „economie
mixte" mittels einer Nationalisierung des gesamten Banksystems sowie
der bisher von privaten Monopolen beherrschten Kohle- und Elektri-
zitätswirtschaft und eines Teiles der Eisenindustrie ; ferner bereits zur
Überwindung der heutigen Krise eine hauptsächlich mit kreditpolitischen
Mitteln auf der Grundlage eines Fünfjahresplans durchzuführende Plan-
wirtschaft. Die P. O. B. fordert alle Gruppen der Bevölkerung, insbeson-
dere aber die Mittelschichten, zu gemeinsamem demokratischem Kampf
um die Macht und zu einer auf die Ausführung des Plans beschränkten
Regierungskoalition auf. Aus den zugrundeliegenden Perspektiven für
die Chancen von Kapitalismus, Sozialismus und Faschismus scheinen drei
Gedanken am wichtigsten : nur eine positive Offensive in der von der
kapitalistischen Entwicklung selber gewiesenen Richtung kann die sozia-
listische Bewegung vor der Vernichtung durch irgendeine Form von
Faschismus retten. Die Arbeiterschaft ist teils des Planinhalts, teils eigener
Schwäche wegen auf die Hilfe der Mittelklassen angewiesen. Und schliess-
lich : diese Hilfe der ebenso antikapitalistischen wie antiproletanschen
Mittelklassen kann zwar nicht für einen Totalangriff gegen den Kapitalis-
mus, wohl aber mit grosser Wahrscheinlichkeit für den Kampf gegen seine
Hauptfestung, das Finanzkapital und die mit ihm auf das engste verknüpften
Monopole gewonnen werden, wenn man einen streng legalen, demokratischen
Kurs innehält. Diese Konzentration auf einen Teilgegner geht stellen-
weise so weit, dass die übrigen Sphären der Wirtschaft in liberaler Weise
beinahe verklärt und jedenfalls die ökonomischen und politischen Gefahren
des Industriekapitalismus fast völlig übersehen werden. Aber mehr noch :
lässt man die vielfachen Bemühungen, den Anschluss an die sozialistisch-
proletarische Tradition zu wahren, einmal beiseite und fragt nur nach
der den Planzielen adäquaten soziologischen Grundlage, so gewinnt man den
Eindruck, es werde hier eigentlich die politische und ökonomische Theorie
eines in sich zwar differenzierten, aber doch zusammenhaltenden Mittel-
standes vertreten, d. h. einer Schicht, die die objektiven Tendenzen zu
Staatskapitalismus, kapitalistischer Pseudoplanwirtschaft und stärker
zentralisierter autoritärer Regierungsweise in einer antikapitalistischen
318
Besprechungen
Frontstellung, die die Gewinnung bestimmter Arbeiter schichten erlaubt,
für sich auszunutzen sucht. Denn vom sozialistischen Standpunkt ist
beispielsweise eine Argumentation kaum noch begreiflich, die das Ste-
henbleiben bei der „economie mixte" vor allem mit der Begründung
rechtfertigt, dass integraler Sozialismus notwendig international und
marktlos sei, wegen der Verflechtung mit kapitalistischen Ländern indessen
Marktverkehr nicht aufgegeben werden könne, dieser aber wiederum an
das Bestehen eines grossen privaten Sektors gebunden sei.
De Man betont selbst, dass das von ihm gegenwärtig Erstrebte kein
Sozialismus sei. Es ist aber sehr fraglich, ob es auch nur eine Etappe auf
dem Wege zum Sozialismus darstellt. Wie Liebaers mit Recht ausführt
handelt es sich um eine halbe Revolution. Diese aber pflegen, insti-
tutionell und kräftemässig gesehen, ihre eigene Vollendung zu erschweren"
sie fördern und ermöglichen oft Tendenzen, die dem ursprünglich vielleicht
wirklich Erstrebten völlig entgegengesetzt sind. (Über weitere theoretische
Gesichtspunkte zur Beurteilung des Planes vergl. den Artikel zur Theorie
der Planwirtschaft in diesem Heft.)
Gerhard Meyer (Paris).
Mackmurdo, A. H., A People's Charter or the Terms of Prosperitu
and Freedom mithin a Community. Williams and Noraate Lon
don 1933. (271 pp. ; sh . 6.—) n ~
Macmillan, Harold, Reconstruction. A Pka for a National Policu
Macmillan. London 1933. (144 pp , ; 3 s . 6 <L)
Edgeworth, Kenneth Essex, The Induslrial Crisis, its C aus es and
itsLessons. Allen and Unwin. London 1933. (208 pp. ; sh. 5 1
These three books, written in each case by intelligent people without
qualification for the task they undertake, are all inspired by the depressing
time in which modern civilisation is struggling. All three deal in their own
way primarily with economic problems. Mr. Mackmurdo' s work, which
consists in a collection of related essays, is, however, not merely economics
but includes what the author no doubt would consider a successful attemnt
at constructing a complete „sociology". The „sociology" is „biological"
and „physical" in that it consists in a long series of analogies between the
body, politic and economic, and the biological body and the physical uni
LT 6 ' Vtt fu i ndamental science is sociology, which is essentially the appli-
^f * 1 , t*V* the more so sim P ]e natural ^iences to the comXx
Z *l i f! y <WhlCh 1S 9n °^™^ ^ which, being an appllcation ol
natural sciences cannot sensibly be studied by anyone without an advanced
knowledge of those sciences. That of course includes most social Sä
especially economists. Mr. Mackmurdo having thus completely absolvÄ
himself from the task of finding out what problems sociologists and econa
mists are concerned with, and how they treat them, is thus free to make as
many dogmatic utterances as he cares. This he does for some two hundred
and seventy pages, in aiding himself, and perhaps the reader, with manv
pretty illustrations and an attractive if somewhat pompous style.
Ökonomie 319
Mr. Macmillan, being an M. P. is not interested in expounding his
whole „Weltanschauung' 1 but in the practical problems of reorganising a
broken-down economy, that of England. He is convinced, and argues,
that England cannot recover without a Iarge degree of „conscious planning" ,
and seeks to formulate the principles of such planning. The foreigner must
not be allowed to interfere, therefore we must have protection. Secondly
the larger the number of separate industrial units the greater the danger
from miscalculation. Dangerous miscalculations can only be avoided by
nation wide Organisation, the government's function being to assist those
organisations by granting them statutory regulative powers. „Regulative
powers amounting to monopoly must be granted to efficiently organised
and integrated national industries" (p. 21). Needless to say, there is to be
an Economic Council to co-ordinate Industry, Finance, and Politics.
The rest of the work consists in a slightly more detailed treatment of the
individual problems involved. Plans like Mr. Macmillan's are abundant
and his suffers from defects common to them all. Almost all envisage the
determining of „efficiencies" by Council rather than by the objective index
of price. Prices and costs will be „kept" and even regarded as essential but
„planners" do not realise that vast arbitrary interferences render their
Operation meaningless.
Lieut. Col. Edgeworth's book is analytic rather than constructive.
His exposition is mostly of an elementary character though he uses in many
cases the argumenta of Mr. J. M. Keynes and other economists. His view
of the possibilities of government Intervention makes an interesting compa-
rison with that of Mr. Macmillan. „If the control of industry ever passed
into the hands of the politicians, it is safe to predict that they will engineer
a greater boom followed by a more disastrous slump than any yet known
in history" (p. 190). That is, politicians undeniably have power, but it is
power for evü. A. Emanuel (London).
Winkler, Wilhelm, Grtmdriss der Statistik, II : Gesellschaftssiatistik.
Julius Springer. Berlin 1933. (X u. 290 S. ; RM. 19.60;
Der vorliegende zweite Band des „Grundrisses" bildet mit dem vor
einiger Zeit erschienenen ersten Band, der der „Theoretischen Statistik
gewidmet war, ein „organisches Ganzes". Das Werk gliedert den Stoff —
von einer knappen „Einleitung" abgesehen — in vier Kapitel, in denen die
Bevölkerungsstatistik, die Wirtschafts-, die Kulturstatistik und die poli-
tische Statistik behandelt sind. Grundsätzlich ist gegen diese Gliederung
einzuwenden, dass auf Kultur- und politische Statistik zusammen noch
nicht einmal soviel Seiten entfallen, wie einem — allerdings bedeutsamen —
Teilabschnitt der Bevölkerungsstatistik (der Statistik der Gestorbenen)
vorbehalten sind. Obgleich es selbstverständlich ist, dass nicht alle Teil-
gebiete der Statistik mit derselben Ausführlichkeit behandelt werden, so
geht es doch, und zumal in einem „Grundriss", nicht wohl an, auf der einen
Seite gewisse, sachlich wie methodisch wichtige und interessante Gebiete
mit wenigen Zeilen abzutun, und auf der anderen Seite ein Gebiet in einer
320 Besprechungen
(jedenfalls relativ) übermässigen Gründlichkeit zu behandeln. Diese
I „Disproportionalität" ist nur zu einem Teil didaktisch entschuldbar — sie
ist im übrigen zweifellos entscheidend mit schuld an einem anderen Mangel.
Diesen erblicke ich darin, dass die spezifischen (speziell-methodischen)
Probleme wichtiger Teilstatistiken nur unzulänglich oder überhaupt nicht
herausgearbeitet worden sind. Das gilt nicht etwa nur für die politische
und kulturelle Statistik, sondern auch für verschiedene Teilgebiete der
Wirtschaftsstatistik (z. B. Produktions-, Geld-, Verkehrs-, Kartelist.). Für
diese Unzulänglichkeit vermag ein grosser Vorzug des Buches : die reiche
Beigabe statistischen Materials in Form von Tabellen und graphischen
Darstellungen, nicht völlig zu entschädigen.
Über diesen wenigen kritischen Ausstellungen — auf Einzelheiten ein-
zugehen ist hier nicht der Ort — dürfen keinsweg die grossen Vorzüge
übersehenwerden, die den „Grundriss" im übrigen auszeichnen. Die meisten
Abschnitte der Bevölkerungs- und viele Teile der Wirtschaftsstatistik legen
erneut Beweis ab von dem scharfsinnigen Denken, dem klaren Stil und dem
unbestreitbaren und längst bekannten pädagogischen Talent W.s. Alles
in allem wird man gern anerkennen, dass W. uns einen guten „modernen
Grundriss der Statistik beschert hat, mit dem sich die Wissenschaft no
in mancher Hinsicht gründlich auseinanderzusetzen haben wird.
E. Neumark (Istambul)
Muhs, Karl, Kartelle und Konjunkturbewegung. Gustav Fi*rl
Jena 1933. (132 S. ; RM. e.—J ^usiau t<isel
Als die Kartelle aufkamen, erwartete man von ihnen ziemlich einh^iu-
eine Abschwächung der Konjunkturbewegung. Dieser Kartellootin
war lange Zeit vorherrschend ; er ist erst durch die Erfahrungen der wT
Wirtschaftskrise gebrochen worden. In der neueren Literatur mehren ' ü
die Stimmen, die die Kartellpolitik für Ausmass und Dauer des W" t S
abstiegs seit 1929 mitverantwortlich machen. Auch M. ist der M
dass die Preisüberhöhung und relative Preisstabilisieruug die die K ^ n ^'
innerhalb ihres Bereichs durchsetzen, die Anlageexpansion fördern und d'
Konjunkturausschläge (nach oben und unten) verstärken müssen S i *f
Untersuchung vertieft geläufige Argumente und ist wegen der Systematik
der Darstellung nützlich. Eine Apologie des ökonomischen Liberalismu
liegt M. trotz seiner kartellkritischen Haltung fern. Er hält die überate
Phase des Kapitalismus im wesentlichen für abgeschlossen Ordn
Organisationsgebilde" seien unentbehrlich, seitdem die Wirtschaft we«en
des Anwachsens der Betriebsgrössen und der stehenden Kapitalanlagen ein
gut Teil ihrer „Wendigkeit" und AnpassungskraFt verloren habe. Prinzi-
piell könnten die Kartelle Träger der Ordnungsfunktionen sein, die früher
die freie Konkurrenz erfüllte. Aber sie waren bisher dieser Aufgabe nicht
gewachsen ; ob sie sie künftig lösen werden, steht auch nach M. dahin.
Hans Baumann (Prag).
Imp. des P. ü. F. — VoDdäme-Pari?
Le gerant ; R. Lisbonne.
L1BRAIRIE FfiLIX ALCAN
NOUVELLE BIBLIOTHEQUE ECONOMIQUE
Economie Politique positive — Statistique — Histoire £conomique
publiee sous la direciion de Francois SIMIAND
MAURICE HALBWACHS
Correspondant de 1' Institut
Professeur a l'Universite de Strasbourg
DEVOLUTION des BESOINS
DANS LES CLASSES OUVRIERES
Un volume grand in-8°.
30 fr.
L'6tude des depenses dans les menages ouvriers nous donne une idee süffisante des biens
qu'ils recherchent, et nous apprend aussi, lorsqu'on les distingue en plusieurs categorles,
quel est l'ordre de leurs preferences. Or, depuis le milieu du xix* siecle, il s'est constitue une
Branche nouvelle d'enquetes economiques et statistiques qui visent ä recueillir des budgets
de familles, c*est-ä-dire ä döterminer l'6tat effectif et dötaille des revenus et des depenses dans
des groupes de menages surtout ouvriers.
C'est surtout depuis la guerre que ces enqußtes se sont multipliees dans tous les pays, ä
reffet surtout d'offnr une base au calcul de I'indice du coüt de la vie. Un ensemble important
des budgets de menages recueülis en Allemagne en 1927-28, l'enqu&to de ce genre la plus precise
et la plus etendue publiee jusqu'ä ce jour, permettait de rechercher quels rapports existent
entre les depenses, les revenus et la compositum de la famüle, dans les classes ouvrieres et
parmi les employes et les fonctionnaires. Mais surtout il 6tait possible de suivre aux Etats-
Unis, ä cet egard, toute la periode de prosperit6 qui s'etend de 1885 a 1930, et, pour la premiere
fois, d'6tudier nort seulement un 6tat, mais une Evolution des besoins, en particulier dans ses
rapports avec la politique des hauts salaires. Les statistiques de la consommation par t€te en
France, pour certains produits essentiels, ont pu, enfin, donner une idee des transformations
des besoms economiques, dans un grand pays, au cours.du siecle revolu.
Quelle a ete, sur l'expansion et le resserrement des diverses depenses, l'infhience des mou
vements de longue duree d'essor et de resserrement ; tel est le Probleme qu'on s'est pose.
On verra tout ce que nous apprend a cet egard l'experience americaine. On a cherche a degagcr
l'action exercee sur les besoins par les variations des salaires et des prix, par la diversite crois-
sante des produits et des Services, et, en tous ces facteurs et & travers eux, parles conditions
nouvelles de la vie sociale.
DANS LA MßME COLLECTION
ROGER MAUDUIT
LA RßCLAME
fclude de Sociologie iconomique
Un volume, grand in-8°,
hors-texte
avec 13 planches
30 fr.
PAUL HARSIN
LES DOCTRINES MON&TAIRES
ET FINANCI&RES EN FRANCE
DU XVI 6 AU XVUie SlfiCLE
Un volume, grand in-8° 50 fr.
L.-J. LOUTCHITCH
DES VARIATIONS DU TAUX
DE L'INTfiRfiT EN FRANCE
DE 1800 A NOS JOURS
Un volume, grand in-8°, avec graphi-
ques 35 f
M. MITZAKIS
LES
GRANDS PROBL&MES ITALIENS
L'£conomie, les Finances et les Dettes
Un volume, grand in-8* 80 fr.
J. MORIN1-COMBY
MERCANTILISME
ET PROTECTIONNISME
Essai sur les Doctrines Intervent ionnistes
en Politique commerciale
du XV* au XIX* siecle
Un volume, grand in-8° 50 fr.
CH. ROY
LA FORMULE AUL EM AN DE
DE PRODUCTION RAT IONN ELLE
DANS L'INDUSTRIE
Ralionalisation contre Marxisme
Un volume, grand in-8° 25 fr.
FR. SIMIAND
Professeur au Conservatoire national des Arts-et-Mßtiers
Directeur d'e'tudcs ä l'ficole des Hautes fitudee
LE SALAIRE
DEVOLUTION SOCIALE
ET LA MONNAIE
T. I. Un volume, grand in-8° 80 Ir.
T. II et III. 2 volumes, grand in-8°, en-
semble 120 fr.
E. WAGEMANN
INTRODUCTION A LA THEORIE
DU MOUVEMENT
DES AFFAIRES
L'n volume grand in-8 26 fr.
Seite
\V. N. u. L. A. Kellogg, The Ape and the Child (Bally) 279
Sheila Bevington, Occupational Misfits (Lipmann) 280
J. T. Mac Curdy, Mind and Money (de Saussure) 280
Psycho-analysis Today (de Saussure) 281
Otto Kankeleit, Die schöpferische Macht des Unbewussten. —
Henrik Egeydi, Die Irrtümer der Psychoanalyse (Landauer). 281
Geza Rev6sz, Das Schöpferisch-Persönliche und das Kollektive
in ihrem kulturhistorischen Zusammenhang (Winki) 282
Edna Heidbreder, Seven Psychologies (Fromm) 282
Geschichte :
Karl Hampe, Das Hochmittelalter. — Helene Wieruzowski,
Vom Imperium zum nationalen Königtum. — Franz Günther,
Der deutsche Bauernkrieg. — Fritz Ernst, Eberhard im Bart
(Schwartz) 283
Johan Nordstroem, Moyen Age et Renaissance. — Ch. Petit-
Dutaillis, La monarchie feodale en France et en Angleterre
(Dorner) 284
R. Pascal, The Social Basis of the German Reformation (Witt- '
fogel) 285
Heinrich Kretschmayr, Geschichte von Venedig, Bd. III
(Hochberger) 286
Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, II.
— Hermann Oncken, Das deutsche Reich und die Vor-
geschichte des Weltkrieges. — "Wolfgang Windelband,
Grundzüge der Aussenpolitik seit 1871. — Richard Dietrich,
Die Tripolis-Krise. — Die auswärtige Politik Preussens 1858-
1871. — Deutschland und Polen. — Friedrich von Holstein,
Lebensbekenntnis. — Graf Albert Pourtales, Ein preuss-
isch-deutscher Staatsmann (Schwartz) 286
Armand Charpentier, Historique de l'affaire Dreyfus. — Wil-
helm Herzog, Der Kampf einer Republik (Dorner) . 289
Soziale Bewegung und Sozialpolitik :
Hildegard Reisig, Die Lehren vom politischen Sinn der Arbei-
terbildung (Trier) 290
Elie Halevy, Sismondi (Grossmann) 291
A. Pinloche, Fourier et le socialisme (Benjamin) 291
Roman Mönig, Heinrich von Treitschkes und Bismarcks Systeme
der Sozialpolitik. — Rudolf Craemer, Der Kampf um die
Volksordnung. — Walter Schumann u. Ludwig Brucker,
Sozialpolitik im neuen Staat. — Lutz Richter, Die faschistische
Arbeitsverfassung. — Helene Niegisch, Die Auffassung der
frühliberalistischen deutschen Nationalökonomen von der Armen-
frage. — Lisbeth Franzen-Hellersberg, Jugendpflege und
Jugendrecht im neuen Staat (K. Leichter) 292
Les Services sociaux (Sternheim) 295
Philipp Klein, Some Basic Statistics in Social Work (Sternheim). 295
Abraham Epstein, Insecurity : A Challenge to America (Tait). . 296
Dale Yoder, Labor Economics and Labor Problems (Sternheim) . 296
Jessie A. Bloodworth, Social Consequences of Prolonged Unem-
ployment. — Viktor Grimm, Unser täglich Brot gib uns heute
(Slernheim) , 297
Spezielle Soziologie :
Rudolf Laun, Der Wandel der Ideen Staat und Volk (Guggenheim) 298
Modern Theories of Law (Guggenheim) 298
Willem Adriaan Bonger, Problemen der Demokratie (Sternheim) 299
G. D. H. u. Magaret Cole, The Intelligent Man's Review of
Europe To-Day (Grunddl) 300
Seit«
Recovery through Revolution (BriffauU) 301
John Strachey, The Menace of Fascism (BriffauU) 301
Wilhelm Tempel, Aufbau der Staatsgewalt im fascistischen Ita-
lien (Korsch) 302
Die Erziehung im nationalsozialistischen Staat. — Adolf Rein,
Die Idee der politischen Universität. — J. W. Mannhardt,
Hochschulrevolution (Siegrist) 303
Christianity and the Crisis. — Cliristopher Dawson, Enquiries
into Religion and Cultnre (Fanjlwrsoii) 305
Karl Barth, Theologische Existenz heute. — Karl Barth, Für
die Freiheit des Evangeliums. — Friedrich Gogarten, Ein-
heit von Evangelium und Volkstum ? — Hans Michael Müller,
Der innere Weg der deutschen Kirche. — Hans Michael Mül-
ler, Was muss die Welt von Deutschland wissen ? — Heinrich
Adolph, Theologie. Kirche, Universität (Trier) 306
Eugen Schwiedland, Zur Soziologie des Unternehmertums
(Grünberg) 308
Crime for Profit ( Grundul) 309
Granville Hicks, The Great Tradition (Wittfogil) 310
Arthur Segers, La Chine (Witl/ogel) 311
Sir James George Frazer, The Fear of the Dead in Primitive
Religion ( BriffauU) 311
Ökonomie :
Ludwig Mises, Grundprobleme der Nationalökonomie (Löwe)... 312
Erich Preiser, Grundzüge der Konjunkturtheorie (Mandelbaum) 313
Robert Bordaz, La loi de Marx sur les capitaux (Grossmann) . . . 314
Gaetan Pirou, La crise du capitalismc (Meyer) 315
Henri de Man, Pour un plan d'aetion. — Max Buset, L'action
pour le plan. — Le Plan du Travail (Meyer) 316
A. H. Mackmurdo, A People's Charter. — Harold Macmillan,
Reconstruction. ■ — Kenneth Essex Edgeworth, The Indus-
trial Crisis (Emmanuel) 318
Wilhelm Winkler, Grundriss der Statistik, II (Neumark) 319
Karl Muhs, Kartelle und Konjunkturbewegung (Baumann) ... . 320
Alle Sendungen redaktioneller Art sind mit dem Vermerk « Zeitschrift
lür Sozialforschung » zu richten an die LIBRAIRIE FELIX ALCAN,
108, boulevard Saint-Germain, Paris (6 e )
Die Zeitschrift erscheint dreimal jährlich : im März, Juli und November.
Der Preis des Jahrgangs beträgt francs francais 100. — , des Einzelhefts
francs francais 35. — .
Tous les envois redactionnels doivent etre adresses avec la mention
« Zeitschrift für Sozialforschung » ä la LIBRAIRIE FELIX ALCAN,
108, boulevard Saint-Germain, Paris (6 e ).
La Revue parait 3 fois par an, en mars, juillet et novembre.
Le prix de l'annee est de 100 francs francais.
Le numero : 35 francs francais.
Schriften des Instituts für Sozialforschung
Herausgegeben von Max Horkheimer.
Band 4.
FRANZ BORKENAU
Der Übergang vom feudalen
zum bürgerlichen Weltbild
Studien zur Geschichte der
Philosophie der Manufakturperiode
XX und 559 Seiten.
Preis : ffrs. 100. —
Auf der Grundlage eines umfangreichen, bisher zum Teil
wenig bekannten Quellenmaterials stellt der Verfasser die wechsel-
seitigen Beziehungen zwischen der Entstehung der bürgerlichen
Gesellschaft und dem modernen naturwissenschaftlichen Weltbild
dar. Von Thomas von Aquino bis Descartes und Pascal werden
die Zusammenhänge zwischen dem jeweiligen Idealbild der Gesell-
schaftsordnung und den Vorstellungen über die Natur aufgezeigt.
Besonderer Nachdruck wird auf die These gelegt, dass die Mechanik
als Wissenschaft der Manufakturperiode wissenschaftliche Bearbei-
tung des manufaktureilen Produktionsprozesses ist und dass die
in der Technik der Manufaktur enthaltenen Ansätze von der
Philosophie zu einem kühnen allgemeinen Weltbild ausgeweitet
werden. Borkenau legt die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen
politischen Parteien, Staatstheorien und philosophischen Systemen,
zwischen religiösen Kämpfen, theologischen Schulen und natur-
wissenschaftlichen Methoden fortlaufend dar. Er versucht, alle
Denkformen des 16. und des beginnenden 17. Jahrhunderts dem
einheitlichen Gesichtspunkt der Durchsetzung der neuen bürger-
lichen Lebensformen in der Gesamtkultur unterzuordnen.
LIBRAIRIE F£LIX ALCAN / PARIS 1934