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Ill. Jahrgang August — September — Oktober 1929 Heft 11/12/13
Zeitschrift für
psychoanalytische
Pä dagogik
| Sonderheft
| Federn . . . Die Wiener Selbstmorddiskussion
| Meng .... Gespräch mit einer Mutter über Selbstmord
Bernfeld . . Selbstmord
Kalischer.... Leben und Selbstmord eines Zwangsdiebes
Federn .... Selbstmordprophylaxe in der Analyse
Chadwick. . Über Selbstmordphantasien
Schneider... Die Selbstmordphantasien Tom Sawyers
Sterba ... . Schülerselbstmord in den „Falschmünzern”
Sadger .... Zum Problem des Selbstmords .
Friedjung. . Kindliche Selbstmordimpulse
Lorand .... Der Selbstmord der Miss X.
Leuthold ... Eine Schülerin denkt an Selbstmord
Pipal ,... Zwei unterbliebene Selbstmordversuche
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Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik
Herausgegeben von
Dr. Heinrich Meng und Prof. Dr. Ernst Schneider
Arzt in Frankfurt a.M. in Stuttgart
Alle geschäftlichen Zuschriften sind zu richten an den
„Verlag der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik”
Wien, In der Börse
alle für die Schriftleitung bestimmten Zuschriften, Manuskripte, Rezensionsexemplare an
Dr. med. Heinrich Meng, Frankfurt a. M., Kettenhofweg 114, oder an
Prof. Dr. Ernst Schneider, Stuttgart, Schwarenbergstraße 87
Die „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“, deren Jahrgänge bisher jeweilen
im Oktober begonnen hatten, wird — einem von verschiedenen Seiten geäußerten
Wunsce Rechnung tragend — ihren Jahrgangsbeginn auf den Anfang des
Kalenderjahres, d.h. auf den Monat Januar verlegen.
Aus diesem Grunde wird der gegenwärtige Jahrgang II, der im Oktober 1928
begonnen hat, nicht im September 1929 enden, sondern bis Dezember 199
dauern. Dementsprechend kommt in diesem Jahrgang zum Abonnementspreis
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Quartal einzuzahlen, und zwar an ihre Buchhandlung, wenn ihr Abonnement -
durch eine solche erfolgt, bezw. auf die Postsche&kkonti des ‚Internationalen
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Zahlungen für die „Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“ können geleistet werden
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Prag 79.385 Kt 20°— | s’Gravenhage 142.248 hfl. I’5o
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Das nächste Heft (Doppelheft 14/15) erscheint Anfangs Dezember
er
1
ZEITSCHRIFT FÜR PSYCHO-
ANALYTISCHE PÄDAGOGIK
II. Jahre, H. 11/12/13... ft, Aug.-Sept.-Okt. 1929
Die Diskussion über „Selbstmord“, insbesondere
„Schüler-Selbstmord”, im Wiener Psychoanalytischen
Verein im Jahre 1918
Von Dr. Paul Federn, Wien
Im Jahre ı910 war aus dem kleinen Kreise persönlicher Anhänger Freuds
schon ein internationaler Verband mit Kongressen und einem Jahrbuch als
Publikationsorgan entstanden.
- Die neuen Erkenntnisse erfaßten immer weitere Probleme jenseits der
Neurosenforschung. Mehrfach wurden Themen der Pädagogik und Soziologie
noch tastend zur Diskussion gestellt. Zwei dieser Diskussionen über „Onanie“
und über „Schüler-Selbstmord“ wurden veröffentlicht; spätere dienten nur
mehr der Sicherung der gemeinsamen Basis trotz der Sonderung der einzelnen
Arbeitsrichtungen.
Liest man die damalige Diskussion, so staunt man, wie schnell die neuen,
überraschenden Funde zum Bestand der Psychoanalyse geworden sind, wie
viel seither gewonnenes Wissen schon angedeutet zu erkennen ist. Freilich,
Gemeingut wurden sie erst später durch die meisterhafte Formulierung seitens
des Meisters. Hingegen überrascht die Distanz von Damals zum Heute in
Bezug auf die allgemeinen Ansichten über die öffentliche Schule und über
die Forderung, die an die Schule zu stellen sind. Das gesamte Publikum,
die gesamte Öffentlichkeit ist heute psychoanalytisch beeinflußt. Niemandem
fiele heute ein, das Verhältnis von Lehrer und Schüler, wie es damals als
selbstverständliches galt, zu verteidigen. Charakteristisch dafür ist, daß der
damalige Vertreter der Lehrer seinen Beitrag zur Diskussion nicht mehr auf-
recht erhält; und doch war er einer der Vorgeschrittenen der Zunft, sonst
hätte ihn nicht sein Interesse zur Psychoanalyse geführt. Dementsprechend
hätte heute kein Einsichtiger den gleichen Anlaß wie damals, die Schule an-
zugreifen, so wenig vollkommen die als richtig erkannten Prinzipien durch-
geführt sind. Auch steht Dank der Erkenntnis, daß die Entwicklung des
Zeitschrift f.psa. Päd., III/ıı/ı2/13 — 333 — er
Kindes früh und vielfach determiniert ist, nicht mehr in Frage, daß die
Schule einen Schüler-Selbstmord nur auslösen kann, ihn aber nicht allein
verursacht.
Freud selbst griff öfters in die Diskussion ein; doch hat er nur zwei
kurze Reden in die gedruckte Diskussion eingereiht. Die erste wendet sich
gegen das erwähnte Plädoyer des Schulmannes: „... Die Mittelschule soll
aber mehr leisten, als daß sie die jungen Leute nicht zum Selbstmord treibt;
sie soll ihnen Lust zum Leben machen und ihnen Stütze und Anhalt bieten
in einer Lebenszeit, da sie durch die Bedingungen ihrer Entwicklung genötigt
werden, ihren Zusammenhang mit dem elterlichen Hause und ihrer Familie
zu lockern... . Die Schule darf nie vergessen, daß sie es mit noch unreifen
Individuen zu tun hat, denen ein Recht auf Verweilen in gewissen, selbst
unerfreulichen Entwicklungsstadien nicht abzusprechen ist. Sie darf nicht
die Unerbittlichkeit des Lebens für sich in Anspruch nehmen, darf nicht
mehr sein wollen als ein Lebensspiel“. Die zweite Äußerung Freuds bildet
das kurze Schlußwort, er habe den Eindruck, ‚daß wir trotz all des wert-
vollen Materials... zu einer Entscheidung nicht gelangt sind. Wir wollten
vor allem wissen, wie es möglich wird, den so außerordentlich starken Lebens-
trieb zu überwinden, ob dies nur mit Hilfe der enttäuschten Libido gelingen
kann, oder ob es einen Verzicht des Ichs auf seine Behauptung aus eigenen
Ichmotiven gibt. Die Beantwortung dieser psychologischen Frage konnte uns
vielleicht darum nicht gelingen, weil wir keinen guten Zugang zu ihr haben.
Ich meine, man kann hier nur von dem klinisch bekannten Zustand der
Melancholie und von dem Vergleich mit dem Affekt der Trauer ausgehen.
Nun sind uns aber die Affektvorgänge bei der Melancholie, die Schicksale
der Libido in diesem Zustande, völlig unbekannt, und auch der Traueraffekt
des Trauerns ist psychoanalytisch noch nicht verständlich gemacht worden.
Verzögern wir also unser Urteil bis die Erfahrung diese Aufgabe gelöst hat.“
Zwei Jahre später hat Freud die hier angekündigten, von ihm gewonnenen
psychoanalytischen Einsichten in der Arbeit „Trauer und Melancholie“
veröffentlicht. Da sie demnach organisch zu unserer Diskussion gehört, so
schließe ich das den Selbstmord betreffende hier an.
Von der erkenntnisreichen Arbeit, welche aber neue Probleme aufwirft,
ohne ganz sie zu lösen, seien als Kommentar gleichsam für die Bemerkung
über den Selbstmord, das nötigste vorausgeschickt. Mögen dadurch viele Leser
angeregt werden, die Abhandlung selbst wieder zu lesen.
Die Trauer ist ein uns verständlicher Zustand, weil wir begreifen, daß
die Seele einen Verlust zu ertragen, zu verwinden hat. Sie muß sich schwer
und schmerzvoll von dem verlorenen Liebesobjekte lösen. Dieser Vorgang ist
als „Trauerarbeit‘‘ zu bezeichnen; diese besteht darin, daß fort und fort das
betrauerte Objekt die Interessen des Ichs an sich zieht, und Zusammenhänge,
Erlebnisse, Gedanken und Hoffnungen, die mit dem Objekt je verknüpft
waren, allmählich mit der schmerzenden Tatsache des Vorübersein verbunden
und dadurch als nicht mehr freudig anerkannt werden müssen. Das braucht
—-334.—
lange Zeit und ist eigentlich eine sich wiederholende Enttäuschung. Nach.
Beendigung der Trauerperiode ist aber das Ich befreit vom Leide und kann
wieder anderen Interessen und anderen Objekten die Libido zuwenden.
Aus früheren Arbeiten Freuds ist bekannt, daß die Objektwahl beim
Menschen in verschiedener. Art und auf Grund verschiedener ‚Liebes-
bedingungen‘‘ getroffen wird. Eine wichtige, häufige, oft aber nicht als
normal zu bezeichnende Art ist die narzißtische. Dabei wird ein Objekt ge-
wählt, weil dadurch die Liebe zum eigenen Ich, der Narzißmus, befriedigt
wird. Der einfachste Fall ist der, daß die Ichliebe dadurch auf ihre Kosten
kommt, daß die gewählte Person zuvor den Wählenden schon geliebt hat.
Das Ich liebt jetzt den, der durch seine Liebe die Ichliebe des Wählenden
bestätigt, gestärkt hat. Ist diese Liebeswahl einmal aus dem narzißtischen
Anspruch getroffen, so kommt dann in der Norm die Objektliebe im engeren
Sinne hinzu. Der Grund der Wahl ist und bleibt meist unbewußt.
Bei der Melancholie ist der T’rauerzustand unverständlich, weil entweder
kein Objektverlust bekannt ist oder das wirkliche Unglück, welches als Anlaß
der Erkrankung angegeben wird, nicht die Bedeutung hat, daß so schwere
Unglückstimmung darauf folgen sollte. Es ist, wie wenn bei der Melancholie
das Lustprinzip versagen würde: die Seele vermag dem Peingefühl nicht zu
entgehen, nicht mittels Verdrängung, nicht mittels Ablenkung und
gewöhnlich auch nicht durch reales, sonst als Glück zu bezeichnendes
Geschehen. (Ref.)
Bei mehreren Fällen von Melancholie hat nun Freud psychoanalytisch
festgestellt, daß Selbstvorwürfe und Klagen der Kranken ihren Sinn erst
bekommen, wenn man erkennt, daß sie eigentlich gegen eine andere Person
gerichtet sind. Es ist also diese Person, die früher Objekt der Liebe des
Kranken gewesen war, in die Seele des Kranken einverleibt worden, nach-
dem der Kranke an ihr eine schwere Enttäuschung erlitten hatte. Aus der
Objektliebe ist Ich-Liebe, Narzißmus, geworden; die Enttäuschung, das
Leid ist nun nicht mehr das Objekt betreffend, sondern die eigene Person.
Bei den Melancholikern ist ihre Liebe aber stets stark ambivalent, mit Haß
verbunden gewesen; der Haß wendet sich mit der Umwendung der ent-
täuschten Liebe vom Objekte zur eigenen Person gleichfalls gegen dieselbe.
Schließlich ist ein besonders starker Sadismus, d.h. ein Zurücksinken auf
den Sadismus für die meisten Melancholien charakteristisch.
„Erst dieser Sadismus löst uns das Rätsel der Selbstmordeignung, durch
welche die Melancholie so interessant und so — gefährlich wird. Wir
haben als den Urzustand, von dem das Triebleben ausgeht, eine so groß-
artige Selbstliebe des Ich’s erkannt, wir sehen in der Angst, die bei Lebens-
bedrohung auftritt, einen so riesigen Betrag der narzißtischen Libido frei
werden, daß wir es nicht erfassen, wie dieses Ich seiner Selbstzerstörung
zustimmen könne. Wir wußten zwar längst, daß kein Neurotiker Selbst-
mordabsichten verspürt, der solche nicht von einem Mordimpuls gegen
andere auf sich zurückwendet, aber es blieb unverständlich, durch welches
— 3355 — 20
Kräftespiel eine solche Absicht sich zur Tat durchsetzen kann. Nun lehrt
uns die Analyse der Melancholie, daß das Ich sich nur dann töten kann,
wenn es durch Rückkehr der Objektbesetzung sich‘ selbst wie ein Objekt
behandeln kann, wenn es die Feindseligkeit gegen sich richten darf, die
einem Objekt gilt, und die die ursprüngliche Reaktion des Ich’s gegen
Objekte der Außenwelt vertritt. So ist bei der Regression von der narziß-
tischen Objektwahl das Objekt zwar aufgehoben worden, aber es hat sich
doch mächtiger erwiesen als das Ich selbst. In den zwei entgegengesetzten
Situationen, der äußersten Verliebtheit und der Selbstmorde wird das Ich,
wenn auch auf gänzlich verschiedenen Wegen, vom Objekt überwältigt,“
Ich kehre nun zur Selbstmord-Diskussion zurück.
„Enttäuschte Libido“ oder „Ichmotive“, bezw. beide, sind in der Dis-
kussion als Ursachen des Selbstmordes herangezogen worden; es ist ein
Vorspiel der späteren Leugnung der Bedeutung der Libido, wenn Adler
und sein Anhänger Furtmüller das Wort Libido nicht erwähnen und
nur von der Entwicklung der gesamten Einstellung als Ursachen des
Selbstmordes sprechen, denen rechtzeitig vorgebeugt werden kann durch die
„psychoanalytische Methode“, die anzuwenden, damals Adler noch nicht
aufgegeben hatte. „Sie deckt das kindliche Gefühl der Minderwertigkeit
auf, führt es von seiner Überschätzung auf das wahre Maß zurück, indem
sie falsche Wertungen korrigiert, und stellt die Revolte des männlichen
Protestes unter die Kontrolle des erweiterten Bewußtseins“. Und früher:
„Die Furcht vor jeder Entscheidung (die Prüfungsangst der Nervösen), die
ihn nichts zu Ende bringen läßt, ihn gleichzeitig aber mit höchster Un-
geduld und Hast erfüllt, ... . wird nur erklärlich, wenn wir die unge-
heuren Größenideen des Unbewußten kennen, und das Gefühl von deren
Unerfüllbarkeit bei ausgesprochen nervösen Personen.“
Der Charakter des Selbstmörders wird beschrieben: es ist der später
oft und ausführlich geschilderte sogenannte nervöse Charakter. Charakter-
züge, Eigenschaften und Einstellungen sollen den Selbstmörder erklären.
Die Dynamik besteht in der Doppelrolle zwischen Schwäche und Groß-
mannsucht, zwischen Gehorsam und Trotz, zwischen Anlehnungsbedürfnis
und Eigenwillen. „Die Quelle dieser Kontraststellung der Charakterzüge
liegt in dem inneren Widerspruch zwischen Unterwerfung und der Ten-
denz zur Triebbefriedigung.“ An diesem Satze (den Adler gesperrt drucken
ließ) kann man als Beispiel erkennen, wie es sich um nichts Neuentdecktes
handelt, sondern um die Zusammenfassung von psychoanalytisch bekannten
Mechanismen, freilich unter Weglassung des topischen Gesichtspunktes, der
Libidolehre und der genetischen Determinierung.
Denn Freud hatte längst gefunden, daß triebhafte Wünsche, die nicht er-
füllt werden können, der Verdrängung unterliegen, weil sie nicht gestattet
sind, nicht ichgerecht bleiben. Damit ist wohl klar ausgedrückt, daß
zwischen „Tendenzen triebhafter Art“ und der „Unterwerfung“ ein Wider-
spruch bestehen muß. Faßt man nun diese vielen Widersprüche und die
—. 330 —
Reaktionen zusammen, so zeigen sie sich als gewisse typische Charakter-
züge, die dann als reine „Ichmotive“ zu wirken scheinen.
Die ganzen Errungenschaften Freuds, welche das zugrundeliegende un-
bewußte Geschehen aufklären, wurden von Adler ignoriert. So stellte er
nur einen Teil der psychischen Erscheinungen, und den einseitig genug dar,
glaubte aber damit erst das Wesentliche gefunden zu haben. Unter der
Verallgemeinerung und Gleichstellung aller abnormer Erscheinungen ver-
schwanden ihm die Einzelprobleme: So sehen wir auch in seiner Auffassung
Neurotiker und Selbstmörder zusammenfallen. Nur an zwei Stellen soll etwas
für den letzteren besonders Charakteristisches aufgestellt werden. „So wird
aus dem Unbewußten heraus eine Situation geschaffen, in der die Krankheit,
ja selbst der eigene Tod gewünscht wird, teils um den Angehörigen Schmerzen
zu bereiten, teils um ihnen die Erkenntnis abzuringen, was sie an dem stets
zurückgesetzten verloren haben. Nach meiner Erfahrung stellt diese Konstel-
lation die regelmäßige psychische Grundlage dar, die zu Selbstmord und
Selbstmordversuchen Anlaß gibt‘. Der längst bekannte sekundäre Krankheits-
gewinn, die Einstellung gegen bestimmte Personen, in Liebe oder in Haß,
wird also. ihres libidinösen Motives entkleidet, als ursprünglich aufgefaßt und
dem Aggressionstriebe entsprossen, als Racheakt dargestellt. Der Racheimpuls
istnun tatsächlich oft das letzte aggressive Moment, das den Entschluß der
Selbsttötung zur Tat werden läßt. Die von Adler richtig beschriebene infantile
Konstellation hat aber viel zu wenig Spezifisches an sich, daß sie den Selbst-
mörder charakterisieren könnte. |
Ein zweiter Satz ist richtig: „In andern Fällen wirkt ein konstitutionelles
Moment (die Stärke des Aggressionstriebes) richtunggebend‘. Nur ist das
eben der Sadismus als Sexualkomponente, denn die so komplizierte Adlersche
Aggression ist gewiß kein einfacher, konstitutionell aufzufassender Trieb.
Adler, der damals Obmann des Vereines war, läßt in seinem Beitrage
nichts für die Psychoanalyse Charakteristisches mehr erkennen. Da er aber
von guten eigenen Arbeiten über die Organminderwertigkeit und von seinem
Interesse für Charakterologie und Ichreaktionen ausging, so war die Ein-
seitigkeit damals begreiflich, verschließt sich doch jeder Forscher für einige
Zeit andern Einflüssen, wenn er etwas Neues zu finden vermochte. Auch
eine narzißtische Überschätzung war ihm gewiß zugute zu halten. Nach
einiger Zeit soll aber jeder wieder seine Arbeit in die Gesamtforschung ein-
reihen. Adler hat dies nicht vermocht. Es war, wie er selbst es aussprach,
der ihm so wohl vertraute Wunsch, oben zu sein, der ihn zum Gegner Freuds
machte. In der Vorrede zur Diskussion hofft er ‚in kurzer Zeit die kritischen
Köpfe im Lager der Psychoanalyse zu sehen‘, Hat er also selbst als unkritischer
Kopf sie verlassen?
Oder dachte er nur an die durch ihn von der Libidolehre und von der
Lehre vom Unbewußten usw. purifizierte Psychoanalyse? Die Anhängerschaft
Vieler hat er anscheinend erreicht; ob es die kritischen Köpfe sind, die seine
geradezu stereotype Motivenlehre für eine Individual-Psychologie nehmen,
—97 —
wird die Zukunft entscheiden. Die Entfernung Adlers aus unserer Arbeits-
gemeinschaft hat diese wenigstens vor der Lockung zur bequemen Verflachung
der analytischen Arbeit bewahrt.
Wir wenden uns jetzt den psychoanalytischen Beiträgen zu: Reitler
sieht fast bei allen Neurotikern zwanghafte Selbstmordphantasien, welche
"bis in die Kindheit zurückreichen. Er sieht darin eine Psychoneurose, und
zwar eine eigentümliche Mischung von Phobie, nämlich Prüfungsangst, mit
Zwangsvorstellungen, Bei den Jugendlichen hängen die Selbstmordtendenzen
regelmäßig mit dem Abwehrkampf gegen die Onanie zusammen. Gerade
wenn dieser vorübergehend gelungen sei. entstehe die Angst der toxisch
bedingten Angstneurose; diese Angst verschiebe sich auf die Schule, den
Lehrer, das Zeugnis, die Prüfung. Die Selbstverdammnis nach einem Rück-
fall zur Onanie könne dann die sühnende und befreiende Tat auslösen.
Begünstigt wird diese Verschiebung aber nicht nur durch die berechtigte
Realangst vor der Prüfung, sondern auch dadurch, daß diese Realangst des
Knaben oder Halbjünglings Sexualität zu erregen vermag, so daß es gerade
bei den schriftlichen und mündlichen Prüfun gen selbst zum Onanieren komme.
Reitler meint nun, daß diese Fälle selten zum tatsächlichen Selbstmord
kommen, denn sie haben dadurch den Weg gefunden, ihre Angst von der
falschen Verbindung mit dem vorgeschobenen Objekte, der Prüfung wieder
'zu lösen und ‚sie auf ihr ursprüngliches Gebiet zurückzuführen, wo allein
durch die Aufhebung der Angst erregenden Sexualverdrängung die erlösende
Entlastung möglich ist‘‘. Referent bedauert, daß diese Zusammenhänge nicht
an einer Kasuistik geprüft sind. Die theoretische Erklärung bliebe auch dann
noch zweifelhaft. Erfahrungsgemäß ist nämlich diese Art Onanie mit Masochis-
mus verbunden. Ausgeprägte Masochisten kommen nur selten über die
Tötungsphantasie hinaus. Auch die Reitlersche Diagnose ‚„Phobie mit
Zwangsvorstellungen“ ist nicht aufrecht zu erhalten. Viele Selbstmordphantasien
‚sind durchaus nicht ichfremd und zwanghaft und viele treten ohne Schulphobie
auf. Reitler macht darüber aber die wichtige Bemerkung, daß das Schul-
stürzen (Schwänzen) durchaus nicht immer Zeichen von F reiheits- und
'Lebenslust ist, sondern direkt phobisch sein kann. Solche Knaben können die
neurotische Schulangst nicht überwinden; sie leben dann meist in geheim
gehaltener Selbstmordstimmung. Familie und Lehrer müssen bei ihrem Vor-
gehen an diese Möglichkeit denken und dann ihre Pflicht zur Selbstmord-
prophylaxe erfüllen.
„Wenn alle Menschen, die je einmal im Leben von Selbstmordzwangs-
ideen gequält wurden, diesen Impulsen auch tatsächlich Folge gegeben
hätten, dann ... . wäre alle Kultur geradezu vernichtet, denn die Kultur-
träger hätten sich ja alle getötet, und der zurückbleibende Rest bestände
bloß aus der großen undifferenzierten Menge konflikt-, skrupel- und hem-
mungsloser Individuen.“ Nicht wenige teilen diese Ansicht Reitlers. Referent
meint, sie seien durch das ihnen begegnende Beobachtungsmaterial getäuscht,
Vielen gar nicht undifferenzierten, und zwar kämpfenden, hoch kultivierten
— 338 —
Menschen ist die Selbstmordphantasie wesensfremd und unbekannt. Auch
‘soll man die gelegentliche Sehnsucht nach der Kampflosigkeit und Ruhe
von der Selbsttötungsidee unterscheiden.
Friedjung berichtete einen lehrreichen Fall; nur ein Mensch kannte
den tatsächlichen Selbstmordgrund. Die ganze Umgebung nahm unbedenk-
lich unglückliche Ehe als Motiv an. Man konnte daran die Wertlosigkeit
aller Statistik in dieser Frage erkennen. Nur die genaueste Kenntnis der
Vorgeschichte erlaubt ein Urteil über die bewußte, geschweige die unbe-
wußte Motivierung. „Sie ist aus dem Leben geschieden, weil er (der noch
immer geliebte frühere Bewerber) für sie nichts, nicht einmal etwas Zeit
übrig hatte.“ Damit gibt Friedjung eine Illustration für die Ansicht des
nächsten Redners, Sadgers: „Und hier möchte ich aus meiner Erfahrung
den Satz aufstellen: ‚Das Leben gibt nur jener auf, der Liebe
zu erhoffen aufgeben mußte. Gewöhnlich läßt eine aktuelle Ent-
täuschung an aller Liebeserfüllung verzweifeln. Die Statistik gibt aber viel
weniger als 100 Prozente Liebesenttäuschung bei den Selbstmördern an.
Die Widerstände der Untersucher fälschen nämlich diese Ergebnisse. Man
übersieht bewußt und unbewußter Weise das Sexuelle. Heute, da die Sexualität
ein freies, in ästhetischer Hinsicht oft zu freies Unterhaltungsthema ge-
worden ist, würde man das nicht glauben. Es kommt aber bei den Unter-
suchungen dieser Art nicht auf die Mode, sondern auf die innere Freiheit
an, oder analytisch ausgedrückt, auf die Widerstandslosigkeit gegenüber
den eigenen bewußten und unbewußten Motiven. Der alten Haltung der
Kirche und Gesellschaft ist noch die Individualpsychologie als Mittel der
Rationalisierung entgegengekommen, damit die sexuelle Motivierung ver-
hüllt und übersehen werde. Auch heute „lügen“, wie Sadger es ausdrückte,
„die Menschen über nichts so oft und so hartnäckig als über die Äußerungen
hres Geschlechtstriebes.“ Interessant ist, was Sadger bei rezidivierenden
Anfällen tiefster Schwermut, die den Gedanken an Selbstmord nahelegte,
fand. „Es ließ sich durch die Psychoanalyse erweisen, daß jede einzelne
Schwermutsattaque von sexuellen Gründen ausgelöst wurde. * 204 >„ Neben
dem konstitutionellen Faktor, ... . konnte ich an allen Fällen sexuelle
Motive mindestens als unmittelbar auslösend stets aufzeigen.“ elssla,
sogar die Psychosen bilden ein glänzendes Beispiel dafür. Nicht umsonst
ist die Selbstmordpsychose kat’exochen, die Melancholie, eine Alterserkran-
kung, von Menschen also, die selber Minderung ihrer eigenen Liebesfähig-
keit wahrnehmen, und auch von andern keine Liebe mehr zu erhoffen
haben . . .” |
Bei der Würdigung der sexuellen Motivierung darf die Homosexua-
lität nicht vergessen werden, besonders nicht bei den Pubertätskonflikten.
Auch dieser Autor sieht die Hauptquelle des Selbtmordes in der sexuellen
‚Abwehr trotz drängendem Liebesverlangen. Die Abwehr wird oftzum Sexualekel,
‘und bedingt dann besonders eine stumme Verschlossenheit gegenüber den
Eltern. „Von Tag zu Tag entfremden sich die Kinder mehr den Eitern,
89 —
seit ihnen die Augen geöffnet wurden.“ Sadger rügt die Unzulänglich-
keit des Vaters und der Lehrer gegenüber der Aufgabe, das herzliche Ver-
trauen zurückzugewinnen. Er dürfte sich seither selbst überzeugt haben,
daß es nicht nur Mangel an Verständnis und Güte sind, sondern daß ge-
rade die Beziehung der Nächsten zum Kinde die Aufgabe noch mehr er-
schwert. Der bisher unbekannte Heilpädagoge oder Seelenarzt ist mehr dazu
berufen, schon deshalb weil, — wie Sadger nun ausführt, — die Liebesbezie-
hung zum Lehrer selbst mit eine Ursache der Verstimmung zu sein pflegt.
Plötzliches Versagen in der Schule ist besonders während der Pubertät
meist auf schwerste Sexualnot zurückzuführen. Die erotischen Konflikte
werden selten erkannt, noch seltener anerkannt, zu selten findet der fau]
gewordene Schüler Verständnis und Geduld, am seltensten Wärme. „Muß
aber der... . auch auf des Professors Neigung noch verzichten, dann gibt
das nicht selten den letzten Ausschlag zum Verzweifeln .. . Entscheidend
„.. bleibt einzig nur die unerwiderte Liebe ... Wenn unsere Professoren
liebreicher geworden, weil die Seele des Knaben besser verstehend, dann
werden auch die Schülerselbstmorde weit seltener zu beklagen sein.‘ Diese
Forderung ist, wie gesagt, heute besser erfüllt, als vor zwanzig Jahren.
Stekel (damals noch der Psychoanalytischen Vereinigung angehörend)
führte aus, nicht an den philosophischen und konsequenten Selbstmord zu
glauben; er will auch nicht vom Selbstmord als begreifbaren Ausweg aus
unmöglichen Bedingungen sprechen, sondern von der Häufung der Selbst-
morde kaum Erwachsener, „die oft noch halb Kinder sind, die plötzlich
unvermutet aus einer scheinbar geringfügigen Ursache... dem Leben ein
Ende, machen‘%.i..!i..;Es ist: ein--wohlfeiler Ausweg, wenn wir, um unser
Gewissen zu entlasten, einfach sagen, es habe sich bei allen Selbstmördern
um Kranke gehandelt, um psychisch Minderwertige, um die es ohnehin nicht
schade war“... . Die Schule hält auch Stekel nur für ein auslösendes
Moment.
„Für den Kinderselbstmord gilt dasselbe wie für den des Erwachsenen.
Er ist eine Strafe, die der aus dem Leben Scheidende an sich selbst voll-
zogen hat. Das Prinzip des Talion scheint mir dabei die Hauptrolle zu
spielen. Niemand tötet sich selbst, der nicht auchandere
töten wollte oder zum mindesten einem andern den Tod
gewünscht hatte.‘ Dazu möchte Referent bemerken, daß bei der von
Freud hervorgehobenen Übiquität der Todeswünsche damit nicht viel erklärt
ist, nämlich nichts darüber, weshalb ‚‚die Selbstmörder‘‘ so weit gehen, daß
sie sich für ihre Todeswünsche oder Töten-Wollen zur Todesstrafe verurteilen
(oft wieder begnadigen), wo andere nur Zwangssymptome entwickeln, andere
mit Freude an Grausamkeit oder zum Menschenhaß sich Genüge sein lassen,
andere verbrecherisch werden und die Meisten (?) Mitleid und Menschen-
liebe reaktiv als Charaktereigenschaften bilden. Stekel hebt aber immerhin
mit diesem Satze den von ihm originell gefundenen Zusammenhang zwischen
Mordwunsch und Selbstmordimpuls hervor.
Ein weiteres Motiv ist auch nach Stekel die Rache an den Eltern: Bei
Gelegenheit infantiler Erkrankungen oder Gefährdungen hat jedes Kind die
Erfahrung gemacht, wie teuer ihr Leben den Eltern sei. Im Konflikt- und
Kränkungsfalle ‚‚wollen die Kinder den Eltern den höchsten teuersten Besitz
rauben, das Leben der Kinder. . . . Die an sich vollzogene Strafe ist also
zugleich die Bestrafung des vermeintlichen Urhebers ihrer Leiden‘.
Nach richtigen Ausführungen über den hemmenden Einfluß tiefer und
wahrer Religiosität spricht Stekel vom chronischen Selbstmord, durch neur-
otische Nahrungsverweigerung und Erbrechen oder durch bewußte und un-
bewußte Förderung von Krankheiten bei Erwachsenen und Kindern.
Weiter teilt Stekel seine Erklärungen mit, weshalb in kinderreichen
Familien der Selbstmord seltener sei, als in kinderarmen. Heute fehlen für
dieses jetzt so viel erörterte Thema die Vergleichsobjekte, wenigstens für die
gleichen Menschengruppen und sozialen Schichten. Für die Frage des Haupt-
motivs teilt Stekel Sadgers Ansicht, daß nur solche Menschen sich töten,
die keine Liebe mehr zu erwarten haben, oft erst, weil der Konflikt zwischen
Angst vor der Liebe und dem Verlangen nach ihr, zwischen Moralität und
Liebeslust, also zwischen Verdrängung und Irieb keinen‘ andern Ausweg
lassen. ‚‚Selbstmorde haben sehr häufig mit Inzestgedanken, welche ja die
Quelle der tiefsten Schuldgefühle sind (F reud). zu tun“. Damit hängen
Sexualablehnung und Verweilen bei der Onanie zusammen. An vier Analysen
zeigt der Autor, wie der Selbstmord nach dem Aufgeben der ÖOnanie, also
nach dem Verzicht auf bewußte und unbewußte Inzestphantasien impulsiv
wurde. Es ist für weite Kreise noch nicht veraltet, was von einer frigiden
Frau berichtet wird. Sie wurde erst suizidgefährlich, als sie nach schadlos
vertragener Selbstbefriedigung diese unter dem Eindruck der Lektüre eines
ärztlichen Aufsatzes aufgab. Schon Havelock Ellis hat ähnliches berichtet.
Oft steigert sich der Ekel vor der Onanie zum Weltekel. Schuldgefühle un-
bewußter Art sind daher die Hauptquellen des Selbstmordes.
Seither ist der Einfluß der unbewußten Motive. die das Leben bekämpfen,
auf den Verlauf organischer Krankheiten unter der Anregung von Freud
zuerst von Felix Deutsch und dann von vielen Autoren mehr als wahr-
scheinlich gemacht worden. Die Freudschen Analysen von Unglücksfällen
als Fehlhandlungen gehören gleichfalls hierher.’ So ragt der Selbstmord nur
mehr als bewußte, absichtliche Tötung vor den vielen Formen verdrängter,
unbewußter Selbstschädigung hervor. Die Ichgerechtheit der Selbstvernichtung
ist daher das eine Problem, die Motive der Selbstschädigung und Tötung über-
haupt nach ihrer Dignität zu erkennen, das zweite.
Im Gegensatz zu den bewußten Motiven des Selbstmordes, die allgemein
bekannt sind, die der statistischen Bearbeitung unterliegen, hat die Psycho-
analyse die unbewußten als die wichtigeren erkannt. Wie wir sahen, wurden
viele in der Diskussion erwähnt. Sie stehen nicht immer im Gegensatz zu
ı) S. Freud, „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“, Ges. Schriften, IV. S. 198
bis 208. z
— A —
den bewußten, werden aber von diesen immer überdeckt. Zur Vervoll-
ständigung der Diskussion will ich aus andern Arbeiten Freuds einige
Stellen über dieses Thema anführen.
In der Arbeit über die Psychogenese der weiblichen Homosexualität
(Ges, Schriften, V. 330) wird ein Selbstmordversuch analysiert. Als bewußtes
Motiv gab die Patientin an, daß sie fürchtete, die Geliebte nicht mehr
sehen zu dürfen. Sie hatte sich in den Stadtbahngraben gestürzt. Die Analyse
deckte eine andere tiefere Deutung auf und konnte sie durch die gedeuteten
Träume stützen. „Der Selbstmordversuch war, wie man erwarten konnte,
noch zweierlei: eine Straferfüllung (Selbstbestrafung) und eine Wunsch-
‚erfüllung. Als letztere bedeutete er die Durchsetzung jenes Wunsches, dessen
Enttäuschung sie in die Homosexualität getrieben hatte, denn nun kam
sie durch die Schuld des Vaters nieder.‘ Eine Anmerkung hiezu lautet:
„Diese Deutung der Wege des Selbstmordes durch sexuelle Wunscherfül-
lungen sind längst allen Analytikern vertraut. (Vergiften —= schwanger
werden; ertränken = gebären; von einer Höhe herabstürzen — nieder-
kommen.)... „Als Selbstbestrafung bürgt uns die Handlung des Mädchens
dafür, daß sie starke Todeswünsche gegen den einen oder andern Elternteil
in ihrem Unbewußten entwickelt hatte, Vielleicht aus Rachsucht gegen den
ihre Liebe störenden Vater, noch wahrscheinlicher aber auch gegen die
Mutter, als sie mit dem kleinen Bruder schwanger ging. Denn die Analyse
hat uns zum Rätsel des Selbstmordes die Aufklärung gebracht, daß viel-
leicht niemand die psychische Energie sich zu töten findet, der nicht
erstens dabei ein Objekt mittötet, mit dem er sich identifiziert hat, und
der nicht zweitens dadurch einen Todeswunsch gegen sich selbst wendet,
welcher gegen eine andere Person gewendet war. Die regelmäßige Aufdeckung
solcher unbewußter Todeswünsche beim Selbstmörder braucht übrigens
weder zu befremden, noch als Bestätigung unserer Ableitungen zu imponieren,
denn das Unbewußte aller Lebenden ist von solchen Todeswünschen, selbst
gegen sonst geliebte Personen übervoll. In der Identifizierung mit der
Mutter, die an der Niederkunft mit diesem, ihr (der Tochter) vorenthal-
tenen Kinde hätte sterben sollen, ist aber diese Straferfüllung selbst wieder
Wunscherfüllung. Daß die verschiedensten starken Motive zusammenwirken
mußten ... ‚wird unserer Erwartung nicht widersprechen.“ Freud hebt
auch den Gegensatz zwischen der bewußten und unbewußten Motivierung
hervor. Das Mädchen erwähnte gar nicht den Vater und die Angst vor seinem
Zorn, in der unbewußten Motivierung fiel ihm die Hauptrolle zu.
Diese — eigentlich .psychoanalytische — Erfassung der Zusammenhänge
‘bringt schon eine Stelle aus dem Jahre 1896 (Zur Ätiologie der Hysterie,
Ges. Schr. I. S. 434). „Nicht die letzte... Kränkung ist es, die den...
Selbstmordversuch erzeugt, mit Mißachtung des Satzes von der Proportionalität
des Effekts und der Ursache, sondern diese kleine ‚aktuelle Kränkung hat
‚die (sc. verdrängten; Ref.) Erinnerungen so vieler und intensiverer früherer
Kränkungen geweckt und zur Wirkung gebracht, hinter denen allen noch
0 —
die Erinnerung an eine schwere, nie verwundene Kränkung im Kindes-
alter steckt.“ In dem „Bruchstück einer Hysterieanalyse“ wird die Selbst-
morddrohung durch unbewußte Identifizierung mit der Frau, deren Liebes-
‘beziehung die Kranke selbst sich wünschte, und mit der Mutter, analytisch
“erklärt; der verdrängte Liebeswunsch kommt mit dem bewußten Wunsch
nach Rache zur Geltung. In dem analysierten Falle einer Zwangsneurose
(Ges. Schr. VIII. $. 297) sind die häufigen zwanghaften Selbstmordimpulse,
die geradezu als Gebot auftraten, unmittelbare Strafgebote für den Todes-
wunsch gegen eine bestimmte Person. Der Todeswunsch war nicht zwang-
haft, mehr ein spielerischer Einfall. Aber vom Bewußtsein nicht erfaßt,
bestand eine ungeheure Wut gegen die betreffende Person, welche die
Schwere der Sühne erst verständlich machte.
Über die Selbstmordgefahr bei den beiden wichtigsten Neurosen sagt
Freud in „Das Ich und das Es‘ (Ges. Schriften VI. 399): „Es ist im
Gegensatz zur Melancholie bemerkenswert, daß der Zwangskranke eigentlich
niemals den Schritt der Selbsttötung macht, er ist wie immun gegen die
Selbstmordgefahr, weit besser dagegen geschützt als der Hysteriker. Wir ver-
stehen, es ist die Erhaltung des Objektes, welche die. Sicherheit des Ichs
verbürgt.
In diesem Werke wird die Richtung der Aggression gegen das eigene Ich
auf Grund der neuen Erkenntnisse über Triebentmischung, Regression und
"Ichstruktur nochmals erörtert: „Wenden wir uns zunächst zur Melancholie,
so finden wir, daß das überstarke Über-Ich, welches das Bewußtsein an sich
gerissen hat, gegen das Ich mit schonungsloser Heftigkeit wütet, als ob es
sich des ganzen im Individuum verfügbaren Sadismus bemächtigt hätte. Nach
unserer Auffassung des Sadismus würden wir sagen, die destruktive Kom-
ponente habe sich im Über-Ich abgelagert und gegen das Ich gewendet.
Was nun im Über-Ich herrscht, ist wie eine Reinkultur des Todestriebes und
wirklich gelingt es diesem oft genug, das Ich in den Tod zu treiben, wenn
das Ich sich nicht vorher durch den Umschlag in Manie seines Iyrannen
erwehrt‘.
Nach der Erörterung der Triebverteilung bei der Zwangsneurose sagt
Freud: „Es ist merkwürdig, daß der Mensch, je mehr er seine Aggression
nach außen einschränkt, desto strenger, also aggressiver in seinem Ichideal
‘wird. Der gewöhnlichen Betrachtung erscheint dies umgekehrt, sie sieht in
‘der Forderung des Ichideals das Motiv für die Unterdrückung der Aggression.
Die Tatsache bleibt aber, wie wir sie ausgesprochen haben: Je mehr ein
Mensch seine Aggression meistert, desto mehr steigert sich die Aggressions-
neigung seines Ideals gegen sein Ich. Es ist wie eine Verschiebung, eine
Wendung gegen das eigene Ich. Schon die gemeine, normale Moral hat den
Charakter des hart Einschränkenden, grausam Verbietenden. Daher stammt
ja die Konzeption des unerbittlich strafenden höheren Wesens“. .. . „Die
Todesangst der Melancholie läßt nur die eine Erklärung zu, daß das Ich
sich aufgibt, weil es sich vom Über-Ich gehaßt und verfolgt anstatt geliebt
1443 —
fühlt. Leben ist also für das Ich gleichbedeutend mit Geliebtwerden, vom
Über-Ich geliebt werden .....“ „Das Über-Ich vertritt dieselbe schützende
und rettende Funktion, wie früher der Vater, später die Vorsehung oder das
Schicksal. Denselben Schluß muß das Ich aber auch ziehen, wenn es sich in
einer übergroßen, realen Gefahr befindet, die es aus eigenen Kräften nicht
glaubt überwinden zu können. Es sieht sich von allen schützenden Mächten
verlassen und läßt sich sterben‘“.
In diesem Satze liegt das Problem des oder vielmehr der Selbstmorde aus-
gesprochen. Die Diskussion konnte vor zwanzig Jahren zwar Motivierungen
finden, aber die Vorgänge im Selbstmörder nicht richtig beschreiben, noch
verstehen. Nicht nur die psychoanalytischen Motivierungen, auch die F reud’sche
Lehre der Ichstruktur, muß — noch weiter fortgeschritten, den Beobachtungen
sowohl, als den Erklärungen, und wohl auch der Therapie des Selbstmordes
zugrunde gelegt werden.
INNEN TG
Gespräche mit einer Mutter über Selbstmord
Von Dr. med. Heinrich Meng (Frankfurt a. M.)
„Was mich heute zu Ihnen führt, sind folgende Fragen. Ich möchte gerne
wissen, ob Selbstmord ein Zeichen von Krankheit ist oder ob bei richtigem Ver-
halten der Angehörigen Selbstmorde vermeidbar sind, insbesondere, ob die Er-
ziehung etwas dagegen vermag. Sind, wenn Selbstmorde bei den Vorfahren
verhältnismäßig häufig stattfanden, ihre Nachkommen mit Selbstm ordnei gung
belastet? Können auch solche stärker bedrohten „Selbstmordfamilien“ durch
Maßnahmen (und von welcher Art ?) geschützt werden ?*
„Sie erzählen mir vielleicht den Anlaß, der Sie zu all den Fragen kommen
läßt. Ich kann, daran anknüpfend, meine Antwort besser verständlich machen.*
„Mein Vetter Z. — Sie kannten ihn nicht — erschoß sich vor kurzem. Er
war 36 Jahre alt, ein begabter Jurist, er hatte mit Auszeichnungen seine Prüfung
gemacht, konnte sich allerdings nicht entschließen, in die freie Praxis zu gehen,
machte kürzlich noch die philosophische Doktorprüfung und arbeitete als Assistent
bei dem Philosophen X. Zwei Monate nach dessen Tode erschoß sich mein
Vetter; äußere Ursachen sind uns nicht bekannt. Er lebte in guten Verhältnissen
und hat niemals geäußert, daß er einen Selbstmord plane.“
„Erzählen Sie bitte, was Sie über das Leben von Herrn 7. wissen.“
„Er war als Kind fröhlich und witzig, ein guter Schüler, nur selten — seelisch
gedrückt; wir vermuten, daß der Krieg seine Persönlichkeit gewandelt hat. Er
stand im Feld, machte zahlreiche Schlachten mit, war später Lazarettverwalter
und erlebte in seinem Lazarett eine schwere Vergiftung mehrerer Insassen. Die
Sache ging so zu: er gab Fleischbüchsen aus, kostete auch aus einigen Büchsen;
trotzdem brach anschließend an den Genuß des Fleisches eine Erkrankung aus,
=>
—
der ein Verwundeter zum Opfer fiel. Z. machte sich die schwersten Vorwürfe,
daß er den Tod des Mannes verschuldet habe und unterstützte bis zu seinem
eigenen Tode die Witwe des Verstorbenen. Die damalige Untersuchung ergab,
daß Z. unschuldig war, eine Reihe anderer Soldaten hatten auch aus der Büchse
gegessen, sie erkrankten unter leichten Symptomen, man stellte bei der Sektion
des Verstorbenen fest, daß Typhus Todesursache war. Z. hielt aber so stark an
der Meinung fest, er sei der Mörder jenes Soldaten, daß wir ihn nie vom
Gegenteil überzeugen konnten. Nach dem Kriege war er vorwiegend wissen-
schaftlich tätig, zeitweise verstimmt, dabei häuften sich verschiedene Selbstvor-
würfe. Nachdem er den philosophischen Doktor hatte, entdeckte er an der Disserta-
tion einen kleinen Fehler und konnte sich ähnlich wie bei dem Tode des Sol-
daten gedanklich kaum mehr frei machen von der Vorstellung, dal dieser Fehler
unabsehbare Folgen in sich schlöße. Er erzählte meinem Mann, daß er eigent-
lich den Titel nicht tragen dürfe, weil dieser Fehler die ganze Arbeit entwerte.
Objektiv liegt die Sache so, daß eine seiner Schlußfolgerungen durch einen
falschen Literaturnachweis unsicher ist. Im übrigen war die Arbeit einwand-
frei. Um sich zu erholen, reiste er auf den Rat eines befreundeten Arztes vier
Wochen vor dem Selbstmord mit seiner Schwester aufs Land, einige Tage nach
der Rückkunft erschoß er sich, ohne etwas über die Motive zu äußern. Man fand
lediglich einen Zettel, auf dem das Wort Nietzsches stand: „Viele sterben zu spät
und einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: stirb zur rechten Zeit.“
„Erzählen Sie doch noch etwas über seine Familienverhältnisse.“
„Er lebte stets und sehr nah mit seiner Familie zusammen. Er war nicht ver-
heiratet. Während er noch Kind war, starb der Vater, er hatte eine Schwester, die
Mutter starb zwei Jahre vor dem Selbstmord. Er hing sehr an Mutter und
Schwester, reiste möglichst nicht ohne beide oder ohne eines von beiden. Er
war stets ein mustergültiger Bruder und Sohn. Als man ahnte, er hätte sich
selbst das Leben genommen, suchte ihn seine Schwester am Grabe der. Mutter,
weil sie annahm, er hätte sich dorthin geflüchtet. Ihre Meinung war unrichtig,
er hatte sich an einer einsamen Stelle des Waldes erschoßen und zwar durch
einen Herzschuß.“ |
„Könnten sie mir noch einige Bemerkungen mitteilen, die er während seiner
Verstimmungen machte?”
„Außer den Skrupeln wegen des Soldaten und wegen seiner Doktorarbeit
sprach er oft davon, er würde sicher den Verstand verlieren und müßte des-
halb in die Irrenanstalt. Er ließ sich immer wieder ärztlich untersuchen, der
Arzt versuchte ihn davon zu überzeugen, daß keinerlei Anlaß vorläge für eine
Nerven- oder Geisteskrankheit. Man stellte die Diagnose „Hypochondrie” und
schlug ihm vor, für einige Zeit seine wissenschaftlichen Arbeiten zu unterbrechen
und sich abzulenken.“ |
„Wir hatten unser letztes Gespräch mit der Besprechung über das Problem
„Angst und Liebe“ geschlossen. Ich sagte Ihnen damals, anschliessend an die selt-
ı) Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, Jahrgang I, S. 107 ff.
a
same Geschichte des romantischen Hohenstaufenkaisers Friedrich II., daß ein
äuljeres Anzeichen von ungelösten inneren Konflikten Angst sein könne, und daß
sowohl Kinder wie Erwachsene an Angst sterben könnten. Ihre heutige Frage
schließt sich doch enger an jenes Problem an, als Sie zunächst wissen.“ —
„Ich glaube zu verstehen, was Sie meinen, vor allem bei den Schüler-
selbstmorden ist das ja oft zu spüren, daß ein Kind mit seiner Angst nicht
fertig wird und Selbstmord begeht. —“
„Wir werden sicher später die Frage des Selbstmordes von Jugendlichen bespre-
chen. Die Erforschung der tieferen Beweggründe zum Selbstmord ist erst in den
letzten Jahrzehnten möglich, seitdem Biologie und Psychologie wesentliche Fort-
schritte machten, und seitdem das Problem des Selbstmordes nicht mehr als vorwie-
gend religiöses Problem betrachtet wird. Zunächst die Frage der „Erblichkeit“.
Freud konnte zeigen, dal5 viele Krankheitszustände und Eigenheiten weniger als
man annahm, vererbt und weit mehr erworben sind. Man weiß, daß selbst wenn.
tatsächlich eine Gruppe seelischer Leiden in einer Familie gehäuft auftritt, nicht
diese Art von Leiden vererbt wurde, sondern daß die Kinder schon sehr früh
nachhaltige Eindrücke verstimmter und kranker Eltern und Verwandter emp-
fangen haben, das geschieht um so leichter, weil nicht selten depressive Typen
sich gerade mit depressiven Persönlichkeiten verheiraten. Dann müs sen ganz
schwere Milieuschädigungen der Heranwachsenden entstehen. Nur eine kleine
Anzahl von Selbstmördern sind Geisteskranke, die meisten fallen in die Gruppe
der „Psychopathen“. Bei den seelischen Abweichungen vom Normalen, die man
unter Psychopathie zusammenfaßt, spielen triebhaft bedingte Reaktionen die
Hauptrolle. Haltlose, abnorm erregbare Menschen, Streitsüchtige, deren Trieb-
erziehung mißlang, und deren Anpassung an die Umwelt mangelhaft ist, gehören
vorwiegend hierher.“
„Herr Z. machte keineswegs den Eindruck, als ob er haltlos, streitsüchtig
oder abnorm erregbar wäre, ganz im Gegenteil, er schien ausgezeichnet ange-
paßt an seine Umwelt, litt allerdings sehr viel unter seiner eigenen seelischen
Veranlagun FR
„Ich kann nachträglich keineswegs eine sichere Diagnose stellen, wahrscheinlich
aber handelte es sich um einen Menschen, der zeitweise Depressionen hatte,
deren Ursache erst eine feinere Untersuchung, vor allem seiner unbewußten
Konflikte hätte feststellen können. Er hatte deutliche Züge von Zwang.
Angst, den Verstand zu verlieren, wird von vielen geklagt. Über die Entstehung
des Symptoms wissen wir aus der Psychoanalyse mancherlei. Das Symptom
entpuppt sich recht oft als Reaktion des Ichs auf unbewußte Schuldgefühle, die
der Mensch als Kind erlebt und nicht überwunden hat. Die meisten der kind-
lichen Schuldgefühle, die später unbewußt sind, hängen mit Konflikten zusammen,
die der Kampf, sich den Anforderungen der Kultur anzupassen, auslöst. Verpönte
Sexualregungen, Vorwürfe wegen Onanie, Bedrohungen, daß das Kind die Liebe
der Eltern verliert, wenn es frühkindliche Gewohnheiten nicht aufgibt, spielen
eine führende Rolle, —“
„Sie meinen also, daß Z. schon als Kind stark unter inneren Schuldgefühlen
Bea
%“
litt? Es ist mir allerdings nie bekannt geworden, daß er als Kind innerlich
gedrückt war oder Skrupel hatte wie später. Liegt Verdacht vor, daß er schon
damals mit Selbstmord-Ideen spielte?“
„Selbstmord-Phantasien hat jeder Mensch, genau so wie er Mordphantasien
hat. Bei den schweren Anpassungsversuchen an die Umwelt bäumt sich in der
Seele des Kindes immer wieder eine Macht auf, die sich gegen Kultur und
Sitte wehrt und phantasiert, lieber unterzugehen, als sich anzupassen. Eine
andere Macht ist gleichzeitig wirksam, sie mobilisiert alle verfügbaren Kräfte,
um aus dem Kind einen Erwachsenen zu machen mit all den Eigenschaften,
die verehrte Erziehungspersonen haben. Wie ein Tier oder ein Primitiver wehrt
sich jede dieser Mächte und scheut in der Phantasie weder vor Mord noch
Selbstmord zurück, um sich durchzusetzen. Nur selten gelingt es einer Phantasie,
sich zu realisieren. Eine Reihe von Fehlhandlungen und Selbstschädigungsversuchen
von Kindern sind in diesem Sinne zu deuten. Die Psychoanalyse konnte sehr
oft nachweisen, daß viele, die Hand an sich legten, eigentlich die Absicht hatten,
andere zu töten. Bei depressiven Erwachsenen, auch solchen mit zwanghaften
Symptomen, spielen vor allem Triebhemmungen eine Rolle, die wir als sadistisch
und masochistisch kennen. Wenn ihre Sublimierung und gesunde Reaktions-
bildungen mißlangen, so wenden sie sich in bestimmten Impulsen gegen das
eigene Ich und finden dabei die Billigung des eigenen Gewissens. Jeder Mensch
trägt ja Richter und Angeklagten in sich. Der reife Mensch nimmt beider An-
sprüche so gut wahr, dal es zum gerechten Freispruch kommen kann. Der
seelisch Kranke hat die größten Schwierigkeiten, daß Richter und Angeklagter
sich verständigen, wahrscheinlich war bei Herrn Z. der eigene Richter, den wir
psychoanalytisch als „Über-Ich“ bezeichnen, so grausam, daß er an jenem ver-
hängnisvollen Tag das Fazit zog und ein Todesurteil aussprach.“
„Hätte man, falls Ihre Annahme zutrifft, durch Psychoanalyse den Selbstmord
verhindern können?“ | Ä
„Nachträglich kann man diese Frage weder mit Sicherheit bejahen, noch
verneinen. Jedenfalls war die angeratene Therapie unzulänglich. Wenn Herr Z.
sich immer wieder selbst Vorwürfe machte, hätte er nie durch Ausspannung diese
Selbstvorwürfe verlieren können. Keine Mastkuren noch Entfettungskuren haben
einen :Einfluß auf den Ablauf seelischer Vorgänge, deren Entstehung mit der
Vorgeschichte der Triebentwicklung zusammenhängt.
Die Ergebnisse der Psychoanalyse von Kindern lehren, daß es nicht selten
gelingt, durch geschickte psychoanalytische pädagogische Beeinflussung die An-
passung seelisch gefährdeter Kinder wesentlich zu erleichtern und die Kraft des
Richters und des Angeklagten im Kind so zu beeinflussen, daß eine geschlossene
Persönlichkeit entsteht. Die Analysen erwachsener Depressiver lassen oft die Er-
lebnisse, die zu den Skrupeln führten, aufdecken und so verarbeiten, dal) eine
Nachreifung stattfindet. Hierbei stellt sich heraus, daß auch fröhliche Kinder, die
später deutliche Depressionen aufweisen, früher Zeiten durchmachten, in denen
sie unter Angst, Neigungen zu Grübeleien und zu Absonderlichkeiten litten, die
die Erwachsenen meist als Trotz ansprachen. Vor allem ist die Unkenntnis vieler
—
Erzieher über die normale Triebentwicklung schuldig, daß sie mit zu großer
Strenge oder zu großer Liebe erziehen‘.
„Sie sprachen von der Angst. Welche Beziehung besteht eigentlich zwischen
Angst und Sexualität des Kindes?* |
„Jedes 'Triebwesen, das gehemmt wird in Erfüllung seiner Triebwünsche, ent-
wickelt Angst. Die Leidenschaftlichkeit und Liebe des Kindes, die wegen Forderungen
der Kultur und Sitte sich nicht auswirken können, tragen zur Angstentstehung bei,
ebenso der Kampf zwischen dem Gewissen, das sich als Über-Ich allmählich bildet
und den Forderungen der Triebe, die keinerlei Erziehung wünschen. Außer an
der Reinlichkeitsgewöhnung wird an der Onanieabgewöhnung mancher Eingriff
vorgenommen, der die Angst unnötig steigert. Nicht nur die Drohungen, dem
Kind alle Liebe zu entziehen, auch die angedeuteten Möglichkeiten, das Kind
körperlich zu verletzen, wenn es nicht folgsam ist, schädigen die normale Trieb-
entwicklung und vermehren damit die Angstentstehung. Wir stoßen hier auf die
Wirkung der Ödipus-Situation jedes Kindes und auf die Folge von Kastrations-
drohungen. Viele Erzieher nützen die kindliche Angst aus, in der Annahme, daß
das geängstigte Kind sich rascher einfügt und allmählich anpaßt, als das nicht
geängstigte. Wo Angsterregungen als Motive wirken, entsteht beim Kind zwang-
haftes Ausweichen in der einen Richtung und zwanghaftes Festhalten in der
andern, der Wille ist innerlich zerrissen und unsicher, nur äußerlich fest. Das
Kind erntet aus der Situation eine Fülle von Schuldgefühlen. Es paßt sich so
ausgezeichnet dieser Art von Erziehung an, daß es sich später sehr oft zurück-
sehnt nach Strafe und autoritativer Gewalt. Ein Teil der Angst wandelt sich in
Schuldgefühle, die Befreiung davon wird als Pflichtgefühl empfunden, beide aber
sind weniger oder mehr zwanghaft. Sehr oft mißlingt solchen Menschen die
normale Loslösung vom Elternhaus, und sie sind unfähig, ihr Eigenleben und
ein eigenes Familienleben aufzubauen“.
„Sie vermuten vielleicht, daß Herr 7. in seiner beruflichen Produktivität und
wissenschaftlichen Verselbständigung unter der Bindung an Mutter und Schwester
gelitten hat? Mir fällt übrigens ein, daß wir Verwandte ab und zu davon sprachen,
daß er zu seiner Mutter oder Schwester ähnlich stand, wie wenn sie seine Frau
ware. Auch im späteren Alter hat er öfters unterwegs, wenn kein zwingender
Grund vorlag, mit Mutter oder Schwester in einem Zimmer übernachtet“,
„Wahrscheinlich hat Z. anschließend an den frühen Tod des Vaters sich enger
an Mutter und Schwester angeschlossen, als andere Kinder und zum mindesten im
Unbewußten versucht, der Mutter den Mann und der Schwester den Vater zu
ersetzen. Es wird kein Zufall sein, daß er sich nach Abschluß seines Studiums
so schwer von den Vater-Ersatzpersonen trennen konnte, die seine Lehrer waren,
und es wird auch kein Zufall sein, daß) er nach dem Tode der Mutter und nach
dem Tode seines geliebten Professors leichter Selbstmordphantasien verwirklichte,
als wenn beide noch gelebt hätten“, |
„Mir fällt übrigens dabei ein, daß er unmittelbar nach dem Krieg einige Monate
schwer deprimiert war, er gab immer wieder an, daß er die Vernichtung des
alten Deutschen Reiches nicht verwinden könne“.
U
„Vermutlich identifizierte er sich mit dem alten Deutschen Reich wie mit
Vater, Mutter und Professor. Ihr Verlust rührte Konflikte auf, die als Kindheits-
konflikte nicht normal erledigt waren. Diese Reaktionen haben ja mit der
intellektuellen Einstellung nichts zu tun. Im Revolutionsjahr 1918 fanden mehrere
Selbstmorde statt, die nur durch Identifizierung mit dem Vaterland verständlich
sind. Richard Semon, ein bedeutender Wissenschaftler, ebenso wie Albert Ballin
setzten aus diesen Gründen ihrem Leben ein Ende. — Es gibt Identifikationsprozesse,
bei denen sich der Richter, andere, bei denen sich der Angeklagte der Identi-
fikation im Ich bedient. Kleist z. B. berichtet in seinen Kriegserlebnissen folgendes:
‚Ein Bataillon Fußvolk hatte gemeutert. Es wurde entwaffnet. Im Viereck auf-
gestellt, von schußbereiten Truppen umgeben, harrte es des Urteils, das namens des
Kriegsgerichts der kommandierende General, ein Fürst, sprechen sollte. Dieser reitet
langsam vor und erklärt, sie hätten allesamt den Tod verdient, doch biete er ihnen
Gnade an, wenn sie den Rädelsführer der Verschwörung nennen wollten. Langes,
banges Schweigen. Endlich tritt ein Soldat, ein schöner, junger Mann, vor und bietet
sich als den Schuldigen dar, der die anderen verführt habe. Der Fürst durchschaute
den edlen Beweggrund, der seinen Schritt geleitet hatte, darum vergab er nicht nur,
wie er versprochen hatte, dem Bataillone, sondern auch ihm, der sich nicht geschont
hatte. Die Fünfhundert danken auf den Knien, und die Exekutionstruppen bringen
ein begeistertes Hoch aus. Fröhlich zieht das Bataillon ins Lager zurück. Da fällt ein
Schuß im letzten Glied; der wirkliche Rädelsführer hatte sich selbst gerichtet. Der
Edelmut eines schuldlosen Kameraden hatte feurige Kohlen auf sein schuldiges Haupt
gesammelt, und das Schuld- und Schamgefühl hatte ihn in den Tod getrieben.‘
„Emil Szittya, der in seinem Buch ‚Selbstmörder‘ manche ähnliche historische
Vorkommnisse mitteilt, gibt auch eine Ansicht von Paulsen über den Selbstmord
von Judas Ischariot wieder:
‚Der Selbstmord eines Judas Ischariot, kommt mir vor, ist einigermaßen geeignet,
unser Urteil über ihn zu entwaffnen. Daß er verzweifeln konnte über das, was er
getan, zeigt, daß er nicht eine ganz gemeine Seele war. Wäre er es gewesen, so
hätte er es anders gemacht, er hätte sein Geld verjubelt oder auch damit gewuchert
und sich mit bewährter Brauchbarkeit und Gesinnungstüchtigkeit weitere Verdienste
von ähnlicher Art erworben. Statt dessen sprach er sich selbst das Urteil, da ihm die
Sühne durch ein von der irdischen Gerechtigkeit gesprochenes Urteil versagt war.
Ist es auch nicht die rechte Sühne, so ist es doch eine Art von Sühne.*
„Was soll wohl das Wort bedeuten, das Z. aus Nietzsches Zarathustra auf
einen Zettel geschrieben hatte?“
„Ohne die Einfälle des Herrn Z. zu kennen, kann man nur Vermutungen
aufstellen. Sie wissen, daß er sich immer wieder mit dem zu frühen Tod des
im Lazarett verstorbenen Soldaten beschäftigt hat. Wahrscheinlich litt er auch
viel unter dem frühen Tod seines Vaters. Für das Unbewußte fehlt der Begriff
Zeit, für den neurotisch Gebundenen sollen Vater und Mutter ewig leben, so
ist jeder Tod zu früh. Sowohl die Identifikation mit den für Herrn Z. wichtigen
Persönlichkeiten, die früher starben, als es ihm richtig schien, könnte eine Rolle
spielen, wie auch eine Art nachträglicher Gehorsam, der aus der Tatsache der
Lebensgemeinschaft die Todesgemeinschaft als selbstverständlich empfindet. —
Das immer wieder erneute Erleben von Schuldgefühlen produziert das Gefühl
Zeitschrift f. psa. Päd., III/ı1/ı2/ı3 — 349 — 21
der völligen Unfähigkeit, so zu’ werden, wie es die verehrten Personen der
Umwelt wünschten; fallen sie alle weg, so verstärkt sich die innere Unsicherheit,
und der eigentliche Sinn des Lebens wird aufgegeben, weil er nicht im Menschen
selbst lag, sondern in Menschen seiner Umwelt. Der Selbstmord treuer Diener
auf dem Grabe ihres Herrn ist ja bekannt.“ |
„Vielleicht könnte man, da Sie den Selbstmord so eng mit dem Schuld-
bewußtsein verknüpfen, annehmen, dal3 religiöse Menschen weniger rasch zur
Selbstentleibung schreiten, als unreligiöse. Übrigens war Herr Z., so viel ich
weiß, nicht sonderlich religiös, er ging, glaube ich, seit seiner Kindheit nicht
mehr zur Kirche.“
„Die Stellung von Religion und Konfession zum Selbstmord ist ganz ver-
schieden. Es gab Zeiten, in denen der Selbstmord aus religiösen Gründen selbst-
verständlich war, andere, in denen er als schwere Sünde bezeichnet wurde,
Östliche Völker verhalten sich ja anders wie westliche. Der japanische Heiligen-
kalender ist gefüllt mit Namen kanonisierter Selbstmörder, Harakiri sühnt be-
gangene Verbrechen. In Indien warfen sich Tausende in der religiösen Ekstase
unter die Räder der Götterwagen bei Prozessionen. Das Christentum hat ver-
schiedene Stadien seiner Einstellung zum Selbstmord durchgemacht. Einzelne
Kirchenväter sanktionierten beispielsweise die Selbsttötung, wenn sich dadurch
ein Mädchen, das sich nur der christlichen Religion widmen wollte, der Ent-
jungferung entzog, oder wenn dadurch der Abfall vom Glauben vermieden
wurde. Allmählich wurde der Selbstmord zur Todsünde. Der Selbstmord des
Judas Ischariot wurde unter dieser Beurteilung zu einem größeren Verbrechen
als der Verrat an Jesus. Bei der Fülle von Motiven, bewußten und unbewußten,
die zum Selbstmord führen, ist es nicht ganz leicht, den Einfluß der Religion
abzuschätzen. (Der Präsident Masaryk hat darüber in jungen Jahren ein Buch
veröffentlicht; wie er fand, ist die Zahl der Selbstmorde in katholischen Gegenden
geringer als in protestantischen. Das hängt nicht nur mit dem Katholizismus zu-
sammen; wie sich in der Psychoanalyse zeigt, ist es zumeist der Höllenglaube, der
vom Selbstmord abhält.) Man darf vermuten, daß, wer jede Einmischung des
Verstandes in religiöse Fragen vermeidet, einer Reihe von Klippen entgeht, die
für den kritisch denkenden Menschen selbstverständlich sind. Wir wissen aus
Analysen, daß die Anpassung eines Menschen an die Umwelt als Maßstab für
Gesundheit nicht genügt, dal der Grad seiner inneren Sicherheit ebenso wichtig
ist. Die Geschichte lehrt, daß religiöse Menschen unter bestimmten Bedingungen
ihre scheinbar sichere Haltung aufgeben, und daß Härte, Unduldsamkeit und
Grausamkeit bei religiösen Menschen bei weitem nicht immer sublimiert sind.
Die Umwandlung einer seelischen Kraft in eine andere ist ein langwieriger
Prozeß. Die Religion hatte bisher die Aufgabe, den Urmenschen in einen Kultur-
menschen zu wandeln, nicht erfüllt. Nietzsche meint folgendes: ‚Das Christentum
hat das z. Zt. seiner Entstehung ungeheure Verlangen nach dem Selbstmord zu
einem Hebel seiner Macht gemacht. Es ließ nur zwei Formen des Selbstmordes
übrig, umkleidete sie mit der höchsten Würde und den höchsten Hoffnungen
und verbot alles andere auf eine furchtbare Weise. Aber das Martyrium und die
— 350 —
langsame Selbstentleibung des Asketen ‘war erlaubt.‘ Was hier Nietzsche von
chronischem Selbstmord sagt, ist nun sicher ohne weiteres verständlich. Aus
Analysen sehr frommer Menschen wissen wir, dal) Religion. vor Selbstmord.
nicht schützt, dal3 aber, wer durch eine religiöse Bindung sein inneres Schuld-,
konto in Ordnung hält, den Selbstmord als eine so schwere Sünde empfindet,
daß er eher krank wird, als Hand an sich zu legen, oder andere quält und,
unbewußt krank macht.“
„Was Sie bisher sagten, hat keinerlei Rücksicht genommen auf jene Motive,
die wirtschaftlich von so großer Bedeutung zu sein scheinen. Bei Herrn Z. aller-
dings kam dieses Motiv nicht in Betracht.“ |
„Wie schon betont, läßt sich das Problem des Selbstmordes nicht allein psycho-
logisch lösen, Biologie, Soziologie, Erforschung körperlicher Eigenheiten, auch
im Sinne der Minderwertigkeit von Adler müssen mit herangezogen werden.
Daß materielle Sorgen nicht selten den Impuls zum Selbstmord auslösen, zeigt
die Statistik. In Zeiten der Arbeitslosigkeit und der Inflation und anderer wirt-
schaftlicher Krisen stieg die Selbstmordziffer. Die Konflikte, die ein Mensch
erlebt, der arbeiten will,. aber keine Arbeit findet, können unter bestimmten
Voraussetzungen zum Selbstmord führen. Alles, was die materielle, körperliche
und seelische Sicherheit eines Menschen bedroht, muß Verne
gegen sich und andere aufwühlen. Käthe Kollwitz und Zille rufen immer wieder
das Gewissen der materiell gesicherten Menschen wach, mitzuarbeiten an der
Schaffung einer würdigen, sozialen Ordnung. Auch anderes, „schlechtes Ergehen“,
wie es einzelne in physiologischen Lebenskrisen durchmachen: Pubertät, Men-
struation, Schwangerschaft, reißt viele bewußte und unbewußte Konflikte auf, oder
macht die körperliche Widerstandsfähigkeit so schwach, daß die Bereitschaft zur
Selbstvernichtung aktualisiert wird. Übrigens in welchem Monat fand der Selbst-
mord des Herrn Z. statt?“
„Am 25. April. Weshalb interessieren Sie sich für das Datum?”
„Wir wissen, daß die Neigung zum Selbstmord in bestimmten Monaten
größer ist als in andern. Die Selbstmordkurve steigt im Mai und Juni auffallend
an, sie läuft parallel der Kurve der Sittlichkeitsdelikte.-Sie erkennen daraus den
Einfluß biologischer Vorgänge, wahrscheinlich spielen hier Geschehnisse im in-
nern Leben der Drüsen eine Rolle, ihr Primat hat ja die Sexualdrüse;
die uralte Sexualperiodizität muß einen biologischen Niederschlag hinterlassen
haben.“
„Sie wollten noch vom Schülerselbstmord etwas sagen?“
„Wir sind bei diesem Thema, doch spricht man besser vom Selbstmord Jugend-
licher, um das ganze Gebiet des Selbstmordes des Unerwachsenen, zu umfassen.
Man beschuldigte oft die Neurasthenie der Schüler. Die Wissenschaft vor Freud
erklärte die Neurasthenie. als Folge der Überarbeitung. Fast jeder Kranke
übernahm monoton diese Formel. Freud konnte zeigen, dal3 echte Erschöpfungs-
zustände äußerst selten und daß es sexuelle Schädlichkeiten sind, die die
Neurasthenie bedingen. Oft sind es die gehäufte Onanie und der Abwehrkampf
dagegen, welche die Neurasthenie hervorrufen. Die meisten Menschen, die als
— 351 — 21"
Neurastheniker behandelt waren, erschöpften sich an inneren Konflikten und nicht
an der Arbeit. Viele Erzieher: Vater, Mutter, Lehrer, Arzt machen es dem Kinde
sehr schwer, die Bewältigung der Umwelt vorzunehmen, weil gerade die durch
die Erziehung verschärften inneren Konflikte das Kind immer wieder müde
machen; denken Sie dabei an die Wirkung der Ambivalenz im Kind und an
die Beziehung von Sexualität und Liebe einerseits und Angst anderseits.
Vor Freud waren sie meist Dichtern, Künstlern oder Menschen bekannt,
die instinktiv das Leben erfassten, manchen geborenen Kinderfrauen und naiven
Köder: und Tierbeobachtern. Die Benützung der Gefühlsbeziehung zwischen
Kind und Erwachsenem, der Übertragung im Sinne einer mit dem Unbewussten
rechnenden Pädagogik war vor Freud nur dem Zufall überlassen. Ein Teil der
Erzieher schenkte dem Kind zuviel Liebe, ein anderer zu wenig, oder entzog
sie ihm so plötzlich, daß das Kind an seinem Erzieher und an sich selbst ver-
zweifelte.
Viele sogenannte Schülerselbstmorde geschehen, weil Eltern und Lehrer das
Versagen im Unterricht falsch deuten. Freud erfuhr aus der Psychoanalyse, daß
die intellektuelle Leistung jedes Menschen von seiner Liebesbindung an Menschen
und Objekte abhängt, und daß bestimmte Lehrer Kinder versagen lassen oder
zum eifrigen Lernen anregen. Die Erkenntnis der Bedeutung des Odipus-Kon-
fliktes hat die moderne Pädagogik gegenüber der alten prinzipiell umgewandelt.
Es ist verständlich, daß Kinder, bei deren Erziehung keine Rücksicht auf die
primitivsten Tatsachen ihrer seelischen Entwicklung genommen wird, asozial,
dissozial, verängstigst oder anscheinend dumm werden. Um aus der Situation
herauszukommen, greift nicht selten ein Kind zur Waffe des Selbstmordes.*
„Wenn ich Sie recht verstehe, würden Sie also der Schule bei weitem
nicht die Schuld zuschreiben, die man in bestimmten Kreisen ihr zuschreibt?*
„Die Einwirkungen, die bei der Erziehung ausschlaggebend sind, gehen selten
von der Schule allein aus. Man kann daher kaum einmal mit Sicherheit sagen, daß
die Schule allein oder das Elternhaus allein den Ausschlag zum Selbstmord ge-
ben. Mag sein, daß die Überbelastung mit uninteressantem intellektuellem Wissen
die normale gesunde Entwicklung des Kindes belastet, aber die meisten Schü-
ler finden Methoden, sich dieser Überbelastung zu entziehen. Aus einem Tage-
buch eines Oberprimaners, der Selbstmord beging, möchte ich Ihnen einige
Stellen zur Kenntnis geben. Sie merken daraus, wie verwickelt die Verhältnisse
liegen.
‚Warum besuche ich die Schule? Wie komme ich überhaupt dazu, mir seit Jahren
diese ewige Frage zu stellen, nachdem ich bereits vier Klassen einer Volksschule
hinter mir hatte, wo ich mir nie die geringsten Gedanken darüber gemacht habe,
Weil wohl die Eindrücke fehlten? Oder kann ich mich daran nicht mehr erinnern?
Damals kannte ich keine Schulnot, keine Angst. Da fühlte ich mich glücklich. Zwar
weiß ich es nicht bestimmt. Doch kann ich mich auch nicht entsinnen, daß ich un-
glücklich gewesen wäre. Erst als ich in die Geheimnisse der höheren Wissenschaft
eindringen mußte, begann für mich die Zeit der Schulnot. Jetzt wußte ich plötzlich,
was das eigentliche Leben bedeutet, lauter Pflichten, ernst und bitter, und dabei bin.
—: 352 —
ich noch so jung. Ehe es mir zum Bewußtsein kam, daß ich ein Kind bin, war meine
Kindheit zu Ende. Und auf mir, der sich so gerne in sorgloser Harmlosigkeit dieses
Paradieses sonnen wollte, lastet schon so früh der Ernst des Lebens. Noch nie war
die Angst bei mir ein so entwickelter Faktor, als all die Jahre über, die ich vor-
dem verspürt hatte. Und jetzt komme ich wochenlang, monatelang nicht mehr heraus.
Kaum glaubt man, wieder etwas erleichtert aufatmen zu dürfen, so bringt irgendeine
bevorstehende Schulaufgabe neue Qualen und Sorgen, schlechte Zeugnisse verbittern
die Ferien (eigentlich mehr die unbegreifliche Aufregung der Eltern) und die Freude
wandelt meist im Gefolge von Leid und Kummer. So ein Gymnasiast ist der Mittel-
punkt, um den sich alles dreht, das reinste Barometer für die Stimmung in der
Familie. Er hat es in der Hand, ob die häusliche Sonne scheint oder Gewitterschwüle
herrscht. Hat man in der Schule Pech, so ärgert man sich wohl selbst ein wenig
darüber, aber dieser Ärger verfliegt rasch mit der Angst des schlimmeren Kommenden,
das dich zu Hause erwartet. Mit Angst und Bangen schleicht man heim, mit dam
Ballast einer Note, und verpestet die häusliche Atmosphäre. Der Vater ärgert sich
wegen des schlechten Resultates, Mutter und Geschwister ärgern sich — nicht wegen
der schlechten Note, sondern weil ich schuld bin, daß der Vater den ganzen Tag und
morgen — wer weiß wie lange — schlechter Laune ist und kein Geld für einen
neuen Hut ausgeben will. Immer dieses Schwanken, dieses Hin- und Hergeworfen-
werden zwischen Freud und Leid. Hoffnung und Angst, das wie eine Last auf das
Gemüt drückt und die physische und moralische Leistungsfähigkeit oft in Frage
stellt... .. Muß das alles so sein, läßt es sich nicht ändern? Vor wem habe ich
eigentlich Furcht und Angst, wer erzeugt dieses Gefühl der Gewissensbisse in mir,
wo liegt die Ursache meiner Seelenqualen? Warum bangt mir so vor einer schlechten
Note, vor Arrest, Versetzung u. dergl.? Eltern, Verwandte und Bekannte machen mir
die Schule zur großen Sorge und Qual. Ich bin der Sohn einer angesehenen Familie,
Deshalb erwartet man von mir schon an und für sich eine bessere Note als bei
andern Schülern, einen großen Fleiß, tadelloses Betragen, glänzende Leistungen, über-
haupt Unmögliches. Warum darf ich mich nicht gehen lassen, nicht auch mal dumme
Streiche vollführen. Nach der Schule soll ich stets gleich nach Hause gehen, weil
_ es sich für mich nicht schickt, auf der Straße, in den Anlagen, mit anderen Kame-
raden zu streunen. Wer gibt der Schule, den Eltern, den Verwandten, das Recht,
von mir etwas zu verlangen, das mit der Persönlichkeit und Stellung meines Vaters
im Zusammenhang steht? .... Mein Vater ist gut. Aber seine übertriebene Sorge
um mich bringt mich zur Verzweiflung. Die ewigen Ermahnungen, Predigten, die an
Nörgeleien grenzen, sind unerträglich. Dabei hält er mir fortwährend seine eigene
Jugend vor, die viel strenger gewesen sei als die meine. Auch war er fleißiger und
besser. In meinem Alter verfügte er über bedeutend umfangreichere Kenntnisse. So
streicht er seine eigene Jugend heraus. Immer dieser Vergleich mit sich selbst und
| mir. Das ist ja alles möglich, was er mir da vorschwärmt. Aber bin ich denn mein
| Vater? Ich bin nur sein Sohn, der andere Anlagen besitzt und vielleicht auch einen
anderen Weg gehen wird. Warum will der Vater seine eigene Erziehung an mir
wiederholen? Man soll einen tüchtigen Menschen aus mir machen, aber keinen
Musterschüler. Vater soll durchwegs der Erste in der Klasse sein. Ob das stimmt,
kann ich nicht prüfen. Ich bin es eben nicht und will es auch gar nicht sein, weil
ich nicht kann. Er stellt an meine Natur Anforderungen, die meiner Anlage und
meinem Kräftemaß nicht entsprechen. Ich weiß, daß ich das Gymnasium ganz gut
durchlaufen werde. Dem Vater genügt dieses „ganz gut“ wohl nicht, Ich bin kein
a —
Wunderkind, das mit der Gesamtnote I aus dem BREDINLORSUN gehen ak wie er
es immer von sich rühmt.*t:' u ind. |
'„Meinen Sie, daß in Landeserziehungeheimen und freien Schulen die Verl
hältnisse ‚besser liegen?“ |
„Man kann die Schule und ihre Wirkung auf das Kind nicht lediglich unter
de Gesichtspunkt. der freien und nicht freien Erziehung beurteilen. Die Erfahrung
lehrt, daß die Erziehung zur Realität auch in vielen freien Schulen nicht
geleistet wird. Jede Schule, die nicht zur Triebbeherrschung erzieht und die die
Märchenwelt des Kindes länger erhält als es das reale Leben und die notwendige
Verselbständigung gestatten, wird später hören, daß einzelne Insassen den Zu-
sammenbruch ihrer Ideale schwer oder nicht ertragen. - Unbewußtes und unreife
Sexualität sind für die Kinder in allen Schulen gleich, der Erzieher muß sie
kennen, er muß aber auch die Gesetze der Massenpsychologie vor Augen haben“,
„Denken Sie dabei an die Selbstmordepidemien, die in bestimmten Anstalten
ausbrachen ?* |
„Ich dachte gerade nicht an dieses Problem, aber ich will Ihnen gerne dazu noch
etwas sagen. Als Goethe seinen Werther geschrieben hatte, häuften sich die
Selbstmorde. Sie werden das durch den Vorgang der Identifikation, den wir vorhin
besprachen, verstehen, Mussolini hat vielleicht ähnliche Zusammenhänge geahnt.
Er verbot der Presse grundsätzlich, über Selbstmorde zu berichten. Angeblich
sind seitdem die Selbstmörder in Italien seltener geworden, Außer der Identi-
. Jikation spielen natürlich auch ganz andere Motive bei Selbstmordepidemien
Jugendlicher oder Erwachsener eine Rolle. Der Tod soll den Erwachsenen straf en,
der dem Kinde so viel Unrecht getan hat. Plutarch berichtet gelegentlich über
eine interessante Epidemie in Milet. Er schildert sie folgendermaßen:
„Die milesischen Jungfrauen wurden einst von einem schrecklichen und sonderbaren
Übel befallen, ohne däß man irgend einen Grund dafür auffinden konnte; man ver-
mutete zunächst, daß die vergiftete und verpestete Luft diese Versuehe und Ver-
rücktheit des Verstandes in ihnen hervorgebracht. Bei allen nämlich zeigte sich plötzlich
ein Verlangen, zu sterben und eine unsinnige Neigung, sich zu erhängen; viele erhängten
sich auch heimlich. Die Worte und Tränen der Eltern und das Zureden der Freunde
half nichts, sie täuschten sogar bei ihrem Selbstmorde alle Wachsamkeit und Schlauheit
der Wächter‘. — ‚Endlich brachte ein kluger Mann ein Gesetz in Vorschlag, wonach alle
Mädchen, die sich durch‘ Erhängen selbst ums Leben brächten, nackt über den Markt:
platz getragen werden sollten. Das Gesetz wurde genehmigt und tat nicht bloß dem
Übel Einhalt, sondern benahm auch den ne ac a Ve nach’ dent
Tode‘, | |
„Vielleicht sagen Sie noch etwas ‚Modernes‘ Ba die Verhütungsmöglichkeit
des Selbstmordes?*“ NE
„Der kluge Mann hat eine schwere ar lieisehz Kränkung als Strafe für ‚den
an erfunden. Diese schreckte ab, während das Klagen der Eltern nur
die narzißtische Befriedigung « durch den Selbstmord erhöhte. Die Erforschung des
Unbewußten durch Freud hat die Selbstmordmotivierung zu einem neuen Problem
417° 'Aüs:Dr. 'Geörg ka Sal wie ‘entstehen Schülerselbstmorde? ka >> "w;
Schwabe, ©. un
— 554 —
gemacht; seine Lösung wird erst dann gelingen, wenn nicht nur Ärzte und Psycho-
analytiker, sondern jeder Erzieher und jeder, der mit Menschen umgeht, das
Instrument der Psychoanalyse kennen. Wir erwarten, dal3 auch die Ratgeber
für Gefährdete die neu erkannten Beweggründe berücksichtigen werden, und daß
dann die Grenze zwischen Leben und Tod besser als heute von den Menschen
geschützt sein wird. |
ERFAHRENEN
| Selbstmord
Von Dr. Siegfried Bernfeld, Berlin
Im Schlußwort der Wiener Diskussion über Schülerselbstmord! sagte Freud.
im Jahre ıg10: | | ii FELS
„Wir wollten vor allem wissen, wie es möglich wird, den so außer-
ordentlich starken Lebenstrieb zu überwinden, ob dies nur mit Hilfe der
enttäuschten Libido gelingen kann, oder ob es einen Verzicht des Ichs auf
seine Behauptung aus eigenen Ichmotiven gibt. Die Beantwortung dieser
psychologischen Frage konnte uns vielleicht darum nicht gelingen, weil wir
keinen guten Zugang zu ihr haben. Ich meine, man kann hier nur von
dem klinisch bekannten Zustand der Melancholie und von deren Vergleich
mit dem Affekt der Trauer ausgehen. Nun’sind aber die Affektvorgänge bei
der Melancholie, die Schicksale der Libido in diesem Zustande, völlig un-
bekannt, und auch der Daueraffekt des Trauerns ist psychoanalytisch noch
nicht verständlich gemacht worden“.
‘Diese Lücke ist von der psychoanalytischen Forschung indessen ausgefüllt
worden. Von Freud und Abraham wurden die pathologischen und normalen
T'rauerzustände untersucht; und soviele Fragen auch ungelöst geblieben sind,
einige wesentliche Sätze über den Selbstmord sind wohl gesichert:
ı) Ein Selbstmord geschieht nur, wenn der Täter intensive Haßgedanken —
unbewußt — gegen ein Objekt gerichtet hat; er kommt nur zustande bei
verdrängten Mordimpulsen, er hat also eine Rachetendenz.
2) Der Mordimpuls wird sich aber nur dann als Selbstmord befriedigen, wenn
der Täter sich unbewußt mit dem gehaßten — früher intensiv geliebten —
Objekt identifiziert hat, sodaß er den Gehaßten zugleich mit sich
selbst tötet. | Ä Ä
2) Wohl regelmäßig wirkt beim Selbstmord eine Selbstbestr afungs-
tendenz mit; strafwürdig erlebt sich der Täter nicht selten wegen der
großen Menge und Intensität seiner, Mordimpulse und Haßregungen.
4) Und schließlich spielt gelegentlich noch die Todessymbolik mit
den libidinösen Wünschen, die hinter ihr stehen, eine Rolle, vor allem in
1) Gesammelte Schriften, Bd. III, S. z»eı fi. :9
sr
der Todeswahl; so sind z. B. Selbstvergiftungen Erfüllung unbewußter
Schwängerungsphantasien.
Die volle Überzeugung von der Richtigkeit dieser Sätze vermag nur die
Psychoanalyse selbst zu geben. Wer auf die bloße — und wäre es auch
intime — Beobachtung beschränkt ist, wie der Pädagoge, wird kaum Gelegen-
heit haben, mehr als oberflächliche Bestätigung des einen oder des andern
Gesichtspunktes zu finden. Daher möchte ich im folgenden ein Material,
das einige der Selbstmordmotive in seltener Deutlichkeit ausspricht, mit-
teilen und einige Folgerungen anfügen.
*
Fritz, im ıg. Lebensjahr, befindet sich unter Schutzaufsicht in einer Schmiede-
lehre auf dem Lande. Er drängt seine Eltern und den Schutzaufsichtsbeamten,
ihm die Rückkehr nach Hause und den Wechsel der Lehre zu gestatten. Da er
aber bisher eine höchst besorgliche Unstetigkeit aufwies, wird diesem Drängen
nicht nachgegeben. Mehr als ein halbes Jahr lang zieht sich der Kampf bereits,
als Fritz auf einen Brief seiner Mutter am ı0. Dezember 1923 mit einem Versuch,
sich mit Leuchtgas zu vergiften, reagiert. Der Versuch mißlingt, er erneuert ihn
in der nächsten Nacht, gleichfalls vergeblich.‘ Vor der Tat schreibt er Abschieds-
briefe an seine Eltern, die ihre Adresse nicht erreichen, und die er auch nach
dem Entschluß, weiter zu leben, nicht vernichtet, sondern die er zu briefartigen
Tagebuchaufzeichnungen fortspinnt, als „Probleme, Gedanken, Ideen, wo mein
Herzblut drinsteckt“. Dieses Tagebuch schließt am ı4. Mai 1924 mit einer inneren
Versöhnung mit den Eltern. Aber am ı6. September 1924 schreibt er neuerlich
einen Abschiedsbrief an seine Eltern, der nicht deutlich erkennen läßt, ob er
einen neuen Selbstmordversuch plant, oder bloß entschlossen ist, mit den Eltern
zu brechen. Dem Schutzaufsichtsbeamten verdanke ich die Mitteilung, daß Fritz
keinen Selbstmord, sondern das endgültige Aufgeben der Lehre beschlossen und
durchgeführt hatte.
Der entscheidende Brief der Mutter lautet:
»* - „ Du schreibst, daß Du fest entschlossen bist. Ja, um alles in der Welt, sage
doch endlich mal, wozu denn eigentlich. Arbeit gibts nirgends. In der Erziehungs-
anstalt, in der halbe Verbrecher sind, nach denen Du anscheinend großes Verlangen
hast, nehmen sie Dich nicht auf. Privaterziehungsanstalt müssen wir für Dich bezahlen,
was uns gar nicht einfällt.... Sage mal, schämst Du Dich denn nicht ein bißchen vor
G. [der Schwester]? Die L. renommiert immer mit ihrem Enkel, wie fleißig und
strebsam er ist, und wir müssen uns unseres Jungens schämen, der nirgends aushält.
Grüble nur hübsch über Deine Arbeit nach und nicht wie schlecht es Dir geht.
Du hast ein Dach über dem Kopf, ein anständiges Bett, Essen und Trinken, und Tot-
arbeiten brauchst Du Dich auch nicht. Vater bereut es heute, daß er Dich nicht fester
in die Kandare genommen hat und so fest auf den guten Kern in Dir gerechnet hat.
Jetzt möchte er aus der Haut fahren, wenn solche Briefe von Dir kommen. Daß das
Leben dort nicht all zu schön ist, wissen wir ja, aber ein Charaktermensch löffelt
die -Suppe aus, die er sich eingebrockt hat. Wenn Du nun bei einem Meister wärst,
wo es noch feste was mit dem Riemen gibt, was würdest Du dann machen? Befolge
1) Ob diese Versuche nicht vielleicht „simuliert“ waren, läßt sich nicht feststellen,
ist aber für unsere Erörterung gleichgültig.
—-3B0—
meinen Rat, trete in den Turnverein ein und suche Dir endlich mal einen anständigen
Verkehr .. .“
Fritz antwortete darauf mit den folgenden Abschiedsbriefen:
Ihr lieben Eltern! A., den ı0. Dezember [1923].
Habe Euern Brief am Sonntag erhalten. Leider sehe ich mich in der traurigen
Lage, Euren Rat nicht befolgen zu können. Auf Deinen ersten Brief, lb. Mutter, wäre
es noch möglich gewesen, aber die zweite Beilage hat mein Schicksal besiegelt. So
denkt Ihr noch von Eurem einzigen Sohn? Seht ihn Euch ganz genau an, wenn Ihr
hier seid. Das ist Euer einzigster Sohn, der aus Verzweiflung sich selbst den Tod
gab. Es tut mir jetzt leid, daß ich Euch habe in meine heiligsten Empfindungen
hineinblicken lassen, damit Ihr mir derartig verachten könnt. Die letzten Tage habe
ich mir hingesetzt und Strümpfe gestopft, denn ich sagte mir da, wenn die Mutter
nach den Strümpfen fragen sollte, dann soll sie sich doch mal freuen. Ich habe Fran-
zösisch gebüffelt, als wenn ich ein Examen bestehen müßte. Und alles umsonst
getan! Ja, jetzt tut mir jede gute Tat leid, die ich in meinem Leben getan habe. Jetzt
können ja meine lieben Schwestern [froh sein], daß die Schande ihres Bruders mit einem
Ruck von ihnen beseitigt ist. Ich habe Euch nun so innigst gebeten, und hättet Ihr
mir doch nur eine klippe und klare Antwort gegeben: Willy, Du hast recht, oder Du
hast unrecht und mußt weg von der Oberfläche. Schließlich habe ich doch an ein
Menschlichkeitsrecht appelliert, ich bat Euch, mich nicht verrückt werden zu lassen,
denn das kann doch wohl jeder Mensch beanspruchen. Lb. Eltern, ich könnte ja auf
Euern Vorschlag eingehen, aber in dem bürgerlichen Verein hier guckt man den
‚dreckigen Schmied‘ doch nur von oben herab an. Euer Junge hat auch Stolz im
Leibe. .... Nun hier. Ich komme mit dem Alten auch nicht mehr aus. Mieter haben
wir nicht mehr im Haus, nun bin ich der Einzige, auf den man seinen Ärger hin-
schiebt und an den man seinen Zorn so richtig auslassen kann. Seht, all das habe ich
Euch schon vorher geschrieben und doch? Nennt Ihr das etwa sozial?
Ihr werdet ja begreifen, daß diese Zeilen nur aus größter Verzweiflung entstanden
sind, und damit auch meine Tat. Der Alte ist heut vormittag gegen halb zehn Uhr
weggegangen. Er hat den kleinen Jungen mitgenommen, und jetzt auf den Abend um
sechs Uhr ist er schon wieder hier. Wo war er? Natürlich in der Kneipe, und morgen
in seinem Rausch will er trietzen, na, das Vergnügen soll er nicht haben. Er soll
sogar morgen früh ganz plötzlich nüchtern werden. Da sagt Ihr sonst, wenn irgend
etwas ist, schreibe, und schreibt man, dann ist es ganz und garnichts... . Dem
Lebenden habt Ihr kein Recht gegeben, jetzt um den Toten werden Euch vielleicht
die Augen aufgehen. Wir wollen uns doch nichts vormachen; Ihr wart doch selbst
hier, und habt selbst gesehen, was hier langgeht. Erkundigt Euch doch mal bei fol-
gende um den Schmied G., was Ihr da zu hören bekommt. Geht hin zu den Eltern
von Otto, und zu B. aus der H.str. Beide waren zwei Monate hier. Fragt Frau R.,
deren Junge zwei Jahre hier war, der umgemacht hat, als ich kaum hier war. Fragt
den Bierverleger K. aus der A.-Brauerei, der hier Sachen zu stehen hatte und wo die
Leute auch ein halbes Jahr hier gewohnt haben. Fragt die Frau des Bierverlegers
aus der B.-Brauerei, die die intimste Freundin der Alten hier war. Forscht bei den
Wachbarn nach und nehmt endlich noch den Gärtner S$., den ja Du, Ib. Vater, doch
auch als einen rechtschaffenen Mann kennen gelernt hast. Vielleicht werdet Ihr dann
ein anderes Urteil fällen. Lebend hätte ich Euch das nicht erzählt. Halt! Heut hatten
wohl die Schmiede Versammlung, da ist er auch so lange geblieben und ist selbst-
verständlich noch angeschmort, denn er brüllt im der Stube, was sich heute zugetragen
hat. Da kam wohl auch die Rede von den Lehrlingen, daß sie es bei ihm so schlecht
haben. Er steht bei den andern Meistern in sehr schlechtem Ruf. Da geht, bitte, zu
Meister L. in der nächsten Querstraße hin, der wird Euch ja originelle Sachen er-
zählen können. Das ist der Meister, der die Sachen mit der Handwerkskammer in
Händen hat, also auch mit den Lehrbriefen. Dieser hat ihm wohl das heute vor-
I
‚geschmissen, und da hat er ihm geantwortet: Er’ macht mit seinen Lehrlingen, was
er will, den gehts bloß zu gut, er wird sie schlagen, bis sie wollen, was. er. will.
Na, ich werde mir nicht krüpplig schlagen lassen. Ich könnte jetzt bei dem anderen
Meister um Schutz bitten und würde morgen bei Euch angesetzt kommen, aber ich
habe Euch versprochen, nicht auszurücken. Aushalten kann ich nicht, und vor dem
morgigen Tag grault mir; denn es heißt: es werden Menschen zu Hyänen.
Ich bitte Euch nun, stellt diesen Menschen an den Pranger, damit er nicht noch
mehr Menschen unglücklich machen kann. |
Geliebte Eltern, inniggeliebter Vater, ebenso inniggeliebte Mutter, lebt nun wohl.
Euch wünsche nur das Beste, und Ihr werdet über mich hinwegkommen, dafür
werdet Ihr an Euren Töchtern mehr Glück haben.
Mein sehnlichster Wunsch ist, daß Ihr andern alle glücklich werdet und flucht
Euren Jungen und Bruder nicht nach,
Dienstag, ı1. Dezember 19232.
So — die Nacht ist es nicht gelungen. Ob es an dem Gas lag oder woran sonst,
weiß ich nicht. ... weiß nur noch, daß ich den ganzen Tag über alles war, nur kein
Mensch. Jetzt komme ich mir noch vor wie ein Hund, den ein Unmensch quält und
selbst nicht weiß, was er tut. Wie eine willenlose Maschine ohne irgend ein Denken
habe ich den Tag verbracht ...
Aber die Nacht muß es klappen, denn noch einen einzigen Tag weiterleben, d.h.
lebendig tot sein wie eine wandelnde Leiche [kann ich nicht]. |
Ihr Lieben, es ist wirklich schwer, so ohne Hoffnung, so vollständig einsam, von
niemand verstanden zu sein, sterben zu müssen und noch in dem Augenblick, wo- ich
wirklich festen Willen hatte das Böse, das ich bisher in meinem Leben getan hatte,
mit Gutem zu vergelten. Ja, schwer ist das. Da zucken mir jetzt so verschiedene
Gedanken auf. Du, meine 1b. Mutter, Du wolltest mir und hast mir ja auch den
Glauben an Christi so felsenfest klar gemacht, und nun seid Ihr gegen Euch selbst
ehrlich, ist das christlich, mich so zu verstoßen!?
Ihr wolltet den Völkern Sozialwissenschaft lehren. Ist das sozial, mir in meinem
großen innerlichen Kampf zurückzuweisen?! Denn in mir kämpft es, wogt es, pocht
es, ist das das Gewissen? Oh, Ihr Ib., innigstgeliebten Eltern, es hätte das alles jetzt
nicht sein brauchen. Hättet Ihr mir damals nur etwas mehr Bewegungsfreiheit gegönnt,
es wäre das erste Schlechte nicht geschehen. Vielleicht könnt Ihr mir jetzt verstehen
lernen, wo es schon zu spät ist, wie mir damals zumute war, als man mich bej E.
immer so von oben herab behandelte, und dann in der Handelsschule, weil die anderen
einen besseren Rock anhatten. Wäret Ihr dann, als ich von T. kam, nocheinmal mit FE
zu Rate gegangen, wie leicht hätte sich dann noch etwas finden lassen, was meine
ganze Energie erfaßt hätte, was meinen Geist ausfüllen könnte. Denn dies Handwerk.
bildet wohl meinen Körper aus, aber mein Geist bleibt dabei zurück. Arbeit fehlte
mir, aber auch geistige, die mein ganzes Tun und Denken ausfüllen müßte. Seht Ihr,
so bin ich dann auf das Grübeln verfallen, weshalb mir gerade das Unglück.
Dies ist, was meine Gedanken umstrickt hält. Ich hatte auch schon immer etwas
phantastische Ideen in dem Kopf, ich wollte eben immer eine große Tat machen,
die mein ganzes Tun und Denken in Anspruch nehmen müßte und die Welt mit.
einem Schlage zu einer glücklichen und herrlichen zu machen. Das ist jetzt mein
größter Schmerz, daß ich nicht das Passende finden konnte, wo ich meine ganze Kraft:
hingeben könnte, um mein Ziel zu erreichen.
So muß ich nun ohne Hoffnung zugrunde gehen.
_ Aus dem letzten Abschiedsbrief,. der zwar. keinen Selbstmordversuch einleitet,
aber die Beziehung zu den Eltern scharf beleuchtet, mögen noch einige Sätze
folgen: ao TE. : : oa
—:358.—
Vielgeliebte Eltern! . | . B., den 15. September «1924.
‚.. Trauert nicht um mich, denn es mußte so, es war alles schon. so .vorausbestimmt.
Hättet Ihr nur richtig, sehen gelernt, was mir fehlte. Ich habe es Euch dreimal an-
gedeutet. Hättet Ihr jemals denken können, und hauptsächlich Du, Du guter Vater,
daß ich, der ich doch Dein Blut bin, Dein Einzigster bin, auf dem Du doch im Herzen
Deine Hoffnungen 'gesetzt hast, der Du in mir Deine Jugend noch einmal vor Augen
siehst, hättet Ihr, und nun Wahrheit gegen Wahrheit, Ihr hättet denken können, daß
ich meine Lehre dreimal aufgebe nur aus Spaß, einer Grille oder Traumes willen?
Nein, da hättet Ihr mich doch besser kennen müssen, daß ihm im Gegenteil ein inneres
Empfinden fortjagt, ihm seine heiligsten Gedanken fortgetrieben hat. Sieh doch nur
an, mein Vater, und dann hast Du das gleiche Herz Deines Sohnes. Denn um Kleinig-
keiten hat sich: Dein Sohn nicht in solche Lagen gesetzt und rennt weg, wie ein
feiger Schuft. Meine ganze Natur, mein ganzes Fühlen und Denken hatte mich immer
pRgetrieben. Das was mich schon von.T. fortzog, trieb mich auch hier von Z. zweimal.
" Was mir fehlte, und woran ich krankte, das war mein geistiger Hunger, den ich
nicht befriedigen konnte. Deshalb bat ich Euch letztens, mich jetzt zur Schule zu
lassen. Ich habe Ideen, Probleme, Projekte, Erfindungen im Kopfe, und alles, weil ich
mit Euch nicht darüber aussprechen konnte, aufs Papier gebracht.
Eine ohnmächtige Wut übermannt mich und habe alle Aufzeichnungen, wo mein
Herzblut daran klebte, zerrissen.
Doch nun ist vorbei. Alles ist soweit überstanden.
Ihr Geliebten, geht jetzt zu Eurem Herzen, fragt diese, konnt ich jetzt noch
‘ einmal zu Euch kommen?? Das Betteln und am Erdboden kriechen ist nun mal
nicht meine starke Seite gewesen,
Ich bin unter der Wucht und Schwere des Hasses ale zusammengebrochen.
Prüf Dich und prüf mich, mein Vater, ich bin Dein echter Sohn, und Du hättest
auf mich stolz sein können. Doch hat uns das Schicksal getrennt.
Geliebte Eltern, liebt deshalb Eure. .beiden Mädchen desto mehr. Verzeiht der
G. [der Schwester], nehmt sie wieder zu Euch, und werdet glücklich, und nehmt noch
zum Schluß noch allerherzl. letzten Gruß von Eurem Jungen.
Diese Briefe geben, so scheint mir, einen starken Eindruck von dem Mal}
von Feindseligkeit, das in Fritz wütet. Vorwürfe geg sen die Eltern, eifersüchtige
Feindschaft gegen die Schwestern und Haß gegen den Lehrherrn erfüllen ihn
ganz offensichtlich, und mehrfach ausgesprochen hat der Selbstmord eine Rache-,
tendenz, die sich gegen den Schmied und gegen die Eltern. richtet. Dennoch
scheint all diese Feindseligkeit nicht ausreichend stark, um den Selbstmord zu
verstehen. Denn nirgends äußert Fritz Mordimpulse gegen andere, die nach der
Theorie durch Rückwendung gegen das eigene Ich den Selbstmordversuch er-
zeugen. Aber diese Theorie meint unbewußte Vorgänge, und Fritzens Briefe,
wenn sie auch in manchen Punkten sehr offen sind, stehen doch unter der Zensur
des Über-Ichs und die entscheidende Feindseligkeit kann in ihnen nicht unent-
stellt sein. Leider ist es unmöglich, an Brief- und Tagebüchmaterial alle psycho-
analytischen Befunde schlüssig zu beweisen,
Wir müssen 'also annehmen, daß die geäußerten Feindseligkeiten nur ein
Bruchteil der unbewußten sind; ja, aller Wahrscheinlichkeit nach, gestattet Fritz
sich nicht einmal das ganze Maß des Bewußten niederzuschreiben. Nicht einmal
im Tagebuch, däs er nur für sich selbst schreibt, teilt er die „bösen Gedanken
segen die Mutter“ mit, sondern erwähnt bloß, daß solche da sind, und daß er
sie abbitten mul3. Vergleichen wir:die haßvollen, aggressiven Bemerkungen gegen
30 —
den Meister mit der dumpf-verzweifelten, mehr passiv-vorwurfsvollen Haltung
zu den Eltern, so erkennen wir, daß die Wut gegen das Übertragungsobjekt sich
beträchtlich deutlicher hervorwagen darf als gegen die Eltern. Hier scheint er
kein Schuldgefühl zu entwickeln, sondern glaubt sich im Recht. Den Eltern gegen-
über aber ist offensichtlich nicht allein Feindschaft vorhanden; sondern auch ein
sehr beachtliches Maß von Schuldgefühl. Er hat „Böses“ in seinem Leben getan,
das Vergeltung verlangt und sie durch seinen Tod — da die Eltern andere Wieder-
gutmachung verunmöglichen — finden wird. Das Motiv der Selbstbestrafung innigst
verschränkt mit dem der Rache (des Vorwurfs) wird so recht bemerklich. Doch
fehlt in den Abschiedsbriefen ein Anhaltspunkt für die Quelle des Schuldgefühls.
Gewiß ist die feindliche Haltung gegen die Eltern selbst eine Quelle des Straf-
bedürfnisses. Doch läßt uns eine Stelle des Tagebuches vermuten, daß sie nicht
die einzige ist:
Heut bei meinen Abendgang ist mir so vielerlei durch den Kopf gegangen. Mein
bisheriges Leben, wie konnte das Alles so kommen ...
Vor mir sah ich Dich, Du mein reizendes K...dorf. Ja das war etwas für den
Städter, der Landaufenthalt. ... Du hast mir manches gebracht, was für mich nachher
großen Schaden brachte. Da warst Du, Marthe, die Du auf dem Nachbarhof beschäftigt
warst, Du stramme ı8 jährige, die Du ein großes Vergnügen an mich gefunden hattest,
und mir ız jährigen Deine vollen Reize und den Wert und den Grund derselben
klar machtest. Lenchen hattest Du dann Dein Evangelium auch gepredigt, und da wir
beide alle Tage zusammen waren, zusammen gehütet hatten und auch schließlich
unter einem Dach schliefen, denn Du, Lenchen, warst ja die Tochter des Hauses, da
haben wir das, was man uns gelehrt hatte, auch ausgeführt. Das war aber die Wurzel,
die später immer mehr und mehr wucherte, bis ich in die Arm der Mädchen in
$...straße versaute. Oh Marthe, was hast Du damals für ein Unheil angerichtet,
in dem Du mir das Gift immer tropfenweise in mein Blut, in meine Adern ein-
geimpft hattest. Dir war es ein Vergnügen gewesen, einen unwissenden Menschen
Deine Reize bewundern zu sehen und ihn zu Dich hinabzuziehen. Dies, was ich bisher
nie einem, keinem einzigen Menschen anvertraut hatte und bisher als mein Geheimnis
bewahrt hatte, Euch, Ihr Blätter, vertraue ich es an. Denn es muß heraus. Hier liegt
der Keim zu meinem Unglück. Hernach kam eins ins andere, wie alles kommen
mußte. Natürlich hatte man dann bloß für mich Schläge und bittere Vorwürfe übrig,
dadurch wurde ich immer stiller, kapselte mich immer mehr zusammen. Und dann
sagt die Welt, der Mensch ist verstockt. Es hätte alles anders kommen können! Das
brauchte heute Alles nicht zu sein. Das ging mir heute Alles im Kopf rum.
Den Erwartungen der Psychoanalyse entspricht es, im Ödipuskomplex die
entscheidenden Antriebe des Schuldgefühls zu finden. Die „ohnmächtige Wut“,
die ihn allzuoft erfaßt, und das Bewußtsein des geheimen „Sexual-Verbrechens*
könnten sehr wohl die bewußten Repräsentanten für die verdrängten Ödipus-
Wünsche sein, die nach Bestrafung verlangen. Daher erleichtert sich seine innere
Situation, so wie er durch die Eltern, den Schutzaufsichtsbeamten oder den
Meister Lob, Anerkennung, „Verständnis“ oder sonst einen Liebesbeweis erhält,
weil ihm dies sagt: „Du bist geliebt, also brav, also schuldfrei.“ Hingegen wächst
seine innere Spannung ins Unerträgliche, wenn seine Umgebung etwas tut, das seine
Feindschaft vergrößert, so, als die Mutter ihm lange einen Brief schuldig blieb.
Von der Wirksamkeit wunscherfüllender Tendenzen beim Selbstmordversuch
verrät unser Material nichts bestimmtes. Wir sehen seine Sehnsucht „nach
Hause“, nach Ruhe, und wir wissen aus reicher psychoanalytischer Erfahrung,
daß solche Sehnsucht sich gelegentlich im Todeswunsch, in Todesphantasien und
Todessymbolen äußert. Auch die tiefste Einsicht, die die Psychoanalyse bisher
dem Selbstmordproblem abgewann, kann durch unser Material nicht erwiesen
werden, nämlich die, daß kaum ein Mensch sich selbst tötet, der nicht unbe-
wußt mit einem ehemaligen Liebesobjekt identifiziert ist, dem die Tötung
eigentlich zugedacht ist. Immerhin schreibt Fritz doch mancherlei, das den
Freud’schen Behauptungen Vertrauen schenken lehrt, So die Gleichsetzung, die
er im dritten Brief zwischen sich und dem Vater vornimmt. Doch vermögen
wir nicht, zu entscheiden, wem der unbewußte Haß von Fritz gilt. Sehr be-
zeichnend ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung über die Motive seines
Weiterlebens. „Heute war ich eigentlich erst wieder fähig nachdenken zu können.
Da sagte ich mir, Du bist Dir eigentlich zu schade, Dir wegen diese Menschen
sich hinzugeben. Denn die frohlocken womöglich noch darüber, was sie mit
ihrer Schickanierei erreicht haben. Dieser Gedanke verlieh mir sogar noch
einige Kraft, den Kampf ums Leben noch einmal aufzunehmen.“ Der Selbstmord-
versuch hat ihn zwar nicht getötet, wohl aber alle andern; sie sind ent-
wertet, nicht mehr vorhanden, es lohnt nicht mehr, ihretwegen zu sterben, sie
zu hassen, um ihretwillen Schuldgefühle zu haben.
*
Bringt uns Fritz auch keine Beweise für die psychoanalytische Auffassung
des Selbstmordes, so hilft er doch die wichtige praktische Frage zu entscheiden:
wie weit an Jugendselbstmorden die Umgebung, an Schülerselbstmorden die
Schule Mitschuld trägt. Daß Schule, Lehre, Fürsorgeanstalt usw. den Selbstmord
nicht verursachen, darf gerne zugestanden werden; seine Ursache liegt gewiß
in den frühkindlichen Triebbewältigungskonflikten und in dem melancholischen
Identifikationsvorgang. Ob aber nicht etwa die Erziehungsinsti-
tutionen durch ihre gegenwärtige Struktur geeignet sind,
die Konflikte zu steigern und unlösbar zu machen, das ist
keineswegs auszuschliessen.
Die Situation, in die Fritz geriet, in der er seinen Selbstmordversuch beschloß
und: unternahm, zeigt die unglückliche Verwicklung deutlich, die sein Seelen-
leben durch den pädagogischen Apparat erfuhr, in den er hineingestellt wurde.
Fritz findet sich von den Eltern und dem Jugendamt unter Zwang in ein
neues „Elternhaus“ versetzt, das als Lehre, an ihn sachliche Arbeitsforderungen
stellt, die seinen Idealen und seiner Selbsteinschätzung nicht entsprechen. Das
wäre nun wohl ein Grund, daß er die affektive Auseinandersetzung. mit seinen
Eltern verschärft, aber mit dem Lehrherrn auf der Ebene der Sachlichkeit ver-
kehrt. (Der Schmied selbst ist ein wohlwollender Lehrherr.) Fritz aber reagiert
völlig anders; er phantasiert sich ein Schicksal, einen Lehrherrn, eine Situation,
die seiner infantilen Situation. im Elternhaus entspricht.. Er haßt den Schmied
bewußt, wie er unbewußt die Eltern haßt,. und steht vor. der überaus schwierigen
Aufgabe, diesen Haß zu bewältigen. Dieser Übertragungsvorgang ist typisch und
= 301. —
stellt sich unter dem Druck neurotischer Entwicklung zwanghaft her. Aber die
reale Situation begünstigt die gefährliche Übertragung, in-
dem die Lehre auch eine Fülle von außersachlichen Forderungen stellt, ganz so,
wie sie früher von den Eltern ausgingen: Ordnung, Achtung, Folgsamkeit, Brav-
heit. Patriarchalische Disziplin wird von Ersatzeltern aufrecht erhalten, die nicht
einmal durch „Liebe“ alle die Verzichte, das Herabgedrücktwerden des jungen
Mannes in die Infantilität, kompensieren. Gewiß, hunderttausende von Lehrlingen
sind in gleicher Situation und ertragen sie schlecht und recht. Aber Fritz und
zahllose seinesgleichen scheitern an ihr. Inwiefern ist für Fritz die Feindseliskeit,
die er gegen den Lehrherrrn. hat, gefährlicher als für andere? Was das Schicksal
dieser Feindseligkeit ist, sehen wir deutlich: Er vergiftet Lehrherrn und Eltern
in seinem eigenen Tod mit. Andere „sublimieren“ den Gegenstand ihres Hasses,
den Lehrherrn, und bekämpfen in ihm den Kapitalismus; andere werden Erwachsene
und suchen bei Mädchen Objekte der sexuellen Liebe. Beide Wege der Bewältigung
aktueller Haßregungen sind Fritz verlegt. Die Mädchen sind wegen jenes frühen
Erlebnisses durch Schuldgefühl (und wohl auch anderer Sexualabwehr) verboten.
Der Versuch zur Sublimierung der Feindschaft erneuert und verstärkt den Haß
gegen die Eltern, die ihn zu einem verachteten Beruf verurteilt haben. Nach
allen Seiten ist Fritz die Möglichkeit genommen, seine Haßaffekte, seine Aggressions-
wünsche durch irgendeine Bindung an die Realität zu bewältigen. All sein Haß
könnte sich lediglich auf seine Eltern rückwenden, die ihn in diese Lage gebracht
haben. Eben dies tut er auch, aber indem sich diese Bahnen der Feindschaft neu
beleben, gerät er, was seine innere Situation angeht, völlig in die psychische Lage
seiner Kindheit, wo er die Feindschaft gegen die Eltern durch Identifikation und
Wendung des Hasses auf sich selbst bewältigen mußte, unter Entwicklung von
Schuldgefühl und Strafbedürfnis.
Von höchster Gefährlichkeit ist für solche Jugendliche:
ı) Jede Situation, in der sie aktuellen ohnmächtigen Haß
erleben müssen. Sowohl die Schule, als auch die Lehre in ihrer heutigen
Form aber üben vielfach autoritären patriarchalischen Zwang auf den Jugend-
lichen aus, gegen den er sich in nichts wehren darf, zur passiv-masochistischen
infantilen Haltung gezwungen.
2) Je ähnlicher die innere Struktur der Erziehungsinstitution der
Familie ist, um so empfindlicher wird der Zwang, der in ihr
herrscht, um so mehr entsteht Feindseligkeit, um so eher erweckt die Feind-
seligkeit Schuldgefühl und Strafbedürfnis und damit möglicherweise Selbstmord-
neigung.
Von größter Wichtigkeit ist also die Disziplinform!' in Schule, Lehre,
in jeder Stätte der Erziehung Jugendlicher. Selbstverständlich kann von einer
persönlichen Schuld der Lehrer, Erzieher, Lehrherrn, usw. an den Selbstmorden
ı) Näheres zu diesem Thema siehe in meinen Büchern: „Kinderheim Baumgarten“,
Berlin 1923 und „Die Schulgemeinden und ihre Funktion im Klassenkampf“, Berlin
1928: ferner in meinen Aufsätzen: Zeitschrift für Kindesforschung, ı927; Arbeiter-
wohlfahrt ı926, 1929.
— 362 —
nicht, oder nur in ganz vereinzelten Fällen gesprochen werden, aber die In-
stitutionen, in denen sie wirken, verurteilen sie dazu, Objekte ohnmächtiger
Feindseligkeit zu werden. Und so haben alle Beteiligten das dringende Interesse,
Institutionen gründlich zu verändern, deren Chance, Unheil zu bringen, so groß
ist, und in solche zu verwandeln, in denen zwar gelegentlich auch ein Selbst-
mord geschehen kann, in denen er sich aber nicht mit statistischer Sicher-
heit ereignen muß.
LUKRENUNININININAIUNAUAIILTUNTNNTNUNUNTUITIUIUNUIAININLUEIENEIUNLIUIIDIUDUUNLUNUKUNLLNIIIDUIEIUUTLEGN
Leben und Selbstmord eines Zwangsdiebes
Fin psychoanalytischer Beitrag zum Problem „Verbrechen und Strafe“
Von Hans Kalischer, Nordhausen
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Alfred K., Sohn eines Ingenieurs, war, als ältestes Kind von drei Geschwistern,
in der Großstadt geboren. Er besuchte bis zur Primareife ein dortiges Real-
gymnasium, auf dem man ihn als fleißigen und intelligenten Schüler schätzte.
Besondere seelische Eigenheiten sind bei ihm in der Kindheit nicht aufge-
fallen, auch seine Eltern und Geschwister sind geistig normal. Nur von dem
übermäßigen Ehrgeiz des Vaters weiß die Mutter zu berichten und von dem
Einfluß, den er in dieser Hinsicht auf seine Kinder ausübte.
Nach dem Tode des kränkelnden, aber energischen Vaters ging die Erziehung
in die Hände der körperlich und seelisch zarten Mutter über, die als Pastors-
tochter die sittenstrenge Überlieferung ihres Jugendmilieus etwas lebensfremd
und ängstlich hütete. Als der Vater starb, war K. ı6 Jahre alt. Ein Jahr später
verließ er die Schule, da sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der an und für
sich nicht wohlhabenden Familie durch den Verlust des Ernährers und die
sozialen Umschichtungen der Kriegs- und Nachkriegszeit änderten. K. ging als
Lehrling in ein Exportgeschäft, bereitete sich aber in Abendkursen freiwillig
weiter auf sein Abiturientenexamen vor, das er um die Zeit, als auch seine
Lehre zu Ende ging, mit Erfolg bestand. Bis dahin hatte er die Beziehung, zu
seinen früheren Schulkameraden aufrechterhalten. Über die darauf folgende Zeit
berichtet er selbst in einer kleinen Lebensskizze:
„Es trat dann eine seltsame Umwandlung in der Anlage meines Wesens ein. Die
Ursäche einerseits war eine tiefe Entfremdung mit dem schönen, geselligen Kreis
meiner Kameraden, dergestalt, daß ich mein damaliges Amt als erster Vorsitzender
des deutschnationalen Jugendbundes niederlegte, andererseits der Umstand, daß der
Umgang mit älteren Menschen der verschiedensten Gesellschaftsklassen seinen Einfluß
immer stärker geltend machte.
Meine ganze, ziemlich selbständige Entwicklung hatte mich allmählich aus dem
Rahmen des häuslichen Kreises hinausgedrängt, und ich war meinem komplizierten
Ich vollkommen selbst überlassen. Ich war der Großstadt überlassen, die für mich
ein immer größer werdendes Interesse gewann.
— 303 —
Zu all den innerlichen Unruhen und Kämpfen, einem starken Unbefriedigtsein in.
meiner Stellung kam der Streit mit meiner Mutter.
Meine Arbeitskraft erlahmte, da sie ihr Ziel nicht erkannte. Das Vakuum in mir
mußte irgendwie ausgefüllt werden; ich war bis dahin angefüllt gewesen mit Energien,
Ideen, hatte einen endlichen Lebenszweck gehabt. Nun stand ich einem Nichts gegen-
über. Da die gesamte Anlage meines Charakters das nicht zuläßt, füllte ich den
Leerraum mit Alkohol aus. Es war ein Gefühl innerlichen Zwanges, der jede Willens-
anforderung schon im Keime erstickte.
Ich kam viele Wochen hindurch jeden zweiten Tag betrunken nach Hause, Die
Folge davon war eine immer mehr zunehmende Vernachlässigung des inneren und
äußeren Menschen. Mein damals hohes Monatsgehalt — man schätzte meine Kraft
sehr im Geschäft — reichte nicht mehr aus, meine Bedürfnisse zu decken; ich beging
die ersten Diebstähle an meiner Mutter und Verwandten.
Ich wurde überführt, leugnete, und meine Mutter glaubte mir immer wieder. Ich
beging nunmehr auch Diebstähle im Geschäft. Ich wurde vollkommen haltlos und
erkrankte im Sommer sehr heftig an einer Lungenentzündung und Mittelohreiterung.
Während dieser Zeit trat eine Versöhnung mit meiner Mutter ein. Es wurde wieder
ruhiger in mir, aber die Großstadt und der Alkohol ließen mich doch nicht mehr los.
Ich fing das frühere Leben mit seinen Ausschweifungen wieder an. Im Vorherbst
desselben Jahres ergriff mich die Grippe, und als ich im Krankenhause lag, wurden
die Diebstähle im Geschäft aufgedeckt. Ich wurde fristlos entlassen.
Meine Mutter duldete mich nicht mehr in ihrem Hause; ich zog nach B. in ein
möbliertes Zimmer. In einer sehr verrufenen, sehr billigen Stadtgegend machte ich,
stets hungernd, auf der Suche nach irgendwelcher Arbeit, sehr bald die Bekannt-
schaften, die mich immer mehr in Konflikte führten.
Ich stahl dann, um mich mal wieder satt zu essen und zu trinken, einem zweiten
Mieter meiner Wirtin einen Pelzmantel. Ich wurde darauf verhaftet, und da ich
starrköpfig den Diebstahl leugnete, zwei Tage im Polizeipräsidium gefangen gehalten.
Es ist etwas Seltsames um dieses Leugnen; die Lüge wird in einem innerlichen
Prozeß, dessen Verlauf ich sogar physisch erlebe, zu einer Wahrheit, und diese
Wahrheit vertrete ich dann mit der größten Energie.
Nach meiner Entlassung hielt ich mich zwei Monate lang in einer vollkommenen
seelischen Ermüdung und zuweilen in furchtbarer Verzweiflung in den dunkelsten
Verbrecherspelunken auf, ohne einen Pfennig Geld, und hatte manchmal den Ta
über nichts weiter als das Stück trocken Brot, das man im Asyl für Obdachlose als
Nachtessen erhielt. Zweimal ging ich betteln, zermürbt vom Hunger und der starken
Kälte; ich habe mich aber während dieser Zeit nie an einem der Diebstähle, zu denen
ich sehr oft aufgefordert wurde, beteiligt.
Es gelang meiner Mutter, die mich dann wieder aufsuchte, nur mit größter Mühe
und nach einem langen Kampf, mich zu bewegen, dieses Milieu zu verlassen und
mich mit Fräulein ... (Fürsorgerin) zu unterhalten.
Ich hatte in meinem physischen und moralischen Elend einen tiefen Haß gegen
alles; ich verzweifelte an allem und wäre gewiß wieder von neuem fortgegangen,
wenn ich nicht körperlich zusammengebrochen wäre. Nach meiner Genesung blieh
ich noch bis zu dem Gerichtstermin zu Hause. Ich besuchte des öfteren in einem
Gefühl des Zwanges — seit jener Zeit haben mich die Nachtseiten des menschlichen
Lebens immer wieder mit einem schmerzlichen Magnetismus in ihren Bann gezogen
— dieses dunkle (Name der Stadt). Am... wurde ich dann zu drei Monaten Ge.
fängnis mit zweijähriger Bewährungsfrist verurteilt.“
Durch Vermittlung des Jugendamtes fand K. als Zwanzigjähriger in dem
hiesigen Jugendsanatorium Aufnahme, wo er mit Hilfsarbeiten verschiedener Art-
beschäftigt wurde. Er kam mit dem Vorsatz, durch Fleiß und freiwillige Dienst
leistungen seine Verfehlungen wieder gut zu machen und sich innerlich zu
festigen. Nachdem er sich einige Wochen zur Zufriedenheit der Anstaltsleitung
geführt hatte, begann der innere Antrieb nachzulassen. Er wechselte die Tätigkeit
und trat als Volontär in ein am Ort befindliches Geschäft ein. Das Interesse an
seinen beruflichen Aufgaben erlahmte bald, er sprach wieder stärker dem Alkohol
zu und empfand es als eine Rettung, als er Zugang zu einer neu gegründeten
politischen Jugendgruppe fand. Dort beteiligte er sich sehr aktiv an allen Unter-
nehmungen und wurde in den Vorstand gewählt. |
Durch seine Wirksamkeit in dieser Gruppe hatte er bald einen ausgedehnten
Bekanntenkreis und kam in Familien, die der Gruppe politisch nahestanden.
Durch das allgemeine Vertrauen geschützt, begann er Gelder aus der Vorstands-
kasse zu entwenden. Als man ihm auf die Spur gekommen war, wurde er still-
schweigend abgeschoben. Noch arbeitete K. in dem erwähnten Geschäft, nach
außen, wie immer, fleißig und zuverlässig, in Wahrheit aber zerknirscht und
mißgestimmt. In dieser Zeit verlockte ihn ein Hehler zum Warendiebstahl. Er
wurde angezeigt, verurteilt, durch Berufung des Mitangeklagten aber blieb das
Verfahren bis zur Entscheidung der zweiten Instanz noch in Schwebe.
Die darauffolgenden Monate war K. freiwilliger Zögling des Heimes. Er
wurde mit Garten- und häuslichen Notstandsarbeiten beschäftigt. Anhaltende
Verstimmungen und eine Reihe von weiteren Diebstählen in der Anstalt sind
die Folge. Allein oder gemeinsam mit haltlosen Zöglingen der ältesten Gruppe
gab er jedem Antrieb zum Stehlen immer offenkundiger nach, ohne sich durch
die Aufdeckung seiner Vergehen und freundliche Mahnungen abhalten zu lassen.
Obwohl er durch gehäufte Diebstähle Aufmerksamkeit und Verdacht des ganzen
Hauses auf sich gelenkt hatte, leugnete er auch bei nachgewiesener Schuld
trotzig, ja zynisch herausfordernd seine Täterschaft. Das Geld verschleuderte er
meist für Vergnügungen mit Freundinnen und Ausgänge, bei denen er sich
durch Alkoholgenuß zu betäuben suchte, was ihm selten gelang, da er nur noch
verstimmter heimkehrte.
In dieser Zeit machte ich zum ersten Male K.’s Bekanntschaft. Es war schwer,
den mißtrauisch Verschlossenen, hinter Selbst- und Weltverachtung Versteckten
zum Reden zu bewegen. Als das endlich geglückt war, wurden ihm die Stunden
der Aussprache zum Bedürfnis. Da ich ihm Schweigen und persönliche Neutralität
zugesichert hatte,. gab er mir so allmählich Einblicke in sein vergangenes und
gegenwärtiges Leben, ja er machte mich, wenn auch stets nach großem Wider-
streben, zum Mitwisser seiner Pläne oder Vergehen. Besonders häufig sprach
K. von seiner Mutter, klagte über den Schmerz, den er ihr durch sein verfehltes
Dasein zufüge, über die selbstverschuldete Trennung von ihr und wünschte
nichts sehnlicher, als sich ihr wieder zu nähern.
Diese gute Periode, während der er, wie gesagt, zeitweilig sogar mit einer
Stehlabsicht in das Geständnis flüchtete und so noch rechtzeitig Herr über sich
werden konnte, wurde durch seine nunmehr rechtskräftige Verurteilung zu vier
Monaten Gefängnis jäh unterbrochen. (Das Strafmaß war, trotz der Vorstrafe,
durch ein psychiatrisches Gutachten des Anstaltsleiters herabgesetzt.)
Zeitschrift f. psa. Päd., III/ıı/ı2/ı3 —- 365 _— an
Auf Fürsprache des Heimes hin durfte ich K. auch bei Verbüßung seiner
Strafe etwa alle acht Tage besuchen, so dal3 meine Beziehung zu ihm nicht
verloren ging, ja eher vertieft wurde.
Nach Ablauf der Gefängnishaft war K. wieder in Abständen für längere
Zeiten Gast des Heimes, wo er bei Gelegenheitsarbeit mithalf und einen Freitisch
genoß. Trotz dieser menschlichen und materiellen Hilfe, die ihm der leitende
Arzt mit Unterbrechungen über Jahre gewährte, war K.’s Einstellung zu ihm
eine ambivalente. Ein stark betontes Dankesgefühl konnte unvermittelt in ein
ablehnendes, inneres Gesperrtsein umschlagen.
Unterdessen war es mir gelungen, zwischen K. und seiner Mutter eine Ver-
söhnung anzubahnen. Sie traten wieder in Schriftwechsel miteinander. Später
hat K. sie mehrfach besucht, und auch die Mutter hat diesen Besuch einmal
erwidert.
Noch zweimal hat K. nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis in einem
festeren Arbeitsverhältnis gestanden. Zunächst war er während mehrerer Sommer-
monate als Hausdiener in einer großen Lungenheilstätte der näheren Umgebung
angestellt, später, nach einer längeren Pause, die er teils bei der Mutter, teils in
unserem Heim verbrachte, wurde er als Gehilfe in einer Papierwarenhandlung
angenommen. Dort hatte er sich durch Ausdauer und Tüchtigkeit bald eine
Vertrauensstellung erworben. Die Besitzer, ein kinderloses Ehepaar, behandelten
ihn wie einen eigenen Sohn, übertrugen ihm die verschiedensten geschäftlichen
Obliegenheiten, ließen ihn an ihren Mahlzeiten teilnehmen und planten sogar,
ihn später an ihrem Geschäft zu beteiligen. Da erfolgte wieder der unerwartete
Kückschlag. K. hatte, als er sich sicher fühlte, seine Stellung dazu benutzt, um
eine Reihe von Unterschlagungen zu begehen, die durch einen Zufall aufgedeckt
wurden. Er wurde zunächst fristlos entlassen, sein enttäuschter Arbeitgeber war
nur schwer zu bewegen, von einer Anklage abzusehen. K., den ich nach dieser
neuen Entgleisung aufsuchte, war zusammengebrochen Kr völlig verzweifelt,
er äußerte Selbstmordabsichten.
Um die gleiche Zeit erreichte ein Liebeserlebnis seinen Gipfelpunkt, dem
K. sich zügellos bis zur körperlichen und seelischen Erschöpfung hingab. Seine
Geliebte, Hilde, ein gefallsüchtiges, unbeständiges und sehr erregbares: Mädchen,
hatte ıhn in die Launen ihrer manisch gesteigerten Sinnlichkeit verstrickt. Er
war ihr hörig geworden, suchte die Treulose durch Geschenke, deren Kosten.
er ‚aus dem unterschlagenen Gelde bestritt, vergeblich zu fesseln. Sie lebte unter
dem Druck zerrütteter Familienverhältnisse, aus denen er sie zu befreien suchte,
In einem fast flehentlichen Briefe bat er mich, diesem Mädchen zu einer An-
stellung zu verhelfen, wobei er mit der Hoffnung auf deren Rettung den geheimen
Wunsch verband, durch einen so erzwungenen Ortswechsel der Geliebten von
ihr loszukommen. K. war nach fruchtlosem Kampfe tatsächlich erst dann in
der Lage, den Bann zu brechen, als das Mädchen auf Veranlassung der Eltern
zwangsweise die Stadt verlassen mujte.
Ein ähnliches, wenn auch weniger in die Tiefe gehendes Abenteuer hatte
K. übrigens schon früher im Heim. Auch dort fühlte er sich am eine junge
— 306. —
Hausangestellte, die er nur oberflächlich kannte, in dem Augenblick gebunden,
als er von ihrem „lasterhaften“ Lebenswandel hörte. Da sie sich im Dienst
untauglich zeigte und die Stellung aufgeben mußte, meinte er als Retter und
Bekehrer für sie eintreten zu müssen. Er wurde von mir noch wenige Tage
vor Antritt seiner Strafe dabei betroffen, wie er einen Diebstahl begehen wollte.
Seine Antwort auf meine Frage, was er mit dem Erlös der gestohlenen Sachen
anfangen wolle, lautete:
„ch wollte mehrere Flaschen Wein trinken. Ich hätte in Gedanken mit ihr zu-
sammen gesessen und mit ihr gemeinsam em Glas nach dem andern geleert, bevor
man mich ins Gefängnis steckt und ich abgeschnitten bin, von denen, die mir lieb
sind — — — ich habe unendliches Mitleid mit ihr, ich möchte ihr schreiben und
ihr meine Adresse geben.“
Der vorläufigen Erwähnung bedarf in diesem Zusammenhang noch eine Liebes-
gemeinschaft, die von der anfangs geschilderten leidenschaftlichen Neigung ab-
gelöst wurde. K. unterhielt vor und nach der Gefängnishaft erotische Beziehungen
zu einer Freundin, Elise, einem Mädchen, das in seiner Wesensart den bisher
dargestellten geradezu entgegengesetzt war. Ein stiller, anspruchsloser Mensch
von bravem und häuslichem Lebenswandel, der ihm in der steten Hoffnung
auf eine zukünftige Ehe, trotz vielfacher Enttäuschungen, — — K. hatte sie mit
hochstaplerischen Phantasien betrogen — — über die Haftzeit hinaus die Treue
hielt. K. erwiderte diese Neigung nicht in demselben Grade, aber doch so, daß
er sich gern von ihrer Sorgfalt und ihrem mütterlichen Beistand umgeben fühlte.
Besonders im Gefängnis war ihm das Bewußtsein von ihrer Anhänglichkeit ein
unentbehrlicher Trost, und er selbst trat nach seiner Entlassung dem Plan einer
Ehe mit ihr näher. Kaum aber erfuhr er später, dal3 die Freundin von ihm
schwanger war, da verließ er sie Jjäh und fluchtartig, äußerte Abscheu, über-
häufte sie hinter ihrem Rücken mit Verleumdungen und bestritt energisch seine
Vaterschaft.
Auf das Typische im Verlauf und in der Wahl dieser Verbindungen muß
in der folgenden psychologischen Untersuchung noch einmal näher eingegangen
werden. Jedenfalls genügte das zeitliche Zusammentreffen seiner Leidenschaft zu
Hilde mit den Vergehungen im Geschäft und die Entfernung des Mädchens,
um als greifbares Motiv der Rechtfertigung den Chef und dessen zur Nachsicht
sofort geneigte Frau zu versöhnen. K. wurde, wenn auch unter anderen Bedin-
gungen, wieder aufgenommen. Er wurde in den angegliederten Druckereibetrieb
versetzt, von der Kasse möglichst ferngehalten und sollte seine Schulden durch
unbezahlte Arbeitsleistung langsam abtragen. Ein und ein halbes Jahr harrte er
in dieser 'lätigkeit aus, fast ohne Veruntreuungen. Ein kleiner Zwischenfall
wurde von seiner Arbeitgeberin bemerkt und dem Gatten verschwiegen. Aller-
dings lebte K. seitdem immer zurückgezogener und einsamer, fühlte sich wegen
der zurückgehaltenen Arbeitsgelder ausgebeutet und kehrte sich in trotziger Auf-
lehnung von allem Umgang mit Menschen ab. Seine Selbstanklagen und pessi-
mistischen Äußerungen des Lebensüberdrusses wurden häufiger. Auch die Bezie-
hungen zum weiblichen Geschlecht nahmen ab, wurden oberflächlicher. Nur
= Mi — 22°
zuletzt, wenige Monate vor seinem unglücklichen Ende, hatte er neue Verbin-
dungen angeknüpft. Wieder war seine Wahl zwiespältig, mit schwärmerischer
Verehrung dem unberührten, mit schneller Heftigkeit dem moralisch leicht-
fertigen, offenbar auch geistig minderwertigen Mädchen zugewandt. Während
die erste trotz ihrer Jugend in ihm die Sehnsucht nach einer dauernden Lebens-
verbindung weckte und ihn, wie er angab, nur Gefühle gesellschaftlicher und
wirtschaftlicher Unzulänglichkeit vor einer ernsthaften Verfolgung dieses Zieles
zurückhielten, verführte ihn die zweite, und er sah sich bald abermals in die
Gefahr drohender väterlicher Verantwortung gezogen.
Von diesem Zeitpunkt an ging es mit K. noch sichtbarer abwärts. Die Briefe,
mit denen ihn seine „Braut“ verfolgte, nachdem sie ihm ihre Mutterschaft mit-
geteilt hatte, waren abwechselnd in einem bittenden oder anklagenden Tone
gehalten. Sie bat ihn um seine geldliche Unterstützung, drängte ihn zur Ehe-
schließung, oder sie drohte damit, „ins Wasser zu gehen”. Die widersprechende
Gefühlslage, in die er sich dadurch versetzt sah, verbarg K. vor sich und anderen
hinter zynischen und spöttelnden Redensarten. Dal er den Brutalen nur spielte,
um der inneren Erregung und Verzweiflung Herr zu werden, zeigte bald seine
plötzliche Abreise.
K. meldete sich im Geschäft krank, hinterließ jedoch an den Chef ein
Schreiben, in dem er sich einer letzten größeren Unterschlagung offen bezich-
tigte und diese mit der Notwendigkeit begründete, einem durch ihn ins Elend
geratenen Mädchen zu helfen. Gleichzeitig teilte er darin nach Worten des
Dankes und der Entschuldigung mit, daß er aus dem Leben gehen würde,
Einen ähnlichen Abschiedsbrief sandte er an den Leiter der Anstalt, in dem
er die feste Absicht, ja den Tag seines bevorstehenden Selbstmordes bekanntgab,
Seitdem blieb K. unseren Augen entschwunden. Alle Nachforschungen waren
vergeblich, bis wenige Tage später eine Zeitungsnotiz aus seiner Heimatstadt
die Ausführung seines unglücklichen Vorhabens bestätigte.
Wie sich später durch Umfragen herausstellte, hatte sich K. unterwegs mit
seiner letzten Geliebten, wie mit der jungen Freundin, getroffen. Der ersten
jung 5
händigte er einen Teil der mitgenommenen Geldsumme aus. Beide Mädchen
vermochten es nicht, ihn von der verzweifelten Idee abzudrängen, deren wehr-
loses Werkzeug er geworden war. Nach einem wilden zweitägigen Herumirren,
das ihn von der Großstadt schließlich in die Nähe des Vorortes, d.h.in die
nähere Umgebung der mütterlichen Wohnung führte, erschoß sich K. — er war
damals 26 Jahre alt — nach einer ratlos im Walde verbrachten Nacht. Das
Ende seines Lebens schildert der Zeitungsbericht wie folgt:
„In der W.strasse in . . . erregie heute morgen der geisteskranke Kaufmann K,
Aufsehen, weil er, mit einem Revolver umherfuchtelnd, den Passanten und den herbei-
eilenden Polizeibeamten zurief, daß er sich erschießen werde. Als ein Polizist ihm die
Waffe mit List entlocken wollte, setzte K. den Revolver an seine Schläfe und jagte
sich vor den Augen der überfüllten Straße eine Kugel in den Kopf. Er war sofort
tot. K. hat sich nachts im G. Forst herumgetrieben,“
— 308 —
I
Wir haben in groben Zügen die äußeren Ereignisse im Leben von Alfred K.
kennengelernt. Dem Eindruck erschütternder Zwangsläufigkeit im Ablauf dieses
Schicksals dürfte sich auch derjenige nur schwer entziehen, der nicht als jahre-
langer Zeuge den einzelnen Phasen des Geschehens persönlich folgen konnte.
Gerade wegen seiner Abgeschlossenheit scheint mir das dargestellte Leben über
seine individuelle Bedeutung hinaus ein allgemeineres Interesse der Psychoanalyse
beanspruchen zu dürfen, die ja immer mehr bestrebt ist, das Ganze einer
Persönlichkeit als Ergebnis ihrer besonderen Entwicklungsbedingungen zu begreifen
und auf diesem Wege auch die Grundlage der ins Kriminelle führenden Charakter-
fehlbildungen zu erfassen.
Das oben zitierte Bruchstück der Lebensskizze, in der K. selbst versuclıt, für
den Ursprung seiner Vergehen bestimmte Erlebnismotive aufzudecken, gibt uns die
ersten Anhaltspunkte. K. erwähnt dort mehrfach Zwistigkeiten und Spannungen
mit seiner Mutter. Er teilt mit, daß er auch die ersten Diebstähle an seiner
Mutter und Verwandten begangen hat. Allerdings bewertet er diesen Konflikt
mehr nebensächlich, gibt ihm den Rang einer Ursache unter anderen. „Zu all
den innerlichen Unruhen und Kämpfen... kam der Streit mit meiner Mutter“,
Seine Andeutungen allerdings über die seelische Grundstimmung, von der seiner
Meinung nach die eigentlichen Anstöße zu seinen Entgleisungen ausgingen, bleiben
inhaltlich dunkel und verschwommen. K. spricht von einem „Vakuum“, einem
_Leerraum“, den er hätte ausfüllen müssen, nachdem ihm der „endliche Lebens-
zweck“ verloren gegangen sei. Er begründet das Erlahmen seiner Arbeitskraft
damit, daß „sie ihr Ziel nicht erkannte“. Er versucht sich vergeblich in pseudo-
psychologischen Erklärungen, wie denen, daß ihn seine „ganze ziemlich selb-
ständige Entwicklung . . . allmählich aus dem Rahmen des häuslichen Kreises
hinausgedrängt“ hätte, und er nun seinem „komplizierten Ich vollkommen selbst
überlassen“ gewesen wäre. Auch die verschiedentlichen Hinweise darauf, daß er
_ unter einem innerlichen Zwange gehandelt hätte, können uns hier als Erklärung
nicht befriedigen, da dem Schreiber wie uns selbst, die konkreteren Anläße zu
diesen Zwangsgefühlen vorenthalten bleiben.
Berücksichtigen wir dagegen die Auffassung und Erfahrung der Psycho-
analyse, so werden wir über die inhaltlich unzureichende Selbstschilderung und
das mangelhafte Ergebnis unserer darauf fußenden Untersuchung nicht sonderlich
erstaunt sein. Da es sich ja bei der erwähnten Skizze um eine mehr oder minder
der Selbstrechtfertigung dienende Reflexion handelt, die noch dazu durch die
schriftliche Fixierung einer besonderen Kritik der Bewußtseinsinstanzen aus-
gesetzt war, ist von ihr eine Aufhellung der tieferen Ursächlichkeiten nicht zu
erwarten. Ein wirkliches Eindringen in die kausal wesentliche Erlebnissphäre
des Triebgeschehens ist eben nur durch eine möglichst ausgiebige Heranziehung
derjenigen seelischen Leistungen zu erhoffen, die weniger vom Gedanken an-
gekränkelt sind, d.h. mehr von ihren unbewußten Entstehungsgründen erraten
— 369 —
lassen. Eine willkommene Annäherung an sie dürfte uns dabei das Traumleben
gewähren.
K. hat mir im Laufe der Zeit eine Reihe von Träumen mitgeteilt und diese,
sei es im Gespräch, sei es durch seine Gefängnis-Aufzeichnungen (im folgenden
als G. A. bezeichnet) ergänzt. Bei der Wiedergabe werden die Träume vor und
während der Haft chronologisch voneinander getrennt gebracht werden.
Träume
Traum 1: K. fühlt, wie ihm die Glieder nacheinander unbeweglich werden. Dann ist jede
eigene Kraft ausgeschaltet. Er fängt an zu fallen, immer mehr und immer schneller durch den
Raum. Ihm ist dabei ebenso wohl wie elend zu Mute.
Ergänzungen: Vorstellungen dieser und ähnlicher Art sind bei K. häufig im
Schlaf oder im Halbschlaf aufgetreten. Ein Fallen, ein Schweben im Weltraum mit
lahmwerdenden, unbeweglichen Gliedmaßen sind bei K immer wieder anzutreffen,
und zwar besonders in Zuständen körperlicher und seelischer Ermattung, wobei einmal
das Gefühl von Angst und Ohnmacht, ein anderes Mal das Beglücktsein überwiegt,
Meist wechseln beide miteinander ab.
Traum 2: X. träumt, wie sich die von ihm ausgehobene Erdgrube in die Grabstätte seines
Vaters verwandelt.
K. ist während dieser Zeit täglich mit Erdarbeiten im Garten beschäftigt. Am
Abend vor dem Traum hat K. in der Dämmerstunde, während er sich auf seinem
Zimmer ausruht, bereits eine den Traum vorbereitende Erinnerung, deren Deutlichkeit
allmählich halluzinatorischen Charakter annimmt. Er erlebt im Geiste noch einmal
die Beerdigung eines in der Anstalt verstorbenen Knaben. Er sieht, wie der Sarg die
Straße hinuntergetragen wird — aber in dem Sarge liegt nicht mehr jener Knabe,
sondern K.s Vater. K. folgt dem Trauerzuge. Eine heftige Depression überfällt ihn,
er fühlt sich allein und einsam, und um dieser quälenden Vision zu entgehen, verläßt er
in großer Unruhe das Haus. Er irrt in dem nahen Park umher und kommt erst spät
nach Hause. Unterwegs tritt die Sterbeszene in allen Einzelheiten in sein Gedächtnis.
Iraum 3: Ein Kanal mit trübem schlammigen Wasser. Steile abschüssige Ufer, Von dem
einen zum andern führt eine Brücke, Auf zwei holprigen, an das Ufer gelehnten Leitern sitzen
Frl. R. und eine andere junge Angestellte. Beide ohne Schuhe, Strümpfe und Unterkleidung.
Der kleine N,, Pflegling der R., ist in Gefahr, während eines Anfalles zu ertrinken. Eine dritte
weibliche Erscheinung, der K. gefolgt ist, die er nur von hinten sehen und darum nicht erken-
nen kann, stürzt sich in voller Kleidung ins Wasser, um das Kind zu retten. Dagegen sträubt
sich K. ebenso sehr, wie gegen einen Rettungsversuch durch die R, Lieber ein so schwerkrankes
Kind ertrinken lassen, denkt er, als die nur leichtkranke R. oder die andere Dame. K. will die
Frauen retten und hangelt zu diesem Zweck an einer dritten Leiter, die keine Sprossen besitzt
bis zum Rande des Wassers. Dann Erwachen. Das Kind ist zweimal in den Kanal gestürzt
und zweimal gerettet worden. | |
Ergänzungen: Frl. R. ist eine junge Aushilfskraft des Heimes, die unter leichten
epilepsieähnlichen Anfällen leidet. N. ıst ihr Schutzbefohlener, ein enzephalitisches
Kind. Ein Zögling derjenigen Gruppe, mit der K. in Fühlung steht, hat sich den
Scherz erlaubt, der R. die Haare durch das Bewerfen mit Kletten zu zerzausen,
K. springt hinzu, hilft bei dem Entfernen der Kletten aus dem Haar und hat, wie
ihm später bewußt wird, bei dieser Hilfsaktion erotische Sensationen.
Traum 4: (G.4A.) „Ich bin in W.; an der Ecke der ... straße, die zum Grabe meines
Vaters führt, ist ein Geschäft. Die Inhaber sind uns bekannt. Die Tochter war eine Schul-
kameradin. Ich gehe in das Geschäft, um einen neuen Streifen für meine Schülermütze zu kaufen,
Die Tochter sucht in den Regalen, findet nichts, da bitte ich, mich nachsehen zu lassen; ich
finde es nach langem, gewolltem Suchen, nachdem ich so und soviel anderes, darunter eine
Sicherheitsnadel gestohlen und heimlich in die Tasche gesteckt habe. Es ist alles wertloses Zeug,
aber ich stand unter einem starken Zwang.“
Traum 5: (G. A.) „Wieder W. Eine lange Chaussee, als Schüler jeden Tag darauf zur
Schule gegangen; eine Ecke ist stockfinster; ich komme von der Schule aus in einem riesigen
Lastauto nach Hause gesaust. Ich bin allein auf dem Auto; an der Ecke muß ıch halten. Ich
verstehe nicht mit dem Wagen umzugehen, es geht aber endlich langsamer, dadurch, daß ich an
der Ecke immer wende und wieder wende. Ich fahre endlich mit Hilfe eines Menschen, der
irgendwie ‚mit einem Male da ist, die Räder gegen die Bordschwelle, und das riesige Auto steht.
Die Dunkelheit ist jetzt durch seltsames Fackellicht erhellt, und viele Menschen — es sind meist
junge Mädchen — stehen um das Auto. Mein Kopf ist wirr und müde. Ich halte mich an
einem der Mädchen fest und .... . das sage ich Herrn ... . . mündlich.“
Ergänzungen: Beide Träume gehören in den Verlauf derselben Nacht. W. ist
der Vorstadtteil, in dem sich auch heute noch die elterliche Wohnung befindet. Die
letzte Andeutung bezieht sich auf eine sexuelle Entladung während des Traumes.
Traum 6: (G. A.) „Ich sehe meinen Vater vor mir, wie er tot im Bett liegt, und meine
Mutter schaut mich an mit Augen, die so gut und so traurig sind. Ich heule in tiefem Schmerz.“
Ergänzungen (im Anschluß an den Traum aufgezeichnet): „. . . doch die Nacht
heute; wenn das so weiter geht, bin ich in einer Woche verrückt. — Neben starken
physischen Schmerzen diese entsetzlichen Träume. — Nicht einen Augenblick habe
ich geschlafen“. — (Am Tage darauf) „Es fängt schon an; ich habe diese letzte Nacht
überhaupt nicht geschlafen. Ich habe gebetet und gefleht um Ruhe in mir. Nun sitze
ich hier im Morgengrauen und warte auf Herrn .. .„, auf ein gutes Wort.“
Traum 7: „Ich bin in W.; auf dem Dache des Hauses. Meine Tante, die ich immer lieb
hatte, und der ich auch großen Kummer bereitet hatte, ist mit ihrem Kind (sie hat keines, kann
nie eins haben) und meiner Mutter auch da; wir sitzen auf einer Art Balkon. Sie ist sehr froh,
weil ich so gesund wieder da bin, zu Hause, bei meiner kleinen Mutter, die ich so ganz deutlich
vor mir sehe — auf dem Balkon des gegenüberliegenden Hauses steht ein junges Paar in der
schönen Abendsonne (ich habe im Traum das Gefühl: es ist Elise und ich); es rührt mich sehr
heftig. Nach allerhand Geplauder will ich hinuntergehen. Ich muß seltsamerweise dabei. eine
Leiter hinunter: ich bleibe dabei hängen mit dem Mantel und stürze herab, breche mir beide
Beine.“ — — — „Wache auf und liege in Bett mit dem Gefühl, daß ich beide Beine in
Gips habe; ich kann mich nicht rühren und dennoch habe ich ein Gefühl von Wollust. Gott
sei Dank, nun kommst du von hier wohl ins Krankenhaus !“
Ergänzungen: Die Tante des Traumes ist die Schwester von K.s Mutter. Auch
sie hat K. früher einmal bestohlen. Sie steht ihm neben der Mutter unter den Ange-
hörigen mit am nächsten. Elise ist mit der in der Lebensgeschichte (s. dort) erwähnten
Freundin identisch, die ihm während der Haft treu bleibt und von ihm später ver-
lassen wird.
Traum 8: (G. A.) „Ich gehe spazieren. Ein Geschäft „Herrenartikel“ ladet mich zum
Eintritt. Eine Frau kommt erst nach langer Zeit, wo ich mir alles betrachtet habe; ich fordere
etwas (weiß nicht mehr was). Die Frau geht nach hinten, bleibt sehr lange, ich beschaue wieder
alles. Liegt da eine Krawatte, und wie eine Welle, die mich ganz überflutet (das spüre ich
deutlich im Traum) überkommt mich das Gefühl: das nimm! Ich tue es mechanisch, ganz
willenlos und fühle mein Herz gewaltig schlagen. Es kommt immer noch keiner, Ich nehme auch
einen großen Sporthut und stecke ihn in die Tasche; dann lege ich den Hut nach hartem inneren
Kampf wieder an seinen Ort zurück; habe ein Gefühl der größten Befreiung, die Krawatte
stecke ich aber in das Ohr (ich habe an dem Abend die heftigsten Zahn- und Öhrenschmerzen
nn —
gehabt). Es kommt noch keiner wieder; ich freue mich, daß man soviel Vertrauen in mich
setzt und beschaue mir Gläser, Schnapsgläser usw., habe dabei auch den Gedanken, ein besonders
hübsches zu stehlen, weise ihn aber mit großem Unmut zurück.
Da kommt ein Mann herein, und sagt, er sel Kriminalpolizist, ich hätte gestohlen hier und
solle mitkommen. Jetzt kommt auch die Frau des Ladens, weint und bejaht das. Ich gehe mit,
ich bin ruhig, ich denke, die Krawatte im Ohr wird man nicht finden, und du hast nichts
getan.
Auf der Wache Untersuchung, man findet in meiner Manteltasche einen Staubkamm (weiß
Galalith), ich bin überrascht, ich weiß nichts davon, daß ich ihn gestohlen habe. Man steckt
mich ein. Diebstahl. Läßt mich am nächsten Tage aber wieder los. — Ich komme nach Hause,
trete in die Stube, mein Vater sitzt da. Er sieht mich an, ein unbeschreibliches Sehen! Dann
fährt er mich an, steht auf und will sich mit mir schlagen. Er ist krank, er zittert, und ich
sage ihm, daß ich ihn mit einem Schlage niederhauen kann. Es ist kein Mitleid, nur Trotz in
mir. Da wache ich auf, erschreckt, sehr erregt.“
Ergänzungen: Es ergab sich später die Gelegenheit, mit K. ausführlicher über
das Erlebnis dieses Traumes zu sprechen. Dabei machte K. zu einzelnen Elementen
seiner Traumphantasie Äußerungen, die den Wert von Einfällen gewinnen. Ich gebe
sie nach meinen damaligen unmittelbaren Aufzeichnungen wieder:
Krawatte im Ohr: Früher hat mich mal ein Mädchen ins Ohr geküßt. Wenn ich
offen bin, erst jüngst einmal wieder in $.. Ins Ohr küssen ist etwas Sexuelles. Es
ist ähnlich wie das, was der Mann mit der Frau tut.
Das nimm: So mit denselben Worten denke ich immer, wenn mir ein Mädchen
gefällt. |
Die Frau des Ladens: Die Wirtin, bei der ich den Pelz gestohlen habe — so
war auch meine Mutter wenn ich etwas getan hatte; sie weinte und hatte Angst vor
mir. Manchmal machte ich ihr Angst — damals als ich mit dem Revolver in die
Decke schoß. K. schildert dann die Zeit, als er seiner Diebstähle wegen von der
Mutter nicht mehr in die Wohnung gelassen wurde, und wie er einmal in trotziger
Aufwallung, um sie einzuschüchtern, einen Schreckschuß abgegeben hatte.
Der Staubkamm aus Galalith: Die Totenhand meines Vaters hatte eine ganz
ähnliche Farbe. |
Das Sehen des Vaters: So sah mich mein Vater an, wenn ich spät heimkam.
‚ Ich. hatte häufig das Gefühl, daß ich der physisch Stärkere war und ich ihn hätte
niederschlagen können.
Weiter schließen sich dann Erinnerungen, Kindheits- und Jugendeindrücke an,
die er zu Lebzeiten des Vaters empfangen hatte. Der Vater hielt ihn streng, Ein
spätes Nachhausekommen, das den damals noch unbegründeten Verdacht erregte,
K. hätte sich in irgendwelche verbotenen Beziehungen eingelassen, wurde vom Vater
mit mehrtägigem Hausarrest bestraft. Andererseits berichtet K. von Waldspaziergängen
mit dem Vater, bei denen K. regelmäßig abseits gehen mußte, während er beobachtete,
wie der Vater mit eindringlicher Neugier das Liebesleben der Pärchen belauschte,
Derartige Spaziergänge wiederholte dann K. auf eigene Faust und findet einmal dabei
ein Kondom auf der Erde, das er als eine Art Pilz ansieht. Er zeigt seinen Fund in
der Klasse und wird unter schallendem Gelächter und Spott von seinen Mitschülern
aufgeklärt. Wie tief die Spuren dieser widerspruchsvollen Erlebnisse sich ihm einge-
prägt haben, zeigen u. a. auch folgende Notizen (G. A.):
„». . Ich fühle es als eine Notwendigkeit, darüber zu reden, denn ich muß
mein Ich, das durch allerhand unkeusche Dinge gefesselt war, wieder aufrichten
und zu sich selbst kommen lassen. Ich muß es tun, denn es ist so ekelhaft und
peinigend, so ganz in seinen Träumen! wieder auf jene dunklen Wege geführt zu
ı) Gemeint sind hier Tagträume während der Gefängniszeit.
— 372 —
werden, die ich mal gehen mußte in einer vielleicht äußeren Schicksalsmäßigkeit.
— Doch das mündlich. Wissen Sie, auch in diesen Träumen fühle ich, wie ich
hineingezogen werde; das Ziehen empfinde ich dabei sogar beinahe körperlich...
die Waldspaziergänge — die Straßenspaziergänge sind die Wurzeln dieser Triebe... .“
x
Wenn es auch nicht möglich ist, die einzelnen Träume ohne weitere Anhalts-
punkte einer sachgemäßen Analyse zu unterziehen, so eröffnen sie doch in ihrer
Gesamtheit Perspektiven, die wir der Auswertung des Bewußtseinsmaterials allein
niemals hätten abgewinnen können. Dabei ist es für die Psychoanalyse nicht
überraschend, daß die Erlebnisse, die K.’s Traumphantasien darstellen, oder auf
die sie latent anspielen, vorwiegend in der zeitlich entrückten Ebene der
Kindheit und Jugend ihren Platz haben. Zu beachten bleibt, wie die aktuelle
seelische Inanspruchnahme durch die Haft den Durchbruch der infantilen Er-
lebnisquellen in den Traum nicht einzudämmen, sondern eher zu begünstigen
scheint. !
Was an dem Inhalt der Träume auffällt, ist zunächst dies: Wohl ist K.s
Vater, der in der Lebensskizze nur oberflächlich erwähnt wird, seit Jahren
gestorben, aber in seiner Seele hat K. von diesem Tode nur unvollkommen
Kenntnis genommen. Der Verstorbene und dessen Sterben selbst beschäftigt ihn
noch wie ein Lebender. K. wiederholt unter Schmerzen und Trauergefühlen
alle Einzelheiten der Sterbe- und Bestattungsszene, er fühlt sich dadurch gequält
und geängstigt (vgl. die Vision und Traum 2, 6, 8). Traum 8, der auch über
manchen anderen Zusammenhang Aufschlul3 zu geben geeignet scheint, zeigt
deutlicher, welche unbewußten Beziehungen K. mit dem Ende des Vaters so
nachhaltig verbinden. Es ist, als hätten die darin auftauchenden, aber durch
rechtzeitiges Erwachen in ihren äußersten Folgen unausgeführten Aggressions-
wünsche nun doch in der Phantasie die abgewehrte Verknüpfung erfahren. Die
starken feindseligen Erregungen, die wohl infolge der Waldspaziergänge mit
ihren abrupten Enthüllungen und der hierzu in Widerspruch stehenden „Strenge“
des. Vaters besonders mächtig an die Oberfläche drängten, haben wohl, wie wir
annehmen können, eine seelische Situation vorbereitet, die nach dem wirklichen
Tode des Vaters in heftige Schuldgefühle umschlagen mußte. Für das Unbewußte
von K. ist eben das Sterben des Vaters kein einfaches natürliches Geschehen,
mit dem man sich abfinden muß, sondern eine durch heimliche Todeswünsche
bewirkte Freveltat. Die Vermutung, daß diese Vernichtungsabsichten noch
spezieller kastrativen Charakter haben könnten, — man denke an das symbol-
hafte Fortnehmen der „Herrenartikel“, des Hutes, der Krawatte und des Staub-
kammes, der ja mit der Hand des Vaters verglichen wird, — bleibe aus Mangel
an weiterem beweiskräftisem Einfallsmaterial beiseitegestellt.
Andererseits dürften wir kaum fehlgehen, wenn uns die von der Psycho-
analyse auf Grund reicher Erfahrungen gemachte Annahme, daß deratige Todes-
wünsche in den Rivalitätskämpfen des Oedipusstreites ihren Ursprung besitzen,
ebenso für den vorliegenden Fall berechtigt zu sein scheint. Auch hierfür liefern,
allerdings weniger offenkundig, die mitgeteilten Träume einige Anhaltspunkte.
— Bi
Mehr oder minder direkt tritt die Mutter in den Träumen 8 und 7 auf. Die
Frau des Ladens wird auf dem Umweg über die Wirtin, bei der K. den Pelz-
diebstahl verübte, ausdrücklich mit der Mutter verglichen, und in der seltsamen
Wiedersehensszene wird der Anblick „der kleinen Mutter“, „die ich so ganz
deutlich vor mir sehe“, besonders hervorgehoben. Aber diese Stützpunkte reichen
nicht aus, um darauf eine so weit tragende Vermutung zu begründen. Wir
müssen vielmehr zunächst die Traumphantasien verlassen, um unseren Eindruck
an anderen mündlichen und schriftlichen Angaben, ja an der ganzen sonstigen
Lebenshaltung von K. weiter nachzuprüfen.,
Bei näherem Zusehen kann es nicht verborgen bleiben, daß bestimmte
Schwankungen und Unentschiedenheiten, die K.’s Wahl seiner Freundinnen und
Geliebten kennzeichnen, indem er sich in einer gewissen regelmäßigen Wieder-
kehr einmal dem haltlosen und dirnenhaften Frauentypus zuwendet, ein anderes
Mal dagegen Schutz und Sicherheit in einer Treue und Lebensdauer versprechen-
den Liebe sucht, meist aber zwischen beiden hin und her gerissen wird. K. ist
also nicht in der Lage, mit der ganzen Persönlichkeit seine Liebeswahl zu
treffen und sich mit der geliebten Person uneingeschränkt zu verbinden. Dieser
für das menschliche Liebesleben überhaupt in gewissen Grenzen allgemeingültige,
aus den Besonderheiten der Sexualentwicklung! erklärbare Zug zeigt aber bei
K. eine Verstärkung, die über das normale Maß hinausgeht. Die dem Dirnen-
typus entsprechenden Freundinnen (Hilde, die entlassene Hausangestellte und
die letzte Geliebte) reizen ihn zu einer Überschätzung, die durch die realen
Objekte selbst nicht genügend gerechtfertigt erscheint. Einige sehr charakteristische
Bemerkungen seiner Aufzeichnungen (G. A.) geben dafür ein weiteres Beispiel.
Es heißt dort bei der Schilderung seiner Tagesphantasien u. a.:
„Dann auf einmal... (Geburtsort); ich suche die Frau, die schönste, Jetzt nicht
mehr seelisch und körperlich schönste, sondern nur die körperlichste. Wie im Fieber
überkommt es mich, ich suche sie natürlich unter der Prostitution. Erst im T.-Viertel,
dann in der...stadt, in Bars und auf Bällen. Ich habe eine unglaubliche Phantasie
dabei, es ist das so deutlich und klar, als wenn ich es wirklich erlebe. Viele Frauen
sehe ich und habe ich. Nichts befriedigt mich. Und dann suche ich sie im Gefängnis
als Frauenarzt, — ich bin es mit einemmal geworden, — finde sie in dem Frauen-
gefängnis in B., wohin die Prostituierten bei einem Vergehen gegen das Reglement
gebracht werden. Eine königliche Gestalt, Ich stehe vor ihr in ihrer Zelle, und das
Bild berauscht mich und quält mich zu gleicher Zeit. Sie ist götterschön und seelisch
tief, tief unten. ... . ich habe Macht, ich befreie sie unter der Bedingung, daß sie
mir einen Monat diene, natürlich in Luxus und Wohlleben. Sie wird zu mir kommen,
das ist ein berauschender Gedanke. ... Und dann komme ich zu mir, erschrocken,
gedemütigt, ich schwitze am ganzen Körper und frage, woher kommt das. .. . Ich
marschiere auf und ab und denke nach und werde mit nichts fertig. Ich fühle
instinktiv, daß all das die größte Gefahr in mir ist, dieser Trieb nach Macht und
nach einer solchen Frau“,
Freud macht darauf aufmerksam,’ daß die Liebesbedingung der Dirnenhaftigkeit
ı) Freud, Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens. Über die allgemeinste
Erniedrigung des Liebeslebens. Gesammelte Schriften, Band V.
2) Freud, Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens. Über einen besonderen Typus
der Objektwahl beim Manne. Ges. Schriften, Bd. V. |
BR: n,” BR
einen Niederschlag jener Empfindungen darstellt, mit denen der Jugendliche auf
die ersten näheren Erfahrungen von dem ehelichen Zusammenleben seiner Eltern
reagiert. Je heftiger dabei durch die unvorbereitete und brutale Art der Mit-
teilung die Erschütterung der elterlichen Autorität war, umso größer wird nach
Freud die mit Grausen gemischte Sehnsucht sein, in der Dirne, gerade wegen
der Häßlichkeit und Verrufenheit ihrer Geschlechtsbetätigung, einen Ersatz für
die im gleichen Sinne herabgewertete Mutter zu finden. Unter welchen Wirkungen
im Falle K. jene „Aufklärung“ vor sich ging, ist bereits oben gezeigt worden.
So werden wir also schon sozusagen von der negativen Seite her auf K.s stark
entwickelte Mutterbindung gewiesen.
Mit diesen auf die Dirne als erniedrigtes Mutterabbild gerichteten Wünschen
verbinden sich häufig Phantasien, die eine „Rettung“ des gefährdeten Liebes-
objektes zum Inhalt haben. In der schon mehrfach erwähnten Arbeit zeigt Freud
nach Klarlesung des Bedeutungswandels, den das „Rettungsmotiv* von einem
Symbol der Geburt bis zu dem des Kinder-Schenkens durchgemacht hat, wie
Phantasien dieser Art letzten Endes zu einem Ausdruck der unbewußt gewünschten
inzestuösen Gemeinschaft des Sohnes mit der Mutter werden können. In diesen
Sinnzusammenhang könnte man vielleicht den Traum z einreihen. Auf seine
versteckten sexuellen Empfindungen weist — wenn man von. deutlichen sexual-
symbolischen Anspielungen wie: drei halbbekleidete Frauen, drei Leitern, das
Hangeln an der einen etc. absehen will — der auf die Pflegerin R. bezügliche
Einfall. Immerhin wäre es gewagt, bei so spärlichem Deutungsmaterial die latenten
Traumgedanken weiter in der angegebenen Richtung vervollständigen zu wollen.
Daß Rettungsphantasien, und zwar gerade im Zusammenhang mit der zwanghaften
Bevorzugung der Dirne in K,s Liebesleben eine beträchtliche Rolle spielen, zeigt
sein Verhalten bei der Entlassung jener „lasterhaften“ Hausangestellten, zeigen
an mich gerichtete Briefe, in denen er meine Unterstützung und Hilfe bei einer
geeigneten Unterbringung seiner haltlosen Hilde erbittet:
„Nehmen Sie die Sache sehr ernst, denn ich habe das Mädel wirklich sehr lieb.
Ich habe darüber nachgedacht, es ist immer dieselbe Sache, ein Lied, das immer
denselben Kehrreim haben wird. Ich habe und muß sie gern haben, weil sie so ein
armes zerrissenes Menschenkind ist und in den Verhältnissen ihres Zuhause kaput gehen
wird.... Sie muß raus; darf ich hoffen, daß Sie bald, recht bald Hilde irgendwohin
bringen werden „. .“ | |
Konnte man aus dieser charakteristischen Gefühlsäußerung unter Zugrunde-
legung der Freudschen Annahme nur auf Umwegen K.s komplexhafte Bindung
an die Mutter erschließen, so werden wir doch auch direkt durch die Beachtung
des erotischen Gegenspieles in unserer Vermutung bestärkt. Der Wert eines
Liebesobjektes ist, wie erwähnt, für K. dann herabgesetzt oder ganz aufgehoben,
wenn die sexuellen Beziehungen natürliche Folgen in Aussicht stellen. So ver-
schließt er sich plötzlich mit überraschender Härte gegen Elise, als sie ein Kind
von ihm erwartet, während er noch vorher im Gefängnis über sie schreibt:
».. . Ich beschäftige mich ganz stark in Gedanken mit Elise; insbesondere male
ich mir immer und immer wieder das Wiedersehen mit ihr aus. Ich hänge sehr an
ihr, weil alle Strömungen der Liebe und Zärtlichkeit sich ın ihr vereinigt haben“.
— 35 —
(Oder im Hinblick auf seine Zukunft:) „Das größere Teil der Hilfe muß eine Mutter
oder ein Mädchen sein“. (Zu dieser Zeit hatte die Versöhnung mit der Mutter noch
nicht stattgefunden.)
Zur Erklärung des Umschwunges dürfen wir den Traum 7 heranziehen. In
ihm tritt ja nicht nur die Mutter selbst auf, sondern sie wird in einer Parallel-
szene durch Elise gleichsam abgelöst. Was ferner der Traum von der Mutter
auszusprechen verbietet, sagt er von der Tante, die K. „immer lieb hatte“, und
der er „auch“ großen Kummer bereitet hat. Ein Vergleich, der sie zur Mutter-
Imago macht. Er sieht diese Tante mit ihrem Kinde. „Sie hat keines, kann nie
eins haben,“ fügt er wie entschuldigend hinzu. Der Weg, den K.s Liebe auf
unbewußten Spuren von der mütterlichen Freundin Elise über die Tante zur
Mutter hier zurückgeht, führt in die greifbare Nähe unterdrückter Inzestwünsche
und macht bei der pathologisch gesteigerten, entwicklungsbedinsten Spaltung
seines Liebesempfindens, K.s schockartige Ablehnung des so gezeugten Kindes
verständlich. Die Liebe zu Elise hat eben den trümmerhaften Rest einstiser An-
betung und Verehrung, die dem Mutteridol vor der Aufklärungskatastrophe galt,
auf sich gezogen und ist durch diese unbewußte Belastung sofort in Vernichtungs-
gefahr, sobald sie die verbotenen Wünsche (Kinderzeugung) zu erfüllen droht.
Den stärksten und unmittelbarsten Ausdruck aber für seine zurückgedrängten
inzestuösen Liebesimpulse findet K., einen Tag vor seinem freiwilligen Tode, in
menschlich ergreifenden Abschiedsworten, deren Wärme zu seiner im Alltags-
leben zynisch kühlen Redeweise den eindringlichsten Gegensatz bildet:
„Mein liebes, liebes Mütterchen!
Verstehe mich und verzeihe mir in Deiner Güte, wie Du es bisher immer
tatest. — Glaube mir, Mütterchen, es ist das Rechte und gönne mir nach dem Kampfe,
den ich mit mir selbst gekämpft habe bis zum letzten Atemzuge, die endliche glück-
liche Ruhe. Mein Blut hat so den Todeskeim in sich, und ich bin so todmüde von
dem, was mich noch im Leben erwarten sollte, daß ich letzte Energie noch einmal
finden will im Schluß. Mütterchen, sieh, wie glücklich mich dieser Gedanke macht,
sieh, welche Sehnsucht ich habe nach Ruhe, und sei tapfer und nimm es hin. Mein
letzter Wunsch und meine letzte Zärtlichkeit sind bei Dir, und ich weiß, ich fühle
es, Du verzeihst mir, weil Du meine liebe, liebe kleine Mutter bist. Grüß mir den
Karl und unsere Lotte und Tante .. ‚jedem drücke ich noch einmal die Hand.
Nun will ich klar und bewußt meinen Weg zu Ende gehen. Für das kleine Fleck-
chen Erde in der Nähe Vaters trage noch einmal Sorge. Ich küße Dich noch einmal,
drücke Dich fest, ganz fest an mich, Du meine liebe Mutter, behalte mich doch lieb,
Dein Kind.“
m
Überblickt man noch einmal diesen Entwicklungsweg mit seinen tiefen
traumatischen Nachwirkungen des Oedipuserlebnisses unter den Gesichtspunkten,
die sich bei Heranziehung der Träume, Mitteilungen und schriftlicher Dokumente
gewinnen ließen, so erscheinen auch die kriminellen Verfehlungen in einem
neuen Lichte. Man wird danach schwerlich bei klinischen Festlegungen wie
„Psychopathie“ oder sittlicher Defekt, die das konstitutionelle Moment in den
Vordergrund rücken, stehen bleiben können, wenn man die psychologisch
wirksamen Motive sucht.
en
Betrachtet man nämlich die Vergehen, die Diebstähle selbst, etwas näher,
so fällt auf, daß dort, wo die Stehlantriebe keine so scharfe Bewußtseinskon-
trolle zu passieren brauchten, d.h. wo sie den Teilinhalt von Träumen bilden,
auf eigentlich unbedeutende Objekte gerichtet sind. Ja, würden sich die wirk-
lichen Diebstähle K.s auf so geringfügige Gegenstände beschränken, dann hätte
die Umwelt von vornherein keinen Grund gehabt, an ihnen als an „ver-
brecherischen“ Handlungen ernsteren Anstoß zu nehmen. Die in den mitge-
teilten Träumen gestohlenen Gegenstände ; neuer Streifen für die Mütze, Sicher-
heitsnadel und anderes „wertloses Zeug“ (Traum 4), Krawatte, Sporthut, Staub-
kamm (Traum 8) unterscheiden sich ja wesentlich von den Objekten, die in
der Mehrzahl der wirklich ausgeführten Diebstähle angeeignet wurden (erheb-
liche Eingriffe in fremden Besitz, Unterschlagungen von Geldern etc.). Da aber
die Stehlwünsche, die phantastisch sowohl wie die real befriedigten, wohl ver-
schiedene Ziele haben, aber doch als Triebäußerungen derselben Persönlichkeit
zusammengehören, und im Hinblick auf die Tatsache, daß die im Traum sichtbar
werdenden Impulse einen weniger entstellten Ersatz des tiefsten unbewußten
Triebbegehrens darzustellen pflegen als ihre schwächeren Abkömmlinge im
Wachbewußtsein, so drängt sich uns eine paradox anmutende Schlußfolgerung
auf. Denn wir hätten danach, wenn wir nach tiefenpsychologischen Erklärungen
suchen, die anscheinend so unsinnigen und zwecklosen Stehlphantasien des
Traumes vom Standpunkte des Unbewußten aus in ihrer Bedeutung höher
einzuschätzen als die in sozialer Hinsicht sicherlich wichtigeren, wirklich began-
genen Diebstähle. Unterstützt wird diese Auffassung zudem durch die Beobach-
tung, daß trotz aller Rationalisierungsversuche die Diebstähle in K. eigentlich
nie wie eine echte Befriedigung die Spannung lösten, sondern ihn immer weiter
in Verstimmungen hineintrieben. Sie gewännen dadurch die Bedeutung von
Symptomhandlungen, womit auch das subjektive Gefühl des Zwanghaften (vgl.
Traum 4 u.8) in Einklang stände. Welche unterdrückten Handlungen allerdings
in den Traumphantasien ihre Entstellung und symbolische Umgestaltung
erfahren, läßt sich aus dem vorliegenden Traumbeispiel allein nur unzureichend
feststellen. Einfälle zu Traum 8 zeigen mit Sicherheit nur, daß einzelne Elemente:
„Krawatte im Ohr“ und „Das nimm“ bestimmten sexuellen Wunschvorstellungen
äquivalent sind. Auf die mutmaßliche Kastrationsbedeutung der Staubkamm-
entwendung wurde bereits hingewiesen. Derselbe Traum zeigt jedoch in seinem
Schlußteil und den dazu gehörigen Erinnerungen noch eine andere sehr beach-
tenswerte Beziehung. Denn er führt uns nach dem Szenenwechsel zurück in
das elterliche Milieu und baut auf der Tatsache des Diebstahles einen jener
heftigen Rivalitätskonflikte mit dem Vater auf, deren tiefere Grundlagen wir
in anderem Zusammenhang bereits erkannt zu haben meinen. Es ist also sehr
wahrscheinlich, daß die durch das Diebstahlssinnbild angedeuteten Sexualerre-
gungen der Mutter gelten, die ja auch im Einfall mit der Frau des Ladens
verglichen wird, während der Vater, ehe er leibhaftig erscheint, in dem Kriminal-
beamten offenbar eine entstellte Vertretung gefunden hat,
- Zum Kernproblem unserer Untersuchung, zu der Frage, wie im Falle von
Alfred K. Verbrechen und Strafe aufeinander wirken, bezw. einander bedingen,
führt eine andere Eigenart in K.’s Traum- und Phantasieleben, der bisher noch
keine Beachtung geschenkt wurde. Erinnert man sich an die Gefühle des Fallens
und der Gliederlähmung (Traum ı), an die tiefe Reue und Schmerzempfindung,
die das Bild des toten Vaters hinterläßt (Ergänzungen zu Traum 6), an Absturz
und Beinbruch (Traum 7), an das Erschrecken, das die Bedrohung des Vaters
hinterläßt (Traum 8), so wird deutlich das Walten der Instanz sichtbar, die
nach der Auffassung der Iehtheorie die Funktion des „Gewissens“ erfüllt. Auch
das zwanghafte Hingetriebensein zur Atmosphäre der Verbrecherspelunken und
Obdachlosenasyle (vel. Selbstbiographie) hat einen verwandten Sinn. Von einer
Urlaubsreise schreibt mir K.: „... Denken Sie, schon zweimal während der
acht Tage, die ich hier bin, habe ich mich heimlich in die Gegend geschlichen,
wo ich damals in den Spelurken und Kellern vegetierte. Es hat ein seltsam
brennendes Interesse für mich, da in den Straßen herumzuirren .. . “ Ab
sehen von dem früher erwähnten Motiv (vgl. Tagesphantasie im Gefängnis) ist
es, als wolle K. damit sagen: Ich bin unwürdig, wo anders zu hausen, diese
Umgebung ist für mich die einzig geeignete. Seine spätere Einstellung zum
Gefängnis ist ähnlich. Obwohl er sehr unter dem Verluste seiner Freiheit Htt,
hat er sich nach der Entlassung doch häufig am Abend in die Nähe der Ge-
fängnismauern geschlichen und manchmal zu mir geäußert, für ihn wäre es das
beste, dort sein Leben zu verbringen. Tagesphantasien der Gefängniszeit beschließt
er, den Träumen entsprechend, mit folgenden und ähnlichen Wendungen (G. Ä.):
„... Dann fällt alles zusammen, ich stürze und habe mir alles gebrochen. , ,„
oder „... Dann fällt alles zusammen . ... ich möchte mich nicht rühren, es .
tut mir alles weh.“ Dann wieder: „Ich fühle in all der Not eine tiefe Befreiung
- » . jetzt bin ich doch eigentlich ruhig.“
Reik' hat in seiner bahnbrechenden Arbeit die Wirkungsweise des unbewußten
„Strafbedürfnisses“ als eines elementaren Ausdrucks der im „Über-Ich“ fest-
gelegten Gewissensmächte geschildert. Diese psychische Tendenz nach Entsühnung
durch Strafe tritt in den mitgeteilten Äußerungen K.’s deutlich zutage. Sie können
wir wohl auch mit großer Wahrscheinlichkeit für die realen Diebstähle, soweit
diese nicht nach dem Muster der Traumdiebstähle vorwiegend eine partielle
Befriedigung unterdrückter Inzestwünsche bezwecken, als verursachende Kraft
in Anspruch nehmen. Man braucht nur an die Häufung der Taten und an das
herausfordernde Verhalten nach ihrer Ausführung zu denken, um in dieser
Annahme bekräftigt zu werden. Das unter dem Einfluß sich steigernden un-
bewußten Strafbedürfnisses stehende Lebensschicksal, das durch wiederholte Ver-
fehlungen mit darauffolgenden Selbstbezichtigungen und Selbstmordabsichten ge-
kennzeichnet ist, prägt K.’s Charakter eine Form auf, die der des „moralischen
Masochisten“ verwandt ist. Kein Ereignis aber zeigt die tragische Gesetzmäßigkeit
dieser ins Verbrechen führenden Fehlentwicklung mehr als die näheren Umstände
ı) Theodor Reik, Geständniszwang und Strafbedürfnis, Internat. PsA. Bibl,
Bd. XVII, Wien 1925.
ur FREE
des frei gewählten Endes, das fast wie eine öffentliche Selbstanklage und Hin-
richtung wirkt.
Die allgemeinen Folgerungen, die sich aus der Untersuchung eines Einzel-
falles ableiten lassen, sind naturgemäß begrenzt. Immerhin drängen sich bei
einem Rückbick über den beschriebenen Lebenslauf unabweislich Fragen auf,
die Reik in seiner Arbeit als wesentlich hervorhebt, nämlich: „Ob nieht eine
unterirdische Verbindung, zwischen dem. Urverbrechen der Kinderzeit und.der
Tat des erwachsenen Verbrechers besteht, welchen Einfluß die individuelle Ver-
arbeitung des Oedipuskomplexes auf die Entwicklung des später zum Verbrecher
Gewordenen hatte.“ Ließe sich an: umfassenderem Material und in breiterem
Rahmen die Berechtigung dieser Fragestellung nachweisen, so wäre damit eine
durch Erfahrungen gefestigte Verbindung zwischen Psychoanalyse und Kriminal-
wissenschaft hergestellt‘, deren Einfluß sich auch der Strafvollzug bei seinen
Beformversuchen auf die Dauer kaum verschließen könnte,
ERRIURNRITUNUENUMUHRINLUINNAUHNNENBNUIK U IENLKLINEULKIURFIIREN LUFT EITERURHAUUNN
Selbstmordprophylaxe in der Analyse
Von Dr. Paul Federn, Wien
Jede Art von Therapie hat ihre besonderen Gefahrenquellen, die der
Behandelnde kennen, ja fürchten muß. Es gibt Chirurgen, die wenig Todesfälle
zu beklagen haben, weil sie ablehnen, vorgeschrittene Fälle zu operieren; das
ist aber eine Pseudogewissenhaftigkeit; der wirklich gewissenhafte Chirurg
riskiert seinen Ruhm und verzichtet auf den Glanz seiner Operationsstatistik,
um: doch unter den als verloren bezeichneten Fällen wenige noch zu retten.
Und, obgleich der Augenoperateur wohl weiß, daß bei aller Vorsicht einzelne
Starkranke im Anschluß an die sonst so segensreiche Operation erblinden,
wird er auch den komplizierten Fall anzugehen wagen. Das Analogon für
den Psychoanalytiker ist die Selbstmordgefahr bei dem zu Behandelnden.
Oft, wenn wir von jugendlichen Selbstmorden erfahren, denken wir, daß
eine rechtzeitige Psychoanalyse ihn verhütet hätte. Aber anderer-
seits werden wir auch nach relativ gut gelungener Psychoanalyse, mitunter
erst nach Jahren von der Nachricht des Selbstmordes erschüttert, und um
so mehr, wenn die Psychoanalyse die Lebens- und Freudefähigkeit des Kranken
hergestellt hatte. Im Laufe der Jahre macht die Überraschung dem Ver-
ständnis Platz, wenn es immer wieder ähnliche Bedingungen sind, die zum
Selbstmorde führen, — so verschieden die individuellen Motive sein mögen.
Von Bedingungen, welche die Selbstmordgefahr erhöhen, und die ent-
ı) Vgl. dazu auch Abraham, Die Geschichte eines Hochstaplers, Imago, Bd. XT,
H: 4, 1925 — Karl Landauer, Das Strafvollzugsgesetz, Zeitschr. f, psychoanalytische
Pädag., Bd. II, 33 (1927).
a
gegengesetzten, welche sie vermindern oder beseitigen, soll hier die Rede
sein. Das Gefahrenmoment des Selbstmordes während und nach der Psycho-
analyse ist für den Pädagogen ebenso wichtig, wie für den Arzt, und gerade
die Verhütung des Selbstmordes wird von ihm wie vom Arzte gefordert,
Er soll der Entstehung der Selbstmordtendenz vorbeugen, damit die neue
Generation keinen Zola mehr zur Klage veranlasse: „Nous avons tous peur
de la vie“. (Wir haben alle Furcht vor dem Leben.)
Wenn allgemein der Selbstmord als etwas Übles und Schuldvolles, als
etwas Furchtbares gilt, so wird oft von kühleren und weiterblickenden Be-
trachtern eingewendet, daß zu andern Zeiten und in andern Ländern der
Selbstmord etwas Normales oder Rühmliches sei. Diese Gesamteinstellung
verhält sich zur Einstellung des individuellen Selbsttöters, wie die gemeinsame
Zwangsneurose vieler Religionen zu der des Einzelnen. Denn auch nach
unserer heutigen Lebensanschauung ist gewiß nicht jeder Eigentod Ausfluß
einer pathologischen Persönlichkeit, insbesondere nicht von Furcht und
Willensschwäche, auch nicht — wie viele meinen — einer chronischen oder
plötzlich eingetretenen Psychose. Selbstmord kann auch Endschicksa]
des völlig Normalen sein. Gerade der Starke wird vermöge seiner
mutigen Einsicht in die Unvermeidlichkeit eines qualvollen oder schandvollen
andern Ausgangs den Eigentod vorziehen. Nur die Kenntnis der unbewußten
Vorgänge läßt im Einzelfalle entscheiden, ob solche Tragik doch aus patho-
logischen Gründen herbeigeführt worden ist. Und immer entscheidet
mit die im Volke und in der Zeit herrschende Gesinnung. Wenn der alte
Germane durch blutig schmerzhafte Wunden zu sterben wußte, so war er das
seinen Vätern und Göttern schuldig, ebenso wie ein Japaner oder Chinese
gleich dem alten Römer sich tötet, weil er nur so seinem anerkannten Ich-
ideale entsprechen kann.
Der Satz des Sophokles: „Denn für den gut gearteten Menschen gilt
es, auf schöne Art zu leben oder auf schöne Art geendet zu haben; kein
Wort mehr ist darüber zu sagen!“ würde ungezählte Menschen von heute
zum Eigentod verurteilen, wenn der Selbstmord noch als sch öne Todesart
zu gelten hätte. Seine Wertung hat sich aber geändert. Die Religionen der
Buße und das Ichideal des unentwegten Leidens, ferner die Auffassung des
Lebens als eines dem Ich anvertrauten Wertes und Gutes läßt sein Weg-
werfen als Frevel, bezw. als eine Art Veruntreuung auffassen. Dazu kam,
daß für die Alten es fast nur ein Land und nur eine Gesellschaft gab,
in der er sich zu behaupten hatte; unter großen Schwierigkeiten der Neu-
anpassung hat aber immerhin der Mensch von Heutzutage viele Stätten, in
denen ein schon verlorener Kampf ums Dasein neu begonnen werden kann,
so daß der Selbstmord seltener als einziger Ausweg bleibt. Zum guten Teil
haben deshalb Desperados neue Erden erobert. Die Behinderung der Aus-
wanderung trägt dazu bei, die Selbstmorde zu steigern.
Daß aber trotz der größeren Breite der Gründe, die als normal galten,
das Problem immer das gleiche war, läßt sich auch an dem angeführten
— 380 —
BT
Satze des griechischen Helden erkennen. Ajax kündigt damit seinen Selbst-
mord an, — ganz dem Ichideal der Zeit des Dichters entsprechend, aber
vorher hat er in Raserei seinen Haß gegen Agamemnon und die andern
Fürsten mörderisch befriedigt. Dann, nach der Einsicht in seine Verblendung,
hat sich die Mordgier gegen ihn selbst gerichtet: ein schönes Beispiel für
die psychoanalytischen Erfahrungen. (Siehe dieses Heft, $. 342.) Mag das
Urteil darüber, welcher Grad von Ruhmsucht und von point d’honneur patho-
logisch sei, ganz subjektiv ausfallen, in den meisten Fällen hängt das Kriterium
der Gesundheit nicht am Motive, sondern an der Reaktion auf
dieses Motiv.
Und da zeigt nun die psychoanalytische Erfahrung, daß es zwei Gruppen
von Kranken, bezw. von abnormen Charakteren gibt, welche einem, uns
nicht berechtigt erscheinenden, nur aus ihrer Reaktionsart verständlichen
Selbstmord eher erliegen. Es sind die zur Depression Neigenden und die
Süchtigen, ob sie nun dabei sonst Hiysteriker, Zwangsneurotiker oder soge-
nannte Psychastheniker sind, oder keine ausgesprochene Neurose zeigen. Die
Gruppe der Süchtigen umfaßt aber nicht nur Fälle von Arzneisucht, aus-
gesprochener Kleptomanie, Pyromanie und dgl., sondern alle Personen mit
einer Reaktionsart, welche die gleiche ist, wie die bei diesen Kranken. Die
augenblickliche Reaktion auf das Fehlen des Gewünschten steigt bei ihnen
jederzeit rapid zu einem subjektiv unerträglichen Grade an. Der Süchtige
meint jedesmal, lieber sterben zu sollen, als das Gewünschte weiter zu ent-
behren. Dieses Leid ist kein Fiktives, es steigert sich zu unerträglicher
Gier und führt zu ärgerer Verstimmung, aus der der Selbstmord als
Befreiung ständig wieder lockt. Die Verstimmungen sind nicht so schwer
wie bei Melancholien, doch ist die Toleranz dieser Art Menschen geringer
als die des seine Selbstqual immer auch genießenden Melancholikers.
Der Melancholiker hat das Leid um das Verlorene zutragen, der
Süchtige um das Nichtzuerreichende.
Bei beiden Zuständen findet die Psychoanalyse verdrängte, weit zurück-
reichende Konflikte, welche die dauernd abnorme Reaktionsart als Wieder-
holung affektiver frühinfantiler Situationen bedingt haben. Gewöhnlich ist
die Süchtigkeit selbst eine Fluchtmethode vor einer noch tiefer liegenden
Verstimmungsreaktion. Wie sich aber beide Zustände ausgebildet uns dar-
bieten, ist es bei der Süchtigkeit die Objektlibido, bei der Melancholie
die dem eigenen Ich zugewandten Libido, an der die Versagung zur patho-
logischen Reaktion führt. (S. 335, 334. dieses Heftes.) Man könnte, wenn man
das Unbewußte ungenau in Analogie zum Bewußten schildern will, sagen:
Es gibt, zusammengefaßt, zweierlei Gründe, das Leben zu verlassen; der
eine ist, wenn man sich selbst nicht ertragen kann und will als einen
solchen, wie man ist, der andere Grund ist, wenn man die Welt nicht
als solche ertragen kann und will, wie sie ist. Die Unerträglichkeit liegt
bei den zweiten am Objekte, bei den andern am Eigenich. Die erste Uner-
träglichkeit verfolgt die Süchtigen, die zweite die melancholisch Verstimmten.
Zeitschrift f. psa. Päd., III/ıı/ı2/iz — 381 — 23
Dieser praktisch wichtigen Scheidung entspricht die theorisch wichtige
Scheidung von Ichlibido und Objektlibido. Doch wird niemand erwarten,
daß etwa bei dem Süchtigen das Ich, beim Melancholiker die Beziehung
zum Objekte eine normale sei. Im Gegenteil! Nur ein abnormes Ich kann
die Objekte süchtig begehren, und der ungenügend am Objekt Befriedigte
wird eher an seinem Ich verzweifeln.
Nach dem Gesagten können wir den Weg der Heilung der Zustände
und damit die psychoanalytische Selbstmordprophylaxe verstehen. Die
Psychoanalyse verringert bei süchtigen Individuen die unbewußten, jederzeit
auf den Gegenstand der Begierde übertragenen Libidobesetzungen, und
damit das Leiden beim Verzichten. Um die Unzufriedenheit mit dem
eigenen Ich zu mindern, muß sie unbewußte Quellen der Identifizierung
aufheben, und erreichen, daß bis zu einem gewissen Grade die narziß-
tische Besetzung der Objekte durch objektlibidinöse ersetzt wird. Denn
Freud hat klargelegt (s. S. 335 dieses Heftes), daß es meist die Identj;-
fizierung mit einer verlorenen geliebten Person ist,
welche den Selbstmord als Haßreaktion ermöglicht. Unter den
unzähligen Selbstmordgedanken, welche die Menschen als Zufluchtsphantasie
hegen, werden beim Melancholiker diese Wünsche deshalb zur Tat, weil
er, ohne es zu wissen, in sich selbst ein anderes Ich, das er
einst geliebt hat, haßt. Wasaber beim ausgesprochenen Melancholiker
zur schweren Erkrankung führt, ist im geringeren Grade bei allen zur
Gruppe der Verstimmten gehörenden Selbstmördern vorhanden. Der Trauernde
hängt an Menschen, die er verloren hat und muß solange das Leid der
Trauer ertragen, bis er seine Libido von diesen Objekten gelöst hat. Der
Verstimmte hat sich von vielen verlorenen Liebesobjekten nicht lösen
können, und das unverwundene Leid erwacht stets neu, wenn eine neue
Enttäuschung hereinbricht. Der Grund, weshalb das Leid sich summiert
und zur Kränkung wird — man beachte diese sprachliche Bildung, die
ausdrückt, daß Leid krank machen kann — liegt nun an dem gleichen
Mechanismus, wie bei der entwickelten Melancholie. Das Ich dieser Per-
sonen ist am Ich selbst enttäuscht worden. Es kann nicht gegenüber den
Unbilden der Umwelt an der Freude am eigenen Ich, die mit zum gesunden
normalen Ichgefühl gehört, an der narzistischen Libido, wie Freud sie
nannte, den Halt finden, der nötig wäre, um das Leid bis zur Erledigung
zu ertragen. Daß aber das Ich seiner selbst nicht froh wird, ist die Folge
verdrängter Kränkungen seitens geliebter Menschen, und zwar solcher, die
das heranwachsende Ich sich einverleibt hat.
. All das muß in der Psychoanalyse wieder erweckt und erledigt, und so
die Ablehnung des Eigen-Ichs wieder in die weniger gefährliche Enı
täuschung an der Außenwelt rückverwandelt werden. |
Man versteht, daß eine Psychoanalyse solche Menschen viel Leid ertragen
assen muß, und deshalb nur im Falle einer guten Beziehung zum Psycho-
analytiker, also bei starker positiver Übertragung durchführbar ist. Bei
— BER —
Erik
Verstimmten verlangt die Behandlung immer Vorsicht. Die Selbstmord-
gefahr kann, wenn schweres bisher verdrängtes Leid zur Erledigung kommen
soll, zeitweise bei vorher von der Umgebung für wenig bedenklich gehal-
tenen Fällen eine Überwachung nötig machen, wie sie bei wirklich krank-
haft Süchtigen und bei Melancholie ja die Regel sein muß.
Die Loslösung von geliebten Objekten (Menschen, Dingen. Hoffnungen,
Phantasien, unerfüllbaren Tendenzen des Ehrgeizes und des Berufs) geschieht
aber nicht nur am Wege des Leidens, sondern auch dadurch, daß Liebe
sich in Haß umwandelt, wozu die infantile Ambivalenz die Voraussetzung
gab. Es ist nicht möglich, dieser Art von Loslösung entgegenzuarbeiten, Es
gibt viele Menschen, die den Haß immer wieder gegen sich kehren (s. S. 335
dieses Heftes), wenn sie nicht andere zu hassen haben. Es wird weiterer
Untersuchungen mit langjährigen Beobachtungen nach der Psychoanalyse
bedürfen, um zu erkennen, ob solche Menschen, bei denen der starke Haß
gegen Menschen (Parteien, Gegner, Institutionen) sich wendete, mehr
Rezidiven haben, als solche, welche am Wege einer nicht gelösten Iden-
tifizierung mit dem Psychoanalytiker, im Sinne Pfisters ihren Haß in
Versöhnung gewandelt haben. Für Selbstmordgefährdete möchte ich es
eher bezweifeln. Zwar bindet Haß allein schlecht an das Leben, aber er
bindet; vor allem aber ist es leichter, ein erreichbares Liebesobjekt möglichst
frei von Ambivalenz zu lieben, wenn der Haß anderweitig untergebracht ist.
Für die Selbstmordgefahr spielt der Haß, insofern er als negative Über-
tragung dem Psychoanalytiker zugewandt wird, auch deshalb eine Rolle,
weil der Selbstmord in einer momentanen Haßreaktion zur Tat werden kann.
Auch dieser Umstand verlangt Vorsicht. Geringer ist die Gefahr, daß die
gesteigerte positive Übertragung, also eine Liebesenttäuschung, wirklich
den Selbstmord herbeiführt; zu Selbstmordversuchen mit gutem Sicherheits-
koeffizienten für eine rechtzeitige Rettung mag es aus Liebe, besonders bei
Süchtigen mit ihren momentanen Affektreaktionen kommen. Der Haß ist
aber meistens ein aktiverer Faktor als das Leid. Das Liebesleid macht immer
auch passiv, und es will auch der leidende Liebende sich vom Geliebten
nicht trennen, während der Haß die Entfernung vom Gehaßten, den man
nicht hassend schädigen kann, begehrt und wenn nicht anders, so durch das
eigene Sterben erzwingt. Weil diese vielen Gefahren bestehen, darf die Psycho-
analyse nicht plötzlich enden. Und das Analoge gilt von jedem, der das
Vertrauen eines Selbstmordgefährdeten gewonnen hat, selbst wenn es ihm
zur Last geworden ist. Ich habe mich kaum jemals getraut, die angekündigte
Besprechung in solchen schwereren Fällen auf den nächsten Tag zu ver-
schieben. Trotz Wärterin habe ich einmal infolge einer kriegsdienstlichen
Abhaltung um wenige Stunden den von mir längst gefürchteten Selbstmord
zur Tat werden sehen; daß es eine Psychose war, war für die Beurteilung
der Affekthandlung nicht ausschlaggebend; ein Neurotiker hätte ebenso
reagieren können. Bei für selbstmordgefährdet gehaltenen Fällen kommt
alles darauf an, ob der schon wesentlich gebesserte Patient die Gelegenheiten
— 3853 — 23*
wahrnimmt, um vom Arzte weiter auf andere Personen zu übertragen, bezw.
frühere Objekte neu zu finden, bei denen volle Gegenliebe möglich: ist,
Ist die Analyse imstande gewesen, die Ichentzweiung beim Verstimmten auf-
zuheben, die Gierreaktion beim Süchtigen zu mindern, dann ist die Hoffnung,
daß nun das Schicksal, die „Göttin Gelegenheit”, das ihre tun wird, be-
rechtigt. Aber man traue ihr nicht zuviel zu! Der Patient will beim Beicht-
arzte verbleiben, trotz dessen verteilter und gemäßigter Gegen-Übertragung.
Und zweitens vergesse man nicht die Wellenbewegungen der Gesamtstimmung
bei vielen der Melancholie angrenzenden Zuständen. Bevor wir nicht das
Verhalten der Patienten in guten und schlechten Perioden beobachten
konnten, dürfen wir ihn nicht von uns loslösen und keine Prognose stellen.
Und sehr viel kommt auf das Verhalten der Umgebung des Kranken an.
Das wird uns am Schlusse dieser Ausführungen beschäftigen.
Aber bevor der Kranke so weit ist, erlebt er ein Stadium gesteigerter
Selbstmordgefahr, die zu verstehen besonders wichtig ist. Die Be-
schuldigung, daß gerade die Behandlung den Anstoß zum Selbstmord gegeben
hat, bezieht sich auf dieses Stadium. Die Reaktionen, die den Selbstmord
herbeizuführen pflegen, sind nämlich von Affekten begleitet, welche die
Fähigkeit, die Selbstmordtendenz zur Tat werden zu lassen, hemmen; vor
allem von Angst. Auf die theoretische Untersuchung der Zusammenhänge
von Angst und Schuldgefühl und von Verstimmung und Süchtigkeit auf der
andern Seite gehe ich hier nicht ein. Sie ist für die Melancholie in diesem
Hefte vielfach gestreift. Sie gründlich erärtern, würde eine motivierte Stellung-
nahme zum Angst- und Verdrängungsproblem erfordern. Die Erfahrung lehrt,
wie ich schon oben sagte, daß der Süchtige regelmäßig, und der Verstimmte
mit Ausnahmen, Angstzuständen und Angstbereitschaft unterworfen ist, und
stets ängstliche Bedenken hegt. Es ist paradox und doch wahr, daß ernstlich
zum Selbstmord Entschlossene voll Angst um Gesundheit und Besitz sind.
Der Lebenstrieb benutzt diese Angst als Schutz. Die relative Unabhängigkeit
der Ichgrenzen von einander macht das Nebeneinanderbestehen beider
Tendenzen möglich. Das geistige Ichgefühl besetzt die Selbstmordphantasien,
das körperliche die Angstobjekte. |
Nun gibt es viele Fälle, bei denen der Kranke viel früher seine Angst
zum großen Teil verliert, als die tiefen Gründe seiner Verstimmung bewußt
gemacht und bewältigt sind. Wie wir früher schon sagten, mutet die Psycho-
analyse, sobald sie diese auferweckt, dem Kranken viel Leid zu ertragen zu.
Und die schützende Angst ist vermindert, Solche Perioden verlangen Vor-
sicht, Teilnahme und Hilfe.
Nicht nur die Angstlosigkeit verringert den neurotischen Schutz vor dem.
Wirklich-Tun. Die ganze Neurose, die Fluchtin die Krankheit, ist
auch Zuflucht vor dem Selbstmord, als letztem Ausweg aus Leid
und Konflikt. Für viele ist die Neurose ein brauchbarer Lebensinhalt; das
Patientsein, das vielfältige Leiden ist nicht nur ein Trost für schwaches
Tun, es gewährleistet auch einen andern Maßstab bei der Selbstbeurteilung
— Bi
En
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und für das Urteilen der Umgebung. Es gestattet, Leistung und Beurteilung
zu verschieben, es erleichtert auch, immer zu glauben, daß andere oder daß
Vererbung am Mißerfolge Schuld sind. Der Neurotiker ist der Tor, der —
wie Gottfried Keller sagt — „um sich späht und lauscht und nun
sich seinen Wert bestimmt nach falschen Zeichen“. Und je gerader und
richtiger er durch die Psychoanalyse sich und die Realität erfassen lernt,
je mehr seelische Krücken dem seelisch Lahmen genommen wurden, je
weniger „Schutz“ er sucht, desto stärker muß er fähig sein, sich in der
Realität zu behaupten. Deshalb darf nicht nur die Übertragung auf den
Arzt als Objekt, auch die Identifizierung mit dem Arzte nicht frühzeitig,
ja, oft darf sie praktisch überhaupt nicht gelöst werden, so weit der
Analytiker darüber Macht hat. Denn Bindungen und Lösungen sind zum
Teil automatische Vorgänge.
Wie die Angst als negativer Faktor den Selbstmord erschwert, so sind
Hoffnung, Liebesbindung und Pflichtgefühl die positiven
Mächte, die den Gesunden und Kranken von dem objektiv oder subjektiv
berechtigten oder von dem als krankhaft oder abnorm aufzufassenden Selbst-
mord zurückhalten. Es hängt von der Aufrichtung dieser Bin-
dungen an das Leben ab, daß die Heilung vor Angst und Unent-
schlossenheit, also gerade der Erfolg unserer Arbeit, nicht den Selbstmord
zur Tat werden lasse. Sonst kann es geschehen, daß der süchtige Hysteriker
oder der Depressive, der immer mit der Selbstmordtendenz gespielt und
gekämpft hat, ihm immer nahe gewesen war, praktisch genesen, Ent-
schlossenheit und Mut aufbringt, den Eigentod so auszuführen, wie ihn
ein Gesunder aus verständigen und verständlichen Motiven ausführt, näm-
lich ohne Rettungskoeffizient, so daß er wirklich gelingt. Diese Wahrheit
muß gesagt werden und das umsomehr, weil über die Hilfe, die dem
Genesenen das Schicksal bringen muß, etwas Wichtiges erfahrungsgemäß
hinzuzufügen ist.
Der Psychoanalytiker hat seinen Kranken vor sich. Häufig wird die
Behandlung von diesem vor der Familie, fast immer von ihm und der
Familie vor allen anderen geheim gehalten. Solch Geheimtun hat auch
unbewußte Motive. Die Neurose richtet sich mit ihrem sekundären Krank-
heitsgewinn gegen eine oder gegen einige wenige Personen der Umgebung,
die meistens das Schicksal des Kranken bestimmen. Umgekehrt ist es nun
diese, mitunter auch eine andere Person der Umgebung (Familien- oder
sonst libidinös verknüpfter Kreis), welche das Kranksein des Neurotikers
braucht, seine Genesung — mag sie sie auch bewußt fördern und fordern —
unbewußt nicht brauchen kann. Der unbewußte Krankheitswunsch des einen
bekommt so eine Unterstützung von der Seite des Unbewußten des andern.
Bewußterweise würde der gegen solch eine Mitteilung sehr protestieren, und
das mit Recht, denn er ist doch meistens genugsam durch den Kranken in
Anspruch genommen worden, hat ihn beraten, ihm viel Opfer an Geduld,
Freiheit und Geld gebracht. Gerade wenn diese Opfer ungewöhnlich sind,
Su
. laßt das: dahinter ein unbewußtes Interesse an der Krankheit vermuten. Es
dient dieses Duldertum — besonders zwischen Eheleuten und zwischen Mutter
und Kind — der Stillung des Schuldgefühls, weil ein guter Teil der Ver-
ursachung — gewöhnlich schwere Liebes- und Lebenslügen — die Person
belastet. Die Reaktion auf das unbewußte Nötighaben der Neurose des Kranken
ist nicht immer masochistisches Dulden, oft ist es hartes Vorwerfen,
Fordern und In-Zucht-halten. Die Begünstiger der Krankheit sind meist selbst
neurotisch, so z. B., wenn die Impotenz des Mannes die hysterische Frigidität
des Weibes gut brauchen kann, oder es sind besonders rücksichtslose, sadi-
stische Menschen, oder aber nur charakterschwache Kompromißnaturen,
Es ist deshalb fast eine Regel, daß, wenn die Heilung des Kranken nahe
ist, das Opfer der Neurose oder ihr Nutznießer gleichfalls einer Psychoanalyse
bedarf. Aufklärendes Sprechen ohne Psychoanalyse genügt nur ausnahms-
weise, führt hingegen meistens nur zur direkten Behinderung der Weiter-
behandlung des Patienten.
Diese allgemeine Erfahrung bekommt nun für den wesentlich gebesserten
Selbstmordgefährdeten ein besonderes, tragisches Gewicht. Verfolgt man die
weiteren Geschehnisse in Familie und Umgebung nach einem solchen
postanalytischen Selbstmord, so erfährt man, oft nicht ohne Grauen, wie
gut der Selbstmord von den Überlebenden vertragen
wurde. Die früher unerhört geliebte Ehefrau erhält so unheimlich schne]l
eine schon vor dem "Tode gewählte Nachfolgerin, daß manch ein Hamlet
Gelegenheit fände, „Wirtschaft, Wirtschaft, Horatio!“ zu rufen. Und in
mehreren Fällen war die Zielgerichtetheit des Unbewußten
wirklich grauenhaft. Trotz der Warnung wegen Selbstmordgefahr war der
Revolver im offenen Schrank verwahrt, wurde die Bewachung des periodisch
Melancholischen nicht befolgt, wurde alles getan und nichts unterlassen,
was die Situation dem Gefährdeten unleidlich machen mußte. Anlaß zum
Streit gibt die Familie wegen der neuen Schwierigkeiten, die die normal
gewordenen Ansprüche des Geheilten an sie stellen: solcher Streit führt bei
oberflächlicher Betrachtung das vermeidlich gewesene Unheil herbei. Der als
Kranker soviele Privilegien hatte und soviel Schonung erfuhr, an ihn werden
die strengsten Forderungen gestellt, die Umgebung, die solange geduldig
Amboß gewesen war, kann jetzt nicht genug Hammer sein. Und gerade
weil auch der Genesene noch von der Umgebung abhängt, gerade weil er
nicht mehr in die Neurose fliehen kann, auch weil er mit mehr Libido
und weniger Ambivalenz an den Nächsten hängt, trinkt er in Erkenntnis
der aussichtslosen Lage den Todeskelch zur Neige.
Nicht die Psychoanalyse hat seinen Selbstmord verursacht, sie hat nur
die Flucht in die Neurose vor dem unbewußten Mörder. der sein Nächster
schon lange war, abgeschnitten. Bei diesen postanalytischen Selbstmorden
ist daher die Psychoanalyse weit mehr Ankläger als Angeklagter. Wir
aber verspüren keine Neigung, nach dem Schuldigen zu suchen, wir wollen
die ganze, große Schwierigkeit der Prophylaxe des vermeidlichen Selbst-
— 386. —
En =)
mordes darlegen. Und da ist es wichtig, der Kenntnis der unbewußten Motive
des Selbstmords des Kranken auch die der unbewußten Mordmotive
der Umgebung hinzuzufügen. Sie bewußt machen ist schmerzhaft, aber
heilsam — oder vielleicht zeigt die Demaskierung ihre Unheilbarkeit. Dann
hat die Psychoanalyse beim Kranken auch dies voll zu beachten und zu
erreichen, daß er sich von seinem Gegner wehrhaft losreiße.
Wie lächerlich ist es, mit Kenntnis dieser Hintergründe der Psychoanalyse
vorzuwerfen, daß postanalytische Ehescheidungen und Familien-
spaltungen vorkommen! |
Da die Umgebung meist den wichtigsten Teil der Schicksalsbedingungen
des Neurotikers ausmacht, ist es für ihn nötig, sich ihr anzupassen,
oder siezu Ändern, oder siezu verlassen. Das verlangt Kampf zum
Teilundzum Teil Verzicht. Beides fälltschwerer als, so wie früher, neurotisch
sein. Trotz dieser Erleichterung durch die Neurose war er schon als Kranker
dem Selbstmord gefährlich nahe gewesen. Sind die Lebensbedingungen starr
dieselben geblieben, oder sind sie — wie so oft — noch erschwert, so kann
auch der Gesündergewordene oft mit ihnen nicht fertig werden. Und was
für das äußere Dasein gilt, gilt auch für das innere. Wir sagten oben, daß
als positive Momente Hoffnung, Pflichtgefühl und Liebesbindung die un-
bewußt motivierte Selbstmordtendenz an der Realisierung hindern. Es ist
merkwürdig, daß oft der geheilte Neurotiker weniger leicht geliebt wird
als der ungeheilte; das hängt mit dem neurotischen Milieu wiederum
zusammen; es ist aber nicht narzißtische Liebesbedingung, daß einer die
Gegenliebe zur Daseinsgrundlage braucht.
So sehen wir abermals, daß die Übertragung auf den Arzt tragfähig bleiben
muß zur Selbstmordprophylaxe über die Neurose hinaus bis zur
erreichten Neuanpassung des Milieus an die Heilung und der
Heilungan das Milieu. Beides verlangt die psychoanalytische Sanierung
nicht nur des Kranken, sondern auch der einen oderandern
wichtigen Person des Milieus. Schließlich kann auch keine Infektions-
krankheit, ob Tuberkulose, oder nur der Madenwurm, durch die Behandlung
des einen Kranken allein geheilt werden. Als vor 80 Jahren zuerst die
Infektiosität der Tuberkulose auf Grund ihrer Pathogenese von Nägele be-
hauptet wurde, hat niemand an solche Konsequenzen gedacht. Die Neurose
überhaupt, die Selbstmordgefährdung ist meistens eine folie (‚zumindest‘)
ad deux. | |
Was vom erwachsenen Selbstmörder gilt, gilt auch vom Jugendlichen
und ist bei ihm noch bedeutsamer, weil er auch rechtlich unfrei ist. Nicht
er allein, die Familie ist psychisch zu sanieren. Die einmalige Beratung,
die seelische Rettung bei akuter Selbstmordgefahr gleicht nur der ersten
Hilfe, welche die Frist gewährt, um die Behandlung und die Beinflussung
der für den jungen Menschen maßgebenden Umgebung durchzuführen.
Der unbewußte Tötungswillen seitens des Nächsten ergänzt die von Freud
für den Selbstmord als notwendig gefundenen unbewußten Mechanismen.
BE
Wenn es allgemein gilt, daß nur-der sich mordet, der ein en
andern zu töten wünscht, somuß man hinzufügen, daß — (in der
Regel)—nur der sich mordet, den ein anderer tot wünscht.
Während der Selbstmörder selbst stets in seiner Anlage stark sadistisch sein
muß, — er ist es ja, der schließlich zu töten imstande war, sein Trieb
mußte Hand an ihn legen — so gilt das nicht von dem, der den Selbst-
mörder die Waffe ergreifen läßt. Einen Selbstmord provozieren kann der
Nichtsadist vielleicht besser, weil er den Mechanismus, der ihn zum Mörder
macht, mit weniger Reaktion im Unbewußten hält. Die Chinesen zeigen
sich als gute Psychologen, wenn sie den verurteilen, der einen Selbstmord
nicht verhindert hat.
Der Befund Freuds, daß der Selbstmörder eine andere, sich ein-
verleibte Person mit dem Selbstmorde beseitigt, bekommt gleichfalls ein
wichtiges Korrelat durch unsere Feststellung. Ich sagte oben, daß der sich
tötet, der entweder die wirkliche Welt nicht erträgt, so wie sie ist, oder
sich nicht erträgt, so wie er ist. Dieser zweite Fall führt zu einer weiteren
Behinderung des Selbstmordes: Kaum jemals bringt jemand sich um, so-
lange eine Person, die für den Gefährdeten maßgebend ist, mit dem sich
sein Über-Ich identifiziert, oder die sein Über-Ich gebildet hat, oder eine
Person, die er liebt, ihn, so wie er ist, am Leben erhalten haben will.
und das unter allen Bedingungen. Und das ist die wichtigste libidinöse
Selbstmordprophylaxe. Nicht daß man noch Liebeshoffnung hat, sondern
daß man, so wie man ist, von einer — wie gesagt, libinös besetzten Person,
unbedingt lebend gewünscht wird, läßt die Tat hinausschieben. Wer einen
Selbstmord hindern will, muß diese Überzeugung dem Gefährdeten dauernd
verleihen können. Jeder Selbstmörder ist von seiner Mutter-
oder Vaterimago fallen gelassen worden. Der Selbstmörder ist
nicht nur ein Selbstrichter, er ist immer dem Selbstgericht überantworter
worden von einem, der ihn hätte freisprechen müssen. Und
wenn in andern Kulturen der Selbstmord durch die Volksmeinung gebilligt
wird, so übernimmt dort das gemeinsame Über-Ich diese Auslieferung an
den eigenen Sadismus, die in unserer Kultur ein Einzelner tut. Solange
eine libidinös stark besetzte, zur Identifizierung geeignete Person den Ge-
fährdeten am Leben halten will, bedingungslos, findet er auch die
Kraft, dem, der ihn aus unbewußter F eindseligkeit in den Selbstmord treibt,
zu widerstehen. Man darf daher einen Selbstmordgefährdeten nur behandeln,
wenn man ihn am Leben zu erhalten wünscht, Wie daher die Einverleibun
eines Gehaßten den Selbstmord begünstigt, so schützt vor dem Selbstmord
die Projektion des Über-Ichs auf einen, der einen liebt, So kompliziert die
Mechanismen sind, die den Selbstmord ermöglichen, so relativ einfach sind
die, welche ihn hindern. ‘Sie verlangen aber Libidobesetzung für den
Kranken, — und die kann weder vom Arzt, noch von einem andern will-
kürlich hergestellt werden.
Wir wollen zum Schlusse einige Punkte unserer Ausführungen in anderer
— 3838 —
Ordnung zusammenfassen: Die Selbstmordgefährdung ist eine an der Reaktions-
art des Kranken liegende Komplikation. Es sind nicht bloß depressive
Menschen, die diese Komplikation bieten. So erklärt sich, daß oft heiter
erschienene Menschen mit Selbstmord enden; es ist ihre Süchtigkeit als
Lebensfreude aufgefaßt worden.
Zur Ausführung kommt es, wenn die unbewußten Motive bei einem
Individuum mit der zum Selbstmord führenden Reaktionsart stark genug
wurden und die entgegengerichteten Faktoren aufgehoben sind. Diese
Situation kann während der Psychoanalyse vorkommen, und der Psycho-
analytiker muß das wissen. Um das Leben des Selbstmörders kämpfen in
ihm nicht nur der Richter und Mörder mit dem schützenden Lebenstriebe
des eigenen Ichs, sondern auch ein äußerer Mordwunsch mit den schützenden
Wünschen der Liebe. Der „Schutzengel“ ist eine Projektion dieser schützenden
Wünsche.
Oft wird behauptet, daß niemand von Selbstmordwünschen frei sei. Das
ist falsch. Es gibt viele Menschen, ich glaube, es ist die Mehrzahl, die ein
so gesundes Ichgefühl haben, einen so selbstverständlich mäßigen, aber
befriedigten Narzißmus, daß sie weder sich selbst überaus gefallen, noch miß-
fallen, aber in sich sich wohl fühlen. Solche Menschen können nur durch beson-
dere Schicksale zur Tragik der Selbstmordtendenz kommen. Das Ideal der
Heilung ist es, diese gesunde Ichbesetzung und eine starke Objektbesetzung
durch die Psychoanalyse herzustellen. Das entscheidende ist immer die trotz
aller Schwierigkeiten und Gefährdung konsequent durchgeführte Psycho-
analyse.
UNITTTTTITUTITITITTIT IT TITUTTITTTITHUTITUTITITHUTUTTITT IT UT TITAN
Die Todes- und Selbstmordphantasien lom Sawyers’
Von Ernst Schneider
I
Tom sah Becky und war sofort in sie verliebt. „Kopf und Sinn voll wunder-
barer Visionen“, zog er nach Hause. „Während des Abendessens war er in
solch gehobener Stimmung, daß die Tante nicht klug daraus wurde, was zum
Kuckuck in den Jungen gefahren sei!“ Als Tante Polly sich einen Augenblick.
entfernte, nahm Toms Bruder Sid die Zuckerdose und ließ sie fallen. Da der
Musterknabe Sid für die Tante keineswegs der Missetäter sein konnte, wurde
sofort Tom verprügelt. Darauf schmollte er „in einem Winkel und steigerte
seine Leiden ins Unendliche“. Er wußte, daß die Tante innerlich vor ihm auf
1) Mark Twain, Tom Sawyers Abenteuer und Streiche. (Übersetzt von
Margarete Jakobi.)
— 39 —
den Knieen lag, und dies Bewußtsein tat ihm wohl bis in die. kleinste Zehe,
Er wollte sich um niemanden, niemanden mehr kümmern. Er fühlte, wie ihn
von Zeit zu Zeit ein sehnsüchtiger, tränenverschleierter Blick traf, er aber tat,
als merkte er nichts und brütete nur stumm vor sich hin. Er sah sich krank,
sterbend auf seinem Bette hingestreckt. Die Tante beugte sich über ihn und
flehte händeringend um ein einziges, kleines, armes Wort der Vergebung. Er
aber wandte das Gesicht ab, stumm, tränenlos und starb, — starb, und das Wort
der Vergebung blieb ungesagt. Was würde sie dann tun? — Oder er sah sich,
wie man ihn vom Fluß zurückbrachte, tot, mit triefenden Haaren, blassem,
stillem Antlitz, endlich Ruhe und Frieden im armen, gequälten Herzen — für
' immer. Wie würde sie sich über ihn werfen, wie würden ihre Tränen strom-
weise fließen und wie würde sie Gott anrufen, ihren armen Jungen lebendig zu
machen, den sie auch nie, nie wieder mißhandeln wollte. Er aber läge da, kalt
und still, ein armer Märtyrer, dessen Leiden zu Ende.“ —... „Ob sie (Becky)
ihn wohl bemitleiden würde, wenn sie es wüßte?“ In der Dunkelheit wanderte
er darauf vor ihr Haus. Aus einem Fenster des zweiten Stockes kam Licht. Sollte
es ihr Zimmer sein? „Voll Rührung schaute er hinan, dann streckte er sich der
Länge nach auf den Boden aus, die Hände, welche die verwelkte Blume um-
schlossen (aus Beckys Garten), auf der Brust faltend. So wollte er sterben, —
draußen in der kalten Welt, kein Dach über seinem heimatlosen Haupte, keine
Freundeshand, die ihm den Todesschweiß von der Stirne wischte, kein liebendes
Antlitz, das sich mitleidsvoll über ihn beugte, wenn der letzte große Kampf nahte.
So sollte sie ihn sehen, wenn sie das Fenster öffnete, um den Jungen Morgen zu-
zulächeln, und ach — würde sie wohl dem Toten eine Träne weihen, einen Seufzer
hauchen über den leblosen stillen Rest, der alles war, was von dem frohen,
Jugendlichen, vor der Zeit in der Wurzel geknickten, jungen Leben geblieben ?*
Jeden Montagmorgen war Tom beim Erwachen sehr niedergeschlagen, „denn
damit begann ja eine neue Woche der Plage und des Leidens in der Schule. . A
Plötzlich kam ihm eine leuchtende Idee: wenn er nun krank wäre, dann brauchte
er nicht zur Schule. Gestern in der Sonntagsschule hatte er, im Bestreben, seiner
Geliebten zu imponieren, eine schwere Niederlage erlitten, weshalb er die Ver-
wirklichung jener Idee nun ernsthaft betrieb. Er spürte einen Schmerz in einer
Zehe und begann zu stöhnen. Dazu entdeckte er noch einen wackligen Zahn. Es
gelang ihm endlich, Sid zu wecken. „Ich verzeih’ dir alles, Sid, was du mir je
getan hast (Stöhnen). Alles, alles Sid! Wenn ich tot bin... ,.“ Tante Polly kam,
durchschaute aber den Jungen. Er mußte doch zur Schule, verspätete sich aber,
und als er sah, daß Becky nun auch die Schule besuchte und als Neueingetretene
allein auf einer Bank saß), forderte er den Lehrer heraus, bekam seine Prügel und
wurde zur Strafe zu den Mädchen gesetzt. Durch seine Zeichnungen gewinnt
er schließlich Beckys Aufmerksamkeit. Damit er sie auch zeichnen lehren könne,
verabredeten die beiden, nach der Schule dazubleiben. Die Zeichenlektion endete
mit einer „Verlobung“. Tom belehrte Becky, wie Verlobte sich zueinander zu
benehmen hätten, und als er ihr dann auseinandersetzte: „Ei, ich und Anny
Lorenz —“ rief Becky erschreckt: „O, Tom, ich bin also nicht die erste, mit der
— IM. —
du verlobt bist? Als Tom sah, daß alles vergeblich war, dem Schluchzen der
enttäuschten und eifersüchtigen Geliebten Einhalt zu tun, und als sie sogar das
„Kleinod seines Herzens“, einen Messingknopf, verschmähte und ihm aus den
Händen schlug, verließ er die Schule und zog sich in das Waldesdickicht zurück,
wo er sich auf das Moos niederwarf. „Des Knaben Seele badete gleichsam in
Schwermut, seine Gefühle befanden sich im glücklichsten Einklang mit der Um-
gebung. Lange saß er so, die Ellbogen auf die Kniee, das Gesicht in die Hände
gestützt und dachte nach. Ihm schien das Leben im besten Falle nur eine Last zu
sein, und er beneidete beinahe den Jimmy Hodges, der kürzlich von dieser Last
erlöst worden war. So friedlich und schön dachte er sich, da unten zu liegen, zu
schlummern und zu träumen für immer und ewig, während der Wind in den
Bäumen spielte und mit den Blumen und Gräsern koste, die auf dem Grabe
standen. Da gab es denn nichts mehr, über das man sich zu quälen und zu grämen
brauchte. ... Und was jenes Mädchen betraf — was hatte er eigentlich getan?
Nichts. Er hatte es so gut gemeint wie nur einer in der Welt und war behandelt
worden wie ein Hund — wie ein elender Hund. Sie würde es bereuen eines
Tages — wenn es zu spät wäre vielleicht. Ach, wenn er nur sterben könnte, nur
für einige Zeit!“ Als Tom am andern Tage für das Schulschwänzen am vor-
herigen Nachmittag eine "Tracht Prügel empfangen hatte, „verfügte er sich nach
seinem Platze, stützte die Ellbogen auf den Tisch, das Kinn in die Hände, bohrte
den Blick in die Wand und saß da, ein Bild starrer Verzweiflung, die ihre Grenzen
erreicht hat und nicht weiter zu gehen vermag. Sein Ellbogen ruhte auf irgend
etwas Hartem. Nach einer geraumen Zeit änderte er langsam und traurig seine
Stellung und nahm dies Etwas mit einem Seufzer zur Hand. Es war in Papier
eingeschlagen. Er entfaltete es. Ein langgezogener ungeheurer Seufzer folgte. — |
Es war jener Messingknopf, den er Becky gestern geboten. Dieser letzte bittere.
Tropfen brachte den Becher seiner Trübsal zum Überfließen“.
Da blieb Becky der Schule fern. „Sie war krank. Wenn sie nun sterben müßte?
Verzweiflung, Wahnsinn lag in dem Gedanken. Ihn lockte nichts mehr hienieden.
Die Sonne des Lebens war entschwunden, nur die qualvollste Finsternis geblieben“.
Tante Polly kämpfte vergebens gegen die Schwermut des Jungen an,
Eines Tages schaute 'l’om nicht mehr vergeblich vom Schulhause aus den Schul-
weg entlang: „Da trat ein verspäteter Rock durchs Tor, hoch auf schlug Toms
Herz in Wonne und Entzücken. Im nächsten Moment war er draußen und
gebärdete sich wie ein Indianer, johlte, lachte, jagte die Jungen vor sich her, setzte
über den Zaun mit Gefahr für Leib und Leben, schlug ein Rad, stellte sich auf
den Kopf, kurz, er verrichtete unzählige Heldentaten und hielt dabei immer ein
wachsames Auge auf Becky geheftet, um zu sehen, ob sie Notiz davon nehme“.
Tom näherte sich ihr mit seinen Künsten immer mehr, bis er schließlich „dabei
selber zappelnd dicht vor die Nase Beckys hinfiel, diese beinahe mit sich zu Boden
reißend. Sie aber wandte sich um, hob das Näschen in die Luft, und er hörte sie
sagen: ‚Ph-Ph! ’s gibt Jungens, die sich für furchtbar interessant halten, — immer
müssen sie sich zeigen!‘ Toms Wangen brannten. Er rappelte sich auf und schlich
davon, gedemütigt, vernichtet“.
— 391, —
-— —
„Tom war nun fest entschlossen. Er war finsterer, verzweifelter Gedanken voll.
Er kam sich als verlassener, freudloser Knabe vor, den niemand liebte. Wenn sie
erst merkten, zu was ihre Lieblosigkeit ihn getrieben, würde es ihnen vielleicht
leid sein. Er versuchte das Rechte zu tun, gut zu sein, sie ließen’s ja nicht zu,
Da sie ihn denn durchaus los sein wollten, so sollten sie ihren Willen haben.
Natürlich würden sie ihn allein für die Folgen verantwortlich machen, — aber
so ist’s immer! Hat ein Freudloser und Ausgestol3ener das Recht, zu klagen ? Jetzt,
da sie ihn zum Äußersten getrieben, wollte er das Leben eines Verbrechers führen.
Ihm blieb keine Wahl. Unter solchen Betrachtungen war er so weit über die
Wiesen geschritten, und die Schulglocke, welche die Säumigen mahnte, klang
ihm nur schwach ins Ohr. Er schluchzte jetzt beim Gedanken, daß er nie, nie
wieder diesen altvertrauten Ton hören sollte, — es war hart, so furchtbar hart,
aber — sie zwangen ihn ja dazu. Da sie ihn vertrieben hatten, hinausgestoßen
in die kalte, unbarmherzige Welt, so mußte er sich darein ergeben,. — aber er
verzieh ihnen, verzieh ihnen allen. Das Schluchzen wurde stärker, erschütternder“.
Da stieß Tom mit seinem Busenfreund Joe zusammen, „der finster blickend
dahertrottete, augenscheinlich einen schrecklichen, schwerwiegenden Entschluß
herumwälzend“. — „Seine Mutter hatte ihn geprügelt, weil er Rahm getrunken
haben sollte, von dem er doch rein gar nichts wußte. Es sei klar, sie wolle nichts
mehr von ihm wissen und ihn los sein. Solchen Empfindungen gegenüber, — was
bleibe ihm da anderes übrig, als sich darein zu ergeben? Möge es ihr wohl
ergehen, und möge sie niemals bereuen, ihren armen Jungen hinausgetrieben zu
haben in die kalte, fühllose Welt, um da zu leiden und schließlich zu sterben“.
Dann begannen die beiden, Pläne zu schmieden. „Joe war dafür, ein Eremit
zu werden, von harten Brotkrusten und Wasser in einer finsteren Höhle zu leben
und eines Tages aus Not, Kälte und Kummer zu sterben. Nachdem er aber Toms
Plan gehört, gab er zu, daß das Leben eines Verbrechers doch einige hervor-
ragende Vorteile böte und willigte ein, als Seeräuber sein Heil zu versuchen“,
50 beschlossen die beiden nun, als Seeräuber nach einer nahen Insel des Missis-
sippi zu ziehen. Sie holten Huck, einen verwahrlosten, gutmütigen Jungen ab und
fuhren um Mitternacht auf einem Floß los. Als sie außer Sicht des Städtchens waren,
sandte Tom „seinen letzten Blick, zufriedenen, wenngleich gebrochenen Herzens.
Er wünschte sehnlichst, sie könnte ihn jetzt sehen, da draußen auf der wilden
See, der Gefahr und dem Tode ins Antlitz schauend, unverzagten Herzens, mit
einem grimmigen Lächeln auf den Lippen, seinem Untergang entgegensehend.“
Auf der Insel richteten sich die Jungen ein. „Herrlich, unbeschreiblich schön
war das freie, wilde Leben im jungfräulichen Walde einer unbekannten, unbe-
wohnten Insel, weitab vom Getriebe der Menschen, und sie schwuren sich, nimmer-
mehr zurückzukehren in die Fesseln der Zivilisation“. Am Abend des folgenden
«Tages hörten sie Schüsse und gewahrten eine Fähre, die nach Ertrunkenen suchte,
„Jungens, ich weiß, wer dort ertrunken ist — wir sinds!“ meinte Tom. „Und sie
fühlten sich als Helden im nächsten Augenblick. Das war ein glorreicher Triumph!
Sie wurden vermißt, betrauert, Herzen brachen ihretwegen, Tränen flossen. An-
klagende Erinnerungen an Unfreundlichkeiten gegen diese armen, nun verlorenen
— 31 —
a d
Knaben tauchten auf, Bedauern und Reue beschlich die betreffenden Herzen, und
was noch das beste von allem war, die Verschwundenen bildeten das Gespräch
der ganzen Stadt“.
Als es Nacht wurde, durchschwamm Tom heimlich den Fluß und ging nach
Hause, wo er sich unbemerkt in die Stube schlich, so daß er die Möglichkeit
hatte, die Gespräche der Tante Polly und der Mutter Joes zu belauschen. „Ja,
wie ich gesagt habe“, fuhr die Tante fort, „schlecht war er nicht, was man so
schlecht heißt, nur immer voller Torheiten, voller Unsinn und immer oben hin-
aus, wißt ihr. Ihm konnte man’s aber so wenig übelnehmen wie einem Füllen, er
dachte sich weiter nichts dabei, war, weiß Gott, der gutherzigste Junge, der lebte
und — *... sie begann zu weinen. „Grad so war mein Joe“, sagte Frau Harper,
„immer voller Teufeleien und zu jedem tollen Streich aufgelegt, aber so selbstlos
und so gut dabei wie nur möglich. Und, der Himmel verzeih’ mir’s, ich, ich,
seine eigene Mutter, geh’ hin und hau’ ihn durch, weil ich mein’, er hat den
alten Rahm genommen, denk’ nicht daran, daß ich den doch selber fortgeschüttet
habe, weil er sauer geworden war. Und jetzt soll ich ihn nie wieder sehen in
dieser Welt, den armen, mißhandelten Jungen, nie, niemals wieder!“ Und Frau
Harper schluchzte, als wollte ihr das Herz brechen.
'Tom vernahm aus den weiteren Reden, dal} man, als das leere Floß auf-
gefunden wurde, annahm, die Jungen seien ertrunken und daß man die Leichen
suchte, aber nicht fand. Sollten sie bis Sonntag nicht gefunden werden, dann würde
für die Toten ein Trauergottesdienst in der Kirche abgehalten. Mit dieser Nach-
richt schlich sich Tom davon und langte am Morgen wieder bei seinen Kameraden
an. Den „Seeräubern“ war der Mut bereits bedenklich gesunken, sie hatten Heim-
weh, und ein starkes Gewitter kühlte sie gehörig ab und jagte ihnen Furcht ein.
Immerhin hielten sie aus, um erst am Sonntag zurückzukehren und die eigene
Leichenrede anzuhören. Bei Tagesanbruch schlichen sie in die Kirche und ver-
steckten sich auf der Empore.
„Keiner konnte sich erinnern, die kleine Kirche jemals so voll gesehen zu
haben. ... Dann erhob der Geistliche seine Stimme und betete. Ein ergreifendes
Lied wurde gesungen, dann folgte die Predigt. In seiner Predigt entwarf der
Geistliche ein solch glänzendes Bild von den Tugenden, der Liebenswürdigkeit
und den vielversprechenden Talenten der Verlorenen, dal jeder der Zuhörer in
der ehrlichen Meinung, dies getreue Abbild wiederzuerkennen, einen Stich im
Herzen fühlte bei dem Gedanken, wie beharrlich blind er selber gegen alle diese
Vorzüge gewesen. ... Die Versammlung wurde immer bewegter, je weiter der
Geistliche in seiner pathetischen Rede vorrückte, bis schließlich die ganze Gesell-
schaft jegliche Fassung und Haltung verlor und sich in vollem Chor dem Schluchzen
und Seufzen der trauernden Hinterbliebenen anschloß. Ja, den Geistlichen selbst
übermannten seine Gefühle, er verstummte und weinte auf offener Kanzel. —
Ein Rascheln ertönte von der Emporkirche, auf das niemand achtete. Einen
Moment später knarrte eine Türe, der Geistliche erhob seine strömenden Augen
über das verhüllende Taschentuch und — stand und starrte wie versteinert! Erst
folgte ein Paar Augen der Richtung der seinen, dann ein zweites, und plötzlich
— 39 —
erhob sien, wie von einem gemeinsamen Antrieb beseelt, die ganze Gemeinde
und starrte auf die toten Jungen, welche gemächlich den Mittelgang herauf-
marschierten, Tom voran, Joe hinter ihm, zuletzt Huck, eine wandelnde Ruine in
Lumpen. Die drei waren in jener unbenutzten Emporgalerie verborgen gewesen
und hatten ihre eigene Grabrede mitangehört!“
Becky suchte sich Tom zu nähern. Er aber beschloß, „sich unabhängig zu
machen von Becky Tatcher. Ruhm war ihm genügend, nach Liebe fragte er nicht
mehr“. Als er aber Becky mit einem andern vertraulich ein Bilderbuch betrachten
sah, „rieselte die Eifersucht glühend heiß durch seine Adern. Er haßte sich selber,
daß er die Gelegenheit verpaßte, die Becky ihm geboten, um wieder gut Freund
zu werden. .... ‚Jeder andere Junge‘, dachte Tom zähneknirschend, ‚jeder andere
Junge, nur nicht der‘“. Als dann später Tom eine Tracht Prügel für ein Ver-
gehen Beckys, dessen er sich selber in der Schule bezichtigte, entgegengenommen
hatte, kam es zur Versöhnung.
Becky gab ein Picknick, zu dem die Kinder der Stadt eingeladen waren.
Nachher wurde die große Höhle besucht. Becky und Tom wanderten zusammen
und stiegen immer tiefer in die Höhle, so daß sie sich verirrten. Drei Tage lang
wurden sie gesucht und nicht gefunden. Die beiden glaubten bereits, hier ein
gemeinsames Grab zu finden, als Tom schließlich gegen den Strom hin einen
Ausgang fand, durch den sie hindurchschlüpfen konnten, Groß war der Jubel,
der die Verlorengeglaubten empfing.
Il
Wer erinnert sich nicht, einmal ähnliche Phantasien gehabt zu haben, wie sie
Mark Twain in den mitgeteilten Stücken seines „humoristischen Romans“ yon
seinen Helden berichtet? In den Analysen von Neurotikern werden häufig der-
artige Todes- und Selbstmordphantasien erinnert, Sie stammen in der Regel aus
den beiden Pubertätszeiten (Ödipuszeit und eigentliche Pubertät) und stimmen oft
weitgehend nach Verlauf, Ursache und Sinn mit denen von Tom Sawyer überein,
Sie werden etwa ausgelöst durch eine als ungerecht empfundene Strafe oder durch
eine andere Zurücksetzung. Das wird als deutlicher Beweis dafür genommen, daß
man nicht oder nicht mehr geliebt wird: |
Nun mag ich nicht mehr länger leben,
verwünscht ist mir das Tageslicht,
sie hat Franzen Kuchen gegeben,
mir aber nicht!
Matthias Claudius.
Die Phantasien heben gewöhnlich damit an, daß der „Ungeliebte* sich ins
Wasser gehen sieht, ertrinkt und herausgezogen wird. Die Personen, die ihm die
Liebe entzogen haben, stehen erschüttert an der Bahre oder am Grabe, ergehen
sich in ‚Selbstanklagen, da sie nun einsehen, das Unglück verschuldet zu haben.
Sie geben ihrem Schmerz: dafür Ausdruck, daß sie einen braven und zu allen
Hoffnungen berechtigten Menschen verloren haben. Der Höhepunkt liegt für den
Phantasierenden dort, wo er als Zuschauer das Verhalten der Leidtragenden
— 394 —
beobachten und ihre Reden hören kann. Dieses Dabeisein ist bei Mark Twain
besonders dramatisch in der Seeräuberepisode dargestellt, wo er schildert, wie
Tom eines Abends zur Tante zurückkehrt und die Gespräche belauscht und wo er
die „Toten“ ihre eigene Grabrede hören läßt. Wir werden im folgenden diese
Episode als Phantasie behandeln, da sie den Charakter einer solchen hat. Eine
beachtenswerte Einzelheit ist die, daß in manchen Phantasien die trauernden
Hinterbliebenen, in der Regel sind es die Eltern, vor Gram und Schmerz gebrochen,
sterben. Toms Tante meinte: „Ich weiß nicht, wie ich’s überleben soll! Er war
mein ganzer Trost, obgleich er mein altes Herz fast aus dem Leibe herausquälte“.
Und Joes Mutter schluchzte, „als wollte ihr das Herz brechen“.
An Stelle des Selbstmordes tritt in manchen Phantasien das Ausreißen, das
meistens auch mit dem Tod endet. Man irrt in der Welt herum und sieht, wie
sich die Eltern zu Hause nach dem Jungen sehnen, alles tun, um ihn zurück-
zubekommen. Er aber wendet sich trotzig von ihnen ab und sieht zu, wie sie,
innerlich gebrochen, früh sterben. Oder aber, er kehrt zurück als reifer und
berühmter Mann und vernimmt jetzt, daß seine Eltern längst aus Gram gestorben
sind. Leben sie noch, so schüttet er Kohlen auf ihre schuldbeladenen Häupter.
Oft auch schickt er in der Phantasie jemanden mit der Nachricht von seinem
entsagungsvollen Leben und seinem einsamen Tod nach Hause, was den Zusammen-
bruch der Eltern vollendet.
Versuchen wir nun, die Psychologie der Todes- und der Selbstmordphantasien der
Helden Mark Twains nach Ursache und Sinn darzustellen. Diese Phantasien treten
immer im Gefolge von Liebesversagungen und narzißtischen Kränkungen, Krän-
kungen der Eigenliebe auf. Tom ist hiefür außerordentlich empfindlich. Er hat ein
überbetontes Liebesbedürfnis, dessen Verwirklichung er sich aber wiederholt durch
sein Verhalten unmöglich macht. (Liebestrotz.) Offenbar liegen hier innere Hem-
mungen vor. Wenn wir im folgenden von Liebesversagungen sprechen, so meinen wir
damit sowohl Liebesentzug wie Liebeshemmung. Eine solche Versagung zieht eine
Reihe negativer Gefühle nach sich, die in den Phantasien verarbeitet werden.
Tom wie auch Joe fühlen sich wiederholt in die kalte, fühllose und un-
barmherzige Welt hinausgestoßen. Der aktive und passive Entzug
der Liebe hat die Herabsetzung der Gefühlslage zur Folge und äußert sich als
Traurigkeit und als Verarmung der Beziehungen zur Außenwelt. Toms Messing-
knopf wird als Liebespfand zum „Kleinod seines Herzens“, während mit dem
Liebesverlust die ganze Welt wertlos wird, alle Errungenschaften der Kultur
werden zu Fesseln, von den Erwachsenen erfunden, um die Kinder zu plagen. Als
Folge des Verlassenseins in der unbarmherzigen Welt erwarten wir noch Angst.
Von einer solchen wird erst auf der Insel berichtet, als die Jungen, von Heimweh
geplagt, ein Gewitter über sich ergehen lassen müssen. Dabei sehen wir von
Erlebnissen, die die Liebesgeschichten begleiten, aber direkt nichts mit ihnen zu
tun haben, ab. Bei der Friedhofszene z. B. standen die Jungen „Todesängste” aus.
Möglicherweise hat die mit der depressiven Stimmung auftretende Phantasie die
Aufgabe, die Angst abzubremsen. Denn hier wird die verlorene Liebesbeziehung
wiederhergestellt und die narzißtische Kränkung mehr als wettgemacht. Der
— 865 —
Phantasierende rückt sich in den Mittelpunkt des Interesses der andern. Das eigen-
tümliche ist nur dies, daß diesem Ausgleich der Tod vorangehen muß. Einen
andern, sagen wir gesünderen Ausgang könnte die Phantasie nehmen, indem sie
ihren Träger in die weite Welt gehen ließe, wo er sich einen bedeutenden Namen
erwirbt, nach Hause zurückkehrt und nun, von den Eltern geachtet, diese mit
Liebe überschüttet. Daß die negative Stimmung zu Todesgedanken führt, muß
von besonderen Faktoren abhängen. Und das dürften die Schuldgefühle sein. Die
Schuld an dem betrüblichen Ausgang wird in den Phantasien restlos den Liebes-
objekten aufgebürdet. Die Schuldüberwälzung geht so weit, daß die Erwachsenen
in ihren Reden die Verfehlungen der Buben als harmlos erklären und das eigene
Verhalten als Lieblosigkeit und Kurzsichtigkeit anerkennen und tief bedauern.
Diese streng durchgeführte Schuldabwälzung spricht für ein starkes eigenes Schuld-
gefühl. Die den Erwachsenen zugedachten Feindseligkeiten und die Schuld an den
Liebesverlusten ermöglicht einen auf sie gerichteten Haß mit Rachetendenzen, es
steigt die Wut und das Verlangen auf, die Schuldigen zu vernichten. Diese Todes-
wünsche werden dadurch erleichtert, daß mit dem Rückzug der positiven Gefühle
vom Liebesobjekt dieses ja schon „verloren“ gegangen ist. Aber die Wertschätzung
und das starke Liebesverlangen dem Liebesobjekt gegenüber gebietet der Angriffs-
lust Einhalt, und das aus dieser Spannung sich ergebende Schuldgefühl legt diese
Tendenz vollends lahm. Es entsteht die Aktionsunlust des depressiven Tom oder
der Wunsch Joes, sich in eine einsame Höhle zurückzuziehen. Es traten also
Schuldgefühle und die durch das Versagen der Haßregungen entstandene ohn-
mächtige Wut zu der Trauer um das verlorene Liebesobjekt und zum Erlebnis
der Verarmung. Die Verstimmung nähert sich dadurch einer melancholischen,
und diese dürfte nun den geeigneten Boden zu den Todes- und Selbstmord-
phantasien abgeben. Der gesetzte eigene Tod, primär angenommen als Erlösung
von der Qual des Liebesverlustes und der Kränkungen, ermöglicht jetzt die
Realisierung der zurückgehaltenen Wünsche. Ausgehend von der Annahme, der
Phantasierende erfülle die Wünsche der Erwachsenen, die ihn loshaben wollen,
wird der eigene Tod phantasiert und dadurch das Schuldgefühl durch die Sühne
nach dem Gesetz des gerechten Ausgleichs (womit du sündigst, wirst du bestraft)
überwunden. Jetzt kann die Rache sich durchsetzen: Es geschieht dir recht, wenn
ich sterbe und du mich nicht mehr hast, warum hast du mich nicht geliebt.
Jetzt kannst du um mich trauern, wie ich um dich trauern muß, und wenn dir
auch das Herz dabei bricht, mir hast du es ja auch gebrochen! Gleichzeitig
werden Liebeswünsche und Geltungsbedürfnisse in einer überschwenglichen Weise
genossen. Die Selbstmordphantasie führt zuletzt zu einem gemeinsamen Sterben
mit dem Liebesobjekt, wobei neben den aggressiven auch die Liebestendenzen
(„ewig vereint sein“), ihre Erfüllung finden können. Die Abenteuer Toms ent-
halten diesen Zug in dem Höhlenerlebnis, wo Tom und Becky sich nach der
Versöhnung verirrten und glaubten, hier gemeinsam sterben zu müssen.
Im Seeräuberabenteuer kommt es nach dem Wegwenden von der bisherigen
Welt, der Ursache all der Qualen, zu einer Überwindung der melancholischen
Stimmung durch die Verschiebung der Aggressionstendenzen. Die Namen, die
— 396 —
sr
die Jungen sich beilegten, weisen auf ihr Programm hin: „‚Wer naht sich dort ?‘—
‚Tom Sawyer, der Schwarze, Rächer der spanischen Meere. Nennt Eure Namen !'—
‚Huck Finn, die blutige Hand‘ und Joe Harper, ‚der Schrecken der See! —
‚Gebt das Feldgeschrei!' — In dumpfem, grauenvoll durchdringendem Flüsterton
erklang von zwei Stimmen zugleich dasselbe schreckliche Wort in die brütende
Nacht hinein: ‚Blut‘“.
Wenn Tom „jetzt, da sie ihn zum äußersten getrieben, das Leben eines Ver-
brechers führen“ und „mit einem grimmigen Lächeln auf den Lippen seinem
Untergang entgegengehen“ wollte, so dürfte klar sein, daß dieser „Verbrecher“
als Kompromißleistung aus den, von den Liebesversagungen stammenden auf an-
dere gerichteten Todes- und Rachewünschen, aus den dem Schuldgefühl folgenden
Selbstbestrafungstendenzen und den eigenen Weltfluchtwünschen anzusehen ist. Die
Andern, die Welt und die eigene Person sollen vernichtet werden. Es wäre interessant,
die Psychologie des Verbrechers in Mark Twains Roman weiter zu verfolgen
und dabei die Verbrechergeschichten des „Indianers Joe“, in die die Jungen ver-
wickelt waren, einzubeziehen. Doch, das mag einer besonderen Betrachtung vor-
behalten bleiben.
Zusammenfassend können wir sagen, dal die Todes- und Selbstmordphantasien
der Helden Mark Twains auf dem Boden einer starken Liebessehnsucht, die
einerseits gehemmt ist, und andererseits leicht Kränkungen unterliegt, gedeihen. Sie
erstreben die Verwirklichung einerseits von Liebes- und Geltungsverlangen, ander-
seits von Haß- und Racheabsichten, die wegen Liebesversagung und narzißtischer
Kränkung reaktiv entstanden sind. Weiterhin sollen sie Erlösung von den durch
Versagung und Hemmung dieser Wünsche entstandenen Qualen der depressiven
Stimmung bringen. Diese Verstimmung ist zuerst eine traurige, geht dann mit
der Abwehr von Haß- und Rachetendenzen und mit den Schuldgefühlen in eine
melancholische über. Mit dieser dürfte die Selbstmordphantasie einsetzen, die
durch das Opfer des eigenen Lebens die Schuld tilgt und so den Weg zu der
Darstellung der mit Liebe und Haß zusammenhängenden Wünsche freimacht.
II
Bei einem Knaben, der wie Tom reagiert, vermuten wir eine entsprechende
unbewußte historische Reaktionsbasis, d. h. verdrängte infantile Erlebnisse von
Liebesversagungen. Hiezu enthält nun der Roman eigentlich bloß zwei Angaben,
die allerdings nicht unbedeutend sein dürften. Tom lebt bei seiner Tante, und
diese nennt ihn „meiner toten Schwester einziger Junge“. Der frühe Tod der Mutter
bedeutet eine Liebesversagung und kann zu einem unstillbaren Liebesverlangen
und zu dem Wunsche, mit ihr im Tode vereint zu sein, führen. Dann ist die
Person Sids zu erwähnen, eines Musterknaben, der stets der Tante zu Gefallen
lebt und Tom verklatscht. Sid wird von Tom tödlich gehaßt. Die verwandt-
schaftlichen Beziehungen sind unbestimmt. Es wird von Sid gesagt, er sei Toms
„jüngerer Bruder oder besser Halbbruder“. Jedenfalls ist die Situation die, daß
der Jüngere sich zwischen den Ältern und die Tante schiebt und Toms Eifer-
Zeitschrift f. psa. Päd., III/ı1,12/13 — 307 ae .
sucht weckt. Es dürfte dies die Wiederholung eines früheren Vorganges sein, da
die Mutter zu dem „einzigen Jungen“ noch einen Nebenbuhler irgendwie ins
Haus brachte. Wir glauben annehmen zu dürfen, daß Mark Twain, der, wie wir
sahen, ein guter Kenner der Psychologie der Liebesversagungen ist, die beiden
genannten Verhältnisse nicht zufällig in seinem Roman verwertet.
Hier anschließend möchte ich einige Hinweise auf die Möglichkeiten zu
Liebesversagungen und narzißtischen Kränkungen in der frühen Kindheit geben,
die dann zu Vorbildern von späterem Verhalten werden können. Die Kindheit
verlangt einen fortgesetzten Ablösungsprozeß von der Mutter, dem ersten Liebes-
objekt, und Anpassung an die Personen und Dinge der Umwelt. Da sind allerlei
An- und Einpassungsschwierigkeiten möglich, die an den Konfliktstellen den Ent-
wicklungsvorgang als ein „Hinausgestoßenwerden in die kalte, fühllose und un-
barmherzige Welt“ empfinden lassen.
Eine Analysandin erwacht in einer Nacht „schrecklich“ frierend. Sie wird
gewahr, daß ihre Bettdecke zu Boden gefallen ist. Der Traum, aus dem sie auf-
wacht, gibt eine andere Begründung für die intensive Kälteempfindung, Sie träumte
nämlich ihre eigene Geburt. Mit dem Verlassen des Mutterleibes im Traume
setzte das Kälteerlebnis ein. Wenn wir auch annehmen, daß dieses durch das
Hinunterfallen der Bettdecke hervorgerufen wurde, so ist doch seine Verbindung
mit der Geburt im Traume eigentümlich und darf gewiß als eine Reproduktion
dieses Erlebnisses aufgefaßt werden. Von der Temperatur im Mutterleibe zur
Zimmertemperatur besteht gewöhnlich ein nicht geringer Abfall. Die genannte
Patientin war überhaupt gegen Kälte sehr empfindlich. Dieses Frieren, das be-
sonders dann gerne auftrat, wenn sie sich einsam fühlte, oder wenn ihr von
andern Menschen nicht die gewünschte Wärme entgegengebracht wurde, erwies
sich als neurotisch. In früher Jugend verlor die Analysandin ihren geliebten Vater.
Die Mutter kümmerte sich weiter gar nicht mehr um die Kinder, so daß sie von
den Freunden des Vaters anderweitig versorgt werden mußten. Während der
Analyse wurden mancherlei Todes- und Selbstmordphantasien ältern und neuern
- Datums reproduziert. Sie förderten Haß- und Rachetendenzen segen Mutter und
Geschwister zutage. Erwähnung verdient hier noch ein Zwangssymptom, das sie als
Kind produzierte. Da gab sie oft dem Zwange nach, alle Eier und alle Küchlein,
deren sie habhaft werden konnte, zu vernichten. Die Vernichtung der Küchlein
galt den Geschwistern: die Kinder und das, woraus sie kommen, sollten beseitigt
werden.
Wir müssen annehmen, daß die Geburt vom Kinde irgendwie als feindseliger
Akt empfunden wird. Er wird aber bald wieder gut gemacht, indem durch das
Gestilltwerden die Liebesbindung mit der Mutter wiederhergestellt wird. Tritt
aber: hier ein Versagen ein, sei es, dal die Mutter das Kind nicht oder nur
mangelhaft zu ernähren vermag, dal3 es plötzlich oder sonstwie ungeschickt ent-
wöhnt wird, so wiederholt sich das Weggestoßenwerden in die kalte Welt, und
die Wunde, die die Geburt geschlagen hat, kann nicht vernarben, im Gegenteil,
sie wird vertieft. Eine andere Patientin, die ebenfallssehr gegen Kälte empfindlich
war: und die sehr 'schwer in ein „warmes“ Verhältnis zu andern Menschen ge-
— 398 —
langen konnte, empfand ihr unsympathische Menschen so, als ob ein Strom von
Kälte von ihnen ausginge, den sie körperlich empfand. Ihre Stimmung war dabei
depressiv, und sie fühlte sich wie gelähmt. Die Mutter hatte sie nie gestillt. Als
sie dies einst vernahm, empfand sie jenen Haß gegen die Mutter, der ihr oft
. anscheinend unvermittelt und unerklärlich aufstieg, in verstärktem Maße. Daneben
hatte sie ein unstillbares Liebesverlangen zur Mutter. Bei der Auflösung der
psychogenen Kälteempfindungen, der Depressionen und des Gelähmtseins kamen
regelmäßig Tendenzen zum Schlagen, Töten, Beißen und Verzehren von Personen,
zu denen sie in einem ambivalenten Liebe-Haß-Verhältnis stand, zum Vorschein,
Tendenzen, die frühinfantilen Ursprungs waren und sehr wahrscheinlich in der
ohnmächtigen Wut des schreienden Säuglings ihren Anfang nahmen.
Von der Zeit des Greifens bis zum sichern Gehenkönnen, da die Ablösung
vom Mutterschoß und die Einpassung in die Umwelt zu erfolgen hat, sind durch
den Zusammenstoß mit den Dingen mancherlei Erlebnisse des Überlassenwerdens
an eine kalte und feindselige Welt möglich. Dabei reagiert das Kind entweder
mit stärkerem Anklammern an die Pflegepersonen oder mit Wut auf die Dinge,
besonders auch dann, wenn die Pflegepersonen den ihnen zugedachten Affekt auf
den Tisch ablenken, an dem das Kind den Kopf angestoßen hat und der nun
dafür bestraft wird. Weitere Liebesversagungen, wo sich die F eindseliskeiten und
Beseitigungswünsche direkt auf bestimmte Personen richten, sind zu verzeichnen
durch die Geburt eines Geschwisterchens, wo sich das Kind von der Mutter ver-
lassen, verraten und weggestoßen vorkommt, weiter in der Zeit der Ödipus-
situation. Das sind alles Dinge, die dem Leser hinreichend bekannt sein dürften.
Besonders diese Zeit ist ja reich an Selbstmordphantasien, worauf wir oben hin-
wiesen.
Aus allem sehen wir, dal in der Kindheit seit dem ersten Hinausgestoßen-
werden in die kalte Welt durch die Geburt eine Kette von sogenannten trauma-
tischen Erlebnissen möglich ist. Es sind Liebesversagungen und narzißtische
Kränkungen, die als größere oder kleinere, aber als bleibende Verwundungen
anzusehen sind, und die zu einer Reaktionsbasis für Todes- und Selbstmord-
phantasien werden können. Die tiefere Tendenz dieser Phantasien seht offenbar
dahin, die erste Versagung rückgängig zu machen und damit alle andern, d.h.
also in den Mutterleib zurückzukehren und sich mit dem ersten Liebesobjekt
unzertrennlich zu vereinigen: „Ach, wär’ der Mensch doch nicht geboren, zu
erleiden solche Pein“! (Joe, der als Einsiedler in der Höhle sterben will, und Tom,
der mit seiner Geliebten in der Höhle dem Tode nahe ist. Auch die einsame Insel
kann als Muttersymbol angesehen werden.)
Doch da wollen wir abbrechen, da die weitere Gedankenführung uns in die
Psychologie des ausgeführten Selbstmordes und des Todes überhaupt führen würde.
IV
Wenn wir die Selbstmord- und Todesphantasien im Romane Mark Twains mit
unsern psychoanalytischen Erfahrungen vergleichen, so erkennen wir, daß der
— 309 — 24*
Autor weitgehende Einsichten in die psychologischen Zusammenhänge besaß. Wir
vermuten, daß er diese nicht bloß aus der Beobachtung kennt, sondern aus der
eigenen Seelenverfassung heraus dargestellt hat. Der Humorist, wenn er echt ist,
träst immer in sich den tragischen Gegenpol. Im „humoristischen Roman“ gelang
es offenbar Mark Twain, mit lachendem Auge dem Spiele jenes tragischen Anteils
seiner Person und dessen Verhalten zum realen Leben zuzuschauen, um sich von
seiner Schwere zu befreien. Wie das Kind durch die Selbstmordphantasien als
eine Art neurotischen Spiels die Tragik des jungen Lebens zu überwinden sucht,
wie es im normalen Spiel den Verlust der geliebten Großmutter verarbeitet, in-
dem es Großmutters Begräbnis in lustvoller Handlung spielt, so wird wahr-
scheinlich hier der Dichter die Selbstmordphantasien seiner Helden zum literarischen
Spiel im humoristischen Roman werden lassen, um sich von der Kurzschluß-
handlung des Selbstmordes wegzuwenden und sich den Weg zum Leben offen
halten zu können. So führt Mark Twain seinen Helden aus den Verirrungen in
der Höhle hinaus (Wiedergeburt), und er läßt die Streiche der Jungen zum guten
ausgehen. Es liegt ganz im Sinne unserer Psychologie, daß er unmittelbar mit der
Höhlengeschichte und andern Abenteuern die Jungen zur V eranlassung werden
läßt, daß einer Mutter das Leben gerettet wird und daß der, der den Mord
beabsichtigte, in der Höhle zum Verhungern verurteilt wird. Anderseits erhält
dadurch der Waisenknabe und Vagabund Huck eine Mutter und er gelanst dann
zu einer Anerkennung der „Zivilisation“.
WINNIE
Der Schülerselbstmord in Andre Gides Roman
„Die Falschmünzer“
Von Dr. Editha Sterba, Wien
Man wird gewiß nicht fehlgehen, wenn man versucht, einen Beitrag zum
Problem des Selbstmords bei den Dichtern zu erhalten, die uns auf so vielen
andern Gebieten der Psychopathologie wertvolle Winke oder Bestätigungen ge-
geben haben. „Dichter verfügen vor allem über die Feinfühligkeit für die Wahr-
nehmung verborgener Seelenregungen bei andern und den Mut, ihr eigenes
Unbewußtes laut werden zu lassen“ (Freud, Beiträge zur Psychologie des Liebes-
lebens, Ges. Schriften, Bd. V). Ä
Im Mittelpunkt von Andre Gides großem psychologischen Roman „Die
Falschmünzer“ steht ein unter besonders merkwürdigen Umständen ausgeführter
Selbstmord eines Jugendlichen. Bevor man aber untersucht, ob der Versuch der
Analyse dieses Selbstmordes irgend einen Beitrag zum Problem des Selbstmordes
liefern kann, wird man sich der Beantwortung einer andern Frage zuwenden
müssen. Gides Roman „Die Falschmünzer“ ist sowohl im Inhalt als auch in der
Form der Darstellung deutlich von der Psychoanalyse beeinflußt. Man darf viel-
leicht die Vermutung wagen, dal sogar die Entstehung dieses Romans in engstem
Zusammenhang steht mit dem Bestreben der Psychoanalyse, zum Verständnis des
künstlerischen Schaffensprozesses zu gelangen.
Man wird sich also die Frage vorlegen müssen, ob ein Werk, dessen Verfasser
an und für sich mit dem Rüstzeug der Analyse an die Wiedergabe der seelischen
Konflikte herantritt und analytische Aufschlüsse über die Psychologie von Kindern
und Jugendlichen in seinem Werk verarbeitet, der Psychoanalyse überhaupt noch
irgend eine Erkenntnis vermitteln kann. Haben nicht Werke, die sozusagen von
einem Tiefenpsychologen geschaffen werden, so wenig Beziehung zu dem „naiven
Tagtraum“ des Dichters, den wir sonst als Grundlage des Kunstwerks annehmen,
daß sie gar keine Hinweise auf das Unbewußte enthalten, dal3 sozusagen alles
bewußt gemacht und gedeutet ist? Wenn wir uns aber vor Augen halten, daß
der Schaffensprozeß, die künstlerische Umformung des „naiven Tagtraums“ immer
im Unbewußten vor sich geht, werden wir erwarten dürfen, daß auch der unter
dem Einfluß der Psychoanalyse schaffende Künstler nicht imstande sein wird,
alles so klar und bewußt gemacht darzustellen, daß der psychoanalytischen Durch-
leuchtung des Kunstwerks nichts mehr zu tun übrig bliebe.
Der dreizehnjährige Boris, dessen Selbstmord den Gegenstand dieser kleinen
Studie bilden soll, ist das Kind einer russischen Klaviervirtuosin und eines Franzosen.
Der Vater starb, als Boris noch klein war. Der Knabe verbrachte seine Kindheit
meist bei der Mutter, die sich ihren Lebensunterhalt zuerst als Pianistin und
dann als Sängerin in Music-halls erwarb. Der Kleine war „von seiner Mutter in
einem Zustand dauernder Überreizung erhalten worden, in einem Zustand, der
den Ausbruch schlimmer nervöser Störungen provoziert“. (Dieses und die folgenden
Zitate nach der deutschen Übersetzung von Ferdinand Hardekopf, Deutsche
Verlags-Anstalt, Stuttgart.) Da er an „einer Menge von Störungen, Tics und Manien
litt“, hatte ihn die Mutter über Sommer einer polnischen Arztin, Frau Sophroniska,
anvertraut. Diese unterzog ihn einer Behandlung, die wie folgt geschildert wird:
„... sie besteht darin, ihn sprechen zu lassen! Ich verbringe jeden Tag ein oder
zwei Stunden mit ihm allein. Ich frage ihn, aber nur sehr wenig...Ich muß -
alles wissen und besonders das, was er am ängstlichsten zu verheimlichen pflegt...
Ich lasse ihn erzählen, was er des Nachts geträumt hat. Wenn ich früh morgens
mit Boris allein bin, so träumt er sozusagen mit sprechendem Munde weiter“.
Man wird die Behandlung des kleinen Boris nach dieser Charakteristik wohl nur
als psychoanalytische Kinderanalyse bezeichnen können.
Bronja, die fünfzehnjährige Tochter der polnischen Ärztin, von der es heißt:
„ihr Blick aber und ihre Stimme scheinen eher einem Engel anzugehören, als
einem Menschen“, scheint durch ihren guten Einfluß auf den kleinen Boris sehr
zum Erfolg der Behandlung beizutragen. Am Ende der Ferien erklärt die Ärztin,
nachdem sie „das gesamte Räderwerk seines geistigen Organismus auseinander-
genommen“, daß sie ihn als geheilt betrachte und er nach Paris in ein Pensionat
kommen dürfe. Dort fühlt sich der kleine Boris sehr einsam und verlassen; die
Kameraden verspotten ihn alle, und es gelingt ihm nicht, Anschluß an irgend
jemanden zu finden. Auch sein Großvater, der im Pensionat Aufsichtsperson ist
und ihn zärtlich liebt, bleibt ihm ganz fremd. Als dann eines Tages Frau
Sophroniska ins Pensionat kommt und Boris den Tod seiner geliebten Bronja
mitteilt, fühlt er sich vollkommen vereinsamt.
Drei Knaben im Pensionat, Gheridanisol, Georges und Phiphi, Sitznachbarn
des kleinen Boris, begründen die „Brüderschaft der starken Männer“ mit dem
= Bi
Wahlspruch „Der starke Mann hängt nicht am Leben“. Georges spielt Boris,
der in ‚seiner völligen Verlassenheit „nach Freundschaft und Achtung lechzt“,
eine Freundschaftskomödie vor und nimmt ihn, nachdem alle drei den Plan aus-
geheckt haben, Boris einen Schabernack zu spielen, in die Brüderschaft auf. Das
Los bestimmt, daß Boris, getreu dem Wahlspruch der Brüderschaft, sich mit der
Pistole seines Großvaters zu einer bestimmten Zeit im Arbeitssaal während der
Nachmittagsarbeitsstunde, bei der gerade sein Großvater die Aufsicht hat, er-
schießen soll. Der Kleine unterwirft sich bedingungslos der Forderung seiner
Kameraden, um ihre Achtung zu gewinnen. Nur Gheridanisol weiß, daß die
Pistole wirklich geladen ist. Die beiden andern Jungen wissen es nicht und
wollen Boris nur Schrecken einjagen. Und am Nachmittag, zur festgesetzten Stunde,
vor den Augen seines entsetzten Großvaters, erschießt sich der kleine Boris.
Es wäre nun ganz verfehlt, anzunehmen, daß der kleine Boris sich wirklich
erschießt, um von seinen Kameraden nicht als Feigling angesehen zu werden.
Denn wir wissen, daß die lebenserhaltende Kraft des menschlichen Ichtriebs so
stark ist, dal) es ganz gewaltiger Verschiebungen im Libidohaushalt bedarf, damit
die lebenserhaltende Kraft vom Zerstörungstrieb überwältigt werde. Wir werden
also tiefergehende, wenn auch vielleicht unbewußte Motive für den Selbstmord
des kleinen Boris annehmen müssen und sie aus dem vorliegenden Material
herauszuschälen versuchen.
Den Kern der seelischen Krankheit des kleinen Boris haben wir in der
Geschichte seines „Talismans“ und seiner „magischen Praktiken“ zu sehen. Der
Knabe besaß ein kleines Stück Pergament, den „Talisman“, den er „neben
heilisen Medaillen, die seine Mutter ihm umgehängt hatte, in einem seidenen
Täschchen auf der Brust trug“. Dieser Talisman hatte eine rätselhafte Inschrift
„Gas — Telefon — hunderttausend Rubel“. Als Neunjähriger lernte Boris in
der Schule einen Jungen kennen, „der ihn in geheime Praktiken, in magische
Künste, wie die Knaben es nannten, einweihte”, Jener Junge hatte Boris zur
Onanie, verleitet, von ihm stammte jener Zettel, der „Talisman“, der „gleich-
sam eine Beschwörungsformel darstellte, das ‚Sesam Öffne dich‘ des schändlichen
'Paradieses, in das die Lust sie entführte“. „Als ‚Magie‘ empfanden die naiv
'verzauberten Kinder ihr Laster, weil sie gehört oder gelesen hatten, die Magie
erlaube, auf geheimnisvolle Weise in den Besitz dessen zu gelangen, was man
begehre, sie verleihe unbegrenzte Fähigkeiten usw. Sie glaubten wirklich, ein
(seheimnis entdeckt zu haben, das über ein reales Fernsein durch imaginäre
Gegenwart hinwegtröstete; sie schwelgten in Selbsttäuschung und berauschten
sich an einem Vacuum, das einer überreizten, lustgenährten Phantasie tausend
märchenhafte Visionen bot.“ |
Wenn die Knaben die ÖOnanie als Magie bezeichneten, die über „reales
Fernsein durch imaginäre Gegenwart hinwegtröstet“, so bedeutet dies, daß sie
ihre Onaniephantasien so überschätzen, daß sie ihnen sogar geheimnisvolle
Wirkungen zuschreiben. Die Onanie erfolgt dabei sichtlich in einer Einstellun \
die der Phase der „Allmacht der Gedanken“ entspricht, sie läßt sie alles in der
Phantasie. erreichen, was ihnen in der Realität noch versagt bleiben muß.
Andererseits ist die Auffassung der Onanie als Magie wohl auch ein unbe-
_ wußter Versuch, durch diese Überschätzung und die Einkleidung als magische
Kunst Schuldgefühle und Gewissensskrupel unterdrückt zu halten.
Zur Zeit der Behandlung hatte der kleine Boris diese „Magie“ schon auf-
— AU
gegeben. Er war nämlich von der Mutter dabei ertappt worden. Der krank-
hafte Zustand entstand erst in der Folge: „... Ich denke es mir so, daß die Mutter
den Knaben wahrscheinlich gescholten, ermahnt, angefleht hat. In diese Zeit fiel
der Tod des Vaters. Boris redete sich ein, seine geheimen Gewohnheiten, die
man ihm als so lasterhaft hinstellte, hätten ihre Strafe empfangen; er hielt
sich für schuldig am Tode seines Vaters; er hielt sich für einen Verbrecher,
einen Verdammten. Er bekam Angst. Und da hat, einem gehetzten Tier gleich,
sein schwacher Organismus diese Unzahl kleiner Ausflüchte erfunden, in denen
sein innerer Schmerz sich läuterte, und die ebensoviele Geständnisse sind.“
Es ist nun klar, daß der kleine Boris, wie aus seiner Auffassung der Onanie
als Magie hervorgeht, ganz besonders an die „Allmacht seiner Gedanken“
glaubte und überzeugt war, daß er durch die magische Kraft der Onanie und
der damit verbundenen Phantasien, die sicher Todeswünsche enthielten, den
Tod des Vaters verursacht habe. Und gleichzeitig mit dem Schuldgefühl und
der Angst wegen dem Tode seines Vaters entstanden im Abwehrkampf all die
kleinen Symptome, derentwegen man ihn in Behandlung gab.
Nachdem Sophroniska dem kleinen Boris alles gedeutet und erklärt hatte,
trennt er sich nach großen Schwierigkeiten von seinem „Talisman“ und über-
gibt ihn der Ärztin, wodurch der Bann endgültig gebrochen erscheint.
Die Charakterveränderung des kleinen Boris während seiner Analyse kommt
am deutlichsten in seinem Verhalten zur kleinen Bronja zum Ausdruck, die ja
nach Ausspruch der polnischen Ärztin das „beste Heilmittel“ für Boris ist. Bei
der ersten Schilderung des Beisammenseins der beiden Kinder zeigt jeder Aus-
spruch des kleinen Boris seine starke ambivalente Einstellung. Er sagt in einem
Atem „ja, meinetwegen — nein, ich will nicht“, oder „es ist zu warm — es
ist zu kalt“. Oder: (Bronja:) „Wo hast du nur wieder deinen Hut hingelest ?* —
(Boris:) „Vibroskomenopatof. Blaf, blaf.“ — „Was bedeutet das?®* — „Nichts.* —
„Warum sagst du es dann?“ — „Damit du es nicht verstehen sollst.“ —
„Wenn es nichts bedeutet, so ist es mir ganz egal, ob ichs verstehe oder nicht.“
— „Wenn es aber etwas bedeutete, so würdest du es auch nicht verstehen.“ —
„Aber man spricht doch, um verstanden zu werden!“ — „Willst du, wir
wollen spielen Worte machen, allein für uns beide zu verstehen?“ — „Gib dir
lieber erst Mühe, gut Französisch zu lernen.“ — „Meine Mama, die spricht
französisch, englisch, römisch, russisch, türkisch, polnisch, italoskopisch, spanisch,
Zopfsprache und Xixitu.* („Dies alles sprudelte er mit.einer Art Leidenschaft
hervor.*) Dieses Gespräch zeigt wieder deutlich die Ambivalenz des kleinen
Boris. Einerseits will er offenbar Bronja kränken, indem er Worte sagt, die sie
nicht verstehen soll, dann aber wieder heißt es: „Bronja, du bist nicht böse,
deshalb kannst du auch die Engel sehen! Aber ich werde immer ein
Bösewicht bleiben.“ Bronja ist für ihn das Ideal des Guten und Reinen, er
kommt sich neben ihr offenbar wegen seiner „magischen Praktiken“ als Böse-
wicht vor. Darum fürchtet er auch, dal3 seine Berührung Bronja beflecken
könne: „Ja. Nein. Hör: wir wollen uns einen Stock suchen. Du nimmst das
eine Ende und ich das andere. Ich schließe die Augen und verspreche dir,
daß ich sie nicht eher wieder aufmache, als bis wir dahingekommen sind, wo
wir hin wollen. . .. Ja. Nein, nicht dieses Ende! Wart, ich will es erst
abwischen!* — „Warum?* -— „Ich hab es angefaßt.“ Bronja ihrerseits ist
eifrig bemüht, Boris gut zu machen, sie will ihm beten helfen, damit ihm
0 —
vergeben werde. „Warum versuchst du nicht, nicht mehr böse zu sein? Willst
du, daß wir zusammen nach (hier nannte sie einen mir unbekannten Ort)
gehen und dort zusammen Gott und die heilige Jungfrau bitten, daß sie dir
helfen, nicht mehr böse zu sein ?”
Ein kleines Ereignis auf einem gemeinsamen Spaziergang der beiden Kinder
in dieser Zeit zeigt, daß der kleine Boris noch weit entfernt davon ist, „die
Engel sehen zu dürfen“ . . . „Mit geröteten Gesichtern und ganz außer Atem
kamen sie an. Bronja warf Ri gleich stürmisch in die Arme ihrer Mutter; sie
schien in Weinen ausbrechen zu wollen. ‚Mama‘, rief sie, ‚du mußt Boris
schelten! Er wollte sich nackt in den Schnee legen!‘ Sophroniska sah Boris an,
der, mit gesenktem Kopf und einem starren, fast feindseligen Blick, an der Tür
stehen geblieben war. Sie schien das sonderbare Wesen des Kindes nicht
bemerken zu wollen, sondern sagte mit bewunderungswürdiger Ruhe; ‚Hör,
Boris, des Abends darf man so etwas auf keinen Fall tun! Wenn du willst,
gehen wir morgen früh wieder dorthin. Und dann kannst du erst einmal ver-
suchen, ein bißchen barfuß im Schnee zu gehen‘ ... Sie streichelte ihrer
Tochter sanft das Haar. Doch plötzlich fiel Bronja zu Boden und wälzte sich
in Zuckungen. Wir erschraken sehr. Sophroniska hob sie auf und bettete sie
auf den Diwan. Regungslos, mit großen leeren Augen sah Boris alles mit an,“
Dieses Sich-nackt-in-den-Schnee-Legen des kleinen Boris bedeutet natürlich einen
Verführungsversuch der kleinen Bronja gegenüber. Ihre Reaktion darauf sind
die Zuckungen, die wir als einen Ausdruck ihrer Abwehr auffassen müssen.
Boris war von der über alles geliebten Mutter getrennt worden. Er über-
trägt nun seine ganze Liebe und Zärtlichkeit auf die kleine Bronja: „Vom
Morgen bis zum Abend lassen die beiden Kinder sich nicht aus den Augen.
Und sie benehmen sich so reizend zu einander, daß niemand etwa auf die
Idee verfiele, sich über sie lustig zu machen.“ Bronja ist dem kleinen Boris
gegenüber, der ihr aufs Wort folgt, durchaus mütterlich. Sie ist also für den
kleinen Boris eine Mutterimago, die aber vor der echten Mutter noch etwas
voraus hat. Die kleine Bronja ahnt nichts von seinen „Praktiken“, von seiner
Onanie, für sie existiert so etwas gar nicht und die Mutter hat ihn dabei
ertappt. So kann er durch Bronjas Reinheit vielleicht doch Erlösung finden von
seinen besonders schweren Onanieschuldgefühlen und dadurch auch von der
Mutter Verzeihung erlangen. In seiner Liebe zu Bronja beginnt er immer mehr,
sich ihr anzugleichen, sie nachzuahmen, und er verliert seine Symptome wohl
ebenso durch die Aufdeckung und Be nuschung der Behandlung als auch
durch die Identifizierung mit Bronja. Gerade in dieser Identifizierung, die
Boris zu einem ganz realitätsfremden, „in kindlichem Mystizismus“ schwelgen-
den Schwärmer macht, liegt eine große Gefahr für die Zukunft:
„Sophroniska beteuert, der kleine Boris sei nunmehr geheilt... Ich erkenne
an, daß die Ticks, die unsicheren Gesten des Zurücknehmens, des Bereuens,
das verstockte Abbrechen mitten im Satz so ziemlich verschwunden sind. Aber
es kommt mir vor, als habe die Krankheit (wie, um dem forschenden Blick des
Arztes auszuweichen) sich einfach in tiefere Regionen des Seins zurückgezogen,
und als sei nunmehr die Seele selbst angegriffen. Ebenso wie der Masturbation
die nervösen Erscheinungen gefolgt waren, so räumen diese jetzt einer unsicht-
baren Entrücktheit das Feld. Allerdings ist Sophroniska selbst beunruhigt darüber,
daß Boris, unter Bronjas Einfluß, einer Art von kindlichem Mystizismus ver-
aM
fallen zu sein scheint. Sophroniska ist zu intelligent, um nicht einzusehen, daß
die neue Seligkeit des Herzens, der Boris sich jetzt ergeben hat, alles in allem
nicht sehr verschieden ist von der, die er früher künstlich hervorrief, und daß
‚die neue Verzauberung, mag auch der Organismus weniger gefährdet sein, ihn
darum nicht minder ablenkt von jeglichem Willen zur Realisierung. Doch wenn
ich mit ihr darüber spreche, so erklärt sie, Naturen wie Boris und Bronja
könnten eine gewisse chimärische Nahrung nicht entbehren, und nähme man sie
ihnen weg, so würde Bronja in Hoffnungslosigkeit versinken, und Boris einem
niedrigen Materialismus anheimfallen ..... Mit Bewegung spricht sie von der
Frömmigkeit der beiden Kinder, die zusammen die Offenbarung Johannis lesen
und in gemeinsame Ekstase geraten und ihre Seelen in himmlische Gewandung
kleiden.“
Man kann also von einer wirklichen Heilung im analytischen Sinne gar
nicht sprechen, es ist gleichsam nur eine Verschiebung da. Die zwangsneurotischen
Symptome und die Ambivalenz sind von einer übermäßigen Fröm migkeit
und einem unnatürlichen Mystizismus abgelöst worden. Diese Veränderung
erfolgt bei Boris auf dem Wege der Identifizierung mit Bronja, der idealisierten
Mutterimago. Diese Identifizierung mit der Mutter beinhaltet natürlich auch
eine passiv-feminine Einstellung gegenüber dem Vater, die durch die wenn auch
unbewußten aber noch immer wirksamen Schuldgefühle, „den Vater getötet
zu haben“, und durch die Angst. vor der Strafe noch verstärkt wird.’
Aus diesem in Mystik schwelgenden Beisammensein mit Bronja wird Boris
nun herausgerissen und kommt in das Pensionat nach Paris, Er versucht ver-
'geblich, zu den andern Knaben in Beziehung zu treten; er kann es aber nicht,
schon ihre Unterhaltung beleidigt sein überzartes Gewissen. „. . . Sein großes
Sympathiebedürfnis trieb ihn zu dem Versuch, es ihnen sleichzutun. Doch seine
empfindliche Natur widerstrebte. Die Worte wollten ihm nicht über die Lippen.
Seine Verlegenheit machte ihn wütend auf sich selbst; er quälte sich ab, sich
nichts merken zu lassen, und zwang sich, um jeglichem Spotte zuvorzukommen,
sogar zum Lachen. Aber es half alles nichts. Inmitten der andern machte er
den Eindruck eines Mädchens, fühlte es und ward verzweifelt.“ Auch an seinen
Großvater, der nur allzugerne bereit wäre, sich seiner anzunehmen, vermag er
nicht, sich anzuschließen. Er ist eben durch seine Beziehung zu Bronja so sehr
jeder Realität entrückt, daß er es nicht zuwege bringen kann, eine ganz normale
Beziehung zu gleichaltrigen Knaben anzuknüpfen. Dabei empfindet er sein
realitätsunfähiges, passiv-feminines Wesen im Vergleich mit den andern als
etwas Krankhaftes und ihn Belastendes, aber er ist eben viel zu passiv, um sich
selbst helfen zu können. Anderseits ist aber die Beziehung zu Bronja auch von
größter Bedeutung für ihn. Sie ersetzt dem einsamen Knaben die Mutter, und
die Familie und ist auch der einzige Halt, den er überhaupt hat.
Da kommt nun eines Tages die polnische Ärztin und bringt ihm die Nachricht
von Bronjas Tod: „Nun erschien dem kleinen Boris die ganze Welt wie eine
schreckliche Einöde. Seine Mutter war weit weg und kam niemals zu ihm; sein
Großvater war zu alt. ... Eine zarte Seele wie die seine braucht jemand, dem
ı) Es sei hier daran erinnert, daß eine ähnliche Wendung von Reizbarkeit und
Ängstlichkeit zu übermäßiger Frömmigkeit, die mit einer passiven Hingabe an den
Vater verbunden ist, auch von Freud in der „Geschichte einer infantilen Neurose“
berichtet wird. (Ges. Schriften, Bd. VII.)
0 —
sie ihren Adel und ihre Reinheit zum Opfer bringen kann. Er war nicht stark
genug, um ganz für sich allein bleiben zu können. Aber er hatte Bronja viel zu
sehr geliebt, als daß er je wieder auf solche Hingebungsmöglichkeit wie er sie
mit ihr verlor, hätte hoffen dürfen. Die Engel, die er so inbrünstig zu erblicken
gewünscht hatte, wie sollte er künftig ohne Bronja auch nur an ihre Existenz
glauben können? So ward selbst der Himmel ihm verwaist und leer“. Dieser
Verlust mußte den ganz vereinsamten Boris ganz besonders schwer treffen. Bronja,
bei der er Befreiung von seinen Schuldgefühlen und Vergebung für seine bösen
Praktiken durch die gemeinsame Frömmigkeit gefunden hatte, verläßt ihn. „Der
Himmel ward verwaist und leer“. — Boris, dessen Selbstvorwürfe nur mühsam
unterdrückt waren, faßßt Bronjas Tod als Strafe des Himmels für seine in Erfüllung
gegangenen Todeswünsche gegen den Vater auf. Die dauernde Beziehung zu
Bronja, seiner Mutterimago, darf er nicht haben, sie wird ihm vom Himmel
offenbar nicht gegönnt.
Und nun bricht über den kleinen Boris, bei dem der ganze Scheinerfole der
Behandlung durch Bronjas Tod ins Wanken gekommen ist, ein Ereignis herein,
das ihn schließlich zum Selbstmord treiben muß. Gheridanisol kann den kleinen
Boris nicht ausstehen: „...er ist zart, graziös, fast mädchenhaft. Das alles reizt
und erbittert den lebenskräftigen Gheridanisol. Es ist, als empfände er beim An-
blick des subtilen Kindes jenen instinktiven Widerwillen, der in einer Herde
das starke Tier gegen das schwache treibt... Wie dem auch sei: Gheridanisol
empfindet seine Antipathie gegen Boris als etwas Aufregend-Beglückendes“. Sein
Vetter Strouvilhou ist der Mann, dem die polnische Ärztin einst den „Talisman“
des kleinen Boris gegeben hat. Strouvilhou, von Ghöridanisol bestürmt, überläßt
ihm nun den Talisman „mitsamt der Anweisung, wie man sich seiner zu bedienen
hätte“.
Nun findet der arme kleine Boris „beim Eintreten in den Arbeitssaal, auf seinem
Platze jenes Stück Pergament, an das er sich kaum noch erinnerte. Er hatte es
aus seinem Gedächtnis verbannt, ebenso alles andere, was sich auf die Magie
seiner ersten Gymnasialjahre bezog, auf diese bedenkliche Magie, deren er sich
jetzt schämte. Er erkannte seinen alten Talisman zunächst gar nicht wieder, denn
Ghe£ridanisol hatte die Zauberformel ‚sas—Telephon—Hunderttausend Rubel‘ mit
einer breiten, rot und schwarzen Umrahmung versehen, auf deren Ecken und
Linien allerlei frivole, leidlich gut gezeichnete Miniatur-Teufelchen umherkletterten.
Diese Vignetten verliehen dem Pergament ein phantastisches Aussehen, etwas
Infernalisches, dachte Gheridanisol, einen giltigen Reiz, der auf den kleinen Boris
sicherlich wirken werde. ... .“ Ä
„Vielleicht sollte diese ganze Machination kaum mehr sein, als ein etwas
gewagtes Spiel. Aber dieses Spiel gelang über alle Erwartung gut. Boris (der sich
im Arbeitssaal allein befand) ward brennend rot, blickte verwirrt nach links und
rechts und sah Gheridanisol nicht, der ihn, hinter der Tür verborgen, beobachtete.
Boris konnte keinerlei Verdacht auf ihn haben, konnte sich überhaupt nicht im
geringsten erklären, wie der Talisman hierhergekommen war. Diese böse Reliquie
schien vom Himmel gefallen oder vielmehr aus der Hölle wiederaufgestiegen zu
sein. ... Nun hätte Boris, bei seiner Intelligenz, zweifellos die innere Fähigkeit
gehabt, derartige Pensionats-Konspirationen mit einem spöttischen Achselzucken
von sich zu weisen: Hier aber tauchte eine gefährlich bannende Vergangenheit
mit all ihren Phantasien wieder vor ihm auf. .... Boris nahm den Talisman und
ließ ihn in seine wollene Matrosenbluse gleiten. Während des ganzen übrigen
Tages blieb er von der Erinnerung an jene magischen Praktiken wie besessen.
Bis zum späten Abend kämpfte er gegen eine satanische Versuchung. Dann, in
seinem Zimmer, unterlag er, da er nirgends einen Halt mehr fand, in seinem
verzweifelten Kampfe“.
„Ihm war zumute, als müsse er nun ins Verderben gehen, als versinke er in
einen Abgrund, unendlich fern von den Regionen der Engel. Aber es war ihm
eigentlich nur erwünscht, so betäubt ins Ungewisse zu fallen, und er schuf sich,
gerade aus dieser Sensation des Unterganges, seine bittere Lust“.
Durch Bronjas Tod ist Boris aus dem Himmel verbannt, er grollt dem Himmel,
der ihm ja auch nicht verziehen hat und genießt masochistisch die Qual dieses
Rückfalls. Nun sieht es in der Darstellung des Selbstmordes wirklich so aus, wie
wenn sich der kleine Boris nur, um die Achtung seiner Kameraden zu erringen,
der lebensvernichtenden Tapferkeitsprobe unterwerfen würde: „Und trotz aller
Herzensnot bewahrte er, in der Tiefe seiner Verdammnis, einen solchen Drang
nach Hingabe, einen solchen Schmerz über das geringschätzige Benehmen seiner
Kameraden, daß er sich jeder, wenn auch noch so absurden Gefahr ausgesetzt
hätte, nur um ein bißchen Achtung von ihnen zu erringen“. Das ausschlag-
gebende Motiv zum Selbstmord ist aber sicher im Rückfall zur Onanie zu sehen,
wenn auch sein Verhältnis zu den Kameraden und die narzißtische Kränkung
über die Verachtung, mit der sie ihn behandeln, ihn diesen Rückfall sicherlich
viel härter empfinden läßt.
Boris glaubte ja durch seine magischen Praktiken den Tod des Vaters ver-
schuldet zu haben. Eine Wiederholung dieser Magie bedeutet also eine Wieder-
holung der Tat, die er jetzt in der Einstellung der passiv-femininen Hingabe
an den Vater, die aus seiner Mutteridentifizierung resultierte, doppelt todes-
würdig empfinden mußte. Als die Kameraden an Boris herantreten und ihm
die Forderungen der „Starken Brüderschaft“ mitteilen: „Der starke Mann
hängt nicht am Leben“, da fühlte „Boris einen brausenden 'Taumel in seinem
Kopfe. Aber er zwang sich zur Kaltblütigkeit.“ Er ahnt also schon, daß er
den Beweis der Tapferkeit wird liefern müssen. Und als das Los entscheiden
soll, wer den Beweis der Tapferkeit erbringen soll, da „argwöhnte Boris, dal
Betrug im Spiele sei; aber er sagte kein Wort. Warum hätte er auch pro-
testieren sollen? Er wußte, daß er verloren sei. Er rührte keinen Finger zu
seiner Rettung. Ja, selbst wenn das Los einen der drei andern bezeichnet hätte,
so würde er sich erboten haben, an dessen Stelle zu treten, so groß war seine
Verzweiflung.“ Boris fühlt also schon von vornherein, daß er dem Selbstmord
verfallen ist, und man darf wohl annehmen, daß er aus dem ungeheuren Schuld-
gefühl und aus Angst vor den Folgen seines durch die Onanie erneuten Ver-
brechens in die Selbstzerstörung flüchtete, um sich dasselbe anzutun, was er
dem Vater zum zweitenmal zugefügt hatte. Daß er es also vorzog, die einzig
adäquate. Bestrafung an sich selbst zu vollziehen, statt verlassen von seiner
Mutterimago, deren bloße Existenz ihm Verzeihung seiner Schuld bedeutete,
allein, verachtet wegen seiner Mädchenhaftigkeit in angstvoller Qual und Reue
zu leben.
Form und nähere Begleitumstände des Selbstmordes hängen auch mit der
Femininität des kleinen Boris eng zusammen, denn wenn er auch selbst von
vornherein fest davon überzeugt ist, daß er sterben muß, so läßt er sich aus
— 407 —
seiner Einstellung heraus doch von den andern sozusagen zum Selbstmord
zwingen.
Nun wissen wir, dal „das Ich nur unter ganz bestimmten Bedingungen
seiner Selbstzerstörung zustimmen könne, d.h. das Ich kann nur dann sich selbst
töten, wenn es sich selbst wie ein Objekt behandelt, wenn es die Feindseligkeit
gegen sich richten darf, die einem Objekt gilt, und die die ursprüngliche
Reaktion des Ichs gegen Objekte der Außenwelt vertritt“ (Freud, Trauer und
Melancholie, Ges. Schr. Bd. V.). Beim kleinen Boris ist von irgend einer Haß-
regung, die dann im Selbstmord gegen ihn selbst rückgewendet würde, gar
nichts zu bemerken. Aber die zuerst im Verhalten gegen Bronja sezeiste Ambi-
valenz läßt den Schluß zu, dal Boris auch einmal von starken gegensätzlichen
Empfindungen, also von Hal und Liebe, beherrscht war. Daß er auch starke
Todeswünsche gegen den Vater hatte, geht daraus hervor, daß er sich selbst
wegen seiner Praktiken am Tode des Vaters die Schuld gibt. Man kann daher
annehmen, dal5 der Rückfall in die Onanie zuerst wieder die Todeswünsche
belebt und er dann einerseits die Mordimpulse aus Angst gegen sich selbst
wendet, andererseits sich selbst mit dem Gegenstand seiner Todeswünsche identi-
fiziert, also gleichsam den Vater durch seinen Selbstmord noch einmal tötet.
Dabei spielen auch sicherlich unbewußte Haßtendenzen des kleinen Boris gegen
seine Kameraden mit, die er eben aus seiner passiv-femininen Einstellung heraus
gegen sich selbst kehrt. Der Selbstmord ist auch in gewissem Sinn ein Rache-
akt an den Kameraden, die ihm so übel mitgespielt haben.
Man darf also das wesentlichste Motiv für den Selbstmord des kleinen Boris
in dem durch den Rückfall zur Onanie und dessen Bedeutung als neuerlicher
Vatertötung ungeheuer verstärkten Schuldgefühl, in der Angst, den Selbst-
bestrafungstendenzen und der, wenn auch unbewußt gegen sich selbst gewendeten
Todeswünsche sehen; besondere Bedeutung kommt dabei dem Tod der kleinen
Bronja zu, deren Verlust Boris das einzige Liebesobjekt raubt. Die Identifizierung
mit Bronja ist wiederum die Ursache für den völligen Mangel an Realitäts-
anpassung des kleinen Boris, für seine Unfähigkeit mit gleichaltrigen Kameraden
in normale Beziehung zu treten, wodurch wieder der unter ganz besonderen
Umständen erfolgende Selbstmord gefördert wird.
Aus dem bei der Analyse des Selbstmordes des kleinen Boris gewonnenen
Material geht die Beantwortung der eingangs gestellten Frage von selbst hervor,
ob nämlich ein deutlich unter dem Einfluß der Psychoanalyse stehendes Kunst-
werk noch irgendetwas zu einem Problem der Psychoanalyse beitragen könne.
Wenn auch die hier aufgedeckten Motive dieses Kinderselbstmordes zur Psychologie
des Selbstmordes nichts Neues beitragen können, so sind sie doch im Kunstwerk
selbst nur angedeutet und ohne Zuhilfenahme des Instruments der Analyse nicht
aufzuzeigen und bringen immerhin eine Bestätigung bereits bekannter Ergebnisse.
Wenn man gewöhnt ist, immer nach dem „Warum“ zu fragen, drängt sich
bei der Lektüre dieses Kunstwerks noch eine Frage auf, deren Beantwortung
besonders reizvoll erscheint. Woher kommt die starke und intensive Wirkung,
die von der Person des kleinen Selbstmörders ausgeht? Warum erweckt er
gerade so besondere Anteilnahme?
Wir wissen ja, daß in solchen Fällen, abgesehen von der rein ästhetischen
Lustwirkung unsere Anteilnahme am Kunstwerk darauf zurückzuführen ist, daß
uns die Identifizierung mit dem Helden ganz besonders leicht fällt, daß wir also
durch diese Identifizierung mit dem Helden offenbar instand gesetzt werden,
besonders lustvolle „Phantasien nunmehr ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen
zu genießen“ (Freud, Der Dichter und das Phantasieren, Ges. Schr. Bd. X).
Es ist ja klar, daß die Erlebnisse des kleinen Boris, sein innerer Kampf wegen
seiner „Praktiken“, seine Angst und sein Schuldgefühl, sein Verhältnis zur kleinen
Bronja bei jedem von uns ein Stückchen verdrängter Kindheitsphantasien und
-wünsche zum Wiedererleben bringen müssen, und dal) gerade die Identifizierung
mit dem kindlichen Helden so besonders lustvoll ist, weil wir uns eben als
Erwachsene die Befriedigung infantiler Phantasien in der Identifizierung mit
einem Kind viel eher gestatten können. Und wenn sich der kleine Held im
Selbstmord zu wahrhaft tragischer Größe erhebt, so wird unser warmes Mit-
empfinden und Mitleiden sicherlich auch nur ein Ausdruck der Befriedigung
über die Realisierung so vieler verborgener Phantasien und Wünsche sein.
NIIIINIININITITUTNTUNINRTIUNTIUNINIULLIUUUUNINUAKIUNUITIUNNUINAULINUNIDIDILNIUNRINAUKN
Über Selbstmordphantasien'
Von Mary Chadwick, London
Bei den meisten Menschen tauchen wohl im Lauf des Lebens Selbstmord-
phantasien auf. Wenn auch die Umsetzung dieser Phantasien in die Tat ver-
hältnismäßig selten ist oder die Ausführung der Tat unter Umständen erfolgt,
die eine Verhinderung derselben im letzten Moment zulassen, so bleibt doch das
Vorhandensein solcher Phantasien dem Psychologen ein Gegenstand der Forschung.
Es fällt auf, daß es weit seltener reale Umstände sind, die zum Selbstmord
treiben. Viel größer ist die Zahl derer, die aus psychologischen Ursachen in
der Phantasie mit dem Selbstmord spielen, so daß unter den Motiven des Selbst-
mordes die Flucht vor der Mühe des Lebens, die Angst und das Schuldgefühl
als hauptsächliche zu nennen sind.
Es erhebt sich die Frage, unter welchen Umständen die Selbstmordphantasie
realisiert wird und welche Faktoren an dieser Realisierung oder an der Ver-
hinderung derselben beteiligt sind. Wir stoßen hier auf das Problem des Kampfes
zwischen Lebens- und Todestrieben. Ist eine primär konstitutionelle Differenz
im Verhältnis der beiden Triebarten anzunehmen oder sind Erlebnisse der Kind-
heit auf quantitative Verschiebungen innerhalb der beiden Triebarten einfluß-
nehmend? Im weiteren müssen wir uns fragen, ob zu solchen sekundären Fak-
toren der Verstärkung der primären 'Triebanlage nicht andere sekundäre Fak-
toren beitragen, wie Sadismus und Masochismus, der Gottkomplex, Schuldgefühl
und Strafbedürfnis. |
Zur Lösung dieser Frage soll im folgenden über sieben Fälle mit Selbstmord-
phantasien oder Selbstmordversuchen berichtet werden. Bei allen Fällen sind
Selbstmordphantasien aufgetreten, ein starker Impuls, den Selbstmord auszu-
führen, in zwei Fällen, einmal bei einem Kind, das andere Mal bei einem
ı) Aus dem englischen Original übersetzt.
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Erwachsenen. Bei einem Fall wurde die Drohung an die Eltern bei verschie-
denen Gelegenheiten wiederholt, in anderen wurden Versuche sowohl im frühen
Alter wie auch später unternommen. Ein anderer zeigt wieder Angst vor
dauernder Beschädigung, und bei dem zuletzt erwähnten finden wir einen Unfall,
der das Selbstmordbedürfnis befriedigt.
In allen Fällen fand sich folgendes: Starke Mutterfixierung, negative Ein-
stellung gegen den Vater, der oft ein Mann von heftigem Temperament zu sein
scheint und mit dem die Mutter nicht in jeder Beziehung glücklich war. Der
Knabe entwickelt später eine Neigung zur Homosexualität, wenn seine Ab-
lehnung gegen die Mutter zum Durchbruch kommt, möglicherweise aus Abwehr
segen die Inzestphantasie, die gewöhnlich in der Selbstmordphantasie ebensowohl
wie in der Methodenwahl zum Ausdruck kommt. Bei dem Mann liegen die
Verhältnisse ganz einfach, bei der Frau sind sie etwas komplizierter. Denn sie ist
teils homosexuell, teils an den Vater und an die Mutter fixiert, zuerst in der frühen
Kindheit, und dann später, wenn sie sich aus irgendeinem Grunde vom
Vater weg- und der Mutter zugewendet hat, oder aber weil sie aus der Identi-
fizierung mit einem Bruder oder dem Vater Mann sein und die Mutter erobern
will, was auch Schuldgefühle und Rivalität mit dem Vater erzeugt.
Alle sieben Patienten, von denen hier berichtet wird, waren bei der Geburt
kaum lebensfähig oder aber während der ganzen Kindheit sehr kränklich. Da-
durch wurde die Mutter ganz besonders beansprucht, und diese Kinder kamen
nie in einen normalen Kontakt mit der Realität. Kränklichkeit und die eben-
falls vorhandenen neurotischen Symptome wurden immer besonders manifest,
wenn äußere Schwierigkeiten auftraten. Kinder, die erfahren haben, was sie
mit ihrem Kranksein bei den Eltern erreichen können, werden eher geneigt
sein, den Selbstmordimpuls in die Tat umzusetzen, weil sie dadurch wirklich
die Umwelt verändern und andere ebenso wie sich selbst strafen. Das Kind hin-
gegen, das seine Befriedigung in der bloßen Selbstmordphantasie findet, ändert nur
seine Einstellung zur Umwelt, indem es sich unabhängig macht von den äußeren
Umständen und sich damit begnügt, allein zu leiden, indem es sowohl sadistische
als auch masochistische Tendenzen durch die Phantasie im Ich befriedigt. Die
Gefahr der Flucht in die Selbstmordphantasie liest aber darin, daß sie, um das
Individuum zu befriedigen, dauernd sein muß. Das müßte dann zur Psychose
führen, wahrscheinlich in Form der Dementia praecox, bei der der Körper er-
halten bleibt, der Geist aber durch seine Flucht vor der Realität jede Beziehung
zu ihr zerstört hat. (Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose. Freud, Ges,
Schriften, Bd. VI.)
Wenn diese Annahmen im vorliegenden Material und auch sonst Bestätigung
finden, wird man vielleicht sagen dürfen, daß sich der Todestrieb, verstärkt
durch andere Triebtendenzen, schon bei den Schwierigkeiten bei der Geburt
und bei der Kränklichkeit in der frühen Kindheit wirksam zeigt, die ja sicher-
lich ein Ausdruck verminderter Widerstandsfähigkeit gegenüber den Anforde-
rungen der Realität sind.
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Es ließ sich nämlich ebensowohl bei mehreren der hier erwähnten als auch
bei andern Fällen durch Nachforschung feststellen, daß die Kinder schon bei
oder knapp nach der Geburt sehr zart waren. Die Eltern waren auch meist
kränklich, und das Kind zeigte vom Anfang an das Bestreben, zum Nichtsein
oder zum mindesten zu einem dem intrauterinen Zustand möglichst ähnlichen
zurückzukehren. Diese Kinder scheinen für das Leben gar kein Interesse zu
haben, und es kann leicht vorkommen, daß sie den hassen, der sie zu irgend-
einer Aktivität bringen will (Freud, Das Ich und das Es, Ges. Schriften, Bd. VD.
Das zeigt sich nicht allein schon bei der Geburt, sondern bei jeder Trennung
von der Mutter, bei der Entwöhnung, beim Schuleintritt, bei der Berufswahl
und endlich bei der Verheiratung, wenn ein neues Heim errichtet werden soll.
Der Zwang, für den Ehepartner arbeiten zu müssen, wird als unerträglich
empfunden und meist nur eine Mutterimago als Gattin gewählt. Kinderzeugung
kommt überhaupt nicht in Frage.
Wenn man den Selbstmord als Unterdrückung des Lebenstriebes und als Regres-
sion zum praenatalen Stadium auffaßt, so wird Schuldgefühl und Straftendenz
dabei ganz außer Acht gelassen. Man kann sich das vielleicht so vorstellen, daß
die Mutter vom Kind noch nicht als getrenntes Objekt empfunden wird, daß
daher weder Schuldgefühl noch Haß) gegen jemanden vorhanden ist. Der Haß
richtet sich nur gegen das Leben, das Bemühen und Handeln erfordert. Erst
bei der Wahrnehmung von Objekten, die dem Individuum Widerstand leisten,
entsteht Haß, der seinerseits wieder Schuldgefühl erzeugt. Dieses Schuldgefühl
wieder erzeugt die Tendenz, sich selbst oder andere zu bestrafen, und kann
unter bestimmten Umständen zum Selbstmord mit verschiedenen Methoden und
Motiven führen, da ja jetzt Umgebung und Selbst deutlicher differenziert sind.
Es bleibt also in manchen Fällen kein anderer Ausweg, um die verhaßte Um-
gebung zu zerstören, als das eigene Selbst zu vernichten.
Bei der Selbstmordphantasie finden wir zwar auch einen aktiven Todestrieb,
aber er hat mit dem Lebenstrieb insofern ein Kompromiß geschlossen, als sich
seine Zerstörung auf die Veränderung der Realität beschränkt, die nach den
Wünschen des Individuums vorgenommen wird, während das körperliche Selbst
erhalten bleibt.
Die ersten vier Fälle, von denen ich berichten werde, waren Männer ver-
schiedenen Alters. Zwei von ihnen drohten in der Kindheit mit Selbstmord in
der bewußten Absicht, Verwandte dadurch zu ärgern, ein’ Fall wollte durch
die Drohung von der Schule befreit werden, der andere wollte sich an seiner
Schwester rächen, von der er glaubte, daß sie ihn quälen wolle. Die andern
Fälle waren Frauen, die in der Kindheit sehr zart waren. In zwei Fällen war
das nächstältere Kind gestorben, so daß die Mutter überängstlich über dem
Kind wachte. In einem dieser Fälle kamen in der Kindheit und im späteren
Leben schwere Unglücksfälle vor, die man wohl als unbewußte Selbstmordver-
suche auffassen darf. Im dritten Fall finden wir eine ausgebreitete Furcht vor
Unfällen aller Art, hauptsächlich vor Ertrinken und Überfallenwerden. In der
Kindheit dieser Patientin hatte eine Tante Selbstmord begangen, indem sie sich
— A
in einen Teich stürzte. In der Familie war viel die Rede davon, so daß die
Nichte große Angst vor dem Wasser und vor dem Ersticken bekam und niemals
schwimmen lernen konnte. Diese Wasserfurcht zeigte sich fortwährend in ihren
Träumen, ebenso wie die Idee, andere aus dem Wasser zu retten. Am Ende
der Analyse träumte sie, sie schwimme mit dem Gedanken, wenn das alles
wäre, dann wäre es ja sehr leicht. In Verbindung mit diesem Traum brachte
sie Assoziationen, die ihre lebenslange Angst und ihre allgemeine Angstlichkeit
erklärten, und sie fügte hinzu, dal3 bei ihrer Geburt sie und ihre Mutter bei-
nahe gestorben wären.
Um zu zeigen, daß lebensvernichtende Impulse oft mit Geburtstraumen in
Verbindung stehen, möchte ich einiges aus den Beobachtungen von Säuglingen
durch eine psychoanalytisch ganz unvoreingenommene Hebamme berichten. Sie
hatte immer versucht, ihre Fälle so lange als möglich im Auge zu behalten,
besonders, wenn die Geburt irgendwie abnorm verlaufen war. Wir sprachen
von Kindern, bei denen es besonders schwierig gewesen war, die Atmung in
Gang zu bringen, und die, wie sie sagte, nur mit Widerstreben ins Leben traten.
Es sah so aus, wie wenn man sie zwingen müsse, zu leben, und sie wurde
durch die nachfolgenden Ereignisse belehrt, daß dies nicht ratsam gewesen sei.
Sie hatte nämlich die Erfahrung gemacht, daß diese Kinder auch weiterhin
lethargisch und träge blieben, daß sie immer versuchten, in den Schlaf zurück-
zugleiten, immer körperlich und geistig zurückblieben, immer kalt und blau
waren. Wenn ein solches Kind älter als sieben Jahre wurde, waren immer
irgendwelche geistige Defekte aufgetreten.
A
Dieser Patient kam zuerst zur Behandlung, weil man glaubte, er leide an einem
durch Granatexplosion hervorgerufenen Nervenschock. Er berichtete z. B., daß er im
Krieg in einem Krater begraben gewesen wäre, später aber gestand er, daß dies nicht
wahr sei. Das war einer anderen Abteilung seiner Kompagnie passiert, und er hatte
durch die Flucht sein Leben gerettet. Diese Vorstellung schien die ärgste für ihn
zu sein, ebenso wie der Gedanke, daß er mit einem Bajonett in den Bauch gestochen
werden könnte.
Seine Leidensgeschichte zeigte eine Fülle von neurotischen Symptomen während
seines ganzen Lebens; er war als Kind außerordentlich in der Entwicklung zurück-
geblieben, war immer beleidigt, wenn er für sich selbst sorgen sollte, und hatte mit
aller Kraft die gehaßt, die ihn dazu veranlassen wollten. Seine Mutter schien ihn
verzogen und verdorben zu haben, besonders in der Kindheit und wenn er krank war.
Er sagte, daß es ihm als Kind furchtbar schwer fiel, aufzuwachen, und daß er immer
imstande war, einzuschlafen, wenn er nichts tat. Morgens pflegte er betäubt und wie
gelähmt aufzuwachen. Allmählich kam dann Gefühl in seine Glieder, aber mit den
Händen war er immer ungeschickt. Diese Hemmung im Gebrauch seiner Hände
brachte er auch damit in Verbindung, daß er sie als Kind bei der Masturbation
klatschend zusammengeschlagen hatte. Seine Eltern waren über diese Gewohnheit
sehr beängstigt, ebenso wie über sein Bettnässen, und er hatte schon als ganz kleines
Kind erfahren, daß der Arzt seiner Mutter gesagt hatte, sie müsse ihn aufwecken
ON
und immer beschäftigen, sonst würde es viel schlimmer werden. Als Kind haßte er
die lärmende Art seiner aktiveren Brüder und Schwestern, nahm nie an ihren Spielen
teil, er döste vielmehr, in sich selbst zusammengekrochen und von angenehmen Dingen
träumend, vor sich hin. Er meinte in der Analyse, ob dieser Zustand nicht die Folge
einer Encephalitis lethargica gewesen sein könne, aber die Ärzte, die ihn von Zeit
zu Zeit untersuchten, scheinen nie daran gedacht zu haben.
Als er sechs oder sieben Jahre alt war, machte er den ersten Selbstmordversuch,
an den er sich erinnern kann. Er hatte einen Streit mit seiner älteren Schwester ge-
habt, und als er kurz darauf einige Beeren von Nachtschatten im Garten fand, sagte
er, daß er sie gleich essen würde. Er stellte sich vor, wenn er stürbe, würde eine Unter-
suchung angestellt werden, und die Schwester würde dann schon dafür bestraft werden.
daß sie ihn so schlecht behandelt hatte. Dieselbe Idee tauchte während der Analyse
wieder auf, nur daß jetzt die Analytikerin die Stelle der Schwester einnahm. Er ging
mit einem Paket Arsen in der Tasche umher, oder behauptete es wenigstens, in der
Hoffnung, daß ihm die Analytikerin ebenso das Gift entreißen werde, wie die
Schwester, und daß er gescholten werden würde, so daß er es fühlen könnte, wie
schlecht man ihn behandle. Als nichts dergleichen passierte, verlor die Drohung ihren
Reiz.
Ursprünglich plante er, Selbstmord durch Gift zu begehen, eine Zeitlang dachte
er daran, sich einen Revolver zu verschaffen und sich in den Mund zu schießen.
Seine Fixierung an die Mutter war außergewöhnlich stark und sein Haß gegen
die Mutter, auf Geburt und Entwöhnung konzentriert, beides schwere Traumen
durch die Trennung von der Mutter. Der Selbstmordversuch oder die Phantasie
wiederholten dieselbe Tendenz, die Mutter durch die orale Zone wiederzugewinnen.
Wie zu erwarten ist, hatte er zu verschiedenen Zeiten seines Lebens Fellatio aus-
geübt. es auch bei sich selbst versucht, ebenso wie Cunnilingus. Er war Alkoholiker,
was der Ablehnung der Mutter und der daraus resultierenden Homosexualität entsprach.
Denn seine Mutter hatte ihm die orale Befriedigung versagt, die er wollte, darum
war er gezwungen, sie sich selbst zu beschaffen; so trank er, um seinen Kummer
zu betäuben und befriedigte dadurch seine starken oralen Wünsche. Nach seiner
Verheiratung pflegte er übermäßig zu trinken, um seine Frau zu ärgern, besonders
wenn er den Verdacht hatte, daß sie ihn mit einem Manne betrog, von dem er sich
auch angezogen fühlte. Einmal machte er einen Selbstmordversuch in Gegenwart
seiner Frau, indem er Lysol trinken wollte, aber als er die Flasche zum Mund führte,
schlug seine Frau sie ihm aus der Hand,
Er war praktischer Zahnarzt, und in diesem Beruf fand er in mancher Hinsicht
starke Befriedigung. Bei einer Gelegenheit verschuldete er beinahe den Tod einer
jungen Patientin, indem er ihr an Stelle des gewöhnlichen Anaesthetikums eine
starke Lösung von Eisenchlorid in den Mund goß, das er immer als blutstillendes
Mittel bei der Hand hatte. Sie erkrankte gefährlich, erholte sich aber endlich wieder,
und der Unfall brachte ihm Todeswünsche gegen die Mutter und die ältere Schwester
in Erinnerung, mit denen sein Verlangen nach Selbstzerstörung Hand in Hand ging.
Seine Analyse wurde vor Beendigung abgebrochen, aber seine Selbstmordneigung
war seit geraumer Zeit verschwunden. Seine Einstellung zum Leben war allerdings
immer noch äußerst negativ, und seine Vitalität blieb armselig. Ich möchte noch
bemerken, daß sein körperliches Aussehen nichts weniger als robust war, er war sehr
groß, schlank und hatte eine schlechte Haltung.
Er litt auch an einer starken Furcht vor dem Tod durch Ertrinken oder durch
Zeitschrift £.psa. Päd., IIl/ı1/ı2/13 — 419 — 25
f)
irgendeine chirurgische Operation, was auch mit seiner Phantasie von der Verwundung
durch ein Bajonett und mit seinen homosexuellen Neigungen zusammenhing. Er
sagte, er würde sich lieber selbst töten, als sich einer Operation unterziehen. Auch
vor anaesthetisierenden Mitteln hatte er Angst, und er erklärte, wenn dadurch bei ihm
auch Lähmung oder Unfähigkeit, sich zu bewegen, erzielt werde, so. bliebe sein
Empfinden doch ungetrübt und er könne alles fühlen, was während der Zeit mit ihm
geschehe.
Im Lichte der einleitenden Bemerkungen scheint dieser Fall durch den Zusammen-
hang zwischen der Art der Selbstmordphantasie und die dominierende Zone in der
Kindheit besonders interessant. Diese Zone wurde wahrscheinlich durch ein Geburts-
trauma determiniert, das noch verschärft wurde durch die Bedeutung der Entwöhnung,
die er seiner Mutter nie verzieh, und die Wiederholung bei dem aktuellen Selbst-
mordversuch, der sich so eng an die Erlebnisse in der Kindheit anpaßte.
B
Der Patient kam mit ungefähr ı5 Jahren in die Behandlung. Er hatte bis vor
kurzem die Schule besucht bei einem Lehrer, der eine kleine Privatschule leitete, Er
besuchte diese, weil er die grobe Art anderer Knaben nicht vertragen konnte. Jetzt
besuchte er die Handelshochschule in London und war dadurch gezwungen, zum ersten-
mal im Leben den ganzen Tag von zu Hause fort zu sein.
Seine Krankheit begann damit, daß er abends, wenn er heimkehrte, darüber klagte,
daß er mittags Kopfschmerzen, schlechte Verdauung und Herzklopfen hätte. Um diese
Leiden zu bekämpfen, hatte ihm sein Hausarzt eine Brille, ein Tonikum und eine
Arznei gegen die Verdauungsbeschwerden verordnet. Aber trotzdem dauerten die
Symptome an, und dann bildete er sich ein, daß es die tägliche Eisenbahnfahrt war,
die ihn überanstrengte. Folglich sagte er zu den Eltern, es täte ihm leid, aber wenn
sie darauf beständen, daß er so weiter lebte, fürchtete er, er werde gezwungen sein,
sich aus dem Zug zu stürzen. In größter Aufregung konsultierten die Eltern einen
Spezialisten mit dem Resultat, daß bald eine psychoanalytische Behandlung eingeleitet
wurde. Die tägliche Fahrt wurde im Omnibus zurückgelegt.
Es stellte sich heraus, daß dies nicht das erstemal war, daß er eine solche Drohung
gemacht hatte. Zum erstenmal hatte er es vor vielen Jahren getan, als er aus der
Kinderschule, die er bis dahin besucht hatte, in eine Knabenschule kam, Hier waren
die Knaben roh und wild, wie jetzt auf der Handelsschule, und sie pflegten ihn bei
ihren Spielen hinzuwerfen, was ihm schrecklich wär. Überdies war eine Lehrerin an
der Schule, die allerdings in einer anderen Klasse lehrte, aber eine laute Stimme und
"ein reizbares Temperament hatte. Sie pflegte die faulen und unaufmerksamen Knaben
anzuschreien. Der Knabe erklärte, daß ihm das schrecklich gewesen wäre und daß er
es nicht ertragen könnte, wenn es je ihm selbst passieren würde. Er ging zu seinen
Eltern und drohte, daß er sich in den Fluß stürzen würde, wenn sie ihn nicht aus der
Schule herausnehmen würden.
Er wurde aus der Schule genommen, zu dem Privatlehrer gegeben und seine Er-
ziehung wurde nun in dieser schützenden Atmosphäre fortgesetzt. Aber sein Schul-
besuch wurde gleich vom Anfang an durch fortgesetzte Krankheit unterbrochen, Jeder
Winter fand ihn im Bett mit Bronchitis oder heftigen Erkältungen. Da wurde ihm
die:ungeteilte Fürsorge der Mutter zuteil, die ihn immer selbst pflegte. Etwa 14 Tage
nach dem Anfang des Winters pflegte immer das Kranksein einzusetzen, und er blieb
daheim, bis es ihm besser ging oder das Wetter sich gebessert hatte.
BT
In seinen zahlreichen Gesundheitsstörungen folgte er dem Beispiel seiner Mutter,
die immer über vieles zu klagen hatte; er probierte immer die ihr verschriebenen
Arzneien und verbrauchte sie auch. In der Analyse zeigte sich, daß er am schwersten
den Gedanken ertragen konnte, seine Mutter aus den Augen zu verlieren, so sehr er
sich auch dagegen zu sträuben versuchte. Jedesmal, wenn er von ihr getrennt wurde,
entwickelte er ein Symptom, das ihn zu ihr zurückbrachte. Die tägliche Fahrt zur
Handelsschule war der erste Anlaß, daß er den ganzen Tag über von ihr fort sein
mußte, und daher brach seine Gesundheit zusammen. Als das nicht ausreichte, um
ihn wieder ans Haus zu fesseln, nahm er zu seiner alten Selbstmorddrohung Zuflucht,
die ihn schon einmal von der Schule befreit hatte. Er hoffte, nie fortziehen, nie
heiraten und nie die Heimat verlassen zu müssen. Erwähnung verdient, daß die
frahzösische Lehrerin auf der Handelsschule eine Frau mit lauter Stimme und heftigem
Temperament war, wie die Lehrerin, die ihn früher so erschreckt und dadurch zu
seiner Flucht beigetragen hatte.
Die zornige Lehrerin muß für ihn die böse Mutter dargestellt haben, die strafen
könnte und von der verstoßen zu sein für ihn unerträglich gewesen wäre. Da hätte
er es vorgezogen, sich selbst zu töten, und das hätte leicht geschehen können, wenn
die Eltern sich geweigert hätten, ihn aus der Schule heraus zu nehmen und wenn sie
darauf bestanden hätten, daß er mit der Eisenbahn wieder zur Stadt gefahren wäre,
Das wäre ein Beweis für den Knaben gewesen, daß seine Mutter ihn nicht mehr so
wie früher liebte, sonst würde sie doch wollen, daß er immer bei ihr bleibe. Wenn er
ihre Liebe verloren hatte, mußte er sterben, weil er das nicht ertragen konnte. Dann
würde sie dadurch gestraft werden, daß sie ihn verlor, so wie er sie immer verloren
hatte, und ihm würde es die Qual ersparen, sie langsam zu verlieren, wie es das Leben
mit sich bringe, wenn er heranwachse.
Das Beschauen und Sehen war immer von außerordentlicher Wichtigkeit für diesen
Knaben. Er legte keinen Wert auf irgendeine Beschäftigung, bei der er nichts zu schauen
hatte. Es lag ihm nichts am Selbsttun, er wollte lieber Geschichten lesen, auch wollte
er nur mit fertigen Spielsachen spielen. Er konnte auf dem Klavier solange nichts
auswendig spielen, bis er sich die gedruckten Noten sichtbar vorstellen konnte, und
auf der Geige seiner Schwester konnte er nicht spielen, wenn er sie nicht wie ein
Cello hielt. Als Kind, so erinnerte er sich, pflegte er während der Abwesenheit seiner
Mutter zu schreien und ganz untröstlich zu sein, und täglich ließ man ihn schreiend
im Kindergarten zurück, weil er fürchtete, daß die Mutter nicht mehr existiere, wenn
er sie nicht sah, und daß er sie und seine Spielsachen bei seiner Heimkehr nicht
mehr vorfinden würde. |
Als es gelang, seine Angst vor dem Verlust seiner Mutter und ebenso die zugleich
aufgetauchten Symptome aufzulösen und die oben erwähnten Erinnerungen aus seiner
Kindheit festzustellen, war er plötzlich imstande, seine Arbeit in der Handelsschule
aufzunehmen und dort den ganzen Tag ohne die geringste Schwierigkeit zu arbeiten.
Der Wunsch, Selbstmord zu begehen, quälte ihn, soviel ich erfahren konnte, in der
Zukunft nicht mehr.
C
Ein Patient, der an schweren neurotischen Symptomen vermutlich schon während
seines ganzen Lebens gelitten hatte. Seine Neurose äußerte sich in Zweifelsucht,
nervösen Ticks und einer Neigung zu unbestimmten physischen Krankheiten, wenn
äußere Umstände ihm das Leben erschwerten. Er hatte seinen Vater nach langer
— 45 — 25°
Krankheit verloren, als er selbst 3!/, Jahre alt war, und seither quälte er sich damit,
daß er selbst an dem Todesfall schuldig wäre. Das Schuldgefühl des Kindes scheint
ungeheuer groß gewesen zu sein, und er suchte immer nach Methoden der Selbst-
bestrafung und der Buße für ein unbekanntes Vergehen.
Für ihn war Kranksein Grund genug, um sich schuldig zu fühlen. Und doch be-
strafte man sich ja selbst, wenn man krank war, so daß Gott einen nicht noch nachher
strafen konnte; vielleicht aber war die Krankheit auch gleichzeitig ein Racheakt
Gottes. Ebenso schien die Krankheit eine Bestrafung seiner Mutter, die ihm immer
viel trauriger über seine Leiden zu sein schien, als er selbst. Jedes widrige Ereignis
in seinem Leben, selbst ein Regentag statt eines schönen Tages, den er sich wünschte,
kam ihm wie eine direkte Strafe vor. Er wurde typisch größenwahnsinnig in Bezug
auf alle seine nervösen und physischen Leiden, was ohne Zweifel durch die ständigen
Besuche bei Londoner Spezialärzten in seiner Kindheit sehr verstärkt wurde, Einmal
wurde er bei einer klinischen Demonstration vorgeführt, und er fühlte sich maßlos
geschmeichelt, als so viele Studenten ihn anstarrten, dachte aber zur gleichen Zeit,
daß doch etwas sehr Ernstes mit ihm los sein mußte. Als ganz kleines Kind hatte
er unter Gefühlen von Unwirklichkeit gelitten, die ihn sehr erschreckt hatten
wegen des dadurch hervorgerufenen Panikgefühls; niemand hatte verstehen können,
was mit ihm los, war und so konnte auch niemand ihm helfen.
Zu Beginn der zwanziger Jahre erlitt er einen ernstlichen Zusammenbruch, nach-
dem er während des Krieges ein Spezialexamen bei einem militärischen Ausbildungs-
kurs bestanden hatte. Er hatte sich danach betrunken und sich selbst dafür bestraft,
indem er das Gefühl der Unwirklichkeit, das er während des Rausches gehabt hatte,
nun dauernd behielt. Zu dieser Zeit dachte er viel an Selbstmord aus Mitleid mit
sich selbst. Er ging heim und lebte in der größten Zurückgezogenheit mit seiner
Mutter, von der er sich nicht trennen konnte. v
Eisenbahnfahrten waren immer eine große Anstrengung für ihn als Kind gewesen
und hatten Angst in ihm erregt, selbst wenn er mit anderen zusammen war, aber die
Rückreise zur Schule, nach dem Abschied von seiner Mutter, von der ihn jede Meile
mehr entfernte, war ihm fast unerträglich. Später waren seine Selbstmordwünsche
meist irgendwie mit Eisenbahnfahren verknüpft. Er wollte sich aus dem Fenster des
Zuges herausstürzen, wenn dieser schnell fuhr, und er mußte sich mit aller Kraft an
seinen Sitz festklammern, um zu verhindern, daß irgend ein Etwas ihn hinausdränge.
Einmal mußte er sich unter einem Sitz verkriechen, um sich vor dem Zwang zu
retten, die Tür zu öffnen. Eine andere Zwangsbefürchtung war, sich unter einen Zug
werfen zu müssen, wenn er am Bahnsteig vorfuhr, besonders bei elektrischen Zügen.
Eine Zeitlang konnte er nicht in der Untergrundbahn fahren, auch nicht in Auf-
züugen, weil er sich davor fürchtete, lebendig begraben zu werden, und die Furcht vor
geschlossenen Räumen tauchte immer wieder unter seinen verschiedenen Symptomen
in Verbindung mit seinen intrauterinen Phantasien auf. Er hatte versucht, vor all
diesen Schwierigkeiten in eine typische Phantasie zu flüchten, in der eine ihm ganz
allein gehörende Insel mit wundervollen Höhlen auftauchte. Seine Fähigkeit zu Phantasie-
gestaltungen ließ bei ihm an eine Disposition zur Psychose denken, und es schien sich
bei diesem Fall um einen Kampf zwischen den beiden Fluchtmöglichkeiten vor der
Realität, dem Selbstmord oder dem Wahnsinn, zu handeln. Die Entscheidung nach der
einen oder der andern Seite war jeden Augenblick zu erwarten.
Im späteren Stadium der Analyse schien das Schuldgefühl direkt mit Inzestphantasien
verknüpft zu sein oder mit Phantasien, in denen er seine Mutter verführte. Das Schuld-
= 4j6 =
gefühl gehörte, wie so oft in Fällen von Zwangsneurosen mit Schuldgefühl, teils zu
dem Patienten selbst und teils zu einem anderen, von dem es der Patient
introjiziert hatte, weil er es in Verbindung mit dieser Person nicht ertragen konnte.
Der Patient versuchte, auch seine Mutter zu bestrafen, allerdings unbewußt, dafür, daß
sie ihn verführt hatte, als er ein Kind war, wie er es sich in seinen Phantasien, die sich
an das Waschen oder die Handgriffe bei der Toilette anschlossen, ausmalte. Er hatte
nicht nur Selbstmordphantasien, sondern auch andere, in denen er seine Mutter er-
mordete. Neben Selbstmordphantasien finden wir so häufig solche, die sich mit Morden
beschäftigen, ein Beweis für Freuds Bemerkung, daß „vielleicht niemand die psychische
Energie, sich zu töten, findet, der nicht erstens dabei ein Objekt mittötet, mit
dem er sich identifiziert hat, und der nicht zweitens dadurch einen Todeswunsch gegen
sich selbst wendet, welcher gegen eine andere Person gerichtet war“. (Über die Psycho-
genese eines Falles weiblicher Homosexualität. Freud, Ges. Schr., Bd. V.)
Wenn sich der Patient auch nur annähernd glücklich fühlte und einmal kein
deutlich nervöses Symptom oder keine Spur von physischer Krankheit hatte, also so-
zusagen glückliche Ruhe fühlte, dann hatte er immer das Gefühl, als ob eine Kata-
strophe bevorstände. Er wollte für seinen Glückszustand bestraft sein. Im weiteren
Verlauf der Analyse ergab sich, daß der ursprüngliche Zustand glücklicher Ruhe, der
von einer zerschmetternden Katastrophe beendet worden war, der vorgeburtliche Zu-
stand war, der durch seine Geburt gestört wurde. Jedesmal, wenn ein Zustand voll-
kommenen Glückes ohne Krankheit erreicht war, befürchtete er wieder das Herein-
brechen einer solchen Katastrophe. Die zweite Katastrophe würde der Tod sein, nicht
nur eine Rückkehr zur Mutter im Grabe, sondern auch eine Strafe. Scheinbar ver-
band sich die Vorstellung des vorgeburtlichen Zustandes später mit den Inzestphantasien,
für welche die stärkste Strafe, Verstoßung, drohte. Seine schrecklichste Phantasie von
Tod, Ewigkeit und Bestrafung war, kopfüber in endlose Dunkelheit gestoßen zu werden
und ewig weiter hinabzustürzen, ohne je den Boden des endlosen Abgrundes zu er-
reichen. Diese Phantasie ist ganz eindeutig. Zu den Bestrafungsideen assoziierte er
auch einen anhaltenden Kopfschmerz, der manchmal von der rechten Seite seines
Kopfes ausbrach und oft lange Zeiten andauerte, wenn er irgendwie in Unstimmig-
keiten mit seiner Mutter lebte.
Die Idee, daß ein Zustand des Glückes immer irgendwie gestört werden müsse,
wurde zweifellos durch die Tatsache verstärkt, daß er plötzlich von seiner Mutter
wegen eines Abszesses an der Brust hatte entwöhnt werden müssen. Er erlitt hierdurch
ein schweres Trauma, da er den Wechsel in der Ernährung sehr schlecht ertrug und
jede Ersatznahrung zurückwies, bis er ganz abgemagert und sehr geschwächt war. Man
wird es also verstehen, wenn ich das als seinen ersten Selbstmordversuch und als
Versuch, die Mutter darin selbst zu bestrafen, bezeichne.
In diesem Fall sehen wir sehr deutlich die Selbstmordidee mit Selbstbestrafung
verbunden, um Bestrafung durch einen andern zu vermeiden. Dieser Vorgang wird
gewöhnlich als Vorrecht Gottes angesehen. Es scheint dies ein Weg zu sein, sich
göttliche Eigenschaften beizulegen, soll aber gleichzeitig einen Strafaufschub ver-
meiden. Viele Kinder provozieren geradezu eine Bestrafung und ziehen eine unmittel-
bare Strafe einer, auf die man warten muß, vor. Selbstmord in Fällen von unheilbarer
Erkrankung oder zur Vermeidung von gefürchteten Dingen ist nicht selten, obgleich
der Selbstmord zum selben Ziel führt und keineswegs eine Rettung ist. Wenn die
Mutter einem Kind im Zorn droht, es wegzuschicken, oder „Dich möchte ich töten“
oder ähnliches sagt, antworten manche Kinder: „Dann tu ich das selbst“,
— AMR—
D
Dieser Patient, der vieles mit den schon beschriebenen Fällen gemeinsam hat,
war tief an die Mutter fixiert, zart als kleines Kind, ein Bettnässer und ÖOnanist,
wie es auch A und C waren. Bei diesem Fall war das Bettnässen ein Grund zu einigen
Streitigkeiten zwischen den Eltern gewesen. Der Vater wollte ihn jedesmal strafen,
die Mutter ergriff aber die Partei des Knaben und verhinderte die Bestrafung. Dieses
Übel hatte in ihm die Idee zurückgelassen, daß er, ebenso wie er nicht imstande
gewesen war, es erfolgreich zu bekämpfen, auch sonst nichts zustande bringen werde,
Seine Onanie hatte sein Schuldgefühl gesteigert. Er führte auch seine Unentschlossen-
heit und psychogene Impotenz, um derentwillen er ursprünglich in die Analyse kam,
auf die Onanie zurück. Sein ganzes Leben hindurch hatte er die Tendenz, alles für
sich selbst schwieriger zu gestalten als es nötig war, und er erinnerte sich, daß auch
seine Mutter ihm das gesagt hatte. Ein starkes Trauma in seiner frühen Kindheit war
die Geburt einer zwei Jahre jüngeren Schwester gewesen. Es schien, wie wenn er
seiner Mutter den Verrat, den sie dadurch an ihm beging, nie verziehen hätte.
Er hatte bei mancherlei Gelegenheiten Selbstmord geplant und hatte Geld gespart,
um ihn in einer bestimmten Art auszuführen. Das Selbstmordverlangen war besonders
stark kurz nach dem Tode seiner Mutter in ihm aufgestiegen, und dann, als sein
Vater wıeder heiratete, so daß er fühlte, daß er kein Heim hatte.
Sein Wunsch war, zu einigen Höhlen zurückzukehren, die er an der französisch-
spanischen Grenze gesehen hatte, in sie hinabzusteigen und den Eingang sorgfältig
zu verrammeln, so daß niemand nach ihm eintreten oder ihn finden könnte. Wenn
er so weit wie möglich in diesen Höhlen vorgedrungen wäre, wollte er sich erschießen.
Er hoffte, daß man ihn nie finden werde, und daß niemals jemand erfahren würde,
was aus ihm geworden sei.
Wenn hier die gleiche Idee dieser Phantasie zugrunde liegen sollte wie beim vorigen
Patienten, würde die Schuld der Inzest-Phantasie beim Selbstmord in der Höhle, die
Rückkehr zur Mutter, niemals entdeckt werden, und er würde hier für immer bleiben,
ungestört im Tode. Niemand würde nach ihm auftauchen, wie es die Schwester getan
hatte, die so störend in sein Leben getreten war.
L
Der Fall einer Patientin, die von ihrer Kindheit an von der Idee verfolgt worden
war, daß ihre Geburt ihrer Mutter unerwünscht war. Sie war das vorletzte Kind von
dreizehn Geschwistern. Das jüngste von allen war ein Knabe gewesen. Sie war furcht-
bar eifersüchtig auf die älteren Schwestern, beklagte sich aber fortwährend, daß
viele Leute eifersüchtig auf sie wären und ihr Unrecht zufügen wollten.
Von Kindheit an waren ihr ihr ganzes Leben lang immer wieder von Zeit zu
Zeit ernsthafte Unfälle zugestoßen, wie sie selbst hervorhob. Ebenso wies sie darauf
hin, daß sie durch andere Menschen verursacht waren, was auch wirklich so aussah,
aber wahrscheinlich mit dem Einverständnis ihres Unbewußten, denn sie war ängst-
lich bemüht, zu zeigen, wie schlecht andere Leute sie aus Eifersucht behandelten,
Die Rolle, die sie anderen in ihrer Einbildung zuschob, war zweifellos in mehreren
der Fälle weit hergeholt. Sie zeigte ausgeprägte Züge früher Paranoia und suchte
eine Möglichkeit, den Leuten zu entfliehen, von denen sie glaubte, daß sie versuchten,
ihr etwas anzutun. Ihre Hauptabsicht war, sich mehr und mehr von der Berührung
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mit anderen zurückzuziehen, Sie war sehr taub geworden, was sie natürlich stark von
den Menschen ihrer Umgebung isolierte. Das zeigte sich besonders, wenn andere
Leute miteinander und nicht direkt mir ihr sprachen, so daß sie es wieder einmal
ganz deutlich spürte, daß man sie nicht brauchte. Wenn sie die volle Aufmerksamkeit
eines Menschen, mit dem sie zu sprechen wünschte, für sich haben konnte und man
nur mit ihr sprach, war es ihr eher möglich, zu hören, was man sagte. Sie glaubte
dennoch fest, daß diese ihre Taubheit durch einen ihrer zahlreichen Unfälle verur-
sacht sei, als sie nämlich einmal in ein Frühbeetfenster gefallen und ihr Gesicht
zerschnitten hatte. Das geschah, weil jemand das Fenster nicht befestigt hatte, und
sie neben ihm ausgeglitten war.
Sie schien nie eine besondere Selbstmordabsicht gehabt zu haben, um so ihre
Schwierigkeiten mit anderen Leuten zu beenden; vielleicht wollte sie damit nur
drohen, als diese Absicht zuerst in der Analyse auftauchte. Sie sagte, sie dächte, das
wäre das einzige, was sie tun könne, dann würde sie ihre Freunde nicht mehr mit
ihren Kümmernissen belästigen. Traurig fügte sie hinzu, daß sie gedacht hatte, die
Psychoanalyse könne ihr helfen, wie sie es schon bei anderen Leuten getan habe,
aber sie gäbe ihr scheinbar auch nicht, was sie brauche.
Was sie brauchte, war nämlich die Liebe einer Mutter für ihr Kind. Zur selben
Zeit hatte sie abends vor dem Einschlafen Phantasien von der Analytikerin, wie sie
sie badete und dann vor dem Kamin anzog. Dann sah sie sich als kleines Kind auf
ihrem Schoß sitzen. Es wurde aber kein Selbstmordversuch gemacht, sondern der
Selbstmord wurde nur als Drohmittel benutzt, um die Analytikerin zu zwingen, ihr
zu geben, was sie sich wünschte, und sie zu warnen, um zu zeigen, was passieren
könnte, wenn ihre Wünsche nicht erfüllt würden. Das enthielt auch noch eine
Strafandrohung gegen die Analytikerin, die sie betrog, denn wenn sie den Selbstmord
wirklich ausführte, würden alle Leute sehen, wie schlecht sie wieder einmal behan-
delt worden war. Sie schien einzig und allein ihre Wünsche durch Drohungen
erreichen zu wollen und so andere zu zwingen, ihr zu geben, was ıhr zukam. Wenn
ihr allerdings anderseits irgendwas angeboten wurde, bemühte sie sich immer, es
zurückzuweisen, weil sie offenbar nicht wünschte, jemandem irgendwie verpflichtet
zu sein.
Es gab noch einige andere interessante Erlebnisse in ihrem Leben, die sie für
wirklich erklärte, die aber doch eher aufgebauschte Phantasien zu sein schienen; sie
illustrierten auch das Thema ernsthafter Verletzung und den unbewußten Wunsch
nach Rache. Der Ausdruck ihres Gesichtes verriet in einem außerordentlich starken
Grade ünterdrückten Haß. Das schien der Fall zu sein, wenn Phantasien auftauchten
von der Eifersucht anderer und den Bemühungen, sie zu beleidigen. Es ist wahr-
scheinlich, daß in ihrem Selbstmordmotiv die Sucht, andere zu bestrafen, überwog
und die Idee, daß sie nur durch ihre Selbstzerstörung die ganze Welt, die sie so
gründlich haßte, auslöschen könnte.
F
Der Fall einer Patientin, die ihr ganzes Leben lang in einem Zustand äußerster
Furcht und Angst vor allen großen Fahrzeugen, großen Tieren und Menschen zubrachte.
Sie selbst-war sehr klein und scheint darunter so gelitten zu haben, daß sie in jedem,
der etwas größer war, als sie selbst, eine geistige oder körperliche Beleidigung 'sah.
Sie sagte, es schiene ihr. als warte sie immer auf irgendetwas, was eine Gefahr
ug —
signalisiere, die so einträfe, daß sie noch weglaufen könne. Dazu assoziierte sie
schwere Karrenpferde, die sie überrennen könnten. Sie fürchtete sich auch sehr vor
Wasser und vor der See und war ganz unfähig, schwimmen zu lernen, aus Angst,
sie könnte dabei ertrinken oder ersticken.
Als sie noch ein ganz kleines Kind war, hatte eine Tante Selbstmord begangen
durch Ertränken. Das war scheinbar in der Familie besprochen worden und hatte
einen tiefen Eindruck auf sie gemacht.
Scheinbar hatte sie als Kind ihre ältere Schwester gehaßt. Diese Tatsache hatte
sie in einem kleinen roten Notizbuch vermerkt, das sie eigens zu dem Zweck
führte, um alle Menschen und Dinge einzuschreiben, die sie haßte. Das waren viele.
Sie hatte gefühlt, daß diese Schwester zu herrisch und vielleicht eifersüchtig auf sie
wäre. Das kann wohl gestimmt haben, weil sie als die jüngste in der Familie der
Liebling des Vaters war, der scheinbar viele seiner Mußestunden damit verbrachte,
mit ihr zu spielen oder ihr zu ihrer Unterhaltung Spielsachen zurechtzumachen.
'' Die Patientin erzählte, daß sie und ihre Mutter beinahe bei ihrer Geburt starben.
Sie bildete sich ein, daß ihre Mutter hauptsächlich durch das Gebären so vieler
Kinder so gebrechlich geworden wäre (es waren drei Kinder), und daß ihr Vater
darum zu tadeln wäre. Das nächstältere ihrer Geschwister, ein Knabe, war als ganz
kleines Kind gestorben; ihre Mutter war über diesen Verlust untröstlich gewesen und
hatte das kleine Mädchen fühlen lassen, daß sie nur ein sehr armseliger Ersatz für
das verstorbene Kind wäre, was die Schuld noch verstärkte, deren sich das Kind schon
bewußt zu sein schien. Die ständige Angst vor irgendeinem Unheil scheint ihre
Methode gewesen zu sein, für die Sünde des Geborenseins zu büßen, mit der sie zu
der Gebrechlichkeit ihrer Mutter beigetragen hatte. Das war zum Teil allerdings durch
einen Fehler ihres Vaters, den sie zärtlich liebte, geschehen, zum anderen Teil rührte ihr
Schuldgefühl daher, daß sie nicht ein Knabe geworden war, denn als solcher hätte sie
den Platz ihres verstorbenen Bruders einnehmen und ihre Mutter trösten können. Un-
bewußt erwartete sie auch Leiden als Strafe für die leidenschaftlichen Haßgefühle
gegen ihre Schwester. Denn man pflegte ihr zu erklären, daß Haß soviel wie Mord
wäre. Daher stammt ihre Todesfurcht und die Angst vor Gefahren. Wenn diese Furcht
weniger quälend gewesen wäre, hätte sie der Versuchung nicht widerstehen können,
dem Beispiel ihrer Tante zu folgen, und so für die heftigen Schuldgefühle zu büßen,
die sie von allen Seiten zu bestürmen schienen.
In diesem Falle scheint die Angst eine Abwehr gegen den Selbstmord zu sein, und
die ethische Erziehung stellte dieser Patientin gerade den Selbstmord als die ımver-
zeihliche Sünde vor. Sie glaubte, daß die Strafe für das Unrecht gerade darin bestehen
müsse, daß man im Leben büße. Von Zeit zu Zeit traten Träume auf, in denen sie selbst
die Stelle eines Verbrechers innehatte, der wegen eines Mordes gesucht wurde, und
in einem anderen Traum sollte sie von einer Abteilung von Schützen erschossen
werden, vermutlich als Spionin (vgl. den letzten Teil dieses Abschnittes !). Einmal
sprang sie im Traum aus einem Fenster, ohne sich um die Höhe zu kümmern, um
einem Verfolger zu entgehen, der zugleich der Analytiker war. Sie bemüht sich
ängstlich in der Analyse, nur nichts zu sagen, „was gegen sie verwendet werden
kann“, so wie ein Verbrecher sich ängstlich hütet, sich durch eine unvorsichtige
Bemerkung selbst auszuliefern.
Die Mutter starb, als das Mädchen ungefähr fünfzehn Jahre alt war, und der
Vater heiratete nach einer Weile wieder, Aber von der Stiefmutter sagte sie sehr
wenig. Sie scheint nur die Rolle einer Haushälterin gehabt zu haben, und die
— I —
Patientin behauptet, daß sie und der Vater einander mehr waren als irgend jemand
sonst im Hause, aber diese Meinung kann auch nur aus ihrem Wunsche herrühren.
Es scheint, als ob sie als Kind zwischen den beiden Wünschen hin- und her-
schwankte, die Mutter oder den Vater ganz für sich zu haben. Dabei hätte sie am
liebsten die anderen ganz ausgeschaltet oder wäre selbst vor jedem geflohen, der sie
nicht anerkannte oder nicht alles so machte, wie sie es wünschte. Das scheint auch
wieder die charakteristische Strafe des Kindes gegen die Erwachsenen anzudeuten:
„Ich werde ganz fortgehen, und dann wirst du sehr traurig sein!“
Augenblicklich scheint sie sich sehr leicht Freunde zu erwerben unter ıhren jungen
Schülerinnen, im Erziehungsinstitut, an dem sie Lehrerin ist. Sie zeigt sich als hoch-
herzige Wohltäterin, was einige sehr peinlich berührt; aber es befreit sie von ihren
Minderwertigkeitsgefühlen, die sie als Kind hatte und mildert ihr Gefühl, daß alle
anderen wichtiger, großzügiger oder reicher als sie selbst sind.
Diese Patientin hatte die interessante Ansicht, daß die Heirat sowohl körperlich
als geistig eine Art von Mord oder Selbstmord für die Frau ist. Auf beides scheint
mehr oder weniger deutlich von der Mutter angespielt worden zu sein. Diese scheint
so weit gegangen zu sein, ihre zwei Töchter geradezu vor der Heirat zu warnen, aus
vielen Gründen, aber scheinbar hauptsächlich deshalb, weil man seine Freiheit verliert
und Eigentum des Mannes wird. Die Patientin meinte oft, was für ein Opfer die
Mutter gebracht hatte, indem sie den Vater heiratete, da sie ihm intellektuell und
auch sonst in vielen Dingen weit überlegen war. Sowohl die Patientin als auch ihre
Schwester sind dem Rat der Mutter gefolgt und ledig geblieben, stark negativ zum
Manne eingestellt und mit dem Gefühl, daß die Frau, das überlegene Wesen, dem
Manne geopfert ist, der dem Tiere viel näher steht als sie selbst. Doch hatte auch
ihre Fixierung an ihren Vater dazu beigetragen, daß sie sich nicht verheiratete, und
sie sagt selbst dazu, daß sie nie hätte heiraten können, bis sie einen Mann gefunden
hätte, der ihrem Vater ebenbürtig wäre, was auf alle Fälle unmöglich gewesen wäre.
G
Der letzte dieser Fälle, bei denen die Selbstmordphantasie oder etwas Entsprechendes
eine Rolle spielte, war der einer Frau, die als kleines Kind von einem Freund ihres
Vaters verführt worden war und infolgedessen in ständiger Furcht vor Strafe und
unter einem Druck großen Schuldgefühls lebte. In den Unfällen, die von ihren un-
bewußten Versuchen, sich selbst zu zerstören, heraufbeschworen wurden, scheint das
Fallen immer eine wichtige Rolle gespielt zu haben.
Sie lebte also immer in Straferwartung, und als Kind pflegte sie oft außerhalb des
Weges zu gehen, um die Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf ihr Unrecht zu lenken, so,
als ob sie sogar die Angst vor dem Entdecktwerden vermeiden wollte. Ebenso voll-
brachte sie Unarten, um lieber dafür als für ihre große Sünde bestraft zu werden.
Natürlich betrachtete sie sich als Hauptschuldigen bei diesem Erlebnis, zum Teil, weil
der Mann ihr gesagt hatte, daß er, wenn sie ırgend etwas davon sagen würde,
ihrem Vater sagen würde, was sie getan hätte. Das erschreckte sie so, daß sie voll-
ständig schwieg.
Infolge dieses Erlebnisses in ihrer ersten Kindheit, war, so glaubte sie, ihre Ehe
nicht sehr glücklich. und sie hatte viele Schwierigkeiten im Zusammenleben mit ihrem
Manne. Immer stellte sie sich vor, er wäre der böse Mann ım Garten, der etwas tat,
was man, wie sie wußte, nicht tun dürfte, und sie fühlte sich bei dem Gedanken an
— 1 —
den Sexualverkehr immer abgestoßen. Darin spiegelte sich ihre erste Erfahrung auf
diesem Gebiet wieder. Andererseits hoffte sie immer, ihren Vater in ihrem Gatten
wiederzufinden. Den Vater hatte sie innig geliebt. Er hatte die Gewohnheit gehabt,
ihr kleine Geschenke in seinen Taschen mitzubringen. Wenn er es nicht tat, oder
einmal hereinkam und vergaß, mit ihr zu sprechen, war sie hinausgegangen und hatte
lange Zeit geweint. Wenn irgend jemand während ihrer Kinderzeit böse auf sie war,
ging sie immer irgendwohin und weinte; wohin, war ihr einerlei, wenn es nur recht
weit fort war.
In der Kindheit ist dies oft ein Impuls, der sich später zu dem von tatsächlichem
oder „zufälligem“ Selbstmord entwickelt. Diese Patientin machte im Folgenden auch
einen ähnlichen Versuch. Sie war ın solche Schwierigkeiten mit ihrem Manne geraten,
daß sie keinen Ausweg mehr sah. Bei der ersten Vorbesprechung vor Beginn der
Analyse sagte sie bei der Schilderung ihrer Gefühle: „Ich hatte das Gefühl, als ob ich
einfach nicht mehr weiter gehen könnte. So verließ ich das Haus und hatte meinen
Unfall“. Es stellte sich heraus, daß sie vorne vor einem Auto in schneller Fahrt vor-
beigegangen war, ohne es kommen zu sehen. Sie wurde niedergerissen und vor eine
Elektrische gestoßen, so daß sie lange Zeit im Bett zubringen mußte, um sich von
. den Knochenbrüchen und von dem Schock zu erholen. Von den psychischen Wirkungen
hatte sie sich, obgleich es fünf Jahre her war, niemals erholen können.
| Die Vorstellung vom Tode als von einer Flucht vor dem Leben mit seinen Leiden
bekam diese Patientin als Kind, als verschiedene Geschwister als ganz kleine Kinder
vor und nach ihr gestorben waren. Eines von diesen glaubt sie gekannt zu haben, die
anderen nicht, denn als sie sehr klein war, machte sie zwei lange Besuche bei ihrer
Großmutter, und vielleicht fiel in diese Zeiten die Geburt von einem oder zwei dieser
Kinder. Sie hatte sich damals darüber gewundert und auch darüber, weshalb sie ihre
Mutter so lange Zeit nicht sah.
Als während der Analyse neue Komplikationen in ihren Beziehungen zu ihrem
Manne auftraten, hatte sie noch einmal einen Rückfall in ihre Neigung, sich in einen
Unfall zu flüchten. Bei zwei oder drei Gelegenheiten glitt sie auf einigen Stufen aus
und verletzte ihren Knöchel, und einmal fiel sie fast die Treppe hinunter. Später, als
die Furcht vor dem Fallen verschwunden war, erneuerte sich ihre Angst vor dem Straßen-
verkehr, und sie sagte, sie hätte eine Vorahnung, so wie sie sie vor jenem anderen
Unfall gehabt hatte, ehe er sich auf der Straße ereignete. Aber diesesmal blieb es bei
der Ahnung.
BINNEN
49 —
> u u gen 1 zu Ar re
Ein Beitrag zum Problem des Selbstmords
Von Dr. J. Sadger, Nervenarzt in Wien
Aus Anlal3 einer Selbstmord-Debatte in der „Wiener psychoanalytische Ver-
einigung“ tat ich im Jahre ı912 den Ausspruch: „Niemand gibt das Leben auf,
der nicht die Hoffnung auf Liebe aufgeben mußte!“ Was ich damals als neuen
Gedanken aussprach, halte ich auch heute, bei gemehrtem Wissen, durchaus auf-
recht. Nur haben mich meine psychoanalytischen Erfahrungen belehrt, daß man
eine jede Hoffnung auf Liebe oft schon in einer Zeit aufgegeben hat, an die
man gemeinhin gar nicht denkt, in der Säuglings-Periode nämlich.
Auf dem Psychoanalytischen Kongresse zu Innsbruck konnte ich 1927 die
Behauptung wagen, eine Neurose sei erst dann als absolut geheilt zu betrachten,
wenn man sämtliche Symptome zurück verfolgt hätte bis in das allererste Lebens-
jahr. Nun gilt ja die Selbstmordneigung nicht eigentlich als neurotisches Symptom.
Allein es gibt nicht wenige Menschen, bei denen ein starker Hang zum Selbst-
mord entschieden etwas Zwangsmäßiges hat, sich auch ganz regelmäßig mit
anderen neurotischen Symptomen paart und ebenso wie diese in seinen Endwurzeln
schon in jener Frühzeit nachweisbar ist. Dal3 dies nicht schon längst von den
Ärzten erkannt wurde, rührt einfach daher, daß Selbstmordgedanken unserer
Kleinsten nicht offenkundig werden, diese selber über ihr tiefstes Empfinden
nichts aussagen können und alles erst Dezennien später erschlossen wird in
einer voll durchgeführten Psychoanalyse. Immer mehr drängt sich mir die Über-
zeugung auf, dal3 alljährlich viele Säuglinge sterben, nicht weil sie unbedingt
sterben müßlten, sondern weil sie infolge mangelhafter Nahrungsaufnahme und
-Verwertung sich mählig und langsam sterben lassen. Sie wollen nicht leben und
begehen Selbstmord, weil ihnen die aufopfernde Liebe einer Mutter mehr oder
weniger abgeht'. Mitunter kann man die Erfahrung machen, daß solch ein
armes, scheinbar lebensunfähiges Wurm trotz bester, wissenschaftlicher Pflege in
einem Kinderspitale immer mehr verfällt, dann aber wie durch ein Wunder auf-
blüht, wenn die liebende Mutter es schließlich herausnimmt und mit äußerster
Sorgfalt großzuziehen versucht. Einer solchen aufopferndsten Mutter zu Dank
kann so ein Säugling sich am Leben erhalten, nachdem ihn die Wissenschaft
aufgegeben hat.
Ich werde hier wahrscheinlich schon einem heftigen Widerspruch begegnen.
Wie soll man annehmen, dal ein Säugling, der mindestens begrifflich noch gar
nicht zu denken vermag und auch nicht weiß, was ein Freitod ist, zu diesem
verzweifelten Mittel greifen? Der Mangel eines jeglichen begrifflichen Denkens
ist natürlich von vornherein zuzugeben. Doch wer die seelischen Äußerungen un-
serer Kleinsten studiert, dem wird nicht entgehen, daß statt dessen ihr Gefühls-
leben ganz außerordentlich entwickelt ist, vor allem die Fähigkeit, Liebe zu
empfinden und deren Abwesenheit. Der Säugling erwartet von jedermann Liebe
ı) Hiezu diese Zeitschrift III, S. 5 (Heft ı, 1928/29). Schriftleitung.
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und reagiert schon auf freundliches Ansehen gern mit einem Lächeln. Hingegen
genügt ein finsterer Blick oder auch nur abweisende Musterung, damit jener
das Mäulchen zum Weinen verzieht. Und nicht bloß der Säugling ist so liebe-
empfindlich, sondern auch nicht selten das kleine Kind. So berichtet die Dich-
terin Anselma Heine in ihrer Autobiographie „Mein Rundgang“: „Man erzählt
mir, daß ich ganz erstaunt einem Fremden nachsah, der achtlos an mir vorbei-
ging: ‚Das muß ein sehr böser Mann sein, er hat mich gar nicht angelacht.‘“
Wenn dem Säugling dauernd Liebe versagt wird, dann lehrt die Erfahrung,
dal er sich gar leicht passiv zum Sterben anschicken kann. Er nimmt etwas
zu wenig Nahrung oder verwendet die dargebotene nicht richtig, er gedeiht durch-
aus nicht, nimmt immer mehr ab, bis schließlich das flackernde Leben erlischt.
Er läßt sich dann fallen, weil er den dauernden Mangel an Liebe nicht erträgt,
begeht also, praktisch genommen, Selbstmord. Nur erhöhte Liebe der Pflegeperson,
die unablässig um ihn bemüht ist, kann den Lebenswillen wiederum wecken,
wenn auch schwerlich jemals ein richtiges, lebhaftes Kind aus ihm wird.
Zu beachten ist, daß nicht selten die Mutter auf den Tod ihres Kindes be-
wußt oder unbewußt hinarbeitet. Da wäre zunächst der Fall zu nennen, daß
dieses ungewollt empfangen wurde, ein Haß sich regt in der Seele der Mutter,
ihr das keimende Leben in ihrem Schoß keine Seligkeit bereitet, sondern stets
wachsenden Verdruß mit Aussicht auf vielfältige jahrelange Störung. Recht
häufig sucht sie der unerwünschten Frucht sich auf irgend eine Weise zu ent-
_ ledigen, und wenn dies mißlingt, so hat sie mindest für das neue Wesen nicht
allzuviel übrig. Zumal, wenn sie dann nicht einmal physiologisch entschädigt
wird, d. h., wenn das Stillen ihr keine sexuellen Lustgefühle bereitet. Oft produziert
eine solche Mutter wider Willen auch zu wenig Milch, oder diese ist der Be-
schaffenheit nach arg minderwertig. Das Kleinchen muß dann übermäßig ziehen,
die ungenügende Nahrung mit Gewalt an sich reißen, es kommt auch leicht
zu allerlei Verletzungen der Brustwarze, die wieder zum Abbruch des Stillens
zwingen. Ein Kind, das mit solchen Mühseligkeiten und mangelnder Liebe
zu kämpfen hat, wird zum wenigsten ein schlechter Trinker und gedeiht,
wenn überhaupt, nur äußerst schleppend. Auch wenn es davon kommt, behält
es für das spätere Leben eine gewisse Gleichgültigkeit wider das Essen, die
seiner körperlichen Entwicklung keines wegs frommt, ja praktisch zu einem
protrahierten (verzögerten) Selbstmord führen kann. Man sieht, wie sich die
Mordgedanken einer Mutter mit den Freitod-Wünschen des Kindes berühren.
Auch wenn ein Neurotiker später erfährt, die Mutter habe ihn gar nicht
empfangen und austragen wollen, kann dies ein Mitgrund zum Selbstmord werden.
Es wäre wohl einer Nachprüfung wert, wieviele Selbstmörder Mütter hatten,
die sie entweder überhaupt nicht haben oder nur widerwillig aufziehen moch-
ten. Jedensfalls sterben ungeliebte Kinder erfahrungsgemäß um vieles häufiger
als geliebte.
Ein infantiler Selbstmordversuch, der gar nicht so selten, verdient hier wenig-
stens kurze Besprechung. Manche übel beratene Mutter vollzieht selbst ohne
zwingende Notwendigkeit die Entwöhnung nicht in der üblichen, ganz allmähligen
a
Weise, sondern brüsk und ohne Übergang. Sie schmiert z. B. Brust und Brust-
warze mit Galle, Salz oder Paprika ein, um so dem Kleinen das Saugen zu ver-
ekeln. Die Folge davon ist oft ein stunden- bis tagelanger Hungerstreik, den
der um sein Liebstes betrogene Säugling dann inszeniert. Ich weiß z. B. aus einer
Analyse, daß so ein Kind ı8 Stunden lang ununterbrochen schrie, die Brust, welche
ihm die verzweifelnde Mutter schließlich wieder reichte, nicht annehmen wollte,
das ganze Haus in Aufruhr brachte, bis es endlich infolge der unablässigen
Bemühungen der Eltern und seiner völligen Erschöpfung sich dazu bequemte, ein
wenig Suppe zu sich zu nehmen. Dieser ganze Bericht war nicht etwa eine
bloße Phantasie, sondern ward durch die Mutter, die sich des Vorfalles noch sehr
wohl erinnerte, durchaus bestätigt. Dem Säugling aber blieb für das ganze Leben
die Neigung zu großen Erregungzuständen, die nichts anderes waren als Repro-
duktionen jener Ur-Erregung nach der Entwöhnung, sowie eine gelegentliche
ausbrechende Neigung Selbstmord zu begehen.
Neben den offenkundigen Selbstmorden der Erwachsenen und Versuchen
dazu gibt es noch eine Reihe von larvierten (verdeckten), die nır dem Fachmann
als Freitod klar werden. Hierher gehören die zahlreichen Unfälle, die das Un-
bewußte mit Absicht herbeiführt. Kommt es da nicht sofort zum Sterben, so
ist der geheime Wunsch daran zu erkennen, dal) der Betroffene sein Unglück
mit größter Fassung erträgt. Im Weltkriege erlebten wir, daß so viele und selbst
bejahrtere Leute sich freiwillig meldeten, auch solche, die es gar nicht nötig hatten,
weil sie entweder schon zu alt oder wegen eines körperlichen Fehlers für immer
vom Kriegsdienst befreit worden waren. Dies war nun keineswegs immer bloß
Liebe zum Vaterlande. Viel häufiger trieben sie allerlei Schuldgefühle gegen den
Vater, sowie das Bedürfnis nach Buße und Sühne. Nicht für das Vaterland
wollten sie sterben, sondern um den Vater zu versöhnen, an dem man etwa als
Ödipus gesündigt hatte. Ein erfahrener Alpinist gab mir in der Analyse folgende
Erklärung der häufigen Unfälle in den Bergen: „Die extrem waghalsigen Touren
werden zu einem sehr großen Prozentsatz von geschlechtlich abnormen Leuten
gemacht, die auf diese Art eine anständige Form des Selbstmords suchen. Es ist
der letzte Ausweg für sie. Ihnen ist es nicht darum zu tun, hinaufzukommen,
sondern es muß gefährlich sein. Das wird rationalisiert: ‚Ich leiste etwas, was
die andern nicht können‘, In Wahrheit aber ist der so überaus gefährliche
Weg der Weg auf den Schamberg ihrer Mutter. Also ein Inzest-Wunsch, der
immer wieder nach Erfüllung drängt und, selbst wenn er zum Tod führt, die
Erfüllung eines Sühne-Verlangens für schwere Urschuld.“
Analysiert man die Schuldgefühle, die zu larviertem Selbstmord führen, so
kommt man letzten Endes doch immer von neuem in die früheste Kindheit,
Nicht bloß, daß der Ödipus-Komplex weit eher anzusetzen ist, als gewöhn-
lich geglaubt wird, — ich fand ihn oft schon ganz offenkundig zu Beginn des
zweiten Lebensjahres, — so läßt sich schon in der Säuglingszeit ganz unverkenn-
bar Schuldgefühl nachweisen, das, wenn es sich mit arger Lieblosigkeit von
Seiten der Pflegepersonen paart, die Grundlage ergibt für alle spätere Selbst-
mordneigung. Wer eine wirklich glückliche Kindheit hinter sich hat, das heißt
- > -
eine solche mit sehr viel Liebe, wenig Verboten und geringstem Schuldgefühl, den
werden auch schwere Unglücksfälle und ärgstes Leiden kaum je zu einem Frei-
tod führen. Er wird gar nie daran verzweifeln, noch Liebe zu finden, zumindest
bei Gott-Vater im Himmel. Und nochmals muß ich es wiederholen: Es gibt
gar niemand das Leben auf, der nicht vorher die Hoffnung auf Liebe aufgege-
ben hat. Wenn sich, wie jetzt z. B. in Wien, Beratungsstellen für Lebensmüde ge-
bildethaben, sind diese in jedem Sinn nur zu begrüßen. Nicht was da dem Selbst-
mordkandidaten gesagt wird, ist das Entscheidende, auch nicht die materielle
Hilfe, wohl aber, daß dieser die Empfindung bekommt, er erhält wieder Liebe, es sei
ein unbekannter Vater da, der bereitist, zu helfen und für ihn zu sorgen. Dies allein
genügt oft, damit dann jener seine Selbstmordabsicht fallen lasse — wenigstens
vorläufig. Nur täusche man sich nicht über die Dauer des Erfolges. Ohne Psycho-
analyse und zwar vollständige, bis in die Urzeit zurückgeführte, wird man den
Unglücklichen nicht für immer von seiner Neigung kurieren können.
Bei Erwachsenen werden von Selbstmordgründen am häufigsten genannt:
materielle Not, unglückliche Liebe und völlig unlösbare Konflikte, aus denen
kein anderer Ausweg zu finden, als in einem Freitod. Doch all diese Fälle führen
letzten Endes bis in die Säuglingszeit zurück, von der sie die Verstärkung, die
Resonanz, die mitschwingenden Obertöne erhalten, welche oft die gegenwärtigen
Leiden für das Empfinden unerträglich machen. Und von jenen Urschädlich-
keiten muß sie der Seelenkundige befreien durch eine voll durchgeführte Psycho-
analyse.
UNIWEITE
/ur Kenntnis kindlicher Selbstmordimpulse
(Sublimierung in statu nascendi)
Von Josef K. Friedjung, Wien
I
In meiner Sprechstunde erscheint eine mir wohlbekannte sehr intelligente und
an erzieherischen Fragen stark interessierte junge Frau allein, Sie ist seit 3 Jahren
verwitwet; der Gatte, ein Intellektueller von starkem Familiensinn, war einem
seltenen Leiden rasch erlegen. Auf die zwei Kinder, die damals z'/,jährige Lilly
und den 4'/, jährigen Peter hatte das Verschwinden des sehr geliebten Vaters einen
überaus tiefen Eindruck gemacht, er wurde lange schwer vermißt.
Der Anlaß zum Kommen der Frau waren Selbstmordimpulse des nun 8',jährigen
Töchterchens. Die unmittelbare Vorgeschichte ist folgende: Das Kind hat sieben
Oheime. Mancher von ihnen hat sich freundlich genähert, ohne bei dem, wie
wir später sehen werden, sehr nachdenklichen Mädchen viel Gegenliebe zu finden,
Nur Onkel Leopold, der dem verstorbenen Vater insbesonders auch in der Sprache
sehr ähnelt, weiß des Kindes Liebe besonders zu erwerben. Bei des Vaters Tode
war er verlobt. Nach ı'!J,Jahren heiratet er. Des Kindes Eifersucht macht sich
kaum bemerkbar. Als die Tante sichtlich in der Hoffnung ist, fragt die Kleine
die Mutter nach einer Erklärung, die nur unvollständig erfolgt. In dieser Zeit
=
packt Lilly den geliebten Oheim öfters am Arm mit den Worten: „Ich breche
dir den Arm aus“.
Vor einer Woche macht sie mit der Mutter den ersten Besuch beim Neu-
geborenen. Sie steht zunächst wortlos an seinem Bettchen und bricht nervös die Hän-
de. Dann geht sie auf den Oheim zu, sagt nur mit scharfer Betonung: „Dein
Kind!“ und verlangt nach Hause. — Seither will sie von Oheim L. nichts mehr
wissen, willihn nicht mehr besuchen. Sie äußert: „Es tut mir heute noch leid,
daß ich ihn so oft umarmt habe“, oder: „Hätte ich ihn nicht so ausgezeichnet!“
Wenn die Mutter sie auffordert, zu Onkel L. zu gehen. sagt sie: „Ich brauche
ihn nicht. Eigentlich ist er nicht mein liebster Onkel.“ — In den letzten
Tagen äußert sie öfter Selbstmordabsichten. „Ich weiß, ich werde es nicht machen,
aber ich fühle, ich werde es machen müssen“. Sie fragst den jüngeren, sehr klu-
gen Bruder, ob „man es mit dem Messer macht“. Der Junge meint: „Nein, da
stürzt man sich aus dem Fenster.“ Da wird der Mutter bange, und sie sucht mich
aul..\
Es soll später noch über meine Ratschläge, die Heilung der Störung und die
gelungene Sublimierung der unglücklichen Liebe erzählt werden. Der Bericht
der Mutter ist so durchsichtig, daß er keiner Erläuterung bedarf. Ich möchte nur
auf die überaus eindrucksvolle schlichte Kennzeichnung des Konfliktes zwischen
Ich und Es hinweisen, der dem Kindermund im Gespräche mit der Mutter über
seine Selbstmordabsichten gelingt: „Ich weiß, ich werde es nicht machen, aber
ich fühle, ich werde es machen müssen.“ Vorerst aber einige Mitteilungen aus
der Vorzeit zur klareren Beleuchtung des Tatbestandes: Schon im Februar 1925
sagte das damals 4'/), jährige Mädchen zum kleineren Bruder: „Du kannst kein
Baby haben. Was wirst Du mit ihm machen, wenn es trinken will? Du hast
ja keine Milch in Deinem Herzen.“ — Er: „Du hast auch keine.“ — Sie: „Wenn
ich aber groß} sein werde, werde ich haben. Wirst Du mir das Kind zum Trinken
geben?“ — Etwa um dieselbe Zeit sagte sie: „Ich werde nur einen Herrn, keine
Dame heiraten.“
Im März 1926, also 5", Jahre alt, erzählt Lilly der Mutter noch vor des
Vaters Tod folgenden Traum: „Wir sind gegangen, auf einer Wiese, ich und Du,
Papa und Bubi, und wir haben die B. getroffen. Dann haben wir gesehen eine
große Schlange, wir haben sie angerührt, und sie hat nichts gemacht. Dann ist
gekommen ein großer Eisbär, der hat gehabt sechs oder acht Punkte (Mammillen)
auf dem Bauch, von jedem Punkt ist herausgekommen ein kleiner Bär, und diese
Eisbären haben auch gehabt Punkten, und von diesen Punkte sind wieder Eis-
bären gekommen, dann war die ganze Wiese voll mit Eisbären.“
Aber im November 1926 sagte Lilly doch einmal (schon nach Vaters Tod):
„Ich möchte viel lieber ein Bub als ein Mädel sein“.
April 1927, ein Jahr nach dem Verluste des Vaters, ein Traum: „Mein Papa
ist gekommen. Er ist gegangen auf zwei Stöcken. Ich habe ihn gefragt: ‚Papa,
bist du noch krank?‘ Er sagte: ‚Ein bisserl‘ (ein wenig).“ Im Dezember 1927
äußerte Lilly: „Mama weißt du, in der Nacht muß ich immer an Gewalt denken.
7. B. ich stelle mir vor, daß ich krank bin, der Doktor kommt, ich lasse mich
nicht untersuchen, und 'er tut es mit Gewalt. Das macht mir Freude,“ In dieser
Zeit bat sie oft, man solle ihr eine Geschichte erzählen, in der „Gewalt“ vor-
kommt.
Im Januar 1929, kurz vor der Geburt des ominösen Kindes, plaudert die Kleine:
A —
„Mama, ich muß dir etwas erzählen. Ich habe den Onkel Leopold immer lieber,
Und wenn ich einmal einem anderen Onkel sage, wenn er mich fragt, wen ich
lieber habe, ‚Alle gleich!‘, dann ist das nicht wahr. Den Onkel L. habe ich
am liebsten. Weißt du warum? — Er nimmt alles ernst, was ich sage. Wenn ich
ihm sage: ‚Ich werde dir den Arm brechen‘, so sagt er: ‚Willst du, daß ich
Schmerzen habe?‘ Und das habe ich so gern, wenn er so redet, und er tut mir
leid; aber ich muß es immer wieder sagen, weil es mich freut. Wenn ich einem
anderen Onkel sage: ‚Ich reiße dir die Haare aus‘, dann sagt er: ‚Da werde
ich eine Glatze haben‘ und lacht. Aber Onkel L. würde das auch ernst nehmen,
und ich glaube, wenn Onkel L. im Spaß etwas versprechen sollte, würde er auch
Wort halten. — Ich habe Onkel L. gefragt, wen er lieber habe, die Tante M.
(seine Frau) oder seinen Vater. Er sagte: ‚Die 'Tante!, Denke dir Mama, wie
gern er sie hat!“
Wir sehen, wie die kleine Tragödie sich anspinnt. Das Kind mag manches
Liebe zum geliebten Onkel auch gesagt, bei den Umarmungen wohl auch gedacht
haben, er hat alles „ernst genommen“, wie Lilly ja auch. Da kommt mit der
Geburt des Kindes ein jähes Erwachen und die schmerzliche Enttäuschung: „Er
hat doch nur Tante M. lieb!“ Bemerkenswert ist die Klarheit, mit der auch in
diesem Falle, wie so oft, die Rolle des Mannes an dem Entstehen des Kindes
durchschaut wird. Nach einigen Tagen der Verstimmung, dem offenbar vergeb-
lichen Versuch, das Liebesobjekt zu entwerten, reift der Selbstmordimpuls im
kleinen Mädchen. Ich kannte es seit vielen Jahren: ein gesundes, kräftiges,
hübsches und in jeder Hinsicht normales Kind. Es wurde mir nicht schwer, der
klugen Mutter, einer regelmäßigen Leserin dieser Zeitschrift, die auf der Hand
liegenden Wurzeln des Verhaltens der Kleinen zu deuten. Ich empfahl ihr nebst
einigen allgemeinen Ratschlägen der erhöhten Aufmerksamkeit und liebevollen
Teilnahme für den Kummer des Kindes, eine möglichst hübsche Säuglingspuppe
zu kaufen, die ihr am liebsten Onkel L., wenn dies aber nicht angehe, die Mutter
übergeben solle mit der Bemerkung, wie Tante M. solle auch sie ein Kind haben.
Sollte dies keinen Eindruck machen, dann wollte ich Lilly sehen. Nach zwei
Tagen konnte mir die Mutter berichten, das Kind habe die Puppe mit Freude
und Rührung entgegengenommen, sei seither zufrieden und hänge nicht mehr
trüben Gedanken nach. Einen Monat später lieferte sie in der Schule folgenden
freien Aufsatz ab:
„Es war einmal ein armes Mädchen, mutterseelenallein. Das wünschte sich
von seinem einzigen Onkel ein Kleid, weil alle seine zerrissen waren. Der Onkel
war aber selber arm, und als Ostern kamen, kaufte der Onkel mit seinem er-
sparten Geld wirklich dem Mädchen das Kleid. Das Mädchen freute sich herz-
lich und dankte dem Onkel mit vielen Küssen. Der Onkel nahm dann das Mädchen
zu sich, und sie lebten bis an das Ende,“
ll
Der 7-jährige Franz, Sohn eines alternden, trockenen strengen Vaters und
einer sentimentalen, überzärtlichen Mutter war bis vor kurzem das einzige Kind
mit manchen seiner geläufigen Züge. Gut entwickelt. Die Mutter, neuerdings in
der Hoffnung, hat auf meinen Rat den Knaben auf die Geburt des kommenden
Kindes mit ziemlicher Offenheit vorbereitet. — Nach der Geburt verrät Franz
— 48 —
große Eifersucht, insbesondere wenn das Schwesterchen von der Mutter gestillt
wird. Einmal sagt er: „Du hast mich jetzt nicht mehr lieb, nur die se. Wenn
du mich nicht mehr liebst hast, springe ich vom Fenster hin-
unter.“ Vor der Geburt hatte er sich auf das Geschwister gefreut; jetzt sagt
er einmal: „Ich habe mir nicht gedacht, daß es so schwer sein wird, wenn
noch ein Kind kommt.“ — Er fand sich ziemlich bald mit seiner neuen Lage ah.
II
Eine junge Frau — vor 7 Jahren auf tragische Weise Witwe geworden —
bringt mir ihr einziges Söhnchen, den 9-jähr. Karl. Seit einigen Wochen blin-
zelt er und macht in der letzten Zeit auffällige grüblerische „weltschmerzliche*
Äußerungen. Der körperlich gut entwickelte Junge sieht etwas blaß3 aus, ist nicht
so munter, wie ich ihn sonst kenne. Da er mit mir allein bleibt, sagt er auf
meine Frage, ob er mir etwas erzählen möchte: „Wozu ist der Mensch auf der
Welt? Alle Menschen sollen sich erstechen, und die Welt soll man verbrennen.
Dann ist alles aus.“ |
Zum Verständnis dieser sonderbaren Stimmungslage läßt sich folgendes er-
mitteln: Die Mutter, sehr hübsch und liebenswürdig, benimmt sich als Erzieherin
sehr beherrscht und verständig. Dennoch ist er manchmal schwer zu behandeln.
Ein Freund des verstorbenen Vaters kommt oft ins Haus und kümmert sich viel
um den Knaben, was dieser mit großer Zuneigung vergilt. (Der Herr ist ver-
heiratet). Vor einem Jahre war der 8-jährige Junge in ein schönes Kinder-
fräulein sehr verliebt. Wenn sie kam, stürzte er sich auf sie und umarmte sie
stürmisch. Er sollte bei ihr lernen, aber dies gelang nicht, weil er sie immer
nur bewunderte und küßte. Man mußte sie entlassen. In der letzten Zeit will
er jeden Augenblick ein anderes Mädchen „heiraten“, bald kleinere, bald auch
bedeutend ältere. Seine Beziehung zu dem „väterlichen“ Freund ist, wie ich von
ihm selbst höre, merklich abgekühlt: „Ich habe ihn früher viel lieber gehabt.“
Der sexuell aufgeklärte Knabe scheint irgend wie erfahren zu haben, daß das Kom-
men dieses Herrn weit mehr der Mutter gilt als ihm. Der selbst sexuell aggres-
sive Junge dürfte scharfsinnig die Wahrheit erraten haben und dadurch an all’
dem, was bis dahin für ihn feststand, irre geworden zu sein. — Ich widerriet
der Absicht, ihn aus dem Hause zu geben, empfahl der Mutter vielmehr, un-
beirrt gütig und freundlich zu sein und es auch dem Freunde zu empfehlen. —
Die Krise wurde rasch überwunden, Karl hat sein Blinzeln verloren und sich
weiterhin sehr erfreulich entwickelt.
ke
Allen drei Beobachtungen ist gemeinsam, daß ein Kind an seinem Liebes-
objekt irre wird, den Verlust der bisherigen Bindung schwer erträgt und zu
Selbstmordimpulsen gelangt. Im dritten Falle dürfte der Knabe auch den Zu-
sammenbruch einer als unverrückbar angesehenen Ordnung unter den Menschen
erlebt haben. Vielleicht rührt daher die Phantasie von der Vernichtung der ganzen
Welt durch die eigene Hand? Im ersten Falle ist die sadistische Triebkomponente
sehr aufdringlich; es wäre interessant, darauf zu achten, ob dies nicht eine ob-
ligate Voraussetzung von Selbstmordimpulsen ist, Meine Erfahrungen machen mir
das wahrscheinlich.
NN
Zeitschrift f. psa. Päd., III/ıı/ı2/13 — 420 ie 26
Der Selbstmord von Miß X.
Von Dr. A. S. Lorand, New York
Im folgenden lege ich eine Reihe von Briefen vor, die Miß X. geschrieben
hat. Zwei dieser Briefe und zwei Notizen wurden in der dem, Augenblick voran-
gehenden Stunde geschrieben, in dem sie den Gashahn aufdrehte und damit
ihrem konfliktreichen Leben ein Ende machte. Ich füge auch einen kurzen Abriß
ihrer Lebensgeschichte bei, wie er mir von Dr. S5., an den die Briefe gerichtet
sind, übermittelt wurde. Ein Teil des Materials stammt von persönlichen
Zusammenkünften, die ich mit Miß X. in ihrer Eigenschaft als psychiatrische
Fürsorgerin hatte.
Sie wurde ı892 in einer Stadt des mittleren Westens geboren, Ihre Eltern
waren Deutsch-Amerikaner. Sie war das älteste Kind der Familie und der
Liebling ihres Vaters. Die Mutter schien sie um diese Bevorzugung zu beneiden.
Miß X. selbst bevorzugte ihren Bruder, der einige Jahre jünger als sie selbst
war. Schon in Miß X.’s früher Kindheit ergriff sie jede Gelegenheit, ihre Mutter
zu sekkieren und zu ärgern. Sie beschmutzte absichtlich ihre Kleider, raufte mit
dem jüngeren Bruder und verweigerte der Mutter den Gehorsam. Sie respektierte
nur des Vaters Wünsche.
In der Schule war sie eine hervorragend gute Schülerin. Sie genoß da aber
noch besondere Vorteile: ihr Vater war ein Mitglied der Schulbehörde. Nach-
dem sie die Elementar- und höhere Schule mit guten Noten absolviert hatte,
trat sie in ein Hospital ein und bildete sich zur Krankenpflegerin aus. Sie bestand
ihre Prüfung mit 2ı Jahren. Während dieser Zeit lernte sie Dr. C. H. kennen,
an den sie sich innig anschloß. Sie trafen sich heimlich, weil dieses Verhältnis
wohl vom Vater gerne gesehen wurde, nicht aber von der Mutter. Als Dr. C.H.
sie eines Abends spät nach Hause brachte, machte die Mutter eine solche Szene,
daß Miß X. sofort ihre Sachen packte und das Haus verliel3 in der festen Absicht,
es nie wieder zu betreten. Sie arbeitete von da an als Pflegerin in Dr. C’s
Ordination. Diesen Posten hatte sie 2 Jahre lang inne. In dieser Zeit begannen
die sexuellen Beziehungen zwischen beiden. Sie rechtfertiste das mit der
Erklärung, daß sie hoffte, ihn vor sich selbst zu retten, indem sie sich ihm hin-
gab, weil sie entdeckt hatte, daß er in allerhand Liebeleien mit seinen Patientinnen
verstrickt war. Geduldig wartete sie, bis sich Gelegenheit bot, Teile ihres Körpers
vor ihm zu entblößen. Nach zwei Jahren des Zusammenlebens entdeckte sie,
daß er mit mehreren seiner Patientinnen trotz seines Verhältnisses mit ihr
sexuelle Beziehungen unterhielt. Sie verließ ihn in der Absicht, nie mehr zu
ihm zurück zu kommen.
Mittlerweile starb ihr Vater unter Umständen, die zu einem neuerlichen Bruch
mit der Mutter führten. Die Beziehungen zwischen Mil} X. und ihrem Vater
waren ja immer sehr innig gewesen. Er hatte sich eines Tages mit seiner
Tochter verabredet. Um nicht zu spät zu kommen, eilte der Vater, der Ingenieur
war, sehr und stieg unaufmerksam von dem hohen Platz, an dem er arbeitete,
herunter, Dabei fiel er und verletzte sich tödlich. Die Mutter gab MiBX. die
Schuld an seinem Tode. Sie sagte, wenn er sich nicht so beeilt hätte, um sie
zu treffen, wäre er nicht verunglückt. Miß X, verfiel in eine Depression und
ging nach dem Süden, um sich zu erholen. Hier machte sie eine Freundin mit
— 430 —
P. bekannt und versuchte auch, sie zu einer Heirat mit ihm zu überreden.
Schließlich willigte sie ein. Gleich nach der 'Trauung gestand ihr der Mann, daß
er Syphilis habe. Es kam zu keinen ehelichen Beziehungen und es gelang ihr,
die Ehe annullieren zu lassen.
Sie ging nun auf die Universität, um Medizin zu studieren. Sie wollte sich
in allen Zweigen der Normalpsychologie und Psychopathologie ausbilden. Beim
Professor der Neurologie und Psychiatrie war sie sehr beliebt. Sie wurde seine
Assistentin und erhielt sogar für eine Weile einen Lehrposten.
Materielle Schwierigkeiten hinderten sie, das medizinische Studium abzu-
schließen. Mit 29 Jahren wurde sie als Psychologin bei der Polizei angestellt.
Ein halbes Jahr später verließ sie diesen Posten und kehrte zu Dr. C. H. zurück
als Ordinationsschwester, nachdem er versprochen hatte, sich jetzt anders zu
benehmen. Aber nach zwei weiteren Jahren entdeckte sie abermals, daß er zu
Patientinnen Beziehungen unterhielt, und sie verließ ihn neuerlich. Nun kam
sie nach New York (1925). Hier erhielt sie eine Anstellung als weibliche Polizistin
und Psychologin. Aber schon nach sechs Monaten kehrte sie wieder zur Kranken-
pflege zurück.
Bei dieser Arbeit lernte sie Dr. 5. kennen, und es gelang ihr nach einer
Weile wieder, das Verhältnis in ein sexuelles zu verwandeln, auf ähnliche Weise,
wie sie das bei Dr. C. H. fertiggebracht hatte. Diese Beziehung dauerte drei
Jahre. Während dieser Zeit war sie immer leidend. Sie mußte sich einer Gallen-
blasen-Operation unterziehen. Vorher war sie schon an Mastoiditis operiert
worden, ferner an Blinddarm, dann wurde eine probeweise Laparotomie gemacht
(nach einem plötzlichen Kollaps im Krankenhaus, für den keine bestimmte Ursache
entdeckt werden konnte). Früher hatte sie schon eine Operation wegen einer
Ruptur bei einer extrauterinen Schwangerschaft durchgemacht. Sie hatte vorher
schon mehrmals abortiert.
Ihr ständiges Kranksein während ihres Verhältnisses mit Dr. 5. machte sie
sehr abhängig von ihm, und er erhielt sie auch tatsächlich. Während des zweiten
Jahres ihrer Bekanntschaft verschwand ab und zu Morphium aus seinem Injektions-
kästchen. Er erwähnte es Miß X. gegenüber, die ihm versicherte, daß sie keines
gebraucht habe. Aber ihre ausgesprochene Neigung, Morphium zu nehmen, um
ihre Schmerzen zu mildern, überzeugte ihn davon, dal} sie das Mittel doch
gebrauchte. Während einer ihrer gesunden Zwischenzeiten arbeitete sie acht
Monate lang an einer der Kliniken für Geisteskrankheiten in New York, wo ich
selbst mit ihrer Tätigkeit bekannt wurde, die in jeder Hinsicht hervorragend war.
Weitere acht Monate arbeitete sie an einer Child-Guidance Klinik.
Diesen Posten mußte ‚sie wegen Krankheit aufgeben. Sie wurde körperlich
schwächer und seelisch immer niedergedrückter. Während der letzten Zeit ihres
Lebens beschuldigte sie Dr. S., daß er sie nicht liebe (Dr. $. hatte nie von Liebe
mit ihr gesprochen!). Nach einer Auseinandersetzung sagte sie ihm, sie gehe jetzt
aufs Land, um sich zu erholen. Statt dessen ließ sie ihm den Brief zurück, der
vom ı5. Februar datiert ist, und einen Zettel mit der Mitteilung, daß sie beab-
sichtige, Selbstmord zu begehen. Zwei Tage vorher hatte sie den beigefügten
Brief an Dr. C.H. geschrieben. In der Nacht des ı5. Februar 1929 wurde Dr. S.
dringend in ihr Hotelzimmer gerufen, wo er sie in halbbewußtlosem Zustand
infolge einer zu großen Morphiumdosis antraf. Zwei Tage später machte sie
abermals einen Selbstmordversuch, indem sie eine große Menge Äther trank und
— 491 — 6
einatmete und zwar in Dr. S.’s Sprechzimmer, zu dem sie den Schlüssel hatte,
Nachdem sie sich davon erholt hatte, empfand sie große Reue und versprach,
nie wieder so etwas zu versuchen. Sie begann Dr. 5. regelrecht auszuspionieren,
Sie sagte ihm ununterbrochen, wo er gewesen sei und mit wem, sie bedrohte
und warnte seine Freundinnen, daß sie ein Liebesverhältnis störten und
behauptete, daß Dr. S. der Vater ihres Kindes wäre (Sie hatte versucht, Dr. S.
einzureden, daß sie schwanger wäre. Er entdeckte aber später, daß es nicht
stimmte).
Während dieser Tage suchte sie einen Psychoanalytiker auf und den Bruder
von Dr. $., vermutlich, um beide zu bitten, Dr. S. zu helfen, der in Not sei.
Der Analytiker gab ihr einige Ratschläge, die ihre Stimmung sehr verbesserten
(nach der Angabe von Dr. 5., der sie am 'Tage vor ihrem Selbstmord sah).
Später am Abend besuchte sie Freunde, ohne die geringste Andeutung ihres
Vorhabens zu machen. Dann ging sie in Dr, S’s Sprechzimmer (sie hatte ihm
seine Schlüssel zurückgegeben, hatte sich aber ohne sein Wissen Nachschlüssel
machen lassen). In den Morgenstunden beging sie Selbstmord,
Es folgen nun ihre Briefe in chronologischer Anordnung:
AnCH. 13. 2. 29. (Mittwoch Abend)
Mein Liebster, jeden Tag habe ich nach einem Brief von Dir ausgeschaut — ver-
gebens. Nun gut, es wird Zeit, daß ich die Tatsachen begreife und mich mit ihnen
abfinden lerne, und welche Mächte immer es sein mögen, ich bin ihnen dankbar, daß
Du es fertig bringst, die wichtigsten Dinge zuerst zu erledigen und nicht nachts auf-
zubleiben und Briefe zu schreiben, wenn Du schlafen solltest, Wenn ich darüber nach-
denke, freue ich mich, daß die Dinge so sind, wie sie sind, und ich bin dankbar und
glücklich.
Ich habe während dieser letzten zehn Tage ein großes Problem durchdenken müssen,
Es war schwer, es zu Ende zu denken, zu einem Entschluß zu kommen und soviel
Mut aufzutreiben, um meiner Überzeugung zu folgen, aber ich habe gesiegt, obgleich
es ein harter Kampf war. |
Ich deutete in meinem letzten Brief an, daß S. augenblicklich in seiner Analyse
eine schwere Zeit durchmacht. Am Samstag kam es zu einer Krisis, und als ich allen
Tatsachen gerade ins Gesicht sah, kam ich zu der Erkenntnis, daß ich für ihn nur
eine Last bin, die ihn beschwert, und daß ich ihm gar keine Hilfe bin. Er hat alle
Hände voll zu tun, um seine eigenen Kämpfe auszufechten, und ich liebe ihn zu sehr
und schätze ihn zu hoch, als daß ich ihm im Wege stehen möchte. So gehe ich lieber
fort. Ich habe nicht das Gefühl, wie wenn es Feigheit wäre, es wäre feig, wenn ich
nur im geringsten Widerstand leisten und dableiben würde. Das würde mich keinen
Kampf kosten; das Fortgehen erfordert Mut, aber Gott sei Dank, ich habe diesen Mut.
Ich bin fast dıe ganze Zeit, seit ich ihn kenne, krank gewesen, und er war so geduldig
und gütig zu mir, genau so wie Du es einst warst, und ich liebe und schätze Euch beide,
So, Geliebter, mag es lange dauern, bis wir uns wieder treffen. Vergiß nie, daß
ich bei Dir das Glück kennen gelernt habe; in geringem Maße habe ich etwas davon
weitergeben können. Auf Wiedersehn!
*
An S. Freitag, den ı5. Februar 1929 (1 Uhr Mittags).
S..., lieber: ich habe heute viel zu tun gehabt, aber endlich bin ich fast fertig,
um meine Reise anzutreten, und ich brenne jetzt geradezu darauf, fortzukommen,
Ich hätte Dir gern heute Abend Lebewohl gesagt, aber da ich keine Auseinander-
setzung wünschte, wagte ich es nicht.
Gott, mir scheint, wenn ich nur ein einziges Mal hätte hören dürfen, daß Du
mich nur ein wenig liebtest, würde es mir nur halb so schwer sein, aber wenn ich
— 432 —
en
mir vorstelle, daß ich es in diesen ganzen drei Jahren trotz meiner sehr ernstlichen
Versuche nicht fertig gebracht habe, Dich ein wenig glücklich zu machen — das
finde ich hart.
Es ist wahr, ich habe Dir nicht viel zu geben gehabt, aber ich gab Dir alles,
Lieber — einen reinen Körper und mein Herz. Ich habe versucht, die vielen gleich-
förmigen Abende fröhlich und glücklich zu sein, geduldig zu sein und Dir keine Ver-
anlassung zu geben, zu glauben, daß ich wie andere Frauen mit Dir ein Spiel treibe,
denn ich wußte, wir hatten nicht Geld genug für ein Spiel. Ich habe versucht,
fröhlich zu sein an den vielen einsamen Abenden, an denen Du es Dir leisten konntest,
in Oper und Theater zu gehen, während ich allein zuhause saß. Ja, ich habe viele
Opfer gebracht, aber wofür? Um zu hören, daß ich Dich herabgezogen hätte, aber
doch wohl nicht mehr als Du mich. Ja, Lieber, jetzt sehe ich, wie Du mich geschätzt
hast und was Du Dir aus mir gemacht hast, und das allein ist es, was es mir ermöglicht,
Schluß zu machen. Ich war nur eine Bequemlichkeit, ein Ausweg für Deine körperlichen
Bedürfnisse. Ich habe einen Abortus nach dem anderen ausgehalten und war so dumm,
das alles nicht früher zu erkennen. Welcher andere Mann hätte so handeln können?
Aber weil ich Dich aufrichtig liebte, wollte ich nicht sehen — das ist meine
Belohnung.
A: hat sehr recht: Du bist vollkommen narzißtisch, und ich fürchte, du wirst es
immer sein. Ich wollte, es gäbe eine Erlösung für Dich, aber ich bezweifle es. Ich
wünschte, Lieber, Du würdest hart darum kämpfen, Du machst Dir nicht klar,
wieviel vom Leben Dir verloren geht.
Es tut mir leid, daß ich Dich verlassen muß, wo noch so viel für Dich zu tun
bleibt, aber ich konnte einfach keinen anderen Ausweg finden ich habe nicht die
Kraft dazu. Ich habe versucht, alles so zu machen, daß es ganz natürlich aussieht,
und wenn Du Deinen Kopf anstrengst, müssen gar keine Schwierigkeiten entstehen.
Jeder weiß, daß ich lange krank war, und ein plötzliches Ende wird glaubwürdig sein.
Noch ein Wort über meine Sachen. Sende bitte das Paket Sachen an C. Um den
Rest kümmere ich mich nicht. Gib V. alle meine Kleider, Schuhe etc.. sie werden
ihr passen, und gib M. alles, was sie von meinen Schätzen haben möchte. Es ist nicht
nötig, irgendetwas nachhause an Mutter zu schicken, ich habe nichts, was sie brauchen
könnte, und ich möchte lieber, daß sie keinen Grund hat, sich zu grämen. Meine
sterbliche Hülle — nun, das ist einerlei: Ich habe immer meiner Familie gesagt, daß
man meine Leiche einer medizinischen Schule geben soll, und ich habe noch dieselbe
Ansicht darüber. Aber wenn Du merkst, daß meine Mutter auf irgendeinem anderen
Plan besteht, so ist es mir einerlei.
Zu Deiner Hilfe laß bitte M. $. Dir beistehen, bei der Ordnung von allen Dingen
wie Papieren, Briefen etc. in meinen Mappen. Bitte, sorge dafür, daß alles so
vernichtet wird, wie Du es findest. Ich danke Dir.
Und bitte, Lieber, versprich mir jetzt etwas: Bevor Du eine andere Verbindung
anknüpfst, überlege es gut! Denke daran, daß Du viel über Dich selbst gelernt
hast und Du kennst jetzt Deine Grenzen und brauchst nicht nutzlos ein Mädchen ins
Unglück zu bringen. In das alles bist Du blind hineingetappt, aber ein anderes Mal
wirst Du keine Entschuldigung haben.
Ich liebe Dich, ich habe Dich trotz dem allem geliebt. Du bist gut und zart mit
mir gewesen in all den kleinen Dingen, die so viel bedeuteten. Du bist so geduldig
zu mir gewesen während der ganzen Zeit, wo ich krank war, ich erkenne das an,
Du Liebster!
Du wirst auch eines Tages, wenn nicht gleich jetzt, einsehen, daß ich Dir alle
diese Dinge sagen mußte. Es geschieht nicht aus Mitleid mit mir selbst oder aus
dem Wunsch nach Mitgefühl, denn wenn Du dieses liest, werde ich zu weit fort sein,
um Dich noch hören zu können. Es geschieht nur, weil Du das alles wissen mußt —
1) A war der Analytiker, zu dem Dr. S. ging, ehe er zu mir in die Analyse kam.
— 433. —
Du mußt aufwachen, mein lieber Junge, wenn Du der tüchtige und glückliche
Mensch werden willst, wie ich es für Dich wünsche. E
Und nun für diesmal, liebes, geliebtes Herz, lebewohl!
Bitte telegraphiere Dr. C. H.
Dienstag, 13° Uhr mittags,
Mein Liebling!
Verurteile mich nicht zu hart, ich konnte das Spiel nicht ohne Dich spielen; aber:
ich wünsche auch nicht, daß Du es mit mir spielst, da Dir nichts mehr daran liegt.
Wie ich Dir heute Abend sagte: ich bin für niemanden nötig — also lege ich keinen
Wert darauf, hier zu bleiben. Ich lasse mein Scheckbuch hier — ich habe bloß noch
wenig Kleingeld, und wenn der Scheck über 5 Dollars, der ans Hotel zurückging,
wieder präsentiert wird, werden bloß 35 Cents übrig bleiben. Es ist noch die Telephon-
rechnung von der vorigen Woche zu bezahlen und die Zimmermiete seit Monta !
Es tut mir leid, daß ich es nicht bezahlen kann. Setze Dich mit M. in Verbindung,
und sie wird meine Familie benachrichtigen. Ich habe ihr nur gesagt, daß Du und
ich fertig miteinander wären, da Du Dich in jemand anderen verliebt hättest. Bitt e,
sage ihr nichts von all dem Gemeinen um meiner Mutter und der Familie willen.
Bitte, laß M. Dir helfen, meine Sachen zu ordnen. Gib V. alle meine Kleider,
Schuhe etc. und das Paket mit den Sachen und alles andere, was hier ist und was
Du sicher nicht haben willst, sende an H. Ich möchte, daß Du die Schreibmaschine
behältst und überhaupt alles, was Du haben möchtest.
Meine Uhr ist beim Juwelier, wo Du sie kauftest. Die Reparatur sollte jetzt fertig
sein und soll 4 Dollars kosten. Willst Du sie bitte holen und als ein liebes Andenken
an mich behalten, wenn Du kannst? Ich liebte sie immer, weil Du sie mir gabest.
Du sollst dieses Blatt niemandem zeigen, Ich lege es ın Deine Schreibtischschub-
lade, die ich glücklicherweise offen finde. Ich werde ein anderes Blatt außen liegen
lassen, das alle Vorwürfe von Dir ablenkt. Ich wünsche nicht, daß irgendjemand
Dich tadelt, weil ich es auch nicht tue. Ich bin sehr traurig um Dich, Liebling, und
habe, wie ich Dir heute sagte, ein viel weicheres Gefühl seit gestern Abend. Ich nehme
an, daß Du wahnsinnig erregt warst und eigentlich nicht die Absicht hattest, mir so
weh zu tun. Wenn Du nur gewußt hättest, wie sehr ich Dich liebte, wärest Du
zärtlicher gewesen.
Ich bin traurig, daß ich dieses hier tun muß, aber ich weiß keinen anderen Weg,
da ich kein Geld habe. Es wird zuerst hart für Dich sein, aber es wird bald vorüber
und vergessen sein, ja, allzubald, denn die Welt ist zu geschäftig, um irgendetwas
sehr lange festzuhalten (ausgenommen wenn es sich um einen Mann handelt).
Lebewohl, Lieber, Du bist so gut und lieb zu mir gewesen all diese drei Jahre,
bis auf die letzten zwei Monate. Du hast mich glücklich gemacht trotz meines
jämmerlichen Gesundheitszustandes und ich habe Dir nichts vorzuwerfen. Ich bin
immer aufrichtig gewesen zu Dir, mein Lieber, und selbst wenn ich versagte — ich
habe mich doch immer bemüht, Dir zu helfen und Dich glücklich zu machen.
Bitte spiele doch in Zukunft ein gerades und ehrliches Spiel mit der Frau, die
Dich liebt. Dir ganz ergeben
Später. —
Liebster, was mich betrifft, so möchte ich am liebsten, daß meine Leiche einer
medizinischen Schule überlassen wird. Das habe ich, wie Du weißt, schon immer
gesagt. Ich hoffe, meine Mutter wird nicht so töricht sein, darauf zu bestehen, daß
sie nach dem Westen geschickt wird, um neben meinem Vater beerdigt zu werden,
Die Ausgabe dafür ist sinnlos uud außerdem würde all das damit verbundene Auf-
heben für sie und für die Familie alles viel schwerer machen. So tue doch bitte alles,
um sie zu überreden, meine Wünsche zu respektieren. ©. H. weiß, wie ich fühle. Ich
habe oft über meine Ansichten gesprochen, und vielleicht hat er etwas Einfluß auf sie.
4
Nebenbei, habe ich nicht mehr an C. H. geschrieben oder von ihm gehört, seit ich
den Brief beantwortete, den ich Dir vorlas, ich glaube vor mindestens sechs Wochen.
So wird er auch nichts erfahren, was ihn verletzen könnte. Laß Dich nicht durch
irgendein Schuldgefühl hinreißen, ihnen irgendetwas zu sagen, bitte, respektiere
meine Wünsche! Er war immer sehr gut und liebevoll und geduldig mit mir, bitte
hilf mir, sie alle, soweit es geht, zu schonen.
K. liebt Dich immer noch innig. Sprich mit ihr, denn sie wird Dich trösten. Sage
ihr von mir, daß ich sie sehr bewundere, und daß ich für ihre Güte zu mir sehr
dankbar bin. Wenn es nicht um ihretwillen gewesen wäre, hätte ich es sicher nie
verstanden, so wie ich es jetzt tue, und ich hätte Dich mit einem sehr bitteren Gefühl
verlassen. So wie alles jetzt ist, gehe ich nur mit Liebe und Sympathie von Dir.
Wenn ich hätte denken können, daß ich Dir hätte helfen können, oder daß Du mich
brauchtest, dann hätte ich davon Abstand genommen, aber ich bin überzeugt, beides
ist ausgeschlossen.
Dr. R. und Dein Bruder sind die einzigen, die diesen Verlauf nötig machten.
Ich hoffe, Du wirst ihnen das sagen, vielleicht beeinflußt es sie in ihrem Verhalten zu
anderen.
Ich hoffe, Du spricht nicht über Einzelheiten mit F. S., denn sie war wie ein
Engel zu mir, und ich wagte nicht, ihr die ganze Wahrheit zu sagen. Aber sage ihr,
bitte, was für ein Trost sie mir gewesen ist, oder, wenn Du sie nicht, siehst (und viel-
leicht hast Du garnicht den Wunsch), bitte H,, es zu tun. Ich bat H., morgen anzu-
rufen, aber sie wußte nicht, warum. Es tut mir leid, daß ich ihr nie das Geld zurück-
zahlen konnte, das ich von ihr ausborgte, ich bin sicher, sie wird es verstehen.
Glücklicherweise braucht sie es nicht. '
Jetzt ist es 53 Uhr morgens. Ich warte geduldig, damit der Gasgeruch mich nicht
zu früh verrate, denn ich kann jetzt nicht mehr anders.
Mein Lieber, ich liebe Dich so innig, und tut mir so leid um Dich. Ich wollte,
ich könnte Dich aus allem heraus mit mir nehmen, aber ich bin feige und Du wirst
tapfer sein, das weiß ich. Ich wünsche, daß Du glücklich wirst, liebes Herz —
versuche es um meinetwillen.
*
An alle, die es angeht. Donnerstag, den ıı. April 1929.
Bitte, schieben sie die Verantwortung für diese Tat nicht Dr. S. oder sonst irgend-
jemandem zu. Ich kam in des Doktors Abwesenheit hierher und ohne sein Wissen
und Einverständis.
Ich allein bin ganz und gar verantwortlich für diese Tat und es ist mein Wunsch,
daß nichts darüber öffentlich bekannt gemacht wird. Ich bin in elender
körperlicher Verfassung seit meiner Grippe und Lungenentzündung und könnte viel-
leicht eine Last für meine Familie und für meine so unendlich liebenswürdigen Freunde
werden.
Frl. B. (Sekretärin von Dr. 5.) Gez. L. J. M. (Miß X.)
Gehen Sie nicht in die Küche. Telephonieren Sie Dr. $. in seine Wohnung und
bitten Sie ihn, sofort herzukommen. Bitte setzen Sie sich dann ins vordere Zimmer
und warten Sie, bis er kommt. | Ich danke Ihnen!
Schluß
Die Bemerkung in einem der Briefe, daß sie zu schwach sei, Dr. 5. mit-
zunehmen, mag durch die Tatsache erläutert werden, dal} sie ihm einige Wochen
früher den Vorschlag gemacht hatte, sie wollten beide gemeinsam Selbstmord
begehen, da sie beide Leid genug zu tragen hätten,
Was die Bemerkung über Dr. R. (in ihrem letzten Brief) und den Bruder
u
von Dr. S. betrifft, die sie für fihren Selbstmord verantwortlich machen will,
so war sie sehr erbittert gegen sie beide, weil sie ihr nicht behilflich gewesen
waren beim Suchen einer Anstellung, was sie ihr früher versprochen hatten.
Später verweigerten sie es ihr sogar.
Mein persönlicher Eindruck von Miß X. während ihres Aufenthaltes in der
Klinik war der von einer klugen, scharfsinnigen Person. Sie hatte ein gutes
Verständnis für die sozialen Probleme der Patienten, die ihr anvertraut waren.
Aber sie war nicht warmfühlend mit ihnen, sondern wurde leicht ungeduldig,
Das schrieb sie ihrer eigenen körperlichen Schwäche zu. Sie war schriftstellerisch
tätig, hatte aber keine einzige Arbeit unterbringen können. Kurz vor ihrem
Selbstmord hatte sie versucht, etwas zu verkaufen, um zu etwas Geld zu kommen,
aber vergeblich.
Ihre Lebensgeschichte und die Briefe mit ihren unterstrichenen Sätzen sind
gutes Beweismaterial für die innerpsychischen Mechanismen, die für ihren Selbst-
mord verantwortlich gewesen sein können. Ich enthalte mich jedoch der Deutung,
überlasse es lieber dem Leser, seine Schlüsse zu ziehen, und gebe dieses alles
rein als menschliches Dokument.
INNERN
BEOBACHTUNGEN AN KINDERN
ANNALEN
Eine Schülerin denkt an Selbstmord
Von Hans Leuthold, Eglisau-Zürich
Folgenden Traum schrieb mir eine vierzehnjährige, verschlossen aussehende Schülerin
(wir nennen sie Gerda) in der ersten Stunde, da ich ihre Klasse übernahm, auf.
„Etwa vor einer Woche hatte ich einen Traum, der mir gewiß immer vor den Augen bleibt.
‚Ich fuhr mit einem Ruderboot ganz allein auf einem See. Der Himmel war sehr trübe und
der See 'war unruhig. Nicht lange darauf brach ein Gewitter los. Schwarze Wolken überzogen
den Himmel. Der See wurde immer unruhiger und warf große Wellen dem Schiffchen zu. Eine
Angst kam über mich; denn ich konnte mich nicht aus den Wellen retten. In einigen Sekunden
schlug der Blitz ins Wasser ein. Die Wellen schlugen haushoch dem Schiffchen zu. Mit großer
Wucht wurde das Schiffchen umgerissen und ich ertrank“,
‚ Als ich den Traum gelesen hatte, vermutete ich, die Schülerin habe Selbstmord-
absichten. Ich hatte schon manche ähnliche Kinderträume gelesen, aber der Traum
brachte doch noch irgendeine Rettung, oder, wenn er keine Lösung fand, folgte
deutliche Flucht ins Erwachen. Hier aber endet der Traum tragisch.
Als Erzieher fühlte ich mich verpflichtet, der Schülerin, wenn möglich, zu helfen.
Ich .rief sie deshalb in einer Pause zu mir und versuchte, einige Einfälle zum Traum
einzuholen. '
'Zu See kommt ihr in den Sinn: „Ich war einmal in Deutschland. In einem Berg-
dörflein. Dort hatte ich Angst. Vor zwei Jahren war ich in B. (in der Schweiz), da
starben mir beide Pflegeeltern. Da war ich immer allein. Da wurde es mir langweilig.
— 436 —
Als ich dann nach Z. (der Schulort!) kam, hatte ich diesen Traum, Die Mutter
blitzt und donnert.“
Zu umgerissen meldet sie: „Ich hatte Angst, zu sehen, wie es das Schiffchen um-
nahm. Am Anfang war ich nicht recht gewohnt an dıe Mama, es bedrückte mich
sehr. Jetzt nicht mehr so“. [Was bedrückte dich?] „Wegen zuhause. Wir haben nur
ein Zimmer. Wenn etwas war (wenn etwas Ungeschicktes geschah), so war ich es
immer (war ich immer die angeblich Schuldige)“.
Die Schülerin sitzt in gebückter Haltung vor mir; sie antwortet leise, mühsam,
aber man sieht, daß es ihr wohl tut, sich aussprechen zu können. Sie gesteht mir
ungezwungen ihren Lebensüberdruß. Ich bitte sie um nähere Auskunft. [Wie dachtest
du es anzustellen?] „Eine Frau hatte sich vergiftet. Ich war nächtelang unruhig. Ich
dachte dem Zeugs (dem Geschehnis) nach, ich könnte es auch so machen. Ich machte
es nicht wegen der Mama(?)“. [Dachtest du in letzter Zeit auch an Selbstmord?) „Vor
den Ferien. (Ich habe die Klasse nach den Ferien übernommen.) Als ich die ärgste
Strafe bekam, da dachte ich auch daran. Da bekam ich Angst, weil ich wußte, daß
ich es nicht war (nicht schuldig war). Ich dachte nachts, wenn ich nur nicht da sein
müßte; wenn ich nur am Morgen nicht mehr erwachen würde. Ich dachte, hätte ich
es nur früher gemacht. Ich dachte, ich wolle es wieder machen (ich wolle mir das
Leben nehmen)“.
_ Die Traumhandlung ist ein Abbild des unruhigen Lebens der vierzehnjährigen
Schülerin, die von ihrer Mutter noch immer geprügelt, überhaupt äußerst roh und
verständnislos behandelt wird. Sie schilderte später in einem freien Aufsatz die ärgste
Strafe, von der sie oben sprach:
„Die ärgste Strafe.
In den Herbstferien bekam ich tüchtig Schläge. Meine Mutter war ungerecht gegen mich.
Sie schickte mich hinter das Haus mit einem neuen Gemüsekorb. (Die Mutter betreibt einen
Gemüsehandel.) Nach einigen Tagen sollte ich einen (Korb) wieder holen, aber, o weh, er war
nicht mehr hier. Ich suchte ihn immer und fand ihn nicht. Als ich ihr es sagte, wurde sie
zornig und sagte: „Du bringst mich immer um das Geld! Mach, daß du mir aus den Augen
kommst, oder ich werfe dich auf die Straße, daß du mır nicht mehr hereinkommst “ Ich ging
zu einer Frau, die mich ein wenig tröstete.
Als ich um 7 Uhr heim kam, fuhr sie mich mit den Worten: ‚So, kommst du wieder, mach
ja, daß du hingehst, wo der Pfeffer wächst!“ an. Sie schlug mich und warf mich im Laden
herum, daß ich fast nicht mehr wußte, wo ich war.
Am andern Tag sagte ich es meiner Vormundin. Sie erschrak sehr; denn sie wollte es mir
nicht glauben. Sie brachte es so weit, daß es 'herauskam, wer diesen Korb mitgenommen hatte.
Ich war froh, daß meine Mutter jetzt wußte, woran sie jetzt war. Ich bin froh, daß ich im
(nächsten) Frühling fortgehen kann; denn meine Jugendjahre sind ganz verdorben(!). Meine
Vormundin ist sehr froh, wenn ich im Frühling fortkomme*.
Welche Wirkung dieses Erlebnis auf die empfindsame Schülerin hatte, hörten wir
eben von ihr erzählen. Der Konflikt mit der Mutter wirkt in ihrem Traume (den sie
zur Zeit dieser Bestrafung hatte) nach. Die Mutter ist es, die blitzt und donnert uud
das Unwetter bewirkt. Der trübe Himmel versinnbildlicht augenscheinlich ihre trübe
Hoffnung, der unruhige See ihr leidvoll bewegtes Leben, aus dem sie keinen andern
Ausweg als den Untergang ihres Lebensschiffleins wünscht,
Unsere Vermutung der Selbstmordgefahr wurde also bestätigt. Ich versuchte, die
Einstellung der Schülerin zur Mutter, so gut es ging, zu bessern, und die Schülerin
versprach mir überdies, „sie wolle nichts machen (sich kein Leid antun) ohne es
— Br
mir vorher zu sagen“. Ich erklärte ihr, sie dürfe mir jederzeit alles mündlich oder
schriftlich mitteilen, was sie bedrücke.
Hätte ich nichts von Psychoanalyse und der Traumanalyse gewußt, so hätte ich
sehr wahrscheinlich mit der verschlossen dasitzenden Schülerin nichts anzufangen.
gewußt und sie voraussichtlich noch mehr in ihre unzweifelhaft vorhandene Intro-
version getrieben. So aber gelang es mir, durch die Aussprache das Vertrauen der
Schülerin zu gewinnen und ihr ein wenig zu helfen. Ein späterer freier Aufsatz
zeigt deutlich ihre positive Übertragung. Sie hat wieder Lebensmut bekommen und
die Schule, in der sie verständnisvoll behandelt wird, ist ihr keine Qual. Die äußeren
Lebensumstände konnten leider trotz des Beistandes einer Vormundin wenig geändert
werden.
Gerda hielt sich bis zum Schulende trotz der schlechten Behandlung zu Hause
recht tapfer. Dann kam sie an einem fremden Ort in eine praktische Lehre. Ich
erhalte heute noch ab und zu Briefe von ihr, in denen sie mir ihr Befinden mitteilt.
So berichtet sie mir einmal von einem Freund, den sie gefunden hat, und der sie
gut verstehen soll. Dann fährt sie fort: „Ich habe jetzt stärkern Mut als vorher und
schaue das Leben jetzt von einer andern Seite an“,
/wei unterbliebene Selbstmördversuche
Von Karl Pipal, Reichenau
Fall I: M. Sp., I2jähriges Mädchen.
Das Mädchen gab mir eines Tages folgende Mitteilung ab: „Gestern war ich mit
meiner Schwester allein zu Hause, Meine Schwester sagte: ‚Geh zum Kaufmann und
hole ein Brot!‘ Ich sagte: ‚Nein!‘ Sie sagte wieder: ‚Du mußt gehen, wir haben kein
Brot zu Hause!‘ Ich hatte einen Zorn und lief davon. Meine Schwester lief mir nach,
aber sie erwischte mich nicht, Ich lief zur Schwabbrücke. Ich wollte in das Wasser
springen. Da kam meine Freundin und fragte, was ich da will. Ich sagte: ‚Ich will
in das Wasser springen.‘ Sie sagte: ‚Aber geh, was hast du?‘ Ich erzählte es ihr. Die
Freundin lief zu meiner Schwester und sagte es ihr. Indessen kam ich schon, und
der Vater war auch schon zu Hause. Da bekam ich vom Vater Schläge. Ich lief
wieder in das Zimmer und schlug die Türe zu. Dann ging ich heraus, zog mir den
Mantel an und wollte fortgehen. Die Mutter fragte, wo ich hingehe, ich sagte: „Fort!*
Die Mutter sagte: ‚Du mußt hier bleiben!‘ Ich dachte mir, wenn ich noch einmal
Schläge bekomme, springe ich in das Wasser.“
So weit die Mitteilung; eine kleine Aussprache mit dem Mädchen brachte folgende
Einzelheiten: Die ı8jährige Schwester ist bösartig, man kann ihr nichts recht machen,
immer will sie was, einmal sollte ihr M. sogar die Schuhe putzen. Sie befiehlt nur,
kommandiert, kümmert sich um Sachen, die sie gar nichts angehen, besonders zum
Lernen treibt sie immer an. M. folgt ihr aber nicht, macht gerade das Gegenteil
von dem, was ihr befohlen wird; einmal hat sie absichtlich ihre Rechenaufgabe nicht
geschrieben (obwohl sie eine Rüge zu erwarten hatte). Das Leben daheim ist ihr
zuwider, sie möchte am liebsten fort, vielleicht in ein Spital, um sich operieren zu
lassen (Weshalb?). Ihr tut nichts weh, sie möchte halt fort, oder die Schwester soll
fort in die Fabrik, sie könnte ja verdienen, es fehlt ohnehin daheim das Geld. Mich
freut nichts, ich krieg immer so einen Zorn, da könnte ich alles zusammenschlagen.
[„Wirst du oft geschlagen?“] „Von der Mutter nicht, die ist in der Fabrik, vom Vater
schon. Wenn ich was anstelle und der Vater schlägt mich, so weine ich, aber wenn
— 18 -
er mich wegen der (Schwester) haut, so weiß ich nicht, was ich anfangen soll (vor
Zorn). Ich nehme mir noch das Leben!“
Familienverhältnisse: Vater und Mutter sind als Hilfsarbeiter in der Fabrik tätig,
die Mutter geht dann noch in ein Gasthaus das Geschirr abwaschen und kommt
spät abends nach Hause. Die Wirtschaft führt die ı8jährige Schwester. M. ist das
dritte Kind, der Bruder ist aus dem Kriege nicht mehr heimgekehrt. Die Mutter
kümmert sich nicht viel um sie, sie ist „immer so müde“, der Vater ist recht gut,
aber er wird leicht zornig, und dann haut er gleich hın.
Aussprache mit dem Vater: Er schaut, daß aus den Kindern was wird, besonders
M. ist sein Herzblatt. Sie soll nur fleißig lernen, vielleicht kann sie einmal die
Handelsschule besuchen. Das wäre sein sehnlichster Wunsch, er trinkt nicht, raucht
nicht, spart jeden Kreuzer für die Kinder. M. ist ja immer brav gewesen, in letzter
Zeit aber wird sie so ekelhaft, muffig und zornig; den Zorn wird er ihr aber schon
austreiben. [,„Sind Schläge das richtige Mittel?“] „Herr Lehrer, was soll man machen,
Gott, wir sind daheim auch geschlagen worden, und alle sind wir brave Menschen
geworden.“ Er schlägt sie ja nicht stark, nur mit einem dünnen Hosenriemen aufs
Gesäß, das spürt sie ja gar nicht durch die Kleider. Für das unleidliche Verhältnis
zwischen den Geschwistern hat er keinen Sinn. Die „Große“ ist sehr brav, sorgt wie
eine Mutter (?) für alle, nur leider wird sie in einem Monat heiraten und dann
wegkommen, dann muß die Frau daheimbleiben. Zum Schluß der Unterredung ver-
spricht Herr Sp., für den Monat, den die Große noch in der Familie verbringen soll,
M. nicht zu schlagen.
Am nächsten Tage sprach ich wieder mit dem Kinde und wies darauf hin, daß
ja die Schwester ohnehin bald aus dem Hause kommt, daß sie heiraten werde und
betonte: „Das hast du mir ja gar nicht verraten.“ — „Ja, dann wird die Mutter
daheimbleiben.“ — „Na und?“ — Doch es war nichts mehr zu erfragen, ich durch-
suchte alle Mitteilungen, nirgends fand ich Angaben, die den Schleier hätten lüften
können. „Ich habe meine Mutter recht lieb — Vater und Mutter sind mir gleich
lieb.“
Gesetzt den Fall, der vorgenommene Selbstmord wäre durchgeführt worden, so
wäre es naheliegend, die Mißhandlung durch den Vater als Selbstmordursache an-
zusehen. M. ist schon öfter geschlagen worden, hat die Schläge weinend eingesteckt,
nur Schläge, die sie ihrer Schwester wegen erhält, können sie rasend machen, könnten
das letzte auslösende Moment zur Realisierung ihrer Selbstmordideen darstellen. Viel
komplizierter liegen also die Verhältnisse. Sollte es etwa das Verhältnis zwischen ihr
und der großen Schwester sein? Ja, das wäre denkbar. Eine erwachsene Schwester,
die den Haushalt führt, die folglich eine tonangebende Rolle in der Familie spielt,
sich Mutterrechte ihrer „kleinen“ Schwester gegenüber anmaßt, befiehlt, nörgelt und
tadelt, kann einem wohl das Leben verleiden, noch dazu, wenn der Vater auf ihrer
Seite ist. Aber M. war früher stets willig, verträglich, ihr Zorn und Trotz stammen
erst aus letzter Zeit und lassen nicht nach, obwohl sie weiß, daß die Schwester
ohnehin bald heiratet und dann wegkommen wird. Sie verschweigt die bevorstehende
Heirat, würde lieber ein Fortkommen in die Fabrik sehen. Die Schwester wird
heiraten, darf schon heiraten — vielleicht stellt diese Tatsache den Urquell des
Hasses dar, oder vielleicht liegen die Gründe noch tiefer: Die Schwester kommt fort
und „ja dann wird die Mutter daheimbleiben“, die Schwester wird durch die Mutter
ersetzt und die Auflehnung, der Trotz, der Haß und das ganze Selbstmordmanöver
richtet sich möglicherweise gegen diesen Wechsel — wider die Mutter. Allerdings
fand sich in Gesprächen, Mitteilungen und gelegentlichen Bemerkungen nicht genügend
Material vor, das berechtigen könnte, aus dieser Vermutung eine Behauptung zu
formulieren. Das Kind wurde mir gegenüber etwas wortkarg, ich konnte später nur
noch erfahren, daß die Schwester wirklich geheiratet hat und daß M, sie jeden
Sonntag besuchen darf.
— 439 —
Fall II: A. B., 13'/sjähriges Mädchen.
„Als ich einmal mit drei bekannten Burschen von W. herausging, sah mich meine
Freundin. Da sie schon lange einen Zorn auf mich gehabt hat, brachte sie allerhand
Reden über mich auf. Sie sprengte aus, daß ich in der Hoffnung wäre. Wenn sie
das nicht gewußt hatte, daß ich schon unwohl bin, hätte sie nichts: sagen können,
Es kam so weit, daß es sogar das Fürsorgeamt erfuhr. Eines Tages, als ich mit der
Elektrischen von der Schule nach Hause fuhr, stieg ich bei der Endstation aus und
sah das Fürsorgefräulein. Sie rief mich zu sich und fragte mich aus. Ich kannte mich
im Anfange gar nicht aus, was sie wolle. Sie fragte mich, ob ich mit Burschen viel
zu tun gehabt habe, ob ich ältere kenne, Doch ich sagte immer: ‚Nein!‘ Als sie mit
Ernst anfing und sagte, wenn ich es ihr nicht sage, müsse ich nach Gl. zur Jugend-
fürsorge. Aber ich sagte nichts, sie brachte nichts aus mir heraus, und so gingen wir
auseinander. Als ich nach Hause kam, machte die Mutter (Pflegemutter und Tante
des Kindes) schon ein Gesicht, denn das Fräulein war auch bei meiner Mutter ge-
wesen und hatte ihr alles erzählt, was sie erfahren hatte. Ich weinte, weil es nicht
wahr war. Die Mutter sagte zu mir: ‚Am nächsten Dienstag mußt du mit dem Vater
(Onkel) nach Gl‘ Ich ging abends zu Bett, konnte aber nicht einschlafen. Die Uhr
schlug schon zwölf und ich dachte: Was soll ich jetzt tun? Ich war schon ganz
lebensüberdrüssig, denn die Leute schauten mich alle vom Kopf bis zum Fuß so an,
daß ich mich nicht auf die Straße traute. Der Dienstag nahte heran, und ich wußte
nicht, was ich tun sollte und so beschloß ich, mir das Leben zu nehmen. Doch meine
ı8jährige Freundin hielt mich immer zurück. Wenn wir uns begegneten, sagte ich
immer zu ihr: ‚Heute siehst du mich zum letzten mal.‘ Sie redete mir zu, ich soll
nicht so dumm sein und mir wegen anderen das Leben nehmen. Mir sagte meine
Freundin, daß, wenn man in der Hoffnung ist, das Unwohlsein ausbleibt. Ich war es
aber gerade. Am Montag ging ich um halb acht Uhr von zu Hause weg und beschloß,
mir jetzt das Leben zu nehmen. Ich ging zum Wehr, wo es ıom tief ist. Meine
Freundin hatte mich aber bemerkt und war mir nachgeschlichen. Ich hielt mir die
Hände vor die Augen und wollte hineinspringen. Doch meine Freundin riß mich
zurück. Es wurde schon neun Uhr und ich war noch nicht daheim. Meine Freundin
ging mit bis zur Haustür. Am nächsten Tag mußte ich nach Gl. Dort zitterte ich
am ganzen Körper vor Angst. Wir gingen hinauf und mußten eine kleine Weile
warten, Dann kam der Herr L. Er rief meinen Vater und mich hinein. Ich weinte
schon beim Hineingehen, er sprach mich aber freundlich an und ließ mich nieder-
setzen. Er sprach mit mir so freundlich, daß ich doch vom Weinen aufhörte. Wir
gingen dann auf die Bahn, und ich war froh, daß es so gut ausgegangen war. Ich
war damals wirklich schon lebensüberdrüssig, aber meine Freundin rettete mir das
Leben.“
Zweifellos hat die Angst vor dem „Dienstag“ eine schwere Verstimmung im Kinde
hervorgerufen, und diese Angst mag noch durch Selbstvorwürfe und Schuldgefühle
verstärkt worden sein, denn A. B. ist keineswegs das Opfer einer böswilligen Ver-
leumdung, ihre Mitteilung verschweigt und verwischt den wahren Tatbestand. Über
das Mädchen, das sich in der Schule höchstens durch Schwatzhaftiekeit und seine
Schmierschrift bemerkbar machte, brach nämlich ganz unerwartet ein Strafgericht
herein. Der ı2jährige A. K. beklagte sich eines Tages beim Klassenvorstand, daß er
von den andern Mitschülern beschuldigt werde, mit A. B. zu gehen und mit ihr
sogar im Walde gewesen zu sein. „Die B. ist ein schlechtes Mädel, das auch andere
Burschen hat,“ versicherte er und schloß seine Rede mit den Worten: „Das brauche
ich mir nicht gefallen zu lassen!“ Am nächsten Tage schon stand die Schülerin M. Z,
draußen: „Bitte, die B. verführt uns zu Schlechtigkeiten!* — „Schlechtigkeiten?* —
„Ja, sie hat auch ein kleines Mädchen in den Keller geführt, dort ausgezogen und
geschlagen.“ — Da A. B. ‘der Berufsvormundschaft untersteht, erfolgte die Meldung
und die Fürsorgerin ermittelte, daß es sich leider nicht um eine bloße Tratscherei
— 0 —-
handelte. B. hat tatsächlich ein 6jähriges Mädchen wiederholt in den Keller geführt,
dort entkleidet, geschlagen und zur gegenseitigen Masturbation abgerichtet. Ferner
führte sie dem kleinen Mädchen eine Hühnerfeder in die Vagina ein und mißbrauchte
in ähnlicher Weise auch das dreijährige Pflegekind ihrer Tante. Das 6jährige
Mädchen erzählte lachend von diesen Vorfällen, B. leugnete, gestand später, be-
schwerte sich nur darüber, daß die Leute munkeln, sie wäre schwanger und meinte
mit Entschiedenheit: „Wenn das wahr ist, nehme ich mir das Leben.“ Doch die
ı8jährige' Freundin tröstet, B. erfährt, daß das Unwohlsein ausbleibt, wenn man
schwanger ist. Das ı8jährige Mädchen spielt in ihrem Leben eine große Rolle, ist
Mitwisserin aller Vorfälle, erklärt, belehrt und erzählt eigene Erlebnisse ihrer Freundin,
der ı4jährigen B. Wie sehr sehnen sich junge Mädchen nach einer älteren, ver-
stehenden Freundin, und es ist traurig, daß sie auf Personen verfallen, verfallen
müssen, um Aufklärung in gewissen Dingen zu erlangen, die zu erörtern, die Mutter
oder Pflegemutter sich scheut. Wie dankbar sind sie für das Sickerwasser dieser
Schmutzquellen, schwärmerische Freundschaften entstehen, man geht mit der älteren
Freundin durch dick und dünn, würde ihr sogar in den Tod folgen. Zur Illustration
ein „Erlebnis“, das mir B. lange vor der oben wiedergegebenen Mitteilung erzählt
hatte: „Am Samstag kam von Wien der Geliebte meiner Freundin. Da mein Onkel
keinen Platz mehr hatte, schliefen sie beim Sp. Sie saßen mitsammen im Gasthaus,
und das andere Dienstmädchen auch. Da meine Freundin „krank“ war, trieb ihr
Geliebter schon immer: „Geh? schlafen, ın diesem Zustand kannst doch nicht so
lange aufbleiben.“ Sie sagte nichts und ging schlafen. Sie schlief auf dem Boden auf
einer Matratze. Sie konnte aber nicht schlafen, denn sie dachte sich es schon, warum
er so getrieben hat. Sie schaute beim Fenster hinunter, und nach einer Weile sah sie
das Mädel beim Fenster hinausspringen und den Burschen nach. Sie standen und
plauschten. Da rief sie hinunter: „Gute Unterhaltung!“ Aber sie dürften es nicht gehört
haben. Sie mußte sich wieder niederlegen und weinte, daß ihr Geliebter so falsch
kann sein. Er kam nach einer langen Zeit und sagte, er sei auf dem Klosett gewesen.
Doch sie mußte wieder weinen. Er wollte sie trösten, doch sie ließ sich nicht. Da
kannte er, daß sie es gesehen haben mußte. In aller Früh kam sie zu mir und erzählte
alles. Wir weinten alle zwei und schliefen dabei ein. Wir standen sehr spät auf und
gingen dann spazieren und weinten uns noch aus. Das ist doch ein trauriges Erlebnis,
wir wollten beide sterben“,
Die Selbstmordliteratur kennt eine Reihe von Fällen, in denen ältere Freundinnen,
in Liebesangelegenheiten verwickelt, ihre jüngeren Gefährtinnen zu diesem Schritt
bewogen haben; man geht eben zu zweit viel leichter in den Tod. Doch weit wichtiger
erscheint mir für uns der Fall, in dem diese Freundin zur „Lebensretterin“ wurde,
wohl wert, noch einige Bemerkungen anzuschließen. In der Zeit, als gegen B. in der
Schule Sturm gelaufen wurde, kam auch folgender Brief einer Mutter an den Klassen-
vorstand: „Ich erlaube mir zu bitten, daß Herr Fachlehrer meine Tochter Fritzi von
der B. wegsetzen möchte, da sie mir Sachen nach Hause bringt, daß ich nur staune.
Wenn ich sie frage, von wo hörst du das, sagt sie, von der B“. Die Mutter wurde vor-
geladen und B.’s Schwatzhaftigkeit entpuppte sich als Aufklärungsarbeit über Menstru-
ation, Verkehr, Schwangerschaft, etc. Fritzi, natürlich ein reiner Engel, war aufs äußerste
gefährdet. Anbei bemerkt, waren es stets die gleichen Mädchen, die sich mit B. ab-
gaben, und es ist hier nicht Gelegenheit, einen Beweis zu führen, der das bekannte
Sprichwort, „gleich zu gleich gesellt sich gern“, bestätigen würde.
Mehr als vier Monate hatte ich noch Gelegenheit, B. zu beobachten. In ihrem Wesen
war keine Veränderung zu bemerken, nur ihre Schwatzhaftigkeit wurde von einer förm-
lichen Lesewut abgelöst. Aus den Mitteilungen, die ich in der Folgezeit von ihr erhielt,
seinurnoch ein recht interessantes Erlebnis angeführt, das sich „Unvergeßliche Stunden“
betitelt: „Wie ich einmal in W. war, kamen drei Ingenieure. Der eine von den dreien
war sehr fesch, er kam zu mir und küßte mich, Ich schämte mich vor den anderen,
re
Ich sagte: ‚Gehen Sie weg!‘ Er sagte: ‚Seien Sie nicht so grauslich‘. Er ging weg.
Nach einer Weile kam er wieder und sagte: ‚Sie sind ein fesches Lieserl‘. Er nahm
mich um den Hals und plauderte mit mir. Dann fuhren sie nach Hause. Das ist meine
unvergeßliche Stunde“.
In W. besitzt eine Tante eine Touristenherberge. B. verbrachte dort häufig den
Samstagnachmittag und den Sonntag und hatte Gelegenheit, manches zu hören und zu
erleben, was für ein über sein Alter entwickeltes Mädchen, das ohnehin zur Gefall-
sucht neigt, nicht paßt. Die Besuche der Tante in W. wurden von der Berufsvormund-
schaft untersagt. Sie bedarf einer erhöhten Aufmerksamkeit und Überwachung und
dürfte auch bei recht günstigen Milieuverhältnissen der Berufsvormundschaft noch
manch schwere Sorge bereiten. Ihr Ideal wäre, in einem großen Warenhaus als Ver-
käuferin unterzukommen. Auch diese Berufswahl verrät deutlich die Tendenz, möglichst
leicht zu arbeiten, schöne Kleider zu tragen und allgemein zu gefallen. Mich würde
es nicht wundern, eines Tages zu hören, B. sei eine Prostituierte geworden, denn es ist
für ein Mädchen schwer, brav zu bleiben, wenn es als uneheliches Kind früh die Mutter
verliert, in elenden Verhältnissen aufwächst, von unsoliden Quellen die erste Aufklärung
erhält, früh verdorben wird und ganz auf sich selbst angewiesen ist. Die guten Anlagen
bröckeln nach und nach ab und mit ihnen schwinden alle Schranken und moralischen
Hemmungen, die der schlechten äußeren Umstände wegen nie festen Boden fassen
konnten.
*
Ich bin vollkommen überzeugt, daß die Behandlung dieser zwei Fälle, in denen
Selbstmordregungen nicht realisiert wurden, keinen Anspruch auf vollständige Klar-
legung der Selbstmordursachen erheben darf. Besonders im zweiten Falle vermied
ich jede Ausfragerei, um eine „schiefe Stellung“ meiner Person zu vermeiden und
beschränkte mich auf die Verarbeitung und Zusammenstellung des mir gelegentlich
abgegebenen Materials. Eines aber scheint mir unumstößlich wahr zu sein: Ebenso-
wenig, als man die Verantwortlichkeit der Schule an einem gelungenen oder miß-
glückten Selbstmordversuch überschätzen darf, ist es angezeigt, ihre Verantwortlichkeit
zu unterschätzen. Sie kann ebenso wie die Familie schon durch kleine F ehler, die ver-
zweifelte Stimmung des jugendlichen Selbstmörders verstärken und treibende Umstände
für die Ausführung des Selbstmordes abgeben.
NUN
BERICHTE
INN
Bücher
HAVELOCK ELLIS: Der Tanz des Lebens. Übersetzt von Eva Schu-
mann. 307 Seiten. Verlag von Felix Meiner in Leipzig. 1928.
In Deutschland kennt man Havelock Ellis vor allem als Verfasser zahlreicher
Schriften über sexualpsychologische Fragen. Er war auch einer der wenigen, der
schon den ersten Veröffentlichungen Freuds, speziell der Traumdeutung, eine ver-
ständnisvolle Beachtung zuwandte, Wir finden in seinen Werken viele Gedanken der
Psychoanalyse verarbeitet, wenn er auch nicht alle Ergebnisse derselben anerkennt.
Das vorliegende Buch, das 1923 in Amerika erschienen ist, ist nun das philoso-
phische Hauptwerk von Havelock Ellis. Nicht Philosophie im Sinne eines Systems,
— 442 —
sondern eher das, was wir als „Lebensphilosophie* zu bezeichnen pflegen. Was er
fordert, ist: das Leben mit Kunst zu durchziehen, die Tatsache des Lebens an sich
schon als Kunst zu erfassen, und alle Lebensführung als Kunst zu gestalten. Symbol
für Kunst ist für ihn der Tanz und so auch Symbol für das Leben des Einzelnen
wie für die Welt als Ganzes.
Ellis geht aus von der engen Verknüpfung, in der der Tanz bei den Völkern des
'Altertums wie bei den Primitiven mit dem täglichen Leben stand. Er weist hin auf
die Kriegstänze, auf den Rhythmus der Arbeit, auf den Tanz als Ausdruck der Freude
wie als Erziehungsmittel. Zugleich ist der Tanz der primitive Ausdruck für das
religiöse wie das erotische Gefühl des Menschen. Darüber hinaus erhält der Tanz
für Ellis seinen hohen Symbolwert aus der vollkommenen Verbindung von Harmonie
und Kraft, die er darstellt. Aus diesen Gründen entwickelt er gerade am Tanz seine
Gedanken über den Sinn und den Wert des Lebens. Das Buch enthält eine Fülle von
interessanten Einzelheiten, wie sie nur ein Mensch von so umfassendem Wissen wie
Havelock Ellis bieten kann. Die Übersetzung liest sich recht klar.
Lizi Bonwitt- Hepner
ARNOLD ULITZ: Aufruhr der Kinder Propyläen-Verlag, Berlin.
Zwei Knaben wachsen in einem spielerisch-künstlerischen Elternhaus heran, äußer-
lich wenig gefördert, aber innerlich auch wenig gehemmt von Eltern, die beide ihre
zahlreichen brotlosen Künste („unrentable Talente“) in maßloser Geselligkeit bei
fremden Menschen verschwenderisch ausstreuen, und dabei so wenig an die Zukunft
ihrer Kinder denken, daß der Mutter nichts anderes übrig bleibt, als diese nach dem
plötzlichen Tode des Vaters in ein Waisenhaus ältesten Zuschnittes zu geben. Wie
die begabten, gut gearteten Kinder unter gänzlich veralteten Formen von „Ordnung,
System und Gesetz“ unter den lieblosen Händen des „Herrn Vaters“ und der „Frau
Mutter“ aus Kindern, die trotz aller Vernachlässigung dennoch in der heiter-gedanken-
losen Liebe der eigenen Eltern selig und ihre Kindheit zu genießen wußten, in der
Sinnlosigkeit des Anstaltslebens zu grauen, zerquälten, verzweifelten und endlich
rebellischen Geschöpfen werden, das ist lebendig und erschütternd dargestellt.
P.M.
Vom 2.bis 4. Oktober d. J. veranstaltet der Bund Entschiedener Schulre-
former im Bürgersaal des Berlin-Schöneberger Rathauses am Rudolf-Wilde- Platz
einen öffentlichen Kongreß mit dem Thema: „Geschlechtliche Erziehung —
Aufartung — Lebenshilfe“. Es sprechen die bekannten Redner: Stadtarzt Dr. Max
Hodann, Dr. med. Heinrich Dehmel, Frau Margarete Kaiser, Stadtarzt Dr. Georg
Loewenstein, der Soziologe Dr. Paul Krische, Professor Paul Oestreich u. a. Im
Anschluß daran findet am*4. Oktober in der Aula der Hohenzollern - Oberrealschule
Berlin-Schöneberg eine öffentliche Abendkundgebung mit dem Thema: „Sexualnot
und Sexualhilfe“ statt, zu der als Redner zugesagt haben: Professor Dr. Wilhelm
Liepmann, Dr. Fritz Künkel, Dr. Magnus Hirschfeld, Oberstudiendirektor Dr. Erich
Schönebeck, Dr. Margarete Stegmann u. a. Für den 5. Oktober ist eine Reihe von
Besichtigungen einschlägiger Institute und Einrichtungen vorgesehen. — Die Teil-
nehmergebühr für eine Vollkarte beträgt M 6.—, für eine Halbtagskarte M 1.50. —
Anmeldungen, Anfragen und Zahlungen an Konrektor Albert Lenz, Berlin O ı7,
‚Hohenlohestraße 9.
HINUILNNUNAIUIIUUINUUEIKUNUINNNEUNUTENA UELI
Herausgeber: Dr. Heinrich Meng in Frankfurt a. M. und Prof. Dr. Ernst Schneider in Stuttgart,
Eigentümer, Verleger und Herausgeber für Österreich: Adolf Josef Storfer, Wien, I., Börsegasse ıı
(„Verlag der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik“).
Verantwortlicher Redakteur: Dr. Paul Federn, Wien, I., Riemergasse ı.
Druck von Emil M. Engel, Druckerei und Verlagsanstalt, Wien, I,, In der Börse.
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Wien I, Börsegasse 11
$, oe ben ist erschienen:
Dürers „Melancholie“
im Lichte der Psychoanalyse
Von
Alfred Winterstein
Mit zwei Kunstbeilagen
In Uanzleinen M. 4,60
Inhalt
I
Der Inhalt des Kupferstiches „Melencolia I“
II
Die historischen Voraussetzungen des Dürerischen Konzeptes
III
Die Quellen zu Dürers „Melencolia I“
IV |
Saturn, Melancholie und Analcharakter
V
Dürers Lebensgeschichte und Persönlichkeit
vI
Der Tod der Mutter
vII
Die psychoanalytische Deutung der „Melencolia I“
vIlI
Zur Abwehr
| I Il NEE III
Heitschrift für psycdhoanalytishe Pädagogik
Herausgegeben von Dr. Heinrich Meng und Prof. Dr. Ernst Schneider
N
3’
TG ININILINNN
Der gebunden vorliegende I. Yahzpang (Oktober 1926 bis September 1927)
A i chhorn: Zum Verwahrlostenproblem
Baudouin: Der Kastrationskomplex
— Von Pestalozzi bis Tolstoi
Behn-Eschenburg: Kindliche Sexualforschung
Bernfeld: Der Irrtum des Pestalozzi
- — Psychologie der „Sittenlosigkeit“ der Jugend
Boehm: Unartige Kinder
Chadwick: Ein Experiment im Kindergarten
F r iedjung: Die „sexuelle Aufklärung* und die Er-
wachsenen
Fromm: Dauernde Nachwirkung eines Erziehungsfehlers
Furrer: Trotzneurose eines 15j. Mädchens
Giese: Psychoanalyse im Fabrikbetrieb
Graber: Zeugung und Geburt in der Vorstellung des
ı Kindes
Gravelsin: Sexuelle Aufklärung in der Schule
Hackländer: Über Schülerselbstmorde
Härnik: Die therapeutische Kinderanalyse
Hermann: Begabung im Lichte der Psychoanalyse
Hofmann: Pestalozzi und die Psychoanalyse
Hollös: Ein Fall von Schlaflosigkeit bei einem acht-
einhalbjährigen Kinde
Jacoby: Muß es Unmusißalische geben ?
enthält u. a. folgende Beiträge:
Landauer: Die Zurückweisung der Aufklärung durch
das Kind
— Analyse der Phobie eines 8j. Mädchens
Liertz: Über das Traumleben
Meng: Gespräche mit einer Mutter
— Sexuelles Wissen und sexuelle Aufklärung
Nunberg: Der Traum eines 6j. Mädchens
Pfister: Der Schülerberater
Piutti: Identifikation eines‘ zehnjährigen Knaben mit
der schwangeren Mutter , |
Reich: Der Erziehungszwang
— Die Stellung der Eltern zur kindlichen Onanie
Reik: Psychoanalyse und Mythos
Schneider: Die Zukunftsbedeutung Pestalozzis
— Geltungsbereich der Psychoanalyse für die Pädagogik
— Ein Fall von Bettnässen
Schwarz: Der Trotzkopf
Tamm: Die angeborene Wortblindheit
Wittels: Triebhaftigkeit des Kindes
Wolffheim: Gegensatz der Generationen
Zulliger: Über das kindliche Gewissen
— Ein Mädchenstreit und seine tieferen Ursachen
— Geständnis und Geständniszwang bei Kindern
i
Preis des I. Jahrganges in Halbleder gebunden: Mark 13°60
ANNUAL
Der gebunden vorliegende II. Jahrgang (Oktober 1927 bis September 1928)
enthält u. a. folgende Beiträge:
Behn-Eschenburge: Zur Entstehung der Onanie und
der Ödipussituation
Bernfeld: Ist Psychoanalyse eine Weltanschauung?
Boehm: Ein verlogenes Kind
Büttner: Psychoanalyse und Ethik
Chadwick: Die Unterscheidung zwischen
Sprache in der frühen Kindheit
Coriat: Die Verhütung des Stotterns
Ferenczi: Anpassung der Familie an das Kind
Friedjung: Wäsche-Fetischismus bei einem Ein] ährigen
Furrer: Wie erziehen wir neurotische "und psycho-
pathische Kinder?
Graber: Unterwürfigkeit
— Redehemmung und Analerorik
— ÖOnanie und Kastration
Happel: „Der Mann in der Kloake*
Hirsch: Eine Feuerphobie als Folge verdrängter Onanie
Hitschmann: Die gröbsten Fehler der Erziehung
Kuendig: Aus der Sekundarschulpraxis
Landauer: Das Strafvollzugsgesetz
— Die Formen der Selbstbefriedigung
— Die Onanieselbstbeschuldigung bei Psychosen
Ton und
Meng: Psychoanalyse und Volk
— Das Problem der Onanie von Kant bis Freud
— Aus der Analyse von stotternden Kindern
Pipal: Gewohnheiten beim Denken und Lernen
Preiswerk: Wie behandelt an Mißerfolge in der
Schule ?
Reich: Über die Onanie im Kindesalter
Reik: Zur Psychoanalyse des Mitleides
Roubiczek: Grundsätze der Montessori-Erziehung
Sadger: Neue Forschungen zum Onanieproblem
Schneider: Zur Psychologie des Lausbuben
— Mutter und Kind in den Dramen Ibsens
— Die Abwehr der Selbstbefriedigung
Stern: Asoziales Verhalten eines Knaben als Symptom
einer Neurose
Tamm: Zwei Fälle von Stottern
— Drei Fälle von Stehlen
Wittels: Verdrängung und Zwangsideen in der Kindheit
W olffheim: Erotisch gefärbte Freundschaften in der
frühen Kindheit
Ziegler: Soll man die Onanie bekämpfen?
Zulliger: Heilung eines Prahlhanses
Levy-Suhl: Phobie eines 2j. Kindes — Schule und Onanie
Preis des II. Jahrganges in Halbleder gebunden: Mark 13°60
ERNINNNIRUNNUNUUNUNUTLUUEULIUUNUUNEIINUIUIUTIUNIUEUILORBNRUUNUNULIUTIIUUILILULULENULILUIUENLKLILIUIRIEKRINLUN
Verlag der Zeitschrift für psychoanalytishe Pädagogik
Wien, I., Börsegasse 11
INN UNNA
BOCH ERDE 5
WERDENDEN
\ Herausgegeben von Paul Federn, Wien, und Heinrich Meng, Stuttgart
Band IV
Istvan Hollös
Hinter der gelben Mauer
Von der Befreiung des Irren
Umfang: 90 Seiten. #
Preis: Brosch. RM. 3.50 / Leinen RM. 5.50
Der ungarische Psychiater schlägt mutig Bresche
in die Mauer der Verständnislosigkeit, die den
„Verrückten“ vom Gesunden trennt. Er appelliert
an die Menschlichkeit der Gesunden, die die Ver-
pflichtung haben, in wesentlich anderer, mensch-
lieh würdigerer Form als bisher für die Irren zu
sorgen. Hollös räumt mit vielen falschen Vor-
stellungen auf, die dem geheilten Irren die Rück-
kehr in die Gesellschaft so oft erschweren,
=
Band V
Fritz W ittels
Die Welt ohne Zuchthaus
Umfang: 286 Seiten, 8
Preis: Brosh. RM. 5.— / Leinen RM. 7.—
Eine vollkommen neue Psychologie des Verbre-
chens und der Strafe. Wittels sieht in der Psycho-
amalyse ein wichtiges Mittel, Verbrechen zu ver-
hindern, ehe sie geschehen, und eine von Ver-
brechern freie Gesellschaft heranzukilden, die
Strafen nicht mehr nötig hat. Wittels plädiert
geistreich und mit schlagenden Argumenten für
seine Idee der neuen Gesellschaftsform,
Das ärztliche Volksbuch
Herausgegeben von Dr. Heinrich Meng u. a.
Unter Mitarbeit von 50 Ärzten und Forschern aller Schulen
8 große Bände mit insgesamt etwa 2000 Seiten und über 100 Tafeln
Die zweite Auflage ist in Lieferungen zu beziehen!
a0 Lieferungen zu je RM. 2.—. Zwei Lieferungen monatlich
Die Einbandäecken (Gansleinen mit Goldpressung) für die 3 Bände erhält der Bezieher kostenlos
mit der letzten Lieferung
Das Lieferungssystem ermöglicht allen, das große Volksbuch der Medizin zu erwerben und
die gesamte Medizin zu seiner Verfügung im Hause zu haben.
Die lückenlose Darstellung der Gesamtmedizin für den Laien, die gleichmäßig alle
Schulen und Heilrichtungen zu Wort kommen läßt, eine wahre Volkshochschule der
Medizin.
Das „Prager Tagblatt“ sagt: ‚Barch drei Werke hat sich das deutsche Volk
selbst ein Denkmal gesetzt: das Konversationslexikon, den Sprachunterricht von Toussaint-
Langenscheidt und Baedekers Reisehandbücher. Diesen drei Werken stellt sich ‚Das
ärztliche Volksbuch‘ ebenbürtig an die Seite.“
Zu beziehen durch die
Buchhandlung Frieda Reich, Wien, II, Heinestraße ı3
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