DIE
PHILOSOPHIE
ALS
TDEALWISSENSCHAFT UND SYSTEM.
ZUR EKLEITÜNG IN DIE PHILOSOPHIE
VON
J. FEOHSCHAMMER
PROFESSOR DER PHILOSOPHIE IN MÜNCHEN.
• MÜNCHEN, 1884.
ADOLF ACKERMANN'S NACHFOLGP]R.
Kgl. Hof- und Universitäts-Buchdruckerei von Dr. C. Wolf & Sohn.
Inhalt.
Seite
Einleitung . 1 — 4
I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und die
Philosophie als Wissenschaftslehre . - 5 — 19
II. Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit
im Sinne von Idealität 20 — 33
III. Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grund-
princip. Einheit der philosophischen Wissenschaft . 34 — 48
IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie als Ideal-
wissenschaft und System 49 — 76
V. Das System der Philosophie 7(3 — 88
VI. Ewige Wahrheit (Grundgesetzlichkeit) als Fundament
des rationalen und idealen Seins (Werdens) und Denkens 88 — 98
Berichtigungen.
Seite 5 Zeile 3 von unten statt ihr zu lesen ihn.
„ 32 ,, 9 von unten die Wahrheit, des ist das Komma zu
tilgen.
,, 33 „ 1 von oben statt sollen zu lesen solle.
„ 53 „ 9 von unten statt machen zu lesen manche.
„ 64 „ 8 von oben nach Gehörnen das Komma zu til^'en.
78 „ 14 von unten statt der zu lesen deren.
Die folgenden Erörterungen wollen die Ueberzeugung
vertreten und begründen, dass die Philosophie auch an-
gesichts der modernen Wissenschaft sich in ihrer alt-
überlieferten Art und Bedeutung zu behaupten die Auf-
gabe und das Recht habe. Dass es also nicht nöthig und
nicht gestattet sei für dieselbe, den sog. exacten und
positiven Wissenschaften gegenüber auf sich selbst zu
verzichten oder sich auf ein kümmerHches Dasein zu be-
schränken, oder als blosse Erinnerung sich fortzuerhalten
in geschichtUchen Darstellungen. Ebenso wird die Be-
schränkung derselben auf blosse Erkenntnisswissenschaft
oder Wissenschaftslehre abgewiesen, sowie die Behauptung,
dass nur dieser als Zweig der Philosophie ein wissen-
schaftlicher Charakter zukomme, die übrigen Zweige
derselben aber als nichtwissenschaftlich zu gelten haben.
Endlich auch die Berechtigung der systematischen Form
der Philosophie , der Ausbildung eines philosophischen
Systems und der Welterklärung aus Einem Princip will auf-
recht erhalten und begründet werden.
Damit verbindet sich aber allerdings auch die For-
derung, dass die Philosophie, wie bisher, so auch ferner-
hin nach genauerer, geläuterterer Auffassung ihres Wesens
und ihrer Aufgabe zu streben, dass sie immer mehr alle ihr
fremdartigen Elemente auszuscheiden, sowie ein möglichst
fruchtbares, allseitiges Princip für die Erklärung der Bil-
Frohschammer , Die Philosophie. 1
2 Einleitung.
düngen in Natur und Geschichte zu suchen und zur
Darstellung zu bringen habe. Wir fassen daher die Philo-
sophie, die anfangs alle Gegenstände und alle wissen-
schaftlichen Aufgaben in sich schloss, nunmehr als Wissen-
schaft von der idealen Wahrheit, als Ideal Wissenschaft,
sowie als Welterklärung aus Einem Princip, — doch aber
stets in Beziehung und Wechselverkehr mit der empirischen
Wissenschaft. Als dieses allgemeine Princip wird die Phan-
tasie in doppelter Bedeutung, als objective (real- wirkende)
und subjective geltend gemacht, als das primitivste, wie all-
seitigste und fruchtbarste von allen Principien, die bisher
aufgestellt wurden. Und eben zu höherer Klarstellung
und Begründung dieses Versuches , der so vielem Miss-
verständniss oder Misstrauen begegnet, möchte das Fol-
gende gleichfalls Einiges beitragen. Man hat in neuerer
Zeit die Unvernunft, das Irrationale als Princip und
Wesen des Daseins aufgestellt; und diese Aufstellung,
in Verbindung mit einem krankhaften Pessimismus, er-
freut sich schon seit mehr als zwei Decennien einer so
weitverbreiteten, ungewöhnlichen Theilnahme, wie sie wohl
noch selten vorgekommen. Eine wichtige Seite des Da-
seins ist ja immerhin auch das Irrationale, die bei der
Welterklärung wohl Beachtung fordert, wie dieselbe auch
im praktischen Leben sich reichlich zur Geltung bringt
und Sympathie findet ! Aber Princip der philosophischen
Weltauffassung kann das Abnorme oder geradezu Absurde
nicht sein, und als Wesen des Daseins kann es nicht be-
trachtet werden, — schon insoferne nicht, als eine solche
WeltaufFassung, ernstlich genommen, sich selbst als Pro-
dukt der Irrationalität, der Unvernunft aufstellen und damit
zugleich aufheben muss. Die Phantasie als Grundprincip
des Weltprozesses trägt zwar auch diesem Momente des
Daseins Rechnung, aber sie ist doch wesentlich, wie die
Mutter alles Lebens und alles teleologischen und idealen Seins
und Wirkens, so auch der Vernunft und aller liöheren Geistes-
Einleitung. 3
kräfte. Man wird diess wohl erkennen, wenn Voreingenom-
menheit und Vorurtheil einmal sich mildern und eine
nähere mibefangene Prüfung derselben zulassen, wenn
ferner die öfter fast fanatisch sich äussernde Antipathie
gegen alle Systembildung sich einigermassen gemässigt
haben wird und die geistige Sehkraft ungestörter zur Gel-
tung kommen kann.
Wie dem sei, bei der Zerfahrenheit, die gegenwärtig
in Bezug auf die Auffassung von Wesen und Aufgabe
der Philosophie herrscht, wird es jedenfalls nicht über-
flüssig erscheinen , die Sache eingehend zu prüfen , der
Philosophie eine bestimmte Aufgabe zu stellen und da-
durch einen klaren, entschiedenen Begriff von ihr zu ge-
winnen. Ihr dadurch, wie man auch schon vorgeschlagen
hat, ihre Berechtigung und Fortexistenz zu sichern, dass
man die Bezeichnung ,, Philosophie" wieder, wie ehemals,
auf alle Wissenschaften ausdehnt, dürfte wohl ein ganz
vergebliches Unternehmen sein. Denn wenn auch sonst
keine Gründe entgegen stünden, so wäre doch kaum
zweifelhaft, dass diese andern Wissenschaften nicht wieder
Philosophie sein resp. genannt werden möchten , die Be-
zeichnung als unnöthig oder unpassend mit Entschieden-
heit, wo nicht mit Geringschätzung oder Hohn zurück-
wiesen und in diesem Vorschlag der Philosophen nichts
Anderes erblickten als einen verzweifelten Versuch , die
Philosophie wenigstens dem Namen nach zu retten,
Oder eigentlich auch den Namen nicht mehr, denn wenn
alle Wissenschaften selbstverständUch philosophisch sind,
dann bedarf es dieser besonderen Bezeichnung in der
That gar nicht! Würde man aber in jeder Wissen-
schaft zwei Arten unterscheiden, eine philosophische und
eine nichtphilosophische, und unter jener die verstehen,
welche allgemeine Wahrheiten sammelt, unter dieser die
rein empirische , so wäre auch diese Bezeichnung ganz
willkürlich, da jede inductive Forschung auf Allgemeines
1*
4 Einleitung.
ausgeht, und andrerseits jeder Naturforscher empirisch ver-
fahren muss. Wer aber solches nicht thäte, wäre nur
ein Sammler oder Zusammenträger des Allgemeinen, kein
wirklicher Naturforscher, und der Philosophie widerführe
sicher wenig Ehre, wenn ihr Name diesem allein zuge-
theilt würde. Versteht man aber endlich unter Philosophie
die Wissenschaft, welche alle höheren allgemeinen Begriffe
der Spezial wissen Schäften aufnimmt und zuletzt unter
einem höchsten Begriffe als einheitliche Spitze vereinigt,
SO wäre diess immerhin nur ein ziemlich Unfruchtbares
Werk, wenn dieser höchste Begriff nur ein abstracter
wäre, eine leere, leblose Einheit ausdrückte und nicht ein
lebendiges Princip, aus dem das Einzelne abgeleitet
oder erklärt werden könnte. Solch ein höchstes , allge-
meines , lebendiges , fruchtbares Princip ist aber nicht
blos durch Abstraction aus den Spezial- Wissenschaften
allein zu gewinnen, sondern fordert eine selbständige,
direkte Beobachtung, und es entsteht dann eine eigen-
thümhche Wissenschaft als Philosophie, wie wir sie eben
zu begründen versuchten.
I.
Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen
und die Philosophie als Wissenschaftslehre.
Wie immer die Philosophie näher auch bestimmt
werden mag, jedenfalls muss sie, wofern sie Wissenschaft
sein soll, die Wahrheit zu erforschen streben und zu er-
kennen vermögen ; denn alle Wissenschaft hat zur theo-
retischen Aufgabe einzig und allein diess, die Wahrheit
zu erkennen.
Unter Wahrheit aber pflegt man die Uebereinstimmung
des Vorstellens oder Denkens mit dem vorgestellten oder
gedachten Gegenstande zu verstehen, wodurch eben das
Denken mit Inhalt erfüllt und zum Erkennen wird.
Wenn das Denken (in weitester Bedeutung genommen)
mit dem Gegenstande, dem Sein, der Beschaffenheit, den
Verhältnissen und Wirkungen desselben in Uebereinstim-
mung gebracht ist, dann ist in Bezug auf denselben die
Wahrheit erkannt, d. h. er ist so mit seinem Sein und Be-
schaffensein in das vorstellende oder denkende Bewusstsein
aufgenommen, wie er wirkHch ist. Derselbe bleibt zwar
sachlich so zu sagen draussen, aber seine vorstellende Ab-
bildung oder begriffliche Reproduktion im erkennenden
Geiste ist die Wahrheit in Bezug auf ihr ; — und insofern
ist er selbst zur Wahrheit geworden für den Intellect (wenn
auch nicht an sich), so etwa, wie die eigenartige Luftbe-
6 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und
wegung zum Tone wird durch das Ohr und für dieses,
— wenn auch an sich Luftbewegung bleibend. Die
Organe für diese Gestaltung der Dinge im erkennenden
Geiste, wodurch in Bezug auf sie Wahrheit entsteht Und
Wahrheit über sie d. h. ihr wirkliches Sein und Beschaffen-
sein, ausgesagt werden kann, sind die Sinne (äussere und
innere) und das Denken. Es kann daher auch durch
Anschauung und Vorstellung d. h. durch Abbildung der
Dinge selbst im Bewiisstsein Wahrheit erlangt werden,
nicht blos darch das Denken (im engeren Sinne) oder Ur-
theilen, durch Verbindungen und Trennungen in Bezug auf
das Sein und Beschaffensein derselben. Sinne und Denken
(Urtheilen) sind insofern Quellen der Wahrheit d. h. der
Uebereinstimmung unsers Bewusstseins mit dem wirk-
lichen Sein und Wesen der Dinge und Verhältnisse.
Wenn Aristoteles geneigt scheint, die Wahrheit nur für
das Denken, das Urtheilen gelten zu lassen, so ist diess
eine zu enge Auffassung. Denn nicht blos die Synthesis,
sondern auch die Thesis im Bewusstsein, das Aufnehmen
durch die Sinne und die Reproduction durch die Ein-
bildungskraft gewähren die Wahrheit, von welcher hier
die Rede ist. Im Grunde findet auch schon bei ihrer
Bethätigung ein Urtheilen statt, insofern in Bejahung
oder Verneinung die Kategorien: Sein, Nichtsein, Be-
schaffensein u. s. w. ihre Anwendung finden. Anderer-
seits aber muss auch das Urtheil (Denken), wenn es
Wahrheit sein, d. h. mit dem Gedachten übereinstimmen
soll, mit dem objectiven Sachverhalt übereinstimmen;
kann also nicht aus sich allein die Wahrheit produciren,
sondern muss sich nach der Oftenbarung, dem Sein und
den Eigenschaften des Erkenntnissobjectes richten. Spricht
man doch sogar rein subjectiven Bethätigungen z. B.
Empfindungen nur dann Wahrheit zu, wenn sie der wirk-
lichen Situation entsprechen, — während man sie ohne
diess als unwahr bezeichnet. — Es gilt Aehnliches auch
die Philosophie als Wissenschaftslehre. 7
vom Gegentheil der Wahrheit, vom Irrthum d. h. von
emer Aufnahme in das denkende Bewusstsein oder einer
Nachbildung in demselben, die dem Gegenstande oder
Verhältnisse u. s. w. nicht entspricht. An sich sind die
Gegenstände, Verhältnisse u. s. w. auch nicht Irrthum
(sondern allenfalls Nichtsein, Anderssein oder Unvoll-
kommensein), wie dieselben an sich nicht Wahrheit sind,
sondern eben die bestimmten Gegenstände oder Ver-
hältnisse, — wenn auch allerdings mit dem Unter-
schiede, dass dem Irrthume gar nichts Sachliches ent-
spricht, wie der Wahrheit, sondern eben das Gegentheil
davon, das Nichtsein oder Anderssein.
Diese Wahrheit zu realisiren, zu gewinnen d. h. das
Denken oder überhaupt die bewusste Erkenntnissthätig-
keit in Uebereinstimmung mit den Gegenständen, den
Objecten zu bringen, seien sie sinnliche oder geistige,
Dinge der Natur oder Ereignisse der Menschengeschichte,
ist also Aufgabe aller Wissenschaft, welchen Namen und
Inhalt sie haben möge, und muss demnach auch Auf-
gabe der Philosophie sein. Da der Objecte der Er-
forschung viele sind, deren Sein, Beschaffensein, Wirken
und Wirkensweisen zu erforschen sind, so theilt sich be-
kanntlich die Wissenschaft in viele Zweige oder besondere,
eigenthümliche Wissenschaften je nach den eigenthüm-
lichen Erkenntnissgegenständen, die ihre Aufgabe und
ihren Inhalt bilden. Man kann sie insgesammt in zwei
Hauptgruppen theilen : in Natur- Wissenschaften und Geistes-
wissenschaften , je nachdem sie die Natur mit ihren Er-
scheinungen, Produkten, Stoffen, Kräften und Gesetzen
zum Erforschungsobject haben, oder die menschliche Ge-
schichte mit ihren physischen und geistigen Erscheinungen
und Leistungen, In beiden Gebieten haben sich in neuester
Zeit viele besondere Wissenschaften gebildet, die in ent-
sprechender Theilung der Arbeit sich auf bestimmte Er-
forschungsobjecte beschränken, um dieselben um so ge-
8 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und
nauer, detaillirter zu ergründen und nach allen Beziehungen
kennen zu lernen. Dabei droht freilich auch der Zu-
sammenhang im menschlichen Wissen immer mehr ver-
loren zu gehen und werden zunächst nur grosse und
wichtige Resultate für das praktische Leben der Mensch-
heit gewonnen, ohne dass schon dadurch die Gesammt-
Weltauffassung Fortbildung und Veredlung erfährt.
Wenn nun die Frage entsteht, welche Aufgabe denn
die Philosophie nunmehr zu lösen d. h. welche Wahrheit
sie zu gewinnen, welches Object sie für das menschliche Be-
wusstsein zu Wahrheit zu gestalten habe, so scheint es
auf den ersten Blick, als ob für sie mitten unter dieser
Fülle moderner Wissenschaften kein Objekt zu erforschen
übrig bliebe, als ob sie keine ihr eigenthümliche Aufgabe
mehr zu lösen habe, keine besondere Art von Wahrheit
zu gewinnen vermöchte, wodurch ihre Berechtigung und
ihr Dasein oder Fortexistiren gesichert sein könnte. Denn
air diese Wissenschaften, die allerdings ursprünglich aus
dem philosophischen Forschen hervorgingen, haben sich
nach und nach von ihr getrennt, sind nun nicht mehr
philosophische Wissenschaften und wollen diess auch gar
nicht mehr sein. Andererseits aber hat es den Anschein,
dass sie den ganzen Inhalt des Daseins, des sinnlichen
wie geistigen, erschöpfen, und dass für eine Philosophie
kaum noch etwas übrig bleibe, um es als Gegenstand
der Forschung im Intellecte zu Wahrheit zu gestalten.
Weder die Natur noch das Menschendasein scheinen Der-
gleichen zu bieten; denn die Wissenschaften der Natur
und des geschichtUchen Lebens haben sich in diese Ge-
biete getheilt und scheinen nichts davon für Philosophie
übrig zu lassen. Ueberdiess: wie die Erde und das Ir-
dische ihr entzogen scheint, so auch selbst der Himmel,
das üneniiliche und Göttliche, da die sog. positive Re-
ligion und deren Wissenschaft, die Theologie, dieses für
sich in Anspruch nehmen. Und zwar in so ausschliess-
die Philosophie als Wissenschaftslehre. 9
lieber Weise, dass der natürlichen Wissenschaft überhaupt,
sonach auch der Philosophie geradezu alle Befähigung und
also auch alles Recht abgesprochen wird , dieses Gebiet
als Gegenstand der Forschung und Erkenntniss in An-
spruch zu nehmen, — da man sich dieser Wahrheiten
nur durch den Glauben bemächtigen könne und erst auf
Grund und unter Garantie und Controle von diesem einen
wissenschaftlichen Versuch darüber sich erlauben dürfe.
Für die Philosophie scheint demnach kein Gebiet oder
Gegenstand der Erforschung, übrig zu bleiben und damit
auch das Recht ihrer Fortexistenz erloschen zu sein.
Von den Vertretern der empirischen, exacten und , ^posi-
tiven" Wissenschaften wird diess auch oft genug behauptet
und geltend gemacht, um die Philosophie in Misskredit
zu bringen und die Theilnahme für sie zu schwächen
oder zu vernichten. Die einzige Aufgabe, die man ihr
allenfalls noch zugesteht und durch deren Erfüllung sie
ihre Existenz dürftig fortsetzen mag, ist die Erkenntniss-
theorie und Logik zur Vorbereitung und Vorübung für
die eigentlichen Sach- und Fach - Wissenschaften. Zur
blossen Propädeutik soll hiernach die Philosophie herab-
gesetzt werden , nicht mehr eine Weltauffassung aufzu-
stellen versuchen dürfen. Es fehlt sogar nicht an Philo-
sophen, die dieser Beschränkung der Philosophie inso-
fern Zustimmung gewähren als sie dieselbe in der That
als blosse Erkenntniss Wissenschaft oder Wissenschafts-
lehre auffassen und ausbilden wollen , wenn auch immer-
hin in etwas weiterem und tieferem Sinne, als die ,, Po-
sitiven" und ,, Exacten" wünschen.^)
Historisch betrachtet ist allerdings richtig, dass die
P>kenntnisswissenschaft stets als Philosophie oder wenigstens
als philosophische Propädeutik betrachtet, ja zu manchen
^) ,, Entweder muss die Philosophie überhaupt verschwinden,
oder sie muss sich bemühen, Wissenschaftslehre in der wahren
Bedeutung: des Wortes zu sein." W. Wundt Lodk II. ßd. S. 619.
10 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und
Zeiten geradezu in den Vordergrund der philosophischen
Forschung gestellt wurde, so dass das philosophische
Streben sich fast ganz auf sie concentrirte. Es geschah
und geschieht diess immer wieder in Zeiten des Ueber-
gangs, wenn durch skeptische und kritische Selbstbe-
sinnung und Vertiefung etwa eine neue Wendung der
philosophischen Forschung und eine neue Weltauffassung
sich vorbereitete. Schon die vorsokratischen Philosophen
im griechischen Alterthum haben , obwohl sie in so z. s.
dogmatischer Weise ihre Forschung auf das Objective, die
Natur, den Kosmos richteten, um Grundprincip und
Wesen davon zu erkennen, doch auch über das Erkennen
selbst , dessen Eigenart und Bedingungen manche Beob-
achtungen gemacht und Behauptungen aufgestellt. Als
dann durch die Sophisten das Erkenntnissobjekt ganz in
den Hintergrund gedrängt oder geradezu geleugnet und
das Subject der Erkenntniss, der denkende, urtheilende
subjective Geist in den Vordergrund gestellt oder sogar
allein geltend gemacht wurde, da war Veranlassung
gegeben, die Forschung nun, statt auf die äussere
Natur, auf den Geist des Menschen selbst, auf das
innere und geistige Leben desselben, dessen intellec-
tuelle und ethische Bethätigung zu richten. Von So-
k rat es geschah diess, wie bekannt, zwar zunächst in
Bezug auf das Wesen des Ethischen, indem er zu be-
stimmen sachte, was denn das wahrhaft Gute, die sitt-
liche Aufgabe des Menschen sei und wodurch jenes
am sichersten realisirt werden könne. Da er aber das
Wissen in ein ganz unmittelbares Causalverhältniss zur
Tugend, zur Realisirung des Ethischen brachte und es
sich ihm insoferne auch um das rechte Wissen oder Er-
kennen handelte, musste auch diesem die Untersuchung
zugewendet und die richtige Art derselben in Induction
und Dialektik gesucht und geübt werden. Von da
an blieb auch das erkennende Subjekt, die Erkennt-
die Philosophie als Wissenschaftslehre. H
nissthätigkeit und die Methode der Untersachüng Gegen-
stand philosophischer Forschung. Piaton übte die Dia-
lektik, allerdings nicht blos als formale Doctrin , sondern
in ernstem Streben nach Erkenntniss des wahren Wesens
der Dinge, Aristoteles aber bildete endlich geradezu
eine eingehende Theorie des Denkens, Erkenntnisstheorie,
Logik und selbst auch Methodenlehre aus, die zusammen als
ein Theil seiner Philosophie gelten. Den nacharistotelischen
Philosophen, insbesondere den Stoikern, galt allerdings die
Logik nur ^^Is Vorbereitungs-DiscipHn, als Organon des
philosophischen Forschens (Instrumentalphilosophie) und
nur Metaphysik (Physik) und Ethik als eigentliche Philo-
sophie; aber sie war immerhin für den Philosophen ein
nothwendiges Bildungsmittel. Auch die Skeptiker, welche
die Möglichkeit oder Zuverlässigkeit menschlicher Er-
kenntniss verneinten oder wenigstens derselben sehr enge
Schranken zogen , galten trotz dieser Leugnung philo-
sophischer Erkenntniss und eben wegen dieser negativen
Erkenntnisstheorie dennoch für Philosophen und haben
ilire Stelle in der Geschichte der Philosophie erhalten.
In der sog. christlichen und scholastischen Philosophie
wurde die Erkenntnisslehre nicht mit besonderem Eifer
weiter gebildet. Man sprach der menschlichen Vernunft
zu Gunsten des Glaubens nur beschränkte Wissensfähig-
keit und Forschungsberechtigung zu, nur so viel nämlich,
dass sie dem Glauben nützliche Dienste sollte leisten
können. Man wies also zwar den Skepticismus zurück,
Aveil durch diesen die Thätigkeit der Vernunft alle Zuver-
lässigkeit verloren und auch dem Glauben nicht mehr
hätte Dienste leisten können, aber man sprach ihr die
Fähigkeit und Berechtigung selbstständiger Forschung und
Erkenntniss in Bezug auf die höchsten Wahrheiten ab,
oder gab wenigstens keine Weiterforschung über das hinaus
zu, was die alte Philosophie, insbesondere Aristoteles im
Erkennen erreicht hatte. Es bedurfte keiner angestrengten
12 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und
Forschung auf dem erkenntnisstheoretischen Gebiete, weil
Glaube und Auctorität die sichere Führung der Vernunft-
thätigkeit gewähren zu können behaupteten. — Als im
Beginne der neueren Zeit die Philosophie sich im Gegen-
satz zu der kirchlich dienstbaren Scholastik wieder selbst-
ständig zu machen strebte, war es natürlich, dass nun die
Erkenntnisswissenschaft für die Philosophen besonders
wichtig w^urdo und in den Vordergrund trat. Kraft,
Thätigkeits weise und Recht des menschlichen Erkenntniss-
vermögens nmssten ja geprüft werden. B a c o n von Verulam
bildete der scholastisch -aristotelischen Logik gegenüber
ein neues Organon aus und suchte vor Allem zu zeigen,
wie neue Erkenntnisse gewonnen werden können durch
empirische Forschung und inductive Methode. Auch
Cartesius begann seine philosophische Forschung mit
methodologischen Untersuchungen und mit Feststellung
eines sicheren Punktes, auf dem das Gebäude mensch-
licher Erkenntniss fest gegründet werden könnte. Locke's
Hauptwerk ist der Untersuchung des menschlichen Ver-
standes gewidmet, sowie auch Leibniz' grösstes und
bedeutendstes philosophisches Werk von der menschlichen
Erkenntnisskraft und Thätigkeit handelt. Demselben Ge-
genstande widmete H um e hauptsächlich seine philosophisch-
kritische und skeptische Forschung und endlich Kant 's
epochemachendes Werk ,,die Kritik der reinen Vernunft''
hat sich ja die Aufgabe gestellt, das menschliche Er-
kenntnissvermögen in seiner ursprünglichen Kraft oder
Anlage zu prüfen , die Art seiner Bethätigung zu er-
forschen und die Gränzen der Erkenntniss desselben zu
bestimmen. Auch der nach kantischen Philosophie galt
die Erkenntnisswissenschaft stets als ein besonders wich-
tiger Gegenstand der Untersuchung; ja die Wissenschafts-
lehre Fichte 's wie die Logik Hegel's sollten geradezu
auch den Inhalt des Erkennens zugleich mit der Form
desselben produciren , also insoferne gewissermassen
schöpferisch und Real -Wissenschaft sein.
die Philosophie als Wissenschaftslehre. 13
Vom Standpunkte der historischen Betrachtung aus
kann also gar kein Zweifel darüber sein , dass die Er-
kenntnisswissenschaft , Logik und Wissenschaftslehre als
Philosophie zu gelten den Anspruch erheben könne.
Andererseits aber ist ebenso unbestreitbar, dass, historisch
betrachtet, die Wissenschaft von der menschhchen Er-
kenntniss keineswegs das Recht habe, sich allein und
ausschliesslich als Philosophie geltend zu machen, da vom
Anfang des Philosophirens an durch alle Zeiten hindurch
die Gewinnung einer bestimmten Welterklärung, die
Forschung nach dem Wesen und dem letzten Grunde
des Daseins, sowie nach dem letzten Ziele und den idealen
Aufgaben der Menschheit den wesenthchen Inhalt der
Philosopliie bildete. Und das Beste und Höchste, was
die Menschheit bisher errungen hat, ging aus diesem
Streben hervor. So sehr war diess das philosophische
Hauptstreben, dass die Erkenntniss Wissenschaft selbst nur
Ausbildung fand um dieser Hauptaufgabe willen, d. h.
um diese um so sicherer, vollkommener lösen zu können ;
— so dass sie, wie auch andere Erkenntnisse, z. B. natur-
wissenschaftliche, gleichsam nur als Nebengewinn aus der
Verfolgung des Hauptzieles hervorging. In ähnlicher Weise,
wie etwa in der modernen Naturwissenschaft die Erfindung
von allerlei wissenschaftlichen Hilfsmitteln, Instrumenten zur
Forschung u. dgl. aus der sachlichen Untersuchung gleich-
sam als Nebengewinn sich ergab. Die eigentliche Philoso-
phie begann damit, dass nach dem Grundprincip alles Wer-
dens und Gestaltens in der Natur geforscht wurde. Aristo-
teles^) bezeichnet als den Ersten, der solches gethan,
den Thaies und lässt darum mit ihm die eigentliche
Philosophie beginnen. Mannichfache Versuche wurden
schon vor Sokrates gemacht, um das wirkende, bildende
Princip (ap/vj) der Welt (zöa[ioc) zu bestimmen, oder um
^) Metaph. I, 3.
14 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und
das wahre Wesen (ovto)? ov) des Daseins zu erkennen.
Und wie unvollkommen die Versuche und deren Resultate
auch noch sein mochten, sie zeigen doch einen allmählichen
Fortschritt schon insofern, als man, mit dem Aeusserlichen,
Stofflichen beginnend, zuletzt zu einem geistigen, vernünf-
tigen Grundprincip gelangte ; sowie man andererseits durch
Unterscheidung des wahrhaften, beharrenden Wesens von
den vergänglichen Erscheinungen lernte, sich über diese
zu erheben und Wahrheit und flüchtigen Schein von
einander zu unterscheiden und richtig abzuschätzen. Er-
kenntnisstheoretische und naturwissenschaftUche Kenntnisse
mancherlei Art gingen, wie bemerkt, nebenbei aus diesem
Streben, ein höchstes Ziel bezüglich der Welterkenntniss
zu erreichen, hervor; Kenntnisse, die man bei dem
blossen Bemühen um Kenntniss des Nächstliegenden für
blos praktische Zwecke des täglichen Lebens, nicht er-
reicht hätte, weil der forschende Geist nicht genug An-
regung von solch' banausischen Aufgaben erhalten hätte,
um auch nur dieses Geringe leisten zu können. Denn
der Menschengeist muss sich hohe, höchste Aufgaben
stellen, um seine Kraft zu üben und sie auch für ge-
ringere Leistungen zu befähigen. Wenn Positivisten und
Empiriker ihr Bedauern darüber aussprechen, dass die
hervorragenden Geister bei den Griechen und auch bei
den anderen Culturvölkern ihre Kraft an so unmöglich
zu lösende metaphysische Aufgaben, die doch nur als
chimärische betrachtet werden könnten , verschwendet
haben, so ist diese Auffassung ebenso kurzsichtig wie der
Tadel ungerecht. Ohne hohe und höchste Aufgaben wird
die menschliche Geisteskraft nicht genug angeregt, nicht
zu grossen Anstrengungen und Leistungen veranlasst,
und wird auch kleinere Resultate und Erfolge nicht erzielen,
insbesondere aber sich nicht durch Uebung stärken und
erhöhen. Wie instinctiv haben daher schon frühe Völker,
die sich zur Kultur emporrangen, grosse, ans abentheuer-
die Philosophie als Wissenschaftslehre. 15
lieh erscheinende Unternehmungen, insbesondere kolossale
Bauten ausgeführt, dadurch ihre Kraft gebildet und Kennt-
nisse und Fertigkeiten verschiedener Art errungen. Denken
wir uns zwei noch ungebildete, auf gleicher Stufe stehende
Völkerschaften, deren eine nun durch einen ingeniösen,
unternehmenden Mann zU einem grossen, wenn auch aben-
theuerlichen ßauunternehmen , etwa einen babylonischen
Thurmbau veranlasst wird , während die andere dagegen
bei ihrer gewöhnliclien , nur auf das Nothdürftigste ge-
richteten Thätigkeit und Lebensweise verharrt, — so ist
sicher, dass die erstere sich dadurch, wenn sie auch schliess-
lich von ihrem Unternehmen als einem unausführbaren
abstehen muss, fortgebildet und in allen Beziehungen zur
Ueberlegenheit über die andere emporgearbeitet haben
wird. Das grosse Unternehmen übt nämlich den Geist
und veranlasst die Concentration seiner Kräfte zur Er-
findung von mancherlei Hülfs mittein , Werkzeugen und
Verfahrensweisen, so dass auch das gewöhnliche Leben
und Wirken davon mannichfache Förderung erfährt und
alle Verhältnisse in dem ganzen Volke sich bessern. Die
andere Völkerschaft, die nichts dergleichen unternahm
und die erstere vielleicht um ihres nutzlosen und mühe-
vollen Unternehmens willen verspottete, sich selbst unter-
dess der trägen Ruhe und der althergebrachten Gewohn-
heit überlassend, wird schliesslich als untergeordnete er-
scheinen und auch in den gewöhnlichen Kenntnissen und
Fertigkeiten des Lebens nicht vorwärts gekommen sein.
So ist es auch im Gebiete der philosophischen Forschung
und Wissenschaft. Schon die ersten griechischen Philo-
sophen stellten sich ein hohes, ja das höchste Ziel der
Forschung ; sie wollten das Grundprincip und Wesen des
Daseins erkennen. War dieses Ziel auch unmöglich zu
erreichen, so wurden sie doch bei ihrem hohen Streben
veranlasst, die Natur der Dinge nach verschiedenen Seiten
hin zu erforschen, um ihre Auffassung so viel als mög-
16 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgeraeinen und
lieh zu begründen, und es bildeten sich so aus dem philo-
sophischen Streben die Anfänge der Naturwissenschaft.
Auch der Erkenntnisskraft- und -Thätigkeit ward bald die
Aufmerksamkeit zugewendet, wenn auch noch, wie er-
wähnt, in untergeordneter Weise. Die Erkenntniss-
wissenschaft erhielt so ebenfalls ihren ersten Impuls und
Anfang durch jenes Streben nach Erkenntniss des Urprin-
cips und Wesens des Daseins, das als das eigentHch philo-
sophische betrachtet wurde. Es ist nicht abzusehen,
warum man nun diesem Streben, das vou Anfang an für
Philosophie galt, für den Mittelpunkt uncf- das Hauptziel
des philosophischen Forschens, — nun diesen Charakter
absprechen soll! Nicht minder wird wohl auch Sokrates
noch fernerhin als Philosoph gelten dürfen, obwohl er
nicht nach Ausbildung einer Wissenschaftslehre strebte,
sondern den Begriff des Guten, das Wesen der Tugend
festzustellen suchte. Piaton und Aristoteles haben
allerdings der Erkenntnisswissenschaft, dem Ursprung und
Wesen, sowie der Methode der Erkenntniss ihre Forschung
zugewendet und insbesondere Aristoteles in umfassender,
für die folgenden Jahrhunderte massgebender Weise die
Lehre vom Denken und Wissen ausgebildet. Gleichwohl
ist es nicht diese Leistung um derentwillen beide als die
grössten , erhabensten Philosophen der Griechen galten
und noch zu gelten haben, sondern ihre Forschung nach
dem Grund und dem wahren Wesen des Daseins nach
dem wahrhaft Seienden und Idealen, wodurch sie auf die
Bildung und Veredlung der kommenden Geschlechter
wirkten und die höchsten Förderer des geistigen Lebens
der Menschheit w^urden. Sie werden wohl auch in Zu-
kunft hauptsächlich um dieser metaphysischen Leistungen
willen als Philosophen zu betrachten sein ! Wenden wir
uns zur neueren Zeit, so müssten nach der neuesten
Auffassung der Philosophie, wie sie von Seite der Posi-
tivisten und ihrer Nachahmer beliebt wird , manche der
die Philosophie als Wissenschaftslehre. 17
bedeutendsten Philosophen oder wenigstens gerade deren
bedeutendsten Leistungen aus dem Gebiete der Philosophie
ausgeschlossen werden. So vor Allera, um von Andern
zu schweigen, Spinoza, und bezüghch seiner metaphy-
sischen Leistungen selbst Leibniz. Von Kant wird
man annehmen müssen, dass zwar seine „Kritik der reinen
Vernunft" eine philosophische Leistung sei, aber nicht
mehr seine Kritiken der praktischen Vernunft und der
Urtheilskraft. Er muss also als ein Abtrünniger von sich
selbst betrachtet werden, als solcher, der durch seine gross-
artigste philosophische Leistung zuletzt nichts weiter
erreichte, als diess , dass er selbst von der wahren Philo-
sophie abfiel, oder trotzdem selbst nicht mehr wusste,
was Philosophie sei! Fichte allerdings nannte sein
Hauptwerk ,, Wissenschaftslehre", aber, wie bekannt, nicht
im gewöhnlichen und modernen Sinne, sondern sie sollte
als Darstellung des entschiedensten Idealismus mit der
wissenschaftlichen Methode zugleich Grund und Wesen
des Daseins lehren und dieses aus einem Grundprinzip
ableiten und verstehen, — wie solches von Anfang des
philosophischen Strebens an versucht wurde von Thaies
wie von Heraklit, von Empedokles wie von Anax-
agoras u. A. Schelling und Hegel endhch würden
ebenso aus der Liste der Philosophen zu streichen
sein, wenn Logik und Wissenschaftslehre (im gewöhn-
lichen Sinne) darauf Anspruch hätten, allein für Philo-
sophie zu gelten. Sie müssten in diesem Falle wenigstens
zu den unächten, vermeinthchen Philosophen gezählt
werden, die das für Philosophie hielten und ihre Geistes-
kraft daran wendeten, was in der That gar nicht
Philosophie ist, was vielmehr durchaus als unwissen-
schaftliches und unphilosophisches Treiben zu betrach-
ten seil
Wir können uns solcher Ansicht nicht anschliessen
und betrachten solche Beschränkung der Philosophie auf
Frohschammer, Die Philosophie. 2
18 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und
blosse Wissenschaftslehre oder Erkenntiiisswissenschaft als
unberechtigte Verkümmerung und Herabsetzung derselben.
Blosse Wissenschaftslehre im Sinne von Logik und wissen-
schaftlicher Methodenlehre ist ein zu dürftiges Gebiet,
wenn sie nicht mit der philosophischen Prinzipienlehre
in Verbindung gebracht wird. Geschieht aber dieses,
dann wird sie immer wieder einen metaphysischen Grund
erhalten, den man so sehr als ,,unwissenschafthch" ver-
meiden will. Wird solches durchaus vermieden, dann wird
eine blosse Propädeutik zu Stande kommen, zur blossen
Vorübung und Einleitung in die Wissenschaften dienend.
Als Führerin oder Gesetzgeberin dieser Wissenschaften
wird sich dieselbe nicht geltend machen können, wie man
diess wohl wünscht und anstrebt, denn sie kann nur ganz
im Allgemeinen Bedingungen, Gesetze und Methoden des
Denkens und Forschens zur Darstellung und Geltung
bringen für die andern Wissenschaften, wird aber nicht
deren eigenthümliche Grundsätze und Verfahrungs weisen
bestimmen können. Diese werden eben nicht durch all-
gemeine Erörterungen , sondern weit mehr durch wirk-
liche, sachliche Forschung gewonnen; daher werden die
besonderen Wissenschaften nicht geneigt sein, sich von
der Philosophie als Wissenschaftslehre specielle Vor-
schriften geben zu lassen durch solche, welche ihr Special-
gebiet gar nicht näher durch selbständige Forschung
kennen. Will aber diese Wissenschaftslehre sich der
selbstständigen Forschung begeben und Grundsätze, Me-
thoden und Resultate aller anderen Wissenschaften zu-
sammenstellen , so wird sie von blossen Anlehen sich
mühsam zusammensetzen und ein vollständig unselbst-
ständiges Dasein führen. In diesem Falle ist gar kein Grund
vorhanden, ein so zusammengetragenes Ganzes als Philo-
sophie zu bezeichnen. Wollte sich diese Wissenschafts-
lehre etwa beikommen lassen, die einzelnen Wissenschaf-
ten in ihren Grundsätzen, Methoden und Resultaten einer
die Philosophie als Wissenschaftslehre. 19
Kritik zu unterwerfen , so würde man sich sicher auch
diese nicht gefallen lassen und es würde derselben ohne
Zweifel von den andern Wissenschaften bedeutet werden,
dass sie selbst am besten im Stande seien, ihre For-
schungen und Resultate kritisch zu betrachten und zu
verbessern. Die Kritik der Erkenntnissorgane selbst, ihrer
Kräfte, Eigenart und Tragweite lässt sich auch in der
That nicht wohl a priori und in abstracter Weise vor-
nehmen, getrennt von den Gegenständen der Forschung,
sondern am besten bei der sachlichen Forschung selbst,
ist also wiederum am sichersten von den einzelnen
Wissenschaften in ihren besonderen Gebieten zu leisten,
nicht von einer ganz eigenen, unabhängigen Wissenschaft
als Lehre der Wissenschaft. Diese bliebe also nur eine
Vorbereitung für Anfänger. Eine wirklich tiefere Erfor-
schung der Erkenntniss-Organe , sowie der Quellen , der
Sicherheit und Öbjectivität der menschlichen Erkenntniss
gehört aber in das Gebiet der Psychologie und der Natur-
philosophie (soweit diese die Genesis der menschlichen
Natur selbst zu erforschen hat mit ihren Kräften und
äusseren wie inneren Bewusstseinsorganen) und der meta-
physischen Untersuchung über Grundprincip und Wesen
des Daseins überhaupt. Damit aber müssen wir, um nur
die Erkenntnisswissenschaft zu einer wirkhch philoso-
phischen zu erheben, dieselbe auf metaphysische Grund-
lage stützen und nait metaphysischem Geist durchdringen.
Wenn Kant von der Naturforschung behauptet, dass
sie so viel Wissenschaft in sich fasse, als sie Mathematik
enthalte, so lässt sich mit gleichem, ja mit mehr Recht
behaupten, dass die Erkeuntnisswissenschaft so viel wirk-
liche Philosophie in sich schUesse, als sie Metaphysik
(im weiteren Sinne genommen) in sich enthalte.
2*
20 II- Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit
II.
Die Philosophie als Wissenschaft von der
Wahrheit im Sinne von Idealität.
"Wenn wir der Erkenntnissvvissenschaft auch ihr histo-
risch begründetes E-echt auf die Bezeichnung ,, Philosophie"
zugestehen, so ist doch kein genügender Grund vorhanden,
dieselbe, auch wenn sie eine bestimmtere Form als ,, Wissen-
schaftslehre" annimmt, allein für Philosophie zu erklären,
damit allen metaphysischen, ethischen, ästhetischen und
religionsphilosophischen Forschungen den Charakter der
Philosophie absprechend. Wir haben vielmehr sowohl ein
historisch begründetes, als in dem Wesen der Sache selbst
Hegendes Recht, auch diese Forschungen als Philosophie,
und zwar in eminentem Sinne, zu bezeichnen. Sowohl
die Erforschung des ewigen und idealen Wesens der Dinge,
als auch des bildenden Grundprincips des Weltprocesses
hat uns als die Hauptaufgabe der Philosophie zu gelten.
Allerdings ist, unsers Erachtens, beides in etwas anderer, ja
vielfach modificirter Weise aufzufassen, als es bisher geschah,
wie diess stets das Recht der in geschichtlicher Entwicklung
begriffenen Geistesthätigkeit war, und jede folgende philoso-
phische Weltauffassung, bei aller Gleichheit des Problems und
der Aufgabe, in Anspruch genommen hat. Als das Wesen
des Daseins, das die Philosophie zu erforschen hat, be-
trachten wir die ewige und ideale Wahrheit, nicht die
gewöhnliche WirkHchkeit als solche, und als das Grund-
princip des Weltprocesses wird die Phantasie geltend gemacht.
Um beides näher zu erklären und zu begründen
müssen wir noch einmal auf die Wahrheit zurückkommen,
um sie noch näher nach Wesen und Art zu untersuchen.
Wir sahen oben, dass Wahrheit durch den erkennenden
im Sinne von Idealität. 21
Geist unter Vermittlung der Erkenntnisfeorgane, der Sinne
und des Verstandes, zu Stande kommt, und dass diess
durch Uebereinstimmung des Denkens (oder Bewusstseins
überhaupt) mit dem gedachten oder vorgestellten (oder
auch angeschauten d. h. unmittelbar durch die Sinne
wahrgenommenen) Gegenstande oder Inhalt des Erkenn tniss-
actes geschieht. Die Wahrheit besteht insoferne in der
Nachbildung oder Reproduction des Erkenntnissobjectes
im Geiste, während dieses selbst als solches in seiner
Objectivität, in seinem realen Sein mit seiner Eigenart
beharrt. Unter den Begriff ,, Wahrheit", wird jegliches
Erkannte, wie verschieden und eigenartig es auch sein
mag in seinem objectiven Sein, subsumirt: das Sinnliche wie
das Geistige, das Uebereinstimmende wie das Entgegenge-
setzte, selbst das Unwahre, Lügenhafte, wenn es Erkenntniss-
gegenstand wird. Nun aber ist zu erwägen, ob denn diese im
Geiste producirte Wahrheit, diese Uebereinstimmung, dieses
mit dem Objecte übereinstimmende Bild oder dieser Gedanke
wirklich das sei, was die Forschung, die Erkenntnissthätigkeit
als Ziel anstrebt, entweder aus rein theoretischem Interesse
oder auch, um die erlangte Erkenntniss (Wahrheit) etwa
praktisch zu verwerthen. Da zeigt es sich nun, dass
diese Wahrheit (durch den Tntellect) nicht der eigent-
liche Gegenstand oder das Ziel der Forschung ist, sondern
eben nur das Mittel, die Weise des Erkennens, um den
Gegenstand (der ausser dem Erkenntnissacte und dem
erkennenden Geiste zu verharren pflegt) richtig aufzu-
fassen, zu beurtheilen und ihn (den Gegenstand selber,
nicht etwa blos den Gedanken oder die Vorstellung davon)
praktisch für bestimmte Lebenszwecke zu verwenden. Die
Wahrheit als das übereinstimmende Denken (der Gedanke)
ist nur das Mittel der Erkenntniss, nicht das (objective)
Erkannte, ist nur Wahrheit der Erkenntniss, nicht Er-
kenntniss der Wahrheit, ist nur erkennende Wahrheit,
nicht erkannte Wahrheit ] d. h. bezieht sich nicht auf das
22 II- Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit
Object der Erkenn tniss, wie es an sich besteht, sondern
auf das Subjectresp. dessen Erkenntnissact, und ist insofern
ein Act und eine Eigenschaft des denkenden Intellects.
Bei der wissenschaftlichen Forschung, z. B. im Ge-
biete der Natur oder der Geschichte, handelt es sich aber
nicht um diese Erkenntnisswahrheit als Mittel der wahren
Erkenntniss, sondern um das Object derselben als das
anzustrebende Ziel. Die natürUchen Dinge und ihre Be-
schaffenheit, die geschieh tUchen Ereignisse, wie sie wirk-
lich stattgefunden, sowie deren Ursachen und Wirkungen
sind es, um was es sich dabei handelt. Diese sind an
sich allerdings nicht Wahrheit, sondern ein Dasein
und ein Geschehen, das allenfalls sogar unwahr, Lüge
sein kann, ohne desshalb aufzuhören, richtige Erkenntniss
und also im Bewusstsein Wahrheit (wahre Erkenntniss)
zu sein. Insoferne nun aber die Erkenntnissobjecte, die
Dinge , Verhältnisse und Gesetze der Natur , die Ereig-
nisse, Personen, wirkenden Motive der Geschichte durch
Erforschung für das Denken und Vorstellen , für die
Erkenntniss, also im erkennenden Geiste zu ,,Wahrheit''
werden, wird diese Bezeichnung, dieser Begriff auf sie, als
Objecte, selbst übertragen, und diese werden insoferne als
objective Wahrheit bezeichnet. Und sie in der That sind
als Ziel gemeint, wenn von Erforschung der Wahrheit
die Rede ist, da die formale Wahrheit, die Ueberein-
stimmung des Denkens mit dem Gedachten nur das
Mittel ist, sich der realen, objectiven Wahrheit, d. h. des
Erkennntissobjectes selbst zu vergewissern für theoretische
oder praktische Zwecke. Wie sehr man auch betonen
mochte, dass die Wahrheit nur im Intellecte und durch
ihn sei, man hat doch stets nicht umhin gekonnt, auch
das objectiv Seiende selbst als Wahrheit geltend zu machen.
Schon indem man in der griechischen Philosophie wahrhaft
Seiendes (övto)? ov) von nur scheinbar Seiendem unter-
schied, galt diess dem Objectiven, nicht der in den den-
im Sinne von Idealität. 2»^
kenden Geist stattfindenden Aufnahme, da beides durch diese
Aufnahme in gleicher Weise zu Wahrheit (in formalem
Sinne) wurde. Augustinus sagt geradezu : Verum est id quod
est, und in der Scholastik formulirte man die aristotelische
Lehre (wie diess z. B. Thomas v. Aquin thut) dahin:
,,Veritas invenitur in intellectu secundum quod apprehendit
rem ut est, et in re secundum quod habet esse confor-
mabile intellectui. " ^)
Diese objective Wahrheit d. h. die Wahrheit als
Erkenntnissgegenstand, ist aber selbst von verschiedener
Art, und zwar nicht bloss dem Gegenstande nach, welcher
der Natur oder Geschichte, dem sinnlichen oder geistigen
Dasein angehören kann, — sondern von verschiedener
Art als Wahrheit; so zwar, dass ein und derselbe Gegen-
stand Wahrheit in zwei verschiedenen Bedeutungen zu sein
vermag, — abgesehen von seiner Existenz im erkennenden
Geiste, durch die er ursprünglich und formal zu Wahrheit
geworden ist. Ein Object der Erkenntniss kann nämlich als
solches zugleich als Wahrheit im Sinne von Wirklichkeit
oder ThatsächHchkeit, und als Wahrheit im Sinne von Idee-
gemässheit oder Vollkommenheit erkannt werden. Ein
historisches Ereigniss z. B. kann an sich Lug und Trug
sein und doch historische Wahrheit werden, wenn es so
erkannt, im erkennenden Geiste reproducirt wird, wie es
in Wirkhchkeit stattgefunden hat; was als objective That-
sache Lug und Trug ist, wird für die Erkenntniss zu
Wahrheit, weil sie so ins Bewusstsein aufgenommen ist,
wie sie wirklich stattgefunden hat, also Gedanke und
Thatsache übereinstimmen. Würde das, was thatsächlich
Lug und Trug war, nicht als diess erkannt, sondern
für ein ehrliches, aufrichtiges, wahres Geschehen oder
Verhalten angesehen, so würde diess ein historischer Irr-
thum sein, — während die erkannte Lüge historische
^) Vgl. des Verf. W. Die Phantasie als Grund princip
des Weltprocesses. S. 40 ff.
24 II- Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit
Wahrheit d. h. Wahrheit für das geschichtliche Erkennen
ist. Aber eben indem der Historiker erkennt, dass Lug
und Trug stattgefunden habe, und dass diess die ge-
schichtUche Wahrheit sei, fallt er darüber noch ein an-
deres Urtheil als das blos historische, ein ideales, ethisches
nämUch, die reale Thatsache am idealen Masstab messend
und beurtheilend. Oder wenn z. ß. über zwei Kunst-
werke, etwa Gemälde, berichtet werden soll, von denen
das Eine gut ist, ein wahres Kunstwerk, das andere nicht,
so werden zwar beide als wirkHche, thatsächUche Gemälde
betrachtet, die Kategorie Sein oder Thatsächlichkeit wird
auf beide Werke angewendet, also Wahrheit im Sinne von
Thatsächlichkeit oder objectiver Wirklichkeit wird von
beiden ausgesagt ; dem einen aber wird auch noch Wahr-
heit im Sinne von Ideegemässheit d. h. von künstlerischer
und ästhetischer Vollkommenheit zugeschrieben, dem andern
aber nicht, — obwohl man ihm Thatsächlichkeit oder
das Gemäldesein nicht abspricht. Bei allen menschlichen
Handlungen findet dasselbe statt. Sie werden nicht blos
nach ihrer Wirklichkeit oder Thatsächlichkeit erkannt und
beurtheilt, sondern auch nach ihrem idealen resp. ethischen
Werthe, also in ihrer Wahrheit im Sinne von Ideegemäss-
heit. Selbst in der Naturforschung müssen diese beiden
Arten von objectiver Wahrheit von einander unterschieden
werden. Der Physiker, welcher die Tonverhältnisse phy-
sikalisch untersucht, erkennt als solcher nur das that-
sächliche äussere Geschehen, nicht aber die ästhetische Be-
deutung derselben; als ästhetisch fühlender oder sogar
musikalisch gebildeter Mann aber wird er den ästhetischen,
idealen Werth, die Bedeutung der Tone und Tonverhältnisse,
also die ideale Wahrheit derselben beachten und wür-
digen. In gleicher Weise erforscht der Chemiker als
solcher, nur die Stoffe, ihr Verhalten zu einander und die
Qualitäten ihrer Verbindungen, also die Wahrheit im
Sinne von Thatsächlichkeit; und es ist ihm als solchem
im Sinne von Idealität. 25
gleichgültig, ob diese Stoffe, Verhältnisse und Wirkungen
in der Fäulniss sich zeigen oder in einem Kunstwerk,
oder in einem Natur-Schönen. Als Mensch aber wird er
der idealen Seite seiner Natur gemäss die ersteren anders
auffassen oder werthschätzen als die anderen; jene als
blosse Wirklichkeit, ohne Ideegemässheit , ja als Idee-,
Geist- und Lebens -Widriges, diese aber als Realisirung
und Offenbarung des das Dasein als Norm und Ziel
durchwaltenden Idealen.^)
Betrachten wir die Wahrheit im Sinne von objectiver
Wirklichkeit, so können wir an derselben selbst gleichsam
Stufen oder Grade wahrnehmen, je nachdem es sich blos
um Einzelnes und um flüchtige Erscheinungen, oder um
Allgemeines und (mehr) Wesenhaftes handelt; dann, ob
um besondere Ursachen und Gesetze für einzelne Ge-
biete, oder um allgemein in der Natur gültige Ursäch-
lichkeit und Gesetzmässigkeit, oder endhch um das
unbedingt Geltende und Nothwendige, Nicht-Nichtsein-
Könnende und Nicht-Andersseinkönnende für jegliches
Sein und Wirken überhaupt. Als Wahrheit im objectiven
Sinne, und zwar im Sinne von Wirklichkeit muss all diess
gelten, und es war diess Alles im Laufe der Zeiten mehr
oder minder der bevorzugte Gegenstand auch der wissen-
schaftlichen Forschung. Zunächst bietet sich natürHch
das Einzelne, Besondere, den Sinnen unmittelbar Gegen-
wärtige dar zur Aufnahme in das Bewusstsein und zu einer
wenn auch nur empirischen Erkenntniss oder vielmehr
Kenntnissnahme. Die Philosophie selbst fing damit an,
aber allerdings nicht, um dabei stehen zu bleiben, sondern
darüber hinaus zu einem Allgemeinen, Beharrenden oder
Wesenhaften zu gelangen. Schon bei den griechischen
Philosophen entstund bald Misstrauen in die Sinne und
^) Vgl. d. Verf. Schrift: Ueber die Aufgabe der iSatur-
philosophie und ihr Verhältniss zur Naturwissen-
schaft. München, 1861 S. 21 ff.
26 il- Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit
sie ermalmten, vielmehr dem Denken zu vertrauen, da
nur dieses das wahre Wesen, das Beharrliche in dem be-
ständig wechselnden Geschehen zu erkennen und im Be-
griffe zu fixiren vermöge. Begriffe gelten daher hauptsächlich
als Ausdruck der Wahrheit, und Aufgabe der Philosophie
war es, ,,was in schwankender Erscheinung schwebt, zu be-
festigen in dauernden Gedanken." Die Platonische Lehre von
denideenund die Aristotelische Annahme von Wesensformen
gingen aus diesem Streben hervor. Auch in der neueren Zeit
hat die Philosophie Systeme aus abstracten Begriffen aufge-
baut in der Voraussetzung, damit das Wesen und die
Wahrheit des Daseins zu erfassen und darzustellen. Die
inductive, empirische Wissenschaft dagegen, insbesondere
die Naturwissenschaft, verhielt sich ablehnend gegen
dieses Verfahren und forschte nicht mehr nach dem allge-
meinen, abstracten Wesen, sondern nach den Ursachen und
den gesetzlichen Verhältnissen der Erscheinungen. Die
Wahrheit, welche die Forschung zu erkennen habe, erblickt
sie in Thatsachen und in Ursache und Gesetz, nicht im
allgemeinen oder gemeinsamen Wesen der Dinge; obwohl
allgemeine Begriffe auch dabei nicht vermieden werden
können; — wie umgekehrt von den alten Philosophen
immerhin auch die Forschung nach der Ursache der Dinge
als philosophische Aufgabe betrachtet wurde. Eine
Forschung, die ja schon dadurch unvermeidlich war, dass
aus ersten Principien erklärt werden sollte. Das allge-
meine Wesen, die Ideen, Formprincipien u. s. w. galten daher
zugleich als wirkende Ursachen. Aber sie wurden abstract
gefasst und die Erscheinungen daraus abgeleitet. — Dieses
Forschen nach Ursache und Gesetz hat wiederum auch
in der Naturforschung Grade, da man auch da bestrebt
ist, immer allgemeinere, sogar wo möglich letzte Ur-
sachen und ein einheitliches Wirken und Gesetz aufzu-
finden, um naturwissenschafthch ebenfalls das Dasein oder
die Natur einheitlich zu erklären. Die Atome in der
im Sinne von Idealität. 27
alten Philosophie und modernen Wissenschaft der Natur,
sowie die Lehre von der Metamorphose und Erhaltung
der Kraft in der letzteren bezeugen diess. Endlich die
unbedingten und nothwendigen Wahrheiten , die den
höchsten Grad der Wahrheit im Sinne von WirkHchkeit
oder Sein darstellen und allem Uebrigen gleichsam das feste
Fundament bilden, sind die Grundgesetze des Denkens
wie des Seins, ist die ewige, unbedingte Möglichkeit und
ThatsächHchkeit, aber auch die ewige rationale Rechtheit,
Rationalität des Seins und Denkens. Auch die Zweck-
mässigkeit, die teleologische, innere Ordnung oder Organi-
sation der Naturdinge, ist eine Art der Wahrheit, und sie
bildet gewissermassen den Uebergang von der Wahrheit als
Sein zur Wahrheit im Sinne von Vollkommensein; d. h.
von Vollkommenheit des Dinges in seiner Art, der Idee dieser
Art gemäss und damit auch der allgemeinen Idee des
Vollkommenseins mehr oder minder entsprechend. — Was
die Wahrheit im Sinne von Ideegemässheit betrifft , deren
Gegensatz das Unvollkommensein ist, wie zur Wahrheit
als Wirklichkeit das Nichtsein den Gegensatz bildet, —
so ist sie thatsächUch im praktischen Leben wie in der
Wissenschaft, insbesondere in der Philosophie allenthalben
geltend gemacht. Aber dennoch ist sie theoretisch in der
Wissenschaft, selbst in der Philosophie, obwohl ganze philoso-
phische Disciplinen, die von Recht, von Sittlichkeit, vom
Schönen und Guten handeln , darauf gegründet sind, —
selten ausdrückUch anerkannt und mit Klarheit und Be-
stimmtheit von der Wahrheit als blosse ThatsächHchkeit
unterschieden. Gibt es doch philosophische Systeme, nach
welchen das Wirkliche als solches schon als das Vernünf-
tige bezeichnet wird , und andere , in welchen diess zwar
nicht ausdrückUch angenommen, doch als ihre Consequenz
unvermeidhch ist. Wo immer von wahr und unwahr,
von Recht und Unrecht, von schön und unschön, gut und
böse, von Seinsollen und Nichtseinsollen die Rede ist, da
28 II. Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit
liegt dem Denken und der Rede diese Unterscheidung
von zwei verschiedenen Wahrheiten (im objectiven Sinne)
zu Grunde. Und wo immer in der Natur eine organische
Entwicklung stattfindet, da wird ein immanentes Ziel ver-
folgt und insofern eine Idee zu realisiren gestrebt d. h.
das Wesen der Art oder Gattung in entsprechender Weise
zu realisiren gesucht. Das Menschendasein vollends ist
durchaus auf den Unterschied von Idee und Wirklichkeit
in seinem höheren Streben, in seinem Thun und Leiden,
Glück und Unglück gegründet. Ueberhaupt, die ganze
Bedeutung des menschlichen Daseins beruht auf diesem
Unterschiede resp. auf der Thatsache, dass ausser der
Wirklichkeit auch Vollkommenheit, Idealität möglich und
thatsächlich ist. Wo ideale (objective) Wahrheit ist, da
ist normales Verhältniss, Gesundheit, Schönheit, Glück,
Friede, Einsicht, sittliches Streben, Tugend, Vollkommen-
heit oder Ringen darnach ; wo ünvollkommenheit ist, da ist
Mangel an Entwicklung, Krankheit, Verkrüppelung, Un-
ruhe, Vernunftlosigkeit, Unwissenheit, Sittenlosigkeit u.
s. w., da ist wohl Wirkhchkeit, aber nicht ideale Wahr-
heit. Auch die Menschengeschichte, die Entwicklung der
Menschheit und der Völker beruht in ihrer Bedeutung
durchaus darauf, dass durch sie die Wahrheit im Sinne
von Ideegemässheit angestrebt und realisirt werde als
Ziel, und darf eben desshalb nicht blos als viel Lärmen
um Nichts aufgefasst werden. Die Arbeit der Geschichte
besteht hiernach darin, Ideen immer mehr zu offenbaren,
zu erkennen und zu reahsiren. Die Geschichte erscheint
daher als Process allmählicher ReaHsirung der Ideale der
Menschheit ; und die Bedeutung und Aufgabe der verschie-
denen Völker beruht wesentlich darauf, an dieser ReaHsirung
je nach ihrer eigen thümlichen Artung and Begabung Theil
zu nehmen. Wo diess noch nicht, oder nicht mehr ge-
schieht, da haben Volksstämme und Völker noch keine
Bedeutung erlangt oder sie wieder verloren, und ihre
im Sinne von Idealität. 29
Existenz erscheint insoferne als zweck- und bedeutungslos,
weil ihnen zwar noch Wirklichkeit, aber kein ideales
Streben mehr eigen ist, wodurch sie sich eine Erfüllung
und Vollkommenheit zu geben vermöchten. Kann doch
selbst der einzelne Mensch nicht leben, wenn ihm blos
noch das Sein, die Existenz geblieben, wenn ihm ge-
nommen ist, worin er seine Erfüllung oder Vollkommenheit
fand oder zu finden glaubte und sich dadurch beglückt
fühlte. Wer das verliert, woran er seine Seele hingegeben
als sein bestes Gut, wodurch sein Sein eine Vollkommen-
heit und Beglückung erhielt, der mag auch das Sein
nicht mehr behaupten und wird dasselbe zu zerstören
suchen. Mit irgend einem Vollkommensein will und muss
der Mensch also sein Sein erfüllen, wenn ihm sein Dasein
beglückt oder doch wenigstens erträglich sein soll.
Somit haben wir nun ausser der menschlichen Er-
kenntniss-Wissenscbaft nocli ein zweites Object für die
philosophische Forschung gefunden, nämlich die Wahr-
heit im Sinne von Ideegemässheit, — während die übrigen
Wissenschaften die Wahrheit im Sinne von Wirklichkeit,
ThatsächHchkeit und Positivität zum Gegenstand der Unter-
suchung und Darstellung haben. Das ganze Dasein, in
welches sich die übrigen Wissenschaften als in ihr Forsch-
ungsobject theilen, ist auch Gegenstand der philosophischen
Erkenntniss. Aber nicht, um dasselbe zu erkennen daran,
wie die übrigen Wissenschaften, nur anders (idem aliter),
etwa durch reines Denken anstatt durch empirisches For-
schen, oder ex principiis anstatt ex datis. Vielmehr hat die
Philosophie Anderes (aliud) an denselben Gegenständen der
verschiedenen Daseinsgebiete zu erkennen, ihre idealen
Momente, die Ideegemässheit oder Ideeniedrigkeit, also die
ideale Wahrheit, nicht die blosse Wirklichkeit oder Thatsäch-
Hchkeit wie die andern Wissenschaften. Diese betrachten es
als ihre Aufgabe, das in der Natur oder Geschichte Gegebene
zu erforschen und darzustellen nach Dasein, Beschaffen-
30 II- I^ie Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit
heit, Wirken u. s. w., ohne sich um ideale Bedeutung
oder Wahrheit derselben zu bekümmern. Die Natur-
wissenschaft insbesondere schliesst die Erklärung aus
Zweckursachen (causae finales) aus, will nur aus sog.
wirkenden Ursachen (causae efficientes) erklären und das con-
stante, gesetzliche Geschehen erforschen. Von ihrem Stand-
punkt aus mit Recht, wenn sienicht darauf Anspruch macht,
eine ganze WeltaufFassung auf diesem Wege zu gewännen
und jede ideale Anschauung auszuschliessen. — Der Ge-
schichtsforscher will nur die historischen Thatsachen in
ihrem Zusammenhang, deren Ursachen und Wirkungen
genau erkennen, so wie sie stattgefunden ; der weitere
Werth, die ideale Bedeutung kümmert ihn als Historiker
nicht, denn für ihn als solchen ist Lüge, Trug, Falschheit,
Fälschung u. s. w. so gut eine historische Wahrheit, wenn
all diess stattgefunden hat, wie das Gegentheil davon.
Die positive Rechtswissenschaft als solche stellt nur dar
und erklärt, was als Recht festgestellt und gültig ist, ohne
das eigentlich Rechtswidrige, das etwa als Recht in Geltung
gesetzt ist, in Frage zu stellen oder ändern zu können, —
denn diess ist seine Aufgabe nicht als ,, positiver" Rechts-
lehrer. EndUch auch die sog. ,, positive" Theologie hat
nur das als Wahrheit in Glaubenssätzen Festgestellte zum
Gegenstand ihrer Darstellung, Erklärung und allenfall-
sigen Begründung, nicht aber hat sie darnach zu fragen,
ob das, was als Wahrheit festgestellt ist, auch wirkUch
Wahrheit sei, nicht etwa ganz oder theilweise auf Irr-
thum, Täuschung, Wahn u. s. w. beruhe. Sie sucht
nicht die Wahrheit (hier die ideale), denn sie hat die-
selbe schon oder glaubt sie zu haben, sie verhält sich
nicht kritisch, legt nicht den Massstab der Vernunft, des
idealen Sinnes an, sondern bleibt einfach bei dem Gegebenen,
Positiven stehen und unterdrückt kritische Bedenken,
die etwa aus der rationalen und idealen Natur des Geistes
aufsteigen möchten. Anders die Philosophie: Sie strebt
im Sinne von Idealität. 31
einzig nach Erkenntniss der Wahrheit und steht in keinem
andern Dienst; sie prüft alles Festgestellte, ,, Positive",
das als Recht, Sittengesetz und Glaubenswahrheit (Dogma)
geltend gemacht wird, immer wieder darauf, ob es auch wirk-
lich Recht und Gesetz sei, d. h. der Idee des Rechtes
und der Sittlichkeit entspreche, ob die sog. höhere Wahr-
heit der Glaubenssysteme auch wirkhch Wahrheit sei und
nicht vielmehr der Vernunft und der erkannten natürlichen
Wahrheit widerspreche. Und zwar nimmtsie das Recht dieser
Prüfung jeder Religion gegenüber in Anspruch, auch in Bezug
auf die zur Zeit geltende, ob sie Wahrheit lehre, nicht etwa
Irrthum, wie es schon bei so vielen Glaubenssystemen und
durch so viele Jahrhunderte hindurch allenthalben der
Fall war, — wie fast jede Religion dergleichen selbst
andern Religionen gegenüber zum Vorwurf macht. Die
Philosophie ist insofern eine unbedingte und freie Wissen-
schaft (wie Naturforschung und Geschichtswissenschaft
es auch sein müssen) gegenüber den ,, positiven" Wissen-
schaften, die im Dienste herrschender Mächte stehen und
für Recht und Wahrheit das erklären müssen, was ihnen
befohlen ist; deren Werth und Geltung also auch von
dem Werthe und der Richtigkeit der Auctorität bedingt
ist, von der sie abhängen. So hat z. B. die Glaubens-
wahrheit ihr Fundament nur am Glauben, daher ist auch
die entsprechende Wissenschaft des Glaubens, die positive
Theologie nur so lange gültig, als der Glaube gilt, und
nur für den, der gläubig ist. Wo der Glaube aufhört, sinkt
mit ihm auch das ganze System des sog. Wissens dahin.
Die Philosophie ist demnach das unbedingte, freie Forschen
xai' l^o)(7Jv ; und zwar das freie Forschen nach der idealen
Wahrheit, wie die andern unbedingten Wissenschaften,
d. h, jene, welche nur die Wahrheit zum Ziele haben,
und in keinem anderen Dienste stehen, (die reale
Wahrheit d. h. die Wahrheit im Sinne von Wirklichkeit
und in den höheren Stufen von Rationalität) solch'
32 II- Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit
unbedingtes freies Forschen sind und sein müssen. Ein
System von festen, unantastbaren Sätzen aufzustellen, die
nicht mehr angerührt, nicht mehr bezweifelt, in Frage
gestellt und neu geprüft werden dürfen, — ein solches
System aufzustellen, ist nicht die Aufgabe der Philosophie,
denn sie hat keine Dogmen , keine unumstüsslichen
Glaubenssätze zu geben , wie etwa rehgiöse Glaubens-
Auctoritäten. Mitten im Verlaufe der geschichtlichen Ent-
wicklung der Menschheit kann kein fertiges System von
solchen Sätzen aufgestellt werden, als wäre man schon
am Ziele. Die ideale Wahrheit liegt nicht als fix und
fertig vor, so dass sie nur ergriffen und erkannt zu
werden brauchte; die Ideen treten rmr allmählich in die
Offenbarung durch die Geistesarbeit der Menschheit, und
können nur allmählich richtig erkannt und gewürdigt
werden. Ihre Offenbarung, wie die Erkenntniss derselben
muss demnach immer fortzuschreiten suchen. Wenn daher
den Philosophen zum Vorwurf gemacht wird, dass sie
,, immer forschen und doch nie zur Erkenntniss der Wahr-
heit gelangen", so zeigt solche Rede eben nichts Anderes,
als dass kein Verständniss der Sache vorhanden ist. Die
Philosophie kommt im Laufe der geistigen Entwicklung
der Menschheit durch keinen ihrer Vertreter und durch
keines ihrer Systeme in den vollen Besitz der idealen Wahrheit
— der Natur der Sache gemäss ; aber wo immer ernstes, auf-
richtiges Streben nach dieser Wahrheit ist, da ist so zu
sagen lebendige Wahrheit, die Wahrheit, des nach Wahr-
heit selbstlos ringenden Geistes der Menschheit. Und
diess gehört selbst zu dem Idealsten, was die Menschheit
bieten kann. Ein Geist, der die volle Wahrheit besässe
ohne aufrichtiges Streben nach Wahrheit, wäre doch
ohne Wahrheit, weil ohne Leben der Wahrheit ; diese wäre
nur todt und werthlos in ihm. — Auch das Verlangen
lässt sich nicht an die Philosophie stellen, dass sie all-
mählich feste, unumstössliche, in exacte Formeln zu fas-
im Sinne von Idealität.
33
sende Sätze oder Wahrheiten gewinnen sollen, wie die
Mathematik und Mechanik. Diese haben es nur mit den
äusserlichen Formen und so zu sagen dem festen
Gerüste des räumlich -zeitlichen Daseins und Geschehens
zu thun, nicht mit den wirkenden Kräften selbst, und
noch weniger mit den Zielen alles Geschehens und Strebens.
Ziele (Ideen), die erst errungen, zur Offenbarung gebracht,
dem Bevvusstsein aufgeschlossen werden müssen, also nicht
wie ein beharrUches, constant bleibendes Sein oder gleich-
förmig sich wiederholendes Geschehen sich darstellen, das
sich in constante Formeln fassen Hesse.
Auf diese Weise ist sonach in der idealen Wahrheit
der Philosophie neben den andern Wissenschaften noch
ein Gebiet der Forschung gesichert und damit eine Auf-
gabe gestellt, aus welcher sie ihre Berechtigung schöpft
und ihren Fortbestand sichert. Daher wird es wohl
dabei bleiben, dass alle jene Wissenschaften, die bisher
für Philosophie galten , wie : Ethik , Rechtsphilosophie,
Aesthetik und Religionsphilosophie, auch fernerhin als
philosophische Disciplinen betrachtet werden und ihre Aus-
bildung finden als Wissenschaften, welche die ideale tVahr-
heit in den betreffenden Gebieten zum Inhalt und zum
Gegenstand der Erforschung haben. Der Erkenntniss-
wissenschaft bleibt dabei ihr Rang als philosophische
Wissenschaft immerhin gewahrt und sie hat nur, mag sie
sich auch noch so ernsthaft als Wissenschaftslehre con-
stituiren, den Anspruch aufzugeben, fernerhin nur allein
noch als Philosophie behauptet zu werden.
Frohschammer, Die Philosophie.
B4 ni. Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip.
III.
Die Philosophie als Welterklärung aus Einem
Grrundprincip.
Einheit der philosophischen Wissenschaft.
Wir machen also zwei, wie es scheint, sehr ver-
schiedene Arten von Wissenschaft zugleich als Philosophie
geltend, Wissenschaften, die in Bezug auf ihren Inhalt
kaum etwas miteinander gemein zu haben, und nicht
unter Einen Begriff, den der Philosophie, sich bringen
zu lassen scheinen, ausser insofern als sie beide ein ge-
wisses historisches Recht auf diese Bezeichnung haben.
Es kommt aber dazu noch eine dritte Auffassung der
Philosophie, die ihrerseits wiederum mit keiner der beiden
vorigen sich in Einklang bringen zu lassen scheint, um
einen einheitlichen Begriff der Philosophie aus allen zu
gewinnen. Wir haben auch diese Auffassung kurz zu
betrachten, ehe wir den Versuch machen, zu zeigen, wie
gleichwohl aus allen ein einheitHcher Begriff sich ge-
winnen lässt, oder alle unter Einen Gattungsbegriff gebracht
werden können.
Bekanntlich begann die abendländische Philosophie
damit, den Versuch zu machen, die Welt, die Wohlord-
nung des Daseins (Kosmos) mit den einzelnen Gestal-
tungen aus einem Grundprincip (ap/Tj) abzuleiten oder
daraus zu erklären. Aristoteles betrachtet den Tliales
von Milet dess wegen als den ersten Philosophen, weil er
der Erste ist, der dies versucht hat, wenn auch allerdings
sein Princip, das Wasser, ein sehr äusserliches war und
auch die Motivirung der Annahme desselben als solches
nur eine äusserliche und in sofern e oberflächliche sein
mochte. Von da an ward der Versuch fortwährend er-
neuert, und das Grundprincip in mannichfachen Modi-
Einheit der philosophischen Wissenschaft. 35
fikationen aufgefasst, wie schon oben erwähnt wurde.
Wenn auch im geschichtlichen Verlaufe der Philosophie
immer wieder Momente skeptischer und kritischer Be-
sinnung kamen, ob denn auch die Kraft und Mög-
lichkeit in der Menschheit gegeben sei, eine solche Auf-
gabe zu lösen, und damit das Erkenntnissproblem wieder
in den Vordergrund für die philosophischen Anstreng-
ungen trat, stets kam man doch zur Erklärung der
Welterscheinungen im Sein und Denken aus Einem Grund-
princip zurück. Die Philosophie des griechischen Alter-
thums, wie die der neueren Zeit von Cartesius an bezeugt
diess zur Genüge.
Es mag allerdings hiernach als noch unmöglicher
erscheinen, eine nach Aufgabe und Wesen einheitliche
Philosophie zu behaupten oder auszubilden, wenn nun
nicht blos zwei , sondern sogar drei , wie es scheint ganz
verschiedene Aufgaben und Begriffe der Philosophie dabei
zur Einheit gebracht werden sollen. Versuche dazu
wurden allerdings in verschiedener Weise gemacht und
mit Entschiedenheit durchgeführt: entweder wurde die
Wahrheit im Sinne von Ideegemässheit und im Sinne von
Wirklichkeit nicht von einander unterschieden wie z. B.
bei Spinoza, bei welchem zwar die Modi zwei Reihen
bilden, des Denkens und der Ausdehnung, aber die Ideen
nur die geistigen Bilder oder Gedanken sind gegenüber den
Sachen — von Vollkommenheit oder ünvoUkommenheit aber
keine Rede sein kann. Bei Fichte ist die Einheit dadurch
hergestellt, dass seine Philosophie als Wissenschaftslehre
zugleich Construction der Gedanken und Dinge sein soll,
und bei Hegel ist das empirische Dasein zwar das An-
derssein der Idee, aber doch wird dieses als Entfaltung
oder Realisirung der logischen Idee aufgefasst, also als
rationales Geschehen, in welchem das Wirkliche und Ver-
nünftige als identisch erscheinen. Bei Schopenhauer
entspricht allerdings der angenommenen Blindheit des
3*
36 III- I^ie Philosophie als VVelterklärung aus Einem Grundprincip.
Grundprincips die behauptete Unvernunft des ganzen
Daseins ganz wohl, aber es ist nicht abzusehen, wie
gleichwohl eine Vernunft entstehen konnte, die in ver-
nünftiger Erkenntniss eben die Unvernunft des Willens
und des Daseins zu behaupten vermag; und noch weniger
ist begreiflich, wie ideale Gefühle und ein ästhetischer
Daseinsgenuss dabei möglich sein soll! Wir haben indess
hier auf diese geschichtlich gewordenen philosophischen
Weltauffassungen nicht näher einzugehen, sondern wollen
nur in Kürze zu zeigen versuchen, wie gerade das Grund-
princip, das nach unserer Auffassung das richtige ist,
die Phantasie, am meisten geeignet erscheint, die ge-
nannten drei verschiedenen Auffassungen der Philosophie
in Eine zu verbinden und ein einheitliches System dar-
nach durchzuführen. Zu diesem Behufe aber wird es
entsprechend sein , zuvor einen Blick auf dieses Princip
und dessen Begründung und Bethätigung zu werfen.
Dem Materialisnms gegenüber erweist sich die Noth wen-
digkeit, ein besonderes Gestaltungsprincip in den orga-
nischen Bildungen und lebendigen Wesen anzunehmen,
da aus der blossen ,,Zusammenwürfelung" der ent-
sprechenden Elementar-Stoffe mit ihren blos chemischen
und physikalischen Kräften, welche dieselben im Gebiete des
Unorganischen bethätigen, organische Bildungen oder le-
bendige Wesen nicht entstehen. ^) Die moderne Natur-
wissenschaft hat nachgewiesen, dass allenthalben, wo mau
in früherer Zeit eine Entstehung von organischen Ge-
bilden, Pflanzen oder Thieren aus blossen Elementar-
stoffen, ohne Samen oder Theile schon vorhandener Or-
ganismen, also eine generatio spontanea annahm, diess
^) S. m. W. Die Phan t asie als G run d princip des Welt-
processes. 1877 S. 168 flf. Ferner: Das Christenthuni und
die moderne Naturwissenschaft. 1868 S. 54 ff. Das neue
Wissen und der neue Glaube. 1873 S. 39 ff. Ueber die
Aufgabe der Naturphilosophie und ihr Verhältniss zur
Naturwissenschaft. 1861. S. 176 ff.
Einheit der philosophischen Wissenschaft. 37
auf Täuschung beruhte, dass niemals solche Gebilde neu
entstehen, wenn nicht Samen oder Theile schon vorhan-
dener Organismen dazu verwendet werden. Und wie
durch Beobachtung der Naturvorgänge selbst keine
generatio aequivoca entdeckt ist , vielmehr die Annahme
einer solchen als irrthümlich nachgewiesen werden konnte,
so ist es auch bisher noch niemals gelungen auf experi-
mentellem Wege wirkliche Organismen (wenn auch allen-
falls organische Stoffverbindungen) herzustellen. Es ist
also auch auf dem Standpunkt der Naturforschung zu-
lässig, ja nothwendig, zur Erklärung der Entstehung und
Erhaltung der Organismen ein eigenthümliches Gestal-
tungsprincip anzunehmen. Die teleologische Gestaltung
der Organisation ist aber auch geeignet, die Thatsäch-
lichkeit eines solchen Princips zu zeigen. Das Ineinander-
greifen der verschiedensten Theile zu einem harmonischen
Ganzen, wo alle sich gegenseitig halten und tragen und
zusammen das kunstvolle Ganze constituiren, offenbart diess.
Und wenn man selbst annehmen wollte, dass diese teleo-
logische Gestaltung nur ein zufälliges Produkt der in
unendlichen Zeiträumen sich bethätigenden wirkenden Ur-
sachen sei, also Zweckmässigkeit nur als Produkt, nicht als
Princip geltend gemacht werden könne, so würde dem
doch die E m p f i n d u n g s f ä h i g k e i t widerstehen, da diese
aus mechanischem Geschehen durchaus unerklärlich
bleibt. Die Empfindungsfähigkeit vor Allem ist ein
entscheidender Beweis für die Thatsächlichkeit eines
teleologisch- und insoferne auch ideal-wirkenden Princips
in der Natur, — abgesehen selbst von allem Andern,
was dafür Zeugniss gibt. ^) Dieses in den organischen
^) Insofern muss selbst der Pessimismus Zeugniss geben gegen
die materialistische oder rein mechanistische Weltauflfassung, da der-
selbe durch die Empfindungsfähigkeit der lebendigen AVesen und
insbesondere des Menschen bedingt, also selbst nur durch das ideale
Moment des Daseins möglich ist.
38 III. Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip.
Individuen wirkende Gestaltungsprincip ist aber durch die
Generationspotenz (und den Gegensatz der Geschlechter)
zugleich Princip der Art und der Gattung. Und da der
Descendenzlehre zufolge die Arten in ihrer Vielheit und
Mannichfaltigkeit sich aus ursprünglich einfachen Orga-
nismen in Anpassung an die Naturverhältnisse und zu-
gleich in Folge eines immanenten gesetzlich wirkenden Bil-
dungstriebes entwickelt haben, so kann man ein einheit-
liches, allgemein objectiv und real wirkendes Bildungs-
princip annehmen, das sich in den organischen und
lebendigen Naturwesen entwickelt, besondert und als Ge-
nerationsmacht die unendlich reichen Arten und Indivi-
duen producirt.
Dieser Annahme gegenüber wurde von den Materia-
hsten immer wieder die Frage erhoben, was denn aber
dieses Bildungsprincip oder Lebensprincip eigentUch sei,
als was man sich denn dasselbe vorzustellen, wie seine
Wirksamkeit zu denken habe! Es sei unbestimmbar,
unfassbar, ein unbekanntes X, dessen Annahme nichts
erkläre. Dem gegenüber ist aber zunächst zu bemerken,
dass, wenn es auch ganz unmöglich wäre, zu bestimmen,
was dieses Princip dem Wesen nach sei, dennoch die
Annahme desselben nicht unberechtigt wäre, da auch
sonst, selbst in der Naturwissenschaft, für gegebene Wir-
kungen wenigstens als Hypothese Ursachen angenommen
werden, wie sie eben geeignet erscheinen für die vor-
handenen Wirkungen , ohne dass man das Wesen davon
genau bestimmen kann. Für electrische Wirkungen z. B.
wird eine electrische Kraft als Ursache angenommen, ohne
dass bestimmt zu werden vermag, was diese Kraft dem
Wesen nach sei ; für chemische Wirkungen ebenso chemische
Kraft und für die Lichterscheinungen der Aether, ohne
dass dessen Wesen im mindesten bekannt ist. So könnte
auch ein Lebensprincip für die Lebenserscheinungen an-
genommen werden, wenn man auch ganz ausser Stande
Einheit der philosophischen Wissenschaft. 39
wäre, näher zu sagen, was dieses Princip sei und wie es
wirke. Moderne Naturforscher nehmen in Atomen jetzt
auch Empfindungsfähigkeit an, um das psychische Leben
zu erklären , ohne bestimmen zu können, worin diese
Empfindungsfähigkeit bestehe. ^)
Indess steht es mit dem Lehensprincip nicht einmal
so schlimm. Wir können uns durch Analogie Wesen
und Wirkens weise dieses ßildungsprincips wohl vorstellig
machen, unserm Verständniss näher bringen. Dasselbe
wirkt Gestalten- oder Form -bildend, also plastisch, und wirkt
teleologisch d. h. innerlich wie äusserlich organisirend,
indem die verschiedenen Theile so geordnet werden, dass
sie gegenseitig sich halten und tragen und harmonisch
ineinander greifend das Ganze bilden und erhalten.
Ausserdem wirkt dieses Princip mit einer gewissen Frei-
heit, nicht blos spröd mechanisch, indem es den Ver-
hältnissen sich in seinem Wirken anpassen und dadurch
im Organismus Modifikationen bewerkstelligen kann.
Endlich auch ideal oder idealisirend wirkt dieses Princip,
wie diess bei jeder Entwicklung, bei jeder Plan- und Idee-
Reahsirung der Fall ist. — Blicken wir nun in das uns
bekannteste Gebiet (wenigstens den Thatsachen oder Er-
scheinungen nach bekannteste), in das eigene Seelenleben
mit seinen Thätigkeiten und Vermögen , so finden wir da
eine bildende Potenz, welche formal für den Inhalt des
Bewusstseins in ganz ähnlicher Weise wirkt, wie das Bil-
dungsprincip in der Natur real bei Bildung der pflanzlichen
und thierischen Organismen wirksam ist, plastisch nemlich
und teleologisch; ebenso mit einer gewissen Willkür und
einem Triebe zum Idealisiren. Es ist diess jenes Seelenver-
mögen, das wirals Phantasie bezeichnen (Einbildungskraft,
Vorstellungsvermögen, psychisches Productions vermögen,
^) S. d. V. Sehr. Monaden und Weltphantasie. 1879.
S. 166 flf.
40 III- Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip.
Gestaltungs- und Aeusserungskraft für den Inhalt des Be-
wusstseins.) Durch diese Phantasie, deren Thätigkeits-
weise uns bekannt ist, da wir sie selber besitzen und
üben, können wir uns die bildenden Potenzen in den
Organismen, sowie das allgemeine Bildungsprincip in der
Natur am meisten verdeutlichen und verständlich machen.
Wir haben daher dieses allgemeine Bildungsprincip, das
als Generationsmacht in den Arten oder Gattungen fort-
zeugend wirkt und in den einzelnen organischen Indivi-
duen Ausgestaltung, Wachsthum, Erhaltung und Fort-
bildung hervorbringt — als objective Phantasie be-
zeichnen zu können geglaubt, um schon durch die Be-
zeichnung Art und Thätigkeits weise anzudeuten und
einigermassen verständlich zu machen. Objective
Phantasie im Unterschiede von der subjectiven, und weil
sie im Gegenständlichen in den realen Objekten, also
objectiv wirkt.
Im Ansclduss an die bereits sicher gestellte Lehre
von der allmählichen Entwicklung der organischen und
thierischen Bildungen der Erde zu den unendlich vielen
Arten, und zu der allmählichen Verinnerlichung und Ver-
geistigung dieser letzteren, — den Entwicklungsprocess des
allgemeinen Bildüngsprincips oder der objectiven Phantasie
näher betrachtend, zeigte sich uns zuletzt die Genesis der
Seele selbst und mit dieser die subjective Phantasie als
Produkt oder Errungenschaft dieses unendlichen Ent-
wicklungsprocesses. Und nun erkennen wir nicht mehr
blos ein Verhältniss der Analogie zwischen subjectiver
Phantasie und objectiver, real wirkender Gestaltungs-Kraft
oder objectiver Phantasie, sondern viehnehr ein Causal-
verhältniss oder identisches Wesen von beiden, insofern
die subjective Phantasie aus der objectiv und real wir-
kenden Phantasie abstammt, im unendlichen Entwick-
lungsprocess der Natur von dieser selbst in immer tieferer
Verinnerlichung uud Vergeistigung gebildet wurde. Es
Einheit der philosophischen Wissenschaft. 41
erhob sicli zuletzt aus dieser objectiv (real) wirkenden
Phantasie in den höchsten lebendigen Wesen die sub-
jective, individuell und frei wirkende, nicht mehr an die
Naturgesetze unbedingt gebundene Phantasie; — aller-
dings nur als formale Bildungs-Macht der Seele , durch
welche nun ein geistiges Leben über dem physischen und
physisch-psychischen Naturleben beginnen konnte.^) So
wirkt Ein Grundprincip des Weltprocesses, aus dem die or-
ganischen und lebendigen Naturwesen und als höchstes Ziel
die Menschheit hervorging oder producirt wurde. Dieses
Grundprincip erhält in der Bildung der subjectiven Phan-
tasie seine Freiheit und eine bis zu einem gewissen Grade
selbstständige Wirkensmacht, wodurch sie nun den psy-
chischen Organismus mit seinen geistigen Kräften aus-
bildet, indem sie die objectiv und real wirkenden Kräfte
und Gesetze in einem bewussten Subjecte individualisirt
und die objectiv- reale Vernunft zur subjectiven zu machen
strebt durch die subjective Erkenntnisskraft. Wie die
objective Phantasie Stoffe und Kräfte zur Organisation
verwendet und zur Verinnerlichung und immer höher
steigenden Selbstständigkeit des individuellen Organisations-
principes, so verwendet nun die freie, subjective Phantasie
die Erscheinungen und deren Gesetze und Bedeutung zur
allmählichen Bildung des psychischen Organismus d. h.
des individuellen, persönlichen Menschengeistes und seiner
geschichtlichen Entwicklung. ^)
Wird nun in dieser Weise die Phantasie als Grund-
princip des Weltprocesses geltend gemacht, als Princip
des Werdens und zugleich der Erkenntniss dieses Wer-
dens, also als Princip des Geschehens und des Erkennens,
^) S. Die Phantasie als Grundprincip des Weltpro-
cesses und: Monaden und Welt phant asie.
^ S. d. gen. W. und: Ueber die Genesis der Mensch-
heit und deren geistige Entwicklung etc. 1883.
42 III- Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip.
oder als allgemeines p]ntwicklungsprincip im sinnlich-realen
und geistigen Gebiete, dann lässt sich die Philosophie als
Wissenschaft von der Wahrheit im Sinne von Ideegemäss-
heit ganz wohl vereinbaren mit der Philosophie als Wissen-
schaft oder Erklärung der Welt und ihrer Erscheiiuingen
und Entwicklungen aus Einem Grundprincip. Dieses
Grundprincip ist ja dem Wesen nach auf Gestaltung,
Idee-Realisirung und insofern auf Verwirklichung der
Vollkommenheit oder Ideegemässheit gerichtet, wenn auch
allerdings auch die Wahrheit im Sinne von Wirklichkeit
von demselben im allgemeinen Weltprocesse reaUsirt wird.
Diese Art Wahrheit ist nicht das Bedeutsame, das eigent-
liche Ziel des Weltprocesses , weder im Einzelnen noch
im Ganzen, sondern ist eben nur das Mittel das eigent-
lich Bedeutende, das den Sinn und Werth des Daseins
Bildende anzustreben und mehr oder minder zu erreichen.
Die genannten zwei Aufgaben der Philosophie: die ideale
Wahrheit zu erforschen und die Welt mit ihren Bildungen
aus Einem Grundprincip zu erklären, lassen sich also
bei unserem Grundprincip wohl vereinigen und eine eiu-
heitUche Philosophie dadurch herstellen. Und wie dieses
Grundprincip ideale Wahrheit realisirt, so ist es zugleich Er-
kenntnissprincip derselben, denn die Phantasie ist ja ihrer
Natur nach geeignet für Ideen das Offen baruugsorgan
zu sein, — wie sich diess auch in der Kunstschöpfung,
soweit eine ideale Richtung verfolgt wird, unschwer zeigt,
und allgemein anerkannt ist.
Schwieriiier erscheint es, die Wissenschaftslehre eben-
falls als gleichartige Philosophie mit diesen beiden in
Harmonie zu bringen und auch sie als Glied in den Or-
ganismus der Philosophie als einheithche Idealwissenschaft
aufzunehmen. Indess auch diess ist nicht als unmöglich
zu betrachten. Dass die Phantasie als Grundprincip des
Weltprocesses auch die bewegende Kraft des Erkennens
sei, als Erkenntuissprincip (entwickelt zu Verstand und
Einheit der philosophischen Wissenschaft. 43
Vernunft)^) sich bethätige, ward so eben erwähnt, und
insofern gehört das Erkennen und Wissen eben auch mit
in den Weltprocess. Ausserdem sind ja die Grundgesetze
des Seins wie des Erkennens das logische Fundament
aller Wissenschaft, der philosophischen, wie der nicht-
philosophischen, und in dieser Beziehung ist die Einheit
selbstverständlich. Aber auch mit der Philosophie, inso-
ferne sie Erkenn tniss der idealen Wahrheit ist, lässt sich
die Erkenntnisswissenschaft als gleichartiger Zweig in
Einheit setzen. Die Wahrheit selbst ist nicht blos die
zufällige Uebereinstimmung des Denkens mit dem Ge-
dachten, ist nicht blos diese formale Harmonie in jedem
einzelnen Falle der Erkenntniss, sondern sie ist ein All-
gemeines, gewissermassen an sich Seiendes, ist selbst eine
Idee, ähnUch wie etwa die Idee der Schönheit. Wie diese im
einzelnen Schönen, wie verschieden es sonst sei, realisirt er-
scheint, im Menschengeiste aber als Einheit, als einheitliche
Anlage, sich bethätigt in der Empfänglichkeit für das Schöne
und im Bewusstsein von demselben, — so ist es mit der
Wahrheit. Sie wird ebenfalls in den Acten der wahren Er-
kenntniss realisirt, ist aber auch als einheitliche Idee im
Menschengeiste grundgelegt. Die Erkenntnisswissenschaft
ist also die Wissenschaft von der Realisirung der Idee
der Wahrheit oder der Wahrheit als Idee, in ähnlicher
Weise, wie die Aesthetik als Wissenschaft von der Rea-
lisirung der Idee des Schönen, oder die philosophische
Ethik als Wissenschaft von der Idee des Guten zu be-
trachten ist. Demnach ist die Wissenschaftslehre als
Wissenschaft von der Reahsirung der Wahrheit als Idee
auch eine Wissenschaft von der Wahrheit nicht blos im
Sinne von WirkUchkeit, sondern auch im Sinne von Idee-
gemässheit, und ist also eine philosophische Wissenschaft.
^) Vgl. Phantasie als Grundprincip d. W. S. 479 ff.
Monaden und Welt phantasie. S. 67 ff.
44 III- Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip.
Dass aber die Wahrheit auch eine Idee ist, dass man
von Wahrheit als Idee sprechen kann, bezeugt eben die
Thatsache der menschhchen Erkenntnisskraft mit ihren
Gesetzen, sowie der Erkenntnissdrang mit seinen Zielen.
Die Wahrheit als Idee wohnt dem Menschengeiste in dieser
Form inne und ist objectiv selbst als ewige Idee zu be-
trachten, da ohne diess eine Erkenntnisskraft und Norm
nicht bestehen würde. Durch diese dem Geiste imma-
nente Idee geschieht es, dass derselbe zunächst Wahr-
heitsgefühl bekundet, dass er zuerst fühlt und dann
mit Bewusstsein erkennt, dass Wahrheit sei für den
Geist, und ist es ermögHcht, dass er dieselbe zu realisiren,
d. h. sich selbst zum Ausdruck oder zum Inbegriff der-
selben zu machen strebt. Er fühlt und weiss dadurch,
dass das Erkeiuien selbst (abgesehen vom sonstigen Nutzen,
ja abgesehen auch vom Erkannten) ein Gut sei und eine
geistige Vollkommenheit, ja eine ReaHsirung der Idee des
Geistes selbst seiner Erkenntnisspotenz nach, in sich
schliesst. Denn der Geist, indem er sich allenthalben mit
den Dingen in Uebereinstimmung setzt, realisirt sich zum
harmonischen Mikrokosmus und bringt zugleich durch seine
WahrheitsreaHsirung sich selbst zur Vervollkommnung.
Der erforschende Geist selbst macht sich, wie oben be-
merkt, indem er mit Ernst und Aufrichtigkeit diese Wahr-
heit anstrebt, gewissermassen zur Wahrheit, zur lebendigen
Wahrheit, und zwar sogar dann noch, wenn er dabei irrt,
denn solcher Irrthum ist nur durch Wahrheitsstreben
entstanden, durch Liebe zur Wahrheit. Insofern ist
Lessing's Wort, dass ihm das Forschen nach Wahrheit
wünschenswertlier sei als der Besitz der Wahrheit, ein
wohlberechtigtes, da der Besitz ein todter sein kann ohne
Verlangen und Streben nach der Wahrheit, sowie ja auch
der Geist, der Intellect selbst nur durch Streben, For-
schen befähigt wird für die Wahrheit und sie lebendig
macht. Durch diese dem Geiste immanente Idee ist auch
Einheit der philosophischen Wissenschaft. 45
die Begeisterung zu erklären, welche die Wahrheit zu
erwecken vermag und die Menschen zu so viel Anstreng-
ungen und freiwiUigen wie abgenöthigten Opfern veran-
lasst. Denn die Wahrheit hat, wie die Freiheit, eine ge-
wisse Zauberin acht über das inenschHche Gemüth und
erregt es zur Begeisterung. Mit Recht, denn durch Wahr-
heit d. h. die Uebereinstimmung des Denkens mit dem
gedachten Objecte realisirt, vollendet sich die intellectuelle
Seite des menschlichen Geistes, wie durch Freiheit die
Willenskraft desselben, so dass durch beides die Idee des
Geistes selbst ihre Erfüllung findet und dadurch zugleich
das Ziel des ganzen Daseinsprocesses angestrebt wird.
Darauf beruht auch das unbedingte Recht der Wahr-
heit und des Strebens nach ihr, von dem Jedermann
überzeugt ist, das Jedermann in Anspruch nimmt, (für
sich selbst wenigstens) mag er noch so sehr in Irr-
thum sein , oder geradezu von Wahn und Trug be-
herrscht werden. Er nimmt dafür ein Recht in Anspruch,
weil er meint, dass es Wahrheit sei und er ein Recht habe
die Wahrheit zu besitzen und zu bekennen. Und ebenso
unbedingtes Recht hat Jedermann, darnach zu streben,
also die Erkenntnissorgane zu gebrauchen , den Denk-
gesetzen zu folgen, um die Wahrheit zu erringen und
sich selbst und damit die Welt zu einer höheren Voll-
kommenheit zu bringen in Bezug auf Bewusstsein und
Einsicht. Diese Wahrheit zu realisiren und geltend zu
machen, besteht darum für den Geist eine Berechtigung,
selbst wenn noch so sehr Vorurtheile, Gewohnheiten,
Lieblingsmeinungen verletzt werden und äusserlich gar kein
Nutzen erzielt oder sogar Schaden angerichtet wird. Die
Kraft des Geistes für Realisirung dieser Wahrheit zu hemmen
oder zu unterdrücken, den Gebrauch der Erkenntniss-
organe zu hindern, ist ein Freveigegen die höhere Natur des
Menschen, ein Niederdrücken in den Stand der Thierheit,
eine V^erletzung der Menschenwürde und Missachtung der
46 III- Die Philosophie als VVelterklärung aus Einem Grund princip.
höchsten Gabe und Aufgabe des Daseins. Selbst jene,
welche bei einer mechanistischen oder materialistischen
WeltaufFassung alle Ideen, jede ideale Wahrheit leugnen
müssen, berufen sich für ihre Berechtigung auf das Recht
der Wahrheit, anerkennen also die Wahrheit als Idee,
indem sie die Ideen zu leugnen sich für berechtigt halten
der idealen Weltauffassung gegenüber. Als Idee müssen
sie die Wahrheit auffassen, indem sie auf deren Berech-
tigung sich berufen um ihre ideenleugnerische Ansicht
geltend zu machen; — denn wäre die Wahrheit d. h. die
Uebereinstimmung des Denkens mit dem Gedachten oder
dem objectiven Sachverhalt nicht eine Idee, sondern eben
auch nur ein factisches Verhältniss, wie diess Irrthum,
Täuschung u. s. w. auch sind, so wäre kein Grund und
kein Recht da, jene Auffassung als Wahrheit geltend zu
machen, wenn Wahn, Irrthum u. s. w. angenehmer,
nützlicher, vortheilhafter wären. Dieselbe kann nur darum
als vermeintliche Wahrheit Geltung verlangen, weil die
Wahrheit ein ideales, sein sollendes Verhältniss ist, der
Idee des Geistes und der Rationalität des Daseins ange-
messen, Irrthum und Wahn aber ideewidrig, irrational, und
daher unberechtigt sind, selbst wenn sie äusserlich nützlich
oder angenehm sein mögen, oder als erstarrte Gewohnheit
von Alters herstammen und ungern aufgegeben werden.
Aber auch die Pflicht, nach Wahrheit zu forschen,
d. h. den denkenden Geist mit den Dingen, den Ver-
hältnissen, Ereignissen und deren wahrem Werth und
wirkHcher Bedeutung in Uebereinstimmung zu setzen, —
beruht auf der Wahrheit als Idee, wie das Recht dazu.
Wenn überhaupt der Gebrauch der verliehenen Gaben
und Kräfte, deren Entwicklung und Anwendung zur
eigenen Vollkommenheit wie zur Beglückung und För-
derung Anderer eine Pflicht ist für jeden Menschen,
so muss selbstverständhch auch die intellectuelle Kraft in
aller Weise Ausbildung linden, schon weil dadurch am
Einheit der philosophischen Wissenschaft. 47
meisten die Fähigkeit erlangt wird, die Uebel des Daseins
zu verhüten und zu mildern ; dann aber auch, weil Un-
wissenheit, Irrthum und Wahn als zu überwindende Un-
vollkommenheit, ja Entwürdigung des menschlichen Geistes
erscheinen. Verletzung, Vernachlässigung der Wahrheits-
pflicht ist daher eine Verletzung der sittlichen Pflicht
überhaupt. Die Wahrheit steht demnach auch mit der
Idee des Guten in inniger Beziehung, so dass auch
hieraus das ideale Wesen derselben zu erkennen ist. Wenn
von den Ideen des Wahren, Guten, Schonen u. s. w. die
Rede ist, wird damit ebenfalls angedeutet, dass Wahrheit
ebenso wie Güte und Schönheit als Idee aufzufassen sei ;
denn unter dem ,, Wahren'' ist hier nicht das Inhaltliche des
Erkenntnissactes gemeint, sondern der Erkenntnissact selbst
d. h. das harmonische Zusammenschliessen des Denkens
und des Gedachten zur Erkenntniss der Wahrheit (im objec-
tiven Sinne) ist darunter zu verstehen, wodurch dieser Act
eben Wahrheit der Erkenntniss wird d.h. die Idee der Wahr-
heit realisirt. Das Inhaltliche selbst kann als solches
nicht ohne Weiteres als Idee des Wahren bezeichnet
werden, denn dieses kann allenfalls auch Unwahrheit,
Lüge, Trug u. s. w. sein, die richtige Erkenntniss davon
ist gleichw^ohl Wahrheit d. h. Realisirung der Idee des
Wahren oder der Wahrheit im Erkenn tnissacte.
Wenn die Frage entsteht, was denn aber diese Wahr-
heit an sich, als Idee eigentlich sei, so lässt sich diess
allerdings nicht in einer einfachen Formel ausdrücken
und darstellen. Sie ist an sich gleichsam das Dass der
Wahrheit, dass es eine solche gibt, dass sie ein ideales
Gut ist im Dasein; und sie ist das, als was sie sich in
der Offenbarung, in der Realisirung kund gibt. Sie ist an
sich ein allgemein waltendes (ideales) Gesetz, in das jeder ver-
nünftige Geist hineingeboren wird und das hinwiederum mit
diesem geboren wird als Erkenntnisstrieb und als -Kraft des
Denkens und Erkennens, wie es bei den logischen Ge-
48 III. Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip.
setzen des Denkens auch der Fall ist, welche nicht minder
geheimnissvoll an sich sind und doch das Denken leiten
und geistige Evidenz, das geistige Licht bewirken. Sie ist
das, wodurch der Geist angeregt uud befähigt wird, seinen
Begriff in intellectueller Beziehung (wie durch Wille und
Idee des Guten in moralischer Beziehung) zu reahsiren,
und zugleich die Harmonie des Daseins dadurch zu för-
dern, dass Denken und Sein immer mehr in Ueberein-
stimmung gesetzt und vereinigt werden, als ein Seinsol-
lendes, als ein Ziel, für welches der erkenntnissfähige
Geist da ist, und dem der Weltprocess zustrebt.
Demnach lässt sich die Erkenntnisswissenschaft
(als Erkenntnisstheorie, Logik und Methodenlehre der
wissenschaftlichen Erkenntniss und Forschung) ganz wohl
in das System der Philosophie einfügen als Zweig der Ideal-
wissenschaft und GHedder Entwicklung der philosophischen
Welterklärung aus Einem Princip. Insoferne diese Wissen-
schaft zeigt und lehrt, wie die Idee der Wahrheit rea-
lisirt wird, welche Organe dazu dienen, und wie und
wodurch diese wirken und zuverlässig seien, wie Un-
wissenheit und Irrthum immer mehr überwunden werden
können, — ist sie als ideale Wissenschaft zu betrachten
in ähnlicher Weise und mit ähnlichem Rechte, wie die
Aesthetik wegen ihres VerhäUnisses zur Idee der Schönheit
oder die Ethik wegen der Idee des Guten, die ihr zu
Grunde Hegt.
IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie etc. 49
lY.
Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie als
Idealwissenschaft und System.
Ausser der oben erwähnten philosophischen Richtung
in der Gegenwart, welche die Philosophie darauf beschränkt
wissen will, nur noch Wissenschaftslehre zu sein, um da-
durch ihre Berechtigung und ihr Dasein neben den üb-
rigen Wissenschaften zu retten, besteht noch eine andere
Auffassung derselben, welche zwar das Betrachten des
Idealen als philosophische Thätigkeit will gelten lassen,
aber diese als unwissenschaftUch bezeichnet und nur die
Erkenntnisswissenschaft als eigentliche wissenschaftliche
Philosophie anerkennt. Man unterscheidet eine wissen-
schaftliche und eine nichtwissenschaftliche Philosophie.^)
Die Begriffe werden hier in der That in eigenthümlicher
Weise gemischt, verbunden und getrennt, verneint und
bejaht; Wissenschaft und Philosophie werden , einerseits
schroff unterschieden und Philosophie der Wissenschaft
untergeordnet, \dann aber wiederum Philosophie als höherer
Begriff verwendet, um darunter zwei Arten derselben, die
wissenschaftliche und nichtwissenschafthche einzuordnen.
Diess fordert auf, die Sache näher zu prüfen resp. zu unter-
suchen, worin die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft,
insbesondereider Naturwissenschaft, als der anerkanntesten
wissenschaftlichen Leistung, bestehe; dann in wiefern
Erkenntnisswissenschaft als wirkliche Wissenschaft zu
^) So z. B. A. Riehl. Ueber wissenschaftliche und nicht-
wissenschaftliche Philosophie. Eine akademische Antrittsrede. Frei-
burg i. B. und Tübingen 1883 (Siebeck).
Prohscliammer , Die Philosophie. 4
50 IV- I^ie Wissenschaftlichkeit der Philosophie
betrachten sei, und ebenso : worin das philosophische Er-
kennen der idealen Wahrheit bestehe, dem man Wissen-
schaftlichkeit absprechen will. Dabei soll dann das Ver-
hältniss dieser drei Arten von intellectuellen Bethätigungen
zu einander in Betracht gezogen werden , um Arten und
Grade der Wissenschaftlichkeit derselben zu bestimmen.
Fassen wir zuerst die Naturwissenschaft ins Auge,
80 pflegt zunächst als ein besonderer Vorzug und als
Hauptmerkmal ihrer besonderen Wissenschaftlichkeit be-
tont zu werden, dass sie durchaus Erfahrungswissenschaft
sei; dass sie mit Erfahrung beginne, all' ihre wissen-
schaftlichen Annahmen aus Erfahrung gewinne und ohne
diese und über sie hinaus nichts annehme und behaupte.
Unter Erfahrung aber ist hier zu verstehen die unmittel-
bare Wahrnehmung der Erkenntnissobjecte durch die
Erkenntnissorgane d. h. durch die Sinne und durch das
deren Thätigkeit controlirende und deren Wahrnehmungen
verarbeitende Denken. Die Zuverlässigkeit dieser Erkennt-
nissorgane und die Objectivität oder Realität des durch
sie Wahrgenommenen und näher Bestimmten pflegt dabei
ohne weiters vorausgesetzt, oder als selbstverständhch hin-
genommen zu werden, wie diess auch in der gemeinen
Empirie im gewöhnlichen Leben geschieht. Zeigt doch
allenthalben die praktische Verwerthung der gewonnenen
Forschungsresultate, die Beherrschung und Dienstbar-
raachung der Naturdinge und -Kräfte für das mensch-
liche Leben und Wirken, dass man sich auf das durch
diese Erkenntnissorgane Wahrgenommene und Festge-
stellte verlassen könne! So kann als hinlänglich consta-
tirt gelten, dass man sich auch theoretisch auf die durch
diese Erkenntnissorgane stattfindende wissenschaftliche
Beobachtung verlassen dürfe. Bei den durch wissen-
schaftHche Experimente gewonnenen Forschungsresultaten
ist ohnehin auch gleich die praktische Bürgschaft gegeben.
Näher betrachtet, hat indess die Naturwissenschaft
als Idealwissenschaft und System. 51
auch Stufen der Erforschung der Naturgegen stände und
-Ereignisse und gewissermassen auch Grade und Arten
der Wissenschaftlichkeit oder wissenschaftlichen Fest-
stellung.^) Sie beginnt mit der empirischen Wahrneh-
mung und äusseren Untersuchung der Naturobjecte, um
dieselben nur in ihrer Erscheinung kennen zu lernen,
durch Beschreibung zu fixiren und Andern Mittheilung
davon zu machen. Es entsteht dadurch der sog. de-
scriptive Theil der einzelnen Zweige der Naturwissenschaft,
mit dem sich die Ordnung der einem bestimmten Ge-
biete angehörigen Naturprodukte nach Verwandtschaft und
logischer Stufenfolge, also die sog. Klassifikation zu ver-
binden pflegt. Eine Klassifikation, die in Folge der allge-
meinen Entwicklungslehre w^enigstens in Bezug auf die
pflanzlichen und thierischen Naturbildungen nicht mehr
einen blos logischen , abstracten Charakter hat, sondern
sich mehr oder minder in eine genetische oder genealo-
gische zu verwandeln vermochte. Schon damit verbindet
sich eine durch immer erneute genauere Beobachtung
erzielte und zu erzielende Berichtigung der überkom-
menen Begriffe, worin ja eine Hauptaufgabe der Wissen-
schaft gegenüber der blossen Empirie besteht. Um diess
zu erreichen, ist selbstverständHch nicht bei der äusseren
Erscheinung und Beschreibung stehen zu bleiben, sondern
durch genauere Beobachtung der Theile und Funktionen
dieser Naturprodukte, durch analytische Untersuchung
derselben ist auch ihre innere Zusammensetzung zu er-
forschen und sind die Bedingungen und Arten des Ent-
stehens, der Erhaltung und des Vergehens zu beobachten
und zu constatiren.
Die noch allgemeinere Aufgabe aber, welche sich die
^) Vgl. d. Verf. Schrift: Ueber die Aufgabe der Natur-
philosophie und deren Verhältniss zur Naturwissen-
schaft. Mit Untersuchungen über Teleologie, Materie und Kraft.
München 1861 (Lentner) S. 6 if.
4*
52 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie
Naturwissenschaft stellt, besteht darin, für gegebene,
beobachtete Wirkungen die Ursachen zu erforschen, sowie
umgekehrt, die Wirkungen aus gegebenen Ursachen zu
erkennen oder geradezu daraus entstehen zu lassen in
künstlichen Experimenten, durch welche das Beobachtungs-
gebiet erweitert, das genauere Beobachten selbst erleichtert
oder die Richtigkeit davon constatirt und gesichert wird.
Die Induction ist hiebei die wissenschaftHche Verfahrens-
und Forschungs-Methode, d. h. das Ausgehen vom em-
pirisch Zugänglichen , vom Einzelnen, von den Erschei-
nungen , Wirkungen , Eigenschaften der Dinge , um wo
möghch das Wesen, das Gesetz, das Allgemeine, Con-
stante zu erschliessen. Diess gilt wenigstens bei der
blossen Beobachtung d. h. der absichtlichen Betrachtung
der von der Natur selbst gebotenen Erscheinungen, während
allerdings bei dem Experiment d. h. der Beobachtung
künstlich hervorgebrachter Naturerscheinungen , auch
deductive Ableitung des Einzelnen aus Allgemeinerem,
der Wirkungen aus Ursachen und Gesetzen zur Anwen-
dung kommt, — freiUch nicht aus blossen Begriffen,
sondern durch reale Vorgänge oder Thatsacheu. Neben
den positiven Erscheinungen oder Ereignissen, aus denen
das Allgemeine oder das Gesetz abgeleitet werden soll,
müssen bekanntlich auch die sog. negativen Instanzen
beachtet werden, ehe ein Inductionsschluss gemacht
werden kann, dessen Resultat als sicher zu betrachten
ist, d. h. jene Fälle ähnlicher Art, in denen die fragliche
Naturerscheinung nicht stattfindet. Finden sich solche, so
kann der Schluss nur dann als zulässig erachtet werden, wenn
die Schwierigkeit auf irgend eine Weise sich lösen d. h. die
vermeintlichen Gegen-Instanzen sich beseitigen lassen. Zu
bemerken ist übrigens bei diesem ganzen Verfahren, dass
ein solcher Inductionsschluss, wenn auch unzählige Fälle
zu Grunde gelegt werden können, doch keine unbedingt
sichere Wahrheit ergibt, wenn blos die Summe der Fälle
als Idealwissenschaft und System. 53
in Betracht kommen kann, da die Erfahrung allein keine
unbedingt sichere, noth wendige Wahrheit zu ergeben vermag.
Soll der Schluss ganz sicher sein und wirklich wissen-
schaftUchen Werth erhalten, so muss auch ein bestimmter
Seins- und Erkenntnissgrund (ratio) gegeben sein.
Die Naturwissenschaft begnügt sich indessen noch
nicht damit, gegebene Erscheinungen aus einer Ursache
zu erklären oder auf ein Gesetz des Geschehens zurück-
zuführen, sie will vielmehr all ihre Erklärungen aus wir-
kenden Ursachen (ebenfalls, wie die Philosophie, vom
Streben nach einheitUcher Weltauffassung geleitet) auf
eine einzige Art von Ursachen zurückführen, nämlich auf
mechanisch wirkende Ursachen, auf Mechanismus. Erst
dann soll eine Naturerscheinung für erkannt und er-
klärt gelten, wenn sie aus einer wirkenden Ursache, und
zwar einer mechanisch wirkenden Ursache erklärt oder
abgeleitet, aus den Principien der Mechanik erkannt ist.
Als eigentlich exact aber gilt diess Erkennen und Wissen
erst dann, wenn die constante Weise dieses mechanischen
Geschehens (das Gesetz des Geschehens) in festen Zahlen
bestimmt, in Zahlenformeln ausgedrückt werden kann.
Denn Kant's Ausspruch, dass in der Naturforschung nur
so weit wahre Wissenschaft erlangt sei, als Mathematik
dabei Anwendung findet, hat vielfache Anerkennung ge-
funden. Sollte diess als allgemeingültig angenommen und
strenge geltend gemacht werden, dann würde das Natur-
erkennen selbst in enge Schranken gebannt und machen
Zweige der Naturwissenschaft selbst noch als nichtwissen-
schafthch aus demselben ausgeschieden werden müssen.
Indess ist das durch Zahlen fixirte Erkennen nicht das
einzig sichere Wissen im Gebiete der Natur, denn neben
diesem sog. exacten lässt sich wohl noch ein rationales
d. h. durch Erkenntniss der Ursachen und Gründe ge-
sichertes Wissen geltend machen. Das sog. exacte Wissen
ist nicht einmal in allen Fällen ein rationales d. h. durch
54 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie
Einsicht in die Gründe des Geschehens erleuchtetes und
befestigtes Wissen. So lässt sich z. B. das Gesetz des
Falles der Körper allerdings in Zahlen ausdrücken und
ist zugleich Einsicht zu gewinnen in die Ursachen oder
Gründe, warum derselbe so und nicht anders ist; es ist
diess eine exacte und zugleich rationale Erkenntniss.
Wenn dagegen die sog. Aequivalente oder die Gewichts-
verhältnisse, in denen die sog. einfachen ElementarstofiPe
unter einander Verbindungen eingehen, in festen Zahlen
und in Tabellen dargestellt werden , so ist damit zwar
ein exactes Kennen oder Wissen zum Ausdruck gebracht,
aber nicht eine eigentHclie, rationale Erkenntniss gewon-
nen; denn die Gründe resp. Ursachen, warum diese Ele-
mentarstoffe sich in diesen Gewichts Verhältnissen verbin-
den, sind dabei noch ganz unbekannt. Die Hypothese
von Atomen mit bestimmten unveränderlichen Grössen-
und Gewichts-Verhältnissen ist zu unsicher und zu wenig
begründet, als dass durch sie ein wirklich rationales Wissen
erzielt werden könnte.^)
Diess also ist das naturwissenschaftliche Wissen im
eigentlichen Sinne: Ableitung der Erscheinungen oder
Thatsachen aus den Realgründen oder Zurückführung
derselben auf solche; Einsicht in die Gründe der constan-
ten Geschehensweise oder des Gesetzes und allenfalls
Fixirung dieser Weise in festen Zahlen; endlich, womög-
lich, Zurückführung aller einzelnen, wenn scheinbar noch
so verschiedenen Geschehensweisen auf eine allgemeine,
gleichartige oder auf ein allgemeines Gesetz d. h. auf
allgemeine mechanische Kraftwirkung, auf Bethätigung
der Principien der Mechanik in Gleichgewicht und Be-
wegung. Dabei wird noch als ein besonderer Vorzug
dieses Naturerkennens diess betrachtet, dass sie aller blos
^) V<jl. d. Verf. Sehr.: üeber die Aufgabe der Natur-
philosophie und ihr Ve rhältniss zur Naturwissenschaft.
S. 92 flf. S. 163 ff.
als Idealwissenschaft und System. 55
subjectiven Meinung und Schätzung dadurch entrückt
sei, dass sie rein objective Massstäbe oder Erkenntniss-
kriterieu habe in Längenmass und Gewicht, welche ge-
naue Zahlenbestirnmungen ermöglichen.
Damit mag es nun seine Richtigkeit haben; dennoch
aber kann auch die Naturwissenschaft sich nicht voll-
ständig gleichsam objectiviren, da das Forschen und Wissen
doch immer vom subjectiven Geiste ausgeht, auf dessen
Wahrhaftigkeit d. h. der Zuverlässigkeit der in demselben
wirksamen Denk- und Erkenntniss-Gesetze beruht und auf
der normalen Thätigkeit der subjectiven Erkenntniss- Or-
gane. Diese wird, wie bemerkt, von der Naturforschung
ohne weiters vorausgesetzt und die Bewährung der theo-
retischen Erkenntnisse bei der praktischen Ausführung in der
Natur scheint eine vollständig genügende Sicherheit zu
gewähren auch für die Theorie. Dabei ist allerdings das
Problem der ideahstischen und realistischen Weltauffassung
ausser Spiel gelassen, — und die Naturwissenschaft als
solche kann sich diess auch wohl erlauben. Wichtiger
aber sind die Schranken, die dem Naturerkennen in der
dargestellten Auffassung darin gesetzt sind, dass der
menschliche Geist und das geistige Leben der Mensch-
heit dieser naturwissenschafthchen Erforschung und
Erkenntniss noch ganz verschlossen, deren Mitteln unzu-
gänglich erscheint; so zwar, dass anerkannte Naturfor-
scher selbst in dieser Beziehung nicht blos ihre gegen-
wärtige Unkenntniss zugestehen, sondern das geistige Ge-
biet, das mit der Empfindung und dem Bewusstsein be-
ginnt, auch für alle Zukunft der naturwissenschaftlichen
Forschung als unzugänglich und unerkennbar bezeichnen.
Eine Annahme, mit der es bezüglich der Naturwissen-
schaft selbst, ihrer Mittel und mechanistischen Erklärungs-
■weise wohl seine Richtigkeit haben wird, ohne dass indess
damit alle Erkenntniss des geistigen Lebens in Abrede
gestellt werden kann, da das naturwissenschaftliche Er-
56 iV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie
kennen nicht ohne weiters als das einzige Erkennen gel-
ten kann, das möglich und wirklich wissenschaftlich ist.
Von solcher Behauptung muss schon der Umstand zu-
rückhalten, dass die Naturwissenschaft selbst als Wissen
aus jenem geistigen Gebiete stammt, das als naturwissen-
schaftlich unerkennbar bezeichnet wird und eine voll-
ständige wissenschafthche Unkenntniss oder Unerforsch-
hchkeit hievon die Naturwissenschaft selbst als Wissen
auf ganz dunklen, unsichern Grund stellen würde.
Wenden wir uns nun zur Wissenschaftslehce oder,
allgemeiner genommen, Erkenntnisswissenschaft, welche
man jetzt unter allen philosophischen Disziplinen allein
noch als wissenschafthche Philosophie will gelten lassen,
während alle andern nur noch als nichtwissenschaftliche
angesehen werden sollen. Man kann unter Erkenntniss-
wissenschaft die Erkenntnisstheorie im eigentlichen Sinne,
die Logik und die wissenschaftliche Methodenlehre oder
die Wissenschaftslehre im engeren Sinne begreifen. Die
erstere hat die Aufgabe, die Genesis des menschhchen
Erkennens überhaupt, die Factoren und Bedingungen
desselben (Erkenntnissorgane und -Quellen) darzustellen,
sowie die Zuverlässigkeit und Objectivität der Erkenntniss
näher zu prüfen (erkenntnisstheoretischer Sensualismus,
IdeaUsmus, Skepticismus und Kriticismus). Die Logik
geht aus der Analyse der mittelbaren Erkenntniss d. h.
der Verstandesthätigkeit hervor, bestimmt die Grund-
gesetze des Denkens, die befolgt werden müssen, wenn
es zum Erkennen kommen soll; dann die Formen, welche
durch abstrahirende Denkthätigkeit gewonnen werden, die
Begriffe in ihrem Verhältniss zu einander, in ihrer Ueber-,
Unterordnung und Nebenordnung, ihrer üebereinstimmung,
ihrer Verschiedenheit und ihrem Widerspruche; ebenso die
Functionen des Denkens, wie sie im Urtheilen und
Schliessen sich zeigen. Die Wissenschaftslehre endlich
im engeren Sinne hat es mit den Grundsätzen und Me-
als Idealwissenschaft und System. 57
thoden der wissenschaftlichen Forschung zu thun, den
allgemeinen Grundsätzen und Prämissen, mit der Induc-
tion wie der Deduction , der logischen Definition , Ein-
theilung und Beweisführung.
Wenn nun zuerst die Frage entsteht, ob auch diese
Wissenschaftslehre von der Erfahrung ausgehe und sich
strenge im Gebiete der Erfahrung halte, nicht sie in ihren
Bestimmungen überschreite, — worin ja ein hauptsäch-
liches Merkmal der Wissenschaftlich keit erblickt wird, — ,
so kann man darauf zwar bejahend antworten, aber Er-
fahrung hat hier doch eine andere Bedeutung als bei der
Naturforschung. Es steht hier dem forschenden Geiste
nicht ein reales Object gegenüber, das anregend auf die
Erkenntnissorgane wirkt, dadurch seine Eigenschaften
und Thätigkeiten offenbart und allenfalls auch durch
objective Massstäbe und Kriterien geprüft und bestimmt
werden kann; sondern es ist der erkennende Geist mit
seinen Kräften und Thätigkeiten und deren Gesetzen
selbst, welcher Gegenstand der Erforschung ist. Und
zwar erforscht und erkannt wird mit denselben Erkennt-
nissorganen , mit denselben Kräften , nach denselben Ge-
setzen und in denselben Formen, welche der Gegenstand
der Erforschung sind, so dass das Erkenntnisssubject und
das Object der Erkenntniss der Sache nach identisch
sind , wenn auch dabei das Verhalten von beiden ein
verschiedenes ist. Ohne Erfahrung des Erkenntnissobjectes
kann also die Erkenntniss Wissenschaft weder begonnen
noch fortgesetzt werden ; denn wenigstens sich selbst und
seine verschiedenen Erkenn tnissthätigkeiten erfährt der
Forscher doch wohl unvermeidlich und wird sie nicht
unbeachtet lassen können, um blossen Einfällen oder
Hirngespinnsten sich hinzugeben, in der Meinung, damit
eine Wissenschaft vom menschUchen Erkennen zu ge-
winnen. Die Erkenntuissthätigkeit , welche Gegenstand
der Erfahrung ist, wird dann analytisch zu behandeln
58 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie
sein, um die Kräfte, die Gesetze und Functionen zu er-
kennen, die sich dabei kundgeben. Diese selbst aber
können auch rein für sich betrachtet werden, ura sie
genauer zu erforschen und in ihrer Natur, Gesetz-
mässigkeit und Tragweite zu erkennen, ihre Anwendung
zu controHren, zu berichtigen und vielleiclit auch sogar
neue und erweiterte, jedenfiüls aber gereinigte, exactere
Anwendung zu ermögHchen in neuen oder genaueren
Methoden der wissenschaftUchen Forschung. Insofern
also kann auch die Wissenschaft von der Erkenntniss-
thätigkeit als Erfahrungswissenschaft betrachtet und mit
der Naturwissenschaft in Vergleich gebracht werden. Die
Zuverlässigkeit der Erkennttiissorgane wird auch hiebei
noch vorausgesetzt wie bei der Naturwissenschaft und in
dieser Zuversicht davon Gebrauch gemacht, wenn auch
sonst skeptischer oder kritischer dabei zu Werke gegangen
wird, als bei der gew^öhnlichen empirischen Erkenntniss-
thätigkeit.
FragUcher aber wird die Sache allerdings, wenn es
sich um das Wesen der Erkenntnisskraft und der Er-
kenntniss selber handelt, um den Charakter der übjecti-
vität der menschlichen Erkenntniss. Denn hiebei kann
das Erfahrungsobject, die übliche menschliche Erkenntniss-
thätigkeit, nicht als übject schon die Entscheidung geben,
weil es sich eben darum handelt, ob dieses allerdings als
Erkenntnissthätigkeit gegebene Object auch dem Inhalt oder
Gehalte nach als objectiv, als eine die objective, an sich
seiende Wahrheit verbürgende Thätigkeit zu betrachten
sei. Hier, wo es sich darum handelt, ob das menschhche
Erkennen blos subjective oder auch objective Bedeutung
habe, ob Subjectivismus oder Objectivität bezüghch der
menschhchen Erkenntniss anzunehmen sei, und ob es
unbedingte, allgemein gültige Wahrheiten gebe, stehen der
Erkenntnisswissenschaft ähnliche Mittel nicht zu Gebote
wie der Naturwissenschaft; sie hat nicht Zahl, nicht Mass
als Ideal Wissenschaft und System. 59
und Gewicht zur Verfügung, sondern kann sich bei all-
gemeinen Aufstellungen nur auf Denknothwendigkeit oder
geistige Evidenz berufen, — was freilich auch eine un-
mittelbare Erfahrung des bewussten denkenden Geistes ist.
Auch in feste, bestimmte Zahlenformeln lassen sich die
erkenntnisswissenschaftlichen Resultate nicht bringen, so-
wie sich dieselben nicht aus mechanischen Kräften, Ge-
setzen und Wirkungen erklären lassen. Sollte also nur
da wirkHche Wissenschaft sein, wo in der Weise der
Mathematik und Naturwissenschaft (Mechanik) erkannt
wird , so könnte auch die Erkenntnisswissenschaft nicht
als wirkliche Wissenschaft, sondern nur als nichtwissen-
schaftlicbes Produkt betrachtet werden, — wie es denn in
solchem Falle überhaupt ausser Mathematik und Mechanik
(die aber dann selbst auf unwissenschaftlichem Grunde
ruhten) keine weitere Wissenschaft gäbe: keine Sprach-
wissenschaft , Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaft
u. s. w. , da diese ja alle nicht exacte, mechanisch be-
stimmte Resultate zu bieten vermögen. Wie diese, so
vermag auch die Erkenntniss Wissenschaft nicht absolut
gültige, für immer gesicherte Resultate zu gewinnen und
aufzuspeichern, so dass darauf nur weiterzubauen wäre,
ohne das Festgestellte etwa neuerdings in Frage stellen
zu können. Wäre diess der Fall , dann wäre Skepti-
cismus nicht mehr möglich, und ebenso wenig ein fort-
gesetzter Streit zwischen Idealismus und Sensualismus, —
wie doch thatsächlich all' diese Richtungen immer wieder
auftauchen. In Wirklichkeit sind nur allgemeine Be-
stimmungen , Gesetze und Normen des Denkens und Er-
kennens festbegründet als unbedingt sichere und noth-
wendige Grundlagen und Grundbedingungen alles Seins
wie Denkens, so dass selbst Mathematik und Naturwissen-
schaft darauf beruhen, sie voraussetzen und als Denknoth-
wendiges oder unmittelbar Evidentes gelten lassen, so gut
oder mehr noch , als die Zuverlässigkeit der Sinneswahr-
60 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie
nehmungen. Freilich sind in neuester Zeit selbst die
Grundgesetze des Denkens, wenn nicht in ihrer factischen
Gültigkeit, so doch in ihrer Nothwendigkeit und unbe-
dingten Geltung in Frage gestellt und werden nur als
Resultate der Erfahrung, als empirisch für uns, jetzt und
hier gültige Sätze betrachtet, so dass für anderswo im Welt-
all und zu einer anderen Zeit allenfalls auch wieder andere
Gesetze und Wahrheiten als möglich gelten. In diesem
Falle würden auch die Mathematik und die mechanische
Naturwissenschaft nicht unbedingte theoretische Gültigkeit
haben, sondern könnten nur als provisorische Erfahrungs-
resultate gelten, so dass die Menschen sich überhaupt
nicht mehr theoretisch, sondern nur noch praktisch ver-
halten könnten gleich den Thieren. Die Empiristen und
Positivisten sind bei ihrem Bestreben, nur ganz sichere,
erfahrungsmässige Resultate zu gewinnen und gelten zu
lassen, nur der Erfahrung, nicht dem Denken Sicherheit
zuzutrauen, schliesslich zum Gegentheil gekommen, indem
sie zuletzt auch die sichere, feste Grundlage der Erfahrung
d. h. deren Zuverlässigkeit selbst eingebüsst haben. Aehn-
lich wie der unbedingte Skepticismus durch seine Bezweif-
lung oder Leugnung der MögHchkeit irgend einer sicheren
Erkenntniss und Aussage sich selbst das Recht abspricht,
seiner eigenen Behauptung Gewissheit zuzusprechen,
und also damit sich selbst aufhebt oder bedeutungslos
macht.
Fassen wir nun die Philosophie in's Auge in Bezug
auf Wissenschaftlichkeit, und zwar sowohl insoferne sie
Erklärung der Welt und Bildung einer Weltanschauung
aus Einem Princip sein will , als auch , insoferne sie Er-
forschung der idealen Wahrheit zu sein strebt. Von dieser
Philosophie wird nun in neuerer Zeit fast allgemein diess
wie ein Dogma behauptet, dass sie nicht auf Erfahrung
beruhe, nicht von Erfahrung ausgehe und auf ihrer festen
Basis fortschreite, sondern aus blossem Denken construire,
als Idealwissenschaft und System. 61
keinen bestimmten Erkenntnissgegenstand habe, sowie
kein sicheres Erkenntnissprincip ; daher auch zu keiner
sicheren wissenschaftlichen, objectiv gültigen Erkennt-
niss kommen könne, sondern nur subjective, wech-
selnde, einander oft widersprechende Ansichten aufzustellen
vermöge.
Richtig ist nun in dieser Beziehung allerdings, dass
manche philosophische Systeme, besonders der neueren
Zeit, keine bestimmte Erfahrungsgrundlage haben, sondern
von Principien ausgingen, die selbst nur abstracte Be-
griffe oder schon vorweg angenommene Deutungen des
Daseins waren, und dass dann aus denselben durch blosse
Denkoperation, Deduction oder Dialektik die Natur mit
ihren Erscheinungen, wie der Geist mit seinen g:eschicht-
lichen Leistungen abgeleitet und begriffen sein wollten.
Diess ist nun nicht mögHch und die Versuche dazu sind
als vergeblich anzusehen, so viel Bedeutendes und An-
regendes auch immerhin durch dieselben geleistet wurde.
Wer übrigens die Natur des menschlichen Geistes be-
trachtet, wird sich nicht zu sehr verwundern , dass Ver-
suche dieser Art unternommen wurden. Es muss der
menschliche Geist resp. die Erkenntnisskraft desselben,
soll sie nicht als ein ganz leeres, wirkensunfähiges Etwas
aufgefasst werden, immerhin mit einem bestimmten, gleich-
sam apriorischen Vermögen gedacht werden, das selbst
nicht als eine leere, sondern nur als inhaltlich bestimmte
Kraft aufgefasst werden kann. Und zwar als eine Kraft,
die dem zu Erkennenden in positiver oder negativer
Weise homogen sein muss, wenn auch nicht geradezu
anzunehmen ist, dass bei der Erkenn tniss (selbst nicht
des Allgemeinen und Idealen) eine eigentHche Explicatio
impliciti stattfinde. Früh schon führte die Betrachtung
des Erkenntnissprocesses zu solcher Auffassung der höheren
Erkenntnisskraft. Der voö<; des Aristoteles bleibt zwar
seinem wahren Wesen nach ziemhch in Dunkel gehüllt,
62 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie
wenn aber dieser Philosoph bemerkt, dass bei der Erkennt-
niss des wahren Wesens der Dinge der voö? eigentlich
sein eigenes Wesen erkenne, so ist damit jedenfalls die
fragliche Homogenität ausgedrückt (der Intellectus und
das Intelligibile entsprechen sich gegenseitig). Wenn
vollends Aristoteles den voö? als Formprincip der Form-
principien, als elSoc elSwv, oder als ,,Ort der Ideen" bezeich-
net/) so ist damit offenbar der voöc aufgefasst als leben-
diger Inbegriff der platonischen Ideen, die damit nicht
blos als immanente Principien in den Dingen betrachtet,
sondern auch in ihrer Gesammtheit in die lebendige Er-
kenntnisskraft verlegt sind. Ein Versuch, eine Explicatio
impliciti, eine systematische Entwicklung derselben vor-
zunehmen lag da eigentlich nicht mehr gar zu fern —
um das platonische Reich der Ideen in ein theoretisches,
gleichsam apriorisches System zu entwickeln. Leibniz
hat in neuerer Zeit in seiner Monadenhypothese Aehn-
liches angenommen , indem er die Monaden ^) als die
letzten, substantiellen Einheiten, die das Dasein (das
sinnhche wie das geistige) constituiren mit Vorstellungs-
Kräften (und Ideen) begabt sein lässt, die mehr oder
minder entwickelt sind und die Erkenntniss, die sie er-
langen, offenbar aus sich selbst produciren oder expliciren,
da sie alle in sich geschlossene Einheiten sind und nach
aussen hin keinen Verkehr haben können (keine Fenster
haben). Jede ist eine Art Mikrokosmus, jede spiegelt das
Universum in sich ab, jede also müsste wohl unter Um-
ständen das Dasein, wo nicht in allen Einzelheiten, doch
seinen Gesetzen und Ideen nach aus sich selbst, d. h.
aus der vorstellenden Natur heraus allenfalls zu einem
*) Vgl. d. Verf. Sehr. : Ueber diePrincipien derAristotel.
Philosophie und die Bedeutung der Phantasie in der-
selben. München, Ad. Ackermann 1881 S. 64 ff*.
'^) 8. d. Verf. Schrift: Monaden und Weltphantasie (1879
München) Theod. Ackermann. S. 89 tf.
als Idealwissenschaft und System. 63
System geistig produciren können. Nach der Grundlehre
wenigstens lässt sich diese Möglichkeit kaum in Abrede
stellen. Auch bei der Kant 'sehen Lehre, wie er sie in
der „Kritik der reinen Vernunft" entwickelt, ist eine
solche apriorische Construction nicht ausgeschlossen,
sondern vielmehr Anregung dazu gegeben. Sind dem
Geiste (Vernunft) a priori d. h. vor der Erfahrung reine
Anschauungs-Formen (Raum und Zeit) eigen, durch
welche der Stoff oder Inhalt der Erkenntniss gegeben
werden kann, ausserdem a priori reine Stammbegriffe,
welche für alle Erkenntniss die Form bieten und
ihr den Charakter der Rationahtät, der Noth wendigkeit
und Allgemeingültigkeit verleihen; endlich a priori auch
noch die reine productive Einbildungskraft, die den Grund-
begriffen ihr allgemeines Bild schafft, indem sie dieselben
mit den Anschauungsformen (insbesondere der inneren,
der Zeit) verbindet,^) so erscheint diese reine Vernunft
so reich mit apriorischem Apparat ausgestattet, dass es
nicht zu verwundern ist, wenn von Fichte an reichlich
davon Gebrauch gemacht wurde zur apriorischen Welt-
construction d. h. zur Weltwissenschaft durch reines
Denken ohne die Erfahrung (die ja ohnehin nur noch
auf einer problematischen Anregung eines unerkennbaren
,,Ding an sich" beruht) dazu brauchen zu wollen. —
Gehen wir aber noch weiter und erwägen wir, welche
Ansicht vom menschlichen Geiste, insbesondere der Er-
kenntnisskraft, die moderne Naturwissenschaft, die so sehr
gegen apriorische Construction zu eifern pflegt, in der
Descendenzlehre ausgebildet hat, wie sie den Geist selbst
entstehen lässt und womit sie sich denselben ausgestattet
denkt. Dieser Descendenzlehre zufolge sind die psychi-
schen Kräfte (wie die körperlichen Organ -Gestaltungen)
*) S. ra. Schrift: Ueber die Bedeutung der Einb ildungs-
kraft in der Philosophie Kants und Spinoza's. München
1879. (Ad. Ackermann.)
(54 IV. Die Wissenschaftliclikeit der Philosophie.
durch Thätigkeit in bestimmter Richtung und durch
Accomodation an die Naturverhältnisse entstanden, — im
Zusammenwirken allenfalls mit den organischen Principien
und unter bestimmten Entwicklungsgesetzen. Durch
diese Thätigkeiten wurden eigenthümliche Fertigkeiten er-
worben (psychische wie physische) und diese wurden
dann allmählich an die folgenden Generationen vererbt,
so dass den später Gehörnen, das von Geburt an wenig-
stens als Anlage eigen ist, was die früheren sich durch
eigene Thätigkeit erringen mussten. Da also auch der
menschhche Geist in dieser Weise sich ausgebildet, so
muss er nunmehr schon mit gewissen Fähigkeiten, be-
stimmten Anlagen in 's Dasein treten , also ursprünglich
schon einen immanenten, angebornen Inhalt haben, der
insbesondere in intellectueller Beziehung die Fähigkeit
zur Erkenntnissthätigkeit bildet. In gewissem Sinne muss
also auch nach dieser Theorie der menschhche Geist von
Geburt an ein noch in sich geschlossenes Abbild der ob-
jectiven Natur sein, wenigstens in formaler Beziehung
und den allgemeinen Grundzügen nach in Bezug auf
Gesetze und Formen des Daseins. Auch hienach also
könnte es nicht geradezu als ein chimärisches Unter-
nehmen bezeichnet werden, zu versuchen, ob sich nicht
aus dieser so inhaltlich gebildeten Natur des Geistes resp.
seiner Erkenntnisskraft eine gewisse Welterkenntniss ab-
leiten, gleichsam a priori construiren lasse. Es wäre eine
Entwicklung dessen durch spontane und logische Thätig-
keit, was in Jahrtausenden allmählich gleichsam ange-
sammelt wurde, also eine Art Explicatio impliciti. Es
wäre diess um so eher denkbar, als auch das allgemeine
gestaltende Weltprincip in der Form der subjectiven Phan-
tasie sich dabei zugleich gestaltend bethätigen könnte.
Indess ist gleichwohl eine solche Construction a priori
nicht als möglich zu erachten, wenn auch der erkennende
Geist oder die Erkenntnisskraft als noch so inhaltvoll und
als Ideal Wissenschaft und System. 65
mit Bildungskraft ausgestattet gedacht wird. Um sich
wirklich seiner Anlage nach entwickeln und Erkenntniss
des Daseins erringen zu können, muss auch objective
Einwirkung von Seite der Erkenntniss- oder Erforschungs-
Gegenstände stattfinden, wie selbst Kant diess fordert.
Wie das Auge zwar Licht aus seiner Natur producirt,
aber zum wirklichen Sehen dennoch des äusseren Lichtes
bedarf, und wie der Same zwar den ganzen Organismus
der Tendenz und dem Gesetze nach in sich enthält, aber
dennoch sich nicht in seiner Art entwickeln kaim, wenn
nicht die äusseren, objectiven Bedingungen angemessen
erfüllt werden, so auch bedarf die Erkenntnisskraft zur
richtigen Thätigkeit und wirklichen Erkenntniss der
Erfahrung. Die meisten philosophischen Systeme oder
philosophischen Welterklärungen aus einem Grundprincip
gingen dabei auch wirklich von irgend einem erfahrbaren
äusseren Stoffe oder von einer Kraft aus, um daraus, so
weit als möglich alle Bildungen oder Erscheinungen des
Daseins (in Natur und Geschichte) abzuleiten oder zu er-
klären. Von dem jonischen Philosophen Thaies an bis
zu den Stoikern und Epikureern zeigt sich diess, während
hinwiederum Piaton und Aristoteles, zum Theil auch
Anaxagoras und Empedokles begriffliche Principien und
menschliche Seelenkräfte oder -Bethätigungen als wirkende
Mächte bei der Gestaltung des Daseins annehmen. Was
die neueren Systeme der Philosophie betrifft , so suchen sie
allerdings vorherrschend aus Begriffen oder a priori durch ab-
stracte Denkoperationen die Welt zu construiren, — was
in der That als vergebUches Unternehmen zu bezeichnen
ist, ohne dass man darum zu verkennen oder zu ignoriren
braucht, welch' mächtige Anregungen zu eindringender
Forschung, und welche Fülle tiefer Gedanken gleichwohl
diesen philosophischen Constructionen zu verdanken sind.
Was die Phantasie als Grundprincip des Weltprocesses
betrifft, so ist aus der unmittelbaren psychischen Er-
Frohschammer, Die Philosophie. 5
66 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie
fahrung bekannt, was darunter zu verstehen sei und wie
sie als subjective psychische Potenz wirke; insbesondere,
dass ihre Bethätigung eine sinnlich-geistige sei, dass sie
das Gebiet der Sinnlichkeit und das des Geistes mit-
einander verbinde, an beiden Theil habend, wie schon
Kant in der Kritik der reinen Vernunft geltend gemacht
hat. Wie von dieser subjectiven Phantasie zur objectiven
zu kommen sei, und wie diese und warum sie zum allge-
meinen Grundprincip des Weltprozesses erhoben werden
müsse, ist schon oben in Kürze angedeutet worden. Wir
sind der Ueberzeugung, dass dabei das philosophische
S^^stem durchaus auf Erfahrung sich stütze, sowohl was
das allgemeine Princip betrifft, als auch bei der Erklärung
im Einzelnen, da überall an Erfahrungsthatsachen ange-
knüpft wird, um, so weit als möglich, aus dem genannten
Princip zu erklären oder daraus abzuleiten.
Auch die philosophische Erforschung der idealen
Wahrheit, wie wir sie geltend machen, ist nicht eine
apriorische Construction, oder durch bloss abstracte
Denkoperation zu erzielen, sondern gründet sich allent-
halben auf subjective Erfahrung und hat es mit allge-
meinen Erfahrungsthatsachen zu thun. Man braucht nur
an das ethische und ästhetische Gebiet zu denken, um
sofort sich davon zu überzeugen ; denn das ethisch
Richtige, das Gute für den Willen, wie das was für das
ästhetische Gefühl als Schönes sich kund gibt, wird von
der Erkenntnisskraft als Wahrheit im idealen Sinne er-
fasst und nach Grund und Merkmalen in Begriffen und
Urtheilen zur Darstellung gebracht. Wie sollte die wissen-
schaftliche Forschung sich nicht auch auf dieses Gebiet
richten, das so wichtig und entscheidend ist für das Dasein,
für das Glück und Unglück des Menschen , ja dasjenige
ist, was dem menschlichen Leben und der Welt über-
haupt erst Sinn und Bedeutung und Vollkommenheit
verleiht ! Wenn die Naturwissenschaft in aller Weise mit
als Ideal Wissenschaft und System. 67
Anstrengung und Beharrlichkeit sich bemüht, alle Stoffe,
Kräfte und Gesetze der Natur kennen zu lernen, alle
unorganischen und organischen Produkte derselben auf
das Genaueste zu untersuchen, zu beschreiben und nach
Entstehung und Daseins weise zu prüfen, — so wird es
wohl als selbstverständHch betrachtet werden dürfen, dass
auch das Gebiet des Idealen , dass auch die höheren
Ziele, Güter und Weisen des Daseins für die erkennende
Kraft des Menschengeistes Gegenstand unablässiger Prüfung
und Forschung seien. Da die Menschen wie die Völker
ohne dieses Ideale doch nicht leben und wirken können
und wollen (ja zu Grunde gehen, wenn der Sinn dafür
in Corruption und Gemeinheit erloschen ist), so hiesse es
nichts Anderes, als gerade den höheren, besseren Theil
des menschHchen Daseins dem Zufall und der Willkür,
der Unwissenheit, dem Wahn, Trug und Aberglauben
überlassen und schutzlos preisgeben, wollte man der
menschlichen Erkenntnisskraft und wissenschafthchen
Forschung es versagen, auch in diesem Gebiete unablässig
thätig zu sein. Zu forschen, sei es auch nur, um einiger-
massen reinigend, läuternd zu wirken, grobe Wahn-
gebilde zu zerstören und der Herrschaft der Unver-
nunft auch hier mit der Macht der Thatsachen und
des Gedankens entgegenzuwirken. Wenn jetzt so oft
und leichthin von philosophischer wie naturwissenschaft-
licher Seite das ideale Gebiet dem Glauben und Aber-
glauben unbedingt überlassen, wenn gefordert wird, dass
diess Gebiet von der Wissenschaft als unerkennbar auf-
gegeben werde, so wird dabei nicht bedacht, dass dann
bald auch die Naturwissenschaft und alle Art von Wissen-
schaft überhaupt in ihrer Selbstständigkeit bedroht, in
ihrem Fortschritt gehemmt würde, — wie es im Alter-
thum und im Mittelalter, ja selbst bis in die neuere Zeit
herein der Fall war. Gestützt auf die Nothwendigkeit,
die höheren, idealen Interessen und Strebungen der Mensch-
5*
6g IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie
heit zu wahren und zu fördern, würde im Namen des
Glaubens und Aberglaubens der Wissenschaft Halt ge-
boten und brutaler Wahn und Selbstsucht würden, ge-
stützt auf die unwissende, bethörte Masse, das geistige
Leben vergewaltigen und barbarisch hemmen. Allerdings
ist anzuerkennen, dass in diesem Gebiete ein exactes
Wissen, in festen mathematischen Formeln ausdrückbar,
nicht möglich sei, wie in der Naturwissenschaft, und nicht
eine Summe von festen, unumstösslichen, nicht wieder in
Frage zu stellenden Erkenntnissen sich ansammle. Es
liegt diess in der Natur des Erkenntnissgegenstandes, der
sich nicht mechanisch behandeln und fixiren lässt und
ausserdem in beständigem Fortschritte begriffen ist, indem
er sich dem menschlichen Bewusstsein nur allmählich
offenbart — wie schon oben bemerkt wurde. Feste
Formeln in diesem Gebiete stellen nur die positiven Re-
ligionen auf in ihren Glaubenssätzen, die aber nur den
jeweilig errungenen idealen Bewusstseins-Inhalt fixiren
und dann durch ihre starre Un Veränderlichkeit den weiteren
Fortschritt in der Erkenntniss hindern und wo sie unbe-
dingt zur Geltung gebracht werden (durch Erziehung,
Furcht und Zwang), einen Stillstand und damit auch
Rückgang im geistigen Leben der Völker verursachen.
Die philosophische Forschung aber in diesem Gebiete
hat beständig neu zu prüfen, nicht blos gläubig anzu-
nehmen, und hat damit den Erkenntnissgegenstand selbst
für das menschliche Bewusstsein immer neu und voll-
kommener zu erringen, — nicht blos denselben begrifflich
zu bestimmen und festzuhalten — wie etwa diess eine
Dogmatik versucht. Für die Naturwissenschaft, wenigstens
für den mechanistischen Theil derselben, ist der Gegen-
stand d. h. sind die Kräfte und Gesetze da und unver-
änderlich, und so lässt sich ein für allemal Erkenntniss und
Feststellung gewinnen. Auch der analysirende und be-
schreibende Theil derselben hat seinen Gegenstand als
real Gegebenes vor sich und brauclit ihn nicht erst durch
als Idealwissenschaft und System. 69
Forschung zu entdecken. Denn wenn auch allerdings durch
Beobachtung und Experiment bisher noch Unbekanntes
gefunden, entdeckt werden kann, so ist diess doch immer-
hin ein real Vorhandenes, das fix und fertig ist und
beharrt, wenn es einmal erkannt und durch genaue Prüfung
die allenfalls hier noch vorkommenden Täuschungen
oder Irrthümer ausgeschlossen sind. Die Philosophie ist
dafür auch die Wissenschaft, in welcher das eigentlich
geistige, höhere Leben der Menschheit fortschreitet, in
welcher die wahre Bedeutung des Seienden und Werden-
den lebt und sich offenbart, um derer willen doch allein das
menschHche Dasein wirkKchen Werth hat trotz aller Un-
vollkommenheit.
Was die Weltauffassung aus dem^Grundprincip betrifft,
das wir geltend machen, der Phantasie nämlich, so ist
diese für dieselbe zugleich das Princip des Werdens, des
plastischen und teleologischen Gestaltens und Zeugens,
wie der Erkenntniss sowohl des WirkHchen oder Realen,
wüe des Idealen; jenes als objective Phantasie, dieses als
subjective. Als objective Phantasie ist diess Princip
gleichsam vermählt mit den allgemeinen (mechanisch
wirkenden) Gesetzen und Kräften der Natur und strebt
in allen Gestaltungen äusserlich und innerlich nach Ziel-
erreichung und insofern nach Ideerealisirung , so dass
durch sie wirkende Ursachen und Endursuchen miteinander
verbunden und jene zum Dienste dieser verwendet werden
(wie etwa bei technischen Bildungen das Phantasiebild,
der Plan des Technikers sich verbindet mit den Stoffen
und mechanischen Kräften oder Gesetzen, um ein ein-
heitliches, obwohl complicirtes Ganzes hervorzubringen).
Als subjective Phantasie hat sie durch Verbindung mit
den nothwendigen Gesetzen des Denkens und den allge-
meinen Normen (Kategorien) sich zum subjectiven Ver-
stände constituirt und bethätigt sich als Denkkraft, während
sie (die subjective Phantasie) als, Trägerin der Ideen (des
70 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie
Idealen als Zieles des Denkens und Strebens) als Ver-
nunft, oder Fähigkeit für das Ideale sich kund gibt.
Was den wissenschaftlichen Charakter der Welterklärung
aus diesem Princip betrifft, so ist es nicht besser und
nicht schlimmer um denselben bestellt, als bei der Er-
kenntnisswissenschaft selbst. Induction und Deduction,
Analyse und Synthese finden dabei ihre Anwendung auf
Grundlage der sicheren Denkgesetze. Die Erkenntniss-
formen, die Denknoth wendigkeit und Evidenz , sind bei
dieser Erklärung entscheidend, wie bei der Erkenntniss-
wdssen Schaft auch der Fall ist. Unvollkommen und
der Verbesserung bedürftig bleibt selbstverständlich auch
die Welterklärung aus diesem Principe in manchen Be-
ziehungen. Diess ist indess auch bei der Erkenntniss-
wissenschaft nicht minder der Fall, da sogar in Bezug
auf die Fundamentalbedeutung die menschliche Erkennt-
niss nicht jeder Anzweiflung entrückt ist. Insoferne aber
unsere Welterklärung aus der Phantasie als Grundprincip
auch die Genesis der Erkenntnissorgane, der Sinne und
des Verstandes (und der Vernunft) zu erklären sich zur
Aufgabe stellt, ist sie sogar in der Lage, die Erkenntniss-
grundlage der Erkenntniss Wissenschaft und der Natur-
wissenschaft selbst in Anspruch zu nehmen. Und insofern
sind also diese beiden Wissenschaften von ihr bedingt ; denn
ihre wissenschaftliche Sicherheit und Bedeutung ist davon
abhängig, aus welchem Grunde und in welcher Art die
Erkenntnissorgane selbst im Weltprocesse sich bilden. Die
gewöhnliche Erkenntnisswissenschaft bleibt blos bei dem
Gegebensein dieser Erkenntnissorgane stehen, fragt nur
nach der Erkenntnisskraft derselben und sucht besonders
durch Analyse die Bedingungen und Arten des Erken-
nens zu bestimmen. Und doch ist auch hier die genetische
Untersuchung nunmehr geboten, da die blos analytische
Untersuchungsart nicht mehr als genügend erachtet
werden kann.
als Idealwissenschaft und System. 71
Noch in anderer und sogar noch fundamentalerer Weise
ist indess die Naturforschung selbst nebst der Erkeunt-
nisswissenschaft von dem Systeme, das wir versuchen,
bedingt. Es ist diess der Fall durch das Problem der
Empfindung. Die Empfindung ist es (insbesondere
Lust und Schmerz), welche wenigstens in der belebten
Natur den Impuls gibt zu all' dem reichen, mannich-
faltigen Geschehen; und zwar nicht blos zu psychischen
Functionen, sondern auch zu all' den physischen Be-
wegungen, durch welche die Erhaltung und Fortpflanzung
des Lebens in seinen verschiedenen Formen bedingt ist
und veranlasst wird. Nun kann die Naturwissenschaft
zwar die mechanischen, die physikalischen und chemischen
Verhältnisse und Geschehensweisen erkennen, erklären
und allenfalls auch vorausbestimmen, aber die Empfindung
vermag sie nicht mit ihren Mitteln und aus ihren Ge-
setzen und Stoffen zu erklären und zu begreifen, wie die
berufensten Vertreter der Naturforschung in neuester Zeit
selbst bekennen. Sie kann demnach wohl die Mittel des
Geschehens in den lebendigen Naturprodukten erkennen,
die wirkenden Ursachen und deren gesetzmässiges Wirken,
— aber nicht den letzten bewegenden Grund, welcher den
eigentlichen Impuls zu dem ganzen Getriebe
im thierischen Dasein gibt und der als letzte
bewegende Ursache zugleich das Ziel des Be-
wegens und Strebens in sich enthält. Der Ver-
such, diese Empfindung und die Genesis der Empfindungs-
fähigkeit aus dem Naturprocesse zu erklären, fällt nun
der Philosophie zu, und zwar der Philosophie, die
aus Einem Grundprincip erklärt und das Gebiet
der Ideen, das ideale Moment in der Natur zum
Gegenstand der Forschung macht. Die Empfin-
dung ist nur aus dem idealen Moment und Princip in
der Natur zu erklären,^) da sie in den organischen Bil-
^) S. Phantasie als Grundprincip S. 281 flf. Monaden
72 1^- J^ie Wissenschaftlichkeit der Philosophie.
düngen eine bestimmte teleologische Ordnung voraussetzt,
die gefördert oder gestört werden kann. Gerade aus der
eigenartigen Wirksamkeit der Phantasie als Grundprincip
ist zugleich das teleologische Moment in der Organisation
und das ideale Wesen in derselben zu erklären, — da
dadurch es eben geschieht, dass durch VerinnerHchung
und Concentrirung das Individuum sich selbst d. h. seine
individuelle Gestaltung als für sich Seiendes findet und
zugleich den harmonischen oder disharmonischen Zustand
davon erfährt oder empfindet. Erforscht also die Natur-
wissenschaft die wirkenden Ursachen in der Natur (mit
Ausschluss der Endursachen oder des Teleologischen) und
deren gesetzmässige oder constante Wirkensweise, so hat
die Philosophie gerade das zum Gegenstand der Unter-
suchung und Erklärung, wodurch diese wirkenden Ur-
sachen oder der Mechanismus der Naturdinge selbst den
Impuls erhält, in Bewegung gesetzt und zugleich zu einem
Ziele (Zwecke) geleitet wird : die Empfindung nämhch und
den Trieb, der' damit in unmittelbarer Beziehung steht.
Somit gibt die Philosophie der Naturwissenschaft sowohl
in der Grundlage, als im Ziele eine Ergänzung und ver-
mittelt erst das Ver^tändniss der eigentlichen Bedeutung
dessen, was die Naturwissenschaft erforscht. Für das
wahre Verständniss der Natur muss also zur Naturwissen-
schaft noch die Philosophie, die philosophische Erklärung
der Genesis und des idealen und allgemeinen Impulses,
der von der Empfindung ausgeht, hinzukommen. — End-
lich aber ist die Naturwissenschaft wie auch die Erkennt-
nisswissenschaft von der Philosophie auch noch bedingt,
insoferne diese Erkenntniss der Genesis und idealen Be-
und Weltphantasie S. 31 ff, 166 ff. Die Empfindung ist zwar
als ein physisch-psychischer Zustand zunächst Object anthropologischer
Forschung, allein Anthropologie, wie Psychologie gründen sich philo-
sophisch -wissenschafthch auf das allgemeine Grundprincip des
Weltprocesses.
als Idealwissenschaft und System. 73
deutung der Dinge aus Einem Princip ist. Aus der Em-
pfindung geht nämlich auch das ßewusstsein und Selbst-
bewusstsein hervor, und von diesen ist die Genesis, sowie
Gebrauch und Bedeutung der Erkenntnissorgane, der
Sinne sowohl als des Verstandes bedingt. Die Natur-
wissenschaft und die Erkenntnisswissenschaft setzen auch
diese, welche doch alle Erkenntnissthätigkeit ermöglichen,
voraus, nehmen sie als Gegebenes hin , ohne Wesen und
Bedeutung davon erst zu untersuchen, ja ohne sie — ein-
gestandener Massen, erklären zu können, so wenig als
die Empfindung, aus welcher sie stammen. Die Philosophie
aber in Verbindung mit der naturwissenschaftlichen Ent-
wicklungsgeschichte hat sie aus dem einheitlichen Princip
und aus den idealen Momenten des Daseins zu erklären.
Wird diesem genetisch-systematischen Versuche der Philo-
sophie als System und Idealwissenschaft alle wissenschaft-
liche Geltung abgesprochen, dann ist auch von der Wissen-
schaft überhaupt zu sagen, dass sie auf nichtwissenschaft-
licher Grundlage ruhe, — was man doch wieder nicht will.
Es fehlt der Philosophie, wie wir sie verstehen^ sowohl
als Idealwissenschaft wie als System nicht an Erfahrungs-
grundlage ; denn nicht blos das Gefühl, sondern schon die
Empfindung (Lust und Schmerz) selbst offenbart ein teleo-
logisches und ideales Moment in der Natur und bietet
dadurch, wie ein Object, so auch ein Kriterium idealer
Erkenntniss. Und die Phantasie als objectives organisches
und belebendes Princip ist nicht nur in den Wirkungen
offenbar, welche sie als Ursache postuliren, sondern sie
ist als subjective psychische Potenz und Thätigkeit in ihrem
Dasein und ihrer Wirkensweise auch der unmittelbaren
Erfahrung eines jeden Denkenden zugänglich, ja selbst der
unmittelbaren, reflexionslosen Empirie bekannt. Auch die
wissenschaftlichen Grundsätze und Methoden sind die-
selben, wie bei den Erfahrungswissenschaften, wie nicht
minder dieselben logischen Gesetze befolgt und dieselben
74 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie.
logischen Operationen vom Denken vorgenommen werden
wie bei den übrigen AYissenschaften. Wenn zuweilen der
logische Gedankengang am Faden des Causalgesetzes zur
Aufstellung von Behauptungen führt, deren Inhalt der
unmittelbaren Erfahrung sich noch entzieht, oder für diese
der Natur der Sache nach ganz unzugängHch ist, so theilt
sie diess Schicksal bekanntlich selbst mit der Naturwissen-
schaft. Auch diese sieht sich gedrungen, Manches anzu-
nehmen, was nicht unmittelbar erfahren werden kann,
ohne dass sie desshalb auf den Charakter einer Wissen-
schaft verzichtet oder ihr ein solcher von andern Wissen-
schaften abgesprochen wird. Allerdings, äusseres Maass
und Gewicht kann die Philosophie nicht anwenden und
in mathematische Formeln lassen sich ihre Feststellungen
nicht fassen. Diess liegt in der Natur der Sache und die
wenigsten Wissenschaften vermögen diess. Auch die Wissen-
schaftslehre vermag diess nicht, sowie nicht die meisten
Zweige der Naturwissenschaften ; von Geschichte und an-
deren Wissenschaften nicht zu reden. Auch feste unum-
stössHche Resultate stellt die Philosophie nicht auf wie
etwa die positiven Religionen ihre Dogmen fixiren, als
wären es unveränderUche Wahrheiten, und dann durch
Androhung zeitHcher und ewiger Strafen und Qualen
Annahme erzwingen und die Unantastbarkeit derselben
gegen weitere Forschung aufrecht zu erhalten suchen. Im
geistigen, idealen Gebiete ist diess wenigstens bei wissen-
schaftUcher Forschung nicht zulässig und würde dem geistigen
Leben mehr schaden als nützen, da es den weiteren Fort-
schritt hemmte. Auch an der Wahrheit selbst wäre es eine
Versündigung, insoferne ihr das Recht, die MögUchkeit
weiterer Offenbarung entzogen würde. — Wenn in der Philo-
sophie verschiedene Ansichten auftauchen, dieselben sich
ändern und einander bekämpfen, so ist auch diess nichts An-
deres, als was auch in anderen Wissenschaften vorzukommen
pflegt, denen man darum nicht gleich Wissenschaftlichkeit ab-
als Ideal Wissenschaft und System. 75
spricht und so deren Berechtigung und Bedeutung in Frage
stellt, — wie man damit der Philosophie gegenüber gleich
bei der Hand ist. Wenn z. B. die Geologie innerhalb weniger
Decennien mehrmals grosse Umwandlungen erfahren hat,
oder wenn die Sprachwissenschaft oder die Ethnologie
grossen Schwankungen ausgesetzt ist und vielfache Mo-
difikationen erfährt, so findet man diess und alle Unsicher-
heiten und Controversen, die sich daran knüpfen, in der
Ordnung und in der Natur der Sache begründet zur
Erzielung allseitiger Betrachtung und gesicherten Fort-
schrittes. BezügHch der Philosophie aber ertönen unauf-
hörlich Deklamationen über den Wechsel der Systeme,
dass von diesen immer eines dem anderen widerspreche
und es aufhebe, dass also die Philosophie überhaupt nichts
Sicheres erreiche und kein begründetes AVissen in ihr zu
finden sei. So besonders Theologen, und selbst an Ver-
tretern der Philosophie fehlt es nicht, die dergleichen land-
läufige Phrasen nicht verschmähen. Dass auch die Reli-
gionen sich mit all' ihren Dogmen und Vorschriften
einander in der mannichfachsten Weise widersprechen,
beachtet man dabei nicht, und übersieht daher, dass die-
selben Einwürfe, gegen deren Bedeutung, Sicherheit und
Berechtigung gelten, wie man sie so bereitwillig und all-
gemein gegen die Philosophie vorzubringen pflegt, um sie
herabzuwürdigen und zu verdächtigen. Wollte man nur
bedenken und erwägen, wie viel die Philosophie seit ihrem
Beginne für das geistige Leben der Menschheit in intel-
lectueller, ethischer, religiöser und ästhetischer Beziehung
geleistet hat seit so vielen Jahrhunderten, man würde
finden, dass nicht blos alle Wissenschaften aus ihr all-
mähhch hervorgegangen sind, sondern auch die Religionen
allenthalben ihre bestimmte, lehrhafte Ausbildung mit Hülfe
derselben erlangt haben, und dass hauptsächlich sie es war,
die gegen Wahn, Aberglauben, Intoleranz und Grausam-
keit, welche die Menschen gegen einander um des Glaubens
76 V. Das System der Philosophie.
willen Jahrhunderte lang verübten, unablässig wirkte.
Man müsste dadurch wohl veranlasst werden, gerechter,
vernünftiger über sie zu urtheilen, als es von Orthodoxen,
Empiristen, Positivisten u. s. w. zu geschehen pflegt. Man
denke sich doch einmal die Philosophie aus der abend-
ländischen Menschheit seit dritthalbtausend Jahren hinweg,
und erwäge, wie die Lücke beschaffen sein möchte, die
dadurch entstünde!
y.
Das System der Philosophie.
Eine Welterklärung oder Weltauffassung aus Einem
Grundprincip muss sich selbstverständüch zu einem mehr
oder minder vollständigen , einheithchen System ausge-
stalten, wie diess speziell bei der P h a n t a s i e a 1 s G r u n d -
princip versucht wurde. Werden die einzelnen Grund-
momente des Weltprocesses (durch Phantasie), die an sich
eine Einheit bilden durch Analyse im Besonderen be-
trachtet und erörtert, so zeigen sich deren drei, die sich
im Weltprocesse selbst bethätigen und gleichsam orga-
nisch im Ganzen wie im Einzelnen zusammenwirken. Der
Weltprocess bedarf nämlich zunächst einer festen Basis, eines
nothwendigen, unveränderlichen Momentes. Es sind diess
die Grundgesetze des Seins (und Denkens), auf Grund
welcher und durch welche das Wirken, Gestalten des eigent-
lich bildenden Princips stattfindet, die nicht nichtsein und
nicht anders sein können, insoferne überhaupt ein ratio-
nales Dasein und Geschehen soll stattfinden können.
V. Das System der Philosophie. 77
Es ist sodann ein Ziel des Wirkens oder Bildens nöthig,
das zugleich leitende Norm dabei ist : das ideale, plastische
und teleologische Moment, wodurch der Weltprocess im
Grossen und im Einzelnen Ziele erreicht und Sinn und
Bedeutung erhält; und endhch ist das eigentUch bildende
oder schaffende Princip, eben die Phantasie, noth wendig,
wodurch das Sein und Seins- und Geschehnes-Gesetz
Verwendung findet, um Ziele zu erstreben und Ideen zu
verwirklichen im sinnHchen wie im geistigen Dasein.
Demgemäss ergeben sich zunächst für das System
der Philosophie zwei Haupttheile, da man zum Behufe
der systematischen Darstellung am angemessensten zuerst
die Grandfactoren des Weltprocesses für sich, in abstracto,
betrachtet, dann erst im zweiten Theile dieselben in con-
creter Wirksamkeit in den verschiedenen Gebieten des
Daseins, in Natur und Geschichte zu erkennen strebt.
Der erste Haupttheil wird also die Principienlebre für Sein
und Erkennen zum Inhalte haben: die Grundgesetze des
Seins und Denkens oder die ewige Wahrheit im Sinne
von Wirklichkeit; ebenso die Grundideen, deren Realisirung
das Ziel des Weltprozesses ist; und endlich das bildende
schaffende Princip oder die Weltphantasie selber. Der
zweite oder besondere Theil hat dann die Aufgabe, den
Weltprocess selbst, wie er sich im Zusammenwirken dieser
Factoren vollzieht, als Gegenstand der Forschung zu
behandeln. Er beginnt mit dem Naturprocess, soweit
in ihm die Wirksamkeit des bildenden , organisirenden
Princips sich offenbart, um die allmähliche Verinner-
lichung und Vergeistigung durch die Stufen der Wesen
zu verfolgen bis zur Entstehung der Menschennatur, in
welcher dann die Genesis des Geistes durch die subjec-
tive Phantasie, insbesondere des psychischen Organismus
zu erkennen ist, mit seinen höheren geistigen Kräften, die
sich in ihm differenziren, wie die Nerven im physischen
Organismus. So bilden sich Naturphilosophie und An-
78 V. Das System der Philosophie
thropologie als philosophische Disciplinen, woran sich
sodann die Zweige der Philosophie schliessen, welche das
geschichtliche Leben und Wirken der Menschheit zum
Gegenstand der Forschung haben: Wissenschaft von der
Genesis der Menschheit und Völkerpsychologie, Keligions-
Philosophie, Ethik, Sprachphilosophie und Aesthetik, die
ersten, ursprünglichsten Erscheinungen des geschichtlichen
Lebens der Menschheit behandelnd; endUch die Wissenschaft
von der Organisation der Gesellschaft in Recht, Staat und
socialem Leben. Hieraus ergeben sich auch die Grund-
sätze, Ziele und Methoden der Einwirkung der lebenden
Generation auf die neuenstehende in der Erziehung, woraus
sich die Pädagogik als philosophische Disciplin bildet.
Unser System will also Erklärung und Darstellung
des Weltprocesses (zunächst natürlich des irdischen) sein,
aus einem Grundprincip, das wir als bildende, schaffende
Weltphantasie bezeichnen. Und zwar als philosophisches
System will es Erkenntniss und Darstellung dieses Ent-
wicklungsprocesses in Natur und Geschichte nach seiner
idealen Seite sein, während die Darstellung desselben
nach der realen Seite Sache der Natur- und Geschichts-
wissenschaft nebst der positiven Neben- Wissenschaften ist.
Doch bethätigt sich das bildende Grundprincip auch an
der realen Seite, so dass sie in dieser Beziehung eben-
falls der systematisch und genetisch verfahrenden Philo-
sophie als Erkenntnissobject zufällt, oder vielmehr sich
ein Grenzgebiet bildet zwischen den positiven oder Real-
Wissenschaften und der Philosophie.
Nun erfreut sich aber die Philosophie als System aller-
dings in neuerer Zeit keiner besonderen Gunst. Nicht bloss
jene, vielleicht nur wenigen Vertreter der sog. exacten und
positiven Wissenschaften, die nicht geradezu jede Philo-
sophie geringschätzen, wollen von philosophischen Sy-
stemen grösstentheils nichts wissen, sondern auch unter
den Philosophen selbst sind deren, welclie systematisches
V. Das Ideal der Philosophie. 79
Philosophiren abweisen und allenfalls sogar zu dreistem
Absprechen darüber sich berechtigt glauben.
Wenn zunächst gegen Aufstellung eines philosophi-
schen Systems d. h. gegen Erklärung des Weltprocesses
im Grossen und Einzelnen aus einem einheitHchen Prin-
cip eingewendet werden mag, dass ein solches Unter-
nehmen unmöglich sei, dass wir das Dasein zu wenig
kennen, um eine durchgreifende systematische Erkennt-
niss davon zu gewinnen, wie ein philosophisches System
sie fordert, — so ist zu bemerken, dass dem allerdings
Wahrheit zu Grunde liege, dass ein vollkommen fix und
fertiges, allgemeines Weltsystem Jn einer gegebenen Zeit
sieh nicht aufstellen lasse. Indess darf diess nicht hin-
dern, fort und fort den Versuch zu erneuern zu einem
solchen System , je nach den gegebenen Verhältnissen
und Fortschritten, da man doch nicht warten kann, bis
all' die unendlichen Daseins-Gebiete vollständig durch-
forscht wären, weil schiesslich die un verbundenen
Bruchstücke so unendlich anwachsen würden, dass die
chaotische Masse nicht mehr zu bewältigen wäre. Auch
die Naturwissenschaft, wie alles menschhche Wissen, ist
vorläufig nur Stückwerk ; dennoch aber wird nicht darauf
verzichtet, nach einem einheitlichen Princip des Geschehens
und dessen Erklärung zu streben, um nicht in blosses
Detailforschen sich zu verlieren, und um dem geistigen
Drange nach einheitlicher Auffassung zu genügen, — wie
das Forschen nach dem höchsten Gesetz, der letzten ein-
heitlichen Kraft beweist. Die Philosophie vermag diess in
Bezug auf die ideale Seite des Daseins sogar eher genügend
zu leisten, als die Naturwissenschaft in Bezug auf die
reale Seite, da es sich bei der Philosophie nicht um alle
Details, um alle Einzelheiten handelt, sondern nur um
die allgemeinen idealen Gesichtspunkte und die Erklärung
aus dem Grundprincipe im Allgemeinen, ohne dass alle
Weisen und Mittel der Realisirung erkannt zu werden
80 V. Das System der Philosophie.
brauchen. Das Princip ist allgemein und differenzirt sich
als dasselbe in alle einzelnen Gestaltungen , modifizirt
sich in diesen mannichfaltig. Auch wächst es gleichsam
mit der Entwicklung im Weltprocesse selbst und vervoll-
kommnet sich, obwohl stets als Princip dasselbe bleibend.
Aehnliches gilt auch von den an sich einheitHchen Ideen,
die unendlich mannichfaltige Realisirungen im ethischen,
ästhetischen und wissenschaftlichen Gebiete finden, —
während begrifflich sie immer dieselben sind. Als allge-
meine Principien aber können Phantasie wie Ideen vom
Geiste erfasst und entwickelt werden, ohne dass alle ein-
zelnen Realisirungen zuvor erkannt sind.
Wenn die Vielheit und Verschiedenheit der philo-
sophischen Principien und Systeme gegen die Berechtigung
der systematischen Philosophie angeführt werden, so ist
diess ganz unberechtigt. Es ist begreiflich, dass die Philo-
sophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip nicht
schon in frühester Zeit, nicht gleich am Anfang vollendet
sein konnte, dass sie nicht schon zu einer Zeit, wo sie
ohnehin noch mit der naturwissenschaftlichen Forschung
vermischt war, das allumfassende, allgenügende Princip
finden und daraus die Gestaltung des Daseins erklären
konnte. Sie begann mit stofflichen Elementen bei dieser
Erklärung, bald dem Einen dann dem andern, — was
zugleich Erforschung der natürlichen Dinge zur Folge
hatte. Im Grunde waren die Prhicipien zu äusserlich
und einseitig, aber sie ergänzten sich gegenseitig und
die Principienlehre oder Philosophie vertiefte und ver-
geistigte sich immer mehr bis zu Piaton und zu Aristo-
teles hin , der sie schliesslich alle zusammenfasste in
seine Principienlehre, in welcher das Formprincip (eI§o?)
Alles in sich fasst, was bis dahin in dieser Beziehung
erreicht ward. Die vorsokratischen philosophischen Rich-
tungen oder System-Versuche aus Einem Grundprincipe
waren also zwar einseitig, aber alle Seiten des Daseins
Das System der Philosophie. 81
Hessen sich eben nicht gleich von Anfang an erforschen
und erklären, und so war Vielheit und Verschiedenheit
derselben zu gegenseitiger Ergänzung und schliesslicher
Erreichung der Vergeistigung, Verinnerlichung und Ein-
heit nöthig. In analoger Weise geschah es in der neueren
Philosophie, dass die Systeme von verschiedenen Prin-
cipien ausgingen, von vertiefteren und allgemeineren als
in der alten Philosophie, die aber auch einseitig waren,
oder nicht vielseitig genug; wiederum theils zu sinnlich
theils zu geistig, als dass das ganze Dasein mit seinem
Entwicklungsprocesse und seinen mannichfachen Pro-
ductionen daraus sich hätte erklären lassen. Der Einen
Substanz Spinoza 's mit ihren zwei Attributen ,, Denken
und Ausdehnung" fehlt es an Lebendigkeit und Gestal-
tungsprincip, um die Modi, d. h. die Mannichfaltigkeit der
Dinge, sowie der organischen und psychischen Individuen
daraus zu erklären.^) Die Monaden des Leibniz stehen
als solche in keinem Wechselverkehr um ein Weltganzes,
ein allgemeines Causalverhält'aiss, ein durch Generation
sich forterhaltendes organisches Leben und allmähliche
Entwicklung und Fortbildung, sowie einen zusammen-
hängenden, pragmatisch bestimmten Geschichtsverlauf der
Menschheit zu begründen.^) Der Fi chte'sche Ideahsmus
wiederum ist so geartet, dass zwar die geistige Kraft,
die schöpferische Potenz des Geistes zur Geltung kommt,
dagegen die reale Welt, sowie die Vielheit und Individu-
alität der persönlichen Wesen unerklärt bleibt. Nach
Hegel's Princip, der logischen Idee, Hesse sich zwar
allenfalls das Logische, Rationale des Daseins ableiten,
wenn dem Logischen überhaupt bewegende , bildende
^) S. m. Sehr. Ueber die Bedeutung der Einbildungs-
kraft in der Philosophie Kant's und Spinoza's. Mün-
chen 1879.
^) S. m. Sehr. Monaden und Weltphantasie. Mün-
chen 1879.
Frohschammer, Die Philosophie. 6
82 V. Das System der Philosophie.
(nicht blos leitende) Macht zukäme, dagegen das Un-
logische, Irrationale in der Welt, wenigstens in der Mensch-
heit bleibt daraus unerklärlich. Umgekehrt Hesse sich
aus dem von Schopenhauer als Princip und Wesen des
Daseins geltend gemachten blinden Willen wohl das Un-
vernünftige , Irrationale erklären , nicht aber auch das
Logische und Vernünftige. — Sind diese verschiedenen
Principien, aus denen allgemeine, systematische Welter-
klärungen versucht wurden, nun auch für sich einseitig
und ungenügend, so sind sie darum noch nicht un-
bedingt falsch, sondern entsprechen irgend einem Mo-
mente oder einer Seite des Daseins, die eben dadurch
um so eindringender und gründlicher erforscht wurde.
Und sie widersprechen sich nicht gegenseitig unbedingt,
bilden nicht in der Weise Gegensätze, dass sie sich
gegenseitig aufheben, sondern ergänzen sich und tragen
dazu bei, dass immer mehr ein umfassendes, allseitig ge-
nügendes Princip ermöglicht wird. Es ist daher unrichtig,
was doch so oft von Feinden und Verkleinerern der Philo-
sophie behauptet wird, dass immer ein System das Gegen-
theil des andern sei, eines immer das andere vernichte^)
oder aufhebe, und von allen schliesslich nichts übrig
bleibe, was haltbar und gesichert erscheine u. dgl. Viel-
mehr ergänzen sich die Systeme gegenseitig und tragen
insgesammt mehr oder minder zur Entwicklung der Ge-
sammtphilosophie bei, wenn auch jedes die Alleinherr-
schaft verliert und theilweise aufgehoben oder modificirt
werden muss. Und wenn ein früheres System einige Zeit
wie erstorben oder wirkungslos erscheint, so gewinnt es
oft auf einmal wieder Leben und Wirkenskraft, wie diess
z. B. bei Piatons Philosophie am Ausgang des Mittelalters
oder bei der Philosophie Spinoza's zu Ende des vorigen
Jahrhunderts der Fall war.
^) S. hierüber: Athen aeum, Philosoph. Zeitschrift, herausg. v.
J. Frohschamnier. II. Bd. (Jahrg. 1863) S. 419 ff.
V. Das System der Philosophie. 83
Wir haben versucht, ein Grundprincip des Weltpro-
cesses und dessen philosophischer, systematischer Erklä-
rung geltend zu machen, das, wie uns scheint, vielseitiger
und fruchtbarer ist, als die bisher aufgestellten und gel-
tend gemachten Principien. Ein Grundprincip, das wir
als Phantasie bezeichnen d. h. das in seinem Wesen
und seiner Thätigkeit am richtigsten aufgefasst wird, wenn
es in Wesen und Wirksamkeit wie jene Geisteskraft ge-
dacht wird , die wir als subjective Phantasie bezeichnen.
Diese bethätigt sich als sinnlich-geistige Wirkensmacht,
vereinigt das sinnhche und geistige Gebiet, so dass in
diesem so aufgefassten Weltprincip die Wurzel zugleich
des Sinnlichen und Geistigen gegeben ist, und nicht blos
das Eine oder das Andere daraus abgeleitet werden kann.
Schon die subjective Phantasie bildet das Sinnliche
nach Raum und Zeit psychisch nach, macht das Aeusser-
Hche gewissermassen innerhch und geistig, sowie sie um-
gekehrt das Geistige versinnlicht und dadurch äusserhch
offenbart, wie sich diess besonders in der Sprache zeigt. ^)
Insofern ist also in der Phantasie ein Einheitsprincip ge-
funden für Sinnlichkeit und Geistigkeit zwischen den
Extremen: Idealismus und Realismus (MateriaHsmus).
Ebenso aber auch ein Einheitsprincip für die Vielheit und
Verschiedenheit der Dinge oder individuellen Wesen in
beiden Gebieten. Insofern die Phantasie als objective,
realwirkende Potenz in der Generationsmacht sich bethätigt,
ist sie eine Einheit, die zugleich eine Vielheit bildet oder
gewissermassen schöpferisch setzt, wie andrerseits die sub-
jective Phantasie, obwohl einheitHch und individuell, sich
unerschöpflich an mannichfaltigen Gestaltungen erweist.^)
^) Die PhaDtasie als Grundprincip. S. 25 ff. Die Ge-
nesis der Menschheit. S. 455 ff.
' Auch dass der Naturprocess sich methodisch als Coincidentia
oppositorum erweise, ist damit nicht ausgeschlossen, wie ja gerade
die einheitliche Generationsmacht selbst sich in den Gegensatz der
6*
84 V". Das System der Philosophie.
Dadurch differenzirt sich die objective Phantasie zugleich
in einem unermessHchen Entwicklungsprocess in all' die
vielen und verschiedenen Arten im Pflanzen- wie im Thier-
reiche und erweist sich als das höhere, gesetzmässig wie
teleologisch wirkende Moment in der Descendenz, in der
Entwicklung und Höhergestaltung der Individuen zu
immer vollkommnerer Individualität. EndUch auch als
Macht der psychischen und geistigen Concentration und
Organisation, aus welcher selbst wieder die verschiedenen
geistigen Kräfte sich difFerenziren, wie die geistige Natur
des Menschen sie kundgibt und bethätigt. Wie die sub-
jective Phantasie, obwohl sie psychisch ist, doch im Be-
w^usstsein sinnliche Formen schafft, so bildet die objective
Phantasie, obwohl zuerst äusserlich und real wirkend doch
allmählich im grossen Entwicklungsprozess der Natur zu-
letzt das Psychische und Geistige. — Durch die Phan-
tasie als Grund princip kommt zugleich auch jenes Mo-
ment der Freiheit zur Anerkennung, das auch in der
Natur trotz aller Nothwendigkeit und Gesetzmässigkeit
sich bemerklich macht schon in der Mannichfaltigkeit
teleologischer, organischer Bildungen, besonders aber in der
psychischen Bethätigung der Thiere. Ein Moment der Frei-
heit oder Selbstbestimmung, das um so mehr auch in der
Natur schon als vorhanden anerkannt werden muss, wenn
man einmal doch anerkannte, dass auch die Menschen-
natur, der menschliche Geist selbst aus dem unendlichen
Naturprocess "hervorgegangen ist mit all' seinen Eigen-
schaften und Kräften, unter welchen die Fähigkeit der
wenn auch nur relativen Willens-Freiheit oder Selbstbe-
stimmung eine so hervorragende Stelle einnimmt. Das
philosophische System, für welches die Phantasie, als objec-
tive und subjective, zugleich als Princip des realen Processes
und der Erkenntniss geltend gemacht wird — in Verbindung
Geschlechter differenzirt und erst durch Zusammenwirken beider
fruchtbar wird und gleichsam schöpferisch wirkt.
V. Das System der Philosophie. 85
mit den Grundgesetzen des Seins und Denkens als festem
Fundament, sowie mit den Ideen als Realisirungszielen für
die realen Gestaltungen und als Kriterien der idealen Be-
urtheilung derselben, — dieses System kann als Idealis-
mus bezeichnet werden. Und zwar als Idealismus in
mehrfachem Sinne: Zunächst in metaphysischem Sinne,
insoferne als Princip des Werdens nicht ein Stoffliches,
blos materiell Aeusserliches geltend gemacht wird, wie
bei dem MateriaHsmus , sondern ein geistiges oder sinn-
lich-geistiges Princip, wie die Phantasie diess ist. Dann
in dem Sinne, dass dieses Grundprincip das Moment des
Teleologischen und Idealen in sich enthält, das sich Reali-
sirung erringen soll im Sein wie im Erkennen ; da es sich,
ausser der genetischen Erklärung aus diesem Princip, haupt-
sächlich um Erkenntniss der Wahrheit im Sinne von
Idealität handelt, — wie diess oben näher erörtert wurde.
Endlich Idealismus auch im erkenntnisstheoretischen
Sinne, insofern dabei die Erkenntniss nicht blos aus der
Erfahrung aufgenommen und dann nur geordnet werden
soll, sondern dem Geiste selbst in der Phantasie eine ge-
wisse Schaffens- oder Gestaltungsmacht zuerkannt wird, —
was sich ja sogar schon in der Sinnes Wahrnehmung kund
gibt, bei welcher das äussere, erfahrbare Material durch
die Sinnes-Organe und die Phantasie schon eine gewisse
Umgestaltung (z. B. in Farben, Töne) erfährt. Mehr noch
aber macht sich dieses dem Geiste selbst immanente, ge-
wissermassen apriorische Moment in der idealen Auffassung
der Dinge bemerklich, so dass ein wesentliches Moment der
philosophischen Erkenntniss aus dem Geiste selbst stammt.
Allerdings ist damit nicht der extreme erkenntnisstheoretische
Idealismus, der alles Erkennen aus der Erkenntnisskraft oder
Natur des Geistes selbst stammen lässt, geltend gemacht,
den wir vielmehr nicht anzuerkennen vermögen, weil er
einseitig und ungenügend^) ist; aber es ist auch das andere,
^) Der erkenntnisstheoretische Idealismus pflegt für sich die ver-
86 V^ Das System der Philosophie.
das erapiristische Extrem abgewiesen und insofern ist dem
berechtigten Idealismus auch in dieser Beziehung Rech-
nung getragen.
Wir sind sonach der Ueberzeugung, dass die Philo-
sophie auch fernerhin, wie bisher als Hauptaufgabe diess
zu betrachten habe, durch ein System eine umfassende,
einheitliche Weltauffassung anzustreben. Durch ein System
allerdings, das nicht auf Absolutheit oder unbedingte Vol-
lendung Anspruch macht, sondern das, obwohl jederzeit
ineintliehe Thatsache anzuführen, dass wir auch bei unsern Sinnes-
wahrnehmungen nicht die Dinge selbst erfahren, sondern nur
Affectionen und Erregungen unserer Sinne und des Gehirns. In
Wirklichkeit aber verhält sich die Sache ganz anders : Von unsern
Sinnes- Affectionen erfahren wir durchaus nichts, ausser w^enn sie
abnorm oder krankhaft sind. Was wir erfahren, sind vielmehr
thatsächlich nur die Gegenstände oder Bewegungen , die auf die
Sinne wirken und sich ihnen kund geben, und zwar nicht blos als
Material einer beliebigen Gestaltung oder willkürlichen Umwand-
lung, sondern in einer gewissen massgebenden Weise, so dass nicht
blos vom Bewusstseins-Subjecte abhängig ist, was und wie etwas
wahrgenommen wird, sondern auch — und hauptsächlich vom Ob-
jecte, das wahrgenommen wird. Nicht das Ohr oder der Hörende
ist es, der die Symphonie, die er vernimmt, produzirt, sondern er
reproduzirt sie nur und geniesst sie durch Vermittlung des Ohr's,
das die Schöpfung des Componisten vernimmt durch die eigen-
thümlichen Luftbewegungen, welche die Instrumente hervorbringen.
Der Hörer hat es also nicht blos mit seinen Gehörs- und Gehirn-
Affectionen oder Erregungen zu thun, sondern mit dem Werke des
Componisten , das ausser ihm besteht als Object und durch Ohr
und Seele allerdings nicht blos wie durch ein Gefäss aufgenommen,
sondern nachgebildet wird. Die Sinne, so lange sie gesund sind,
wirken wie gute musikalische Instrumente, die nur die Töne und
deren harmonische V^erhältnisse rein zur Offenbarug bringen, nicht
aber sich selbst bemerklich machen durch allerlei störendes Neben-
geräusch. P>8t durch spezielle Beobachtung und Reflexion wird
ihre besondere Einrichtung, Erregung und Thätigkeitsweise erkannt,
wobei es sich aber nur um die Mittel und Weisen handelt, wo-
durch die Sinne ihre Functionen üben, nicht um die Leistungen
dieser selbst.
V, Das System der Philosophie. 87
iii sich einheitlich abgeschlossen, doch der Fortbildung,
der beständigen Entwicklung fähig ist, so dass es sich
nicht um Aufstellung starrer Formeln handelt, sondern
um fortschreitende Erkenntniss ebenso des realen und
idealen Processes, wie um vollkommnere Erfassung und
Entwicklung des Erkenn tnissprincips selbst; wie ja auch
das Princip als reales immer neue Bildungen schafft
und zugleich sich selbst immer mehr gewinnt, erhöht
und vollendet. Mit einem blos aphoristischen, auf Ge-
rathewohl gestellten Philosophiren ist weder der Wissen-
schaft noch dem Leben viel gedient, da nur Bruchstücke
dabei zu erreichen sind, die von Verschiedenen verschieden
aufgefasst und verwerthet werden können. Mit blosser
Reflexion und logischen Operationen ist das geistige Leben
nicht zum Fortschritt zu bringen, da es stets auf die
Principien, die Prämissen ankommt, die angenommen und
zur Geltung gebracht werden; daher durch dieselben lo-
gischen Geistesthätigkeiten die verschiedensten Religions-
systeme und positiven, vernünftigen oder unvernünftigen
Aufstellungen scheinbar begründet, entwickelt, mit dem
Schein von Wissenschaft umgeben werden können. Ein
einheitliches Princip, das zum System entwickelt wird
kann sehr fruchtbar werden und wird stets Veranlassung,
dass die Dinge unter neuen Gesichtspunkten betrachtet
schärfer erforscht und in ihrer Bedeutung und ihrem all
gemeinen Zusammenhange geprüft und erkannt werden
Selbst auch in der Naturwissenschaft wurden die bedeu
tendsten Fortschritte für die gesammte Auffassung nicht
durch isolirte Detailuntersuchungen gemacht, sondern erst
durch allgemeine Principien, wenn sie zunächst auch nur
als Hypothesen aufgestellt wurden, kam stets grosse
fruchtbare Bewegung und weiterer Fortschritt in dieselbe.
So z. B. durch des Copernikus astronomische Neuerung,
durch Newtons Gravitationsgesetz, neuestens durch Dar-
wins Hypothese von der Entstehung der Arten durch
SS VI. Ewige Wahrheit (Gnmdgesetzlichkeit) als Fundament
die natürliche Auslese, welche auf die ganze Auffassung
der organischen Natur und ihrer Entwicklung einen so
grossen, befruchtenden Einfluss übte und dadurch förder-
licher wirkte, als alle gewöhnlichen Detailforschungen, die
isolirt blieben und sich in beschränktem Kreise bewegten.
In der Philosophie ist es nicht anders. Selbst die iso-
lirten, fragmentarischen Untersuchungen erhalten erst Be-
deutung und Bewährung, wenn sie in ein grosses Ganzes
aufgenommen und in demselben verwendet werden. Diess
gilt auch von den einzelneu philosophischen Disciplinen,
die nicht isolirt richtig ausgebildet werden können, soweit
sie wirkUch philosophisch sein wollen, nicht blos empi-
rische oder historische Material Sammlungen sind, versetzt
etwa mit mehr oder minder richtigen Reflexionen, die
selbst nur dann wirkliche Bedeutung erhalten, wenn sie
auf tiefere, allgemeinere Principien sich zurückführen lassen.
VI.
Ewige Wahrheit (GrundgesetzHchkeit) als
Fundament des rationalen und idealen Seins
(Werdens) und Denkens.
Die Grundgesetze, wodurch alles Sein und Denken
als ein rationales begründet ist, wodurch aller causale
Zusammenhang der Dinge und alle Möglichkeit begrün-
deter Erkenntniss grundgelegt ist, sowie die Unterscheidung
und Beurtheilung derselben stattfinden kann, — diese Grund-
gesetze kommen zwar zunächst im Erkennen und für das
menschliche Denken zum Bewusstsein und zu näherer Er-
des rationalen und idealen Seins (Werdens) und Denkens. 89
kenntniss, aber sie sitid der Sache nach schon vor diesen
vorhanden und wirksam. Dadurch eben wird die Er-
kenntniss der Dinge selbst erst möglich, dass diese in
ihrem Sein und Wirken, in ihrem Zusammenhang wie
in ihrer Trennung derselben Gesetze, derselben Art von
Rationalität theilhaftig sind, wie das Denken; dass also
eine Correspondenz zwischen dem realen objectiven Sein
und dem formalen subjectiven Denken stattfindet. Inso-
fern diese Gesetze die Wahrheit d. h. das Richtig- oder
Rechtsein, die Rationalität alles Seins und realen Geschehens
wie Denkens begründen, kann man sie als ewige Wahr-
heit bezeichnen und als Fundament aller übrigen Wahr-
heit d. h. der Dinge ihrer Wirkhchkeit und Idealität nach
betrachten.
Bekanntlich pflegen in der Logik drei Grundgesetze
des Denkens unterschieden zu werden: das Gesetz der
Identität und des Widerspruchs, das Gesetz des Grundes
und der Folge und das Gesetz des ausgeschlossenen
Dritten. Alle drei einfach und selbstverständUch, wie es
bei Grundgesetzen des Denkens nicht anders mög-
lich ist, die schon lange in aller geistigen Thätigkeit der
Menschheit Anwendung fanden und stets noch finden,
ohne dass man irgend eine bestimmte klare Erkenntniss
davon hat. Sie sind gegeben, constituiren das rationale
Wesen (den Verstand) des Menschengeistes selbst, sind die
Grundbedingung, oder vielmehr die wirkende Ursache alles
Denkens und Erkennens, und sind daher nicht erst durch
Erkennen selbst erworben oder geworden. Auch ehe es
noch einen rationalen Menschengeist gab, waren sie schon
da als objective Gesetze des Daseins, welche dann allmäh-
Uch im individuellen Menschengeiste durch Verbindung,
gleichsam Vermählung der subjectiven Phantasie mit ihnen,
eine subjective Existenz im individuellen Geiste erhielten
und in der intellectuellen, bewussten Thätigkeit Anwendung
fanden. Sie sind also nicht vom Intellecte erst erworben, etwa
90 VI. Ewige Wahrheit (GrundgeaetzHchkeit) als Fundament
durch Erfahrung, sondern sie gewannen alhnählich Exi-
stenz in einem subjectiven Geiste und constituiren dessen
reine Rationalität, durch welche er AVesen und gesetz-
mässiges Wirken der Welt zu erkennen, für das Bewusst-
sein zu reproduciren vermag. Die Gesetze, die also zunächst
für das Denken sich bethätigen, dasselbe ermöglichen und
leiten, gelten daher auch für das Sein, mit den Modifi-
kationen, welche die Eigen thümlichkeit von beiden be-
dingen. Diess ist ja allenthalben der Fall bei dem ge-
setzmässigen objectiven Geschehen und der subjectiven
rationalen Nachbildung oder dem Begreifen davon ; so dass
z. B. das Gesetz des Falles als solches zwar nicht im
Geiste sich bethätigen kann, aber in diesem eine begründete
Einsicht stattfindet, warum es gerade so und nicht anders
ist und sein kann ; daher insofern das thatsächliche gesetz-
liche, nothwendige Geschehen dem rationalen Begreifen
entspricht, beides sich gegenseitig correspondirt. Diess
ist die mögliche Identität von Sein und Denken, nicht
eine volle sachUche Gleichheit von beiden. Diese Iden-
tität ist in der That auch in der Natur der Sache be-
gründet, und zwar bei jeder Art der Auffassung von Sinn-
lichkeit und Geist, mit Ausnahme etwa jenes Dualismus,
dem das Sinnliche als solches schon das Irrationale und
Böse ist, und der Leib nur ein Kerker des Geistes, —
obwohl auch da gewöhnheh noch ein Zweck mit der
Verbindung beider erreicht werden soll, und zwar ein
vernünftiger, die Läuterung des Geistes nämfich. Bei dem
gewöhnfichen Dualismus aber, mag er als ein ewig be-
stehender oder als von einer übernatürlichen Schöpfer-
macht angeordneter oder geschaffener betrachtet werden,
ist kein Grund vorhanden zu ehier Wesens- und Wirkens-
Disharmonie, w^enn nicht das Wesen des Daseins als ein
ewig irrationales oder von einer bösartigen Schöpfermacht
gebildetes angenommen werden soll. Bei dem Monismus
dagegen, bei welchem entweder der Geist aus der Materie
des rationalen und idealen Seins (Werdens) und Denkens. 91
oder diese aus dem Geiste oder beide aus einem Dritten stam-
mend betrachtet werden, ist allgemeine Harmonie zwischen
beiden in Gesetz und Wesen, wenn auch nicht durchaus in
der Erscheinung, selbstverständlich. Bei unserm Princip
des Weltprocesses in Natur und Geschichte, der Phantasie,
ist die in Frage stehende Identität der realen und formalen
Gesetze bedingt schon durch die Natur des Princips selbst,
das ein sinnlich-geistiges ist und fortdauernd Sinnliches
vergeistigt, wie Geistiges versinnlicht und offenbart.^) So
ist selbstverständlich, dass auch die Gesetze sich gegen-
seitig correspondiren und insofern identisch sind, da sonst
die realen Gesetze dem Geiste nicht als rationale Formen
und Gesetze des Denkens eingebildet werden könnten,
und umgekehrt die rationale Thätigkeit des Geistes nicht
sich selbst in dem grundgesetzlichen Geschehen der Natur
wiederfinden könnte, — wie diess die thatsächliche Er-
kenntniss der Natur in ihren allgemeinen Gesetzen zeigt.
Das Gesetz der Identität und des Widerspruchs gilt
zunächst für das Denken, und bestimmt, dass jeder Ge-
danke mit sich selbst übereinstimmen, in sich selbst
identisch sein müsse, demnach keinen Widerspruch ent-
halten dürfe; dass also im Denken Identität zu bewahren,
Widerspruch mit sich selbst zu vermeiden sei. Auf das
Sein angewendet sagt das Gesetz aus, dass das Seiende sich
selbst gleich sei , also in seinem realen Wesen das
Gesetz der Identität realisire (unbedingt das Substantielle,
relativ das Accidentelle) und dadurch an der Rationalität
theilnehme, diese verwirkliche, nicht als seiend wesenhaft
irrational sein könne; daher man wohl richtig sagen
kann : Verum est id quod est. Negativ gewendet sagt
das Gesetz, dass das Seiende nicht der Gegensatz seiner
selbst sein, sich nicht selbst aufheben könne. Das Gesetz
gilt also für Bejahung und Verneinung, für Sein und
^) Phantasie als Grundprinci p. S. 25 ff, 484 fi'. Mo-
naden und Weltphantasie. S. 58 ff.
92 VI. P^vvige Wahrheit (Grundgesetzlichkeit) als Fundament.
Nichtsein. In Bezug auf das Verhältiiiss zwischen Denken
und Sein bestimmt das Gesetz, dass das Seiende im
Denken als seiend gesetzt werde, das Nichtseiende als
nichtseiend ; und dass nicht das Nichtseiende als seiend,
das Seiende als nichtseiend gesetzt werde (in Thesis).
Ebenso das Uebereinstimmende als übereinstimmend, das
Nichtübereinstimmende als nichtübereinstimmend; nicht
aber das Nichtübereinstimmende als übereinstimmend, das
Uebereinstimmende als nichtübereinstimmend (in Syn-
thesis). Das Gesetz gilt also für Thesis und Synthesis
im Denken sowie lür Sein und BeschafFensein in der
Realität, im Objecte; gilt demnach nicht blos für das
eigentliche Urtheilen innerhalb des Bewusstseins, sondern
auch für das Aufnehmen in das Bewusstsein. Und zwar
ist das Gesetz nach beiden Seiten geltend zu machen,
als Gesetz der Identität und des Widerspruchs; denn in
der einen Beziehung geschieht alle Bejahung, in der andern
alle Verneinung. Ohne Gesetz der Identität käme es zu
keiner Bejahung, sondern wäre allenfalls nur Verneinung
möglich, ohne Gesetz des Widerspruchs zu keiner Ver-
neinung, sondern wäre nur Bejahung möglich; in beiden
Fällen könnte es nicht zu eigentHchem Urtheilen kom-
men. Durch das Gesetz der Identität nimmt der Men-
schengeist resp. das Denken, sowie das Sein Theil an der
ewigen, unveränderlichen Natur des Seins an sich, des
absoluten Seins, an der ewigen Rationalität, dem Recht-
sein desselben, oder an der ewigen Wahrheit; durch das
Gesetz des Widerspruchs vermag dagegen der denkende
Geist einerseits diese Identität festzuhalten und den Ge-
gensatz davon abzuwehren, andrerseits aber mit seinem
Denken in die Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit des
getheilten, endhchen Dasehis einzugehen, zu unterscheiden
und zu urtheilen. Der Widerspruch, die Verneinung ist
aber im Denken nur möglich durch die subjective Phan-
tasie, welche das Nichtsein, die Negation für das Denken
des rationalen und idealen Seins (Werdens) und Denkens. 93
bildet und ihm die im Denken wirksame Macht der Auf-
hebung des bejahten Seins verleiht. Im realen Sein ist
die Vielheit und Verschiedenheit oder Gegensätzlichkeit
durch objective Phantasie d. h. durch Theilung und Ge-
staltung oder Schaffung (Zeugung) der Dinge in ihrer
Vielheit und Eigenart gegeben, nicht etwa durch das
Nichtsein oder Nichts;^) denn dieses vermag der Einheit
gegenüber nichts zu wirken; vermag weder Theilung im
Räume und Gestaltung hervorzubringen, noch Erzeugung
und Abfolge endhcher Wesen in der Zeit zu wirken. Das
Nichts kann nicht wirken, und mit Sein in Verbindung
gebracht wird nicht etwa Werden oder Endlichkeit die
Folge sein, sondern es wird eben nichts geschehen und
Alles unverändert bleiben. Für den Geist, den Ver-
stand ist das Gesetz der Identität der feste Punkt, auf
dem stehend er nicht blos das Beharrende, Unveränder-
liche zu erfassen und zu erkennen vermag, sondern auch
die Veränderung, die Bewegung des Werdens selbst wahr-
nimmt; denn ohne solchen Punkt würde der Geist, selbst
ganz aufgenommen in diesen real-dialektischen Strom
des Werdens, und gleichsam fortgerissen von demselben,
sogar nicht enimal die Veränderung wahrzunehmen ver-
mögen. Die Begriffe, in welche das ,, Werdende, das ewig
wirkt und lebt in dauernde Gedanken befestigt wird,"
sind eben nur dadurch mögUch, dass das Identische er-
fasst und dem Flusse des Werdens entnommen wird durch
die Kraft des Geistes nach dem Gesetze der Identität,
und dass dadurch bestimmte Behauptungen möglich werden,
nicht blos wechselnde, mit der Veränderung der Dinge
^) Auch für die Auffassung der ethischen Aufgabe des Men-
schen ist diess von Wichtigkeit, dass das endhche Individuelle und
Persönliche das Produkt einer positiven Kraft, und also als solches
selbst positiven Wesens ist; denn nun kann nicht Entselbstung,
Vernichtung der Individuahtät oder Persönlichkeit höchste Aufgabe
sein, sondern Fortbildung.
94 VI, Ewige Wahrheit (Grundgesetzlichkeit als Fundament
selbst immer sich ändernde Meinungen. Es sind daher
positive Bestimmungen für das Denken möglich, nicht
blos negative, wie eine Dialektik will , die selbst in den
Strom des Werdens eingetaucht, diesen blos nachbilden
kann, ohne feste Begriffe zu gewinnen. Die Identität da-
gegen ist im letzten Grunde, objectiv und real betrachtet
das Ewige, Nothvvendige, das allem Werden und aller
Erscheinung zu Grunde liegt und das wir als solches nur
dadurch zu denken vermögen, dass wir die Identität als
Denkgesetz in unserm Bewusstsein erfahren und dadurch
als feste Basis auch des objectiven allgemeinen Seins und
Werdens, wie als rationales Moment des einzelnen Seien-
den und Soseienden begreifen.
Das Gesetz des Grundes und der Folge, das objectiv
und real als CausaHtät erscheint, bedeutet für das Denken
zunächst, dass jeder Gedanke einen Grund (ratio) haben
müsse, dass man nicht grundlos, nicht willkürlich, oder
blindlings denken dürfe. Im realen Gebiete aber ver-
langt es, dass jede Veränderung, jedes Werden oder Ge-
schehen eine Ursache habe; dass ohne Ursache nichts
sich ändert, nichts geschieht, nichts entsteht noch ver-
geht, (Aus Nichts wird Nichts). Dadurch ist insbeson-
dere die Rationalität alles Denkens bedingt, alles Setzens
wie alles Verbindens im Denken. Und ebenso ist die
Natur damit bezeichnet als ein Gebiet gesetzmässigen Zu-
sammenhanges und rationalen Geschehens, so dass blindes,
chaotisches Sein, wie irrationales, ursachloses Geschehen
davon ausgeschlossen ist. — Der Grund dieses Gesetzes liegt
in ihm selbst und gibt sich kund in der inneren Noth-
wendigkeit des Denkens, die indess keine finstere oder
blinde, sondern eine lichte, einleuchtende ist, in der un-
mittelbaren Evidenz der Sache besteht. Einer Verstandes-
Evidenz, die wiederum nur ein subjectiver Abglanz der
allgemeinen Rationahtät des Daseins ist, sowie der
Wahrhaftigkeit unseres geistigen Wesens, da es gegen
des rationalen und idealen Seins (Werdens) und Denkens. 95
Willkür und Blindheit des Denkens und Urtheilens eben
durch dieses Gesetz geschützt werden kann. Zur Aus-
führung desselben liegt der Drang in der Natur des
Geistes, in dessen intellectueller Kraft selber, die ja in
der Phantasie ein schöpferisches Moment in sich birgt
und diese Fähigkeit auch im Denken nicht mit Nichts
bethätigen kann, sondern auch da imr aus einem hin-
reichenden Grund , der gleichsam den Keim oder die
formale Triebkraft des neuen Gedankens in sich enthält,
zu schaffen vermag. — Dass auch im objectiven Dasein
wirkliche Ursächlichkeit gegeben ist, ein wirkliches propter
hoc, nicht blos ein cum hoc oder post hoc, wie die ex-
tremen Empiristen und Skeptiker wollen, kann schon sub-
jectiv aus der leiblichen wie geistigen Thätigkeit des
Menschen erkannt werden. Und nicht blos im sittlichen
Thun erfährt die menschliche Persönlichkeit sich selbst
als die wirkliche Ursache von Gesinnungen, Willensakten
und Handlungen, sondern ebenso im intellectuellen Schaffen.
Vor Allem aber offenbart sich ihm seine wirklich schöpfe-
rische, verursachende, bildende Macht in seiner Phantasie-
thätigkeit, — die ja mehr oder minder in allen geistigen
Functionen sich findet. Ist aber in Einem Subjecte wirk-
liche causale Bethätigung anzuerkennen, dann auch in
andern und damit fällt die Berechtigung weg, die Möglich-
keit oder Wirklichkeit der Causalität im realen, objectiven
Dasein in Abrede zu stellen. Beruht doch darauf alle mora-
lische Verantwortlichkeit, und sind alle sittlichen und recht-
lichen Verhältnisse, wie von Eltern und Kindern, Künstlern
und Kunstwerken, Vernunft und Gedanken u. s. w.
darin begründet! — Dass das Causalgesetz wesentlich in
der rationalen Natur des Geistes und in der Natur selbst
begründet sei, zeigt sich entschieden darin, dass nur ein-
mal erkannt, eingesehen zu werden braucht, dass jede Ver-
änderung, jedes Geschehen eine Ursache haben müsse,
dass ohne Ursache nichts geschehe, nichts sich ändere, —
96 VI. Ewige Wahrheit (Grundgesetzlichkeit) als Fundament
um dieses nicht mehr nicht denken und nicht mehr
anders denken zu können. Klarer noch tritt diess in der
negativen Form hervor: Aus Nichts wird nichts, oder
Nichts kann nichts wirken oder hervorbringen. Und in
der That, das Werden ist, wie schon oben angedeutet,
nicht etwa die Verbindung von Sein und Nichtsein oder
Nichts, denn wenn Nichts sich mit Etwas verbindet, so
entsteht nicht ein Werden, sondern Alles bleibt unver-
ändert, da das Nichts eben nicht zu wirken vermag, und
nur ein Sein und zwar eine wirkliche, existirende Kraft
oder Bewegung Veränderungen oder Wirkungen hervor-
bringen kann. Durch dieses dem Geiste immanente Ge-
setz ist es daher auch möglich, über die Erfahrung hinaus-
zudenken — allerdings nur auf Grundlage eines Gegebenen,
Erfahrbaren. Denn wo immer ein Geschehen, ein Ent-
standenes, eine Wirkung wahrgenommen wird, da ist un-
umstösslich gewiss, dass dafür auch eine Ursache existiren
müsse. Welches diese Ursache thatsächlich sei, kann
freilich nur durch Erfahrung, Beobachtung erkannt werden,
aber die erkannte Nothwendigkeit eines Causalverhält-
nisses ist doch die Veranlassung der Forschung nach der
Ursache und die Führerin der Beobachtung, wodurch der
ganze, unermessliche Geistesbau der Wissenschaft allmäh-
lich aufgeführt werden konnte. Dass übrigens das Ge-
setz für das Denken eine Modifikation erfährt und mit
einer gewissen Selbstständigkeit und Freiheit der geistigen
Natur gemäss angewendet werden kann, zeigt sich sehr klar
darin, dass Sachgrund oder Ursache (causa) und Denkgrund
(ratio) nicht noth wendig zusammenfallen, sondern das
Verhältniss sich häufig, ja gewöhnlich umkehrt und die
sachHche Wirkung für das Denken zum Grund wird.
Es beruht eben hierauf hauptsächlich der Fortschritt im
Wissen.
Das Gesetz des ausgesclilossenen Dritten bestimmt,
dass jeder Gedanke entweder eine Bejahung oder V^er-
des rationalen und idealen Heins (Werdens) und Denkens. 97
neinung sein müsse und ein Mittleres zwischen beiden
nicht stattfinden könne. Es ist dieses Gesetz für das
Denken eigentHch nur die Verbindung der beiden vorigen,
indem es verlangt, dass, sobald ein Grund dazu eintritt,
das Gesetz der Identität und des Widerspruchs durch
Bejahung oder Verneinung realisirt werden muss. Im
strengen Sinne kann dieses Gesetz nur im Denken durch-
geführt werden, im begrifflichen Fixiren und bei dem
contradictorischen Gegensatz, da in der Wirklichheit aller-
dings die Gegensätze in der mannichfaltigsten Weise sich
mischen, in einander wirken und dem Nichtsein jedes
Dinges dem andern gegenüber stets ein positives, reales
Sein zu Grunde liegt. Die formale Logik scheidet sich
hier von der realen Dialektik; diese aber vermag im
Denken nicht adäquat nachgebildet zu werden, sondern
kann nur nach ihren beharrenden und wechselnden Wesen
und Formen analysirt und so für das Denken in abstrac-
ten Begriften fixirt werden. Für das Denken hat das
Nichts als Negation allerdings grosse, gewissermassen reale
Bedeutung, da ein Positives, eine Bejahung im Denken
durch die Negation aufgehoben werden kann, — wenn
auch freilich nur für das Denken. Das Positive in der
Gegensätzlichkeit oder in dem Anderssein der endUchen
Dinge und Gestaltungen kommt von einer positiven Macht,
nicht vom Nichts. Kommt, wie schon erwähnt, von einer
Kraftbethätigung, insbesondere von der objectiven wie
der subjectiven Phantasie, wodurch Gestaltung, Endlich-
keit und Vielheit der Dinge gesetzt, gebildet wird.
Diese Grundgesetze also sind das Unbedingte, Un-
veränderliche im Denken wie im Sein, sind das feste
rationale Fundament alles Werdens und Geschehens, wo-
durch das Dasein im Grunde ein rationales ist und daher
auch ein rationaler und teleologischer Weltprocess statt-
finden kann, der zur ReaHsirung der Ideen als endlichem
Ziele alles Geschehens zu führen vermag. Es sind ewige,
objectiv oder real bestehende Gesetze, die au sich sind, im
7
98 VI. Ewige Wahrheit (Grundgesetzlichkeit) als Fundament etc.
menschlichen Geiste in subjectiver Form sich gestalten
und dann durch Ausführung (Offenbarung) und Reflexion
in das Bewusstsein treten. Sie sind nicht blos empi-
risch entstanden, d. h. aus der Erfahrung abgezogen und
von nur relativer Bedeutung, sondern sind absolut gültig
in dieser uns bekannten und jeder andern möglichen
Welt, da doch nur ein rationales, unbedingt Gesetzliches
und Notbwendiges gelten kann. Die allgemeinen physi-
kalischen, mechanisch wirkenden Bewegungskräfte oder
-Gesetze, die Gravitation, die magnetische und electrische
Kraft u. s. w. erweisen sich zwar als constant gleichförmig,
gesetzlich-nothwendig wirkend in der Natur, aber sie kön-
nen doch nicht als absolut gültig oder nothwendig für
jede mögliche Welt, sondern nur für diese Welt gelten,
wenn sie sein soll, wie sie eben ist; wenigstens vermögen
wir die ewige, unbedingte Nothwendigkeit, das noth wen-
dige ßegründetsein derselben in dem ewigen, unbedingten
Grunde des Daseins nicht zu ergründen und zu begreifen.
Dagegen die genannten Grundgesetze des Denkens (und
Seins) müssen als unbedingt gültig, ewig nothwendig und
absolut rational betrachtet werden, weil rationales Denken
wie rationales Sein immer und ewig in jeder möglicher
Daseinsform davon bedingt ist, — auch wenn es eine
räumUche oder sinnliche Welt, wie die jetzige gar nicht
gäbe, oder überhaupt keine phänomenale Welt. Aehn-
Hches gilt auch von den Ideen der Vollkommenheit, die
gleichfalls unbedingt, nicht blos relativ für diese Welt oder
für diesen Theil der Welt, in dem wir uns befinden, als
gültig angesehen werden müssen, wenn uns auch aller-
dings ihr Wesen noch nicht so klar und durchsichtig
offenbar ist, wie das der in Frage stehenden Grundge-
setze. Der Weltprocess selbst aber, durch den auf Grund
der ewigen Gesetze die Ideen realisirt und geoffenbart
werden sollen, mag anders gedacht werden und anders
sein können, obwohl in dieser Beziehung ein bescheidenes
Ignoramus am Platze sein möchte.