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Full text of "Die Philosophie als Idealwissenschaft und System : zur Einleitung in die Philosophie"

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DIE 



PHILOSOPHIE 



ALS 



TDEALWISSENSCHAFT UND SYSTEM. 



ZUR EKLEITÜNG IN DIE PHILOSOPHIE 

VON 

J. FEOHSCHAMMER 

PROFESSOR DER PHILOSOPHIE IN MÜNCHEN. 



• MÜNCHEN, 1884. 
ADOLF ACKERMANN'S NACHFOLGP]R. 



Kgl. Hof- und Universitäts-Buchdruckerei von Dr. C. Wolf & Sohn. 



Inhalt. 



Seite 

Einleitung . 1 — 4 

I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und die 

Philosophie als Wissenschaftslehre . - 5 — 19 

II. Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit 

im Sinne von Idealität 20 — 33 

III. Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grund- 
princip. Einheit der philosophischen Wissenschaft . 34 — 48 

IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie als Ideal- 
wissenschaft und System 49 — 76 

V. Das System der Philosophie 7(3 — 88 

VI. Ewige Wahrheit (Grundgesetzlichkeit) als Fundament 

des rationalen und idealen Seins (Werdens) und Denkens 88 — 98 



Berichtigungen. 



Seite 5 Zeile 3 von unten statt ihr zu lesen ihn. 

„ 32 ,, 9 von unten die Wahrheit, des ist das Komma zu 

tilgen. 
,, 33 „ 1 von oben statt sollen zu lesen solle. 
„ 53 „ 9 von unten statt machen zu lesen manche. 
„ 64 „ 8 von oben nach Gehörnen das Komma zu til^'en. 
78 „ 14 von unten statt der zu lesen deren. 



Die folgenden Erörterungen wollen die Ueberzeugung 
vertreten und begründen, dass die Philosophie auch an- 
gesichts der modernen Wissenschaft sich in ihrer alt- 
überlieferten Art und Bedeutung zu behaupten die Auf- 
gabe und das Recht habe. Dass es also nicht nöthig und 
nicht gestattet sei für dieselbe, den sog. exacten und 
positiven Wissenschaften gegenüber auf sich selbst zu 
verzichten oder sich auf ein kümmerHches Dasein zu be- 
schränken, oder als blosse Erinnerung sich fortzuerhalten 
in geschichtUchen Darstellungen. Ebenso wird die Be- 
schränkung derselben auf blosse Erkenntnisswissenschaft 
oder Wissenschaftslehre abgewiesen, sowie die Behauptung, 
dass nur dieser als Zweig der Philosophie ein wissen- 
schaftlicher Charakter zukomme, die übrigen Zweige 
derselben aber als nichtwissenschaftlich zu gelten haben. 
Endlich auch die Berechtigung der systematischen Form 
der Philosophie , der Ausbildung eines philosophischen 
Systems und der Welterklärung aus Einem Princip will auf- 
recht erhalten und begründet werden. 

Damit verbindet sich aber allerdings auch die For- 
derung, dass die Philosophie, wie bisher, so auch ferner- 
hin nach genauerer, geläuterterer Auffassung ihres Wesens 
und ihrer Aufgabe zu streben, dass sie immer mehr alle ihr 
fremdartigen Elemente auszuscheiden, sowie ein möglichst 
fruchtbares, allseitiges Princip für die Erklärung der Bil- 

Frohschammer , Die Philosophie. 1 



2 Einleitung. 

düngen in Natur und Geschichte zu suchen und zur 
Darstellung zu bringen habe. Wir fassen daher die Philo- 
sophie, die anfangs alle Gegenstände und alle wissen- 
schaftlichen Aufgaben in sich schloss, nunmehr als Wissen- 
schaft von der idealen Wahrheit, als Ideal Wissenschaft, 
sowie als Welterklärung aus Einem Princip, — doch aber 
stets in Beziehung und Wechselverkehr mit der empirischen 
Wissenschaft. Als dieses allgemeine Princip wird die Phan- 
tasie in doppelter Bedeutung, als objective (real- wirkende) 
und subjective geltend gemacht, als das primitivste, wie all- 
seitigste und fruchtbarste von allen Principien, die bisher 
aufgestellt wurden. Und eben zu höherer Klarstellung 
und Begründung dieses Versuches , der so vielem Miss- 
verständniss oder Misstrauen begegnet, möchte das Fol- 
gende gleichfalls Einiges beitragen. Man hat in neuerer 
Zeit die Unvernunft, das Irrationale als Princip und 
Wesen des Daseins aufgestellt; und diese Aufstellung, 
in Verbindung mit einem krankhaften Pessimismus, er- 
freut sich schon seit mehr als zwei Decennien einer so 
weitverbreiteten, ungewöhnlichen Theilnahme, wie sie wohl 
noch selten vorgekommen. Eine wichtige Seite des Da- 
seins ist ja immerhin auch das Irrationale, die bei der 
Welterklärung wohl Beachtung fordert, wie dieselbe auch 
im praktischen Leben sich reichlich zur Geltung bringt 
und Sympathie findet ! Aber Princip der philosophischen 
Weltauffassung kann das Abnorme oder geradezu Absurde 
nicht sein, und als Wesen des Daseins kann es nicht be- 
trachtet werden, — schon insoferne nicht, als eine solche 
WeltaufFassung, ernstlich genommen, sich selbst als Pro- 
dukt der Irrationalität, der Unvernunft aufstellen und damit 
zugleich aufheben muss. Die Phantasie als Grundprincip 
des Weltprozesses trägt zwar auch diesem Momente des 
Daseins Rechnung, aber sie ist doch wesentlich, wie die 
Mutter alles Lebens und alles teleologischen und idealen Seins 
und Wirkens, so auch der Vernunft und aller liöheren Geistes- 



Einleitung. 3 

kräfte. Man wird diess wohl erkennen, wenn Voreingenom- 
menheit und Vorurtheil einmal sich mildern und eine 
nähere mibefangene Prüfung derselben zulassen, wenn 
ferner die öfter fast fanatisch sich äussernde Antipathie 
gegen alle Systembildung sich einigermassen gemässigt 
haben wird und die geistige Sehkraft ungestörter zur Gel- 
tung kommen kann. 

Wie dem sei, bei der Zerfahrenheit, die gegenwärtig 
in Bezug auf die Auffassung von Wesen und Aufgabe 
der Philosophie herrscht, wird es jedenfalls nicht über- 
flüssig erscheinen , die Sache eingehend zu prüfen , der 
Philosophie eine bestimmte Aufgabe zu stellen und da- 
durch einen klaren, entschiedenen Begriff von ihr zu ge- 
winnen. Ihr dadurch, wie man auch schon vorgeschlagen 
hat, ihre Berechtigung und Fortexistenz zu sichern, dass 
man die Bezeichnung ,, Philosophie" wieder, wie ehemals, 
auf alle Wissenschaften ausdehnt, dürfte wohl ein ganz 
vergebliches Unternehmen sein. Denn wenn auch sonst 
keine Gründe entgegen stünden, so wäre doch kaum 
zweifelhaft, dass diese andern Wissenschaften nicht wieder 
Philosophie sein resp. genannt werden möchten , die Be- 
zeichnung als unnöthig oder unpassend mit Entschieden- 
heit, wo nicht mit Geringschätzung oder Hohn zurück- 
wiesen und in diesem Vorschlag der Philosophen nichts 
Anderes erblickten als einen verzweifelten Versuch , die 
Philosophie wenigstens dem Namen nach zu retten, 
Oder eigentlich auch den Namen nicht mehr, denn wenn 
alle Wissenschaften selbstverständUch philosophisch sind, 
dann bedarf es dieser besonderen Bezeichnung in der 
That gar nicht! Würde man aber in jeder Wissen- 
schaft zwei Arten unterscheiden, eine philosophische und 
eine nichtphilosophische, und unter jener die verstehen, 
welche allgemeine Wahrheiten sammelt, unter dieser die 
rein empirische , so wäre auch diese Bezeichnung ganz 
willkürlich, da jede inductive Forschung auf Allgemeines 

1* 



4 Einleitung. 

ausgeht, und andrerseits jeder Naturforscher empirisch ver- 
fahren muss. Wer aber solches nicht thäte, wäre nur 
ein Sammler oder Zusammenträger des Allgemeinen, kein 
wirklicher Naturforscher, und der Philosophie widerführe 
sicher wenig Ehre, wenn ihr Name diesem allein zuge- 
theilt würde. Versteht man aber endlich unter Philosophie 
die Wissenschaft, welche alle höheren allgemeinen Begriffe 
der Spezial wissen Schäften aufnimmt und zuletzt unter 
einem höchsten Begriffe als einheitliche Spitze vereinigt, 
SO wäre diess immerhin nur ein ziemlich Unfruchtbares 
Werk, wenn dieser höchste Begriff nur ein abstracter 
wäre, eine leere, leblose Einheit ausdrückte und nicht ein 
lebendiges Princip, aus dem das Einzelne abgeleitet 
oder erklärt werden könnte. Solch ein höchstes , allge- 
meines , lebendiges , fruchtbares Princip ist aber nicht 
blos durch Abstraction aus den Spezial- Wissenschaften 
allein zu gewinnen, sondern fordert eine selbständige, 
direkte Beobachtung, und es entsteht dann eine eigen- 
thümhche Wissenschaft als Philosophie, wie wir sie eben 
zu begründen versuchten. 



I. 

Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen 
und die Philosophie als Wissenschaftslehre. 

Wie immer die Philosophie näher auch bestimmt 
werden mag, jedenfalls muss sie, wofern sie Wissenschaft 
sein soll, die Wahrheit zu erforschen streben und zu er- 
kennen vermögen ; denn alle Wissenschaft hat zur theo- 
retischen Aufgabe einzig und allein diess, die Wahrheit 
zu erkennen. 

Unter Wahrheit aber pflegt man die Uebereinstimmung 
des Vorstellens oder Denkens mit dem vorgestellten oder 
gedachten Gegenstande zu verstehen, wodurch eben das 
Denken mit Inhalt erfüllt und zum Erkennen wird. 
Wenn das Denken (in weitester Bedeutung genommen) 
mit dem Gegenstande, dem Sein, der Beschaffenheit, den 
Verhältnissen und Wirkungen desselben in Uebereinstim- 
mung gebracht ist, dann ist in Bezug auf denselben die 
Wahrheit erkannt, d. h. er ist so mit seinem Sein und Be- 
schaffensein in das vorstellende oder denkende Bewusstsein 
aufgenommen, wie er wirkHch ist. Derselbe bleibt zwar 
sachlich so zu sagen draussen, aber seine vorstellende Ab- 
bildung oder begriffliche Reproduktion im erkennenden 
Geiste ist die Wahrheit in Bezug auf ihr ; — und insofern 
ist er selbst zur Wahrheit geworden für den Intellect (wenn 
auch nicht an sich), so etwa, wie die eigenartige Luftbe- 



6 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und 

wegung zum Tone wird durch das Ohr und für dieses, 
— wenn auch an sich Luftbewegung bleibend. Die 
Organe für diese Gestaltung der Dinge im erkennenden 
Geiste, wodurch in Bezug auf sie Wahrheit entsteht Und 
Wahrheit über sie d. h. ihr wirkliches Sein und Beschaffen- 
sein, ausgesagt werden kann, sind die Sinne (äussere und 
innere) und das Denken. Es kann daher auch durch 
Anschauung und Vorstellung d. h. durch Abbildung der 
Dinge selbst im Bewiisstsein Wahrheit erlangt werden, 
nicht blos darch das Denken (im engeren Sinne) oder Ur- 
theilen, durch Verbindungen und Trennungen in Bezug auf 
das Sein und Beschaffensein derselben. Sinne und Denken 
(Urtheilen) sind insofern Quellen der Wahrheit d. h. der 
Uebereinstimmung unsers Bewusstseins mit dem wirk- 
lichen Sein und Wesen der Dinge und Verhältnisse. 
Wenn Aristoteles geneigt scheint, die Wahrheit nur für 
das Denken, das Urtheilen gelten zu lassen, so ist diess 
eine zu enge Auffassung. Denn nicht blos die Synthesis, 
sondern auch die Thesis im Bewusstsein, das Aufnehmen 
durch die Sinne und die Reproduction durch die Ein- 
bildungskraft gewähren die Wahrheit, von welcher hier 
die Rede ist. Im Grunde findet auch schon bei ihrer 
Bethätigung ein Urtheilen statt, insofern in Bejahung 
oder Verneinung die Kategorien: Sein, Nichtsein, Be- 
schaffensein u. s. w. ihre Anwendung finden. Anderer- 
seits aber muss auch das Urtheil (Denken), wenn es 
Wahrheit sein, d. h. mit dem Gedachten übereinstimmen 
soll, mit dem objectiven Sachverhalt übereinstimmen; 
kann also nicht aus sich allein die Wahrheit produciren, 
sondern muss sich nach der Oftenbarung, dem Sein und 
den Eigenschaften des Erkenntnissobjectes richten. Spricht 
man doch sogar rein subjectiven Bethätigungen z. B. 
Empfindungen nur dann Wahrheit zu, wenn sie der wirk- 
lichen Situation entsprechen, — während man sie ohne 
diess als unwahr bezeichnet. — Es gilt Aehnliches auch 



die Philosophie als Wissenschaftslehre. 7 

vom Gegentheil der Wahrheit, vom Irrthum d. h. von 
emer Aufnahme in das denkende Bewusstsein oder einer 
Nachbildung in demselben, die dem Gegenstande oder 
Verhältnisse u. s. w. nicht entspricht. An sich sind die 
Gegenstände, Verhältnisse u. s. w. auch nicht Irrthum 
(sondern allenfalls Nichtsein, Anderssein oder Unvoll- 
kommensein), wie dieselben an sich nicht Wahrheit sind, 
sondern eben die bestimmten Gegenstände oder Ver- 
hältnisse, — wenn auch allerdings mit dem Unter- 
schiede, dass dem Irrthume gar nichts Sachliches ent- 
spricht, wie der Wahrheit, sondern eben das Gegentheil 
davon, das Nichtsein oder Anderssein. 

Diese Wahrheit zu realisiren, zu gewinnen d. h. das 
Denken oder überhaupt die bewusste Erkenntnissthätig- 
keit in Uebereinstimmung mit den Gegenständen, den 
Objecten zu bringen, seien sie sinnliche oder geistige, 
Dinge der Natur oder Ereignisse der Menschengeschichte, 
ist also Aufgabe aller Wissenschaft, welchen Namen und 
Inhalt sie haben möge, und muss demnach auch Auf- 
gabe der Philosophie sein. Da der Objecte der Er- 
forschung viele sind, deren Sein, Beschaffensein, Wirken 
und Wirkensweisen zu erforschen sind, so theilt sich be- 
kanntlich die Wissenschaft in viele Zweige oder besondere, 
eigenthümliche Wissenschaften je nach den eigenthüm- 
lichen Erkenntnissgegenständen, die ihre Aufgabe und 
ihren Inhalt bilden. Man kann sie insgesammt in zwei 
Hauptgruppen theilen : in Natur- Wissenschaften und Geistes- 
wissenschaften , je nachdem sie die Natur mit ihren Er- 
scheinungen, Produkten, Stoffen, Kräften und Gesetzen 
zum Erforschungsobject haben, oder die menschliche Ge- 
schichte mit ihren physischen und geistigen Erscheinungen 
und Leistungen, In beiden Gebieten haben sich in neuester 
Zeit viele besondere Wissenschaften gebildet, die in ent- 
sprechender Theilung der Arbeit sich auf bestimmte Er- 
forschungsobjecte beschränken, um dieselben um so ge- 



8 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und 

nauer, detaillirter zu ergründen und nach allen Beziehungen 
kennen zu lernen. Dabei droht freilich auch der Zu- 
sammenhang im menschlichen Wissen immer mehr ver- 
loren zu gehen und werden zunächst nur grosse und 
wichtige Resultate für das praktische Leben der Mensch- 
heit gewonnen, ohne dass schon dadurch die Gesammt- 
Weltauffassung Fortbildung und Veredlung erfährt. 

Wenn nun die Frage entsteht, welche Aufgabe denn 
die Philosophie nunmehr zu lösen d. h. welche Wahrheit 
sie zu gewinnen, welches Object sie für das menschliche Be- 
wusstsein zu Wahrheit zu gestalten habe, so scheint es 
auf den ersten Blick, als ob für sie mitten unter dieser 
Fülle moderner Wissenschaften kein Objekt zu erforschen 
übrig bliebe, als ob sie keine ihr eigenthümliche Aufgabe 
mehr zu lösen habe, keine besondere Art von Wahrheit 
zu gewinnen vermöchte, wodurch ihre Berechtigung und 
ihr Dasein oder Fortexistiren gesichert sein könnte. Denn 
air diese Wissenschaften, die allerdings ursprünglich aus 
dem philosophischen Forschen hervorgingen, haben sich 
nach und nach von ihr getrennt, sind nun nicht mehr 
philosophische Wissenschaften und wollen diess auch gar 
nicht mehr sein. Andererseits aber hat es den Anschein, 
dass sie den ganzen Inhalt des Daseins, des sinnlichen 
wie geistigen, erschöpfen, und dass für eine Philosophie 
kaum noch etwas übrig bleibe, um es als Gegenstand 
der Forschung im Intellecte zu Wahrheit zu gestalten. 
Weder die Natur noch das Menschendasein scheinen Der- 
gleichen zu bieten; denn die Wissenschaften der Natur 
und des geschichtUchen Lebens haben sich in diese Ge- 
biete getheilt und scheinen nichts davon für Philosophie 
übrig zu lassen. Ueberdiess: wie die Erde und das Ir- 
dische ihr entzogen scheint, so auch selbst der Himmel, 
das üneniiliche und Göttliche, da die sog. positive Re- 
ligion und deren Wissenschaft, die Theologie, dieses für 
sich in Anspruch nehmen. Und zwar in so ausschliess- 



die Philosophie als Wissenschaftslehre. 9 

lieber Weise, dass der natürlichen Wissenschaft überhaupt, 
sonach auch der Philosophie geradezu alle Befähigung und 
also auch alles Recht abgesprochen wird , dieses Gebiet 
als Gegenstand der Forschung und Erkenntniss in An- 
spruch zu nehmen, — da man sich dieser Wahrheiten 
nur durch den Glauben bemächtigen könne und erst auf 
Grund und unter Garantie und Controle von diesem einen 
wissenschaftlichen Versuch darüber sich erlauben dürfe. 
Für die Philosophie scheint demnach kein Gebiet oder 
Gegenstand der Erforschung, übrig zu bleiben und damit 
auch das Recht ihrer Fortexistenz erloschen zu sein. 
Von den Vertretern der empirischen, exacten und , ^posi- 
tiven" Wissenschaften wird diess auch oft genug behauptet 
und geltend gemacht, um die Philosophie in Misskredit 
zu bringen und die Theilnahme für sie zu schwächen 
oder zu vernichten. Die einzige Aufgabe, die man ihr 
allenfalls noch zugesteht und durch deren Erfüllung sie 
ihre Existenz dürftig fortsetzen mag, ist die Erkenntniss- 
theorie und Logik zur Vorbereitung und Vorübung für 
die eigentlichen Sach- und Fach - Wissenschaften. Zur 
blossen Propädeutik soll hiernach die Philosophie herab- 
gesetzt werden , nicht mehr eine Weltauffassung aufzu- 
stellen versuchen dürfen. Es fehlt sogar nicht an Philo- 
sophen, die dieser Beschränkung der Philosophie inso- 
fern Zustimmung gewähren als sie dieselbe in der That 
als blosse Erkenntniss Wissenschaft oder Wissenschafts- 
lehre auffassen und ausbilden wollen , wenn auch immer- 
hin in etwas weiterem und tieferem Sinne, als die ,, Po- 
sitiven" und ,, Exacten" wünschen.^) 

Historisch betrachtet ist allerdings richtig, dass die 
P>kenntnisswissenschaft stets als Philosophie oder wenigstens 
als philosophische Propädeutik betrachtet, ja zu manchen 

^) ,, Entweder muss die Philosophie überhaupt verschwinden, 
oder sie muss sich bemühen, Wissenschaftslehre in der wahren 
Bedeutung: des Wortes zu sein." W. Wundt Lodk II. ßd. S. 619. 



10 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und 

Zeiten geradezu in den Vordergrund der philosophischen 
Forschung gestellt wurde, so dass das philosophische 
Streben sich fast ganz auf sie concentrirte. Es geschah 
und geschieht diess immer wieder in Zeiten des Ueber- 
gangs, wenn durch skeptische und kritische Selbstbe- 
sinnung und Vertiefung etwa eine neue Wendung der 
philosophischen Forschung und eine neue Weltauffassung 
sich vorbereitete. Schon die vorsokratischen Philosophen 
im griechischen Alterthum haben , obwohl sie in so z. s. 
dogmatischer Weise ihre Forschung auf das Objective, die 
Natur, den Kosmos richteten, um Grundprincip und 
Wesen davon zu erkennen, doch auch über das Erkennen 
selbst , dessen Eigenart und Bedingungen manche Beob- 
achtungen gemacht und Behauptungen aufgestellt. Als 
dann durch die Sophisten das Erkenntnissobjekt ganz in 
den Hintergrund gedrängt oder geradezu geleugnet und 
das Subject der Erkenntniss, der denkende, urtheilende 
subjective Geist in den Vordergrund gestellt oder sogar 
allein geltend gemacht wurde, da war Veranlassung 
gegeben, die Forschung nun, statt auf die äussere 
Natur, auf den Geist des Menschen selbst, auf das 
innere und geistige Leben desselben, dessen intellec- 
tuelle und ethische Bethätigung zu richten. Von So- 
k rat es geschah diess, wie bekannt, zwar zunächst in 
Bezug auf das Wesen des Ethischen, indem er zu be- 
stimmen sachte, was denn das wahrhaft Gute, die sitt- 
liche Aufgabe des Menschen sei und wodurch jenes 
am sichersten realisirt werden könne. Da er aber das 
Wissen in ein ganz unmittelbares Causalverhältniss zur 
Tugend, zur Realisirung des Ethischen brachte und es 
sich ihm insoferne auch um das rechte Wissen oder Er- 
kennen handelte, musste auch diesem die Untersuchung 
zugewendet und die richtige Art derselben in Induction 
und Dialektik gesucht und geübt werden. Von da 
an blieb auch das erkennende Subjekt, die Erkennt- 



die Philosophie als Wissenschaftslehre. H 

nissthätigkeit und die Methode der Untersachüng Gegen- 
stand philosophischer Forschung. Piaton übte die Dia- 
lektik, allerdings nicht blos als formale Doctrin , sondern 
in ernstem Streben nach Erkenntniss des wahren Wesens 
der Dinge, Aristoteles aber bildete endlich geradezu 
eine eingehende Theorie des Denkens, Erkenntnisstheorie, 
Logik und selbst auch Methodenlehre aus, die zusammen als 
ein Theil seiner Philosophie gelten. Den nacharistotelischen 
Philosophen, insbesondere den Stoikern, galt allerdings die 
Logik nur ^^Is Vorbereitungs-DiscipHn, als Organon des 
philosophischen Forschens (Instrumentalphilosophie) und 
nur Metaphysik (Physik) und Ethik als eigentliche Philo- 
sophie; aber sie war immerhin für den Philosophen ein 
nothwendiges Bildungsmittel. Auch die Skeptiker, welche 
die Möglichkeit oder Zuverlässigkeit menschlicher Er- 
kenntniss verneinten oder wenigstens derselben sehr enge 
Schranken zogen , galten trotz dieser Leugnung philo- 
sophischer Erkenntniss und eben wegen dieser negativen 
Erkenntnisstheorie dennoch für Philosophen und haben 
ilire Stelle in der Geschichte der Philosophie erhalten. 
In der sog. christlichen und scholastischen Philosophie 
wurde die Erkenntnisslehre nicht mit besonderem Eifer 
weiter gebildet. Man sprach der menschlichen Vernunft 
zu Gunsten des Glaubens nur beschränkte Wissensfähig- 
keit und Forschungsberechtigung zu, nur so viel nämlich, 
dass sie dem Glauben nützliche Dienste sollte leisten 
können. Man wies also zwar den Skepticismus zurück, 
Aveil durch diesen die Thätigkeit der Vernunft alle Zuver- 
lässigkeit verloren und auch dem Glauben nicht mehr 
hätte Dienste leisten können, aber man sprach ihr die 
Fähigkeit und Berechtigung selbstständiger Forschung und 
Erkenntniss in Bezug auf die höchsten Wahrheiten ab, 
oder gab wenigstens keine Weiterforschung über das hinaus 
zu, was die alte Philosophie, insbesondere Aristoteles im 
Erkennen erreicht hatte. Es bedurfte keiner angestrengten 



12 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und 

Forschung auf dem erkenntnisstheoretischen Gebiete, weil 
Glaube und Auctorität die sichere Führung der Vernunft- 
thätigkeit gewähren zu können behaupteten. — Als im 
Beginne der neueren Zeit die Philosophie sich im Gegen- 
satz zu der kirchlich dienstbaren Scholastik wieder selbst- 
ständig zu machen strebte, war es natürlich, dass nun die 
Erkenntnisswissenschaft für die Philosophen besonders 
wichtig w^urdo und in den Vordergrund trat. Kraft, 
Thätigkeits weise und Recht des menschlichen Erkenntniss- 
vermögens nmssten ja geprüft werden. B a c o n von Verulam 
bildete der scholastisch -aristotelischen Logik gegenüber 
ein neues Organon aus und suchte vor Allem zu zeigen, 
wie neue Erkenntnisse gewonnen werden können durch 
empirische Forschung und inductive Methode. Auch 
Cartesius begann seine philosophische Forschung mit 
methodologischen Untersuchungen und mit Feststellung 
eines sicheren Punktes, auf dem das Gebäude mensch- 
licher Erkenntniss fest gegründet werden könnte. Locke's 
Hauptwerk ist der Untersuchung des menschlichen Ver- 
standes gewidmet, sowie auch Leibniz' grösstes und 
bedeutendstes philosophisches Werk von der menschlichen 
Erkenntnisskraft und Thätigkeit handelt. Demselben Ge- 
genstande widmete H um e hauptsächlich seine philosophisch- 
kritische und skeptische Forschung und endlich Kant 's 
epochemachendes Werk ,,die Kritik der reinen Vernunft'' 
hat sich ja die Aufgabe gestellt, das menschliche Er- 
kenntnissvermögen in seiner ursprünglichen Kraft oder 
Anlage zu prüfen , die Art seiner Bethätigung zu er- 
forschen und die Gränzen der Erkenntniss desselben zu 
bestimmen. Auch der nach kantischen Philosophie galt 
die Erkenntnisswissenschaft stets als ein besonders wich- 
tiger Gegenstand der Untersuchung; ja die Wissenschafts- 
lehre Fichte 's wie die Logik Hegel's sollten geradezu 
auch den Inhalt des Erkennens zugleich mit der Form 
desselben produciren , also insoferne gewissermassen 
schöpferisch und Real -Wissenschaft sein. 



die Philosophie als Wissenschaftslehre. 13 

Vom Standpunkte der historischen Betrachtung aus 
kann also gar kein Zweifel darüber sein , dass die Er- 
kenntnisswissenschaft , Logik und Wissenschaftslehre als 
Philosophie zu gelten den Anspruch erheben könne. 
Andererseits aber ist ebenso unbestreitbar, dass, historisch 
betrachtet, die Wissenschaft von der menschhchen Er- 
kenntniss keineswegs das Recht habe, sich allein und 
ausschliesslich als Philosophie geltend zu machen, da vom 
Anfang des Philosophirens an durch alle Zeiten hindurch 
die Gewinnung einer bestimmten Welterklärung, die 
Forschung nach dem Wesen und dem letzten Grunde 
des Daseins, sowie nach dem letzten Ziele und den idealen 
Aufgaben der Menschheit den wesenthchen Inhalt der 
Philosopliie bildete. Und das Beste und Höchste, was 
die Menschheit bisher errungen hat, ging aus diesem 
Streben hervor. So sehr war diess das philosophische 
Hauptstreben, dass die Erkenntniss Wissenschaft selbst nur 
Ausbildung fand um dieser Hauptaufgabe willen, d. h. 
um diese um so sicherer, vollkommener lösen zu können ; 
— so dass sie, wie auch andere Erkenntnisse, z. B. natur- 
wissenschaftliche, gleichsam nur als Nebengewinn aus der 
Verfolgung des Hauptzieles hervorging. In ähnlicher Weise, 
wie etwa in der modernen Naturwissenschaft die Erfindung 
von allerlei wissenschaftlichen Hilfsmitteln, Instrumenten zur 
Forschung u. dgl. aus der sachlichen Untersuchung gleich- 
sam als Nebengewinn sich ergab. Die eigentliche Philoso- 
phie begann damit, dass nach dem Grundprincip alles Wer- 
dens und Gestaltens in der Natur geforscht wurde. Aristo- 
teles^) bezeichnet als den Ersten, der solches gethan, 
den Thaies und lässt darum mit ihm die eigentliche 
Philosophie beginnen. Mannichfache Versuche wurden 
schon vor Sokrates gemacht, um das wirkende, bildende 
Princip (ap/vj) der Welt (zöa[ioc) zu bestimmen, oder um 



^) Metaph. I, 3. 



14 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und 

das wahre Wesen (ovto)? ov) des Daseins zu erkennen. 
Und wie unvollkommen die Versuche und deren Resultate 
auch noch sein mochten, sie zeigen doch einen allmählichen 
Fortschritt schon insofern, als man, mit dem Aeusserlichen, 
Stofflichen beginnend, zuletzt zu einem geistigen, vernünf- 
tigen Grundprincip gelangte ; sowie man andererseits durch 
Unterscheidung des wahrhaften, beharrenden Wesens von 
den vergänglichen Erscheinungen lernte, sich über diese 
zu erheben und Wahrheit und flüchtigen Schein von 
einander zu unterscheiden und richtig abzuschätzen. Er- 
kenntnisstheoretische und naturwissenschaftUche Kenntnisse 
mancherlei Art gingen, wie bemerkt, nebenbei aus diesem 
Streben, ein höchstes Ziel bezüglich der Welterkenntniss 
zu erreichen, hervor; Kenntnisse, die man bei dem 
blossen Bemühen um Kenntniss des Nächstliegenden für 
blos praktische Zwecke des täglichen Lebens, nicht er- 
reicht hätte, weil der forschende Geist nicht genug An- 
regung von solch' banausischen Aufgaben erhalten hätte, 
um auch nur dieses Geringe leisten zu können. Denn 
der Menschengeist muss sich hohe, höchste Aufgaben 
stellen, um seine Kraft zu üben und sie auch für ge- 
ringere Leistungen zu befähigen. Wenn Positivisten und 
Empiriker ihr Bedauern darüber aussprechen, dass die 
hervorragenden Geister bei den Griechen und auch bei 
den anderen Culturvölkern ihre Kraft an so unmöglich 
zu lösende metaphysische Aufgaben, die doch nur als 
chimärische betrachtet werden könnten , verschwendet 
haben, so ist diese Auffassung ebenso kurzsichtig wie der 
Tadel ungerecht. Ohne hohe und höchste Aufgaben wird 
die menschliche Geisteskraft nicht genug angeregt, nicht 
zu grossen Anstrengungen und Leistungen veranlasst, 
und wird auch kleinere Resultate und Erfolge nicht erzielen, 
insbesondere aber sich nicht durch Uebung stärken und 
erhöhen. Wie instinctiv haben daher schon frühe Völker, 
die sich zur Kultur emporrangen, grosse, ans abentheuer- 



die Philosophie als Wissenschaftslehre. 15 

lieh erscheinende Unternehmungen, insbesondere kolossale 
Bauten ausgeführt, dadurch ihre Kraft gebildet und Kennt- 
nisse und Fertigkeiten verschiedener Art errungen. Denken 
wir uns zwei noch ungebildete, auf gleicher Stufe stehende 
Völkerschaften, deren eine nun durch einen ingeniösen, 
unternehmenden Mann zU einem grossen, wenn auch aben- 
theuerlichen ßauunternehmen , etwa einen babylonischen 
Thurmbau veranlasst wird , während die andere dagegen 
bei ihrer gewöhnliclien , nur auf das Nothdürftigste ge- 
richteten Thätigkeit und Lebensweise verharrt, — so ist 
sicher, dass die erstere sich dadurch, wenn sie auch schliess- 
lich von ihrem Unternehmen als einem unausführbaren 
abstehen muss, fortgebildet und in allen Beziehungen zur 
Ueberlegenheit über die andere emporgearbeitet haben 
wird. Das grosse Unternehmen übt nämlich den Geist 
und veranlasst die Concentration seiner Kräfte zur Er- 
findung von mancherlei Hülfs mittein , Werkzeugen und 
Verfahrensweisen, so dass auch das gewöhnliche Leben 
und Wirken davon mannichfache Förderung erfährt und 
alle Verhältnisse in dem ganzen Volke sich bessern. Die 
andere Völkerschaft, die nichts dergleichen unternahm 
und die erstere vielleicht um ihres nutzlosen und mühe- 
vollen Unternehmens willen verspottete, sich selbst unter- 
dess der trägen Ruhe und der althergebrachten Gewohn- 
heit überlassend, wird schliesslich als untergeordnete er- 
scheinen und auch in den gewöhnlichen Kenntnissen und 
Fertigkeiten des Lebens nicht vorwärts gekommen sein. 
So ist es auch im Gebiete der philosophischen Forschung 
und Wissenschaft. Schon die ersten griechischen Philo- 
sophen stellten sich ein hohes, ja das höchste Ziel der 
Forschung ; sie wollten das Grundprincip und Wesen des 
Daseins erkennen. War dieses Ziel auch unmöglich zu 
erreichen, so wurden sie doch bei ihrem hohen Streben 
veranlasst, die Natur der Dinge nach verschiedenen Seiten 
hin zu erforschen, um ihre Auffassung so viel als mög- 



16 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgeraeinen und 

lieh zu begründen, und es bildeten sich so aus dem philo- 
sophischen Streben die Anfänge der Naturwissenschaft. 
Auch der Erkenntnisskraft- und -Thätigkeit ward bald die 
Aufmerksamkeit zugewendet, wenn auch noch, wie er- 
wähnt, in untergeordneter Weise. Die Erkenntniss- 
wissenschaft erhielt so ebenfalls ihren ersten Impuls und 
Anfang durch jenes Streben nach Erkenntniss des Urprin- 
cips und Wesens des Daseins, das als das eigentHch philo- 
sophische betrachtet wurde. Es ist nicht abzusehen, 
warum man nun diesem Streben, das vou Anfang an für 
Philosophie galt, für den Mittelpunkt uncf- das Hauptziel 
des philosophischen Forschens, — nun diesen Charakter 
absprechen soll! Nicht minder wird wohl auch Sokrates 
noch fernerhin als Philosoph gelten dürfen, obwohl er 
nicht nach Ausbildung einer Wissenschaftslehre strebte, 
sondern den Begriff des Guten, das Wesen der Tugend 
festzustellen suchte. Piaton und Aristoteles haben 
allerdings der Erkenntnisswissenschaft, dem Ursprung und 
Wesen, sowie der Methode der Erkenntniss ihre Forschung 
zugewendet und insbesondere Aristoteles in umfassender, 
für die folgenden Jahrhunderte massgebender Weise die 
Lehre vom Denken und Wissen ausgebildet. Gleichwohl 
ist es nicht diese Leistung um derentwillen beide als die 
grössten , erhabensten Philosophen der Griechen galten 
und noch zu gelten haben, sondern ihre Forschung nach 
dem Grund und dem wahren Wesen des Daseins nach 
dem wahrhaft Seienden und Idealen, wodurch sie auf die 
Bildung und Veredlung der kommenden Geschlechter 
wirkten und die höchsten Förderer des geistigen Lebens 
der Menschheit w^urden. Sie werden wohl auch in Zu- 
kunft hauptsächlich um dieser metaphysischen Leistungen 
willen als Philosophen zu betrachten sein ! Wenden wir 
uns zur neueren Zeit, so müssten nach der neuesten 
Auffassung der Philosophie, wie sie von Seite der Posi- 
tivisten und ihrer Nachahmer beliebt wird , manche der 



die Philosophie als Wissenschaftslehre. 17 

bedeutendsten Philosophen oder wenigstens gerade deren 
bedeutendsten Leistungen aus dem Gebiete der Philosophie 
ausgeschlossen werden. So vor Allera, um von Andern 
zu schweigen, Spinoza, und bezüghch seiner metaphy- 
sischen Leistungen selbst Leibniz. Von Kant wird 
man annehmen müssen, dass zwar seine „Kritik der reinen 
Vernunft" eine philosophische Leistung sei, aber nicht 
mehr seine Kritiken der praktischen Vernunft und der 
Urtheilskraft. Er muss also als ein Abtrünniger von sich 
selbst betrachtet werden, als solcher, der durch seine gross- 
artigste philosophische Leistung zuletzt nichts weiter 
erreichte, als diess , dass er selbst von der wahren Philo- 
sophie abfiel, oder trotzdem selbst nicht mehr wusste, 
was Philosophie sei! Fichte allerdings nannte sein 
Hauptwerk ,, Wissenschaftslehre", aber, wie bekannt, nicht 
im gewöhnlichen und modernen Sinne, sondern sie sollte 
als Darstellung des entschiedensten Idealismus mit der 
wissenschaftlichen Methode zugleich Grund und Wesen 
des Daseins lehren und dieses aus einem Grundprinzip 
ableiten und verstehen, — wie solches von Anfang des 
philosophischen Strebens an versucht wurde von Thaies 
wie von Heraklit, von Empedokles wie von Anax- 
agoras u. A. Schelling und Hegel endhch würden 
ebenso aus der Liste der Philosophen zu streichen 
sein, wenn Logik und Wissenschaftslehre (im gewöhn- 
lichen Sinne) darauf Anspruch hätten, allein für Philo- 
sophie zu gelten. Sie müssten in diesem Falle wenigstens 
zu den unächten, vermeinthchen Philosophen gezählt 
werden, die das für Philosophie hielten und ihre Geistes- 
kraft daran wendeten, was in der That gar nicht 
Philosophie ist, was vielmehr durchaus als unwissen- 
schaftliches und unphilosophisches Treiben zu betrach- 
ten seil 

Wir können uns solcher Ansicht nicht anschliessen 
und betrachten solche Beschränkung der Philosophie auf 

Frohschammer, Die Philosophie. 2 



18 I. Die Aufgabe der Philosophie im Allgemeinen und 

blosse Wissenschaftslehre oder Erkenntiiisswissenschaft als 
unberechtigte Verkümmerung und Herabsetzung derselben. 
Blosse Wissenschaftslehre im Sinne von Logik und wissen- 
schaftlicher Methodenlehre ist ein zu dürftiges Gebiet, 
wenn sie nicht mit der philosophischen Prinzipienlehre 
in Verbindung gebracht wird. Geschieht aber dieses, 
dann wird sie immer wieder einen metaphysischen Grund 
erhalten, den man so sehr als ,,unwissenschafthch" ver- 
meiden will. Wird solches durchaus vermieden, dann wird 
eine blosse Propädeutik zu Stande kommen, zur blossen 
Vorübung und Einleitung in die Wissenschaften dienend. 
Als Führerin oder Gesetzgeberin dieser Wissenschaften 
wird sich dieselbe nicht geltend machen können, wie man 
diess wohl wünscht und anstrebt, denn sie kann nur ganz 
im Allgemeinen Bedingungen, Gesetze und Methoden des 
Denkens und Forschens zur Darstellung und Geltung 
bringen für die andern Wissenschaften, wird aber nicht 
deren eigenthümliche Grundsätze und Verfahrungs weisen 
bestimmen können. Diese werden eben nicht durch all- 
gemeine Erörterungen , sondern weit mehr durch wirk- 
liche, sachliche Forschung gewonnen; daher werden die 
besonderen Wissenschaften nicht geneigt sein, sich von 
der Philosophie als Wissenschaftslehre specielle Vor- 
schriften geben zu lassen durch solche, welche ihr Special- 
gebiet gar nicht näher durch selbständige Forschung 
kennen. Will aber diese Wissenschaftslehre sich der 
selbstständigen Forschung begeben und Grundsätze, Me- 
thoden und Resultate aller anderen Wissenschaften zu- 
sammenstellen , so wird sie von blossen Anlehen sich 
mühsam zusammensetzen und ein vollständig unselbst- 
ständiges Dasein führen. In diesem Falle ist gar kein Grund 
vorhanden, ein so zusammengetragenes Ganzes als Philo- 
sophie zu bezeichnen. Wollte sich diese Wissenschafts- 
lehre etwa beikommen lassen, die einzelnen Wissenschaf- 
ten in ihren Grundsätzen, Methoden und Resultaten einer 



die Philosophie als Wissenschaftslehre. 19 

Kritik zu unterwerfen , so würde man sich sicher auch 
diese nicht gefallen lassen und es würde derselben ohne 
Zweifel von den andern Wissenschaften bedeutet werden, 
dass sie selbst am besten im Stande seien, ihre For- 
schungen und Resultate kritisch zu betrachten und zu 
verbessern. Die Kritik der Erkenntnissorgane selbst, ihrer 
Kräfte, Eigenart und Tragweite lässt sich auch in der 
That nicht wohl a priori und in abstracter Weise vor- 
nehmen, getrennt von den Gegenständen der Forschung, 
sondern am besten bei der sachlichen Forschung selbst, 
ist also wiederum am sichersten von den einzelnen 
Wissenschaften in ihren besonderen Gebieten zu leisten, 
nicht von einer ganz eigenen, unabhängigen Wissenschaft 
als Lehre der Wissenschaft. Diese bliebe also nur eine 
Vorbereitung für Anfänger. Eine wirklich tiefere Erfor- 
schung der Erkenntniss-Organe , sowie der Quellen , der 
Sicherheit und Öbjectivität der menschlichen Erkenntniss 
gehört aber in das Gebiet der Psychologie und der Natur- 
philosophie (soweit diese die Genesis der menschlichen 
Natur selbst zu erforschen hat mit ihren Kräften und 
äusseren wie inneren Bewusstseinsorganen) und der meta- 
physischen Untersuchung über Grundprincip und Wesen 
des Daseins überhaupt. Damit aber müssen wir, um nur 
die Erkenntnisswissenschaft zu einer wirkhch philoso- 
phischen zu erheben, dieselbe auf metaphysische Grund- 
lage stützen und nait metaphysischem Geist durchdringen. 
Wenn Kant von der Naturforschung behauptet, dass 
sie so viel Wissenschaft in sich fasse, als sie Mathematik 
enthalte, so lässt sich mit gleichem, ja mit mehr Recht 
behaupten, dass die Erkeuntnisswissenschaft so viel wirk- 
liche Philosophie in sich schUesse, als sie Metaphysik 
(im weiteren Sinne genommen) in sich enthalte. 



2* 



20 II- Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit 



II. 

Die Philosophie als Wissenschaft von der 
Wahrheit im Sinne von Idealität. 

"Wenn wir der Erkenntnissvvissenschaft auch ihr histo- 
risch begründetes E-echt auf die Bezeichnung ,, Philosophie" 
zugestehen, so ist doch kein genügender Grund vorhanden, 
dieselbe, auch wenn sie eine bestimmtere Form als ,, Wissen- 
schaftslehre" annimmt, allein für Philosophie zu erklären, 
damit allen metaphysischen, ethischen, ästhetischen und 
religionsphilosophischen Forschungen den Charakter der 
Philosophie absprechend. Wir haben vielmehr sowohl ein 
historisch begründetes, als in dem Wesen der Sache selbst 
Hegendes Recht, auch diese Forschungen als Philosophie, 
und zwar in eminentem Sinne, zu bezeichnen. Sowohl 
die Erforschung des ewigen und idealen Wesens der Dinge, 
als auch des bildenden Grundprincips des Weltprocesses 
hat uns als die Hauptaufgabe der Philosophie zu gelten. 
Allerdings ist, unsers Erachtens, beides in etwas anderer, ja 
vielfach modificirter Weise aufzufassen, als es bisher geschah, 
wie diess stets das Recht der in geschichtlicher Entwicklung 
begriffenen Geistesthätigkeit war, und jede folgende philoso- 
phische Weltauffassung, bei aller Gleichheit des Problems und 
der Aufgabe, in Anspruch genommen hat. Als das Wesen 
des Daseins, das die Philosophie zu erforschen hat, be- 
trachten wir die ewige und ideale Wahrheit, nicht die 
gewöhnliche WirkHchkeit als solche, und als das Grund- 
princip des Weltprocesses wird die Phantasie geltend gemacht. 

Um beides näher zu erklären und zu begründen 
müssen wir noch einmal auf die Wahrheit zurückkommen, 
um sie noch näher nach Wesen und Art zu untersuchen. 
Wir sahen oben, dass Wahrheit durch den erkennenden 



im Sinne von Idealität. 21 

Geist unter Vermittlung der Erkenntnisfeorgane, der Sinne 
und des Verstandes, zu Stande kommt, und dass diess 
durch Uebereinstimmung des Denkens (oder Bewusstseins 
überhaupt) mit dem gedachten oder vorgestellten (oder 
auch angeschauten d. h. unmittelbar durch die Sinne 
wahrgenommenen) Gegenstande oder Inhalt des Erkenn tniss- 
actes geschieht. Die Wahrheit besteht insoferne in der 
Nachbildung oder Reproduction des Erkenntnissobjectes 
im Geiste, während dieses selbst als solches in seiner 
Objectivität, in seinem realen Sein mit seiner Eigenart 
beharrt. Unter den Begriff ,, Wahrheit", wird jegliches 
Erkannte, wie verschieden und eigenartig es auch sein 
mag in seinem objectiven Sein, subsumirt: das Sinnliche wie 
das Geistige, das Uebereinstimmende wie das Entgegenge- 
setzte, selbst das Unwahre, Lügenhafte, wenn es Erkenntniss- 
gegenstand wird. Nun aber ist zu erwägen, ob denn diese im 
Geiste producirte Wahrheit, diese Uebereinstimmung, dieses 
mit dem Objecte übereinstimmende Bild oder dieser Gedanke 
wirklich das sei, was die Forschung, die Erkenntnissthätigkeit 
als Ziel anstrebt, entweder aus rein theoretischem Interesse 
oder auch, um die erlangte Erkenntniss (Wahrheit) etwa 
praktisch zu verwerthen. Da zeigt es sich nun, dass 
diese Wahrheit (durch den Tntellect) nicht der eigent- 
liche Gegenstand oder das Ziel der Forschung ist, sondern 
eben nur das Mittel, die Weise des Erkennens, um den 
Gegenstand (der ausser dem Erkenntnissacte und dem 
erkennenden Geiste zu verharren pflegt) richtig aufzu- 
fassen, zu beurtheilen und ihn (den Gegenstand selber, 
nicht etwa blos den Gedanken oder die Vorstellung davon) 
praktisch für bestimmte Lebenszwecke zu verwenden. Die 
Wahrheit als das übereinstimmende Denken (der Gedanke) 
ist nur das Mittel der Erkenntniss, nicht das (objective) 
Erkannte, ist nur Wahrheit der Erkenntniss, nicht Er- 
kenntniss der Wahrheit, ist nur erkennende Wahrheit, 
nicht erkannte Wahrheit ] d. h. bezieht sich nicht auf das 



22 II- Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit 

Object der Erkenn tniss, wie es an sich besteht, sondern 
auf das Subjectresp. dessen Erkenntnissact, und ist insofern 
ein Act und eine Eigenschaft des denkenden Intellects. 
Bei der wissenschaftlichen Forschung, z. B. im Ge- 
biete der Natur oder der Geschichte, handelt es sich aber 
nicht um diese Erkenntnisswahrheit als Mittel der wahren 
Erkenntniss, sondern um das Object derselben als das 
anzustrebende Ziel. Die natürUchen Dinge und ihre Be- 
schaffenheit, die geschieh tUchen Ereignisse, wie sie wirk- 
lich stattgefunden, sowie deren Ursachen und Wirkungen 
sind es, um was es sich dabei handelt. Diese sind an 
sich allerdings nicht Wahrheit, sondern ein Dasein 
und ein Geschehen, das allenfalls sogar unwahr, Lüge 
sein kann, ohne desshalb aufzuhören, richtige Erkenntniss 
und also im Bewusstsein Wahrheit (wahre Erkenntniss) 
zu sein. Insoferne nun aber die Erkenntnissobjecte, die 
Dinge , Verhältnisse und Gesetze der Natur , die Ereig- 
nisse, Personen, wirkenden Motive der Geschichte durch 
Erforschung für das Denken und Vorstellen , für die 
Erkenntniss, also im erkennenden Geiste zu ,,Wahrheit'' 
werden, wird diese Bezeichnung, dieser Begriff auf sie, als 
Objecte, selbst übertragen, und diese werden insoferne als 
objective Wahrheit bezeichnet. Und sie in der That sind 
als Ziel gemeint, wenn von Erforschung der Wahrheit 
die Rede ist, da die formale Wahrheit, die Ueberein- 
stimmung des Denkens mit dem Gedachten nur das 
Mittel ist, sich der realen, objectiven Wahrheit, d. h. des 
Erkennntissobjectes selbst zu vergewissern für theoretische 
oder praktische Zwecke. Wie sehr man auch betonen 
mochte, dass die Wahrheit nur im Intellecte und durch 
ihn sei, man hat doch stets nicht umhin gekonnt, auch 
das objectiv Seiende selbst als Wahrheit geltend zu machen. 
Schon indem man in der griechischen Philosophie wahrhaft 
Seiendes (övto)? ov) von nur scheinbar Seiendem unter- 
schied, galt diess dem Objectiven, nicht der in den den- 



im Sinne von Idealität. 2»^ 

kenden Geist stattfindenden Aufnahme, da beides durch diese 
Aufnahme in gleicher Weise zu Wahrheit (in formalem 
Sinne) wurde. Augustinus sagt geradezu : Verum est id quod 
est, und in der Scholastik formulirte man die aristotelische 
Lehre (wie diess z. B. Thomas v. Aquin thut) dahin: 
,,Veritas invenitur in intellectu secundum quod apprehendit 
rem ut est, et in re secundum quod habet esse confor- 
mabile intellectui. " ^) 

Diese objective Wahrheit d. h. die Wahrheit als 
Erkenntnissgegenstand, ist aber selbst von verschiedener 
Art, und zwar nicht bloss dem Gegenstande nach, welcher 
der Natur oder Geschichte, dem sinnlichen oder geistigen 
Dasein angehören kann, — sondern von verschiedener 
Art als Wahrheit; so zwar, dass ein und derselbe Gegen- 
stand Wahrheit in zwei verschiedenen Bedeutungen zu sein 
vermag, — abgesehen von seiner Existenz im erkennenden 
Geiste, durch die er ursprünglich und formal zu Wahrheit 
geworden ist. Ein Object der Erkenntniss kann nämlich als 
solches zugleich als Wahrheit im Sinne von Wirklichkeit 
oder ThatsächHchkeit, und als Wahrheit im Sinne von Idee- 
gemässheit oder Vollkommenheit erkannt werden. Ein 
historisches Ereigniss z. B. kann an sich Lug und Trug 
sein und doch historische Wahrheit werden, wenn es so 
erkannt, im erkennenden Geiste reproducirt wird, wie es 
in Wirkhchkeit stattgefunden hat; was als objective That- 
sache Lug und Trug ist, wird für die Erkenntniss zu 
Wahrheit, weil sie so ins Bewusstsein aufgenommen ist, 
wie sie wirklich stattgefunden hat, also Gedanke und 
Thatsache übereinstimmen. Würde das, was thatsächlich 
Lug und Trug war, nicht als diess erkannt, sondern 
für ein ehrliches, aufrichtiges, wahres Geschehen oder 
Verhalten angesehen, so würde diess ein historischer Irr- 
thum sein, — während die erkannte Lüge historische 



^) Vgl. des Verf. W. Die Phantasie als Grund princip 
des Weltprocesses. S. 40 ff. 



24 II- Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit 

Wahrheit d. h. Wahrheit für das geschichtliche Erkennen 
ist. Aber eben indem der Historiker erkennt, dass Lug 
und Trug stattgefunden habe, und dass diess die ge- 
schichtUche Wahrheit sei, fallt er darüber noch ein an- 
deres Urtheil als das blos historische, ein ideales, ethisches 
nämUch, die reale Thatsache am idealen Masstab messend 
und beurtheilend. Oder wenn z. ß. über zwei Kunst- 
werke, etwa Gemälde, berichtet werden soll, von denen 
das Eine gut ist, ein wahres Kunstwerk, das andere nicht, 
so werden zwar beide als wirkHche, thatsächUche Gemälde 
betrachtet, die Kategorie Sein oder Thatsächlichkeit wird 
auf beide Werke angewendet, also Wahrheit im Sinne von 
Thatsächlichkeit oder objectiver Wirklichkeit wird von 
beiden ausgesagt ; dem einen aber wird auch noch Wahr- 
heit im Sinne von Ideegemässheit d. h. von künstlerischer 
und ästhetischer Vollkommenheit zugeschrieben, dem andern 
aber nicht, — obwohl man ihm Thatsächlichkeit oder 
das Gemäldesein nicht abspricht. Bei allen menschlichen 
Handlungen findet dasselbe statt. Sie werden nicht blos 
nach ihrer Wirklichkeit oder Thatsächlichkeit erkannt und 
beurtheilt, sondern auch nach ihrem idealen resp. ethischen 
Werthe, also in ihrer Wahrheit im Sinne von Ideegemäss- 
heit. Selbst in der Naturforschung müssen diese beiden 
Arten von objectiver Wahrheit von einander unterschieden 
werden. Der Physiker, welcher die Tonverhältnisse phy- 
sikalisch untersucht, erkennt als solcher nur das that- 
sächliche äussere Geschehen, nicht aber die ästhetische Be- 
deutung derselben; als ästhetisch fühlender oder sogar 
musikalisch gebildeter Mann aber wird er den ästhetischen, 
idealen Werth, die Bedeutung der Tone und Tonverhältnisse, 
also die ideale Wahrheit derselben beachten und wür- 
digen. In gleicher Weise erforscht der Chemiker als 
solcher, nur die Stoffe, ihr Verhalten zu einander und die 
Qualitäten ihrer Verbindungen, also die Wahrheit im 
Sinne von Thatsächlichkeit; und es ist ihm als solchem 



im Sinne von Idealität. 25 

gleichgültig, ob diese Stoffe, Verhältnisse und Wirkungen 
in der Fäulniss sich zeigen oder in einem Kunstwerk, 
oder in einem Natur-Schönen. Als Mensch aber wird er 
der idealen Seite seiner Natur gemäss die ersteren anders 
auffassen oder werthschätzen als die anderen; jene als 
blosse Wirklichkeit, ohne Ideegemässheit , ja als Idee-, 
Geist- und Lebens -Widriges, diese aber als Realisirung 
und Offenbarung des das Dasein als Norm und Ziel 
durchwaltenden Idealen.^) 

Betrachten wir die Wahrheit im Sinne von objectiver 
Wirklichkeit, so können wir an derselben selbst gleichsam 
Stufen oder Grade wahrnehmen, je nachdem es sich blos 
um Einzelnes und um flüchtige Erscheinungen, oder um 
Allgemeines und (mehr) Wesenhaftes handelt; dann, ob 
um besondere Ursachen und Gesetze für einzelne Ge- 
biete, oder um allgemein in der Natur gültige Ursäch- 
lichkeit und Gesetzmässigkeit, oder endhch um das 
unbedingt Geltende und Nothwendige, Nicht-Nichtsein- 
Könnende und Nicht-Andersseinkönnende für jegliches 
Sein und Wirken überhaupt. Als Wahrheit im objectiven 
Sinne, und zwar im Sinne von Wirklichkeit muss all diess 
gelten, und es war diess Alles im Laufe der Zeiten mehr 
oder minder der bevorzugte Gegenstand auch der wissen- 
schaftlichen Forschung. Zunächst bietet sich natürHch 
das Einzelne, Besondere, den Sinnen unmittelbar Gegen- 
wärtige dar zur Aufnahme in das Bewusstsein und zu einer 
wenn auch nur empirischen Erkenntniss oder vielmehr 
Kenntnissnahme. Die Philosophie selbst fing damit an, 
aber allerdings nicht, um dabei stehen zu bleiben, sondern 
darüber hinaus zu einem Allgemeinen, Beharrenden oder 
Wesenhaften zu gelangen. Schon bei den griechischen 
Philosophen entstund bald Misstrauen in die Sinne und 



^) Vgl. d. Verf. Schrift: Ueber die Aufgabe der iSatur- 
philosophie und ihr Verhältniss zur Naturwissen- 
schaft. München, 1861 S. 21 ff. 



26 il- Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit 

sie ermalmten, vielmehr dem Denken zu vertrauen, da 
nur dieses das wahre Wesen, das Beharrliche in dem be- 
ständig wechselnden Geschehen zu erkennen und im Be- 
griffe zu fixiren vermöge. Begriffe gelten daher hauptsächlich 
als Ausdruck der Wahrheit, und Aufgabe der Philosophie 
war es, ,,was in schwankender Erscheinung schwebt, zu be- 
festigen in dauernden Gedanken." Die Platonische Lehre von 
denideenund die Aristotelische Annahme von Wesensformen 
gingen aus diesem Streben hervor. Auch in der neueren Zeit 
hat die Philosophie Systeme aus abstracten Begriffen aufge- 
baut in der Voraussetzung, damit das Wesen und die 
Wahrheit des Daseins zu erfassen und darzustellen. Die 
inductive, empirische Wissenschaft dagegen, insbesondere 
die Naturwissenschaft, verhielt sich ablehnend gegen 
dieses Verfahren und forschte nicht mehr nach dem allge- 
meinen, abstracten Wesen, sondern nach den Ursachen und 
den gesetzlichen Verhältnissen der Erscheinungen. Die 
Wahrheit, welche die Forschung zu erkennen habe, erblickt 
sie in Thatsachen und in Ursache und Gesetz, nicht im 
allgemeinen oder gemeinsamen Wesen der Dinge; obwohl 
allgemeine Begriffe auch dabei nicht vermieden werden 
können; — wie umgekehrt von den alten Philosophen 
immerhin auch die Forschung nach der Ursache der Dinge 
als philosophische Aufgabe betrachtet wurde. Eine 
Forschung, die ja schon dadurch unvermeidlich war, dass 
aus ersten Principien erklärt werden sollte. Das allge- 
meine Wesen, die Ideen, Formprincipien u. s. w. galten daher 
zugleich als wirkende Ursachen. Aber sie wurden abstract 
gefasst und die Erscheinungen daraus abgeleitet. — Dieses 
Forschen nach Ursache und Gesetz hat wiederum auch 
in der Naturforschung Grade, da man auch da bestrebt 
ist, immer allgemeinere, sogar wo möglich letzte Ur- 
sachen und ein einheitliches Wirken und Gesetz aufzu- 
finden, um naturwissenschafthch ebenfalls das Dasein oder 
die Natur einheitlich zu erklären. Die Atome in der 



im Sinne von Idealität. 27 

alten Philosophie und modernen Wissenschaft der Natur, 
sowie die Lehre von der Metamorphose und Erhaltung 
der Kraft in der letzteren bezeugen diess. Endlich die 
unbedingten und nothwendigen Wahrheiten , die den 
höchsten Grad der Wahrheit im Sinne von WirkHchkeit 
oder Sein darstellen und allem Uebrigen gleichsam das feste 
Fundament bilden, sind die Grundgesetze des Denkens 
wie des Seins, ist die ewige, unbedingte Möglichkeit und 
ThatsächHchkeit, aber auch die ewige rationale Rechtheit, 
Rationalität des Seins und Denkens. Auch die Zweck- 
mässigkeit, die teleologische, innere Ordnung oder Organi- 
sation der Naturdinge, ist eine Art der Wahrheit, und sie 
bildet gewissermassen den Uebergang von der Wahrheit als 
Sein zur Wahrheit im Sinne von Vollkommensein; d. h. 
von Vollkommenheit des Dinges in seiner Art, der Idee dieser 
Art gemäss und damit auch der allgemeinen Idee des 
Vollkommenseins mehr oder minder entsprechend. — Was 
die Wahrheit im Sinne von Ideegemässheit betrifft , deren 
Gegensatz das Unvollkommensein ist, wie zur Wahrheit 
als Wirklichkeit das Nichtsein den Gegensatz bildet, — 
so ist sie thatsächUch im praktischen Leben wie in der 
Wissenschaft, insbesondere in der Philosophie allenthalben 
geltend gemacht. Aber dennoch ist sie theoretisch in der 
Wissenschaft, selbst in der Philosophie, obwohl ganze philoso- 
phische Disciplinen, die von Recht, von Sittlichkeit, vom 
Schönen und Guten handeln , darauf gegründet sind, — 
selten ausdrückUch anerkannt und mit Klarheit und Be- 
stimmtheit von der Wahrheit als blosse ThatsächHchkeit 
unterschieden. Gibt es doch philosophische Systeme, nach 
welchen das Wirkliche als solches schon als das Vernünf- 
tige bezeichnet wird , und andere , in welchen diess zwar 
nicht ausdrückUch angenommen, doch als ihre Consequenz 
unvermeidhch ist. Wo immer von wahr und unwahr, 
von Recht und Unrecht, von schön und unschön, gut und 
böse, von Seinsollen und Nichtseinsollen die Rede ist, da 



28 II. Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit 

liegt dem Denken und der Rede diese Unterscheidung 
von zwei verschiedenen Wahrheiten (im objectiven Sinne) 
zu Grunde. Und wo immer in der Natur eine organische 
Entwicklung stattfindet, da wird ein immanentes Ziel ver- 
folgt und insofern eine Idee zu realisiren gestrebt d. h. 
das Wesen der Art oder Gattung in entsprechender Weise 
zu realisiren gesucht. Das Menschendasein vollends ist 
durchaus auf den Unterschied von Idee und Wirklichkeit 
in seinem höheren Streben, in seinem Thun und Leiden, 
Glück und Unglück gegründet. Ueberhaupt, die ganze 
Bedeutung des menschlichen Daseins beruht auf diesem 
Unterschiede resp. auf der Thatsache, dass ausser der 
Wirklichkeit auch Vollkommenheit, Idealität möglich und 
thatsächlich ist. Wo ideale (objective) Wahrheit ist, da 
ist normales Verhältniss, Gesundheit, Schönheit, Glück, 
Friede, Einsicht, sittliches Streben, Tugend, Vollkommen- 
heit oder Ringen darnach ; wo ünvollkommenheit ist, da ist 
Mangel an Entwicklung, Krankheit, Verkrüppelung, Un- 
ruhe, Vernunftlosigkeit, Unwissenheit, Sittenlosigkeit u. 
s. w., da ist wohl Wirkhchkeit, aber nicht ideale Wahr- 
heit. Auch die Menschengeschichte, die Entwicklung der 
Menschheit und der Völker beruht in ihrer Bedeutung 
durchaus darauf, dass durch sie die Wahrheit im Sinne 
von Ideegemässheit angestrebt und realisirt werde als 
Ziel, und darf eben desshalb nicht blos als viel Lärmen 
um Nichts aufgefasst werden. Die Arbeit der Geschichte 
besteht hiernach darin, Ideen immer mehr zu offenbaren, 
zu erkennen und zu reahsiren. Die Geschichte erscheint 
daher als Process allmählicher ReaHsirung der Ideale der 
Menschheit ; und die Bedeutung und Aufgabe der verschie- 
denen Völker beruht wesentlich darauf, an dieser ReaHsirung 
je nach ihrer eigen thümlichen Artung and Begabung Theil 
zu nehmen. Wo diess noch nicht, oder nicht mehr ge- 
schieht, da haben Volksstämme und Völker noch keine 
Bedeutung erlangt oder sie wieder verloren, und ihre 



im Sinne von Idealität. 29 

Existenz erscheint insoferne als zweck- und bedeutungslos, 
weil ihnen zwar noch Wirklichkeit, aber kein ideales 
Streben mehr eigen ist, wodurch sie sich eine Erfüllung 
und Vollkommenheit zu geben vermöchten. Kann doch 
selbst der einzelne Mensch nicht leben, wenn ihm blos 
noch das Sein, die Existenz geblieben, wenn ihm ge- 
nommen ist, worin er seine Erfüllung oder Vollkommenheit 
fand oder zu finden glaubte und sich dadurch beglückt 
fühlte. Wer das verliert, woran er seine Seele hingegeben 
als sein bestes Gut, wodurch sein Sein eine Vollkommen- 
heit und Beglückung erhielt, der mag auch das Sein 
nicht mehr behaupten und wird dasselbe zu zerstören 
suchen. Mit irgend einem Vollkommensein will und muss 
der Mensch also sein Sein erfüllen, wenn ihm sein Dasein 
beglückt oder doch wenigstens erträglich sein soll. 

Somit haben wir nun ausser der menschlichen Er- 
kenntniss-Wissenscbaft nocli ein zweites Object für die 
philosophische Forschung gefunden, nämlich die Wahr- 
heit im Sinne von Ideegemässheit, — während die übrigen 
Wissenschaften die Wahrheit im Sinne von Wirklichkeit, 
ThatsächHchkeit und Positivität zum Gegenstand der Unter- 
suchung und Darstellung haben. Das ganze Dasein, in 
welches sich die übrigen Wissenschaften als in ihr Forsch- 
ungsobject theilen, ist auch Gegenstand der philosophischen 
Erkenntniss. Aber nicht, um dasselbe zu erkennen daran, 
wie die übrigen Wissenschaften, nur anders (idem aliter), 
etwa durch reines Denken anstatt durch empirisches For- 
schen, oder ex principiis anstatt ex datis. Vielmehr hat die 
Philosophie Anderes (aliud) an denselben Gegenständen der 
verschiedenen Daseinsgebiete zu erkennen, ihre idealen 
Momente, die Ideegemässheit oder Ideeniedrigkeit, also die 
ideale Wahrheit, nicht die blosse Wirklichkeit oder Thatsäch- 
Hchkeit wie die andern Wissenschaften. Diese betrachten es 
als ihre Aufgabe, das in der Natur oder Geschichte Gegebene 
zu erforschen und darzustellen nach Dasein, Beschaffen- 



30 II- I^ie Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit 

heit, Wirken u. s. w., ohne sich um ideale Bedeutung 
oder Wahrheit derselben zu bekümmern. Die Natur- 
wissenschaft insbesondere schliesst die Erklärung aus 
Zweckursachen (causae finales) aus, will nur aus sog. 
wirkenden Ursachen (causae efficientes) erklären und das con- 
stante, gesetzliche Geschehen erforschen. Von ihrem Stand- 
punkt aus mit Recht, wenn sienicht darauf Anspruch macht, 
eine ganze WeltaufFassung auf diesem Wege zu gewännen 
und jede ideale Anschauung auszuschliessen. — Der Ge- 
schichtsforscher will nur die historischen Thatsachen in 
ihrem Zusammenhang, deren Ursachen und Wirkungen 
genau erkennen, so wie sie stattgefunden ; der weitere 
Werth, die ideale Bedeutung kümmert ihn als Historiker 
nicht, denn für ihn als solchen ist Lüge, Trug, Falschheit, 
Fälschung u. s. w. so gut eine historische Wahrheit, wenn 
all diess stattgefunden hat, wie das Gegentheil davon. 
Die positive Rechtswissenschaft als solche stellt nur dar 
und erklärt, was als Recht festgestellt und gültig ist, ohne 
das eigentlich Rechtswidrige, das etwa als Recht in Geltung 
gesetzt ist, in Frage zu stellen oder ändern zu können, — 
denn diess ist seine Aufgabe nicht als ,, positiver" Rechts- 
lehrer. EndUch auch die sog. ,, positive" Theologie hat 
nur das als Wahrheit in Glaubenssätzen Festgestellte zum 
Gegenstand ihrer Darstellung, Erklärung und allenfall- 
sigen Begründung, nicht aber hat sie darnach zu fragen, 
ob das, was als Wahrheit festgestellt ist, auch wirkUch 
Wahrheit sei, nicht etwa ganz oder theilweise auf Irr- 
thum, Täuschung, Wahn u. s. w. beruhe. Sie sucht 
nicht die Wahrheit (hier die ideale), denn sie hat die- 
selbe schon oder glaubt sie zu haben, sie verhält sich 
nicht kritisch, legt nicht den Massstab der Vernunft, des 
idealen Sinnes an, sondern bleibt einfach bei dem Gegebenen, 
Positiven stehen und unterdrückt kritische Bedenken, 
die etwa aus der rationalen und idealen Natur des Geistes 
aufsteigen möchten. Anders die Philosophie: Sie strebt 



im Sinne von Idealität. 31 

einzig nach Erkenntniss der Wahrheit und steht in keinem 
andern Dienst; sie prüft alles Festgestellte, ,, Positive", 
das als Recht, Sittengesetz und Glaubenswahrheit (Dogma) 
geltend gemacht wird, immer wieder darauf, ob es auch wirk- 
lich Recht und Gesetz sei, d. h. der Idee des Rechtes 
und der Sittlichkeit entspreche, ob die sog. höhere Wahr- 
heit der Glaubenssysteme auch wirkhch Wahrheit sei und 
nicht vielmehr der Vernunft und der erkannten natürlichen 
Wahrheit widerspreche. Und zwar nimmtsie das Recht dieser 
Prüfung jeder Religion gegenüber in Anspruch, auch in Bezug 
auf die zur Zeit geltende, ob sie Wahrheit lehre, nicht etwa 
Irrthum, wie es schon bei so vielen Glaubenssystemen und 
durch so viele Jahrhunderte hindurch allenthalben der 
Fall war, — wie fast jede Religion dergleichen selbst 
andern Religionen gegenüber zum Vorwurf macht. Die 
Philosophie ist insofern eine unbedingte und freie Wissen- 
schaft (wie Naturforschung und Geschichtswissenschaft 
es auch sein müssen) gegenüber den ,, positiven" Wissen- 
schaften, die im Dienste herrschender Mächte stehen und 
für Recht und Wahrheit das erklären müssen, was ihnen 
befohlen ist; deren Werth und Geltung also auch von 
dem Werthe und der Richtigkeit der Auctorität bedingt 
ist, von der sie abhängen. So hat z. B. die Glaubens- 
wahrheit ihr Fundament nur am Glauben, daher ist auch 
die entsprechende Wissenschaft des Glaubens, die positive 
Theologie nur so lange gültig, als der Glaube gilt, und 
nur für den, der gläubig ist. Wo der Glaube aufhört, sinkt 
mit ihm auch das ganze System des sog. Wissens dahin. 
Die Philosophie ist demnach das unbedingte, freie Forschen 
xai' l^o)(7Jv ; und zwar das freie Forschen nach der idealen 
Wahrheit, wie die andern unbedingten Wissenschaften, 
d. h, jene, welche nur die Wahrheit zum Ziele haben, 
und in keinem anderen Dienste stehen, (die reale 
Wahrheit d. h. die Wahrheit im Sinne von Wirklichkeit 
und in den höheren Stufen von Rationalität) solch' 



32 II- Die Philosophie als Wissenschaft von der Wahrheit 

unbedingtes freies Forschen sind und sein müssen. Ein 
System von festen, unantastbaren Sätzen aufzustellen, die 
nicht mehr angerührt, nicht mehr bezweifelt, in Frage 
gestellt und neu geprüft werden dürfen, — ein solches 
System aufzustellen, ist nicht die Aufgabe der Philosophie, 
denn sie hat keine Dogmen , keine unumstüsslichen 
Glaubenssätze zu geben , wie etwa rehgiöse Glaubens- 
Auctoritäten. Mitten im Verlaufe der geschichtlichen Ent- 
wicklung der Menschheit kann kein fertiges System von 
solchen Sätzen aufgestellt werden, als wäre man schon 
am Ziele. Die ideale Wahrheit liegt nicht als fix und 
fertig vor, so dass sie nur ergriffen und erkannt zu 
werden brauchte; die Ideen treten rmr allmählich in die 
Offenbarung durch die Geistesarbeit der Menschheit, und 
können nur allmählich richtig erkannt und gewürdigt 
werden. Ihre Offenbarung, wie die Erkenntniss derselben 
muss demnach immer fortzuschreiten suchen. Wenn daher 
den Philosophen zum Vorwurf gemacht wird, dass sie 
,, immer forschen und doch nie zur Erkenntniss der Wahr- 
heit gelangen", so zeigt solche Rede eben nichts Anderes, 
als dass kein Verständniss der Sache vorhanden ist. Die 
Philosophie kommt im Laufe der geistigen Entwicklung 
der Menschheit durch keinen ihrer Vertreter und durch 
keines ihrer Systeme in den vollen Besitz der idealen Wahrheit 
— der Natur der Sache gemäss ; aber wo immer ernstes, auf- 
richtiges Streben nach dieser Wahrheit ist, da ist so zu 
sagen lebendige Wahrheit, die Wahrheit, des nach Wahr- 
heit selbstlos ringenden Geistes der Menschheit. Und 
diess gehört selbst zu dem Idealsten, was die Menschheit 
bieten kann. Ein Geist, der die volle Wahrheit besässe 
ohne aufrichtiges Streben nach Wahrheit, wäre doch 
ohne Wahrheit, weil ohne Leben der Wahrheit ; diese wäre 
nur todt und werthlos in ihm. — Auch das Verlangen 
lässt sich nicht an die Philosophie stellen, dass sie all- 
mählich feste, unumstössliche, in exacte Formeln zu fas- 



im Sinne von Idealität. 



33 



sende Sätze oder Wahrheiten gewinnen sollen, wie die 
Mathematik und Mechanik. Diese haben es nur mit den 
äusserlichen Formen und so zu sagen dem festen 
Gerüste des räumlich -zeitlichen Daseins und Geschehens 
zu thun, nicht mit den wirkenden Kräften selbst, und 
noch weniger mit den Zielen alles Geschehens und Strebens. 
Ziele (Ideen), die erst errungen, zur Offenbarung gebracht, 
dem Bevvusstsein aufgeschlossen werden müssen, also nicht 
wie ein beharrUches, constant bleibendes Sein oder gleich- 
förmig sich wiederholendes Geschehen sich darstellen, das 
sich in constante Formeln fassen Hesse. 

Auf diese Weise ist sonach in der idealen Wahrheit 
der Philosophie neben den andern Wissenschaften noch 
ein Gebiet der Forschung gesichert und damit eine Auf- 
gabe gestellt, aus welcher sie ihre Berechtigung schöpft 
und ihren Fortbestand sichert. Daher wird es wohl 
dabei bleiben, dass alle jene Wissenschaften, die bisher 
für Philosophie galten , wie : Ethik , Rechtsphilosophie, 
Aesthetik und Religionsphilosophie, auch fernerhin als 
philosophische Disciplinen betrachtet werden und ihre Aus- 
bildung finden als Wissenschaften, welche die ideale tVahr- 
heit in den betreffenden Gebieten zum Inhalt und zum 
Gegenstand der Erforschung haben. Der Erkenntniss- 
wissenschaft bleibt dabei ihr Rang als philosophische 
Wissenschaft immerhin gewahrt und sie hat nur, mag sie 
sich auch noch so ernsthaft als Wissenschaftslehre con- 
stituiren, den Anspruch aufzugeben, fernerhin nur allein 
noch als Philosophie behauptet zu werden. 



Frohschammer, Die Philosophie. 



B4 ni. Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip. 



III. 

Die Philosophie als Welterklärung aus Einem 

Grrundprincip. 

Einheit der philosophischen Wissenschaft. 

Wir machen also zwei, wie es scheint, sehr ver- 
schiedene Arten von Wissenschaft zugleich als Philosophie 
geltend, Wissenschaften, die in Bezug auf ihren Inhalt 
kaum etwas miteinander gemein zu haben, und nicht 
unter Einen Begriff, den der Philosophie, sich bringen 
zu lassen scheinen, ausser insofern als sie beide ein ge- 
wisses historisches Recht auf diese Bezeichnung haben. 
Es kommt aber dazu noch eine dritte Auffassung der 
Philosophie, die ihrerseits wiederum mit keiner der beiden 
vorigen sich in Einklang bringen zu lassen scheint, um 
einen einheitlichen Begriff der Philosophie aus allen zu 
gewinnen. Wir haben auch diese Auffassung kurz zu 
betrachten, ehe wir den Versuch machen, zu zeigen, wie 
gleichwohl aus allen ein einheitHcher Begriff sich ge- 
winnen lässt, oder alle unter Einen Gattungsbegriff gebracht 
werden können. 

Bekanntlich begann die abendländische Philosophie 
damit, den Versuch zu machen, die Welt, die Wohlord- 
nung des Daseins (Kosmos) mit den einzelnen Gestal- 
tungen aus einem Grundprincip (ap/Tj) abzuleiten oder 
daraus zu erklären. Aristoteles betrachtet den Tliales 
von Milet dess wegen als den ersten Philosophen, weil er 
der Erste ist, der dies versucht hat, wenn auch allerdings 
sein Princip, das Wasser, ein sehr äusserliches war und 
auch die Motivirung der Annahme desselben als solches 
nur eine äusserliche und in sofern e oberflächliche sein 
mochte. Von da an ward der Versuch fortwährend er- 
neuert, und das Grundprincip in mannichfachen Modi- 



Einheit der philosophischen Wissenschaft. 35 

fikationen aufgefasst, wie schon oben erwähnt wurde. 
Wenn auch im geschichtlichen Verlaufe der Philosophie 
immer wieder Momente skeptischer und kritischer Be- 
sinnung kamen, ob denn auch die Kraft und Mög- 
lichkeit in der Menschheit gegeben sei, eine solche Auf- 
gabe zu lösen, und damit das Erkenntnissproblem wieder 
in den Vordergrund für die philosophischen Anstreng- 
ungen trat, stets kam man doch zur Erklärung der 
Welterscheinungen im Sein und Denken aus Einem Grund- 
princip zurück. Die Philosophie des griechischen Alter- 
thums, wie die der neueren Zeit von Cartesius an bezeugt 
diess zur Genüge. 

Es mag allerdings hiernach als noch unmöglicher 
erscheinen, eine nach Aufgabe und Wesen einheitliche 
Philosophie zu behaupten oder auszubilden, wenn nun 
nicht blos zwei , sondern sogar drei , wie es scheint ganz 
verschiedene Aufgaben und Begriffe der Philosophie dabei 
zur Einheit gebracht werden sollen. Versuche dazu 
wurden allerdings in verschiedener Weise gemacht und 
mit Entschiedenheit durchgeführt: entweder wurde die 
Wahrheit im Sinne von Ideegemässheit und im Sinne von 
Wirklichkeit nicht von einander unterschieden wie z. B. 
bei Spinoza, bei welchem zwar die Modi zwei Reihen 
bilden, des Denkens und der Ausdehnung, aber die Ideen 
nur die geistigen Bilder oder Gedanken sind gegenüber den 
Sachen — von Vollkommenheit oder ünvoUkommenheit aber 
keine Rede sein kann. Bei Fichte ist die Einheit dadurch 
hergestellt, dass seine Philosophie als Wissenschaftslehre 
zugleich Construction der Gedanken und Dinge sein soll, 
und bei Hegel ist das empirische Dasein zwar das An- 
derssein der Idee, aber doch wird dieses als Entfaltung 
oder Realisirung der logischen Idee aufgefasst, also als 
rationales Geschehen, in welchem das Wirkliche und Ver- 
nünftige als identisch erscheinen. Bei Schopenhauer 
entspricht allerdings der angenommenen Blindheit des 

3* 



36 III- I^ie Philosophie als VVelterklärung aus Einem Grundprincip. 

Grundprincips die behauptete Unvernunft des ganzen 
Daseins ganz wohl, aber es ist nicht abzusehen, wie 
gleichwohl eine Vernunft entstehen konnte, die in ver- 
nünftiger Erkenntniss eben die Unvernunft des Willens 
und des Daseins zu behaupten vermag; und noch weniger 
ist begreiflich, wie ideale Gefühle und ein ästhetischer 
Daseinsgenuss dabei möglich sein soll! Wir haben indess 
hier auf diese geschichtlich gewordenen philosophischen 
Weltauffassungen nicht näher einzugehen, sondern wollen 
nur in Kürze zu zeigen versuchen, wie gerade das Grund- 
princip, das nach unserer Auffassung das richtige ist, 
die Phantasie, am meisten geeignet erscheint, die ge- 
nannten drei verschiedenen Auffassungen der Philosophie 
in Eine zu verbinden und ein einheitliches System dar- 
nach durchzuführen. Zu diesem Behufe aber wird es 
entsprechend sein , zuvor einen Blick auf dieses Princip 
und dessen Begründung und Bethätigung zu werfen. 
Dem Materialisnms gegenüber erweist sich die Noth wen- 
digkeit, ein besonderes Gestaltungsprincip in den orga- 
nischen Bildungen und lebendigen Wesen anzunehmen, 
da aus der blossen ,,Zusammenwürfelung" der ent- 
sprechenden Elementar-Stoffe mit ihren blos chemischen 
und physikalischen Kräften, welche dieselben im Gebiete des 
Unorganischen bethätigen, organische Bildungen oder le- 
bendige Wesen nicht entstehen. ^) Die moderne Natur- 
wissenschaft hat nachgewiesen, dass allenthalben, wo mau 
in früherer Zeit eine Entstehung von organischen Ge- 
bilden, Pflanzen oder Thieren aus blossen Elementar- 
stoffen, ohne Samen oder Theile schon vorhandener Or- 
ganismen, also eine generatio spontanea annahm, diess 

^) S. m. W. Die Phan t asie als G run d princip des Welt- 
processes. 1877 S. 168 flf. Ferner: Das Christenthuni und 
die moderne Naturwissenschaft. 1868 S. 54 ff. Das neue 
Wissen und der neue Glaube. 1873 S. 39 ff. Ueber die 
Aufgabe der Naturphilosophie und ihr Verhältniss zur 
Naturwissenschaft. 1861. S. 176 ff. 



Einheit der philosophischen Wissenschaft. 37 

auf Täuschung beruhte, dass niemals solche Gebilde neu 
entstehen, wenn nicht Samen oder Theile schon vorhan- 
dener Organismen dazu verwendet werden. Und wie 
durch Beobachtung der Naturvorgänge selbst keine 
generatio aequivoca entdeckt ist , vielmehr die Annahme 
einer solchen als irrthümlich nachgewiesen werden konnte, 
so ist es auch bisher noch niemals gelungen auf experi- 
mentellem Wege wirkliche Organismen (wenn auch allen- 
falls organische Stoffverbindungen) herzustellen. Es ist 
also auch auf dem Standpunkt der Naturforschung zu- 
lässig, ja nothwendig, zur Erklärung der Entstehung und 
Erhaltung der Organismen ein eigenthümliches Gestal- 
tungsprincip anzunehmen. Die teleologische Gestaltung 
der Organisation ist aber auch geeignet, die Thatsäch- 
lichkeit eines solchen Princips zu zeigen. Das Ineinander- 
greifen der verschiedensten Theile zu einem harmonischen 
Ganzen, wo alle sich gegenseitig halten und tragen und 
zusammen das kunstvolle Ganze constituiren, offenbart diess. 
Und wenn man selbst annehmen wollte, dass diese teleo- 
logische Gestaltung nur ein zufälliges Produkt der in 
unendlichen Zeiträumen sich bethätigenden wirkenden Ur- 
sachen sei, also Zweckmässigkeit nur als Produkt, nicht als 
Princip geltend gemacht werden könne, so würde dem 
doch die E m p f i n d u n g s f ä h i g k e i t widerstehen, da diese 
aus mechanischem Geschehen durchaus unerklärlich 
bleibt. Die Empfindungsfähigkeit vor Allem ist ein 
entscheidender Beweis für die Thatsächlichkeit eines 
teleologisch- und insoferne auch ideal-wirkenden Princips 
in der Natur, — abgesehen selbst von allem Andern, 
was dafür Zeugniss gibt. ^) Dieses in den organischen 



^) Insofern muss selbst der Pessimismus Zeugniss geben gegen 
die materialistische oder rein mechanistische Weltauflfassung, da der- 
selbe durch die Empfindungsfähigkeit der lebendigen AVesen und 
insbesondere des Menschen bedingt, also selbst nur durch das ideale 
Moment des Daseins möglich ist. 



38 III. Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip. 

Individuen wirkende Gestaltungsprincip ist aber durch die 
Generationspotenz (und den Gegensatz der Geschlechter) 
zugleich Princip der Art und der Gattung. Und da der 
Descendenzlehre zufolge die Arten in ihrer Vielheit und 
Mannichfaltigkeit sich aus ursprünglich einfachen Orga- 
nismen in Anpassung an die Naturverhältnisse und zu- 
gleich in Folge eines immanenten gesetzlich wirkenden Bil- 
dungstriebes entwickelt haben, so kann man ein einheit- 
liches, allgemein objectiv und real wirkendes Bildungs- 
princip annehmen, das sich in den organischen und 
lebendigen Naturwesen entwickelt, besondert und als Ge- 
nerationsmacht die unendlich reichen Arten und Indivi- 
duen producirt. 

Dieser Annahme gegenüber wurde von den Materia- 
hsten immer wieder die Frage erhoben, was denn aber 
dieses Bildungsprincip oder Lebensprincip eigentUch sei, 
als was man sich denn dasselbe vorzustellen, wie seine 
Wirksamkeit zu denken habe! Es sei unbestimmbar, 
unfassbar, ein unbekanntes X, dessen Annahme nichts 
erkläre. Dem gegenüber ist aber zunächst zu bemerken, 
dass, wenn es auch ganz unmöglich wäre, zu bestimmen, 
was dieses Princip dem Wesen nach sei, dennoch die 
Annahme desselben nicht unberechtigt wäre, da auch 
sonst, selbst in der Naturwissenschaft, für gegebene Wir- 
kungen wenigstens als Hypothese Ursachen angenommen 
werden, wie sie eben geeignet erscheinen für die vor- 
handenen Wirkungen , ohne dass man das Wesen davon 
genau bestimmen kann. Für electrische Wirkungen z. B. 
wird eine electrische Kraft als Ursache angenommen, ohne 
dass bestimmt zu werden vermag, was diese Kraft dem 
Wesen nach sei ; für chemische Wirkungen ebenso chemische 
Kraft und für die Lichterscheinungen der Aether, ohne 
dass dessen Wesen im mindesten bekannt ist. So könnte 
auch ein Lebensprincip für die Lebenserscheinungen an- 
genommen werden, wenn man auch ganz ausser Stande 



Einheit der philosophischen Wissenschaft. 39 

wäre, näher zu sagen, was dieses Princip sei und wie es 
wirke. Moderne Naturforscher nehmen in Atomen jetzt 
auch Empfindungsfähigkeit an, um das psychische Leben 
zu erklären , ohne bestimmen zu können, worin diese 
Empfindungsfähigkeit bestehe. ^) 

Indess steht es mit dem Lehensprincip nicht einmal 
so schlimm. Wir können uns durch Analogie Wesen 
und Wirkens weise dieses ßildungsprincips wohl vorstellig 
machen, unserm Verständniss näher bringen. Dasselbe 
wirkt Gestalten- oder Form -bildend, also plastisch, und wirkt 
teleologisch d. h. innerlich wie äusserlich organisirend, 
indem die verschiedenen Theile so geordnet werden, dass 
sie gegenseitig sich halten und tragen und harmonisch 
ineinander greifend das Ganze bilden und erhalten. 
Ausserdem wirkt dieses Princip mit einer gewissen Frei- 
heit, nicht blos spröd mechanisch, indem es den Ver- 
hältnissen sich in seinem Wirken anpassen und dadurch 
im Organismus Modifikationen bewerkstelligen kann. 
Endlich auch ideal oder idealisirend wirkt dieses Princip, 
wie diess bei jeder Entwicklung, bei jeder Plan- und Idee- 
Reahsirung der Fall ist. — Blicken wir nun in das uns 
bekannteste Gebiet (wenigstens den Thatsachen oder Er- 
scheinungen nach bekannteste), in das eigene Seelenleben 
mit seinen Thätigkeiten und Vermögen , so finden wir da 
eine bildende Potenz, welche formal für den Inhalt des 
Bewusstseins in ganz ähnlicher Weise wirkt, wie das Bil- 
dungsprincip in der Natur real bei Bildung der pflanzlichen 
und thierischen Organismen wirksam ist, plastisch nemlich 
und teleologisch; ebenso mit einer gewissen Willkür und 
einem Triebe zum Idealisiren. Es ist diess jenes Seelenver- 
mögen, das wirals Phantasie bezeichnen (Einbildungskraft, 
Vorstellungsvermögen, psychisches Productions vermögen, 



^) S. d. V. Sehr. Monaden und Weltphantasie. 1879. 
S. 166 flf. 



40 III- Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip. 

Gestaltungs- und Aeusserungskraft für den Inhalt des Be- 
wusstseins.) Durch diese Phantasie, deren Thätigkeits- 
weise uns bekannt ist, da wir sie selber besitzen und 
üben, können wir uns die bildenden Potenzen in den 
Organismen, sowie das allgemeine Bildungsprincip in der 
Natur am meisten verdeutlichen und verständlich machen. 
Wir haben daher dieses allgemeine Bildungsprincip, das 
als Generationsmacht in den Arten oder Gattungen fort- 
zeugend wirkt und in den einzelnen organischen Indivi- 
duen Ausgestaltung, Wachsthum, Erhaltung und Fort- 
bildung hervorbringt — als objective Phantasie be- 
zeichnen zu können geglaubt, um schon durch die Be- 
zeichnung Art und Thätigkeits weise anzudeuten und 
einigermassen verständlich zu machen. Objective 
Phantasie im Unterschiede von der subjectiven, und weil 
sie im Gegenständlichen in den realen Objekten, also 
objectiv wirkt. 

Im Ansclduss an die bereits sicher gestellte Lehre 
von der allmählichen Entwicklung der organischen und 
thierischen Bildungen der Erde zu den unendlich vielen 
Arten, und zu der allmählichen Verinnerlichung und Ver- 
geistigung dieser letzteren, — den Entwicklungsprocess des 
allgemeinen Bildüngsprincips oder der objectiven Phantasie 
näher betrachtend, zeigte sich uns zuletzt die Genesis der 
Seele selbst und mit dieser die subjective Phantasie als 
Produkt oder Errungenschaft dieses unendlichen Ent- 
wicklungsprocesses. Und nun erkennen wir nicht mehr 
blos ein Verhältniss der Analogie zwischen subjectiver 
Phantasie und objectiver, real wirkender Gestaltungs-Kraft 
oder objectiver Phantasie, sondern viehnehr ein Causal- 
verhältniss oder identisches Wesen von beiden, insofern 
die subjective Phantasie aus der objectiv und real wir- 
kenden Phantasie abstammt, im unendlichen Entwick- 
lungsprocess der Natur von dieser selbst in immer tieferer 
Verinnerlichung uud Vergeistigung gebildet wurde. Es 



Einheit der philosophischen Wissenschaft. 41 

erhob sicli zuletzt aus dieser objectiv (real) wirkenden 
Phantasie in den höchsten lebendigen Wesen die sub- 
jective, individuell und frei wirkende, nicht mehr an die 
Naturgesetze unbedingt gebundene Phantasie; — aller- 
dings nur als formale Bildungs-Macht der Seele , durch 
welche nun ein geistiges Leben über dem physischen und 
physisch-psychischen Naturleben beginnen konnte.^) So 
wirkt Ein Grundprincip des Weltprocesses, aus dem die or- 
ganischen und lebendigen Naturwesen und als höchstes Ziel 
die Menschheit hervorging oder producirt wurde. Dieses 
Grundprincip erhält in der Bildung der subjectiven Phan- 
tasie seine Freiheit und eine bis zu einem gewissen Grade 
selbstständige Wirkensmacht, wodurch sie nun den psy- 
chischen Organismus mit seinen geistigen Kräften aus- 
bildet, indem sie die objectiv und real wirkenden Kräfte 
und Gesetze in einem bewussten Subjecte individualisirt 
und die objectiv- reale Vernunft zur subjectiven zu machen 
strebt durch die subjective Erkenntnisskraft. Wie die 
objective Phantasie Stoffe und Kräfte zur Organisation 
verwendet und zur Verinnerlichung und immer höher 
steigenden Selbstständigkeit des individuellen Organisations- 
principes, so verwendet nun die freie, subjective Phantasie 
die Erscheinungen und deren Gesetze und Bedeutung zur 
allmählichen Bildung des psychischen Organismus d. h. 
des individuellen, persönlichen Menschengeistes und seiner 
geschichtlichen Entwicklung. ^) 

Wird nun in dieser Weise die Phantasie als Grund- 
princip des Weltprocesses geltend gemacht, als Princip 
des Werdens und zugleich der Erkenntniss dieses Wer- 
dens, also als Princip des Geschehens und des Erkennens, 

^) S. Die Phantasie als Grundprincip des Weltpro- 
cesses und: Monaden und Welt phant asie. 

^ S. d. gen. W. und: Ueber die Genesis der Mensch- 
heit und deren geistige Entwicklung etc. 1883. 



42 III- Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip. 

oder als allgemeines p]ntwicklungsprincip im sinnlich-realen 
und geistigen Gebiete, dann lässt sich die Philosophie als 
Wissenschaft von der Wahrheit im Sinne von Ideegemäss- 
heit ganz wohl vereinbaren mit der Philosophie als Wissen- 
schaft oder Erklärung der Welt und ihrer Erscheiiuingen 
und Entwicklungen aus Einem Grundprincip. Dieses 
Grundprincip ist ja dem Wesen nach auf Gestaltung, 
Idee-Realisirung und insofern auf Verwirklichung der 
Vollkommenheit oder Ideegemässheit gerichtet, wenn auch 
allerdings auch die Wahrheit im Sinne von Wirklichkeit 
von demselben im allgemeinen Weltprocesse reaUsirt wird. 
Diese Art Wahrheit ist nicht das Bedeutsame, das eigent- 
liche Ziel des Weltprocesses , weder im Einzelnen noch 
im Ganzen, sondern ist eben nur das Mittel das eigent- 
lich Bedeutende, das den Sinn und Werth des Daseins 
Bildende anzustreben und mehr oder minder zu erreichen. 
Die genannten zwei Aufgaben der Philosophie: die ideale 
Wahrheit zu erforschen und die Welt mit ihren Bildungen 
aus Einem Grundprincip zu erklären, lassen sich also 
bei unserem Grundprincip wohl vereinigen und eine eiu- 
heitUche Philosophie dadurch herstellen. Und wie dieses 
Grundprincip ideale Wahrheit realisirt, so ist es zugleich Er- 
kenntnissprincip derselben, denn die Phantasie ist ja ihrer 
Natur nach geeignet für Ideen das Offen baruugsorgan 
zu sein, — wie sich diess auch in der Kunstschöpfung, 
soweit eine ideale Richtung verfolgt wird, unschwer zeigt, 
und allgemein anerkannt ist. 

Schwieriiier erscheint es, die Wissenschaftslehre eben- 
falls als gleichartige Philosophie mit diesen beiden in 
Harmonie zu bringen und auch sie als Glied in den Or- 
ganismus der Philosophie als einheithche Idealwissenschaft 
aufzunehmen. Indess auch diess ist nicht als unmöglich 
zu betrachten. Dass die Phantasie als Grundprincip des 
Weltprocesses auch die bewegende Kraft des Erkennens 
sei, als Erkenntuissprincip (entwickelt zu Verstand und 



Einheit der philosophischen Wissenschaft. 43 

Vernunft)^) sich bethätige, ward so eben erwähnt, und 
insofern gehört das Erkennen und Wissen eben auch mit 
in den Weltprocess. Ausserdem sind ja die Grundgesetze 
des Seins wie des Erkennens das logische Fundament 
aller Wissenschaft, der philosophischen, wie der nicht- 
philosophischen, und in dieser Beziehung ist die Einheit 
selbstverständlich. Aber auch mit der Philosophie, inso- 
ferne sie Erkenn tniss der idealen Wahrheit ist, lässt sich 
die Erkenntnisswissenschaft als gleichartiger Zweig in 
Einheit setzen. Die Wahrheit selbst ist nicht blos die 
zufällige Uebereinstimmung des Denkens mit dem Ge- 
dachten, ist nicht blos diese formale Harmonie in jedem 
einzelnen Falle der Erkenntniss, sondern sie ist ein All- 
gemeines, gewissermassen an sich Seiendes, ist selbst eine 
Idee, ähnUch wie etwa die Idee der Schönheit. Wie diese im 
einzelnen Schönen, wie verschieden es sonst sei, realisirt er- 
scheint, im Menschengeiste aber als Einheit, als einheitliche 
Anlage, sich bethätigt in der Empfänglichkeit für das Schöne 
und im Bewusstsein von demselben, — so ist es mit der 
Wahrheit. Sie wird ebenfalls in den Acten der wahren Er- 
kenntniss realisirt, ist aber auch als einheitliche Idee im 
Menschengeiste grundgelegt. Die Erkenntnisswissenschaft 
ist also die Wissenschaft von der Realisirung der Idee 
der Wahrheit oder der Wahrheit als Idee, in ähnlicher 
Weise, wie die Aesthetik als Wissenschaft von der Rea- 
lisirung der Idee des Schönen, oder die philosophische 
Ethik als Wissenschaft von der Idee des Guten zu be- 
trachten ist. Demnach ist die Wissenschaftslehre als 
Wissenschaft von der Reahsirung der Wahrheit als Idee 
auch eine Wissenschaft von der Wahrheit nicht blos im 
Sinne von WirkUchkeit, sondern auch im Sinne von Idee- 
gemässheit, und ist also eine philosophische Wissenschaft. 



^) Vgl. Phantasie als Grundprincip d. W. S. 479 ff. 
Monaden und Welt phantasie. S. 67 ff. 



44 III- Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip. 

Dass aber die Wahrheit auch eine Idee ist, dass man 
von Wahrheit als Idee sprechen kann, bezeugt eben die 
Thatsache der menschhchen Erkenntnisskraft mit ihren 
Gesetzen, sowie der Erkenntnissdrang mit seinen Zielen. 
Die Wahrheit als Idee wohnt dem Menschengeiste in dieser 
Form inne und ist objectiv selbst als ewige Idee zu be- 
trachten, da ohne diess eine Erkenntnisskraft und Norm 
nicht bestehen würde. Durch diese dem Geiste imma- 
nente Idee geschieht es, dass derselbe zunächst Wahr- 
heitsgefühl bekundet, dass er zuerst fühlt und dann 
mit Bewusstsein erkennt, dass Wahrheit sei für den 
Geist, und ist es ermögHcht, dass er dieselbe zu realisiren, 
d. h. sich selbst zum Ausdruck oder zum Inbegriff der- 
selben zu machen strebt. Er fühlt und weiss dadurch, 
dass das Erkeiuien selbst (abgesehen vom sonstigen Nutzen, 
ja abgesehen auch vom Erkannten) ein Gut sei und eine 
geistige Vollkommenheit, ja eine ReaHsirung der Idee des 
Geistes selbst seiner Erkenntnisspotenz nach, in sich 
schliesst. Denn der Geist, indem er sich allenthalben mit 
den Dingen in Uebereinstimmung setzt, realisirt sich zum 
harmonischen Mikrokosmus und bringt zugleich durch seine 
WahrheitsreaHsirung sich selbst zur Vervollkommnung. 
Der erforschende Geist selbst macht sich, wie oben be- 
merkt, indem er mit Ernst und Aufrichtigkeit diese Wahr- 
heit anstrebt, gewissermassen zur Wahrheit, zur lebendigen 
Wahrheit, und zwar sogar dann noch, wenn er dabei irrt, 
denn solcher Irrthum ist nur durch Wahrheitsstreben 
entstanden, durch Liebe zur Wahrheit. Insofern ist 
Lessing's Wort, dass ihm das Forschen nach Wahrheit 
wünschenswertlier sei als der Besitz der Wahrheit, ein 
wohlberechtigtes, da der Besitz ein todter sein kann ohne 
Verlangen und Streben nach der Wahrheit, sowie ja auch 
der Geist, der Intellect selbst nur durch Streben, For- 
schen befähigt wird für die Wahrheit und sie lebendig 
macht. Durch diese dem Geiste immanente Idee ist auch 



Einheit der philosophischen Wissenschaft. 45 

die Begeisterung zu erklären, welche die Wahrheit zu 
erwecken vermag und die Menschen zu so viel Anstreng- 
ungen und freiwiUigen wie abgenöthigten Opfern veran- 
lasst. Denn die Wahrheit hat, wie die Freiheit, eine ge- 
wisse Zauberin acht über das inenschHche Gemüth und 
erregt es zur Begeisterung. Mit Recht, denn durch Wahr- 
heit d. h. die Uebereinstimmung des Denkens mit dem 
gedachten Objecte realisirt, vollendet sich die intellectuelle 
Seite des menschlichen Geistes, wie durch Freiheit die 
Willenskraft desselben, so dass durch beides die Idee des 
Geistes selbst ihre Erfüllung findet und dadurch zugleich 
das Ziel des ganzen Daseinsprocesses angestrebt wird. 

Darauf beruht auch das unbedingte Recht der Wahr- 
heit und des Strebens nach ihr, von dem Jedermann 
überzeugt ist, das Jedermann in Anspruch nimmt, (für 
sich selbst wenigstens) mag er noch so sehr in Irr- 
thum sein , oder geradezu von Wahn und Trug be- 
herrscht werden. Er nimmt dafür ein Recht in Anspruch, 
weil er meint, dass es Wahrheit sei und er ein Recht habe 
die Wahrheit zu besitzen und zu bekennen. Und ebenso 
unbedingtes Recht hat Jedermann, darnach zu streben, 
also die Erkenntnissorgane zu gebrauchen , den Denk- 
gesetzen zu folgen, um die Wahrheit zu erringen und 
sich selbst und damit die Welt zu einer höheren Voll- 
kommenheit zu bringen in Bezug auf Bewusstsein und 
Einsicht. Diese Wahrheit zu realisiren und geltend zu 
machen, besteht darum für den Geist eine Berechtigung, 
selbst wenn noch so sehr Vorurtheile, Gewohnheiten, 
Lieblingsmeinungen verletzt werden und äusserlich gar kein 
Nutzen erzielt oder sogar Schaden angerichtet wird. Die 
Kraft des Geistes für Realisirung dieser Wahrheit zu hemmen 
oder zu unterdrücken, den Gebrauch der Erkenntniss- 
organe zu hindern, ist ein Freveigegen die höhere Natur des 
Menschen, ein Niederdrücken in den Stand der Thierheit, 
eine V^erletzung der Menschenwürde und Missachtung der 



46 III- Die Philosophie als VVelterklärung aus Einem Grund princip. 

höchsten Gabe und Aufgabe des Daseins. Selbst jene, 
welche bei einer mechanistischen oder materialistischen 
WeltaufFassung alle Ideen, jede ideale Wahrheit leugnen 
müssen, berufen sich für ihre Berechtigung auf das Recht 
der Wahrheit, anerkennen also die Wahrheit als Idee, 
indem sie die Ideen zu leugnen sich für berechtigt halten 
der idealen Weltauffassung gegenüber. Als Idee müssen 
sie die Wahrheit auffassen, indem sie auf deren Berech- 
tigung sich berufen um ihre ideenleugnerische Ansicht 
geltend zu machen; — denn wäre die Wahrheit d. h. die 
Uebereinstimmung des Denkens mit dem Gedachten oder 
dem objectiven Sachverhalt nicht eine Idee, sondern eben 
auch nur ein factisches Verhältniss, wie diess Irrthum, 
Täuschung u. s. w. auch sind, so wäre kein Grund und 
kein Recht da, jene Auffassung als Wahrheit geltend zu 
machen, wenn Wahn, Irrthum u. s. w. angenehmer, 
nützlicher, vortheilhafter wären. Dieselbe kann nur darum 
als vermeintliche Wahrheit Geltung verlangen, weil die 
Wahrheit ein ideales, sein sollendes Verhältniss ist, der 
Idee des Geistes und der Rationalität des Daseins ange- 
messen, Irrthum und Wahn aber ideewidrig, irrational, und 
daher unberechtigt sind, selbst wenn sie äusserlich nützlich 
oder angenehm sein mögen, oder als erstarrte Gewohnheit 
von Alters herstammen und ungern aufgegeben werden. 

Aber auch die Pflicht, nach Wahrheit zu forschen, 
d. h. den denkenden Geist mit den Dingen, den Ver- 
hältnissen, Ereignissen und deren wahrem Werth und 
wirkHcher Bedeutung in Uebereinstimmung zu setzen, — 
beruht auf der Wahrheit als Idee, wie das Recht dazu. 
Wenn überhaupt der Gebrauch der verliehenen Gaben 
und Kräfte, deren Entwicklung und Anwendung zur 
eigenen Vollkommenheit wie zur Beglückung und För- 
derung Anderer eine Pflicht ist für jeden Menschen, 
so muss selbstverständhch auch die intellectuelle Kraft in 
aller Weise Ausbildung linden, schon weil dadurch am 



Einheit der philosophischen Wissenschaft. 47 

meisten die Fähigkeit erlangt wird, die Uebel des Daseins 
zu verhüten und zu mildern ; dann aber auch, weil Un- 
wissenheit, Irrthum und Wahn als zu überwindende Un- 
vollkommenheit, ja Entwürdigung des menschlichen Geistes 
erscheinen. Verletzung, Vernachlässigung der Wahrheits- 
pflicht ist daher eine Verletzung der sittlichen Pflicht 
überhaupt. Die Wahrheit steht demnach auch mit der 
Idee des Guten in inniger Beziehung, so dass auch 
hieraus das ideale Wesen derselben zu erkennen ist. Wenn 
von den Ideen des Wahren, Guten, Schonen u. s. w. die 
Rede ist, wird damit ebenfalls angedeutet, dass Wahrheit 
ebenso wie Güte und Schönheit als Idee aufzufassen sei ; 
denn unter dem ,, Wahren'' ist hier nicht das Inhaltliche des 
Erkenntnissactes gemeint, sondern der Erkenntnissact selbst 
d. h. das harmonische Zusammenschliessen des Denkens 
und des Gedachten zur Erkenntniss der Wahrheit (im objec- 
tiven Sinne) ist darunter zu verstehen, wodurch dieser Act 
eben Wahrheit der Erkenntniss wird d.h. die Idee der Wahr- 
heit realisirt. Das Inhaltliche selbst kann als solches 
nicht ohne Weiteres als Idee des Wahren bezeichnet 
werden, denn dieses kann allenfalls auch Unwahrheit, 
Lüge, Trug u. s. w. sein, die richtige Erkenntniss davon 
ist gleichw^ohl Wahrheit d. h. Realisirung der Idee des 
Wahren oder der Wahrheit im Erkenn tnissacte. 

Wenn die Frage entsteht, was denn aber diese Wahr- 
heit an sich, als Idee eigentlich sei, so lässt sich diess 
allerdings nicht in einer einfachen Formel ausdrücken 
und darstellen. Sie ist an sich gleichsam das Dass der 
Wahrheit, dass es eine solche gibt, dass sie ein ideales 
Gut ist im Dasein; und sie ist das, als was sie sich in 
der Offenbarung, in der Realisirung kund gibt. Sie ist an 
sich ein allgemein waltendes (ideales) Gesetz, in das jeder ver- 
nünftige Geist hineingeboren wird und das hinwiederum mit 
diesem geboren wird als Erkenntnisstrieb und als -Kraft des 
Denkens und Erkennens, wie es bei den logischen Ge- 



48 III. Die Philosophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip. 

setzen des Denkens auch der Fall ist, welche nicht minder 
geheimnissvoll an sich sind und doch das Denken leiten 
und geistige Evidenz, das geistige Licht bewirken. Sie ist 
das, wodurch der Geist angeregt uud befähigt wird, seinen 
Begriff in intellectueller Beziehung (wie durch Wille und 
Idee des Guten in moralischer Beziehung) zu reahsiren, 
und zugleich die Harmonie des Daseins dadurch zu för- 
dern, dass Denken und Sein immer mehr in Ueberein- 
stimmung gesetzt und vereinigt werden, als ein Seinsol- 
lendes, als ein Ziel, für welches der erkenntnissfähige 
Geist da ist, und dem der Weltprocess zustrebt. 

Demnach lässt sich die Erkenntnisswissenschaft 
(als Erkenntnisstheorie, Logik und Methodenlehre der 
wissenschaftlichen Erkenntniss und Forschung) ganz wohl 
in das System der Philosophie einfügen als Zweig der Ideal- 
wissenschaft und GHedder Entwicklung der philosophischen 
Welterklärung aus Einem Princip. Insoferne diese Wissen- 
schaft zeigt und lehrt, wie die Idee der Wahrheit rea- 
lisirt wird, welche Organe dazu dienen, und wie und 
wodurch diese wirken und zuverlässig seien, wie Un- 
wissenheit und Irrthum immer mehr überwunden werden 
können, — ist sie als ideale Wissenschaft zu betrachten 
in ähnlicher Weise und mit ähnlichem Rechte, wie die 
Aesthetik wegen ihres VerhäUnisses zur Idee der Schönheit 
oder die Ethik wegen der Idee des Guten, die ihr zu 
Grunde Hegt. 



IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie etc. 49 

lY. 

Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie als 
Idealwissenschaft und System. 

Ausser der oben erwähnten philosophischen Richtung 
in der Gegenwart, welche die Philosophie darauf beschränkt 
wissen will, nur noch Wissenschaftslehre zu sein, um da- 
durch ihre Berechtigung und ihr Dasein neben den üb- 
rigen Wissenschaften zu retten, besteht noch eine andere 
Auffassung derselben, welche zwar das Betrachten des 
Idealen als philosophische Thätigkeit will gelten lassen, 
aber diese als unwissenschaftUch bezeichnet und nur die 
Erkenntnisswissenschaft als eigentliche wissenschaftliche 
Philosophie anerkennt. Man unterscheidet eine wissen- 
schaftliche und eine nichtwissenschaftliche Philosophie.^) 
Die Begriffe werden hier in der That in eigenthümlicher 
Weise gemischt, verbunden und getrennt, verneint und 
bejaht; Wissenschaft und Philosophie werden , einerseits 
schroff unterschieden und Philosophie der Wissenschaft 
untergeordnet, \dann aber wiederum Philosophie als höherer 
Begriff verwendet, um darunter zwei Arten derselben, die 
wissenschaftliche und nichtwissenschafthche einzuordnen. 
Diess fordert auf, die Sache näher zu prüfen resp. zu unter- 
suchen, worin die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft, 
insbesondereider Naturwissenschaft, als der anerkanntesten 
wissenschaftlichen Leistung, bestehe; dann in wiefern 
Erkenntnisswissenschaft als wirkliche Wissenschaft zu 



^) So z. B. A. Riehl. Ueber wissenschaftliche und nicht- 
wissenschaftliche Philosophie. Eine akademische Antrittsrede. Frei- 
burg i. B. und Tübingen 1883 (Siebeck). 
Prohscliammer , Die Philosophie. 4 



50 IV- I^ie Wissenschaftlichkeit der Philosophie 

betrachten sei, und ebenso : worin das philosophische Er- 
kennen der idealen Wahrheit bestehe, dem man Wissen- 
schaftlichkeit absprechen will. Dabei soll dann das Ver- 
hältniss dieser drei Arten von intellectuellen Bethätigungen 
zu einander in Betracht gezogen werden , um Arten und 
Grade der Wissenschaftlichkeit derselben zu bestimmen. 

Fassen wir zuerst die Naturwissenschaft ins Auge, 
80 pflegt zunächst als ein besonderer Vorzug und als 
Hauptmerkmal ihrer besonderen Wissenschaftlichkeit be- 
tont zu werden, dass sie durchaus Erfahrungswissenschaft 
sei; dass sie mit Erfahrung beginne, all' ihre wissen- 
schaftlichen Annahmen aus Erfahrung gewinne und ohne 
diese und über sie hinaus nichts annehme und behaupte. 
Unter Erfahrung aber ist hier zu verstehen die unmittel- 
bare Wahrnehmung der Erkenntnissobjecte durch die 
Erkenntnissorgane d. h. durch die Sinne und durch das 
deren Thätigkeit controlirende und deren Wahrnehmungen 
verarbeitende Denken. Die Zuverlässigkeit dieser Erkennt- 
nissorgane und die Objectivität oder Realität des durch 
sie Wahrgenommenen und näher Bestimmten pflegt dabei 
ohne weiters vorausgesetzt, oder als selbstverständhch hin- 
genommen zu werden, wie diess auch in der gemeinen 
Empirie im gewöhnlichen Leben geschieht. Zeigt doch 
allenthalben die praktische Verwerthung der gewonnenen 
Forschungsresultate, die Beherrschung und Dienstbar- 
raachung der Naturdinge und -Kräfte für das mensch- 
liche Leben und Wirken, dass man sich auf das durch 
diese Erkenntnissorgane Wahrgenommene und Festge- 
stellte verlassen könne! So kann als hinlänglich consta- 
tirt gelten, dass man sich auch theoretisch auf die durch 
diese Erkenntnissorgane stattfindende wissenschaftliche 
Beobachtung verlassen dürfe. Bei den durch wissen- 
schaftHche Experimente gewonnenen Forschungsresultaten 
ist ohnehin auch gleich die praktische Bürgschaft gegeben. 

Näher betrachtet, hat indess die Naturwissenschaft 



als Idealwissenschaft und System. 51 

auch Stufen der Erforschung der Naturgegen stände und 
-Ereignisse und gewissermassen auch Grade und Arten 
der Wissenschaftlichkeit oder wissenschaftlichen Fest- 
stellung.^) Sie beginnt mit der empirischen Wahrneh- 
mung und äusseren Untersuchung der Naturobjecte, um 
dieselben nur in ihrer Erscheinung kennen zu lernen, 
durch Beschreibung zu fixiren und Andern Mittheilung 
davon zu machen. Es entsteht dadurch der sog. de- 
scriptive Theil der einzelnen Zweige der Naturwissenschaft, 
mit dem sich die Ordnung der einem bestimmten Ge- 
biete angehörigen Naturprodukte nach Verwandtschaft und 
logischer Stufenfolge, also die sog. Klassifikation zu ver- 
binden pflegt. Eine Klassifikation, die in Folge der allge- 
meinen Entwicklungslehre w^enigstens in Bezug auf die 
pflanzlichen und thierischen Naturbildungen nicht mehr 
einen blos logischen , abstracten Charakter hat, sondern 
sich mehr oder minder in eine genetische oder genealo- 
gische zu verwandeln vermochte. Schon damit verbindet 
sich eine durch immer erneute genauere Beobachtung 
erzielte und zu erzielende Berichtigung der überkom- 
menen Begriffe, worin ja eine Hauptaufgabe der Wissen- 
schaft gegenüber der blossen Empirie besteht. Um diess 
zu erreichen, ist selbstverständHch nicht bei der äusseren 
Erscheinung und Beschreibung stehen zu bleiben, sondern 
durch genauere Beobachtung der Theile und Funktionen 
dieser Naturprodukte, durch analytische Untersuchung 
derselben ist auch ihre innere Zusammensetzung zu er- 
forschen und sind die Bedingungen und Arten des Ent- 
stehens, der Erhaltung und des Vergehens zu beobachten 
und zu constatiren. 

Die noch allgemeinere Aufgabe aber, welche sich die 



^) Vgl. d. Verf. Schrift: Ueber die Aufgabe der Natur- 
philosophie und deren Verhältniss zur Naturwissen- 
schaft. Mit Untersuchungen über Teleologie, Materie und Kraft. 
München 1861 (Lentner) S. 6 if. 

4* 



52 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie 

Naturwissenschaft stellt, besteht darin, für gegebene, 
beobachtete Wirkungen die Ursachen zu erforschen, sowie 
umgekehrt, die Wirkungen aus gegebenen Ursachen zu 
erkennen oder geradezu daraus entstehen zu lassen in 
künstlichen Experimenten, durch welche das Beobachtungs- 
gebiet erweitert, das genauere Beobachten selbst erleichtert 
oder die Richtigkeit davon constatirt und gesichert wird. 
Die Induction ist hiebei die wissenschaftHche Verfahrens- 
und Forschungs-Methode, d. h. das Ausgehen vom em- 
pirisch Zugänglichen , vom Einzelnen, von den Erschei- 
nungen , Wirkungen , Eigenschaften der Dinge , um wo 
möghch das Wesen, das Gesetz, das Allgemeine, Con- 
stante zu erschliessen. Diess gilt wenigstens bei der 
blossen Beobachtung d. h. der absichtlichen Betrachtung 
der von der Natur selbst gebotenen Erscheinungen, während 
allerdings bei dem Experiment d. h. der Beobachtung 
künstlich hervorgebrachter Naturerscheinungen , auch 
deductive Ableitung des Einzelnen aus Allgemeinerem, 
der Wirkungen aus Ursachen und Gesetzen zur Anwen- 
dung kommt, — freiUch nicht aus blossen Begriffen, 
sondern durch reale Vorgänge oder Thatsacheu. Neben 
den positiven Erscheinungen oder Ereignissen, aus denen 
das Allgemeine oder das Gesetz abgeleitet werden soll, 
müssen bekanntlich auch die sog. negativen Instanzen 
beachtet werden, ehe ein Inductionsschluss gemacht 
werden kann, dessen Resultat als sicher zu betrachten 
ist, d. h. jene Fälle ähnlicher Art, in denen die fragliche 
Naturerscheinung nicht stattfindet. Finden sich solche, so 
kann der Schluss nur dann als zulässig erachtet werden, wenn 
die Schwierigkeit auf irgend eine Weise sich lösen d. h. die 
vermeintlichen Gegen-Instanzen sich beseitigen lassen. Zu 
bemerken ist übrigens bei diesem ganzen Verfahren, dass 
ein solcher Inductionsschluss, wenn auch unzählige Fälle 
zu Grunde gelegt werden können, doch keine unbedingt 
sichere Wahrheit ergibt, wenn blos die Summe der Fälle 



als Idealwissenschaft und System. 53 

in Betracht kommen kann, da die Erfahrung allein keine 
unbedingt sichere, noth wendige Wahrheit zu ergeben vermag. 
Soll der Schluss ganz sicher sein und wirklich wissen- 
schaftUchen Werth erhalten, so muss auch ein bestimmter 
Seins- und Erkenntnissgrund (ratio) gegeben sein. 

Die Naturwissenschaft begnügt sich indessen noch 
nicht damit, gegebene Erscheinungen aus einer Ursache 
zu erklären oder auf ein Gesetz des Geschehens zurück- 
zuführen, sie will vielmehr all ihre Erklärungen aus wir- 
kenden Ursachen (ebenfalls, wie die Philosophie, vom 
Streben nach einheitUcher Weltauffassung geleitet) auf 
eine einzige Art von Ursachen zurückführen, nämlich auf 
mechanisch wirkende Ursachen, auf Mechanismus. Erst 
dann soll eine Naturerscheinung für erkannt und er- 
klärt gelten, wenn sie aus einer wirkenden Ursache, und 
zwar einer mechanisch wirkenden Ursache erklärt oder 
abgeleitet, aus den Principien der Mechanik erkannt ist. 
Als eigentlich exact aber gilt diess Erkennen und Wissen 
erst dann, wenn die constante Weise dieses mechanischen 
Geschehens (das Gesetz des Geschehens) in festen Zahlen 
bestimmt, in Zahlenformeln ausgedrückt werden kann. 
Denn Kant's Ausspruch, dass in der Naturforschung nur 
so weit wahre Wissenschaft erlangt sei, als Mathematik 
dabei Anwendung findet, hat vielfache Anerkennung ge- 
funden. Sollte diess als allgemeingültig angenommen und 
strenge geltend gemacht werden, dann würde das Natur- 
erkennen selbst in enge Schranken gebannt und machen 
Zweige der Naturwissenschaft selbst noch als nichtwissen- 
schafthch aus demselben ausgeschieden werden müssen. 
Indess ist das durch Zahlen fixirte Erkennen nicht das 
einzig sichere Wissen im Gebiete der Natur, denn neben 
diesem sog. exacten lässt sich wohl noch ein rationales 
d. h. durch Erkenntniss der Ursachen und Gründe ge- 
sichertes Wissen geltend machen. Das sog. exacte Wissen 
ist nicht einmal in allen Fällen ein rationales d. h. durch 



54 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie 

Einsicht in die Gründe des Geschehens erleuchtetes und 
befestigtes Wissen. So lässt sich z. B. das Gesetz des 
Falles der Körper allerdings in Zahlen ausdrücken und 
ist zugleich Einsicht zu gewinnen in die Ursachen oder 
Gründe, warum derselbe so und nicht anders ist; es ist 
diess eine exacte und zugleich rationale Erkenntniss. 
Wenn dagegen die sog. Aequivalente oder die Gewichts- 
verhältnisse, in denen die sog. einfachen ElementarstofiPe 
unter einander Verbindungen eingehen, in festen Zahlen 
und in Tabellen dargestellt werden , so ist damit zwar 
ein exactes Kennen oder Wissen zum Ausdruck gebracht, 
aber nicht eine eigentHclie, rationale Erkenntniss gewon- 
nen; denn die Gründe resp. Ursachen, warum diese Ele- 
mentarstoffe sich in diesen Gewichts Verhältnissen verbin- 
den, sind dabei noch ganz unbekannt. Die Hypothese 
von Atomen mit bestimmten unveränderlichen Grössen- 
und Gewichts-Verhältnissen ist zu unsicher und zu wenig 
begründet, als dass durch sie ein wirklich rationales Wissen 
erzielt werden könnte.^) 

Diess also ist das naturwissenschaftliche Wissen im 
eigentlichen Sinne: Ableitung der Erscheinungen oder 
Thatsachen aus den Realgründen oder Zurückführung 
derselben auf solche; Einsicht in die Gründe der constan- 
ten Geschehensweise oder des Gesetzes und allenfalls 
Fixirung dieser Weise in festen Zahlen; endlich, womög- 
lich, Zurückführung aller einzelnen, wenn scheinbar noch 
so verschiedenen Geschehensweisen auf eine allgemeine, 
gleichartige oder auf ein allgemeines Gesetz d. h. auf 
allgemeine mechanische Kraftwirkung, auf Bethätigung 
der Principien der Mechanik in Gleichgewicht und Be- 
wegung. Dabei wird noch als ein besonderer Vorzug 
dieses Naturerkennens diess betrachtet, dass sie aller blos 



^) V<jl. d. Verf. Sehr.: üeber die Aufgabe der Natur- 
philosophie und ihr Ve rhältniss zur Naturwissenschaft. 
S. 92 flf. S. 163 ff. 



als Idealwissenschaft und System. 55 

subjectiven Meinung und Schätzung dadurch entrückt 
sei, dass sie rein objective Massstäbe oder Erkenntniss- 
kriterieu habe in Längenmass und Gewicht, welche ge- 
naue Zahlenbestirnmungen ermöglichen. 

Damit mag es nun seine Richtigkeit haben; dennoch 
aber kann auch die Naturwissenschaft sich nicht voll- 
ständig gleichsam objectiviren, da das Forschen und Wissen 
doch immer vom subjectiven Geiste ausgeht, auf dessen 
Wahrhaftigkeit d. h. der Zuverlässigkeit der in demselben 
wirksamen Denk- und Erkenntniss-Gesetze beruht und auf 
der normalen Thätigkeit der subjectiven Erkenntniss- Or- 
gane. Diese wird, wie bemerkt, von der Naturforschung 
ohne weiters vorausgesetzt und die Bewährung der theo- 
retischen Erkenntnisse bei der praktischen Ausführung in der 
Natur scheint eine vollständig genügende Sicherheit zu 
gewähren auch für die Theorie. Dabei ist allerdings das 
Problem der ideahstischen und realistischen Weltauffassung 
ausser Spiel gelassen, — und die Naturwissenschaft als 
solche kann sich diess auch wohl erlauben. Wichtiger 
aber sind die Schranken, die dem Naturerkennen in der 
dargestellten Auffassung darin gesetzt sind, dass der 
menschliche Geist und das geistige Leben der Mensch- 
heit dieser naturwissenschafthchen Erforschung und 
Erkenntniss noch ganz verschlossen, deren Mitteln unzu- 
gänglich erscheint; so zwar, dass anerkannte Naturfor- 
scher selbst in dieser Beziehung nicht blos ihre gegen- 
wärtige Unkenntniss zugestehen, sondern das geistige Ge- 
biet, das mit der Empfindung und dem Bewusstsein be- 
ginnt, auch für alle Zukunft der naturwissenschaftlichen 
Forschung als unzugänglich und unerkennbar bezeichnen. 
Eine Annahme, mit der es bezüglich der Naturwissen- 
schaft selbst, ihrer Mittel und mechanistischen Erklärungs- 
■weise wohl seine Richtigkeit haben wird, ohne dass indess 
damit alle Erkenntniss des geistigen Lebens in Abrede 
gestellt werden kann, da das naturwissenschaftliche Er- 



56 iV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie 

kennen nicht ohne weiters als das einzige Erkennen gel- 
ten kann, das möglich und wirklich wissenschaftlich ist. 
Von solcher Behauptung muss schon der Umstand zu- 
rückhalten, dass die Naturwissenschaft selbst als Wissen 
aus jenem geistigen Gebiete stammt, das als naturwissen- 
schaftlich unerkennbar bezeichnet wird und eine voll- 
ständige wissenschafthche Unkenntniss oder Unerforsch- 
hchkeit hievon die Naturwissenschaft selbst als Wissen 
auf ganz dunklen, unsichern Grund stellen würde. 

Wenden wir uns nun zur Wissenschaftslehce oder, 
allgemeiner genommen, Erkenntnisswissenschaft, welche 
man jetzt unter allen philosophischen Disziplinen allein 
noch als wissenschafthche Philosophie will gelten lassen, 
während alle andern nur noch als nichtwissenschaftliche 
angesehen werden sollen. Man kann unter Erkenntniss- 
wissenschaft die Erkenntnisstheorie im eigentlichen Sinne, 
die Logik und die wissenschaftliche Methodenlehre oder 
die Wissenschaftslehre im engeren Sinne begreifen. Die 
erstere hat die Aufgabe, die Genesis des menschhchen 
Erkennens überhaupt, die Factoren und Bedingungen 
desselben (Erkenntnissorgane und -Quellen) darzustellen, 
sowie die Zuverlässigkeit und Objectivität der Erkenntniss 
näher zu prüfen (erkenntnisstheoretischer Sensualismus, 
IdeaUsmus, Skepticismus und Kriticismus). Die Logik 
geht aus der Analyse der mittelbaren Erkenntniss d. h. 
der Verstandesthätigkeit hervor, bestimmt die Grund- 
gesetze des Denkens, die befolgt werden müssen, wenn 
es zum Erkennen kommen soll; dann die Formen, welche 
durch abstrahirende Denkthätigkeit gewonnen werden, die 
Begriffe in ihrem Verhältniss zu einander, in ihrer Ueber-, 
Unterordnung und Nebenordnung, ihrer üebereinstimmung, 
ihrer Verschiedenheit und ihrem Widerspruche; ebenso die 
Functionen des Denkens, wie sie im Urtheilen und 
Schliessen sich zeigen. Die Wissenschaftslehre endlich 
im engeren Sinne hat es mit den Grundsätzen und Me- 



als Idealwissenschaft und System. 57 

thoden der wissenschaftlichen Forschung zu thun, den 
allgemeinen Grundsätzen und Prämissen, mit der Induc- 
tion wie der Deduction , der logischen Definition , Ein- 
theilung und Beweisführung. 

Wenn nun zuerst die Frage entsteht, ob auch diese 
Wissenschaftslehre von der Erfahrung ausgehe und sich 
strenge im Gebiete der Erfahrung halte, nicht sie in ihren 
Bestimmungen überschreite, — worin ja ein hauptsäch- 
liches Merkmal der Wissenschaftlich keit erblickt wird, — , 
so kann man darauf zwar bejahend antworten, aber Er- 
fahrung hat hier doch eine andere Bedeutung als bei der 
Naturforschung. Es steht hier dem forschenden Geiste 
nicht ein reales Object gegenüber, das anregend auf die 
Erkenntnissorgane wirkt, dadurch seine Eigenschaften 
und Thätigkeiten offenbart und allenfalls auch durch 
objective Massstäbe und Kriterien geprüft und bestimmt 
werden kann; sondern es ist der erkennende Geist mit 
seinen Kräften und Thätigkeiten und deren Gesetzen 
selbst, welcher Gegenstand der Erforschung ist. Und 
zwar erforscht und erkannt wird mit denselben Erkennt- 
nissorganen , mit denselben Kräften , nach denselben Ge- 
setzen und in denselben Formen, welche der Gegenstand 
der Erforschung sind, so dass das Erkenntnisssubject und 
das Object der Erkenntniss der Sache nach identisch 
sind , wenn auch dabei das Verhalten von beiden ein 
verschiedenes ist. Ohne Erfahrung des Erkenntnissobjectes 
kann also die Erkenntniss Wissenschaft weder begonnen 
noch fortgesetzt werden ; denn wenigstens sich selbst und 
seine verschiedenen Erkenn tnissthätigkeiten erfährt der 
Forscher doch wohl unvermeidlich und wird sie nicht 
unbeachtet lassen können, um blossen Einfällen oder 
Hirngespinnsten sich hinzugeben, in der Meinung, damit 
eine Wissenschaft vom menschUchen Erkennen zu ge- 
winnen. Die Erkenntuissthätigkeit , welche Gegenstand 
der Erfahrung ist, wird dann analytisch zu behandeln 



58 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie 

sein, um die Kräfte, die Gesetze und Functionen zu er- 
kennen, die sich dabei kundgeben. Diese selbst aber 
können auch rein für sich betrachtet werden, ura sie 
genauer zu erforschen und in ihrer Natur, Gesetz- 
mässigkeit und Tragweite zu erkennen, ihre Anwendung 
zu controHren, zu berichtigen und vielleiclit auch sogar 
neue und erweiterte, jedenfiüls aber gereinigte, exactere 
Anwendung zu ermögHchen in neuen oder genaueren 
Methoden der wissenschaftUchen Forschung. Insofern 
also kann auch die Wissenschaft von der Erkenntniss- 
thätigkeit als Erfahrungswissenschaft betrachtet und mit 
der Naturwissenschaft in Vergleich gebracht werden. Die 
Zuverlässigkeit der Erkennttiissorgane wird auch hiebei 
noch vorausgesetzt wie bei der Naturwissenschaft und in 
dieser Zuversicht davon Gebrauch gemacht, wenn auch 
sonst skeptischer oder kritischer dabei zu Werke gegangen 
wird, als bei der gew^öhnlichen empirischen Erkenntniss- 
thätigkeit. 

FragUcher aber wird die Sache allerdings, wenn es 
sich um das Wesen der Erkenntnisskraft und der Er- 
kenntniss selber handelt, um den Charakter der übjecti- 
vität der menschlichen Erkenntniss. Denn hiebei kann 
das Erfahrungsobject, die übliche menschliche Erkenntniss- 
thätigkeit, nicht als übject schon die Entscheidung geben, 
weil es sich eben darum handelt, ob dieses allerdings als 
Erkenntnissthätigkeit gegebene Object auch dem Inhalt oder 
Gehalte nach als objectiv, als eine die objective, an sich 
seiende Wahrheit verbürgende Thätigkeit zu betrachten 
sei. Hier, wo es sich darum handelt, ob das menschhche 
Erkennen blos subjective oder auch objective Bedeutung 
habe, ob Subjectivismus oder Objectivität bezüghch der 
menschhchen Erkenntniss anzunehmen sei, und ob es 
unbedingte, allgemein gültige Wahrheiten gebe, stehen der 
Erkenntnisswissenschaft ähnliche Mittel nicht zu Gebote 
wie der Naturwissenschaft; sie hat nicht Zahl, nicht Mass 



als Ideal Wissenschaft und System. 59 

und Gewicht zur Verfügung, sondern kann sich bei all- 
gemeinen Aufstellungen nur auf Denknothwendigkeit oder 
geistige Evidenz berufen, — was freilich auch eine un- 
mittelbare Erfahrung des bewussten denkenden Geistes ist. 
Auch in feste, bestimmte Zahlenformeln lassen sich die 
erkenntnisswissenschaftlichen Resultate nicht bringen, so- 
wie sich dieselben nicht aus mechanischen Kräften, Ge- 
setzen und Wirkungen erklären lassen. Sollte also nur 
da wirkHche Wissenschaft sein, wo in der Weise der 
Mathematik und Naturwissenschaft (Mechanik) erkannt 
wird , so könnte auch die Erkenntnisswissenschaft nicht 
als wirkliche Wissenschaft, sondern nur als nichtwissen- 
schaftlicbes Produkt betrachtet werden, — wie es denn in 
solchem Falle überhaupt ausser Mathematik und Mechanik 
(die aber dann selbst auf unwissenschaftlichem Grunde 
ruhten) keine weitere Wissenschaft gäbe: keine Sprach- 
wissenschaft , Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaft 
u. s. w. , da diese ja alle nicht exacte, mechanisch be- 
stimmte Resultate zu bieten vermögen. Wie diese, so 
vermag auch die Erkenntniss Wissenschaft nicht absolut 
gültige, für immer gesicherte Resultate zu gewinnen und 
aufzuspeichern, so dass darauf nur weiterzubauen wäre, 
ohne das Festgestellte etwa neuerdings in Frage stellen 
zu können. Wäre diess der Fall , dann wäre Skepti- 
cismus nicht mehr möglich, und ebenso wenig ein fort- 
gesetzter Streit zwischen Idealismus und Sensualismus, — 
wie doch thatsächlich all' diese Richtungen immer wieder 
auftauchen. In Wirklichkeit sind nur allgemeine Be- 
stimmungen , Gesetze und Normen des Denkens und Er- 
kennens festbegründet als unbedingt sichere und noth- 
wendige Grundlagen und Grundbedingungen alles Seins 
wie Denkens, so dass selbst Mathematik und Naturwissen- 
schaft darauf beruhen, sie voraussetzen und als Denknoth- 
wendiges oder unmittelbar Evidentes gelten lassen, so gut 
oder mehr noch , als die Zuverlässigkeit der Sinneswahr- 



60 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie 

nehmungen. Freilich sind in neuester Zeit selbst die 
Grundgesetze des Denkens, wenn nicht in ihrer factischen 
Gültigkeit, so doch in ihrer Nothwendigkeit und unbe- 
dingten Geltung in Frage gestellt und werden nur als 
Resultate der Erfahrung, als empirisch für uns, jetzt und 
hier gültige Sätze betrachtet, so dass für anderswo im Welt- 
all und zu einer anderen Zeit allenfalls auch wieder andere 
Gesetze und Wahrheiten als möglich gelten. In diesem 
Falle würden auch die Mathematik und die mechanische 
Naturwissenschaft nicht unbedingte theoretische Gültigkeit 
haben, sondern könnten nur als provisorische Erfahrungs- 
resultate gelten, so dass die Menschen sich überhaupt 
nicht mehr theoretisch, sondern nur noch praktisch ver- 
halten könnten gleich den Thieren. Die Empiristen und 
Positivisten sind bei ihrem Bestreben, nur ganz sichere, 
erfahrungsmässige Resultate zu gewinnen und gelten zu 
lassen, nur der Erfahrung, nicht dem Denken Sicherheit 
zuzutrauen, schliesslich zum Gegentheil gekommen, indem 
sie zuletzt auch die sichere, feste Grundlage der Erfahrung 
d. h. deren Zuverlässigkeit selbst eingebüsst haben. Aehn- 
lich wie der unbedingte Skepticismus durch seine Bezweif- 
lung oder Leugnung der MögHchkeit irgend einer sicheren 
Erkenntniss und Aussage sich selbst das Recht abspricht, 
seiner eigenen Behauptung Gewissheit zuzusprechen, 
und also damit sich selbst aufhebt oder bedeutungslos 
macht. 

Fassen wir nun die Philosophie in's Auge in Bezug 
auf Wissenschaftlichkeit, und zwar sowohl insoferne sie 
Erklärung der Welt und Bildung einer Weltanschauung 
aus Einem Princip sein will , als auch , insoferne sie Er- 
forschung der idealen Wahrheit zu sein strebt. Von dieser 
Philosophie wird nun in neuerer Zeit fast allgemein diess 
wie ein Dogma behauptet, dass sie nicht auf Erfahrung 
beruhe, nicht von Erfahrung ausgehe und auf ihrer festen 
Basis fortschreite, sondern aus blossem Denken construire, 



als Idealwissenschaft und System. 61 

keinen bestimmten Erkenntnissgegenstand habe, sowie 
kein sicheres Erkenntnissprincip ; daher auch zu keiner 
sicheren wissenschaftlichen, objectiv gültigen Erkennt- 
niss kommen könne, sondern nur subjective, wech- 
selnde, einander oft widersprechende Ansichten aufzustellen 
vermöge. 

Richtig ist nun in dieser Beziehung allerdings, dass 
manche philosophische Systeme, besonders der neueren 
Zeit, keine bestimmte Erfahrungsgrundlage haben, sondern 
von Principien ausgingen, die selbst nur abstracte Be- 
griffe oder schon vorweg angenommene Deutungen des 
Daseins waren, und dass dann aus denselben durch blosse 
Denkoperation, Deduction oder Dialektik die Natur mit 
ihren Erscheinungen, wie der Geist mit seinen g:eschicht- 
lichen Leistungen abgeleitet und begriffen sein wollten. 
Diess ist nun nicht mögHch und die Versuche dazu sind 
als vergeblich anzusehen, so viel Bedeutendes und An- 
regendes auch immerhin durch dieselben geleistet wurde. 
Wer übrigens die Natur des menschlichen Geistes be- 
trachtet, wird sich nicht zu sehr verwundern , dass Ver- 
suche dieser Art unternommen wurden. Es muss der 
menschliche Geist resp. die Erkenntnisskraft desselben, 
soll sie nicht als ein ganz leeres, wirkensunfähiges Etwas 
aufgefasst werden, immerhin mit einem bestimmten, gleich- 
sam apriorischen Vermögen gedacht werden, das selbst 
nicht als eine leere, sondern nur als inhaltlich bestimmte 
Kraft aufgefasst werden kann. Und zwar als eine Kraft, 
die dem zu Erkennenden in positiver oder negativer 
Weise homogen sein muss, wenn auch nicht geradezu 
anzunehmen ist, dass bei der Erkenn tniss (selbst nicht 
des Allgemeinen und Idealen) eine eigentHche Explicatio 
impliciti stattfinde. Früh schon führte die Betrachtung 
des Erkenntnissprocesses zu solcher Auffassung der höheren 
Erkenntnisskraft. Der voö<; des Aristoteles bleibt zwar 
seinem wahren Wesen nach ziemhch in Dunkel gehüllt, 



62 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie 

wenn aber dieser Philosoph bemerkt, dass bei der Erkennt- 
niss des wahren Wesens der Dinge der voö? eigentlich 
sein eigenes Wesen erkenne, so ist damit jedenfalls die 
fragliche Homogenität ausgedrückt (der Intellectus und 
das Intelligibile entsprechen sich gegenseitig). Wenn 
vollends Aristoteles den voö? als Formprincip der Form- 
principien, als elSoc elSwv, oder als ,,Ort der Ideen" bezeich- 
net/) so ist damit offenbar der voöc aufgefasst als leben- 
diger Inbegriff der platonischen Ideen, die damit nicht 
blos als immanente Principien in den Dingen betrachtet, 
sondern auch in ihrer Gesammtheit in die lebendige Er- 
kenntnisskraft verlegt sind. Ein Versuch, eine Explicatio 
impliciti, eine systematische Entwicklung derselben vor- 
zunehmen lag da eigentlich nicht mehr gar zu fern — 
um das platonische Reich der Ideen in ein theoretisches, 
gleichsam apriorisches System zu entwickeln. Leibniz 
hat in neuerer Zeit in seiner Monadenhypothese Aehn- 
liches angenommen , indem er die Monaden ^) als die 
letzten, substantiellen Einheiten, die das Dasein (das 
sinnhche wie das geistige) constituiren mit Vorstellungs- 
Kräften (und Ideen) begabt sein lässt, die mehr oder 
minder entwickelt sind und die Erkenntniss, die sie er- 
langen, offenbar aus sich selbst produciren oder expliciren, 
da sie alle in sich geschlossene Einheiten sind und nach 
aussen hin keinen Verkehr haben können (keine Fenster 
haben). Jede ist eine Art Mikrokosmus, jede spiegelt das 
Universum in sich ab, jede also müsste wohl unter Um- 
ständen das Dasein, wo nicht in allen Einzelheiten, doch 
seinen Gesetzen und Ideen nach aus sich selbst, d. h. 
aus der vorstellenden Natur heraus allenfalls zu einem 



*) Vgl. d. Verf. Sehr. : Ueber diePrincipien derAristotel. 
Philosophie und die Bedeutung der Phantasie in der- 
selben. München, Ad. Ackermann 1881 S. 64 ff*. 

'^) 8. d. Verf. Schrift: Monaden und Weltphantasie (1879 
München) Theod. Ackermann. S. 89 tf. 



als Idealwissenschaft und System. 63 

System geistig produciren können. Nach der Grundlehre 
wenigstens lässt sich diese Möglichkeit kaum in Abrede 
stellen. Auch bei der Kant 'sehen Lehre, wie er sie in 
der „Kritik der reinen Vernunft" entwickelt, ist eine 
solche apriorische Construction nicht ausgeschlossen, 
sondern vielmehr Anregung dazu gegeben. Sind dem 
Geiste (Vernunft) a priori d. h. vor der Erfahrung reine 
Anschauungs-Formen (Raum und Zeit) eigen, durch 
welche der Stoff oder Inhalt der Erkenntniss gegeben 
werden kann, ausserdem a priori reine Stammbegriffe, 
welche für alle Erkenntniss die Form bieten und 
ihr den Charakter der Rationahtät, der Noth wendigkeit 
und Allgemeingültigkeit verleihen; endlich a priori auch 
noch die reine productive Einbildungskraft, die den Grund- 
begriffen ihr allgemeines Bild schafft, indem sie dieselben 
mit den Anschauungsformen (insbesondere der inneren, 
der Zeit) verbindet,^) so erscheint diese reine Vernunft 
so reich mit apriorischem Apparat ausgestattet, dass es 
nicht zu verwundern ist, wenn von Fichte an reichlich 
davon Gebrauch gemacht wurde zur apriorischen Welt- 
construction d. h. zur Weltwissenschaft durch reines 
Denken ohne die Erfahrung (die ja ohnehin nur noch 
auf einer problematischen Anregung eines unerkennbaren 
,,Ding an sich" beruht) dazu brauchen zu wollen. — 
Gehen wir aber noch weiter und erwägen wir, welche 
Ansicht vom menschlichen Geiste, insbesondere der Er- 
kenntnisskraft, die moderne Naturwissenschaft, die so sehr 
gegen apriorische Construction zu eifern pflegt, in der 
Descendenzlehre ausgebildet hat, wie sie den Geist selbst 
entstehen lässt und womit sie sich denselben ausgestattet 
denkt. Dieser Descendenzlehre zufolge sind die psychi- 
schen Kräfte (wie die körperlichen Organ -Gestaltungen) 

*) S. ra. Schrift: Ueber die Bedeutung der Einb ildungs- 
kraft in der Philosophie Kants und Spinoza's. München 
1879. (Ad. Ackermann.) 



(54 IV. Die Wissenschaftliclikeit der Philosophie. 

durch Thätigkeit in bestimmter Richtung und durch 
Accomodation an die Naturverhältnisse entstanden, — im 
Zusammenwirken allenfalls mit den organischen Principien 
und unter bestimmten Entwicklungsgesetzen. Durch 
diese Thätigkeiten wurden eigenthümliche Fertigkeiten er- 
worben (psychische wie physische) und diese wurden 
dann allmählich an die folgenden Generationen vererbt, 
so dass den später Gehörnen, das von Geburt an wenig- 
stens als Anlage eigen ist, was die früheren sich durch 
eigene Thätigkeit erringen mussten. Da also auch der 
menschhche Geist in dieser Weise sich ausgebildet, so 
muss er nunmehr schon mit gewissen Fähigkeiten, be- 
stimmten Anlagen in 's Dasein treten , also ursprünglich 
schon einen immanenten, angebornen Inhalt haben, der 
insbesondere in intellectueller Beziehung die Fähigkeit 
zur Erkenntnissthätigkeit bildet. In gewissem Sinne muss 
also auch nach dieser Theorie der menschhche Geist von 
Geburt an ein noch in sich geschlossenes Abbild der ob- 
jectiven Natur sein, wenigstens in formaler Beziehung 
und den allgemeinen Grundzügen nach in Bezug auf 
Gesetze und Formen des Daseins. Auch hienach also 
könnte es nicht geradezu als ein chimärisches Unter- 
nehmen bezeichnet werden, zu versuchen, ob sich nicht 
aus dieser so inhaltlich gebildeten Natur des Geistes resp. 
seiner Erkenntnisskraft eine gewisse Welterkenntniss ab- 
leiten, gleichsam a priori construiren lasse. Es wäre eine 
Entwicklung dessen durch spontane und logische Thätig- 
keit, was in Jahrtausenden allmählich gleichsam ange- 
sammelt wurde, also eine Art Explicatio impliciti. Es 
wäre diess um so eher denkbar, als auch das allgemeine 
gestaltende Weltprincip in der Form der subjectiven Phan- 
tasie sich dabei zugleich gestaltend bethätigen könnte. 

Indess ist gleichwohl eine solche Construction a priori 
nicht als möglich zu erachten, wenn auch der erkennende 
Geist oder die Erkenntnisskraft als noch so inhaltvoll und 



als Ideal Wissenschaft und System. 65 

mit Bildungskraft ausgestattet gedacht wird. Um sich 
wirklich seiner Anlage nach entwickeln und Erkenntniss 
des Daseins erringen zu können, muss auch objective 
Einwirkung von Seite der Erkenntniss- oder Erforschungs- 
Gegenstände stattfinden, wie selbst Kant diess fordert. 
Wie das Auge zwar Licht aus seiner Natur producirt, 
aber zum wirklichen Sehen dennoch des äusseren Lichtes 
bedarf, und wie der Same zwar den ganzen Organismus 
der Tendenz und dem Gesetze nach in sich enthält, aber 
dennoch sich nicht in seiner Art entwickeln kaim, wenn 
nicht die äusseren, objectiven Bedingungen angemessen 
erfüllt werden, so auch bedarf die Erkenntnisskraft zur 
richtigen Thätigkeit und wirklichen Erkenntniss der 
Erfahrung. Die meisten philosophischen Systeme oder 
philosophischen Welterklärungen aus einem Grundprincip 
gingen dabei auch wirklich von irgend einem erfahrbaren 
äusseren Stoffe oder von einer Kraft aus, um daraus, so 
weit als möglich alle Bildungen oder Erscheinungen des 
Daseins (in Natur und Geschichte) abzuleiten oder zu er- 
klären. Von dem jonischen Philosophen Thaies an bis 
zu den Stoikern und Epikureern zeigt sich diess, während 
hinwiederum Piaton und Aristoteles, zum Theil auch 
Anaxagoras und Empedokles begriffliche Principien und 
menschliche Seelenkräfte oder -Bethätigungen als wirkende 
Mächte bei der Gestaltung des Daseins annehmen. Was 
die neueren Systeme der Philosophie betrifft , so suchen sie 
allerdings vorherrschend aus Begriffen oder a priori durch ab- 
stracte Denkoperationen die Welt zu construiren, — was 
in der That als vergebUches Unternehmen zu bezeichnen 
ist, ohne dass man darum zu verkennen oder zu ignoriren 
braucht, welch' mächtige Anregungen zu eindringender 
Forschung, und welche Fülle tiefer Gedanken gleichwohl 
diesen philosophischen Constructionen zu verdanken sind. 
Was die Phantasie als Grundprincip des Weltprocesses 
betrifft, so ist aus der unmittelbaren psychischen Er- 

Frohschammer, Die Philosophie. 5 



66 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie 

fahrung bekannt, was darunter zu verstehen sei und wie 
sie als subjective psychische Potenz wirke; insbesondere, 
dass ihre Bethätigung eine sinnlich-geistige sei, dass sie 
das Gebiet der Sinnlichkeit und das des Geistes mit- 
einander verbinde, an beiden Theil habend, wie schon 
Kant in der Kritik der reinen Vernunft geltend gemacht 
hat. Wie von dieser subjectiven Phantasie zur objectiven 
zu kommen sei, und wie diese und warum sie zum allge- 
meinen Grundprincip des Weltprozesses erhoben werden 
müsse, ist schon oben in Kürze angedeutet worden. Wir 
sind der Ueberzeugung, dass dabei das philosophische 
S^^stem durchaus auf Erfahrung sich stütze, sowohl was 
das allgemeine Princip betrifft, als auch bei der Erklärung 
im Einzelnen, da überall an Erfahrungsthatsachen ange- 
knüpft wird, um, so weit als möglich, aus dem genannten 
Princip zu erklären oder daraus abzuleiten. 

Auch die philosophische Erforschung der idealen 
Wahrheit, wie wir sie geltend machen, ist nicht eine 
apriorische Construction, oder durch bloss abstracte 
Denkoperation zu erzielen, sondern gründet sich allent- 
halben auf subjective Erfahrung und hat es mit allge- 
meinen Erfahrungsthatsachen zu thun. Man braucht nur 
an das ethische und ästhetische Gebiet zu denken, um 
sofort sich davon zu überzeugen ; denn das ethisch 
Richtige, das Gute für den Willen, wie das was für das 
ästhetische Gefühl als Schönes sich kund gibt, wird von 
der Erkenntnisskraft als Wahrheit im idealen Sinne er- 
fasst und nach Grund und Merkmalen in Begriffen und 
Urtheilen zur Darstellung gebracht. Wie sollte die wissen- 
schaftliche Forschung sich nicht auch auf dieses Gebiet 
richten, das so wichtig und entscheidend ist für das Dasein, 
für das Glück und Unglück des Menschen , ja dasjenige 
ist, was dem menschlichen Leben und der Welt über- 
haupt erst Sinn und Bedeutung und Vollkommenheit 
verleiht ! Wenn die Naturwissenschaft in aller Weise mit 



als Ideal Wissenschaft und System. 67 

Anstrengung und Beharrlichkeit sich bemüht, alle Stoffe, 
Kräfte und Gesetze der Natur kennen zu lernen, alle 
unorganischen und organischen Produkte derselben auf 
das Genaueste zu untersuchen, zu beschreiben und nach 
Entstehung und Daseins weise zu prüfen, — so wird es 
wohl als selbstverständHch betrachtet werden dürfen, dass 
auch das Gebiet des Idealen , dass auch die höheren 
Ziele, Güter und Weisen des Daseins für die erkennende 
Kraft des Menschengeistes Gegenstand unablässiger Prüfung 
und Forschung seien. Da die Menschen wie die Völker 
ohne dieses Ideale doch nicht leben und wirken können 
und wollen (ja zu Grunde gehen, wenn der Sinn dafür 
in Corruption und Gemeinheit erloschen ist), so hiesse es 
nichts Anderes, als gerade den höheren, besseren Theil 
des menschHchen Daseins dem Zufall und der Willkür, 
der Unwissenheit, dem Wahn, Trug und Aberglauben 
überlassen und schutzlos preisgeben, wollte man der 
menschlichen Erkenntnisskraft und wissenschafthchen 
Forschung es versagen, auch in diesem Gebiete unablässig 
thätig zu sein. Zu forschen, sei es auch nur, um einiger- 
massen reinigend, läuternd zu wirken, grobe Wahn- 
gebilde zu zerstören und der Herrschaft der Unver- 
nunft auch hier mit der Macht der Thatsachen und 
des Gedankens entgegenzuwirken. Wenn jetzt so oft 
und leichthin von philosophischer wie naturwissenschaft- 
licher Seite das ideale Gebiet dem Glauben und Aber- 
glauben unbedingt überlassen, wenn gefordert wird, dass 
diess Gebiet von der Wissenschaft als unerkennbar auf- 
gegeben werde, so wird dabei nicht bedacht, dass dann 
bald auch die Naturwissenschaft und alle Art von Wissen- 
schaft überhaupt in ihrer Selbstständigkeit bedroht, in 
ihrem Fortschritt gehemmt würde, — wie es im Alter- 
thum und im Mittelalter, ja selbst bis in die neuere Zeit 
herein der Fall war. Gestützt auf die Nothwendigkeit, 
die höheren, idealen Interessen und Strebungen der Mensch- 

5* 



6g IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie 

heit zu wahren und zu fördern, würde im Namen des 
Glaubens und Aberglaubens der Wissenschaft Halt ge- 
boten und brutaler Wahn und Selbstsucht würden, ge- 
stützt auf die unwissende, bethörte Masse, das geistige 
Leben vergewaltigen und barbarisch hemmen. Allerdings 
ist anzuerkennen, dass in diesem Gebiete ein exactes 
Wissen, in festen mathematischen Formeln ausdrückbar, 
nicht möglich sei, wie in der Naturwissenschaft, und nicht 
eine Summe von festen, unumstösslichen, nicht wieder in 
Frage zu stellenden Erkenntnissen sich ansammle. Es 
liegt diess in der Natur des Erkenntnissgegenstandes, der 
sich nicht mechanisch behandeln und fixiren lässt und 
ausserdem in beständigem Fortschritte begriffen ist, indem 
er sich dem menschlichen Bewusstsein nur allmählich 
offenbart — wie schon oben bemerkt wurde. Feste 
Formeln in diesem Gebiete stellen nur die positiven Re- 
ligionen auf in ihren Glaubenssätzen, die aber nur den 
jeweilig errungenen idealen Bewusstseins-Inhalt fixiren 
und dann durch ihre starre Un Veränderlichkeit den weiteren 
Fortschritt in der Erkenntniss hindern und wo sie unbe- 
dingt zur Geltung gebracht werden (durch Erziehung, 
Furcht und Zwang), einen Stillstand und damit auch 
Rückgang im geistigen Leben der Völker verursachen. 
Die philosophische Forschung aber in diesem Gebiete 
hat beständig neu zu prüfen, nicht blos gläubig anzu- 
nehmen, und hat damit den Erkenntnissgegenstand selbst 
für das menschliche Bewusstsein immer neu und voll- 
kommener zu erringen, — nicht blos denselben begrifflich 
zu bestimmen und festzuhalten — wie etwa diess eine 
Dogmatik versucht. Für die Naturwissenschaft, wenigstens 
für den mechanistischen Theil derselben, ist der Gegen- 
stand d. h. sind die Kräfte und Gesetze da und unver- 
änderlich, und so lässt sich ein für allemal Erkenntniss und 
Feststellung gewinnen. Auch der analysirende und be- 
schreibende Theil derselben hat seinen Gegenstand als 
real Gegebenes vor sich und brauclit ihn nicht erst durch 



als Idealwissenschaft und System. 69 

Forschung zu entdecken. Denn wenn auch allerdings durch 
Beobachtung und Experiment bisher noch Unbekanntes 
gefunden, entdeckt werden kann, so ist diess doch immer- 
hin ein real Vorhandenes, das fix und fertig ist und 
beharrt, wenn es einmal erkannt und durch genaue Prüfung 
die allenfalls hier noch vorkommenden Täuschungen 
oder Irrthümer ausgeschlossen sind. Die Philosophie ist 
dafür auch die Wissenschaft, in welcher das eigentlich 
geistige, höhere Leben der Menschheit fortschreitet, in 
welcher die wahre Bedeutung des Seienden und Werden- 
den lebt und sich offenbart, um derer willen doch allein das 
menschHche Dasein wirkKchen Werth hat trotz aller Un- 
vollkommenheit. 

Was die Weltauffassung aus dem^Grundprincip betrifft, 
das wir geltend machen, der Phantasie nämlich, so ist 
diese für dieselbe zugleich das Princip des Werdens, des 
plastischen und teleologischen Gestaltens und Zeugens, 
wie der Erkenntniss sowohl des WirkHchen oder Realen, 
wüe des Idealen; jenes als objective Phantasie, dieses als 
subjective. Als objective Phantasie ist diess Princip 
gleichsam vermählt mit den allgemeinen (mechanisch 
wirkenden) Gesetzen und Kräften der Natur und strebt 
in allen Gestaltungen äusserlich und innerlich nach Ziel- 
erreichung und insofern nach Ideerealisirung , so dass 
durch sie wirkende Ursachen und Endursuchen miteinander 
verbunden und jene zum Dienste dieser verwendet werden 
(wie etwa bei technischen Bildungen das Phantasiebild, 
der Plan des Technikers sich verbindet mit den Stoffen 
und mechanischen Kräften oder Gesetzen, um ein ein- 
heitliches, obwohl complicirtes Ganzes hervorzubringen). 
Als subjective Phantasie hat sie durch Verbindung mit 
den nothwendigen Gesetzen des Denkens und den allge- 
meinen Normen (Kategorien) sich zum subjectiven Ver- 
stände constituirt und bethätigt sich als Denkkraft, während 
sie (die subjective Phantasie) als, Trägerin der Ideen (des 



70 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie 

Idealen als Zieles des Denkens und Strebens) als Ver- 
nunft, oder Fähigkeit für das Ideale sich kund gibt. 
Was den wissenschaftlichen Charakter der Welterklärung 
aus diesem Princip betrifft, so ist es nicht besser und 
nicht schlimmer um denselben bestellt, als bei der Er- 
kenntnisswissenschaft selbst. Induction und Deduction, 
Analyse und Synthese finden dabei ihre Anwendung auf 
Grundlage der sicheren Denkgesetze. Die Erkenntniss- 
formen, die Denknoth wendigkeit und Evidenz , sind bei 
dieser Erklärung entscheidend, wie bei der Erkenntniss- 
wdssen Schaft auch der Fall ist. Unvollkommen und 
der Verbesserung bedürftig bleibt selbstverständlich auch 
die Welterklärung aus diesem Principe in manchen Be- 
ziehungen. Diess ist indess auch bei der Erkenntniss- 
wissenschaft nicht minder der Fall, da sogar in Bezug 
auf die Fundamentalbedeutung die menschliche Erkennt- 
niss nicht jeder Anzweiflung entrückt ist. Insoferne aber 
unsere Welterklärung aus der Phantasie als Grundprincip 
auch die Genesis der Erkenntnissorgane, der Sinne und 
des Verstandes (und der Vernunft) zu erklären sich zur 
Aufgabe stellt, ist sie sogar in der Lage, die Erkenntniss- 
grundlage der Erkenntniss Wissenschaft und der Natur- 
wissenschaft selbst in Anspruch zu nehmen. Und insofern 
sind also diese beiden Wissenschaften von ihr bedingt ; denn 
ihre wissenschaftliche Sicherheit und Bedeutung ist davon 
abhängig, aus welchem Grunde und in welcher Art die 
Erkenntnissorgane selbst im Weltprocesse sich bilden. Die 
gewöhnliche Erkenntnisswissenschaft bleibt blos bei dem 
Gegebensein dieser Erkenntnissorgane stehen, fragt nur 
nach der Erkenntnisskraft derselben und sucht besonders 
durch Analyse die Bedingungen und Arten des Erken- 
nens zu bestimmen. Und doch ist auch hier die genetische 
Untersuchung nunmehr geboten, da die blos analytische 
Untersuchungsart nicht mehr als genügend erachtet 
werden kann. 



als Idealwissenschaft und System. 71 

Noch in anderer und sogar noch fundamentalerer Weise 
ist indess die Naturforschung selbst nebst der Erkeunt- 
nisswissenschaft von dem Systeme, das wir versuchen, 
bedingt. Es ist diess der Fall durch das Problem der 
Empfindung. Die Empfindung ist es (insbesondere 
Lust und Schmerz), welche wenigstens in der belebten 
Natur den Impuls gibt zu all' dem reichen, mannich- 
faltigen Geschehen; und zwar nicht blos zu psychischen 
Functionen, sondern auch zu all' den physischen Be- 
wegungen, durch welche die Erhaltung und Fortpflanzung 
des Lebens in seinen verschiedenen Formen bedingt ist 
und veranlasst wird. Nun kann die Naturwissenschaft 
zwar die mechanischen, die physikalischen und chemischen 
Verhältnisse und Geschehensweisen erkennen, erklären 
und allenfalls auch vorausbestimmen, aber die Empfindung 
vermag sie nicht mit ihren Mitteln und aus ihren Ge- 
setzen und Stoffen zu erklären und zu begreifen, wie die 
berufensten Vertreter der Naturforschung in neuester Zeit 
selbst bekennen. Sie kann demnach wohl die Mittel des 
Geschehens in den lebendigen Naturprodukten erkennen, 
die wirkenden Ursachen und deren gesetzmässiges Wirken, 
— aber nicht den letzten bewegenden Grund, welcher den 
eigentlichen Impuls zu dem ganzen Getriebe 
im thierischen Dasein gibt und der als letzte 
bewegende Ursache zugleich das Ziel des Be- 
wegens und Strebens in sich enthält. Der Ver- 
such, diese Empfindung und die Genesis der Empfindungs- 
fähigkeit aus dem Naturprocesse zu erklären, fällt nun 
der Philosophie zu, und zwar der Philosophie, die 
aus Einem Grundprincip erklärt und das Gebiet 
der Ideen, das ideale Moment in der Natur zum 
Gegenstand der Forschung macht. Die Empfin- 
dung ist nur aus dem idealen Moment und Princip in 
der Natur zu erklären,^) da sie in den organischen Bil- 

^) S. Phantasie als Grundprincip S. 281 flf. Monaden 



72 1^- J^ie Wissenschaftlichkeit der Philosophie. 

düngen eine bestimmte teleologische Ordnung voraussetzt, 
die gefördert oder gestört werden kann. Gerade aus der 
eigenartigen Wirksamkeit der Phantasie als Grundprincip 
ist zugleich das teleologische Moment in der Organisation 
und das ideale Wesen in derselben zu erklären, — da 
dadurch es eben geschieht, dass durch VerinnerHchung 
und Concentrirung das Individuum sich selbst d. h. seine 
individuelle Gestaltung als für sich Seiendes findet und 
zugleich den harmonischen oder disharmonischen Zustand 
davon erfährt oder empfindet. Erforscht also die Natur- 
wissenschaft die wirkenden Ursachen in der Natur (mit 
Ausschluss der Endursachen oder des Teleologischen) und 
deren gesetzmässige oder constante Wirkensweise, so hat 
die Philosophie gerade das zum Gegenstand der Unter- 
suchung und Erklärung, wodurch diese wirkenden Ur- 
sachen oder der Mechanismus der Naturdinge selbst den 
Impuls erhält, in Bewegung gesetzt und zugleich zu einem 
Ziele (Zwecke) geleitet wird : die Empfindung nämhch und 
den Trieb, der' damit in unmittelbarer Beziehung steht. 
Somit gibt die Philosophie der Naturwissenschaft sowohl 
in der Grundlage, als im Ziele eine Ergänzung und ver- 
mittelt erst das Ver^tändniss der eigentlichen Bedeutung 
dessen, was die Naturwissenschaft erforscht. Für das 
wahre Verständniss der Natur muss also zur Naturwissen- 
schaft noch die Philosophie, die philosophische Erklärung 
der Genesis und des idealen und allgemeinen Impulses, 
der von der Empfindung ausgeht, hinzukommen. — End- 
lich aber ist die Naturwissenschaft wie auch die Erkennt- 
nisswissenschaft von der Philosophie auch noch bedingt, 
insoferne diese Erkenntniss der Genesis und idealen Be- 



und Weltphantasie S. 31 ff, 166 ff. Die Empfindung ist zwar 
als ein physisch-psychischer Zustand zunächst Object anthropologischer 
Forschung, allein Anthropologie, wie Psychologie gründen sich philo- 
sophisch -wissenschafthch auf das allgemeine Grundprincip des 
Weltprocesses. 



als Idealwissenschaft und System. 73 

deutung der Dinge aus Einem Princip ist. Aus der Em- 
pfindung geht nämlich auch das ßewusstsein und Selbst- 
bewusstsein hervor, und von diesen ist die Genesis, sowie 
Gebrauch und Bedeutung der Erkenntnissorgane, der 
Sinne sowohl als des Verstandes bedingt. Die Natur- 
wissenschaft und die Erkenntnisswissenschaft setzen auch 
diese, welche doch alle Erkenntnissthätigkeit ermöglichen, 
voraus, nehmen sie als Gegebenes hin , ohne Wesen und 
Bedeutung davon erst zu untersuchen, ja ohne sie — ein- 
gestandener Massen, erklären zu können, so wenig als 
die Empfindung, aus welcher sie stammen. Die Philosophie 
aber in Verbindung mit der naturwissenschaftlichen Ent- 
wicklungsgeschichte hat sie aus dem einheitlichen Princip 
und aus den idealen Momenten des Daseins zu erklären. 
Wird diesem genetisch-systematischen Versuche der Philo- 
sophie als System und Idealwissenschaft alle wissenschaft- 
liche Geltung abgesprochen, dann ist auch von der Wissen- 
schaft überhaupt zu sagen, dass sie auf nichtwissenschaft- 
licher Grundlage ruhe, — was man doch wieder nicht will. 
Es fehlt der Philosophie, wie wir sie verstehen^ sowohl 
als Idealwissenschaft wie als System nicht an Erfahrungs- 
grundlage ; denn nicht blos das Gefühl, sondern schon die 
Empfindung (Lust und Schmerz) selbst offenbart ein teleo- 
logisches und ideales Moment in der Natur und bietet 
dadurch, wie ein Object, so auch ein Kriterium idealer 
Erkenntniss. Und die Phantasie als objectives organisches 
und belebendes Princip ist nicht nur in den Wirkungen 
offenbar, welche sie als Ursache postuliren, sondern sie 
ist als subjective psychische Potenz und Thätigkeit in ihrem 
Dasein und ihrer Wirkensweise auch der unmittelbaren 
Erfahrung eines jeden Denkenden zugänglich, ja selbst der 
unmittelbaren, reflexionslosen Empirie bekannt. Auch die 
wissenschaftlichen Grundsätze und Methoden sind die- 
selben, wie bei den Erfahrungswissenschaften, wie nicht 
minder dieselben logischen Gesetze befolgt und dieselben 



74 IV. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie. 

logischen Operationen vom Denken vorgenommen werden 
wie bei den übrigen AYissenschaften. Wenn zuweilen der 
logische Gedankengang am Faden des Causalgesetzes zur 
Aufstellung von Behauptungen führt, deren Inhalt der 
unmittelbaren Erfahrung sich noch entzieht, oder für diese 
der Natur der Sache nach ganz unzugängHch ist, so theilt 
sie diess Schicksal bekanntlich selbst mit der Naturwissen- 
schaft. Auch diese sieht sich gedrungen, Manches anzu- 
nehmen, was nicht unmittelbar erfahren werden kann, 
ohne dass sie desshalb auf den Charakter einer Wissen- 
schaft verzichtet oder ihr ein solcher von andern Wissen- 
schaften abgesprochen wird. Allerdings, äusseres Maass 
und Gewicht kann die Philosophie nicht anwenden und 
in mathematische Formeln lassen sich ihre Feststellungen 
nicht fassen. Diess liegt in der Natur der Sache und die 
wenigsten Wissenschaften vermögen diess. Auch die Wissen- 
schaftslehre vermag diess nicht, sowie nicht die meisten 
Zweige der Naturwissenschaften ; von Geschichte und an- 
deren Wissenschaften nicht zu reden. Auch feste unum- 
stössHche Resultate stellt die Philosophie nicht auf wie 
etwa die positiven Religionen ihre Dogmen fixiren, als 
wären es unveränderUche Wahrheiten, und dann durch 
Androhung zeitHcher und ewiger Strafen und Qualen 
Annahme erzwingen und die Unantastbarkeit derselben 
gegen weitere Forschung aufrecht zu erhalten suchen. Im 
geistigen, idealen Gebiete ist diess wenigstens bei wissen- 
schaftUcher Forschung nicht zulässig und würde dem geistigen 
Leben mehr schaden als nützen, da es den weiteren Fort- 
schritt hemmte. Auch an der Wahrheit selbst wäre es eine 
Versündigung, insoferne ihr das Recht, die MögUchkeit 
weiterer Offenbarung entzogen würde. — Wenn in der Philo- 
sophie verschiedene Ansichten auftauchen, dieselben sich 
ändern und einander bekämpfen, so ist auch diess nichts An- 
deres, als was auch in anderen Wissenschaften vorzukommen 
pflegt, denen man darum nicht gleich Wissenschaftlichkeit ab- 



als Ideal Wissenschaft und System. 75 

spricht und so deren Berechtigung und Bedeutung in Frage 
stellt, — wie man damit der Philosophie gegenüber gleich 
bei der Hand ist. Wenn z. B. die Geologie innerhalb weniger 
Decennien mehrmals grosse Umwandlungen erfahren hat, 
oder wenn die Sprachwissenschaft oder die Ethnologie 
grossen Schwankungen ausgesetzt ist und vielfache Mo- 
difikationen erfährt, so findet man diess und alle Unsicher- 
heiten und Controversen, die sich daran knüpfen, in der 
Ordnung und in der Natur der Sache begründet zur 
Erzielung allseitiger Betrachtung und gesicherten Fort- 
schrittes. BezügHch der Philosophie aber ertönen unauf- 
hörlich Deklamationen über den Wechsel der Systeme, 
dass von diesen immer eines dem anderen widerspreche 
und es aufhebe, dass also die Philosophie überhaupt nichts 
Sicheres erreiche und kein begründetes AVissen in ihr zu 
finden sei. So besonders Theologen, und selbst an Ver- 
tretern der Philosophie fehlt es nicht, die dergleichen land- 
läufige Phrasen nicht verschmähen. Dass auch die Reli- 
gionen sich mit all' ihren Dogmen und Vorschriften 
einander in der mannichfachsten Weise widersprechen, 
beachtet man dabei nicht, und übersieht daher, dass die- 
selben Einwürfe, gegen deren Bedeutung, Sicherheit und 
Berechtigung gelten, wie man sie so bereitwillig und all- 
gemein gegen die Philosophie vorzubringen pflegt, um sie 
herabzuwürdigen und zu verdächtigen. Wollte man nur 
bedenken und erwägen, wie viel die Philosophie seit ihrem 
Beginne für das geistige Leben der Menschheit in intel- 
lectueller, ethischer, religiöser und ästhetischer Beziehung 
geleistet hat seit so vielen Jahrhunderten, man würde 
finden, dass nicht blos alle Wissenschaften aus ihr all- 
mähhch hervorgegangen sind, sondern auch die Religionen 
allenthalben ihre bestimmte, lehrhafte Ausbildung mit Hülfe 
derselben erlangt haben, und dass hauptsächlich sie es war, 
die gegen Wahn, Aberglauben, Intoleranz und Grausam- 
keit, welche die Menschen gegen einander um des Glaubens 



76 V. Das System der Philosophie. 

willen Jahrhunderte lang verübten, unablässig wirkte. 
Man müsste dadurch wohl veranlasst werden, gerechter, 
vernünftiger über sie zu urtheilen, als es von Orthodoxen, 
Empiristen, Positivisten u. s. w. zu geschehen pflegt. Man 
denke sich doch einmal die Philosophie aus der abend- 
ländischen Menschheit seit dritthalbtausend Jahren hinweg, 
und erwäge, wie die Lücke beschaffen sein möchte, die 
dadurch entstünde! 



y. 

Das System der Philosophie. 

Eine Welterklärung oder Weltauffassung aus Einem 
Grundprincip muss sich selbstverständüch zu einem mehr 
oder minder vollständigen , einheithchen System ausge- 
stalten, wie diess speziell bei der P h a n t a s i e a 1 s G r u n d - 
princip versucht wurde. Werden die einzelnen Grund- 
momente des Weltprocesses (durch Phantasie), die an sich 
eine Einheit bilden durch Analyse im Besonderen be- 
trachtet und erörtert, so zeigen sich deren drei, die sich 
im Weltprocesse selbst bethätigen und gleichsam orga- 
nisch im Ganzen wie im Einzelnen zusammenwirken. Der 
Weltprocess bedarf nämlich zunächst einer festen Basis, eines 
nothwendigen, unveränderlichen Momentes. Es sind diess 
die Grundgesetze des Seins (und Denkens), auf Grund 
welcher und durch welche das Wirken, Gestalten des eigent- 
lich bildenden Princips stattfindet, die nicht nichtsein und 
nicht anders sein können, insoferne überhaupt ein ratio- 
nales Dasein und Geschehen soll stattfinden können. 



V. Das System der Philosophie. 77 

Es ist sodann ein Ziel des Wirkens oder Bildens nöthig, 
das zugleich leitende Norm dabei ist : das ideale, plastische 
und teleologische Moment, wodurch der Weltprocess im 
Grossen und im Einzelnen Ziele erreicht und Sinn und 
Bedeutung erhält; und endhch ist das eigentUch bildende 
oder schaffende Princip, eben die Phantasie, noth wendig, 
wodurch das Sein und Seins- und Geschehnes-Gesetz 
Verwendung findet, um Ziele zu erstreben und Ideen zu 
verwirklichen im sinnHchen wie im geistigen Dasein. 

Demgemäss ergeben sich zunächst für das System 
der Philosophie zwei Haupttheile, da man zum Behufe 
der systematischen Darstellung am angemessensten zuerst 
die Grandfactoren des Weltprocesses für sich, in abstracto, 
betrachtet, dann erst im zweiten Theile dieselben in con- 
creter Wirksamkeit in den verschiedenen Gebieten des 
Daseins, in Natur und Geschichte zu erkennen strebt. 
Der erste Haupttheil wird also die Principienlebre für Sein 
und Erkennen zum Inhalte haben: die Grundgesetze des 
Seins und Denkens oder die ewige Wahrheit im Sinne 
von Wirklichkeit; ebenso die Grundideen, deren Realisirung 
das Ziel des Weltprozesses ist; und endlich das bildende 
schaffende Princip oder die Weltphantasie selber. Der 
zweite oder besondere Theil hat dann die Aufgabe, den 
Weltprocess selbst, wie er sich im Zusammenwirken dieser 
Factoren vollzieht, als Gegenstand der Forschung zu 
behandeln. Er beginnt mit dem Naturprocess, soweit 
in ihm die Wirksamkeit des bildenden , organisirenden 
Princips sich offenbart, um die allmähliche Verinner- 
lichung und Vergeistigung durch die Stufen der Wesen 
zu verfolgen bis zur Entstehung der Menschennatur, in 
welcher dann die Genesis des Geistes durch die subjec- 
tive Phantasie, insbesondere des psychischen Organismus 
zu erkennen ist, mit seinen höheren geistigen Kräften, die 
sich in ihm differenziren, wie die Nerven im physischen 
Organismus. So bilden sich Naturphilosophie und An- 



78 V. Das System der Philosophie 

thropologie als philosophische Disciplinen, woran sich 
sodann die Zweige der Philosophie schliessen, welche das 
geschichtliche Leben und Wirken der Menschheit zum 
Gegenstand der Forschung haben: Wissenschaft von der 
Genesis der Menschheit und Völkerpsychologie, Keligions- 
Philosophie, Ethik, Sprachphilosophie und Aesthetik, die 
ersten, ursprünglichsten Erscheinungen des geschichtlichen 
Lebens der Menschheit behandelnd; endUch die Wissenschaft 
von der Organisation der Gesellschaft in Recht, Staat und 
socialem Leben. Hieraus ergeben sich auch die Grund- 
sätze, Ziele und Methoden der Einwirkung der lebenden 
Generation auf die neuenstehende in der Erziehung, woraus 
sich die Pädagogik als philosophische Disciplin bildet. 

Unser System will also Erklärung und Darstellung 
des Weltprocesses (zunächst natürlich des irdischen) sein, 
aus einem Grundprincip, das wir als bildende, schaffende 
Weltphantasie bezeichnen. Und zwar als philosophisches 
System will es Erkenntniss und Darstellung dieses Ent- 
wicklungsprocesses in Natur und Geschichte nach seiner 
idealen Seite sein, während die Darstellung desselben 
nach der realen Seite Sache der Natur- und Geschichts- 
wissenschaft nebst der positiven Neben- Wissenschaften ist. 
Doch bethätigt sich das bildende Grundprincip auch an 
der realen Seite, so dass sie in dieser Beziehung eben- 
falls der systematisch und genetisch verfahrenden Philo- 
sophie als Erkenntnissobject zufällt, oder vielmehr sich 
ein Grenzgebiet bildet zwischen den positiven oder Real- 
Wissenschaften und der Philosophie. 

Nun erfreut sich aber die Philosophie als System aller- 
dings in neuerer Zeit keiner besonderen Gunst. Nicht bloss 
jene, vielleicht nur wenigen Vertreter der sog. exacten und 
positiven Wissenschaften, die nicht geradezu jede Philo- 
sophie geringschätzen, wollen von philosophischen Sy- 
stemen grösstentheils nichts wissen, sondern auch unter 
den Philosophen selbst sind deren, welclie systematisches 



V. Das Ideal der Philosophie. 79 

Philosophiren abweisen und allenfalls sogar zu dreistem 
Absprechen darüber sich berechtigt glauben. 

Wenn zunächst gegen Aufstellung eines philosophi- 
schen Systems d. h. gegen Erklärung des Weltprocesses 
im Grossen und Einzelnen aus einem einheitHchen Prin- 
cip eingewendet werden mag, dass ein solches Unter- 
nehmen unmöglich sei, dass wir das Dasein zu wenig 
kennen, um eine durchgreifende systematische Erkennt- 
niss davon zu gewinnen, wie ein philosophisches System 
sie fordert, — so ist zu bemerken, dass dem allerdings 
Wahrheit zu Grunde liege, dass ein vollkommen fix und 
fertiges, allgemeines Weltsystem Jn einer gegebenen Zeit 
sieh nicht aufstellen lasse. Indess darf diess nicht hin- 
dern, fort und fort den Versuch zu erneuern zu einem 
solchen System , je nach den gegebenen Verhältnissen 
und Fortschritten, da man doch nicht warten kann, bis 
all' die unendlichen Daseins-Gebiete vollständig durch- 
forscht wären, weil schiesslich die un verbundenen 
Bruchstücke so unendlich anwachsen würden, dass die 
chaotische Masse nicht mehr zu bewältigen wäre. Auch 
die Naturwissenschaft, wie alles menschhche Wissen, ist 
vorläufig nur Stückwerk ; dennoch aber wird nicht darauf 
verzichtet, nach einem einheitlichen Princip des Geschehens 
und dessen Erklärung zu streben, um nicht in blosses 
Detailforschen sich zu verlieren, und um dem geistigen 
Drange nach einheitlicher Auffassung zu genügen, — wie 
das Forschen nach dem höchsten Gesetz, der letzten ein- 
heitlichen Kraft beweist. Die Philosophie vermag diess in 
Bezug auf die ideale Seite des Daseins sogar eher genügend 
zu leisten, als die Naturwissenschaft in Bezug auf die 
reale Seite, da es sich bei der Philosophie nicht um alle 
Details, um alle Einzelheiten handelt, sondern nur um 
die allgemeinen idealen Gesichtspunkte und die Erklärung 
aus dem Grundprincipe im Allgemeinen, ohne dass alle 
Weisen und Mittel der Realisirung erkannt zu werden 



80 V. Das System der Philosophie. 

brauchen. Das Princip ist allgemein und differenzirt sich 
als dasselbe in alle einzelnen Gestaltungen , modifizirt 
sich in diesen mannichfaltig. Auch wächst es gleichsam 
mit der Entwicklung im Weltprocesse selbst und vervoll- 
kommnet sich, obwohl stets als Princip dasselbe bleibend. 
Aehnliches gilt auch von den an sich einheitHchen Ideen, 
die unendlich mannichfaltige Realisirungen im ethischen, 
ästhetischen und wissenschaftlichen Gebiete finden, — 
während begrifflich sie immer dieselben sind. Als allge- 
meine Principien aber können Phantasie wie Ideen vom 
Geiste erfasst und entwickelt werden, ohne dass alle ein- 
zelnen Realisirungen zuvor erkannt sind. 

Wenn die Vielheit und Verschiedenheit der philo- 
sophischen Principien und Systeme gegen die Berechtigung 
der systematischen Philosophie angeführt werden, so ist 
diess ganz unberechtigt. Es ist begreiflich, dass die Philo- 
sophie als Welterklärung aus Einem Grundprincip nicht 
schon in frühester Zeit, nicht gleich am Anfang vollendet 
sein konnte, dass sie nicht schon zu einer Zeit, wo sie 
ohnehin noch mit der naturwissenschaftlichen Forschung 
vermischt war, das allumfassende, allgenügende Princip 
finden und daraus die Gestaltung des Daseins erklären 
konnte. Sie begann mit stofflichen Elementen bei dieser 
Erklärung, bald dem Einen dann dem andern, — was 
zugleich Erforschung der natürlichen Dinge zur Folge 
hatte. Im Grunde waren die Prhicipien zu äusserlich 
und einseitig, aber sie ergänzten sich gegenseitig und 
die Principienlehre oder Philosophie vertiefte und ver- 
geistigte sich immer mehr bis zu Piaton und zu Aristo- 
teles hin , der sie schliesslich alle zusammenfasste in 
seine Principienlehre, in welcher das Formprincip (eI§o?) 
Alles in sich fasst, was bis dahin in dieser Beziehung 
erreicht ward. Die vorsokratischen philosophischen Rich- 
tungen oder System-Versuche aus Einem Grundprincipe 
waren also zwar einseitig, aber alle Seiten des Daseins 



Das System der Philosophie. 81 

Hessen sich eben nicht gleich von Anfang an erforschen 
und erklären, und so war Vielheit und Verschiedenheit 
derselben zu gegenseitiger Ergänzung und schliesslicher 
Erreichung der Vergeistigung, Verinnerlichung und Ein- 
heit nöthig. In analoger Weise geschah es in der neueren 
Philosophie, dass die Systeme von verschiedenen Prin- 
cipien ausgingen, von vertiefteren und allgemeineren als 
in der alten Philosophie, die aber auch einseitig waren, 
oder nicht vielseitig genug; wiederum theils zu sinnlich 
theils zu geistig, als dass das ganze Dasein mit seinem 
Entwicklungsprocesse und seinen mannichfachen Pro- 
ductionen daraus sich hätte erklären lassen. Der Einen 
Substanz Spinoza 's mit ihren zwei Attributen ,, Denken 
und Ausdehnung" fehlt es an Lebendigkeit und Gestal- 
tungsprincip, um die Modi, d. h. die Mannichfaltigkeit der 
Dinge, sowie der organischen und psychischen Individuen 
daraus zu erklären.^) Die Monaden des Leibniz stehen 
als solche in keinem Wechselverkehr um ein Weltganzes, 
ein allgemeines Causalverhält'aiss, ein durch Generation 
sich forterhaltendes organisches Leben und allmähliche 
Entwicklung und Fortbildung, sowie einen zusammen- 
hängenden, pragmatisch bestimmten Geschichtsverlauf der 
Menschheit zu begründen.^) Der Fi chte'sche Ideahsmus 
wiederum ist so geartet, dass zwar die geistige Kraft, 
die schöpferische Potenz des Geistes zur Geltung kommt, 
dagegen die reale Welt, sowie die Vielheit und Individu- 
alität der persönlichen Wesen unerklärt bleibt. Nach 
Hegel's Princip, der logischen Idee, Hesse sich zwar 
allenfalls das Logische, Rationale des Daseins ableiten, 
wenn dem Logischen überhaupt bewegende , bildende 



^) S. m. Sehr. Ueber die Bedeutung der Einbildungs- 
kraft in der Philosophie Kant's und Spinoza's. Mün- 
chen 1879. 

^) S. m. Sehr. Monaden und Weltphantasie. Mün- 
chen 1879. 
Frohschammer, Die Philosophie. 6 



82 V. Das System der Philosophie. 

(nicht blos leitende) Macht zukäme, dagegen das Un- 
logische, Irrationale in der Welt, wenigstens in der Mensch- 
heit bleibt daraus unerklärlich. Umgekehrt Hesse sich 
aus dem von Schopenhauer als Princip und Wesen des 
Daseins geltend gemachten blinden Willen wohl das Un- 
vernünftige , Irrationale erklären , nicht aber auch das 
Logische und Vernünftige. — Sind diese verschiedenen 
Principien, aus denen allgemeine, systematische Welter- 
klärungen versucht wurden, nun auch für sich einseitig 
und ungenügend, so sind sie darum noch nicht un- 
bedingt falsch, sondern entsprechen irgend einem Mo- 
mente oder einer Seite des Daseins, die eben dadurch 
um so eindringender und gründlicher erforscht wurde. 
Und sie widersprechen sich nicht gegenseitig unbedingt, 
bilden nicht in der Weise Gegensätze, dass sie sich 
gegenseitig aufheben, sondern ergänzen sich und tragen 
dazu bei, dass immer mehr ein umfassendes, allseitig ge- 
nügendes Princip ermöglicht wird. Es ist daher unrichtig, 
was doch so oft von Feinden und Verkleinerern der Philo- 
sophie behauptet wird, dass immer ein System das Gegen- 
theil des andern sei, eines immer das andere vernichte^) 
oder aufhebe, und von allen schliesslich nichts übrig 
bleibe, was haltbar und gesichert erscheine u. dgl. Viel- 
mehr ergänzen sich die Systeme gegenseitig und tragen 
insgesammt mehr oder minder zur Entwicklung der Ge- 
sammtphilosophie bei, wenn auch jedes die Alleinherr- 
schaft verliert und theilweise aufgehoben oder modificirt 
werden muss. Und wenn ein früheres System einige Zeit 
wie erstorben oder wirkungslos erscheint, so gewinnt es 
oft auf einmal wieder Leben und Wirkenskraft, wie diess 
z. B. bei Piatons Philosophie am Ausgang des Mittelalters 
oder bei der Philosophie Spinoza's zu Ende des vorigen 
Jahrhunderts der Fall war. 



^) S. hierüber: Athen aeum, Philosoph. Zeitschrift, herausg. v. 
J. Frohschamnier. II. Bd. (Jahrg. 1863) S. 419 ff. 



V. Das System der Philosophie. 83 

Wir haben versucht, ein Grundprincip des Weltpro- 
cesses und dessen philosophischer, systematischer Erklä- 
rung geltend zu machen, das, wie uns scheint, vielseitiger 
und fruchtbarer ist, als die bisher aufgestellten und gel- 
tend gemachten Principien. Ein Grundprincip, das wir 
als Phantasie bezeichnen d. h. das in seinem Wesen 
und seiner Thätigkeit am richtigsten aufgefasst wird, wenn 
es in Wesen und Wirksamkeit wie jene Geisteskraft ge- 
dacht wird , die wir als subjective Phantasie bezeichnen. 
Diese bethätigt sich als sinnlich-geistige Wirkensmacht, 
vereinigt das sinnhche und geistige Gebiet, so dass in 
diesem so aufgefassten Weltprincip die Wurzel zugleich 
des Sinnlichen und Geistigen gegeben ist, und nicht blos 
das Eine oder das Andere daraus abgeleitet werden kann. 
Schon die subjective Phantasie bildet das Sinnliche 
nach Raum und Zeit psychisch nach, macht das Aeusser- 
Hche gewissermassen innerhch und geistig, sowie sie um- 
gekehrt das Geistige versinnlicht und dadurch äusserhch 
offenbart, wie sich diess besonders in der Sprache zeigt. ^) 
Insofern ist also in der Phantasie ein Einheitsprincip ge- 
funden für Sinnlichkeit und Geistigkeit zwischen den 
Extremen: Idealismus und Realismus (MateriaHsmus). 
Ebenso aber auch ein Einheitsprincip für die Vielheit und 
Verschiedenheit der Dinge oder individuellen Wesen in 
beiden Gebieten. Insofern die Phantasie als objective, 
realwirkende Potenz in der Generationsmacht sich bethätigt, 
ist sie eine Einheit, die zugleich eine Vielheit bildet oder 
gewissermassen schöpferisch setzt, wie andrerseits die sub- 
jective Phantasie, obwohl einheitHch und individuell, sich 
unerschöpflich an mannichfaltigen Gestaltungen erweist.^) 

^) Die PhaDtasie als Grundprincip. S. 25 ff. Die Ge- 
nesis der Menschheit. S. 455 ff. 

' Auch dass der Naturprocess sich methodisch als Coincidentia 
oppositorum erweise, ist damit nicht ausgeschlossen, wie ja gerade 
die einheitliche Generationsmacht selbst sich in den Gegensatz der 

6* 



84 V". Das System der Philosophie. 

Dadurch differenzirt sich die objective Phantasie zugleich 
in einem unermessHchen Entwicklungsprocess in all' die 
vielen und verschiedenen Arten im Pflanzen- wie im Thier- 
reiche und erweist sich als das höhere, gesetzmässig wie 
teleologisch wirkende Moment in der Descendenz, in der 
Entwicklung und Höhergestaltung der Individuen zu 
immer vollkommnerer Individualität. EndUch auch als 
Macht der psychischen und geistigen Concentration und 
Organisation, aus welcher selbst wieder die verschiedenen 
geistigen Kräfte sich difFerenziren, wie die geistige Natur 
des Menschen sie kundgibt und bethätigt. Wie die sub- 
jective Phantasie, obwohl sie psychisch ist, doch im Be- 
w^usstsein sinnliche Formen schafft, so bildet die objective 
Phantasie, obwohl zuerst äusserlich und real wirkend doch 
allmählich im grossen Entwicklungsprozess der Natur zu- 
letzt das Psychische und Geistige. — Durch die Phan- 
tasie als Grund princip kommt zugleich auch jenes Mo- 
ment der Freiheit zur Anerkennung, das auch in der 
Natur trotz aller Nothwendigkeit und Gesetzmässigkeit 
sich bemerklich macht schon in der Mannichfaltigkeit 
teleologischer, organischer Bildungen, besonders aber in der 
psychischen Bethätigung der Thiere. Ein Moment der Frei- 
heit oder Selbstbestimmung, das um so mehr auch in der 
Natur schon als vorhanden anerkannt werden muss, wenn 
man einmal doch anerkannte, dass auch die Menschen- 
natur, der menschliche Geist selbst aus dem unendlichen 
Naturprocess "hervorgegangen ist mit all' seinen Eigen- 
schaften und Kräften, unter welchen die Fähigkeit der 
wenn auch nur relativen Willens-Freiheit oder Selbstbe- 
stimmung eine so hervorragende Stelle einnimmt. Das 
philosophische System, für welches die Phantasie, als objec- 
tive und subjective, zugleich als Princip des realen Processes 
und der Erkenntniss geltend gemacht wird — in Verbindung 

Geschlechter differenzirt und erst durch Zusammenwirken beider 
fruchtbar wird und gleichsam schöpferisch wirkt. 



V. Das System der Philosophie. 85 

mit den Grundgesetzen des Seins und Denkens als festem 
Fundament, sowie mit den Ideen als Realisirungszielen für 
die realen Gestaltungen und als Kriterien der idealen Be- 
urtheilung derselben, — dieses System kann als Idealis- 
mus bezeichnet werden. Und zwar als Idealismus in 
mehrfachem Sinne: Zunächst in metaphysischem Sinne, 
insoferne als Princip des Werdens nicht ein Stoffliches, 
blos materiell Aeusserliches geltend gemacht wird, wie 
bei dem MateriaHsmus , sondern ein geistiges oder sinn- 
lich-geistiges Princip, wie die Phantasie diess ist. Dann 
in dem Sinne, dass dieses Grundprincip das Moment des 
Teleologischen und Idealen in sich enthält, das sich Reali- 
sirung erringen soll im Sein wie im Erkennen ; da es sich, 
ausser der genetischen Erklärung aus diesem Princip, haupt- 
sächlich um Erkenntniss der Wahrheit im Sinne von 
Idealität handelt, — wie diess oben näher erörtert wurde. 
Endlich Idealismus auch im erkenntnisstheoretischen 
Sinne, insofern dabei die Erkenntniss nicht blos aus der 
Erfahrung aufgenommen und dann nur geordnet werden 
soll, sondern dem Geiste selbst in der Phantasie eine ge- 
wisse Schaffens- oder Gestaltungsmacht zuerkannt wird, — 
was sich ja sogar schon in der Sinnes Wahrnehmung kund 
gibt, bei welcher das äussere, erfahrbare Material durch 
die Sinnes-Organe und die Phantasie schon eine gewisse 
Umgestaltung (z. B. in Farben, Töne) erfährt. Mehr noch 
aber macht sich dieses dem Geiste selbst immanente, ge- 
wissermassen apriorische Moment in der idealen Auffassung 
der Dinge bemerklich, so dass ein wesentliches Moment der 
philosophischen Erkenntniss aus dem Geiste selbst stammt. 
Allerdings ist damit nicht der extreme erkenntnisstheoretische 
Idealismus, der alles Erkennen aus der Erkenntnisskraft oder 
Natur des Geistes selbst stammen lässt, geltend gemacht, 
den wir vielmehr nicht anzuerkennen vermögen, weil er 
einseitig und ungenügend^) ist; aber es ist auch das andere, 

^) Der erkenntnisstheoretische Idealismus pflegt für sich die ver- 



86 V^ Das System der Philosophie. 

das erapiristische Extrem abgewiesen und insofern ist dem 
berechtigten Idealismus auch in dieser Beziehung Rech- 
nung getragen. 

Wir sind sonach der Ueberzeugung, dass die Philo- 
sophie auch fernerhin, wie bisher als Hauptaufgabe diess 
zu betrachten habe, durch ein System eine umfassende, 
einheitliche Weltauffassung anzustreben. Durch ein System 
allerdings, das nicht auf Absolutheit oder unbedingte Vol- 
lendung Anspruch macht, sondern das, obwohl jederzeit 

ineintliehe Thatsache anzuführen, dass wir auch bei unsern Sinnes- 
wahrnehmungen nicht die Dinge selbst erfahren, sondern nur 
Affectionen und Erregungen unserer Sinne und des Gehirns. In 
Wirklichkeit aber verhält sich die Sache ganz anders : Von unsern 
Sinnes- Affectionen erfahren wir durchaus nichts, ausser w^enn sie 
abnorm oder krankhaft sind. Was wir erfahren, sind vielmehr 
thatsächlich nur die Gegenstände oder Bewegungen , die auf die 
Sinne wirken und sich ihnen kund geben, und zwar nicht blos als 
Material einer beliebigen Gestaltung oder willkürlichen Umwand- 
lung, sondern in einer gewissen massgebenden Weise, so dass nicht 
blos vom Bewusstseins-Subjecte abhängig ist, was und wie etwas 
wahrgenommen wird, sondern auch — und hauptsächlich vom Ob- 
jecte, das wahrgenommen wird. Nicht das Ohr oder der Hörende 
ist es, der die Symphonie, die er vernimmt, produzirt, sondern er 
reproduzirt sie nur und geniesst sie durch Vermittlung des Ohr's, 
das die Schöpfung des Componisten vernimmt durch die eigen- 
thümlichen Luftbewegungen, welche die Instrumente hervorbringen. 
Der Hörer hat es also nicht blos mit seinen Gehörs- und Gehirn- 
Affectionen oder Erregungen zu thun, sondern mit dem Werke des 
Componisten , das ausser ihm besteht als Object und durch Ohr 
und Seele allerdings nicht blos wie durch ein Gefäss aufgenommen, 
sondern nachgebildet wird. Die Sinne, so lange sie gesund sind, 
wirken wie gute musikalische Instrumente, die nur die Töne und 
deren harmonische V^erhältnisse rein zur Offenbarug bringen, nicht 
aber sich selbst bemerklich machen durch allerlei störendes Neben- 
geräusch. P>8t durch spezielle Beobachtung und Reflexion wird 
ihre besondere Einrichtung, Erregung und Thätigkeitsweise erkannt, 
wobei es sich aber nur um die Mittel und Weisen handelt, wo- 
durch die Sinne ihre Functionen üben, nicht um die Leistungen 
dieser selbst. 



V, Das System der Philosophie. 87 

iii sich einheitlich abgeschlossen, doch der Fortbildung, 
der beständigen Entwicklung fähig ist, so dass es sich 
nicht um Aufstellung starrer Formeln handelt, sondern 
um fortschreitende Erkenntniss ebenso des realen und 
idealen Processes, wie um vollkommnere Erfassung und 
Entwicklung des Erkenn tnissprincips selbst; wie ja auch 
das Princip als reales immer neue Bildungen schafft 
und zugleich sich selbst immer mehr gewinnt, erhöht 
und vollendet. Mit einem blos aphoristischen, auf Ge- 
rathewohl gestellten Philosophiren ist weder der Wissen- 
schaft noch dem Leben viel gedient, da nur Bruchstücke 
dabei zu erreichen sind, die von Verschiedenen verschieden 
aufgefasst und verwerthet werden können. Mit blosser 
Reflexion und logischen Operationen ist das geistige Leben 
nicht zum Fortschritt zu bringen, da es stets auf die 
Principien, die Prämissen ankommt, die angenommen und 
zur Geltung gebracht werden; daher durch dieselben lo- 
gischen Geistesthätigkeiten die verschiedensten Religions- 
systeme und positiven, vernünftigen oder unvernünftigen 
Aufstellungen scheinbar begründet, entwickelt, mit dem 
Schein von Wissenschaft umgeben werden können. Ein 
einheitliches Princip, das zum System entwickelt wird 
kann sehr fruchtbar werden und wird stets Veranlassung, 
dass die Dinge unter neuen Gesichtspunkten betrachtet 
schärfer erforscht und in ihrer Bedeutung und ihrem all 
gemeinen Zusammenhange geprüft und erkannt werden 
Selbst auch in der Naturwissenschaft wurden die bedeu 
tendsten Fortschritte für die gesammte Auffassung nicht 
durch isolirte Detailuntersuchungen gemacht, sondern erst 
durch allgemeine Principien, wenn sie zunächst auch nur 
als Hypothesen aufgestellt wurden, kam stets grosse 
fruchtbare Bewegung und weiterer Fortschritt in dieselbe. 
So z. B. durch des Copernikus astronomische Neuerung, 
durch Newtons Gravitationsgesetz, neuestens durch Dar- 
wins Hypothese von der Entstehung der Arten durch 



SS VI. Ewige Wahrheit (Gnmdgesetzlichkeit) als Fundament 

die natürliche Auslese, welche auf die ganze Auffassung 
der organischen Natur und ihrer Entwicklung einen so 
grossen, befruchtenden Einfluss übte und dadurch förder- 
licher wirkte, als alle gewöhnlichen Detailforschungen, die 
isolirt blieben und sich in beschränktem Kreise bewegten. 
In der Philosophie ist es nicht anders. Selbst die iso- 
lirten, fragmentarischen Untersuchungen erhalten erst Be- 
deutung und Bewährung, wenn sie in ein grosses Ganzes 
aufgenommen und in demselben verwendet werden. Diess 
gilt auch von den einzelneu philosophischen Disciplinen, 
die nicht isolirt richtig ausgebildet werden können, soweit 
sie wirkUch philosophisch sein wollen, nicht blos empi- 
rische oder historische Material Sammlungen sind, versetzt 
etwa mit mehr oder minder richtigen Reflexionen, die 
selbst nur dann wirkliche Bedeutung erhalten, wenn sie 
auf tiefere, allgemeinere Principien sich zurückführen lassen. 



VI. 

Ewige Wahrheit (GrundgesetzHchkeit) als 

Fundament des rationalen und idealen Seins 

(Werdens) und Denkens. 

Die Grundgesetze, wodurch alles Sein und Denken 
als ein rationales begründet ist, wodurch aller causale 
Zusammenhang der Dinge und alle Möglichkeit begrün- 
deter Erkenntniss grundgelegt ist, sowie die Unterscheidung 
und Beurtheilung derselben stattfinden kann, — diese Grund- 
gesetze kommen zwar zunächst im Erkennen und für das 
menschliche Denken zum Bewusstsein und zu näherer Er- 



des rationalen und idealen Seins (Werdens) und Denkens. 89 

kenntniss, aber sie sitid der Sache nach schon vor diesen 
vorhanden und wirksam. Dadurch eben wird die Er- 
kenntniss der Dinge selbst erst möglich, dass diese in 
ihrem Sein und Wirken, in ihrem Zusammenhang wie 
in ihrer Trennung derselben Gesetze, derselben Art von 
Rationalität theilhaftig sind, wie das Denken; dass also 
eine Correspondenz zwischen dem realen objectiven Sein 
und dem formalen subjectiven Denken stattfindet. Inso- 
fern diese Gesetze die Wahrheit d. h. das Richtig- oder 
Rechtsein, die Rationalität alles Seins und realen Geschehens 
wie Denkens begründen, kann man sie als ewige Wahr- 
heit bezeichnen und als Fundament aller übrigen Wahr- 
heit d. h. der Dinge ihrer Wirkhchkeit und Idealität nach 
betrachten. 

Bekanntlich pflegen in der Logik drei Grundgesetze 
des Denkens unterschieden zu werden: das Gesetz der 
Identität und des Widerspruchs, das Gesetz des Grundes 
und der Folge und das Gesetz des ausgeschlossenen 
Dritten. Alle drei einfach und selbstverständUch, wie es 
bei Grundgesetzen des Denkens nicht anders mög- 
lich ist, die schon lange in aller geistigen Thätigkeit der 
Menschheit Anwendung fanden und stets noch finden, 
ohne dass man irgend eine bestimmte klare Erkenntniss 
davon hat. Sie sind gegeben, constituiren das rationale 
Wesen (den Verstand) des Menschengeistes selbst, sind die 
Grundbedingung, oder vielmehr die wirkende Ursache alles 
Denkens und Erkennens, und sind daher nicht erst durch 
Erkennen selbst erworben oder geworden. Auch ehe es 
noch einen rationalen Menschengeist gab, waren sie schon 
da als objective Gesetze des Daseins, welche dann allmäh- 
Uch im individuellen Menschengeiste durch Verbindung, 
gleichsam Vermählung der subjectiven Phantasie mit ihnen, 
eine subjective Existenz im individuellen Geiste erhielten 
und in der intellectuellen, bewussten Thätigkeit Anwendung 
fanden. Sie sind also nicht vom Intellecte erst erworben, etwa 



90 VI. Ewige Wahrheit (GrundgeaetzHchkeit) als Fundament 

durch Erfahrung, sondern sie gewannen alhnählich Exi- 
stenz in einem subjectiven Geiste und constituiren dessen 
reine Rationalität, durch welche er AVesen und gesetz- 
mässiges Wirken der Welt zu erkennen, für das Bewusst- 
sein zu reproduciren vermag. Die Gesetze, die also zunächst 
für das Denken sich bethätigen, dasselbe ermöglichen und 
leiten, gelten daher auch für das Sein, mit den Modifi- 
kationen, welche die Eigen thümlichkeit von beiden be- 
dingen. Diess ist ja allenthalben der Fall bei dem ge- 
setzmässigen objectiven Geschehen und der subjectiven 
rationalen Nachbildung oder dem Begreifen davon ; so dass 
z. B. das Gesetz des Falles als solches zwar nicht im 
Geiste sich bethätigen kann, aber in diesem eine begründete 
Einsicht stattfindet, warum es gerade so und nicht anders 
ist und sein kann ; daher insofern das thatsächliche gesetz- 
liche, nothwendige Geschehen dem rationalen Begreifen 
entspricht, beides sich gegenseitig correspondirt. Diess 
ist die mögliche Identität von Sein und Denken, nicht 
eine volle sachUche Gleichheit von beiden. Diese Iden- 
tität ist in der That auch in der Natur der Sache be- 
gründet, und zwar bei jeder Art der Auffassung von Sinn- 
lichkeit und Geist, mit Ausnahme etwa jenes Dualismus, 
dem das Sinnliche als solches schon das Irrationale und 
Böse ist, und der Leib nur ein Kerker des Geistes, — 
obwohl auch da gewöhnheh noch ein Zweck mit der 
Verbindung beider erreicht werden soll, und zwar ein 
vernünftiger, die Läuterung des Geistes nämfich. Bei dem 
gewöhnfichen Dualismus aber, mag er als ein ewig be- 
stehender oder als von einer übernatürlichen Schöpfer- 
macht angeordneter oder geschaffener betrachtet werden, 
ist kein Grund vorhanden zu ehier Wesens- und Wirkens- 
Disharmonie, w^enn nicht das Wesen des Daseins als ein 
ewig irrationales oder von einer bösartigen Schöpfermacht 
gebildetes angenommen werden soll. Bei dem Monismus 
dagegen, bei welchem entweder der Geist aus der Materie 



des rationalen und idealen Seins (Werdens) und Denkens. 91 

oder diese aus dem Geiste oder beide aus einem Dritten stam- 
mend betrachtet werden, ist allgemeine Harmonie zwischen 
beiden in Gesetz und Wesen, wenn auch nicht durchaus in 
der Erscheinung, selbstverständlich. Bei unserm Princip 
des Weltprocesses in Natur und Geschichte, der Phantasie, 
ist die in Frage stehende Identität der realen und formalen 
Gesetze bedingt schon durch die Natur des Princips selbst, 
das ein sinnlich-geistiges ist und fortdauernd Sinnliches 
vergeistigt, wie Geistiges versinnlicht und offenbart.^) So 
ist selbstverständlich, dass auch die Gesetze sich gegen- 
seitig correspondiren und insofern identisch sind, da sonst 
die realen Gesetze dem Geiste nicht als rationale Formen 
und Gesetze des Denkens eingebildet werden könnten, 
und umgekehrt die rationale Thätigkeit des Geistes nicht 
sich selbst in dem grundgesetzlichen Geschehen der Natur 
wiederfinden könnte, — wie diess die thatsächliche Er- 
kenntniss der Natur in ihren allgemeinen Gesetzen zeigt. 
Das Gesetz der Identität und des Widerspruchs gilt 
zunächst für das Denken, und bestimmt, dass jeder Ge- 
danke mit sich selbst übereinstimmen, in sich selbst 
identisch sein müsse, demnach keinen Widerspruch ent- 
halten dürfe; dass also im Denken Identität zu bewahren, 
Widerspruch mit sich selbst zu vermeiden sei. Auf das 
Sein angewendet sagt das Gesetz aus, dass das Seiende sich 
selbst gleich sei , also in seinem realen Wesen das 
Gesetz der Identität realisire (unbedingt das Substantielle, 
relativ das Accidentelle) und dadurch an der Rationalität 
theilnehme, diese verwirkliche, nicht als seiend wesenhaft 
irrational sein könne; daher man wohl richtig sagen 
kann : Verum est id quod est. Negativ gewendet sagt 
das Gesetz, dass das Seiende nicht der Gegensatz seiner 
selbst sein, sich nicht selbst aufheben könne. Das Gesetz 
gilt also für Bejahung und Verneinung, für Sein und 

^) Phantasie als Grundprinci p. S. 25 ff, 484 fi'. Mo- 
naden und Weltphantasie. S. 58 ff. 



92 VI. P^vvige Wahrheit (Grundgesetzlichkeit) als Fundament. 

Nichtsein. In Bezug auf das Verhältiiiss zwischen Denken 
und Sein bestimmt das Gesetz, dass das Seiende im 
Denken als seiend gesetzt werde, das Nichtseiende als 
nichtseiend ; und dass nicht das Nichtseiende als seiend, 
das Seiende als nichtseiend gesetzt werde (in Thesis). 
Ebenso das Uebereinstimmende als übereinstimmend, das 
Nichtübereinstimmende als nichtübereinstimmend; nicht 
aber das Nichtübereinstimmende als übereinstimmend, das 
Uebereinstimmende als nichtübereinstimmend (in Syn- 
thesis). Das Gesetz gilt also für Thesis und Synthesis 
im Denken sowie lür Sein und BeschafFensein in der 
Realität, im Objecte; gilt demnach nicht blos für das 
eigentliche Urtheilen innerhalb des Bewusstseins, sondern 
auch für das Aufnehmen in das Bewusstsein. Und zwar 
ist das Gesetz nach beiden Seiten geltend zu machen, 
als Gesetz der Identität und des Widerspruchs; denn in 
der einen Beziehung geschieht alle Bejahung, in der andern 
alle Verneinung. Ohne Gesetz der Identität käme es zu 
keiner Bejahung, sondern wäre allenfalls nur Verneinung 
möglich, ohne Gesetz des Widerspruchs zu keiner Ver- 
neinung, sondern wäre nur Bejahung möglich; in beiden 
Fällen könnte es nicht zu eigentHchem Urtheilen kom- 
men. Durch das Gesetz der Identität nimmt der Men- 
schengeist resp. das Denken, sowie das Sein Theil an der 
ewigen, unveränderlichen Natur des Seins an sich, des 
absoluten Seins, an der ewigen Rationalität, dem Recht- 
sein desselben, oder an der ewigen Wahrheit; durch das 
Gesetz des Widerspruchs vermag dagegen der denkende 
Geist einerseits diese Identität festzuhalten und den Ge- 
gensatz davon abzuwehren, andrerseits aber mit seinem 
Denken in die Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit des 
getheilten, endhchen Dasehis einzugehen, zu unterscheiden 
und zu urtheilen. Der Widerspruch, die Verneinung ist 
aber im Denken nur möglich durch die subjective Phan- 
tasie, welche das Nichtsein, die Negation für das Denken 



des rationalen und idealen Seins (Werdens) und Denkens. 93 

bildet und ihm die im Denken wirksame Macht der Auf- 
hebung des bejahten Seins verleiht. Im realen Sein ist 
die Vielheit und Verschiedenheit oder Gegensätzlichkeit 
durch objective Phantasie d. h. durch Theilung und Ge- 
staltung oder Schaffung (Zeugung) der Dinge in ihrer 
Vielheit und Eigenart gegeben, nicht etwa durch das 
Nichtsein oder Nichts;^) denn dieses vermag der Einheit 
gegenüber nichts zu wirken; vermag weder Theilung im 
Räume und Gestaltung hervorzubringen, noch Erzeugung 
und Abfolge endhcher Wesen in der Zeit zu wirken. Das 
Nichts kann nicht wirken, und mit Sein in Verbindung 
gebracht wird nicht etwa Werden oder Endlichkeit die 
Folge sein, sondern es wird eben nichts geschehen und 
Alles unverändert bleiben. Für den Geist, den Ver- 
stand ist das Gesetz der Identität der feste Punkt, auf 
dem stehend er nicht blos das Beharrende, Unveränder- 
liche zu erfassen und zu erkennen vermag, sondern auch 
die Veränderung, die Bewegung des Werdens selbst wahr- 
nimmt; denn ohne solchen Punkt würde der Geist, selbst 
ganz aufgenommen in diesen real-dialektischen Strom 
des Werdens, und gleichsam fortgerissen von demselben, 
sogar nicht enimal die Veränderung wahrzunehmen ver- 
mögen. Die Begriffe, in welche das ,, Werdende, das ewig 
wirkt und lebt in dauernde Gedanken befestigt wird," 
sind eben nur dadurch mögUch, dass das Identische er- 
fasst und dem Flusse des Werdens entnommen wird durch 
die Kraft des Geistes nach dem Gesetze der Identität, 
und dass dadurch bestimmte Behauptungen möglich werden, 
nicht blos wechselnde, mit der Veränderung der Dinge 



^) Auch für die Auffassung der ethischen Aufgabe des Men- 
schen ist diess von Wichtigkeit, dass das endhche Individuelle und 
Persönliche das Produkt einer positiven Kraft, und also als solches 
selbst positiven Wesens ist; denn nun kann nicht Entselbstung, 
Vernichtung der Individuahtät oder Persönlichkeit höchste Aufgabe 
sein, sondern Fortbildung. 



94 VI, Ewige Wahrheit (Grundgesetzlichkeit als Fundament 

selbst immer sich ändernde Meinungen. Es sind daher 
positive Bestimmungen für das Denken möglich, nicht 
blos negative, wie eine Dialektik will , die selbst in den 
Strom des Werdens eingetaucht, diesen blos nachbilden 
kann, ohne feste Begriffe zu gewinnen. Die Identität da- 
gegen ist im letzten Grunde, objectiv und real betrachtet 
das Ewige, Nothvvendige, das allem Werden und aller 
Erscheinung zu Grunde liegt und das wir als solches nur 
dadurch zu denken vermögen, dass wir die Identität als 
Denkgesetz in unserm Bewusstsein erfahren und dadurch 
als feste Basis auch des objectiven allgemeinen Seins und 
Werdens, wie als rationales Moment des einzelnen Seien- 
den und Soseienden begreifen. 

Das Gesetz des Grundes und der Folge, das objectiv 
und real als CausaHtät erscheint, bedeutet für das Denken 
zunächst, dass jeder Gedanke einen Grund (ratio) haben 
müsse, dass man nicht grundlos, nicht willkürlich, oder 
blindlings denken dürfe. Im realen Gebiete aber ver- 
langt es, dass jede Veränderung, jedes Werden oder Ge- 
schehen eine Ursache habe; dass ohne Ursache nichts 
sich ändert, nichts geschieht, nichts entsteht noch ver- 
geht, (Aus Nichts wird Nichts). Dadurch ist insbeson- 
dere die Rationalität alles Denkens bedingt, alles Setzens 
wie alles Verbindens im Denken. Und ebenso ist die 
Natur damit bezeichnet als ein Gebiet gesetzmässigen Zu- 
sammenhanges und rationalen Geschehens, so dass blindes, 
chaotisches Sein, wie irrationales, ursachloses Geschehen 
davon ausgeschlossen ist. — Der Grund dieses Gesetzes liegt 
in ihm selbst und gibt sich kund in der inneren Noth- 
wendigkeit des Denkens, die indess keine finstere oder 
blinde, sondern eine lichte, einleuchtende ist, in der un- 
mittelbaren Evidenz der Sache besteht. Einer Verstandes- 
Evidenz, die wiederum nur ein subjectiver Abglanz der 
allgemeinen Rationahtät des Daseins ist, sowie der 
Wahrhaftigkeit unseres geistigen Wesens, da es gegen 



des rationalen und idealen Seins (Werdens) und Denkens. 95 

Willkür und Blindheit des Denkens und Urtheilens eben 
durch dieses Gesetz geschützt werden kann. Zur Aus- 
führung desselben liegt der Drang in der Natur des 
Geistes, in dessen intellectueller Kraft selber, die ja in 
der Phantasie ein schöpferisches Moment in sich birgt 
und diese Fähigkeit auch im Denken nicht mit Nichts 
bethätigen kann, sondern auch da imr aus einem hin- 
reichenden Grund , der gleichsam den Keim oder die 
formale Triebkraft des neuen Gedankens in sich enthält, 
zu schaffen vermag. — Dass auch im objectiven Dasein 
wirkliche Ursächlichkeit gegeben ist, ein wirkliches propter 
hoc, nicht blos ein cum hoc oder post hoc, wie die ex- 
tremen Empiristen und Skeptiker wollen, kann schon sub- 
jectiv aus der leiblichen wie geistigen Thätigkeit des 
Menschen erkannt werden. Und nicht blos im sittlichen 
Thun erfährt die menschliche Persönlichkeit sich selbst 
als die wirkliche Ursache von Gesinnungen, Willensakten 
und Handlungen, sondern ebenso im intellectuellen Schaffen. 
Vor Allem aber offenbart sich ihm seine wirklich schöpfe- 
rische, verursachende, bildende Macht in seiner Phantasie- 
thätigkeit, — die ja mehr oder minder in allen geistigen 
Functionen sich findet. Ist aber in Einem Subjecte wirk- 
liche causale Bethätigung anzuerkennen, dann auch in 
andern und damit fällt die Berechtigung weg, die Möglich- 
keit oder Wirklichkeit der Causalität im realen, objectiven 
Dasein in Abrede zu stellen. Beruht doch darauf alle mora- 
lische Verantwortlichkeit, und sind alle sittlichen und recht- 
lichen Verhältnisse, wie von Eltern und Kindern, Künstlern 
und Kunstwerken, Vernunft und Gedanken u. s. w. 
darin begründet! — Dass das Causalgesetz wesentlich in 
der rationalen Natur des Geistes und in der Natur selbst 
begründet sei, zeigt sich entschieden darin, dass nur ein- 
mal erkannt, eingesehen zu werden braucht, dass jede Ver- 
änderung, jedes Geschehen eine Ursache haben müsse, 
dass ohne Ursache nichts geschehe, nichts sich ändere, — 



96 VI. Ewige Wahrheit (Grundgesetzlichkeit) als Fundament 

um dieses nicht mehr nicht denken und nicht mehr 
anders denken zu können. Klarer noch tritt diess in der 
negativen Form hervor: Aus Nichts wird nichts, oder 
Nichts kann nichts wirken oder hervorbringen. Und in 
der That, das Werden ist, wie schon oben angedeutet, 
nicht etwa die Verbindung von Sein und Nichtsein oder 
Nichts, denn wenn Nichts sich mit Etwas verbindet, so 
entsteht nicht ein Werden, sondern Alles bleibt unver- 
ändert, da das Nichts eben nicht zu wirken vermag, und 
nur ein Sein und zwar eine wirkliche, existirende Kraft 
oder Bewegung Veränderungen oder Wirkungen hervor- 
bringen kann. Durch dieses dem Geiste immanente Ge- 
setz ist es daher auch möglich, über die Erfahrung hinaus- 
zudenken — allerdings nur auf Grundlage eines Gegebenen, 
Erfahrbaren. Denn wo immer ein Geschehen, ein Ent- 
standenes, eine Wirkung wahrgenommen wird, da ist un- 
umstösslich gewiss, dass dafür auch eine Ursache existiren 
müsse. Welches diese Ursache thatsächlich sei, kann 
freilich nur durch Erfahrung, Beobachtung erkannt werden, 
aber die erkannte Nothwendigkeit eines Causalverhält- 
nisses ist doch die Veranlassung der Forschung nach der 
Ursache und die Führerin der Beobachtung, wodurch der 
ganze, unermessliche Geistesbau der Wissenschaft allmäh- 
lich aufgeführt werden konnte. Dass übrigens das Ge- 
setz für das Denken eine Modifikation erfährt und mit 
einer gewissen Selbstständigkeit und Freiheit der geistigen 
Natur gemäss angewendet werden kann, zeigt sich sehr klar 
darin, dass Sachgrund oder Ursache (causa) und Denkgrund 
(ratio) nicht noth wendig zusammenfallen, sondern das 
Verhältniss sich häufig, ja gewöhnlich umkehrt und die 
sachHche Wirkung für das Denken zum Grund wird. 
Es beruht eben hierauf hauptsächlich der Fortschritt im 
Wissen. 

Das Gesetz des ausgesclilossenen Dritten bestimmt, 
dass jeder Gedanke entweder eine Bejahung oder V^er- 



des rationalen und idealen Heins (Werdens) und Denkens. 97 

neinung sein müsse und ein Mittleres zwischen beiden 
nicht stattfinden könne. Es ist dieses Gesetz für das 
Denken eigentHch nur die Verbindung der beiden vorigen, 
indem es verlangt, dass, sobald ein Grund dazu eintritt, 
das Gesetz der Identität und des Widerspruchs durch 
Bejahung oder Verneinung realisirt werden muss. Im 
strengen Sinne kann dieses Gesetz nur im Denken durch- 
geführt werden, im begrifflichen Fixiren und bei dem 
contradictorischen Gegensatz, da in der Wirklichheit aller- 
dings die Gegensätze in der mannichfaltigsten Weise sich 
mischen, in einander wirken und dem Nichtsein jedes 
Dinges dem andern gegenüber stets ein positives, reales 
Sein zu Grunde liegt. Die formale Logik scheidet sich 
hier von der realen Dialektik; diese aber vermag im 
Denken nicht adäquat nachgebildet zu werden, sondern 
kann nur nach ihren beharrenden und wechselnden Wesen 
und Formen analysirt und so für das Denken in abstrac- 
ten Begriften fixirt werden. Für das Denken hat das 
Nichts als Negation allerdings grosse, gewissermassen reale 
Bedeutung, da ein Positives, eine Bejahung im Denken 
durch die Negation aufgehoben werden kann, — wenn 
auch freilich nur für das Denken. Das Positive in der 
Gegensätzlichkeit oder in dem Anderssein der endUchen 
Dinge und Gestaltungen kommt von einer positiven Macht, 
nicht vom Nichts. Kommt, wie schon erwähnt, von einer 
Kraftbethätigung, insbesondere von der objectiven wie 
der subjectiven Phantasie, wodurch Gestaltung, Endlich- 
keit und Vielheit der Dinge gesetzt, gebildet wird. 

Diese Grundgesetze also sind das Unbedingte, Un- 
veränderliche im Denken wie im Sein, sind das feste 
rationale Fundament alles Werdens und Geschehens, wo- 
durch das Dasein im Grunde ein rationales ist und daher 
auch ein rationaler und teleologischer Weltprocess statt- 
finden kann, der zur ReaHsirung der Ideen als endlichem 
Ziele alles Geschehens zu führen vermag. Es sind ewige, 
objectiv oder real bestehende Gesetze, die au sich sind, im 

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98 VI. Ewige Wahrheit (Grundgesetzlichkeit) als Fundament etc. 

menschlichen Geiste in subjectiver Form sich gestalten 
und dann durch Ausführung (Offenbarung) und Reflexion 
in das Bewusstsein treten. Sie sind nicht blos empi- 
risch entstanden, d. h. aus der Erfahrung abgezogen und 
von nur relativer Bedeutung, sondern sind absolut gültig 
in dieser uns bekannten und jeder andern möglichen 
Welt, da doch nur ein rationales, unbedingt Gesetzliches 
und Notbwendiges gelten kann. Die allgemeinen physi- 
kalischen, mechanisch wirkenden Bewegungskräfte oder 
-Gesetze, die Gravitation, die magnetische und electrische 
Kraft u. s. w. erweisen sich zwar als constant gleichförmig, 
gesetzlich-nothwendig wirkend in der Natur, aber sie kön- 
nen doch nicht als absolut gültig oder nothwendig für 
jede mögliche Welt, sondern nur für diese Welt gelten, 
wenn sie sein soll, wie sie eben ist; wenigstens vermögen 
wir die ewige, unbedingte Nothwendigkeit, das noth wen- 
dige ßegründetsein derselben in dem ewigen, unbedingten 
Grunde des Daseins nicht zu ergründen und zu begreifen. 
Dagegen die genannten Grundgesetze des Denkens (und 
Seins) müssen als unbedingt gültig, ewig nothwendig und 
absolut rational betrachtet werden, weil rationales Denken 
wie rationales Sein immer und ewig in jeder möglicher 
Daseinsform davon bedingt ist, — auch wenn es eine 
räumUche oder sinnliche Welt, wie die jetzige gar nicht 
gäbe, oder überhaupt keine phänomenale Welt. Aehn- 
Hches gilt auch von den Ideen der Vollkommenheit, die 
gleichfalls unbedingt, nicht blos relativ für diese Welt oder 
für diesen Theil der Welt, in dem wir uns befinden, als 
gültig angesehen werden müssen, wenn uns auch aller- 
dings ihr Wesen noch nicht so klar und durchsichtig 
offenbar ist, wie das der in Frage stehenden Grundge- 
setze. Der Weltprocess selbst aber, durch den auf Grund 
der ewigen Gesetze die Ideen realisirt und geoffenbart 
werden sollen, mag anders gedacht werden und anders 
sein können, obwohl in dieser Beziehung ein bescheidenes 
Ignoramus am Platze sein möchte.