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Full text of "Grundlehren der Religion : ein Leitfaden zu Vorlesungen aus der Religionslehre für akademische Jünglinge aus allen Fakultäten"

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| Johann Michael Sailers 
fammtlide Werke, 


unter Anleitung des Verfaffers 


* 


herausgegeben 


von 


4 Bidbmen, 
Domfapitular, und üpeafefe der Theolooie in Luzern. 
* — 8: 


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Tpeoogifche Abtheilung. 
Grundlehren der 23— 


Dritte, revidirte und vermcb Ausgabe. 


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Mit allergnãdigſten Privilegien der k. k. öfterreihifhen Staaten; der Königreihe: Bayern, Has 
nover, Würtemberg, Dänemark; des Großherzogthums Baden; des Kurfürftenthums Heilen; des , 
Großherzogthumgs Heilen; des Herzogthums Naflauz der "Großerzogthüiter : Medlenburg« 
Schwerin, Medlenburg « Strelig; der Herzogthümer: Oldendurg, Anhalt» Deffau, Anhalt » Bern 
burg, Anhalt» Eöthen; der Fürftenthümer: Schivarzburg « Rudolitadt, Schwarzburg - Sonders⸗ 
haufen, Hohenzollern ⸗ Hechingen, Hohenzollern - Sigmaringen, Reuß⸗ Greiz, Lippe» Detmold, 
Lippe » Shaumburg, Walded » Pyrmont; der Freien Städte: Frankfurt, Lübeck, Bremen, Ham⸗ 
burg; fo wie der freien Republit Schweiz ergangenen Berbofen gegen den Nahdrud 
und den Berfauf der Nahdrüde, 





7 ulzbach, 
in ber J. €. v. Seidelſchen Buchhandlung, 
1852 


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Grundlehren der Religion. 


Ein Leitfaden 
zu Vorleſungen aus der Religiondlehre 


für 


afademifche Sünglinge aus allen“ Fakultäten, 
* von 
Johann Mihael Sailer, 
unter Anleitung des Verfaſſers 


herausgegeben 


von 


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Domfapitular, und Profeſſor der Theologie in Luzern. 





Dritte, durchaus revidirte und vermehrte Auflage. 





Mit allergnädigſten Privilegien der k. k. öſterreichiſchen Staaten; der Königreiche: Bayern, Ha⸗ 
nover, Würtemberg, Daänemark; des Großherzogthums Baden; des Kurfürſtenthums Heſſen; des 
Großherzogthums Heſſen; des Herzogthums Naſſau; der Großherzogthümmer: Mecklenburg⸗ 
Schwerin, Medlenburg » Streliß; der Herzogthümer: Oldenburg, Anhalt» Deifan, Anhalt-Bern⸗ 
burg, Anhalt» Cothenz der Fürftenthiimer: Schwarjburg » Nudolftadt, Schwarjburg =» Sonderda 
Haufen, Hohenzollern » Hehingen, Hohenzollern «- Sigmaringen, Reuß « Greiz, Lippe = Detmofd, 
Rippe - Schaumburg, Waldek- Pyrmont; der freien Städte: Tranffurt, Lübeck, Bremen, Ham⸗ 
burg; fo wie der freien Republik Schweiz ergangenen Berboten gegen den Nachdruck 
und den Berfauf der Nachdrücke. 


———— ——— 
Sulz;bad, 
in der J. E. v. Seidelfhen Buchhandlung, 
852% 








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Wir Franz der Erfe, 


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Gottes Gnaden Kaifer von Defterreid, 


König zu Jeruſalem, zu Hungarn, Boͤheim, der Lombar- 


dey, und Venedig, zu Dalmatien, Kroazien, Slavonien, 


Galizien, Lodomerien, und Syrien, Erzherzog zu Oeſter— 
reich, Herzog zu Lothringen, Salzburg, Steyer, Kärnten, 
Krain, Dber und Nieder Schlefien, Gropfürft in Sieben— 
—J Markgraf in Maͤhren, gefuͤrſteter Graf zu 
Habsburg und Tyrol ꝛc. 


Bekennen öffentlich mittels dieſer Urkunde es habe Uns 


der Biſchof von Sailer zu Regensburg unterthaͤnigſt an⸗ 


gezeigt, daß er eine neue Auflage feiner ſaͤmmtlichen literari⸗ 


fchen Werke zu veranfalten gefonnen ſey; hierbey. aber einen ſei⸗ 


nen. großen Auslagen fehädlichen Nachdruck beforge, ‚zu veffen 


Verhütung er um die Verleihung eines Druckprivileginmg in Uns 


fern Staaten bittet. Da Wir nun den ausgezeichneten Werth 
feiner Erbauung befördernden und eben deßwegen von jeher, zur 
unbefchränften Verbreitung in Anfern Staaten zugelaffenen 
Schriften in gnaͤdigſte Erwägung gezogen haben und geneigt find, 
Sedermann die Früchte feiner Arbeit und Unkoͤſten genießen zu 
laſſen und im dent Genuße derfelben zu fchüsen, fo haben Wir 
Uns gnaͤdigſt entfchloffen, demfelben das angefuchte Druckprivi⸗ 
legium für ‚den ganzen Umfang Unferes Kaifer : Staates gegen 
dem zu ertheilen, daß der von Uns aufgeftellten Zenfur vorbehalten 
bleibe, gegen einzelne Bände oder gegen das ganze Werk felbft 


ungenchtet diefes Privilegiums nach dem Geifte Unferer allerhöche _ 


ken Anordnungen ‚vorzugehen. Unter diefer Befchranfung und 





©) Bon den auf den Titel angezeigten allerguãdioſt ertheilten Privilegien find zur Erſparung 
des Raumes und um den Preis nicht zu erhöhen, hier bloß gene wörtlid * 
vaabet, deren buchſtäblicher Abdruck aunsdeudfih dedingt wurde. 


Bedingniß ertheilen Wir dem Bifchofe von Sailer feinen 
Erben und Zeffionaren Fraft diefer Urkunde die Freiheit, die von 
ihm veranfiaitete neue Auflage feiner fammtlichen Werfe in dem 
ganzen Umfange der Defterreichifchen Monarchie ausfchliefend 
ausgeben und verkaufen zu laſſen. Wir verordnen demnach, daf 
Niemand ohne feine ausdrucliche Einwilligung die neue Auflage 
feiner fämmtlichen Werke weder unter diefem, noch unter einem 
anderen Titel nachdrucken, oder verkaufen folle, deffen fich dann 
Seder nicht nur bei Verluft der Eremplare und des hierzu vor: 
bereiteten Materials, welches alles zum Nutzen des Bifchofs 
von Sailer zu verfallen hat, fondern auch bei Unferer allerhoͤch⸗ 
ſten Ungnade und einer. Geld > Strafe von hundert Dufaten in 
Bold enthalten full, welche letztere in jedem Falle zu erlegen ſeyn, 
die eine Hälfte davon Unferem Aerarium, die andre aber dem 
Bifchof von Sailer oder feinen Erben und Zeffionaren zufallen, 
und unnachfichtlich durch das im Lande, wo die Mibertretung ges 
ſchehen iſt, aufgeſtellte Fiskalamt eingetrieben, dieſes Privilegium 
aber anderen zur Warnung dem Werke ſelbſt vorgedruckt werden 
fol. Das meinen Wir ernſtlich. Zur Urkund dieſes Briefes be: 
ſiegelt mit Unſerem Kaiſerlichen Koͤniglichen und Erzherzoglichen 
anhaͤngenden groͤßeren Inſiegel, der gegeben iſt in Unſerer Kaiſer⸗ 
lichen Haupt⸗ und Reſidenzſtadt Wien am neunzehnten Monats⸗ 
tage Jaͤnner nach Chriſti Geburt im Ein Tauſend acht Hundert 
und dreyſſigſten, Unſerer Reiche im acht und drepffigfien Sahre. 


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Franz Graf von Saurau, 
oberſter Kanzler. 


A. ©. Graf Mittrowſky von Nemiſchl. 


| Rad) Seiner Kaiferlihen Königlihen Maieftät 
Höchft: Eigenem Befehle 


—8* ER Wilhelm Freiherr von, Droſtdik. 


Regiſtrirt Vineenz von Eyßer, 
Regiſtraturs Direftor 
der k. f, vereinten Hofkanzley. 


Wir Frederik der Sechäte, - 
von 
Gottes Gnaden König zu Dänemark, 
der Wenden und Gothen, Herzog zu Schleswig, Holitein, 
Stormarn, der Dithmarfchen und zu — —— wie 
auch zu Oldenburg ꝛc. ꝛc. 


Thun kund hiemit, daß Wir, in Betracht der von dem 1 Er 
adjutor und Domprobften des Bisthums Regensburg, Bifchof zu 
Germanicopolis, geiftlichen Nath, Doktor von Sailer beabfich- 
tigten neuen Ausgabe feiner Werke, in welcher Rückficht derfelbe 
gegen den Nachdruck gefichert zu feyn wünfcht, gedachtem Doftor 
von Sailer ein Privilegium dahin allergnadigft ertheilen, daß 
die von ihm zu veranftaltende neue Ausgabe feiner Werke, welcher 
das Privilegium voran zu drucken if, in 20 Sahren, vom Tage 
der Austellung des Privilegit an gerechnet, in Unſern Hering: 
thuͤmern Holftein und Lauenburg weder nachgedruckt, noch ein 
anderswo verfaßter Nachdruck in den genannten Herzogthuͤmern 
davon verfauft werden folle, wobei Wir zugleich allergnädigft feſt⸗ 
fegen, daß alle bei dem Nachdrucker oder in den Buchhandlungen 
vorraͤthigen Exemplare des Nachdrucks eonfiseirt und außerdem die 
Eontravenienten gegen diefes Privilegium mit einer Geldbuße, 
welche dem Ladenpreife von 500 Eremplaren des — — 
gleich kommt, belegt werden ſollen. | 

Sollten übrigens über die Auslegung dieſe⸗ yeisifegi Zwei⸗ 
fel entſtehen, fo hat“ darüber in vorkommenden Fallen Unſere 
Schleswig: Holftein » £auenburgifche Kanzelei zu entfcheiden. 
| Wornach fich männiglich allerunterthanigft zu achten. Urkund⸗ 
lich unter unferm Königl. Handzeichen und vnrgedrucktem Inſiegel. 

Gegeben in Unferer Koͤnigl. Reſidenzſtadt Copenhagen, 
d. aten Juni 1829. | 


Srederih 





Rothe. Hammerich. Jenſen. Sanyheim. 


| * v. Pangen. 
Privilegium | 
für den Coadjutor und Domprobſten des Bisthums Megensburg, 
Bischof’ gu Germanicopolig, geiftlihen Rath, Doktor von Sailer 
gegen den Nachdruck einer neuen Ausgabe feiner Werfe in den 
Herzogthümern Holitein und Lauenburg. 


Wir Schulthbeiß und Rath 


der 


Stadt umd Republik Bern 


thun fund hiemit: 

Daß der Herr Sailer, Bifchof zu Negensburg, durch Die 
Königlich Bayerfche Gefandtfchaft bey der Schweizerifchen Eid: 
genoflenfchaft bey Uns mit dem Anfuchen eingelangt if, im Kan⸗ 
ton Bern gegen den Nachdruck der vorhabenden Herausgabe feiner 
fänmtlichen Werke fichergeftellt zu werden. Nach Unterfuchung 
diefes Begehrens und auf Anhörung des Berichts Unſers Juſtiz⸗ 
und Polizeyraths haben Wir 

beſchloſſen: 
) Der Nachdruck ſowohl der ſaͤmmtlichen Werke des Herrn 
Biſchofs Sailer als eines Theils derfelben ift in Unferm Gebiete 
verboten. 

2) Ebenſo ift auch verboten der DVerfauf eines allfälligen 
Nachdrucks ſowohl der gedachten fämmtlichen Werke als eines 
Theils derfelben. 

3). Die Widerhandlung foll mit Konfiskation des Nachdrucks 
und einer Buße von Franken 16 bis so beftraft werden. 

4) Hingegen ift Herr Sailer verpflichtet, zu Jedermanns 
Kenntniß eine Anzeige dieſes Privilegiums unmittelbar nach dem 
Titel feines Buches zu ſetzen und jährlich einmal in das hiefige 
Wochenblatt einrücen zu laſſen. 

Zur Bekraͤftigung dieſes Beſchluſſes iſt derſelbe mit Unſerm 
Standesſiegel verwahrt und von Unſerm fuͤrgeliebten Ehrenhaupt 
und Unſerm geliebten Staatsſchreiber unterzeichnet worden. 

Gegeben in Bern den 13. Aprill 1829. 


Der Amtsſchultheiß, 
in deſſen Abweſenheit: 
sig. Von rue t Sedelmeifter. 


Der Staatsfchreiber, 
in deffen Abtwefenheit; 
: Der Rathefchreiber: 


sig. Wurftemberger. 





Für getrene Abfchrift: 
Der Eidgenöſſiſche Kanzler: 
v. Monfior. 


/ 


x VBorrede des VBerfaffers 
zur erfien Ausgabe 1805: - ; 


— 


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Kein Ganzes, aus Einem Stüde gegoffen, fonnte Zweck des 
Lehrers, aber Wahrheit und Klarheit „mußten — das 
Eine Augenm er des Verfaſſers ſeyn, wenn er — mit 
ſich bleiben wollte, und das wollte er. —— 
Zwar ſetzt Wahrheit und Klarheit ein zhlohenes 
Ganze in dem Gemůthe des Lehrers voraus; aber, da er 
fein Gemüth nicht auf einmal auslegen fann, wie Die Sie- 
benſachen in einer Schachtel: ſo muß er fi) begnügen,’ jene 
Beſtandthe ile heranszuheben, die dem Ganzen! wirklichen 
Beftand geben, und fo herauszuheben, wie fie von den Au⸗ 
gen der ſchauenden Mehrzahl am. leichteſten und richtigſten 
aufgefaßt werden. — Er ara 
| Daß der Leitfaden nicht: * Leitfaden, und J 
gar nicht in die Mauern des Dorf als gebannt ſeyn 
möchte, ſo wie manches Andere, ſoll das Buch ſelber fügen, — 
nicht das Buch, ſondern die Seele des Buches, die nur har⸗ 
moniſche Weſen ſucht, um verſtanden zu werden, und verſtan⸗ 
den ſeyn will, um die Herzen zu binden — nicht für Tage, 
die vergehen, fondern für den Tag der nicht ſterben kann, 


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weil er nicht — m worden, 


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Vorrede des Verfaffers 


zur zweiten Ausgabe 1813. 


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Ein Anderes ift die Lehre, ein Anderes der Lehrer. Bei 
der Lehre kommt es sumächft darauf an, ob fie wahr nder 
falfch fey; bei dem Lehrer, ob er das, was er lehrt, bloß 
der Beihreibung eined Andern nahgebildet, oder aus 
eigenem Befite genommen habe. Und, wenn diefer Un— 
terſchied bei allem, was Wiffenf haft heißen Fann, heben 
tend ift, fo muß man ihm in dem Unterrichte von den ewigen 
Angelegenheiten des Menfchen,. in! der eigentlichen Weiss 
heitslehre, für den entfcheidendften halten. Denn, entwe- 
der hat bei dem, der Weisheit lehrt, das, was er vorträgt, 
ein Seyn, ein lebendiges Seyn, ein du das Leben 
ſich bewährendes Seyn in feinem Gemüthe gewonnen, 
oder nicht. Im erſten Falle kann er die Wahrheit in ihren 
Bewegungen fhauen, in ihren Früchten genießen, und in 
ihrem bleibenden Seyn erfahren. Seine lebendigen Vor— 
ſtellungen von der Wahrheit find aus Anſchauung aus Ge⸗ 
nuß, aus Erfahrung, aus Selbſtbeſitz geboren. Im zweiten 
Falle ſind ſeine Begriffe weiter nichts, als Erzählungen 


— XI — 


von einem Lande, das er nicht geſehen hat, das er nur aus 
® fremden Berichten Tennt, Er hat eine Karte, nachgeftochen 
von einer Weltgegend, die; gar. oft. der erfte ‚Herausgeber. fo 
wenig als feine Nachſtecher gefehen haben. u. | 


Wenn dieß von aller Weisheitölehre gilt, fo gilt ed "ganz 
befonders von der Lehre der Religion, die der Anfang, 
dad Mittel und das Ende aller Weisheit ift. Wer den gött- 
uͤhen Beruf hätte, Religion zu lehren⸗ ae Dhne Anma⸗ 


* 


ßung von ſich zeugen dürfen: 


„Ich kenne, was ich — ich kenne die Religion aus 
Selbſtbeſitz, aus Anſchauung, aus Genuß, aus Er: 
fahrung. Ihr Tebendiges Seyn ſchaue ih in der Umſchaf⸗ 
fung ‚meines Snnern, in der Umgeftaltung meined Aeußern, 
in der täglichen Erneuerung meines gepeimften Sinned; ihr 
lebendiges Seyn genieße’ ich in dem: hohen Frieden, den 
fie gewähret; ihr lebendiges Sinn erfahre ih in dem blei⸗ 
benden Muthe, den ſie mir einflößt; ihr lebendiges Seyn et 
fahre, ſchaue, genieße ih in der Andacht, die felber 
das edelſte Leben des Geiftes ift, die im menſchlichen 
Leben den fhönften Nachklang bat, und Die Fräftigfte Stim— 
mung zur fhönften Führung deſſelben zurüclägt.” _ 


Und, wenn. er ſchon nicht von einer jeden einzelnen 
‚Lehre eines ſolchen Selbftbefiges fih mag rühmen Fünnen, fo 
wird er doch von dem’ Geifte der Religion daſſelbe Bekennt⸗ 


niß ablegen Fünnen. 


— XII — 


Dhne mich im die Klaffe: diefer auserwahlten Neligions- 
lehrer rechnen zu wollen, darf ich fo wiel befennen, daß mir 
im Gebiete der Religion der Selbftbefit nicht ganz: fremde 
fey. Nichts ſuchend als meine Ueberzeugung auszufprechen, 
batte ich nicht nöthig, blog von fremdem Glauben zu 
leben; vertraut aus frühen Umgange mit der Wahrheit, hatte 
ich auch nicht nöthig, bloß von meinem Glauben zu le 
ben; Erfahrung, Anſchauung, Genug malten mir bei man- 


cher Stelle lebendig vor, was ih in Worten nachbilden 
Pr 


Was fremde Arbeiten betrifft, fo hebe ich, wo fich 
‚in meinen Nachbarn Religion ald Leben oder ald Wiffen- 
fhaft oder als heilige Kunſt zu bewegen fhien, und der 
Schein davon in meinen Wahrnehmungsfreis fam, zwar als 
‚ein ftiller Nachbar, aber. doh niht müß ig zugefehen; ich 
forſchte über den Sinn der Erfheinung, und wo ich Spuren 
von dem Beifte der Wahrheit und der Liebe — denn eis 
‚ nen anderen Fennt die, Religion nicht — wahrzunehmen glaub- 
te, da gieng ich gern in die Schule, um etwas für Gefühl, 
Leben, Wiſſenſchaft zu lernen. Der beffere Mann lernt 
aber zuerft für fi, und erft von dem, was ihn felbft an 
Licht und Liebe nicht leer ausgehen ließ, bringt er etwas an 


die Anderen 


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* 


‚O6 fi won dieſer Geſinnung, die nichts ald Wahrheit 
fuht, und nur bewährte mittheilt, und, was: fie immer macht, 


Ki — 


gerne beffer gemacht fähe, in diefer zweiten Ausgabe ei- 
nige Proben finden, mag der Lefer beurtheilen. Mir genügt 
ed auch hier, eine Wahrheit zu wiffen, die nicht eine Wahr: 
‚heit, fondern Die Wahrheit‘ felber ift, die feinem Wechſel 
unterliegt, wie die Zeit, ‚die Feiner Berbefferung, Feiner 
Nachhülfe bedarf, wie alles Menfhenwerf, die fein Ge- 
bilde menfchlicher Gedanken, fondern das Wefen aller 
Wefen ift. RR a f’ 


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Landshut am Oſterſonntage 1813. 


— XV — 


BOSSE 1 LEN 0 BE: u weort 
zur dritten Ausgabe, ‘vom Herausgeber. 


Der Verfaffer hat über Zwed und Geift diefed Buches, in 
der Vorrede zur erften und zweiten Auflage ſich deutlich aus: 
gefprochen. Indeſſen erlaubt fih der Herausgeber, zu dieſer 
dritten Auflage dem geneigten Lefer drei vorläufige Bemer⸗ 


/ 


fungen zu machen: 
Erftens find e8 Grundlehren der Religion, welche 
dargeftellt werden ; man erwarte alfo feine vollftändige, durch 
alle Theile und Lebensverhältniffe durchgeführte Religions: 
lehre, wohl aber die allgemeinen und unveränderlichen Prin: 
zipien, auf welchen 
| der echte Theismus, 
der echte Chriftianismus, 
der echte Katholicismus 
beruht, und zwar in einfacher und lichtvoller Weiſe, nad) dem 
Bedürfniffe des Zeitalters dargeftellt. 
Zweitens find e8 afademifhe Zünglinge aus 
allen Fakultäten, an welde die Vorlefungen über Grund- 
| lehren der Religion zunächft gerichtet find; Zuhörer alſo — 


x 


— XV a r 
die bloße Anlagen, einem mehr oder weniger. gewerften Sin 
und größere oder geringere’ Empfänglichfeit: für, den zu bes 
handelnden Gegenſtand hatten. Der, Verfaſſer durfte alſo, 


um feinen Zweck zu erreichen, nicht eine, ſtreng wiſſenſchaft⸗ 


liche, ſondern mußte vielmehr, und zwar, nothwendig, eine, 


vermittelnde, durch, Die, Bedürfniſſe und Säbjgfeiten feiner Zu⸗ 


hörer und Leſer beſtimmte Methode befolgen, indem er ſich 
zwiſchen die ewigen und unveränderlihen Grundlehren der 
Religion und ſeine verſchiedenartigen Zuhörer oder Leſer 


gleichſam hineinzuſtellen hatte, um die Letzteren nach Maß⸗ 


* 


gabe ihrer Stimmung ‚pder Verſtimmung, ‚mit „den Erſteren 


bekannt zu machen und, zu befreunden. Es dürfen daher Zeit 


und Umftähde, unter welchen diefer Zweck erreicht werden 


ſollte, von Keinem außer Acht gelaffen werden, der diefes 


Werk vom rechten Standpunkte aus beurtheilen will, 
Drittens war der Geift jener Zeit, in welcher diefe 
Borlefungen gehalten wurden, was wohl zu bemerken tft, we⸗ 
der dem echten Theismus, noch vielmeriger dem Chriftianis- 
mus, und am allerwenigften dem echten Katholicismus gün- 
ſtig. Der VBerfaffer hatte alfo mancherlei Verbildungen zu 
berichtigen, und verfhiedene Vorurtheile aus dem Wege zu 


räumen, um feinen Lehren Eingang in Die Herzen feiner Zu: 


- börer und Lefer, zumal in die Herzen afademifcher Zünglinge 


aus allen Fakultäten, zu verfhaffen, und es mußte vor allem 
feine Aufgabe feyn, Interefe für einen Gegenftand zu weden, 
für den das Zeitalter großentheils und insbefondere die ſtu—⸗ 


| — wi — 
dirende Jugend auf hohen Schulen, wo nicht ganz unempfäng- 
lich, doch allzu gleichgültig geworden war. 

“ Wer von diefen Standpuntten aus diefe Borlefungen über 
die Grundlehren der Religion mit Unbefangenheit und erforder: 
lichem Neachdenten liest, wird über Inhalt und Form im gan⸗ 
zen Werke und in einzelnen Theilen ſich leicht verſtändigen, 
und kaum einen Wunſch von Bedeutung hegen, den der Ver— 
faſſer im Verlaufe ſeines Werkes nicht befriediget hat. Daß 
aber Geift, Tendenz und Methode diefer Vorlefungen zunaͤchſt 
den pädagngifhen Bedürfniffen der gegenwärtigen und künf⸗ 
figen, wieder abgelaufenen Zeit in mehrfacher Hinficht vor⸗ 
Aglich — uen hofft aus * Gründen 


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Snhalts- Anzeige. 





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Vorrede des Verfaſſers zur erſten Auflage a — 1x 
Vorrede des Verfaſſers zur zweiten Auflage 1913. . x 
Vor wort zur dritten Auflage, vom ‚Dernuageben. .  xıv 


Die erite Vorleſung 


Von dem Zwecke dieſer Vorleſungen. N. N 


Was Geiſt einer echten Univerſitaͤt ſey, und wie ſich zu die⸗ 
| fem echten Geifte Die Religionslehre für alle Akade⸗ 
miker verhalte. . —— » 


| Anmerkung sur erſten Vorleſung. — J9 8 


Zweite Vorleſung. 


! 


Was Religion fey. » — ER F 4 

Religion im aͤlteſten, vollſtaͤndigſten, — und frucht⸗ 
barſten Sinne des Wortes. —— 

Anmerkung zur zweiten Vorlefung. . ; i rg 


Dritte Borlefung. 


Religionslehre. ; ’ } ° N Pr > 
Inhalt der Lehre. J 
Gott — das Urſchoͤne. — 
Was iſt der jetzige Menſch im Auge der Vernunft? ° . 18 


Was iſt der Vernunft die Verbindung des Menfchen mit 
Gott ? | \ E ; 2 


I M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. VIIE Bd, Ste Aufl. 1 


% 
. — Ei — 
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"Or xvim- 


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4 ne 


—* RER der Religionslehre. — Glaubenslehre. 
Grundlehre Aer Reügiin 
—* 6 audlehre aller chriftlichen Neligiom. - 7 . 
Grundlehre des Fatholifchen Chritenthums.  . 
nmerkung A — 









Pr 












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—— 
25 
* 
26 
26 
26 


2 Bierten Boriefung vr 3 VD 
Erſter Abfehnitt der Glaubenslehre. Gott — (Ein... - 
— 4 Gott iſt). — — 11 A ‚28 

S. J. Woher der Glaube an Gott feine Ausemeinheit und 
— unwandelbarleit ſabez, —————— 28 
Entſtehung der Frage —— 28 

Aufidſung der Frage 229 
Infer erſter Glaube iſt tra itionell. ET —* — 
| diefem Glauben: befefiigen u 8 die umertilgbare 
nm Stimme des Gewiſſens. NET. . 30 
> # Lipflus und Seneka. ae 30.31 
Der Goes der Opfiemen | nn 32 
b) Der Anblick der Natur. — 228 
e) Die unaustilgbare Achtung far die ieh Ren⸗ 
a2 Da ee 3. — 
d) Der Glaube an die ältefie — Fu: 

7 e) Die Seiftungsgefchichte ‚des Chriſtenthums. a er | 

>». N-Die wundervollen Sciefale. and Lebens. — 
) Das göttliche Leben. . , 4 Se a 
Platon ı — en ea 






Borlefung. 


x II. pruͤfung des Werthes, den die verfchiedenen Ueberzeu⸗ 
— | gungsmittel von der Wahrheit „Gott ift‘ haben. 





A. Prüfung der Erkenntniß von ' Gott aus Dom Anblicke 
— der Natur. “ T . .® u > e 


SE ae . 








Athanaſius und Cicero. 
Cicero und Reimarus. 


Pr 


—— EEE une, 
EZ x EN hi 
— Ei a Er 
—— — XL — 


Die gewiſſen dan. 


Die Tafel des Jupiters in Kreta. * 
Zeugen von dem Eindrucke der Natur und von * —— 

der Naturſprache. — Ser 
Philo und Eiern. — ER 





Sokrates und Dasid. a ; 
Die Natur kann die Idee yon Gott nit ach, 


‚Sie iſt im Menfchen. . " . >. RR . 


Uber nicht vom Menfchen. 
In welchem Sinue es Feine Natur-Nelig 





Und Feine Vernunft: Religion TRIER 2 2238 re er 


| Sechste Borlefung. 
B. Prüfung der Keuntniß von Gott: durch die Operatio⸗ 


Seite 
u: 
437% 


. Die & figen Ecluſe. rar ie 

Die 9 nte Kenntniß Gottes ift bedingt, rt 
abhängig von Gewiſſen und Gewifienhaftigkeit 4344 

44 


60 


nen der ſeientifiſchen Vernunft. 
Operationen der ſeientifiſchen Vernunft. es 
Erfier Grenzpfahl wider den Unſinn alles Unſinnes . 37 
Zweiter Grenspfahl wider die Anmaßung aller Anmaßungen. 58 
Die erſte Alteruative * 59 
Zweite Alternative. A 
Das Wort der Weisheit an die Wifenfaft. | 60 
Aus dem. Briefe an Fichte. er x A 
Aus der Abhandlung über PR | ——— 66 
Die Parabel von der Menſchwerdung. 
Anmerkung zur ſecheten ni As 73 
$ MM: 

' OR Bunlating eng 
Nöthigung, die in der höhern Natur des Menfchen * 

das Ausmeffen des Unausmeplichen aufjugeben. 75 
Die hoͤheren Scaariniſe, welche uns noͤthigen. 75 





— 
EN. N 


N 

yı er 
——— 
— 





te. 3 rle un 
2 j ie Seite 


$. I, ‚Das ficherfte Ueberjeugungsmittel, ne 
Die hoͤchſte Gewißheit von Gott durch ein göttliches£eben. 85 


Quelle des Unglaubens. ; : “ ; Tu: 
Fenelons Gebet, beffer als viele demonstrationes a priori 
und a posteriori. : 3 ..89 
* Neunte Borlefung. 
— Zugabe zum erſten Theile u‘ 
J. Sefchichte der Philoſophie im unfern Tagen. . Pe 
Erzählung eines Reiſenden. . . , , — 
Zehn Lehrſaͤtze uͤber das Wiſſen des Göttlihen. - ER 
" 1 Zuſammenfaſſung. * Br, . RR ios 
Berftand und Vernunft: kein Zankapfel.. FEE Se RO 
Anmerkung zur neunten Worlefung. 8 i ie 
' Z3ehnte Vorleſung. 
——— BE et 
Erſte Folge. Anerkennung Gottes, ald Gottes, ift die 
Pflicht aller Pflichten. . r Tr 
Zweite Folge. Ein Gott. wa 
4 Eilfte Borlefung. 
Dritte Folge. Das Innerſte im Menfchen ſtirbt nicht 
mit dem Gterblichen. . R u. 200 
Das Deukwürdigfie, das fich dem Glaubenden im — 
— der Unſterblichkeit noch aufdringt. 134 
Vierte Folge. Freithaͤtigkeit in ihrem ſchoͤnſten Aktus, 
‚In ihrem hoͤchſten Berufe, in ihrer göttlichen Abs 
kunft, in. ihrem ewigen Leben. ” : . 145 
0 Mumerfung zur eilften DBorlefung. . i . —— 
PA A 
9 — —2 


Ä 


— 3 — 


3woͤlfte Borkefang 





Zweiter Anfchnitt. Die Zundamentallehre alles Chris 
ſtenthums: Jeſus von Gott geſendet. * 
Zur Foͤrderung des Einverſtaͤndniſſes. 151 
Was und mie vielfach Gottes Offenbarung jey? 152 
Eine Offenbarung mit fieben ee Mit einer Ans 
merfung, } j 2. 
Was es heiße: Jeſus iſt von Gott — i 158 
Barum die göttliche Sendung Jeſu als Eundallntalichre 
aufgeſtellt werde. Mit einer Anmerkung. 8 
Was es heiße, an die goͤttliche Sendung Jeſu glauben? 
In wiefern es eine Glaubens + Pflicht gebe? . «160 
Die nöthigen Vorausſetzungen bei diefer Unterſuchung 1008 
Zupalt und Hrönung der übergeugendften ‚Gründe für die Ä 
? proben: 211) u iR i NET. 265 
Dreizehnte ans 
Ausführliche Darftellung des Satzes: Jeſus ift in jeder Bes 
trachtung -höchft würdig, als ein göttlichen Gefandter 
yon den Menfchen anerfantt zu werden. —* FEN 
Spuren des Goͤttlichen in der Eehre If. .  . . 10 
Der gehrinhalt Jeſu nach den Stufen feiner Erkennbarkeit. 170 
Die Lehre Jeſu von Gott und Unſterblichkeit. 171 
Naͤhere Beſtimmung dieſer Lehre. an rs 172 
Vierzehnte —— | 
Die Lehre Tefu yon dem heiligen Geſetze. RR II DR 
Lehren. Jeſu, die aus der Lehre von Gott, von der'uinfterbs > 
lichFeit des Menſchen und von dem heil, u abs "m 
leitbar find. ö a PER “180 
Don dem Cultus Dei...» x ? 530 181 
Bon der Gerechtigkeit. ; Se a. 
Bon der Demuth. ee SOLLTE TR F 


Von der Selbſtachtung sub Liebe gegen Andere. = 


Ehre | 


159 


182 


‚183 v N ' 


— XxiH — 







- ‘ ©eite 
Bon der Menſchlichkeit gegen Beleidiger. 183 
J Von dem Friedensſiune. ee. ie; 
WVon der Heiligung der ———— 184 
Von der Liebe und dem Gebrauche zeitlicher Guͤter. 185 
Bon der Tapferkeit und Seligkeit des Guten ... 185 
Fuͤnfzehnte Vorleſung. 
Lehren Jeſu, die uns die hoͤheren, die poſitiven heißen. 188 
Die Polemik des Evangeliums im edelſten Sinne des Wor⸗ 
tes. NS ; 189 
| _ Das pofitive Chriſtenthum, ein Ganzes. 5 — 
Die Centrallehre des poſitiven Chrifenthumes. 195 
Ihre Einfluͤſſe — auf Heiligung und Befeligung des 
Menſchen klaſſifizirt. it ; ; “188 
* Die Idee des Lebens einiget die Lehren des Chriſtenthumes 
30 einem organiſchen —— . 196 
= Sechs zehnte Bortefung. 
4 „ae Lehrinhalt Jeſu — * die a? 7 
heit. * 197 
Sie Lehre Jeſu als, eine Lehre son dem Srenfihen, and zu⸗ ie 
erſt von der Würde der Menfchennatur. a; 
* Von dem Verfalle der Menſchennatur. . 199° 
” J der Reſtauration der Menfchennatur. . — 
£ den Schickſalen unfers Gefhlechte.. . u) 203 
e fieben Laute der Einen Wahrheit. ee | 
Die * Idee des Chriſtenthums 
— Siebenzehnte Vorlefung. 
Wie der gehtinalt, — it er de zu — 
* dig. a. Fr * 209 
BE a — — 211 





— XXUI — 


Acht zehnte Vorlefung. 


— 


Freimuͤthige Erinnerungen an meine Zeitgenoſſen. 


Seite 
Er ſt e Erinnerung. Iufammenhang swifchen Evangelium 


und Philofophie. a na hr) 
Clemens von Alerandria. - . . . . 
Tertullianus. ah, : Al» i ’ { 
Zweite Erinnerung. Sufammenhang zwiſchen Evange⸗ 
lium und Humanität. . ; \ ; ’ 


Dritte Erinnerung. Zufammenhang des Werkes Jeſu 


mit der höheren Sendung feiner Derfon. 9. 


ehe Vorleſung 


Jeſus iſt hoͤchſt wuͤrdig, als Geſandter Gottes en. zu 
werden, in Hinſicht auf ſein Leben. A \ 
Werth eines Menfchenlebens. 4 wi: { 


Das Gotteswürdige im Leben Jeſu. | IM. / 


Zwangigite Borlefung. 


Das Gotteswuͤrdige in den -Wunderthaten Jeſu— * 
Die eine richtige — —— in auf die 


Natur. 

In Hinſicht auf Wunder. — 

Das Vermoͤgen, Wunder zu thunn. ! i 
Die einzelnen Wunderthaten BE Rp 
a ee I, 
Zweck der Wunder Jefu.. Ham 
Die Zwecke in nächfter Hinficht auf Jeſus. 
Zwecke in naͤchſter Hinſicht auf die Meuſchheit. — 
JJ ce ee 
Wunder und Weiſſagungen. = 


Anmerkung zur zwanzigſten Vorleſung . 


215 
216 


217 


218 


220 


224 


224 


224 


Pe | — XXIV — 

4 | | Einundzwanzigſte VBorlefung. 
Die Einferungen Jeſu. ? 3 i arm 
Das Gotteswürdige im den Einfegungen Jeſu. k 
Die Taufe. —— 
J 
Die Abſoelutinnn. . — 
Die uͤbrigen Sakramente. . FR Se 


uUeber die Siebentahl. * “ “ 


Die fieben Saframente, betrachtet aus der — 
Jeſu, und aus der Muttertreue der Kirche.. 


Zweiundzwanzigſte Vorleſung. 


Seite 
245 


245 
246 
248 
250 
252 


J 


253 


256 


256 


257 
263 


265 


274 


283 


9 
* Von den Schickſalen Jeſu. 
Das Bottestwähbige in den Schiekfalen Sefu. —— n 
Das Schickſal im Auge des Heiden, des Iſraeliten, des 
. er Chriſten. * . « > . 
IR Unerfindbare Harmonie in den Schickfalen Jeſu. . 
SGlaubwilligkeit der Vernuuft. I ————— 
Dreiundzwanzigſte Vorlefung. 
Darſtellung des Satzes: Jeſus hat feine göttliche Sendung " 
vor ſeinen Zeitgenoſſen BR und gültig bewiefen. 
om fein Selbfizeusniß.  . * * ea 
u Bierundzwanzige Bortefung. ; 
— ER 
— Du die gültige Appellation auf das nkise Zeugniß Jo⸗ 
hannis. A— N ü ; ö 
“a ——— Fuͤnfund zwanzigſte, Vorleſung. 
4 
* Du feine Wunderthaten. aa 
wu 
— 
U 


— xxv — 


In wiefern Wunder ald Beweife der Sendung Tefu gelten 
Eönnen? . . i — a Re 
Woher die Wunderfchen in unfern zum ae MR 


Schöundzwanzigite Be 


Darfelluug diefes Erweiſes. . 


| Beweisfraft der Wunder Je. m... Er 
Dargeftellt an der Erweckung des Lazarıd, . 


Die Ihatfache, tie fie Johannes XI. erzähle. RR I 


Weber die Thatfahe. i 2 N ut, Zar 
Siebenundzwanzigfte Vorleſung. 

Gruͤnde, die den Eindruck der Thaten Jeſu behrigten, 304 
* — Pl ach h 2 Phil a, — ° 
Korandawanzighe Borfefung. / 

Die Weiffagungen: Jefu. Sa i N 1.223 
Was uns die Ruinen der heil, Stadt und des unbetigen | 

Volkes predigen. i n J — 
Neunundzwanzigſte Vorleſung. 
Die Wahrheit der höheren Sendung Jeſu durch die Bekeh— 
rung des Saulus in der Anficht: der erſten Chriſten | 
neu beftätiget. 2 . ‘ » . . Zu 
Wer an Paulus glauben kann, mit ihm an Jeſus. 322 
Wer nicht glauben kann, fol wenigfiens an feinem Nicht: 
glauben irre werden  . » N . R 


Dreißigfte Borkefung. 


Beweis des Satzes: Die göttliche Sendung Jeſu if auch 


in unfern Tagen für die nüchterne Vernunft höchft 
glaubwürdig. HARTEN i 


” 


Seite 


283 
286 


291 
29. 
295 
298. 


331 


332 


— XVII — 














"Br ktindbteipigke Vortefung. 


- 


Der weite Theil der Religionslehre. * Sit⸗ 





Lieber! nenne mir den Ueberchriſtus der es werth iſt, mein er 
Auge von Chriftus weg und auf fich zu wenden! 332 
Warum jeßt Feine Wunder mehr? . x ; 0375 
Nähere Beſtimmung der Frage. | 335 
Loͤſung der ſo befinmten Gr. . ’ 336 

‚Der Glaube an die göttliche Sendung Jeſu it e ein Beduͤrf⸗ 
MB für die Mehrgebildeten. - : 4 Wo 
g : die Mindergebildeten. ah x i 342 
‚ . Der geucherpurm für die Seefahrer aller Sofeme, 343 

| Ginundpreifigte Vorleſung 

J die Wahr eit des, Chriſtenthums erfapzbar? URN | 
Die praktifähe Wahrheit des Chriſtenthums if erfahrbar. 30 
Die theoretiſche mit aller Vernunft glaubbar. 348 
| Bis auch fie auſchaulich wird. BEP / 349 
u Eutſchluß: Ich will die Sauptpeobe machen 349 
u Fingerzeige für’ die, die nicht ausſchließend ihre eigenen: anbe 
Meilenzeiger ſeyn wollen. * 349 

* Beilage aus Sriebeich Soleseł⸗ Philofopbie der Ges | 
RE —— 359 

Be | ee ai Barkefung. 

eo Abſchnitt des zweiten heites, Funda⸗ 
mentaliehren des katholiſchen geicuthume 2" 1361 
© gut FRE ME © 1" 136 
Belege. De a ——— E | as 
Beilage m im eingohteiplofen Bl: 398 


— XXVH — 


Als Seligkeitslehre original und einzig. 


— 


—* "2 Eeite 
tenlehre, Die —— die Lehre von der 
Liebe. N ; n ..403 

Die Lehre von der Liebe im ihrem eigenen Lichte * | 
ftellt. . y —— A 403 
Jeſus der. Evangeliſt der Liebe in feinen ap er Mit 
Seiner Anmerkung. ’ h ? 11.404 
” Ta... wii > 
 Bierunddreißigfte Borlefung. 
Sinn der Lehre. 419 
Liebe gegen Gott. Ka Ba Da re 419 
Liebe gegen die Menfchen. . et 
Liebe als Einheit, VE, — — 
Die ganze Tugendlehre — eine Lehre der Liebe. er 432 
Die befte J 443 
| — des weiten Theile. . 448 
\ we 
Letzte Vorleſung. 
Dritter Theil. Die Lehre von der Hoffnung oder die | 
Seligkeitslehre. . . ; N 449 
Die Chriſtenhoffnung als Gemuͤthsfaſſung. 457 
Dieſe Gemuͤthsfaſſung unſre Seligkeit hienieden. . 457 
Schluß dieſer Religious-Vorleſungen. Ei... 
Chriſtenthum als ‚Religion iſt vollkommen. y j a 
Iſt hoͤchſte Weisheit, hoͤchſte eilt, höchfte Seligteit. 
des Menfchen. ’ — 464 
Chriſtenthum als Religionslehre iſt göttlich. 450 
Als Glaubenslehre verdient es den Reſpekt der Voͤlker und — A 
die tieffte Verehrung der Denfenden. SR el 
Als Sittenlehre ift es etivas mehr als bloßer MWermittler 
“der wahren Freiheit und Gleichheit des Sinnes. 466 


466 


— XXVII— 


Als Religionslehre i es unerfeglich. ; 
Durch die Politif, - ee 
‚Durch die Vernunft, .. » R ; 
Durch jede andere Religionslehre. . 


und fo gegründet, daß es auch den Unglauben und die Ver: 








achtung überleben wird, 
* 
# 


Seite: 
466 
466 
466 
466 


467 


An 


An meine Zuhörer. 
* — 
| / 


Das Allerwicht ig ſte — von ſeiner faßtichften * 
Seite — in der fürzeften Zeit — darzuſtellen, iſt 
meine, das: Allerwichtigſte ind Bewußtſeyn, Ge 
fühl md Leben aufzunehmen — ihre und meine 
Aufgabe... 


ar rn Worte * 


die erſte Borlefung. 
Bon dem Zwede dieſer Borlefungen 


Da der ‚große Zweck einer wohlthätigen Anftalt für edle 
Gemüther, die ihn kennen Iernen, eine anziehende Kraft. 
beſitzt; da ich der hiefigen Lehranftalt einen großen’ Zwed 
zutrauen muß, und Shen, m. 2, einem nicht geringen 
Edelſinn zutrauen darf: fo werde ich, um Ihren Fleiß 
in Beſuchung der Religionsvorlefungen zu beleben, weiter 
nichts zu thun haben, ald Ihnen den Zweck derfelben vor⸗ 
zulegen. Ich thue diefes um fo Tieber, da fih Einige 
aus Ihnen gewig fchon ſelbſt die Frage werbeit aufgeger 
ben haben; 


„Bas ift das; Ketigionsvorlefungen für alle Akade⸗ 
miker? Was thun wir in diefem Hörfale? Wir find. 
hier, die Rechte, oder die Arzmeifunde, oder das gepries 
fene Fach der Philofophie zu ſtudiren: follen wir etwa 
Ale Theologen werden? Der ſchwarze Rod ift nicht 
für und, und wir nicht für den fchwarzen Rod.’ 

I. M.v, Saiters fünmtl. Schriften. VIII. Bd. Zte Aufl, 1 


— = — = 


Eigentlich feßen Sie hier etwas Bekanntes voran, 
und fragen nad) etwas Unbefanntem. Sie fegen voraus, 
was Univerfität fey — und daß ſie, wie das Wort ſagt, 
eine Univerſalbildungs-Anſtalt ſey, eine voll- 
ftändige Tebranftalt in Wiffenfchaften und 
fhönen Kuͤnſten — für die, welche ſchon Grund 
und Boden dazu gelegt haben, und Die nöthigen Vorkennt⸗ 
nie mitbringen. 


Sie fragen: „Was Geiſt einer Achten Univerfi tät fey, 
und wie Sich zu diefem Achten Geifte eine Religionslehre 
für alle Akademiker verhalte? 


Ich antworte: Wenn wir einen hiftorifchen Blick, der 
nur das Seyn ergreift, auf die Univerfitäten werfen, 
fo gewähren fie uns ein Schaufpiel, das an das Wort 
des Pythagoras erinnert: Das Leben fey ein gro 
Ber Markt, den Einige befudhen, um fi durch 
MWettfämpfe auszuzeihnen, Audere,.um Ge 
fchäfte des Handels zu treiben, wieder Andere 
und zwar die Beten, um Zufhauer zu ſeyn. 
(Diogenes Laertius de vitis Philösoph. L. VIII. 
C. I. n. VL) Betrachten wir fie aber als. hervorge- 
hend aus: der Idee der Weisheit: fo — ſie ung 
mit Bewunderung. 


Im Grunde konnte es doch nur Weisheit feyn, was 

‚in den Stiftern und Rejtauratoren der Lehranjtalten Das 

Ganze entwarf, und das Einzelne ordnete — in fofern 

' Entwurf und Ordnung den höhern PORT, aa 
Gefchlechtes entſprechen. 


Eben dieſe Weisheit iſt der eigentliche ee in 
jedem ‚guten Negenten. Der gute Regent denkt an 
fein Bolt, und möchte es 
ſehen. Denn er hat es lieb, und fieht e8 ald Eine 
Familie an, die ihm der große Vater des menfchlichen 
Geſchlechtes an fein Herz gebunden hat, mit dem Auf 
trage, daß er für die Ordnung des Ganzen und. für 
das Wohl der Einzelnen forgen folle, und mit der Vers 
heißung, daß er in der Wohlfahrt Aller auch die feine 
finden werde; Da faßt er den Eutſchluß, den nur die 






' 


ern gut, groß, gluͤcklich 


au 5 nn 


Weisheit eingeben, nur fie ausführen, nur fie ausſprechen 
fann: 

„Sch will meinem Volke Männer erziehen, bie, ers 
leuchtet von Gott, das Näthfel der Natur, und erleuchs 
tet von der Ewigfeit, das Näthfel der Zeit zu Iöfen vers 
mögen, und in dieſem Lichte forfchend, überall da 8 
Wahre vom Falfhen, das Gute vom Böfen, 
das Schöne vom Häßlichen, dag Edle vom Ge— 
meinen, das Bleibende vom Fluͤchtigen zu ſon⸗ 
dern, und in alle Verhaͤltniſſe des Wiſſens, des Koͤnnens 
(der Kunf), des Lebens Licht, Drdnung, Zuſammenhang 
zu bringen verftehen, das if, Männer, die die wahre 
Weisheit des Lebens befißen und ausüben— 
bie find, was fie fo gern heißen wollen, Philofophen. 

„Sch will meinem Bolfe Männer erjiehen, die ihm 
die Unantaftbarkeit der Perfonen, den ruhigen 
Befiß der Güter, und das ganze bürgerliche 
Wohlſeyn ſichern helfen; die als Geſetzgeber nur 
die ewige Ordnung der Dinge ausſprechen; als Volk 
zieher der Geſetze nur die ewige Ordnung handhaben, 
als Richter und Sachwalter der Gerechtigkeit dem 
gedraͤngten Unſchuldigen Recht, und dem ſchuldigen Draͤn⸗ 
ger Unrecht ſprechen; Dig blind gegen die Neigungen, Die 
das Zünglein der Wage widerrechtlic; in Bewegung ſe— 
gen, und nur fehend find — für die Pflicht, die fie zu 
Sprechern für die ftummen Waifen, zu Schüßern Der ver: 
laffenen Wittwen, und zu mächtigen Berfechtern der ohn⸗ 
mächtigen Nechtsfache macht: — ich will meinem Bolfe 
Männer erziehen, Die find, was fie heißen wollen, — 


Priefter der a Me 


„Sch will meinem Vo Männer erziehen, die ihm zum | 
freiern Gebrauche und wirdigern Genuffe des Lebens vers 
‚hulflih find, dadurch, daß fie der förperlichen Natur mit 
ihrer Kunſt zu Huͤlfe kommen, und fie entweder vor Zers 
rüttung bewahren, oder aus Der Zerruͤttung wieder Ord⸗ 
nung, oder in unheilbaren Uebeln — wenigſtens Linde⸗ 
rung ſchaffen, — wahre Wohlthaͤter der Menſch— 
heit, die die ae der. Leidenden zur Gold- 

er | 


a J 


grube ihrer Spekulation, ſondern ihre Spekulation und 
Praxis zum Lebensbalſam fuͤr die leidende Natur ma— 
chen: — ich will meinem Volke Maͤnner erziehen, die ſind, 
was fie heißen wollen — Heilfünftler, Priefter 
der Natur, Erhalter der Gefundbeit. 
ch willmeinem Volke Männer erziehen, die ſich nicht 
damit begnügen, daß fie nur für das flichtige Wohlſeyn 
der Zeit forgen, ſondern in der Zeit für die Emigfeit ars 
beiten, 'nicht etwa bloß die Plagen diefes Lebens zu mils 
dern verftehen, fondern ſich und. ihre Anvertrauten in- dem 
Thale der Sterblichkeit für die Unfterblichkeit worbereiten, 
anf dem Schauplage der Natur und der Welt und noch— 
mehr in ihrem: Inwendigen den Urheber. der Natur und 
den Gejeßgeber ihres Gewiſſens, den NRegenten und Rich— 
ter. des menfchlichen Geſchlechtes juchen und finden, ach⸗ 
ten und lieben, anbeten und nachahmen, und lebendige 
Muſter jener hoͤhern Heils-Lehre werden, die, von 
bem ewigen Logos ausgehend, durch Chriftus in der Zeit 
verfündet und in der Kirche Chriſti fortgepflanget, bie 
Menfchen gut, weife, felig macht: — ich will meinem 
Volke Männer erziehen, die find, was fie heißen — ehr 
würdig. Ehrwuͤrdig, weil fie für das Wuͤrdigſte im 
Menjchen, für fein hoͤchſtes Gut, weil fie mit Gott für 
das Neid; Gottes arbeiten.’ 


ch will meinem Bolfe Männer erziehen, bie, zuerſt 
ſelbſi gebildet — zu guten, edlen, weiſen, frommen Men— 
ſchen, neuen Samen des lautern Gut» und Wohlfeyus 
ausſtreuen, und die ſchoͤnſte Aernte der Tugend und Se 
figfeit ihrer Mit» und. Nach = Welt ‚bereiten und —* 
liefern.“ 

Das iſt der Eine Geiſt aller aͤchten Bildungsanflal- 
ten! Davon follen die Juͤnglinge in dem öffentlichen 
 Hörfale der Philofophie, der Rechtslehre, der Arzueifunde 
und Gottesfehre unterrichtet, Dazu angeleitet, Darin vor⸗ 
ale werben. 

| * Allein, : da auch die Stubirenben — Menfchen, nnd 
r ——— noch mehr Menfchen » Pflanzen als reife Men— 
ſchengewaͤchſe ſind; da ſie e als ea den Keim des 


\ 


"Se 


Boͤſen, und zwar mehr den fchon aufgewedten und 
zum Theile entwicdelten, als den noch ſchlummern— 
den,»in fi tragen; da fie ald Menfchen außer ſich 
Stoff genug vorfinden, der Die verderbenditen Leidens 
fchaften in Flamme fegen, und die Flamme unterhalten 
kann; da ſie als Menſchen mit jedem Schritte, den ſie 
in die Melt thun, auf neue Reize ſtoßen, die ihnen 
die Erfüllung ihrer Pflicht bitter und die Uebertretung 
derjelben süße machen; da fie als Menfchen nicht etwa 
nur mit dem Feuer der Ueberlegung »fcheuenden Jugend 
in fich, fondern auch mit dem anfchwellenden Strome- des 
Verderbens außer ſich zu kämpfen haben, und — über 
dem Allen zum Kampfe naht fonderlich viel, Borübung 
und wenig Luft mitbringen: wo nehmen ‚fie denn Die 
überwiegende Kraft her, deren fie bedürfen, theils 
um in ihren Bildungsjahren alle Reize - zum Unfleiße, 
‚ zur Zerſtreuungs ſucht, zur Freudenjagd zu beſie⸗ 
gen, und in den oͤffentlichen Lehranſtalten ſich die noͤthigen 

Kenntniſſe zu ſammeln, theils um die geſammelten einſt 
in einem gegebenen Wirfungsfreife zum Heile der Menfchs 
heit anzuwenden ? 


Da Menfchen Menfchen r ind, wo I fie Die 
überwiegende Kraft her, die Bösartigkeit des 
menfchlichen Herzens, die ſich fo tüdifch vor dem Auge 
des Forſchers verbirgt, als fcharffichtig und raſtlos ⸗ ges 
ſchaͤftig fie die Anjtalten zum Guten zu untergraben ſtrebt, 
nicht bloß ein = und das anderemal zu unterdrücken, Inn 
dern auf immer zu entfräften? NAR 


Da Menfchen Menfcen find, wo nehmen fie die 
überwiegende Kraft ber, aus ihren Gemüthern, die 
von unlautern Abfichten gerade fo befledet, als tyrannis 
firt werden, zu verbannen eben diefe Unlauterfeit 
der Natur, die die fchönften Handlungen haͤßlich und felbit 
das Gefeßmäßige ihres Verhaltens gefegwidrig madjt, die 
fih fo gefchiekt hinter dem Chorrode des Klerus, als dem 
Mantel des Philofophen, hinter der Toga des Staate- 
ER al8 ver RER des iur 3: zu verſtecken 
wei 


- 


re 


Da Menfchen Menſchen find, wo nehmen ſie bie 
überwiegende Kraft her, die mit ihrem ſtuͤtzenden 
Arme zu: Hülfe fommt — ber Gebrechlichkeit, vor 
der ſich die beiten Entjchlüffe ber Sterblichen nicht zu 
retten wiffen, die bie heiligiten Gelübde, am Morgen ers 
nenert, noch vor dem Abende und oft vor dem Mittage 
in Trümmer verwandelt ? 


| Diefe überwiegende Kraft zur Erfüllung jeder einzel, 
nen Pflicht, dieſe überwiegende Kraft zur Verſchmaͤhung 
des Neizenden, zur Ueberwindung des Berführenden, zur 
Erbuldung bed Läftigen, das ihnen auf ihrer Lebensbahn 
begegnen mag, fchafft ihnen, wie ed die wahre Weisheit | 
aller Zeiten ohne Widerrede anerkennt, 


„die beilige Religion,” 


verfchafft ihnen nur bie heilige Religion, verfchafft fhnen 
sur die heilige Religion, welche nicht bloß Religion des 
Begriffes, fondern Religion des Herzens if, und 
eine Religion des Herzens, die in guten Gefinnungen lebt, 
und zu guten Thaten belebt. 


Drei Worte von unansfprechlihem Gehalte — Re 
ligion! Lebende Religion! belebende Religion! 
Aber diefe drei Worte find nur Ein Wort, das fich dreis 
nal wiederholt. Denn, wo fie, die Religion, if, da le 
bet fie, und wo fie Tebet, da belebet fie. 


Religion! wie Dich). Die Menfchen, die dich nicht 
kennen, weil fie‘ leer von bir find, immer. befchreiben moͤ⸗ 
gen: denen, die bich kennen, weil ſie voll von dir ſind, 
den Weiſeſten und Veſten unſers Geſchlechtes biſt du 


ber höchfte Aufſchwung des Menfhenger 
fies zum Allerhöditen, der vor ung, außer 
und, und über ung ift und war, und ewig feyn 
wird; ber unermeßlih fern von allem, was 
Ratur und Welt ift, und dennoch innigft nahe 
der Natur und ber Welt; allgegenwärtig, 
und als das Wefen aller Wefen in allen Din 
gen, als Geift und Wahrheit in allen em 


b2 


l 


pfaͤnglichen Gemuͤthern inwohnet; ein Auf 
fhwung, ber Licht in unfer Wahrheit » fuhen- 
des Forſchen, Friede in unfer nah Freude 
ſchmachten des Herz, und himmlijches Leben zur 
Bollbringung alles Guten in unfer a 
bendes Wollen mit herniederbringt. sin. 


Du Lebeft, wenn du bil, das Heißt, Fein. bloßes 
Mortgeklingel im Deunde, Tein leeres Geberbenfpiel am 
Körper, - fein bloßer Schattenriß im Kopfe, kein halbes 
Wollen im Gemuͤthe, fondern eine inwohnende und 
Liht» und Frieden ⸗- md tebens ausftrömende 
Kraft, — Religion bift! ' 


Du belebeft, wenn du Tebeft! 


Sa, wahrkaftig, wo du Sit und Stimme haft, wo 
dir lebeſt und belebeft, da ift nicht nur helles Licht, das 
erleuchtet, nicht nur reiner Friede und Freude, die 
erheitert: da iſt goͤttliche Kraft zum goͤttlichen 
Sinn und lebe. —— 


MWahrhaftig, diefer lebenden und belebenden Religion 
bedarf der Philoſoph, um bie ſcientifiſchen Anſchauun—⸗ 
gen feines Kopfes von dem Al und Ein des menfchlichen 
Wiſſens, von Gott und Natur, von Gefeß und Pflicht, 
von der Würde der Perfon und dem MWerthe der Dinge, 
in gebietende Gefinnungen, um feine dunklen 
Augfichten in die Ewigfeit — in getrofte Erwar— 
tungen, und das ganze Skelett feines todten Syſtemes 
in eine Seele feiner Seele, um feine hellen Kent 
niffe in ein lebendiges Seyn zu verwandeln, 


Diefer Tebenden und belebenden Religion bedarf Der 
Rechtsgelehrte, um unbeftechlich nur für das wehrs 
loſe Recht und wider das bewaffnete Unrecht zu fprechen. 

Diefer Lebenden und belebenden Religion bedarf der 
Arzt, um dem hohen Berufe, in feinen Nachbarn die 
finfende Natur zu heben und die leidende zu erquiden, 
oft feine eigne Gefundheit, felbft fein Leben zu opfern. 

Diefer Iebenden und belebenden Religion bedarf felbit 
der Theolog von Profeffion, um die Wahrheit, die 


u —— 


er im Buchftaben forfcht, im Begriffe denkt, in ber 

Idee fhaut, im Worte bezeichnet, tief genug in fein 

Innerſtes eins und helle genug in feinem Wandel au % 
zupraͤgen. | 


Religion, die lebende und belebende, ift alfo ein 
allgemeines Beduͤrfniß aller Studirenden, und verhält 
ſich zu jedem Studirenden, wie die Seele zum Leibe in 
jedem Menfchen. 


Da nun, fährt die Weisheit, diefer Genius jeder gu⸗ 
ten Lehranſtalt, fort, alle Buͤrger der Univerſitaͤt, alle 
Hörer aller Fächer in den vier Fakultaͤten oder acht Seh 
tionen, der Iebenden und belebenden Religion bedürfen, 
jegt, um fich mit edlem Fleiße und mit Bekämpfung 
aller dem Fleiße widerfichenden Neigungen die nöthigen 
Kenntniffe zu fammeln, und einft, um von den geſam⸗ 
melten Kenntniffen den beiten Gebrauch zu machen: fo 
ordnete unfer Regent, Daß die Religion des Herzens, die 
in guten Gefinnungen lebt und zu guten Thaten belebt, 
auf unfrer hohen Schule nicht fo fait gelehrt Cdenmm wie - 
follte man Geſinnung und That Iehren fönnen?), als 
dem tiefen Reſpekte, der gründlichen Betrachtung und der 
treuen Ausuͤbung aller Studirenden empfohlen werden 
follte, 


So verhält fich die Religionslehre ‚zum Geifte 
der Univerfität, wie fi das heilige Drgan zum 
ſchoͤnſten Ganzen verhält. 


Und das’ Amt, die lebende und belebende Religion 
dem tiefen Reſpekte, der gründlichen Betrachtung und 
treuen Ausuͤbung der Studirenden zu empfehlen, - das 
Amt, jenedg Organ in Bewegung zu fegen, hat das Zu⸗ 
trauen des Regenten mir anvertraut. 


Um nun dieſes Zutrauen nach Wuͤrde zu ehren, 
weil es das Zutrauen der heiligen Gewalt iſt, die Gott 
in feine Hände gelegt hat, um dieſem Zutrauen nad 


-  Bermögen zu ‚entfprechen, weil ich es auf feine befjere 


Weifen zu ehren im Stande bin, als durch den regen 
Eifer, in die Abficht defjelben einzuftimmen, habe ich heute 


Ben 9 —* 

Sie, m. th. Z. alle in dieſen Hoͤrſal geladen, habe It 
nen den Geiſt einer Achten Univerſitaͤt und das Ber 
hältniß der Religionslehre zu diefem Geifte d. i. den 
Sinn der Verordnung unferd Regenten und den Inhalt 
und Zweck diefer Borlefungen Fund gemacht, und ſchon 
fehe ich mit Vergnügen die düftern Spuren des Fragen 
wollend „was Religions vorlefungen und warum alle 
Akademiker dazu gerufen ſeyen?“ von Ihrer Stirn vers 
ſchwinden; fehe vielmehr anf derfelben die Fichte Zufries 
denheit der befriedigten Neugierde, und wenn: ich nicht 
irre, fehe ich überdem, wie fidy der Vorſatz in Ihrem Her 
gen entwickelt, mit dem Willen unſers Negenten, und mit 
dem Zwecke‘ diefer Borlefungen ‚in freundliche Harmonie 
gu treten. 


Sie wollen claffen Sie m. Th. mich in Dolmets 
fhung Ihres Wollens dießmal feinen Fehlfprudy hun): 
Sie wollen — denn ich rechne auf die Kraft der Wahr 
heit, auf die Stimmung Shres Herzens und auf 
den Segen bes Himmels, der noch feinem fchönen \ 
Zwecke und feinem edlen Ringen darnach gefehlt haͤt. 


Sie wollen die heilige Religion in ihrer MWahrs 
heit und Schönheit, im ihrer Würde und Kraft 
fehen,  Tieben, achten Ternen; wollen ihr die fiegendften 
Einflüfe auf Erleuchtung Ihres übrigen Erfennend, auf 
Reinigung Ihres Wollens, auf Berbefferung Ihres Herzens, 
auf Umwandlung Ihrer Gefinnungen, auf —— Ih⸗ 
rer Handlungen geſtatten. 


- Sie wollen Ihre übrigen Kenntniſſe, die Sie ſich in 
andern Hörfalen zu verfchaffen firchen, und die Ihnen zu 
Ihrem kuͤnftigen Berufe unentbehrlich find, mit den erha- 
benften Kenntniffen der Religion vereinigen, die, in Ge 
fürnung und That verwandelt, Sie, Lich hoffe e8) zur 
Freude Ihrer Familien, zum Gegen bes Landes und 
zur gefrönten Hoffnung der Nachwelt machen werden. 


Und, wenn Gie das wollen, fo wird Ihr Leben 
felbft die fchönfte Vorlefung von der Wahr— 
beit und Schönbeit, von der — und 





a ie 


Kraft der Religion werden — eine Vorleſung, der. 
die meine fo gern Maß machte und alle Vorlefungen al 
ter Lehrer Plag machen follten! 


% Anmerkung zur erften Borlefung. 


Was der Verfaſſer in hoher Begeifterung über den Einfluß 
der. lebenden und belebenden Religion auf das Studium der 
Philofophie, der Rechtslehre, Arzneifunde und Theologie gefchries 
ben, gilt in Bezug auf alle Verhältniffe und Berufsarten des 
menfchlichen Lebens. Die lebendige Religion. des Herzens ift es 
überall, die durch ihren wirkſamen Geift alles Unmwahre, Verkehrte 
und Verderbliche ausfcheidet, und allen Vermögen und Kräften 
des Menfchen jene Richtung und jenes Leben verleiht, welche zum 
wahren und dauerhaften Wohlfenn, zum innern und dußern Gries 
den eines jeden Menfchen, des Handwerkers 4. B. nicht weniger 
als des erſten Kuͤnſtlers, und umgekehrt des erften Künftlers, des 
berühmteften Bhilofophen nicht weniger als des gemeinften Baus 
ers Tchlechthim nothwendig erfordert werden. Die lebendige Kelis 
gion iſt überall der goldene Faden, welcher das individuelle und 
Das familiäre, das bürgerliche und das Firchliche, das wiffenfchaft: 
liche, und Fünftlerifche Leben, mwie alle Sphären des menfchlichen 
Dafeyns durchwirkfen muß, mofern das wahre Wohl der ganzen 
Menfchheit und des einzelnen Menfchen gedeihen fol. Sie ift 
demnach tinter dem Unentbehrlichen das Unentbehrlichte und uns 
ter dem Nothwendigen das Allernothwendigite, etwas, welches 
nicht nur nie außer Acht gelaffen, fondern auch keinem andern 
Gegenftande, Feiner Wiffenfchaft oder. Kunft, Feiner Berufs: und 
Lebens: Bildung nachgefegt werden darf; denn ohne Lebende 
und belebende Religion zerfällt, tie der einzelne Menſch, fo 
auch jeder menfchliche Verein, jede Familie, jeder Staat und felbit 
die Kirche gleich einem entfeelten Leibe auseinander. 


Der Herausgeber. 


* 





Zweite Borlefung. 
Was Religion fen. 


1.4 
Religion, als überioiegenbe Kraft zur Erfüllung elite 
zefner Pflichten, habe id). Ihnen m. Th. in der erſten 
Borlefung genannt. 
Diefe Betrachtung der Religion 
iſt wahr, 
iſt Tichthell, 
ift groß und herzerhebend. 

Aber fie it nur Eine — und iſt nicht die höchfte, ' 
nicht die allumfafiende. Denn Religion ift nicht bIoß 
überwiegende Geiftesfraft des Menſchen zur Vollbringung 
des einzelnen Guten — fie ift das Gute felber; fie it 
‚nicht nur das Gute felber, fie it das höchfte Gut "des 
Menfchen, wie es ſich in der Folge enthällen wird. Für 
jetzt will ich Sie fehen und fühlen laſſen, 

was Religion fey 

im älteften, | 

im vollftänbdigften, 

im erhabenften, 

im fruchtbarſten Sinne des Wortes. 


See 


Es gibt dreierlel große Laufba hnen in ber Mens 
ſchen⸗Welt, die von unzaͤhligen Kandidaten betreten wer⸗ 
den. 

Eine iſt die Laufbahn des Wiſſens, die andere 
die Laufbahn des Chung, die dritte bie kaufbahn | 
des Genuffes. 


Und dieſe drei Laufbahnen werben von jedem: Mens 
| ſchen Cder fich nicht mehr im Stande der Wildheit und 





Unmuͤndi igkeit befindet) betreten — jeder will wiffen, 
thun, genießen 


Nun gibt and die Gefchichte diefer Laufbahnen zweier: 
lei niederfchlagende Erfcheinungen. 


Die erfte: die Laufbahnen d urchkre u3 en ſich; die 
zweite: bie Laufbahnen führen ihre Freunde nicht 
zum Ziele, 


Sie durchkreuzen fih. Das Wiſſen bleibt bei Dielen 
ohne That, die That ohne reellen Genuß, das Genies 
pen ohne vernünftiges Thun, das Thum ohne Wiffen. 


Sie führen nicht zum Ziele. Die meiſten Mit: 

‚ und Wettläufer müßten in dem Augenblicke, wo ihre 

Laufbahn hienieden  ftille fteht, wenn fie die Wahrheit 

ehren wollten, geftehen: Wir haben unſer Leben mit For⸗ 

Shen, Thun, Genießen dahingebracht, und find nun 

ohne Wahrheit, die uns troͤſtet, ohne Kraft, die 

‚uns ſtuͤtzet, ohne Freude, bie und ſchadlos halt 

unſer Wiſſen iſt ohne Weisheit, unfer Thun ohne 

Tugend, unfer Genuß ohne Zuverficht, oder unfere 

Zuverficht ohne Geligfeit. 

9 So ſcharſſinnig als richtig nennt Amos Comenius im feinem 

' Unum necessarium in diefer Hinficht unfer Wahrheitfuchen 

ein Umherirren im £abyrinthe; unfer Thun ein Wäl 

‚zen fifyphifcher Steine; unfer Genießen tantalis 
ſches Schnappen nach Genuß ohne Genuß. 


Wer nun die. zwei unläugbaren und nieders 
fhlagenden Erjcheinungen, die fo alltäglich, nnd 
Jeider! allgemein find, ‚genau zu Herzen faßt und 
denft: ich bin and) ein en — ſich die 
Frage aufdringen: 

Iſt es denn nicht moͤglich, daß dieſe drei —— 
Laufbahnen vereiniget wuͤrden, daß das Wiſſen mit 
Thun, und das Thun mit dem Genuſſe geeiniget 

wuͤrde? — Iſt es denn nicht möglich, daß dieſe drei 
Laufbahnen ihre Beſtimmung, ihren Zielpunkt erreichten? — 

Und, wenn die Vereinigung und das Zweckerreichen 

dieſer Laufbahnen möglich iſt, wirklich werden kann, wie 


— 48 — 


heißt denn jenes licht volle, jenes er habene, jenes 
erfreuende Etwas, das die Vereinigung jener Lauf 
bahnen und das Zwederreichen berfelben vermittelt ? 


Jenes licht volle, erhabene, erfreuende Et— 

was, das die drei großen Laufbahnen der Menſchheit in 
Harmonie, und zum Zielpunfte hin bringt, iſt 
(was ich jüngft Die überwiegende Krat zum Guten RAIN 


* Religion. 


Religion, du verfchrienes und vergättertes, 
du geweihtes und entweihtes Wort! Noch ein— 
mal frage. ich: was ift wohl dein altefter, dein voll— 
Daunen er dein.erhabenfter, bein mbar: 
ſter Sinn? 


Zu dem —— vollftändigften, erbaben- 
fen und fruhtbarften Sinne dieſes Wortes führt 
ung die Wortleitung — und die höhere Matur 
des Menfchen. 
| Wenn fidy die menfchliche Vernunft auf der erften 
Laufbahn im Labyrinthe der Irrungen verloren hat, (und 
wie bald verliert fie ſichl), fo Fönnte ihr feine wohlthäs 
tigere Richtung gegeben, werden, ald wenn fie an „ein 
felbftftändiges Wahre obne Falſch angeknuͤpft 
wuͤrde. 

Wenn ſich der menſchliche Wille auf der zweiten Lauf- 
bahn im Labyrinthe des Böfen verloren hat, (und wie 
leicht verliert er fihD, 1B, fönnte ihm feine wohlthätigere 
Richtung gegeben werden, als wenn er an ein ſelb ſt⸗ 
ſtaͤndiges Heilige ohne Fehl angefmüpft wire, 


. Wenn der menfihliche Seligfeitötrieb auf der dritten 
Laufbahn ſich im Labyrinthe des Elendes verloren hat, 
(und wie leicht verliert er fih), fo koͤnnte ihm Feine 
wohlthätigere Richtung gegeben werden, als wenn er an 
ein ge lhfeikanhigep Selige ohne Mangel am 
geknuͤpft würde, 

Mas nun die Vernunft mit dem ſelbſtſtaͤndigen Wah— 
ren ohne Falſch, was den Willen mit dem felbititäns 
digen Heiligen ohne Fehl, was den Seligkeitstrieb 


\ 


— 1 — 


mit dem felbftfländigen Seligen ohne Mangel in 
Berbindung bringt, iſt Religion im älteften, voll 
ftändigften, erhabenften, frudhtbarften Sinne, 


Diefer Begriff ift der Altefte. 
Religio fommt von religare, Lactantius, ber 


gewiß Latein verftand und Religion Fannte, hat den. Altes 


— 


ſten Sinn dieſes Wortes gefuͤhlt und aufbehalten: 


„Quae cum ita sint, ut ostendimus, apparet, nullam 
„aliam spem vitae hominis esse propositam, nisi ut 
„abjectis vanitatibus et errore miserabili Deum agno- 
„seat, et Deo serviat, ac se rudimentis' justitiae, ad 
„eultum verae religionis institut, Hoc vinculo 
„pietatis obstricti, Deo religati sumus, unde 
‘„ipsa religio nomen accepit. — — Diximus, nomen 
„religionis a vinculo pietatis esse deductum, quo 
„hominem sibi Deus religaverit, et pietate conjunxe- 
yrit, quia servire ei ut domino, et obedire ut patri 
 „debemus.“ | 
Was der Fateiner ans ber Mortleitung darthut, fieht 
der Grieche mit den Weiſen aller Zeiten für. das Ziel 
des wahren Philofophen an: — 
Tehog To Yılooopoüvzı 7 meog Oeov Onolwoıg ward 
z0 duvaror. 


Das Ziel der Philofophie iſt die möglich »höchfte Ver- 


einigung mit Gott, Gottähnlichwerdung im Superlativ, 


Suftinus Philoſophus. 
Dasß diefer Begriff der vollftändigfte fey, erhellet 


daraus, weil er alles befaßt, was die höhere Menfchheit 


bedarf. Als ein Vernunftwefen hat der Menſch ein Be— 
bürfnig nah Wahrheit, als ein freithätiges Weſen 
hat er ein Beduͤrfniß nach Heiligkeit, ald ein Gelig- 
feitsfähiges Wefen hat er ein Beduͤrfniß nah Selig. 


feit. Was ihn nun mit dem Wahren ohne Falfch, 
“mit dem Heiligen ohne Fehl, mit dem Seligen ohne Mans 


gel in Verbindung bringt, das entfpricht feinen höhern 


5 


u ib 


Beothefniffei auf die vollſtaͤndigſte Bei und 
das it Religion. 


Diefer Begriff iſt auch der erhabenſte — Hinſicht 
auf den Gegenſtand aller Religion; denn in der Idee 
von Gott kann die hellſte Menſchenvernunft nichts Höhes 
res fehen, als das felbiitändige Wahre, das alle 
Wahrheit erkennt und nichts als Wahrheit offenba- 
ret, das felbitftändige Heilige, das die Heilig. 
keit felbft ift, und Nichts als Heiligkeit gebeut, das 
felbitftändige Selige, das die Seligkeit felbit iſt, 
und nichts ald Seligfeit verheißt und fchaffer. 


‚ Und mit diefem. felbjtftändigen Wahren, Guten und 
Seligen verbindet ung die Religion. | 


Endlich ift diefer Begriff auch der frachtbarfe, - 
denn Religion in diefem Sinne bringt die drei Raufs 
bahnen der Menfchheit, Wiffen, Thun, Genießen, 
in Harmonie und zum Ziele — | 

indem 1) wo Religion if, Wahrheit für die 
Pernunft finddar, Tugend für den Willen erreichbar, 
Freude für den Seligfeitdtvieb genießbar geworden feyn 
muß; 


indem 2) wo Religion ift, die gefundene Mahrheit 
als ein Pfand für volle Befriedigung des Bedürfniffes 
nach Wahrheit, die erworbene Tugend als ein Bürge für 
die volle Befriedigung des Beduͤrfniſſes nach Heiligkeit, 
die genoffene Freude als Siegel und Brief für die volle 
Befriedigung des Beduͤrfniſſes nad) — angeſehen 
werden Fanny 


indem 3) wie die Religion allfiegend und all 
herrfchend wird, fo auch die volle Befriedigung der 
Bedärfniffe nach Wahrheit, Heiligkeit und Seligfeit her 
beigeführt werden muß. 


Anmerkung zur zweiten Vorlefung. x 


: Die Religion kann von zwei Seiten aufgefaßt und betrachs 
tet werden: von der ihres eigentlichen Wefens, und von der ibs 
rer allfeitigen Wirkfamkeit. Ihrem Wefen nach ift fie der Im 
bendige Bund des Menfchen mit Gott, das Band durch welches 


— — 
a 


— 16 — 


der Menſch zu Gott emporgezogen wird, und der Kanal, durch den 
das goͤttliche Leben in den Menſchen hinuͤberfließt. In ihrer all 
feitigen Wirkſamkeit erfcheine fie als die eigentliche Seele der 


- wahren Wiffenfchaft und Kunſt; als Geift aller Achten Tugend, 


und als unerfchöpflicher Born des feligen Lebens. Sie if der 
nach allen Seiten gehende lebendige Radius, welcher die Periphes 
sie bes einzelnen und des Alllebens der Menfchheit mit ihrem 
ewigen Eentrum, mit Gott, vermittelt, und die mienfchliche Les 


densbahn beleuchtet, regelt und befeliger, indem fie der 


BVernunft die ausfchließliche Nichtung zum Urwahren, wie dem 
Willen zum Urheiligen, sund dem Herzen zum Urſeligen einver: 
leibt, und fo den Menfchen in Gott aufnimmt, und Gott gleich 
fam in den Menfihen, als leitenden und belebenden Geiſt deffel- 
ben verfenkt. Sie allein. befriedigt alle Bediürfniffe, zumal da 
dem, mit dem Urleben und dem Allſeyn in inniger und allfeitiger 
Verbindung Stehenden weder der Befig noch der Genuß eines 


wahren Gutes je mangeln kann. 
Der Herausgeber. 





Dritte 


Dritte Borlefung. 
35 a — ee 


4. x 


Was Religionslehre fen, iſt Jedem in — Maße 


klar, in welchem es si der Inhalt und die Art der 
Lehre ift. N 


Der Inhalt der Lehre if Jedem fo Mar, als es 
ihm klar if, was Gott, was der Menfch, was die 
Verbindung des Menfchen mit Gott ſey. Denn Ne 
ligion iſt Verbindung des Menſchen mit Gott. 


Die Lehre Art wird aus dem Zwecke des Lehrers 


und aus den Bedurſuiſſen der beſtimmt werden 
muͤſſen. 


5. en 
Inhalt der Lehre. 
Religion ijt Verbindung des Menfchen mit Gott, 


Was iſt nun Gott? Menſch? Verbindung 
des Menſchen mit Gott? 


Das Höchfte, was das Auge der Vernänft in der 
dee von Gott ſehen kann, iſt 


1) das ſelbſtſt andige Mahre, das alle Wahrheit er⸗ 
fennt, und nichts ald Wahrheit offenbart; 


2) das felbittändige Heilige, dad die Heiligkeit ſelbſt 
iſt, und nichts als Heiligkeit gebeut; 


3) das ſelbſtſtaͤndige Selige, das die Seligkeit ſelbſt 
iſt, und nichts als Seligkeit verheißt und fchaffet. 
— Gott ift der Vernunft 
das Urmwahre ohne Falfıh, 
dag Urheilige ohne Fehl, 


das Urfelige ohne Mangel. 
IM. v. Sailer’s fämmtr, Schriften. VIII. Bd. Zte Aufl. 2 


— 18 — 


*And eben darum iſt er auch das Urſchoͤne, denn das Wahre 
"und Gute in ihrer Einheit if das Selige, dieſe Einheit 
in ihrer Offenbarung das Schöne. Alſo ift das Urfchöne 

daffelbe Urwahre, Urheilige, Arfelige in feiner Iebendigen 

Dffenbarung. Wenn wir alfo Gott mit Plato und allen 

BGottſeligen das Urfchöne nennen, fo ift er uns die 

a Wahrheit, die in ihrer Offenbarung nicht anders als 

ſchoͤn, fo it er uns die Heiligkeit, die im ihrer Offenba; 

zung nicht anders als fchön, fo iſt er ung die Seligkeit, 

die in ihrer Offenbarung nicht anders als ſchoͤn, ſo iſt er 

uns die Schönheit, die im ihrem Weſen nichts als die 
lautere Wahrheit, Heiligkeit und SeligEeit feyn kann. 


x Pas iſt der jetzige Menſch im Auge der Vernunft? 


Das Hoͤchſte, was das Auge der. Vernunft im Men; 
ſchen fehen Fan, ift, daß er, des Wahren, des Heiligen, 
des Seligen empfaͤng lich, ein dreifaches Beduͤrfniß 
nach Wahrheit, Heiligkeit, Seligkeit in ſich 
fühlt — wenigſtens fuͤhlen kann. Etwas, was dem Hoͤch⸗ 
ſten in Gott, dem Urwahren, Urheiligen, Urſeligen korre— 
ſpondirt, ſi ind alſo die drei hoͤchſten Beduͤrfniſſe des Men⸗ 
Pa. | 

1) das Bedurfniß ad Erkenntniß der Wi brbeit; 
denn er. iſt erfenntnißfähig, umd fühlt, ſobald 
fich feine Bernunft zu entwideln anfängt, ein Be⸗ 
duͤrfniß nach Wahrheit; 

2) das Beduͤrfniß nad Heiligkeit: ve iſt 
freit haͤtig, des reinen Gutfeyns fähig, und 

“fühlt, wenigftens in feinen befjern Momenten, , ein 

Beduͤrfniß darnach; 

3) ein Beduͤrfniß nach Seliakeit, die dem TE 
...„ triebe der menfhliden Katur entfpricht, und 

volle Befriedigung gewähretz ein Beduͤrfniß nach 
Seligfeit, deren nur vernünftige und gute 
Weſen empfaͤnglich ſeyn koͤnnen. | 


P Der Menfch ift alſo, nad; der Anficht der — 
gemacht fir Wahrheit, für Heiligkeit, für Selig 
keit. — 


u 


x Bad ift der Vernunft die Verbindung ded Mens 
| fhen mit Gott? 


Wenn wir diefe drei Beduͤrfniſſe der —— Na⸗ 
tur auf Gott beziehen, ſo werden uns die weſentlichen 
Verhaͤltniſſe zwiſchen Gott und dem Menſchen RD, 
nämlich die: 

1) Aus dem Beduͤrfniſſe des Menfchen nad Eitent- 
nid der Wahrheit fann werden der Glaube an 
Gott, als das felbftitändige Wahre, "das alle ra 
heit erfenut, und nichts ald Wahrheit offenbaret — 
Glaube an das Urmwahre; 


2) aus dem Bedürfniffe nach Heiligkeit kann werden 
Liebe gegen Gott, als das felbjtftändige Heilige, 
das die Heiligkeit - ſelbſt iſt und nichts als Heilig⸗ 
keit gebeut, eine Liebe, die das Geſetz „ſey hei— 
lig“ erfuͤllet, und dadurch die Gottaͤhnlichkeit des 
Menſchen, als eines ſittlichen Weſens, vollendet. 

3) Aus dem Beduͤrfniſſe nach Seligkeit, deren ſich Ver— 
nunft und Sittlichkeit nicht zu fihämen haben, kann 
werden — die Zuverficht zu Gott, als dem Wes 
fen, das das jelbftitändige Selige, und zugleich 
bie Liebe ſelbſt ift, die nichts als felig machen will 
jedes Wefen, das feligkeitsfähig iſt. 


Die Verbindung des Menſchen mit Gott läßt ſich 
alfo unter dreierlei Geſichtspunkte BER 


Sie kann betrachtet werden J 

1) als Glaube, der den Menſchen, als ein vernuͤuf⸗ 
tiges, Wahrheit-ſuchendes Weſen, verbindet mit Gott, 
welcher alle Wahrheit erkennt, und als Wahr⸗ 
heit offenbaret; 

2) als Liebe, die den Menſchen, als ein freithaͤtiges, 
nach Heiligkeit ſtrebendes Weſen, mit Gott verbin- 
det, welcher die Heiligkeit‘ IEIOR it, und nichts als 
Heiligkeit gebeut; 

3) als Zuverficht, die den Menſchen, als ein Se— 
ligkeit⸗ ſuchendes Weſen, verbindet mit Gott, der die 

N 2 * 


— 20 — 
Seligkeit ſelbſt und zugleich die Liebe iſt, und feine 
Seligkeit in alle ſeligkeitsfaͤhige Geſchoͤpfe ausſtroͤmt. 


Die Religion iſt alſo, als Verbindung des Menſchen 
mit Gott, 


Glaube an Aa Urwahre, 
Liebe zu Gott, der ift das X lUrheilige, 
Hoffnung auf) "550 Adelige, 

Die Religion ift alfo —— 
Glaube an das Urſchoͤne, \ Urwahre, 


* Gott, * 
Liebe zu ber if das fih ent- | Urheilige, 


Hoffnung auf hüllende | Urfelige. 


*) Diefer Darftellung zufolge iſt alfo Religion r) die Eine 
Richtung des ganzen Menfchengeiftes zu Gott, die in Hin⸗ 
fit auf die hoͤchſte Wahrheit 

— Glaube; 

in Hinſicht auf die hoͤchſte Heiligkeit 

ei DERORH 

in Hinfiht auf die hoͤchſte Seligkeit 

Zubverſicht; 

in Hinficht auf die höchfte Schönheit 
lebendiger Wiedervereinigungstrieb heißen 
kann. 


Dieſer Darſtellung zufolge iſt alſo die Religion 2) die 
rechte Harmonie, die rechte Einheit aller Weisheit, 
Tugend und Geligfeit. Wenn uns der Glaube weife, 

© fen uns die Liebe tugendhaft, wenn uns die Zuverficht, 
diefe Ruhe in Gott, felig macht: fo iſt es Neligipn, die 
diefe wundersolle Einheit der Weisheit, der Tugend, der 
Seligkeit in uns ſchaffet, denn fie iſt ja eben BUNG, 
Liebe, Zuverſicht. 


Dieſer Darſtellung zufolge iſt alſo Religion 3) das 
Gute felbft, und zwar das höchfte Gut des Menfchen, 
umd die eigentliche Vollendung der Menfchheit. Denn 
Religion ift nicht bloß als Liebe das Gute ſelbſt, fondern 
als Weisheit, Tugend und Seligkeit das höchfte Gut, 
ift das, wodurch die Menfchheit vollendet wird. 


Diefer Darftellung zufolge ift 4) leicht begreiflich, daß 
gerade das, was in der Kelision die eigentliche 
Keligion if, die fehieffien und kruͤmmeſten Urtheile über 
fi wird ergehen laſſen müffen. Denn je höher ein Gut 
auf der Stufenleiter des Guten fieht, deſto fchiefer und 
kruͤmmer pflegen die Herheile der Menfchen darüber zu ſeyn, 
indem die wenigſten Augen hinaufreichen, es zu ſehen, 
und die Neigungen in der Tiefe breiten Spielraum 
gewinnen, Irrthuͤmer, die ihnen ei zu erzeugen 
und zu erziehen. 


Dieß if auch die Geſchichte des Tages. run und 
fchief iſt z. B. dar Urtheil der falfchen Politik uͤber Re 
ligion: Die Religion gehe ihn, dem höher ſtehenden Maun 
im Staate, nichts anz denn fie fey nur ein Spielwerk des 

dummen und ein Kappzaum des unbäudigen Poͤbels. 
Er ftehe alfo höher als alle Religion, und koͤnne auf das 
Sdpielwerk nicht anders als mit einem Blicke, des Mitlei- 
leidens herabfehen, und den Kappzaum bloß um der Noth 
willen am Nacken des Volkes dulden, oder als Spielseug 
den Kindern laffen, bis fie es felbft wegwerfen. 


Wie nichtig dieß Urtheil ſey, weiß Jeder, der die Re⸗ 
ligion in ihrem wahren Lichte ſchauet. Er weiß: „Der 
Standpunkt der Religion iſt der allerhoͤchſte, den der Menſch 
erreichen kann, und anſtatt ein Spielwerk des dummen Pö- 
bels zu ſeyn, iſt fie die Weisheit des Weiſen, und anftatt 
bloß Kappzaum des unbändigen Poͤbels zu ſeyn, iſt fie der 
Geiſt aller Ordnung und die Seele aller erhabenen Gedan⸗ 
‚fen, Geſinnungen, ——— * 


Krumm und ſchief iſt z. B. das unhel der. f alfhen 
Gelehrſamkeit über Religion: Sie ſey dem, der die 
Wiſſenſchaft nicht hat, ein Erſatz fuͤr die Wiſſenſchaft, ein 
ſchoͤner Behelf; aber wer die Wiffenfchaft Grant befite, be; 

„dürfe der Religion nimmermeh — 


Wie nichtig diefes Nrtheil fen, weiß Gebet, der bie 
Religion in ihrem ewigen Lichte fchauet. Er weiß: „Daß 
die hoͤchſte Wiffenfchaft ohne Religion fo wenig Stun und 
Beftand habe, als eine Reihe Nullen ohne Einheit — Be; 

“deutung. Er weiß, daß Wiffenfchaft ohne Religion grün 


— —— 


den wollen, nichts anders ſey, als der Peripherie und dem 


Radius Leben geben * ohne den Mittelpunkt alles 
Seyns.“ 


Schief und krumm iſt z. B. das Urtheil der falſchen 
Freiheit uͤber Religion: Religion ſey eine Sklavenfeſſel 

deſſen, der in ſich ſelbſt nicht beſtehen kann; aber er, der 
ſelbſtſtaͤndige Mann, beduͤrfe ſo wenig der Religion, als ein 
ruͤſtiger Juͤngling, der auf eigenen Füßen gehen kann, des 
Gaͤngelwagens der Kinderſtube — 


Wie nichtig dieſes Urtheil ſey, weiß Jeder, der die 
Religion in ihrem eigenen Lichte ſchauet. Er weiß: „Daß 
Religion die einzige Selbſtſtaͤndigkeit ſey, deren die Menſch⸗ 
heit faͤhig if, und daß alle Selbſtſtaͤndigkeit ohne Reli⸗ 
gion eine Selbſtſtaͤndigkeit im Traume fey, im fich eine 
"wahre Bodeniofigkeit. Denn wo wollte der Menfch felbft- 
ſtaͤndig ſeyn Fonnen, als in Dem, der allein aus fich, in 
ſich und fuͤr ſich beſteht ?“ 


Schief und krumm iſt z. B. das Urtheil der falſchen 
Anthropologie: Die Religion ſey nur Angelegenheit 
eines gewiſſen, und eines jetzt ſehr heruntergekommenen 
Standes, ſey nur. Standesſache. 


Wie nichtig dieſes Urtheil ſey, weiß Jeder, der die 
Religion aus der Religion kennt. Er weiß: „Daß die 
Religion nicht bloß Standesfache, ſondern Sache der 
Menfchen, daß fie Sache der Menfchheit, umd nicht 
bloß Sache, daß fie die Höhfte Würde der Menfch 
heit und in jedem Menfchen das Ehrwürdigfte fen; 
er weiß, daß, wenn die Religion den Beruf derer, Die 
‚fie in Thar und Wort lebendig darftellen, ehrwuͤrdig 
macht, fie vorher in Jedem, der jenem Berufe mit Würde - 
vorſteht, den Menſchen ehrwuͤrdig gemacht haben muͤſſe, 
daß alſo nicht von dem Stande der Religionsdiener, 
pie man fie zu hennen pflegt, Ehre und Würde auf die 
Religion, fondern von der Religion Ehre und Würde auf 
ihre Verkuͤnder ausſtroͤme. Ehrwuͤrdig muß der ſeyn, wel⸗ 
cher das Ehrwuͤrdigſte liebt, bekennet, darſtellet, foͤrdert, aus: 
breitet, verewiget.“ 


Mit dieſem aͤlteſten Begriffe von Religion, der hier 
entwickelt ward, ſtimmt überein die neuefte Konftruftiong 


— 


— 28 — 


die nur aus der Tiefe eines religidſen Gemuͤthes gekommen 


ſeyn Fat. Hier iſt das Wichtigſte kutz zuſammengedraͤngt: 


Seligkeit iſt die Ruhe in 1 Zhätigkeit und die Thätig- 
keit in Ruhe. * 
2) Br ift das aleinfelig uch: fig aus m und 
in ſich. | 
3) Der Trieb, ſelig zu ſeyn, ik der * Grundtrieh der 
muen feßtichen Natur. 
4) Diefer Grundtrieb kann fih nur in dem —— 
regen, aͤußern, entwickeln und befriedigen, in welchem das 
Bewußtſeyn von. Gott, als das, Licht in en tiefſten 
Nacht, aufgegangen iſt. 
5) Dieß Spatchrn von Gott ie ein — 2: | 


Mast. / 


6) Wenn diefes RE von Sort in Menſchen zu⸗ 
Vic ein lebendiges Bewußtſeyn feiner Abhängigkeit von 
Gott, alfv auch eine Anerkennung eben biefer Abhaͤngigkeit 
iſt: ſo iſt es Religion. | 


7) Das Bewußtſeyn von Gott, und das Bewußtſeyn 
‚unfrer Abhängigkeit von Gott iſt zugleich ein Gefühl, 
das fich in den Gefühlen der Demuth, der Andacht, der 
Anbetung, der Liebe, der Zuverficht ze. zu erfenuen giebt, 
alſo Frömmigkeit. 


8) Diefes Bewußtſeyn von Gott und unſter 
keit von Gott kann Glaube feyn, oder ein Wiffen, Ilerıs 
dder Tr@sıs, aber ohue Anerkennung unferer Ab: 
hängigfeit von Gott darf es nie Team wenn, es Religion 
ſeyn ſoll⸗ 


9) Glauben und Wiſſen ſind nur zwei andere Stu⸗ 
fen deſſelben Bewußtſeyns von Gott: R 


10). In dem Frommen iſt das Bewußtſeyn von Gott mit 
Liebe zu Gott, und mit Ehrfurcht vor Gott verbunden: in 
dem Laſterhaften mit Widerwillen und Scheu vor allem, 
was an Gott erinnert (mit Unglaube), oder mit knechti⸗ 
* Surcht vor Gott (Aberglaube). 


ı1) Der praktiſche Atheismus iſt im Satan perfonifiitet, 
Joh. VII, 44. Das Bewußtſeyn von Gott if ihm geblie- 
ben, aber die Auerkenntniß Gottes hat er aufgegeben: er 


— 24 — 


glaubt und zittert. af. I, 19. Sein Hochmuth war ein 
Berfuch, fich von Gott unabhängig zu machen; aber diefer 
mißlungene Werfuch fest zu dem Bewußtſeyn von Gott _ 
noch das quaͤlende Bewußtſeyn hinzu, nicht zu vermögen, was 
er verfucht. An die Stelle des Bewußtſeyns von der Ab: 

Haͤngigkeit und der Liebe zu Gott, die in den guten Engelu 
war, iſt da, wo fie fielen, getreten — der Schredfen. Glaube 
und Schrecken vereiniget — find die Unfeligfeit der abs 
gefallenen Engel. 


12) Glaube und Liebe „ vereinigt — find bie Religion 
und zugleich die Seligkeit deffen, dem fie inwohnen. 


Daub, Einleitung in das Studium der chriſtlichen Dogmatik. 


56. 
Wenn alfo Religion, nach dem älteften, vollſtaͤndig⸗ 
ften, erhabenften, fruchtbarften Begriffe, für Menfchen, die 
den Zufammenhang mit Gott verloren haben, eine Wies 
deranfnüpfung an Gott, und wenn diefe Wieder: 
anfnüpfung Glaube, Liebe, Hoffnung'ift: fo wird 
wohl auc ber Unterricht von Religion, Religions— 
lehre, nichts anders ſeyn, als. eine Lehre 
von dem Glauben, 
von der Liebe, 
von der Hoffnung. 


Die Religionslehre theilt ſich alfo, ihrem Inhalte nach, 


1) in die Lehre von dem Wahren, bas wir zu - 
glauben, 


2) in bie Lehre von dem Guten, das wir zu ad - 
ten, zu lieben, zu thun, von dem Gefete, das wir 
zu erfüllen, ; 


-3) in die Lehre von dem S ER das wir mit 
Zuverficht zu erwarten, und einſt zu Ai Ace ha⸗ 
ben werden. 


Die Religionslehre hat alſo drei <heile, beren ber 
erfte Glaubenslehre, der zweite Sittenlehre (beſ— 
fer: Sittlichkeits- und abre⸗⸗ der dritte Selig 

teitslehre ift. 


- 


= 5: — 
CB 
ur —5—— kann nur + für den ein Inter⸗ 
effe haben, fiir den fie, die Religion felber, eines: hat. 
Wem der Lehrinhalt überflißig, Läftig, — fo viel als Nichts 
‚geworden ift, dem muß alle Religiönslehre. eben deßhalb 
überflüßig, Läftig — fo viel als Nichts geworden feyn, 


*Daß die Religion nur für den ein Sntereffe haben Fann, wel⸗ 

cher ein lebendiges Gefühl von der Eitelkeit aller 

Dinge, und einen lebendigen Trieb, felig zu feyn, 

in ſich hat, if in der genannten Einleitung zum Studium 

der chriftlihen Dogmatif vortrefflich erörtert. ‚Gott gebe 

jedem Neligionslehrer ſolche Hörer, die nur das Sntereffe 

an der Rekgion um ihn verfammelt, und ihm felber das 

lebendigſte Gefühl von der Eitelkeit der Dinge, und den 
segen Trieb, felig zu ſeyn in dem Unvergänglichen! 


x 3 ; 
Lehrart | \ 


Der Zwed meines Lehramtes- ift, die. Religion 1) fo 
verftändlich zu lehren, als es ohne Nachtheil der 
Gruͤndlichkeit; 2) fo kurz, als es en MEIN eis 
ner Grundlehre ſeyn kann. 





Erſter rhet der Religionslehre 





Die Glaubenslehre 


#% 


Da der Zweck meined Lehramtes mid; bloß auf die 
Grundlehren der Religion beſchraͤnkt, fo habe ich 
auch in der Glaubenslehre nur die Kundamenta l⸗ 
lehren unſers Glaubens darzulegen. 


Nun hat unſer Glaube drei Grundlehren, deren eine 
wie mit allen Gottes-Verehrern, bie andere mit 
allen Chriſtus-Verehrern, bie dritte mit allen 
katholiſchen Chriſten gemein haben, 


— 20 — 


- Die Grundlehre alfer Religion ift die: 
Gott if, Ein Gott iſt. 
Die Grundlehre aller chriſtlichen Religien iſt die: 
din en Gott kam Chriſtus, 
oder: * 


Eprifus lehrte Gotres- Wort, 
oder: 


Chriſtus iſt von Gott geſandt. 
Die Grundlehre des katholiſchen Chriſtenthums iſt die: 


Was ſich als Lehre Chriſti, als Gottes— 
Wort durch den unwandelbaren Cha— 
rakter der Allgemeinheit der Katholi— 
zitaͤt) ankuͤndet, iſt als Lehre Chriſti, 
als Gottes-Wort anzunehmen. 


Die Glaubenslehre hat alſo drei Abſchnitte: 
RN Erſter Abſchnitt: 


3 


Die Lehre von Gott: Gott if, Ein Gott iſt. 
Zweiter Abfchnitt: 


Die Lehre von Chriſtus: Chrifius fam von Bett, 
Gottes-Wort. 


"Dritter Abfſchnitt: 


Die Lehre von dem — IETSENHONGENADE 
des Chriſtenthums. 


sr Anmerkung zur dritten Vorlefung. \ 


i ' Ein, anderes iſt die Meligion, ein anderes die Religions 
Br jene ift vpr Diefer, und. auch unabhängig. von ihr. - Jene 

iſt ſich gleich, und durchaus. wahr und vollkommen; dieſe ift 

veraͤnderlich, wie die Menfchen, durch welche fie fich ausſpricht, 
und, nad) Mafigabe der Befchaffenheit diefer, volfommener oder 

umvollkommener Die Religionslehre hat drei Gegeufiände, auf 
welche fie zu veflefeitent hat: 

| 2, Gott, Ä 

2) der Menfch, ’ k| 


’ 


3) das Verhältnig Gottes gu dem Menfchen und des Menfchen 
zu Gott. 


Es gehört alfo zur Religionslehre die Gotteslehre, Thea 
logie; die Menfchenlehre, Anthropologie; die VBerhälts 
nißlehre, oder gehre vom Bande zwiſchen Gott und dem Mens 
ſchen, d. i. die Religionslehre im as und frengen 
Sinne. 


Die Lehre vom Sande en den Berhältniffe shärtier Gott 
und dem Menſchen ift gegründet 


a) entweder bloß auf die Ausfprüche ‚der gefunden. Menſchen⸗ 
vernunft, oder 


b) auf die Ausſpruͤche der heil. Schriften überhaupt; oder 


e) auf die heil. Schriften, die Traditionen und amtlichen Er⸗ 
klaͤrungen der Kirche; und fomit erhält fie drei Theile: Ä 


"Der erfie, handelt von Verbindung des Menfıhen mit Gott 
im Lichte der bloßen Vernunft betrachtet, und ift eine Religions⸗ 
lehre innerhalb der Grenzen der Wernunft. Der zweite behandelt 
denfelben Gegenfand, im Lichte der heil Schriften betrachtet, 
und iſt chriftliche Religionslehre überhaupt, Der dritte behandelt 
denfelben Gegenſtand im Sinne und Geifte der Eatholifchen Kits 
che, und iſt Fatholifche Religiouslehre. 


Eine volltändige Religionslehre fest alfo das Studium der 
Philoſophie, das Studium der Exegeſe und der chriftlichen Dog— 
matik voraus, und muß, in miffenfchaftlicher Begründung ihrer 
einzelnen Gegenftände, auf diefelben mitunter zurückgehen. In— 
deffen .ift die Religionslehre weder Philoſophie als folche, noch 
Eregefe oder Dogmatik, fpndern eine Auseinanderfegung und Bes 
ziehung ihrer wichtigſten Refultate auf den Menfchen und feine 


Verhältniffe. 
BGerausgeber. 





; Vierte Borlefung. 


— — — 


Erſter Abſchnitt — Glaubenslehre. 
Gott iſt (Ein Gott iſt). 


Di Sie, m. &.! weder in den Wirften leerer Sye 
fulationen erhungern lafjen, noch mit falfchem Lichte 
fpeifen, fondern auf dem kuͤrzeſten Wege mit der er- 
fen Wahrheit innigft vertraut machen will: fo 
werde ich den Gang nehmen müffen, der Sie am ficher: 
fien vor Labyrinthen bewahren, und am zuverläffig- 
ſten zu einer Ueberzeugung führen wird, die bei fort- 
fehreitender Btldung des Gemüthes an Licht zunehmen 
muß, wie die Geftalt des jungen Tages, und fo wenig 
fterben fann, als die Wahrheit, die Gott felber. ift. 


Der Gang ijt biefer: 


Sch werde erſtens hiftorifch zeigen, wie der Glaube 
an Gott ſo allgemein und unwandelbar gewors 
den fey; zweitens philoſophiſch prüfen den Werth ver- 
fchiedener. Heberzeugungsmittel in Hinficht auf die Grund- 
Ichre: „Gott iſt;“ drittens yraftifch darlegen: das 
fiherfte Ueberzeugungsmittel in Hinficht auf “ 
die Grundlehre: „Gott. iſt,“ und das Fräftigfie Be 
——— vor dem Unglauben an Gott. 


J. 


— 1 
Woher der Glaube an Gott ſeine Allgemeinheit 
und Unwandelbarkeit habe? 


10 
Entftehbung der Frage. 
1) Wir haben die Idee von Gott in und. Gott ift 


und a) ein Selbftfeyn vor, außer und über ung; \ 
b) ein Selbſtſeyn, das von keinem andern Seyn abhaͤngt 


— 29 — 


cein Ur ſeyn); ©) ein allvollkommenes und reinvollkom⸗ 
menes Selbſtſeyn; dI ein Selbſtſeyn, Das eben deßwegen 
das all- und rein⸗vollkommene Erkennen iſt; e) ein 
Selbſtſeyn, dag zugleich das Urwefen und die Urquelle 
alles andern Seyns und Erfennens ift, Gott iſt 
ung alfo dad ur⸗ und all- und re ine voltenmen Seyn 
und Erfennen. 


2) Wir find unter allen Geſchoͤpfen der Erde die 
einzigen, die von dieſer Idee wahrnehmbare Spuren ges 
ben; denn die Thiere verrathen zwar etwas Ver ſſtan d⸗ 
ähnliches: aber nichts Religiondz-ähnlihes In 
den Gefchöpfen, die unter den Thieren flehen, können wir 
noch weniger Spuren biefer Idee fuchen wollen. © 

3) Wir und mit und unzählige Menfchen glauben 
wirklich, daß diefe Idee wahr fey, daß der Gedanfe 
Gott“ fein inhaltleerer Gedanfe fen, daß es: wirklich ein 
ur⸗ md alls und rein: vollkommenes Seyn und Er⸗ 
kennen gebe. 


4) Wir und mit uns unzählige Menſchen glauben an 
Gott, an das ur⸗ und all⸗ und rein⸗vollkommene Seyn 
und Erkennen fo un wandelbar, daß wir ohne dieſen 
Glauben nicht in der Welt ſeyn möchten, und: die meiften 
feined Zweifeld daran fähig find, und —9 die beſten 
ſich eines Zweifels ſchaͤmten. 


Es entſteht alſo die Frage: 

„Wie kommen wir und mit uns unzaͤhlige Menſchen 
zu dieſem allgemeinen und unwandelbaren — „Gott 
iſt“? 

I 0 
. Aufldfung Der Frage. 


Die Traditionen (die Ueberlieferungslehten), „Daß 
es einen Gott gebe, daß ſich Gott den Menfchen geoffen- 
baret habe,” find unter alten und neuen Voͤlkern zu fine 
den, und unter diefen Traditionen zeichnen fi ich beſonders 
die des Judenthums und des Chriftenthums aus. 


Durch Hülfe der ;chriftfichen Traditionen werden wir 
Alle, von den früheften Jahren her, in dem Olauben an 


* 


Gott unterrichtet. Wir Alle find von Eltern, die an 
Gott glauben, geboren, erzogen u. ſ. w. Die Tradition 
it alfo offenbar eine Urfache des Unterrichtes, daß Gott 
ift, und ‚der Unterricht- für uns eine nächte veranlaffende 
Urfache des Glaubens an Gott. -Unfer eriter Glaube 
an Gott ift alfo Traditionell Won Mund zu Mund, 
von Vernunft. an Vernunft, von Herz an Herz tiberliefert). 


— RR y © | 

Allein, wir werfen fo viele Stuͤcke des frühern Unter: 
richte8 weg, warum halten wir und denn fo feft an die— 
fen: Glauben: Gott hr Was befeftiget ung in diefem 
BORKEN, 

In diefem Glauben befeftiget ung erfteng und vor- 
— die nie ganz und auf immer verſtummende und 
durchaus unvertilgbare Stimme des Gewiſſens, die uns 
vom erſten Erwachen der Vernunft an, im Namen eines 
hoͤhern Weſens, gebeut, verbeut, los ſpricht, ans 
klagt, belohnt, ſtraft. 

Das heilige Geſetz in uns, und das Gewiſſen — 
der Anzeiger und der Richter des Guten und Boͤſen, 
die Scham, die Reue, die Furcht nach vollbrachtem 
Boͤſen, die heiße Pein des Uebelthaͤters aus dem Be: 
wußtſeyn der Uebelthat, die Zuverficht und der Muth 
des Rechthandelnden dringen und die Leberzeugung auf: 

Es muß, es muß ein hoͤchſt-heil iges, hoͤch ſt⸗ 
gerechtes Weſen geben, von dem das heilige 
Geſetz und das rechtfprehende Gewiſſen ſtam— 
met. Die Wege, wie die Menfchen Gott in ihrem Ge- 
wiffen finden, find mancherlei. Aber, daß alle Gottes— 
verehrer auf dem Wege des Gewiſſens, wenn auch nicht 
an Gott glanben lernen, doch im: Glauben an Gott be: 
färkt werden, das it außer Zweifel. 

Deßhalb war dus Gewiffen den Alten der Gott in 
ung, deßhalb konnte Lipfins, der das Haffifche Alterthum 
fleißig durchforſchet hatte, das Gewiſſen nicht richtiger be⸗ 
ſtimmen, als: reliqua rectae rationis in homine 
scintilla, bonorum malorumque facinorum index, 


et judex, und: violati numinis aut perperam enl- 
ti tristis cogitatio et morsus, Das Gewiffen iſt die 
Reliquie des göttlichen Funkens in uns; iſt der Neft 
der heiligen Natur, der noch Gutes und voͤſes anzeiget 
und richtet; iſt das niederſchlagende Bewußtſeyn der Ent⸗ 
heiligung oder falſchen Verehrung Gottes.“ Denn, wie es 
das Boͤſe ſtrafet, fo ſtrafet es beſonders die Gottesvergeſ—⸗ 
ſenheit; wie es das Gute billiget, fo billiget es beſonders 
das Andenken an Gott, gerade, als wenn das Boͤſe— 
und Gotted vergeffen, das Gute — und Gott im Anden⸗ 
fen behalten — Eines wäre, wie es auch ift. 


Seneca, der im Blicke auf die Wogen und Fluthen 
feiner Zeit oft da8 Göttliche aus den Auge verloren 
hatte, fand es ‚wieder, wenn er ed in feinem Gewiſſen 
auffuchte. Am. treueften mochte er in feinem Gewiſſen 
nachgefucht haben, als er, in der ſchoͤnſten Anfchanung fe 
bend, an Lucilius fchrieb Epist, XLL: ,„Prope est a 
. .te DEUS, tecum est, intus est.; Ita dico, Lucili, 
sacer intra nos spiritus sedet, malorum bono- 
rumque nostrorum observator et: ‚custos: hie, 
prout.a nobis tractatus, est, ita nos ipse tractat. 
Bonus vir sine DEO nemo est. ‚An potest alı- 
quis supra fortunam, nisi ab slide adjutus, exsur 
gere?. Ille dat consilia ‚magnifica 'et erecta. In 
unoquoque virorum bonorum — — habitat DEUS. 


„Nahe bei dir ift Gott, Er ift mit Dir, Er iſt in 
dir. Sa, lieber Lucili, ich wiederhole es: ein heiliger 
Seit wohnet in uns; der bemerfer unfer Gu⸗ 
tes und Boͤſes, der.bewahret und Wie wir 
Shn behandeln, fo behandelt Er und Ohne 
Gott — hat e8 nie einen guten Menfhen ge 
geben Wie follte fih ein Menfch über Gluͤck und Ui 
glück erheben, wenn ihn Gott nicht ſtuͤtzte? Der ftüget, . 
der giebt ihm erhabene, himmelanftrebende Gefinnungen 
in's Herz. In jeden guten Manne — iſt Gott zu Haufe.” 

Deßhalb, wenn unfere Sprache, die‘ philoſophiſcher iſt 
als viele Philoſophien, deutſche und nichtdeutſche, einen 
boͤſen — hen im Superlativ ſchildern will, nennt 





a 


fie ihn — einen Gottlofen, als fagte fie: wer fich von 
Gott losgemacht hat, der ift von allen heiligen Ban- 
den los, — und zu. allem Böfen fertig. 


Man hat aud) noch feinen Heiligen gefehen, der ſprach 
Es iſt Fein Gott. 


Beſonders merkwuͤrdig iſt die Erſcheinung, daß die 
Menſchen, die ſich in Syſtemen, die das Goͤttliche ent— 
huͤllen wollen, trennen, in dem Gewiſſen, das das Götts 
liche, verhuͤllt, der — darſteltt, wieder vers 
einigen. | 


Man kann alſo bas — als den Focus, den 
Vereinigungspunkt der Syſteme anſehen. Und wie man 
unter den Juſtizſtellen jene, von welcher man nicht weiter 
appelliren kann, die höchfte und letzte Inſtanz nennt, 
fo muß die hoͤchſte und letzte Inſtanz des Men— 
ſchen im Gewiſſen geſucht werden. In dieſer 
Anſicht theilen ſich, nach der merkwuͤrdigen Eintheilung ei⸗ 
nes Philoſophen, die Gelehrten in zwei Klaſſen: Einige - 
wollen fic) lieber am Siyfteme, als ar der Majeftät 
diefes hoͤchſten Ortes verſuͤndigen; Andere lieber 
an der Majeſtaͤt dieſes hoͤchſten Ortes, als am 
Syſt eme... Wohl denen, die das —— sapere 
nicht bi an diefe Grenze treiben zu mäffen wähnen! 


Su dem Glauben an Gott befeftiget ung zweitens: 
der tägliche Anblik der Natur, und die fiber die Ord- 
nung, Schönheit und Dauer dieſes Schauplageg, 
und über den Sinn der großen Begebenheiten, die darz 
auf gefpielt werden, nachſi innende Vernunft. 


So lange das Urtheil in ung geſund bleibt, und in 
4 ofe ern es noch gefund ift: fo findet die Menfchenvernunft 
in der Ordnung der Welt die höchite Vernunft — Gott; 
in der Schönheit der Welt die höchite Schönheit — Gott; 
in der Dauer jener Ordnung und biefer Schönheit — die 
Ewigkeit — Gott, | 


Wer Gottes Stinime in fi ch vernommen hat, kann 
Gottes Fußtritt in der Natur leicht erfehen. 
Be. Mer, 


a 


Aber, was Gottes Stimme im Gewiffen vernimmt, 
Gottes Fußtritt in der Natur erficht, ift das vernechs 
mende, bad erfehende Gemuͤth des Menfchen. 


Die Sterne des Hiinmels und die Blumen der Erde 
verkünden nun auch denſelben Gott, den das Gewiſſen 
ausgeſprochen hat. 


Und nicht nur der Bauer 24 Dichter, ſondern jes 
des geſunde Gemuͤth ſingt mit dem Bauer, der der Sonne 
ſein Lamm bringen moͤchte: 


Iß, liebe Som, ich er es gern, 
Und willſt du mehr, fo ſprich; 
Gott in dem blauen Himmel oben, 
Gore denn belohn’ es din. .... 


Und, weil wir Ihn wicht. fehen Können, 
Will ich. wahrnehmen fein; 
Und an dem edlen Werk erkennen, 
Wie freundlich Er muß ſeyn. 


Wer alſo ſchon an Gott glaubt, ia den richtigen 
Blick auf die Natur hat, kann durch dieſen Blick auf die 
Natur in feinem Glauben an Gott geſtaͤrkt werden. 


Es hat fogar die Erfahrung gelehrt, daß, wenn die 
Spekulationen die Anfchauung Gotted aus einer reis 
nen Seele verdrängt hatten, ein gerader Bli auf die 
Natur hinaus und in das. Gemiffen hinein — die ver 
drängte Anfchauung Gottes in die darnach fchmachtende 
Seele wieder zurückbringen konnte. Hieher gehört auch 
die Elaffifche Stelle: — 

„Zwei Dinge erfuͤllen das Gemuͤth mit immer neuer 
und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je oͤfter 
und anhaltender ſich das Nachdenken damit beſchaͤftiget: 
Der geſtirnte Himmel uͤber mir, und das moraliſche 
Geſetz in mir.“ 

In dem Glauben an Gott ſtaͤrkt uns drittens: die 
unaustilgbare Achtung für die allgemeine Men— 
f henvernunft, die fich in und defto mehr entwickelt, 


je fleißiger wir erwägen, daß fich der Glaube an Gott 
I. M. v. Sailer’s ſämmtl. Schriften. VIII, Bd: Z3te Aufl. 3 


— BD u 


zu allen Zeiten und unter allen Völkern der Erde erhal 
ten hat und erhält, indefjen der Strom der Zeiten fo 
viele Selbftgemächte von Meinungen verfchlungen hat und 
verfchlingt. Der dies, quae judicia naturae confir- 
mat et commenta opinionum delet, hat gewiß auch 
längft ven Glauben an Gott zu einem Judicium na- 
turae, und gerade den Glauben an Gott sum eriten 
Judicium naturae geftempelt. 


Jeder Menfch, der an Gott glaubt, ift ung ein neuer 
Zeuge, daß ein Gott if. Das Menfchen-Antlig zeugt 
bafır: das ift ein Menfch; der Glaube an Gott 
bürgt dafür: das ift Vernunft— an eine hoͤch— 
fie glauben, x 

Nemo omnes fallit, omnes neminem, — Se⸗ 
neca, und es iſt nach Cicero feine Nation fo roh, die, 
wenn fie gen Himmel blickt, fein höheres Wefen ahnet. 


So viel Vernunft im Menfchen, fo viel Bewußtfeyn 
Gottes; fo viel vernünftige Fan fo viel — Zeug⸗ 
niſſe: Gott iſt. 


Daß dieſe allgemeine Vernunft, die nichts iſt als 
eine allgemeine Anerkennung Gottes, eine Univerfalz Dffen- 
barıng Gottes ſey, hat F nee am fchönften darge 
ftellt,, und dadurch die Ueberzeugung aller Weifen aus- 
gefprochen. (S. die Weisheit auf der Gaffe, oder Sinn 
und Geijt deutfcher Sprichwörter. ©. 13— 16.) 

Dieſe Stimme der allgemeinen Menſchen-Vernunft ift 
fo mächtig, daß fich viele Menfchen nicht einmal die Mög: 
lichfeit eines Atheiften denfen koͤnnen. 


Dieſe Stimme der allgemeinen Menſchen⸗Vernunft 
 (sensunt conımunem naturae) kann Jeder in fich wahr: 
nehmen, in dem ſich die individuelle Vernunft entwickelt hat. 
Dieſe Stimme fegen wir auch fo oft voraus, als oft 
wir ein vernünftiges Urtheil ausfprechen. Denn ein 
Urtheil iſt nicht vernünftig, weil ein Schwarzer, oder 
ein Brauner, oder ein Weißer unter mancherlei Hin 
melsſtrichen jo urtheilet, fondern weil die Vernunft, hin- 
laͤnglich entwicelt und von dem. wahrheitfcheuen Egois⸗ 


— 85 — 
mus ungehemmt, in mir und im dir, und in jedem Men—⸗ 
fchen fo urtheilen würde, und nothwendig fo urtheilen 
müßte. Die Bernunft fieht nicht richtig, weil fie meine, 
oder beine, oder die Vernunft eines Dritten ift, fondern 
weil fie die „Bernunft“ if. | 


* Daß die allgemeine Menfchens Vernunft eine Univerfals 
Dffenbarung Gottes fey, erzählen die Blätter der Welt 
gefchichte Elar genug; bier nur eine Zeile aus einem diefer 
Blätter. (Aus dem Briefe des franzöfifchen Deiffionärs 
I Bouchet au den Biſchof von Aoranches.) „Ein Bras 
mine verfichert mich, aus einem ihrer älteften Aue: Fol⸗ 
gendes genommen zu haben: 

„Stellet euch eine Million großer, ganz mit Waffer ans 
gefüllter Gefäße vor, auf welche die Sonne ihre Lichtſtrah⸗ 

Ni hinwirft. 

Odbgleich dieſes herrliche Geſtirn einig in ſeinem Weſen 
iſt, ſo vervielfaͤltiget es ſich doch gewißermaßen (in einem 
Augenblick) in allen dieſen Gefaͤßen. m fiebt in jedem 
Das aͤhnlichſte Bild der Sonne. i 

Unfere Leiber find jene Gefäße vol Waffer ; die Sonne 
it das Sinnbild des. höchften Wefens, und das Bild der 
Sonne, gemalt auf jeden Gefäße, ftellt uns unfere Seele 
dar, die nach dem Bilde Gottes gefchaffen iſt.“ 


Sm Glauben an Gott ſtaͤrkt ung viertens: der 
Slaube an die ÄAltefte Gefchichte. In diefer lefen wir von 
einem höchften Wefen, das die ganze Welt, das insbeſon⸗ 
dere das erſte Menfchenpaar- erfchaffen hat, aus dent hevs 
nach die uͤbrigen Menfchen entfprungen find. Diefer Gott 
erfchien den erften Menjchen, vedete mit ihnen, gab ihnen 
Gefege, drohte, ſtrafte u. f. fe „Gott ſprach, und es 
ward; Gott ſchuf den erſten Menjchen au feinem. Ebeits 
bilde, 


Aller Glaube an Gott war alfo (der Gefchichte und 
aller vernünftigen Anficht nad)) urfpriinglich pofi itiv; 
zuerſt eine Offenbarung, eine Verheißung, ein Gebot; 
dann Glaube, Vertrauen, Gehorfam. Die Geſchichte fieng 
mit dem Glauben an Gott an, und beſtaͤrk te ihn. 

3* 


— 85 m 


Man muß fchon fehr ſpitzig geworben feyn, went man 
den Glauben an die Altefte Gefchichte und mit ihm eine öf- 
fentliche Stüße des Glaubens. an Gott wegwerfen kann. 


Die tiefften Forfcher in den Schriften des alten 
Bundes, die einen gl eich tiefen Sinn für Religion has 
ben, vereinigen ſich in dem großen Reſultate ihrer For⸗ 
ſchungen: 

„Man kann die Schriften des alten Bundes als Ge; 
fhichte, oder als Symbole höherer Belchrungen, oder 
als Gefchichte und Symbole zugleich betrachten. Als 
Gefchichte tragen fie das Gepräge der Simplicität, 
ald Symbole das Gepräge der Univerfalität, als 
Gefchichte und Symbole das Gepräge der herrlichiten Of- 
fenbarung von dem: Ich bin, der Ich bin“ 

Mit diefem Nefultat ſtimmt überein die Weltgefchichte. 9 
Wirklich war und ift das Judenvolk ein Gefäß, das Die 


Erfenntniß des Einen Gottes unter allen Völkern, unter 


denen es zerftreut ward, umhertrug und umherträgt. Und 
fo. unrein jest dieß Gefäß geworden feyn mag, fo rein, 
fo föftlich ift der Schaß, der darin liegt: Ein Gott, 
der Schöpfer Himmels und der Erde Es if 
alfo Thatſache: Der Glaube an die ältefte Gefchichte 
verbreitet und befeiliget da, wo er lebt, den Ölauben: 
Gott if, Ein Gott if. 


7) Denn die rechte, die einzig-wahre Weltgefchichte fangt 
ſich an von dem rechten Anfange, von der ewigen Geifters 
ſonne, von der ewigen Vorfehung, und drängt fich 
mit ihr zum rechten Ende, zur DVerherrlichung Gottes und 
zur Verklärung der Geifter- und Menfchenwelt 
in Gott. Eine Darftellung diefer rechten Weltgefchichte er: 
marten wir. von dem deutfchen Manne 3. Goͤrres, und, 
wie feine drei erſten Vorträge erwarten Iaffen, nicht ver; 
gebens. Er verkündet die herrſchende Gottesmacht, 
welche den Kauf der Begebenheiten Ienft, die willigen Sreis 
heitskraͤfte leitend, die widerftrebenden siehend, und nur die 
gefnechtete Natur im Zügel der Nothwendigkeit —— 
und ſie an unbeugſame Geſetze bindend. 
Dee WertallErn 





\ 


— 3 7 — 


Sn dem ‚Glauben an Gott ftärfet und f uͤnftens: 
die wichtigere, uns naͤher liegende Stiftungsgeſchichte des 
Chriſtenthums, und die fortdauernde Wirkung deſſelben. 


Nuͤchterne, reine Gemuͤther koͤnnen nicht wohl 
‚an der Glaubwuͤrdigkeit der Evangelien zweifeln... und 
was als Thatfache der Offenbarung erzählt wird: Gott 
hat fich als Liebe, alsı Vaterder Menfhen in 
und burd Jeſus Chriſtus geoffenbaret, ift ihren 
höhern Beduͤrfniſſen durchaus fo angemeffen, daß ihr Herz 
mit. der Sprache der Dffenbarung, einftimmend — aufs 
rufen muß: Wahrhaftig! Goͤtt ift die Liebe, Und, 
wenn einmal: das Herz Ja fagt zu der Troftbotfchaft: 
Gott ift die Liebe: fo hat die Vernunft ſchon Fa 
gefagt „‚zu Dem Lehrworte Wenn Gott die Liebe 
iſt: ſo iſt ie Gott iſt. 


Selbſt das fortdauernde Predigtamt in der — 
Kirche, was iſt es anders als ein fortſchallendes Zeugniß: 
Gott iſt die Liebe, die Liebe iſt, Gott iſt? 


In dem Glauben an Gott werden unzählige Menfchen 
befejtiget, fechStens: durch die wundervollen Schiefale 
ihres Daſeyns, darin es ihnen unmöglich ift, die höhere 
Hand zu verkennen. Die Begebenheiten ihres Lebens find 
ihnen Ringe Einer Kette, und Die Et die fie hält, 
ist ihnen Gott, — 


Ihr — ab floͤßet Achtung für id diefes 
Geiſtes ein: AN 


„Bott in feinem individuellen Lebensgange nicht fin- 
den — . zeugt. ſchon von einem ſtumpfen Blicke; 
Ihn nicht fuchen, von einem im Rauſche des DVergäng- 
Iihen verfunfenen Gemuͤthe; Ihn ungefucht fürs 
den und nicht anbeten, von einer Kummen Seele, 
welche bereits in ein Sichel» Verhältniß: gegen, die Eine 
höchite Wahrheit, die. nur mit geradem Geiſte gefaßt 
werden kaun, getreten iſt.“ 


Unter den wunderreichen Begebenheiten, Die ihren Glau⸗ 
ben ſtaͤrken, find ihnen die wunderreichften, glauben— 
ſtaͤrken dſten die Gebets- Erhörungen, deren 


ir 


— IE 


Wahrheit -fie felbft nicht bezweifeln koͤnnen, und feinem 
Andern beweifen wollen. — Selbſt Feder, Profeffor 
der Philofophie in Göttingen, in feiner Schrift über Raum 
und Kaufalität, geftehet es. ein, wie fehr ihn geglaubte 
Gebets - Erhörungen im Glauben an Gott geftärkt haben. 

Die höchite Befeftigung im Glauben am Gott verfchafs 
fet fiebentens: den vertrauten Freunden Gottes der ver: 
trante Umgang mit Gott felber und ein götts 
liches Leben. Die Freundfchaft mit Gott überzeugt fie 
am Beften von ihrem Fremde, daß Er ift. Shr Leben 
im Lichte ift ihnen der ftärffte Beweis, daß das Licht 
iſt. Ihr Leben, ein Ausdrucd der Liebe, nad dem Urs 
bilde der Liebe, ift ihnen der. ftärkite Beweis, daß das 
Urbild, die Liebe ift..: Da fie die Tugend, dag Ocıov, 
in ſich haben, fo koͤnnen fie nicht zweifeln, daß Gott, 
©eos, iſt. Sie haben. ein Gdttliches in ſich: fie koͤnnen 
alfo nicht zweifeln, daß es ein Göttliches vor, außer 
und über ihnen gebe.. 


- Hiervon. nur zwei Zeugniffe: 


—Plhaton. 


„Was uns goͤttliche Dinge erkennen lehrt, kann nicht 
in Worte gefaßt werden, wie die uͤbrigen Wiſſenſchaften; 
ſondern aus dem taͤglichen Umgange mit demſelben, und 
aus dem göttlichen Leben entjteht endlich in der Seele ein 
Licht, wie von einem ſchimmernden Heuer, welches fich. 
von * unterhaͤlt.“ | 


sgatobi. L 


„Der Geift meiner Religion ift alfo das: durch ein 
göttliches Leben wird der Menſch Gottes inne. Aus dem 
Genufje der Tugend entfteht die Idee eines Tugendhaften ; 
aus dem Genuffe der Freiheit — die Idee eines Freien; 
aus dem Genuffe des Lebens — die Idee eines Leben- 
digen; aus dem Genuffe des Goͤttlichen — die Idee eines 
Gottähnlichen und Gottes.’ — — — 


Sp wird der Glaube an Gott allgemein und dauer⸗ 


Be 


/ 








Fünfte Bo rlefung. 


Be ex 


$. IE. 


en des Werches, den verfchiedene Uebergeigungs- 
— von der Wahrheit —* — haben. | 


————— 


Die ı gemeine — (die keine ſ—— — Bil⸗ 
dung erhalten) "glaubt, ſich von der Wahrheit „Sort if“ 
— dem Anblicke der Natur überzeugen zu koͤnnen. 
Se kuͤnſtlich gebil dete (ſcientifiſche/ das heißt, 
— ———— erzeugende, oder Miffenfchaft fuchende Vers 
nuuft) hat es feit langem 'verfucht, den Glauben an Gott 
in ein Wiffen, und die Gründe‘ des Wiffens in die Form 
eines firengen Beweiſes zu verwandeln,  alfo bie na 
heit „Bott i ſt apodiktiſch darzuthun. | 
Wenn wir alfo die Ueberzeugung des Menfchen von 
Gott prüfen wollen, fo birfen wir Die Schritte, ‚die die. 
gemeine, und die. Verfuche, die die kuͤnſtlich gebildete Ver— 
nunft hiexin gemacht hat, nicht unbeachtet Laffen. 
Prüfung der Kenntniß von Gott, die ſich die ge⸗ 
meine Vernunft aus dem Anblicke der Natur 
verſchafft oder zu verſchaffen glaubt. 
| Es giebt hierin gewiffe Data md richtige 
Saale e, die uns. im’s — — 
Die 5— Data. n\ ieh 
Es iſt gewiß: | | | 


I. Kein Menſch kann bie; ——— sn bat 
ſich nur eine Bank in dieſem Hörfale ſelbſt gemacht hätte. 


Wo wir Spuren der Ordnung fehen, da ift und der Ges 


danfe an eine ordnende Hand natürlich, und das Gegen⸗ 
theil unnatuͤrlich. 


Es it gewiß: 


II. daß die Natur, als ein ſchoͤnes Kunſtſtuͤck bes 
trachtet, vortrefflicher fey, al® das erfte menfhlide 
Kunffind. Das geringfte Blümchen auf dem Felde 
it funftreicher, als die fchönfte Tapete im Königs s Zims 
mer, und, wenn Apelles eine Roſe malte, wer wollte den 
Nofenmaler Apelles über die Nofenfchaffende Natur hin 
‚ auffegen? Eben das madıt ja den höchiten Werth eines 
Kunftgemäldes aus, daß es dem Naturgemälde am nädıs 
ften fommt, und die Taͤuſchung, die eins fir das andere 
nimmt, erzwect, Die Natur, bleibt immer ald Driginal 
über alle Kopien der Kunſt unerreichbar erhaben. . 


Selbft der höchite Ausdruck der Religion in einer 
Statue, einem Gemälde, einem Gedichte ſteht weit 
unter dem Ausdrude der Religion in einem lebendigen, 
von Religion dur ch drungenen Menſchen. 


Es iſt gewiß: 


IH. daß fein Menfch, der nicht in Spekulation. oder 
Wahnſinn verirrt ift, ſich bereden kann, der blühende Baum 
hätte mit feiner innewohnenden Weisheit und feiner 
freien Kunſt die ſchoͤne Blüthe, in der er fo fchön ge 
ſchmuͤckt erfcheint, ſelbſt erfunden und felbjt hervorgetrieben. 

Wo wir Ordnung fehen, da denfen wir an eine ord- 
nende Hand, die von den geordneten Weſen verfchieden 
ift; und dieſes Denken ift und natürlich, Das Entgegen 
geſetzte fo unnatuͤrlich, daß wir es nicht denken koͤnnen. 


Es iſt gewiß: 


IV. wenn die gemeine Vernunft von der ganzen 
Welt urtheilt, wie ſie vom geringſten Kunſtſtuͤcke urthei- 
len muß, ſo kommt ſie natuͤrlich auf den Gedanken an 
ein hoͤheres Weſen. Wo Spuren des ordinis summi, 
da ein intellectus summus. Wo eg eines Uner⸗ 
— da’ ein Urſchoͤnes. 


Diefe Denfart I und fo or ale; weimal 
zwei vier. 


Es iſt gewiß: 

V. wenn die gemeine Vernunft wirklich an Gott 
glaubt, fo findet fie in dieſem Glauben Beruhigung — fie 
hat für fi) das Ce ntrum, aus dem alle ihre fernern 
Gedanken aus und in das fie zuruͤckgehen Finnen, fie 
hat für die Leiter, deren Sproffen die Welt abbilden, 
einen Haltungspunkt, auf. dem: fie aufliegt, und für 
die Kette, deren Slieder die Welt ausmachen, eine Han b, 
die fü e fefthält, ‚gefunden. 

Jener Mittelpunft, diefer Haltungspunkt, 
die alltragende Hand — tik ihr Gott. 


Es iſt gewiß: 


VI. wenn die gemeine Vernunft, buch die Einfluͤſſe 
der Erziehung 'entwid elt, von frühen Jahren an, in 
Anbetung Gottes, und in treuer Vollbringung des Guten 
genbet, und beſonders wenn ſie willig geworden iſt, 
dem erkannten Gott die Ehre zu geben, die ihm gebuͤhrt: 
fo findet fie bei einiger Betrachtung der Natur» Dromung, 
der Natur - Schönheit und des Natur Beftandes — ihren 
‚Gott fehr leicht auch ‚in der Natur. 

Es iſt aber auch gewiß: 


VM. wenn die Vernunft gruͤbelnd oder ind Um 
endliche forfchend geworden ift, fo Fann fie ihren Gott 
in der Natur fehr Teicht verlieren. Die Gefchichte giebt 
‚Beifpiele genug. .: Biele Naturforfcher haben in ber 
Natur das Leben der Natur, oder wenn man will, den 

Präfidenten der Natur, verlorem | 


Es ift gewiß: 


VIII. daß, wenn die Vernunft im Dienfte der Leis 
denfchaft umd des boͤſen Willens Frohndienfte thut, fie 
ihren Gott in der Natur verlieren kann, bei eintretender 
Uebermacht des Böfen auch verlieren wird. Dem Diebe 
it das brennende Licht im Haufe, in das er bei Nacht 
einbrechen will, zuwider: der Leidenfchaft — —* deſſen 
Blick die unheilige — verdammt. 


Es it gewiß; 

IX. wenn wir aud; wirklich — Gott, als eim hoͤhe⸗ 
res Weſen, durch die Natur, und in der Natur kennen 
gelernt haben: ſo iſt doch dieſe Kenntniß mehr eine Kennt⸗ 
niß, daß ein höheres. Weſen ſey, ald — was e8 fey. 
Wir fehen nur das ‚Theater, aber den Käufer, der die 
Rollen ‚austheilt, — wir nicht. 


Es iſt gewiß: 

X. wenn die gemeine Vernunft fi: Gott‘ als ein 
PN gerechtes Wefen denkt, fo kann fle- Die 
Begriffe, Heiligkeit, Gerechtigkeit, nicht aus der Eörperlichen 
Natur genommen haben; fie muß fie aus Belehrung 
und wenigftens bei weiterer Bildung, aid aus den Au s- 
fprühen des ‚Gewiffens und dem Primate des 
Geiftes borgen — wiſſentlich oder unwiſſentlich. Ja 
ich ſetze bei: ſelbſt die Begriffe, Ordnung und Sch oͤn⸗ 

eit, findet auch die gemeine, Vernunft ſchon mehr, in 
ſich, als daß fie fie aus der Natur abzöge. 8* 


er 
Die rihtigen Schlüffe. 


Aus dieſen stv igen Datis macht fich ber Schluß 
wie von ſelbſt: 
Weunn die gemeine Wenchenvernunt erſtens: im 
richtigen Urtheile ſchon geuͤbet, und insbeſondere durch 
Belehrung und durch Umgang mit, Gottverehrenden Men— 
fchen aufmerffam geworden ift auf die Wahrheit: 
Gott iftz wenn fie 

zweitens: über die ganze fihtbare Welt als Kunft- 
füd nach dem Geſetze urtheilt, nach welchem fie über 
jedes menfchliche Kunſtſtuͤck urtheilt und zu urtheifen ſich 
‚genöthiget fühlt; wenn fie 
drittens: noch durch Fein fortſchreitendes Nachfor⸗ 
ſchen in ſpitzige Gruͤbelei verſtrickt, noch durch kein bered⸗ 
tes Beiſpiel des Unglaubens irregefuͤhrt worden; wenn fie 
viertens: durch feine Leidenſchaft gehemmt, auf 

die Natur einen gefunden Bli zu thun oder ihn daranf 


 : Bi 


feftzuhalten, und durch keinen geheimen Wunſch, geſetz⸗ 
[08 zu leben, beſtochen worden iſt, das Nichtſeyn des 
hoͤchſten Geſetzgebers wahrſcheinlich zu finden; wenn ſie 


fuͤnftens: durch Gewiſſenhaftigkeit (durch 
erprobte Willenstreue, die nur nach dem Ausſpruche des 
Gewiſſens handelt) iſt faͤhig und bereit geworben, dem 
erkannten Gott die Ehre zu geben, die ihm gebuͤhrt, d. i. 
ihn Durch Rechtthun, „unter den Menſchen zu verherrlichen: 
ſo kann ſie, unter dieſen Bedingungen, in der Ordnung 
und Schönheit der Natur und beſonders in der Bes 
ftandheit dieſer Ordnung und diefer Schönheit viele 
einleuchtende, „überzeugende Spuren eines höher Weſens, 
das wir Gott nennen, finden, und ‚aus dieſen wahrge—⸗ 
nommenen Spuren fi) zu dieſem höhern. Weſen auf⸗ 
ſchwingen und im Glauben an —1* — gegruͤndet werden, 
doch ſo, daß 

f echstens: der Durſt nach Erfenntnig Gottes, als 
eined als und rein ⸗vollkommnen Urſeyns und Urerfens 
nens, auf feine Weiſe durch diejen Vernunftglauben ganz 
befriedigt werden Faun, und fo, daß 


fiebentens: der Menfch durch bloße Betrachtung 
der Natur weder gegen. den Zweifel des eignen, grenzens 
[08 = forfchenden Räfonnirvermögens, noch gegen. alle Ans 
Hriffe des fremden, raͤſonnirenden Unglaubens, noch gegen 
bie Sophiſtik der Leidenfihaften gefichert ‚fegn dürfte. 


Der Schluß ift, feiner Form und feinem Inhalte nach, 
ſo zuverlaͤſſi g, als die — A: 


’ 16. x BEN 
Die genannte Kenntniß Gottes aus der Natur ift 
alfo erfteng: ihrem Urfprunge nach fehr bedingt und 
vieloorausfegend. Fuͤnf „Wenn“ machen die 
Kenntniß allerdings bedingt. 


Die genannte Kenntniß Gottes aus der Natur iſt 
zweitens: ſehr unvollkommen; unvollkommen in 
Hinſicht auf das, was ich erkenne, denn ſie iſt mehr 
Kenntniß, daß ein hoͤheres Weſen ſey, als was es ſey; 


unvollkommen in Hinſicht auf die Art des Kennens, mehr 
Ahnung ald eine heile Erkenntniß; unvollkommen in Hin⸗ 
ſicht auf die Beſtandheit der Kenntniß. ee 


Die genannte Kenntniß Gottes ift Drittens: in ih- 
rom Urfprunge, in ihrem Inhalte, in ihrer Art, 
und in Ihrer Bejtandheit gar fehr abhängig Yon dem, 
wag man Gewifſen und Gewiſſenhaftigkeit 
nennt, amd vielleicht abhaͤngiger, alses die Meiſten bes 
denken. Denn die feſte Anhaͤnglichteit an die Ausſpruͤche 
des Gewiſſens richtet und erhaͤlt den geraden Blick 
auf die Natur, daß wir und weder durch eine grobe, 
noch eine feine Neigung im Gebrauche der Vernunft hindern 
laf en. Eben diefe Gemiffenstreue erhält ung it der 
entfchloffenen Willigfeit, den erkannten Gott 
durch Rechtthun zu verherrlichen. Eben diefe Gewiffens- 
treue legt der grübelnden fehwermäuligen Vernunft, wie 
Mendelſohn das Näfonnirvermögen fehr richtig nannte, 
da, wo fie ung um den Glauben an Gott bringen könnte, 
ein fcharfes Gebiß ein. 


5.12% 


Es iſt alſo fein Zweifel, daß auch die fchwache, Die 
imvollfommene, die Außerjt bedingte Gotteserfenntniß, die 
für die gemeine Vernunft aus dem Anblide der Natur 
möglich ift, eine feſte Stüge in dem Nechtthun, in ber 
Gewiſſenhaftigkeit hat. 


Dieß wußten die Alten Hht: auf einer Tafel des 
Jupiters Olympius in Kreta ſtanden dieſe Worte, die 
uns Plato aufbewahrt hat: 


"Niemand kann mid erkennen, als’ der mir 
ahnlich werden will.“ 
' Und auf der Tafel der Pallas: | f 


„Die Öötter geben fid den Herzen zu ver- 
ſtehen, und verbergen fid vor denen, Die 
fie mit dem Kopfe begreifen wollen.“ 


; Hieher gehört vor allen das ſinnvolle Wort: 
„zum Gottes⸗Schauen taugen 
Nur reine Geiftes- Augen,” 


Daß Geſchichte, Tradition, Unterricht ze. dieſer 
ſchwachen Erfenntniß Gottes aus der Natur theils voraus 
geben, theils fie berichtigen mäfle, if done befondere 
1 klar. | | 

x 18. | F 

Der tiefe Eindrucd, den die Natur in ihrem Schaus 
fpiele, das fich täglich vor Aller Augen erneuert, und nie 
unterbrochen wird, zu allen Zeiten gemacht hat — auf 
alle Menfchen, die dag Umendliche im Endlichen, das 
Ewige im Zeitlichen, Gott in der Natur wahrzunehmen, 
hell und rein genug waren, tape fi in ber Setgeſcige 
nirgends verkennen. 

Griechen und Roͤmer, Juden und Heiden, Kirchen 
fehrer und Weltweife, Propheten und Halbwilde, alle 
Befenner aller Religionen find Zeugen diefes tiefen Ein⸗ | 
drucdes: und bloß als Zeugen follen hier Einige in 
Parallelen auftreten. 


Der Zude Philo und der Römer Cicero, 


| Philo im erften Buche von der Monardie: 
„Die Kunftwerfe find die Wahrzeichen ihrer Meifter; 
denn wer denkt nicht fogleich an den Bildhauer oder den 
Maler, jobald er eine Statue oder "ein Gemälde erblickt? 
Wer fteht Kleider, Schiffe, Häufer, und denkt nicht an 
den, der die Kleider gemwebet, die Schiffe, Die Häufer ges 
bauet hat? Und, wenn Jemand in eine Stadt fommt, 
die durch, Gefege wohl geordnet it, fo wird er nicht ans 
ders denfen Fönnen, als daß fie von einer weifen Obrig- 
keit vegieret werde. Wer alfo in diefe wahrhaft große 
Stadt, die Welt, hereintritt, und darin Berge und Ebe—⸗ 
nen, Thiere und Baͤume, Fluͤſſe und Stroͤme, Speiſe und 
Futter, Ebbe und Fluth, Luftaͤnderungen und Wechſel der 
Jahreszeiten, Sonne und Mond als Vorſteher des Ta— 
ges und der Nacht, und die harmoniſchen Bewegungen 
der Sterne wahrnimmt, wird er nicht auch, nad) aller 


= wi 


Wahrſcheinlichkeit, oder vielmehr nothgedrungen, an den 
Vater und Schoͤpfer und Beherrſcher der Welt denken?“ 


Cicero de natura Deorum, L.II. c. XXXIV.: 
„Wie reimt e8 fi, beim Anblicke einer Statue oder ei- 
ned Gemäldes fogleich zu erfeimen, daß Kunft dabei ges 
braucht worden; oder wenn du in der Ferne den Lauf 
eines Schiffes fiehft, nicht zu zweifeln, daß es durch Ber: 
nunft und Kunft bewegt werde; oder wenn du eine Sons 
nenuhr oder eine Wafferuhr betrachtefi, einzuſehen, daß 
die Stunden durch Kunſt und nicht dur Zufall anges 
‚zeigt werden: die Welt aber, die alle diefe Kunſtſtuͤcke 
und ihre Kuͤnſtler und alles in ſich ſchließt, ker an 
Rathſchluß und Vernunft zu denfen? 


L.H. e XXXV.: „Wie der Hirt bei Attins ale 
er das erftemal ein Schiff fommen fah, etwas Gin 
und Leblofes zu fehen glaubte, nachmals aber, als er ge: 
wiſſe Zeichen daran wahrnahm, zu muthmaßen anfteng, 
was ed doch feyn möchte: ſo hätten die Philofophen, 
wenn fie auch der erfte Anblick der Welt in Verwirrung 
gefegt hätte, wenigftens nach einiger Zeit, da fie fahen, 
daß die Bewegungen der Welt bejtimmt und gleichförmig 
find, und alles nad feitgefegten Drdnungen und in uns 
wanbelbarer Bejtändigfeit vegieret wird, einfehen follen, 
dag in diefem himmlifchen und göttlichen Haufe nicht als 
fein ein Bewohner, fondern auch ein Regent und Beherr- 
fcher und gleichjam ein Baumeifter eines folchen BURG 
und eines ſolchen Geſchenkes ſeyn muͤſſe.“ 


ja Der Kirhenlehrer Athanaſius und der Philoſoph Cicero. 


Athanaſius: „Man muß ſich einen Herrn denken 
ki im Geiſte ſich vorſtellen, der dieſes alles in Eines 
gebildet, in Zuſammenhang und zur Eintracht gebracht 
hat. Und, ob du ihn gleich nicht mit Augen ſiehſt, ſo 
kannſt du ihn dennoch aus der Ordnung und Verbindung 
fo vieler ‚gegeneinander ftreitenden Dinge erfennen. Dem, 
wenn Jemand in große, vielbefafjende Staaten kommt, 
die ans einer umermeßlichen Menge Menfchen vereiniget 
find, worin es fo mancherlei Stände und Lebendarten 


y 


u — 


giebt, worin Kleine und Große, Reiche und Arme, Alte 
und Junge, Maͤnner und Weiber zuſammen leben; wenn 
er dann bemerket, daß Alle in Eintracht und Friede, in 
Ordnung und Ruhe beiſammen wohnen; wenn er bemers 
ket, daß weder die Reichen gegen die Armen, noch die 
Maͤchtigen gegen die Schwachen, noch die Jungen gegen 
die Alten aufſtehen, ſondern Alle gegen einander das Gleich— 
gewicht der Nechte halten: ſo wird er fogleich auf dem 
Gedanken fommen, es müfle da ein Regent ſeyn, der die 
Ruhe und den Frieden aufrecht haͤlt, ob er ihn gleich 
nie mit Augen geſehen hat. So auch wenn wir an uns 
ferm Körper die Eintracht der Glieder betrachten, indem 
weder das Auge mit dem Ohre, noch die Hand mit dem 
Fuße im Streite liegt, ſondern jedes Glied ohne Zwie⸗ 
tracht ſeine Pflicht thut: ſo ſind wir daraus uͤberzeugt, 
daß eine Seele in dieſem Leibe ſey, die das alles ordnet 
und regieret, ob wir fie gleich mit Augen nicht ſehen koͤn—⸗ 
nen. So muß denn auch aus der Ordnung und dem 
Einflange des Welt: Ad ein Negent und DBeherrfcher 
deffelben, das heißt, Gott, erkannt werden, — — — Ohne 
dieſen Beherrfcher wäre die Welt nicht Welt, fondern 
lautered Durcheinander, nirgends Ordnung, fondern nur 
Wirrwar, nirgends Zufammen » und Smeinanderfiigung, 
fondern nur ein regellofer Haufen, nirgends Maß und 
Ziel, fondern überall zu wenig und zu viel.“*) ' 


*) Diefe unüberfesbar fchöne Stelle hat Petav fehr ſchoͤn in’s 
Latein übertragen: non jam 06405; id est, mundus, 'sed, 
anosuia, confusio; non ordo, sed perturbatio; non com- 
positio et coagmentatio, sed incondita moles: non modus ae 
mensura, sed — —— 


Cicero: „Weun du ein *— ſchoͤnes Haus fi chf, 
fo kannſt du, auch im Fall, daß du den Heren des Haus 
jes nicht zu fehen befommft, dennoch nicht auf den tollen 
Einfall gebracht werden, al8 wenn das Haus von Mäus 
fen und Wieſeln wäre erbaut worden. Du müßteft alfo 
ganz von Sinnen gekommen ſeyn, wenn du glauben Fönt- 
teft, daß. Diefe fo große Weltpracht, Diefe Mannigfaltig« 
feit und Schönheit der himmliſchen Dinge, dieſer große 


— 48 — 


Umfang des Meeres und des feſten Landes, ſammt allen 
den geheimen Kräften und Thaͤtigkeiten nur zur Huͤtte 
für Did) und nicht auch zur Reſidenz der unfterblichen 
Götter da wären.” De natura Deorum L: II. c. VI. 


4, Cicero und Reimarus. 


Gicero de natura Deorum I. 37.: „Wer dieß 
glaubt nämlich, daß dieß fo fchöne, prächtige MWeltges 
bäude durch jählingen Zufammenftoß der Körper entitans 
den fey) der mag wohl auch glauben, ‘daß, wenn man 
unzählige Alphabete in goldenen und andern Formen ir: 
gendwo hingeworfen hätte, aus diefem Wurfe die Annalen 
des Ennius hervorgefommen wären, fo daß fie hätten 
gelefen werden Fönnen. Ich zweifle, ob das Ungefähr 
auch nur eine en ordentliche Zeile herausgebrac 
haͤtte.“ 


Reimarus: „Wir ſetzen als bekanut voraus, daß 
in einem thieriſchen Koͤrper Millionen Theilchen verſchie— 
dener Art zu ſolcher Uebereinſtimmung gebracht ſind, 
welche aller Menſchen Erfindung, Witz, Verſtand und 
Weisheit unendlich weit uͤberſteigt, wenn fie auch die 
Abſicht gehabt haͤtten, einen thieriſchen Koͤrper zu entwer⸗ 
fen. Daß es nun hoͤchſt laͤcherlich ſey, dieſe Ueberein— 
ſtimmung in einer ſolchen Menge von Theilen aus einem 
ungefaͤhren Zufalle abzuleiten, das mag uns die Aeneis 
erklaͤren. Es iſt zwar viel zu wenig, wenn wir Die Buch- 
‘ ftaben in Birgild Aeneid mit der Menge der körperlichen 
Theile eines Thieres, und den Berftand, der dazır gehört, 
eine Aeneis zu Dichten, mit der Weisheit, die Dazu ges 
hört, einen thierifchen Körper zu bilden, in Vergleichung 
ftellen.. Indeß dieſe Unähnlichfeit unberührt — wiirde 
es nicht höchft ungereimt ſeyn, wenn einer auf die Fra- 
ge, wie Birgils Gedicht. entftanden wäre, lieber einen uns 
gefähren Buchitabenwurf, als einen Berjtand, zur Urſache 
annaͤhme? 

„Man rechnet, daß 24 Buchſtaben uͤber ſechsmal hun⸗ 
dert zwanzig tauſend achtundvierzig Trillionenmal verſetzt 
werden koͤnnen. Da nun die Aeneis ungefaͤhr 363780, 

| | das 


das ift, dreihundert dreiundfechzig taufend, fieben hundert 
und achtzig Buchitaben enthält: fo find die möglichen Vers 
fegungen aller diefer Buchſtaben für unendlich viele anzus 
ſehen. Wenn man nun einen Schriftkaften naͤhme, darin 
eben dieſelben und eben ſo viele Buchſtaben, als in der 
Aeneis vorkommen, enthalten waͤren, man ſchuͤttelte aber 
dieſe Buchſtaben in einem Sack durcheinander, und griffe 
ſie blindlings nacheinander heraus: ſo waͤre der einzige 
Fall, da die Ordnung der Aeneis durchaus getroffen wer⸗ 
den follte, gegen die übrigen ‚unendlich vielen au ki. 
in Betrachtung zu ziehen. 


„Was iſt aber die Zahl 363780 Suchflaben gegen 
die BVielheit der Theile im menfchlichen Körper, und noch 
vielmehr. ‚gegen die Vielheit der Theile in dev ganzen 
Welt? Wie viel unendlich "größer. ift Demnach. Die Zahl 
ihrer möglichen Verſetzungen 9 Folglich wie viel un⸗ 
denkbarer, daß ein Ungefaͤhr die einzige uͤbereinſtimmende 
Ordnung aus ſo vielen ung aa hervor⸗ 
bringen konnte? 


Ich habe angenommen, daß in dem Schriftkaſten ge⸗ 
rade die und gerade fo viele Buchſtaben enthalten waͤren, 
als die find, aus welchen die Aeneis beſteht. Allein ſe— 
gen wir erftens den Fall, daß im Schriftkaſten 1) ganze 
Buchftaben fehlten, 2) von manchen zu viele, von mans 
chen zu wenige wären, 3) -anftatt der Buchflaben Ziffern, 
Noten, Kalenderzeichen im Kaſten Tägen, — ‚oder. feßen 
wir 4) daß eine Hand fehlte, die die Buchftaben heraus 
höbe: würde nicht Wahnſinn dazu gehören, um zu fagen, 
die Aeneis ſey durch Ungefähr entftanden? 


„Aber ſetze man den zweiten Fall, es habe feinen 
Schriftkaſten und keine Buchſtaben gegeben, ſondern Me— 
tall, Holz ſey uͤbereinander gelegen, und aus dieſer alten 
ewigen Ruͤſtkammer ſey die ſchoͤne Aeneis hervorgegan- 
gen: wuͤrde nicht hoͤchſter Wahnſinn dazu gehören, fo et— 
was behaupten zu koͤnnen? 


„Endlich. ſetze man den dritten Fall: es habe kei⸗— 
nen Schriftkaſten, keine Buchſtaben, kein Metall, kein 
I M. dv, Sailer's ſämmtl. Schriften. VIII. Bd. Zte Aufl. 4 


” 


Holz gegeben, fondern lauter Sonnenftäubchen (die man 
eben nicht wiffe, woher fie .gefommen wären) haͤtten durch 
willführliches Zufammenjtoßen die ſchoͤne Aeneis hervor: 
gebracht, : wie "wir fie in der Berliner Ausgabe haben: 
würde: nicht der höchite Wahnſinn dazu gehören, dieß zu 
denken. ober zu jagen? | 


. „Wenn aber der hoͤchſte Wahnſinn dazu gehoͤrt, zu 
behaupten, die Aeneis ſey durch Zufall entſtanden, wie 
ſoll ich die Weisheit ‚nennen, die da fagen koͤnnte, nicht 
nur irgend ein Thier, ſondern Erde und Himmel — dies 


* ganze Welt - — ſey * Zufall been * 


* —— und David.— 


Soerat Bemerke/ mein Guter, daß die Ver 
nunft, die in ‚dir ift, deinen Leib nach, Gefallen. handha- 
bet. Folglich mußt du glauben, daß auch die Vernunft, 
die in dem Welt⸗All ift, das alles, wie es ihr belicht, 
anordnet: nicht aber wähnen, daß dein Geficht zwar ‚auf 
viele Stadien Hinreiche, das Auge Gottes aber unver⸗ 
moͤgend ſey, alles: zu gleich zu fehen: noch daß deine Seele 
zwar an das denken fönne, was hier und in Aegypten 
und in Sizilien‘ iſt, der Berftand Gottes aber * ver⸗ 
möge, für “rn gleich zu ſorgen.“ 


David: ‚Soll der, der das Auge gebildet, nicht 
fehen? Sol der, der das Ohr gebauet, nicht. hören ? 
Soll der, der den Berftand dir gab, nicht verftchen ?“ 


+) Die fchönften Stellen in Hiob, Efatas, Paulus bedürfen 
für Kenner Feiner Nachweifungz fie ſtimmen ein in das 
- sroße Zeugniß des Welt Als, das Tertullian fo richtig auf: 
faßte: Gott hat zum Zeugen, daß er if, alles, 
was wir find, und alles, worin wir fimd.“ LI. 
Contra Marc. CX. Habet DEUS testiinonja totum * 


— —— et in quo sumus, 
2 


> 19. | 
Obgleich die Natur zu alfen Zeiten auf die. offenen 


Gemuͤther einen jo tiefen Eindrud gemacht, daß fie Gott 


u 


in der Natur nicht verfannten: fo Fam denn Doch al 
die Kenntniß Gottes aus der Natur eigentlic, 
nicht von außen, nicht aus der Natur, fondern von in— 
nen, und zwar aus der Jdee Gottes, die in der Ber 
nunft iſt und die die —— zur Mai —— 
nunft macht. 


Erſt durch die See von Gott ift ey Menfeh — 
Menfch; denn erſt durd; die Idee von Gott geht im 
Menfchen das Bewußtſeyn von Gott auf, und das Be— 
wußtfeyn von Gott iſt fie, die Vernunft felber: (die Ver: 
nunft nicht mehr als Empfaͤnglichkeit, en als 
Actus betrachtet). 


Nun kann die ganze Natur dem fenfchen diefe Idee 
von Gott nicht geben. Zwar kann ſich das Unſichtbare, 
Ewige in der ſichtbaren, zeitlichen Natur abbilden, gleich⸗ 
fam fichtbar machen, und hat fich fichtbar gemacht (Rom, 
T. 19, 20.) Aber des Unfichtbaren, Ewigen wahrneh- 
men kann der Menſch nicht — ohne die Idee von dem 
Unfichtbaren, Ewigen. Was er alfo fchon in fic ‚haben 
muß, um des Unfichtbaren im Sichtbaren wahrzunehmen, 
das kann ihm durch das Sichtbare nicht gegeben werden. 
Dieß haben wohl die tiefen Forſcher alle ‚geahnet, wenn 
auch. nicht ar ausgeſprochen. 


Die ganze Natur, fagt ein ungefannter Ditofoph, 
mit. allem, was in ihr ift, Fann die Idee won Gott nicht 
geben. 


„Man jagt zwar, der Meute, habe ſich aus taufend 
endlichen Halmen eine unendlicye Garbe gebunden, er fteige _ 
auf den Begriffen endlicher Dinge wie auf, einer Leiter 
zu dem Begriffe des Unendlichen hinauf ꝛc. Aber erſtlich 
ift das gewiß, daß fich aus endlichen Halmen fein uns 
endliches Ganze machen laͤßt, und was bie Leiter anbe 
langt,. ‚die, wie fie hier. fteht, ziemlich kurz und unficher 
it, fo muß einer fchon vorher wiffen, wo er hinfteigen 
wolle, ehe er die Leiter anſetzt. Man zerſtuͤckle einmal 
den Aequator in 1000000 Theile, und gebe fie Jemand 

; 4* 


— - 


hin, "der nie von einem Cirkel gehoͤret oder: gefehen hat, 
ob er wohl eine Peripherie daraus zuſammen bringen 
— Und das Gleichniß hinkt — * 


D Alle, Bilder, bie in. die Sinne fallen, und im den 
Menfchen fommen, fönnen ihm jene Idee nicht geben; 
denn was einer nicht hat, fann er auch nicht geben.” 


| „Allerdings. kann der enBliche fihtbare Vorhang die 
Menfchen. au einen Unfihtbaren, Unendfichen, der 
hinter ihm ſteht, erinmern, und gebe Gott, daß er 
für feinen - umſonſt niedergelaſſen ſey. Aber, darum bleibt 
e8 ewig wahr, daß die endlichen Dinge dieſe Idee nicht 
er koͤnnen. — 


Ben bas Bild, eines. ———— eines Jagers, und 
andere Bilder der. Außer. Natur in’s Waj fer, fallen; 
jo veranlafien ‚fie, darin, fein Bewußtſeyn; wenn aber 
dieſelben Bilder in das Auge einer Ente, die auf dem 
Waſſer ſi tzt, oder eines andern: Thieres fallen, fo Veran: 
laſſen fie ein Bewußtſeyn dieſer Bilder. Warum? das 
Thier hatte ſchon die Faͤhigkeit, und ſie wird durch die 
Bilder nun. bewegt⸗ und modificirt. Die aͤußexe Natur 
veranlaßt bei, den. Thieren die Idee des Unjterblichen, des 
Unendlichen nicht ıc., aber. bei dem Menſchen ie fie 
es: ae ae Asmus V. Ba ©. 19. 


es HAI HEE 3330 4 20, 


Gehen wir um einen Schritt weiter: die Idee von 
Gott iſt im Menſchen; denn “alle Völker, ſprechen von 
einem Gott.- Und die Natur hat fie ihm nichts gege— 
ben, und Fan fie ihm nicht geben. Woher. ift fie denn? 
Aus Nichts iſt fie nicht, denn ans Nichts wird Nichte. 
Erſchaffen, ſelbſt gemacht hat ſie ſich ſelber auch nicht, 
denn kein Lichtſtrahl macht ſich ſelbſt: er kann nur aus 
dem Lichte kommen. Hat ſie etwa der Menſch urſpruͤng⸗ 
lich aus ſich gebildet? Aber fuͤr's erſte iſt ſich der 
Menſch dieſes Bildungs + Prozeffes nicht bewußt. Für's 
zweite wird der Menjch erſt Durch Die Idee von Gott 


Pr‘ 


= BE: ee 


vernünftig: wie follte alfo der Meufch das, was ihn 
erft zum Menfchen, zum. vernünftigen Weſen macht, aus 
ſich felber nehmen können, ehe er Menfch, ehe er, vers 
nuͤnftig ward? Fuͤr's dritter die Idee von Gott iſt fo 
einig, ſo unwandelbar, fo ſich gleichend, unter allen Him⸗ 
melsftrichen, in allen Zeitaltern, und was Menfchen bau⸗ 
en, trägt alles den Stempel. der Mannigfaltigfeit, des 
Wechſels, des Unbeftandes.  Alfo: der Menſch hat die 
Idee von Gott nicht aus fidy ſelbſt gebildet. } 


Hat etwa ein Menfc die Idee von Gott durch Be— 
lehrung von andern Menfchen erhalten? Das mag er: : 
aber woher nahmen fie diefe andern Menfchen? Aus 
fich, aus der Natur, aus Nichts konnten fie fie nicht 
nehmen. Alſo bleibt ‚nichts übrig, als: Die Idee von 
Gott kann aurſpruͤnglich nur von Gott kommen, kann nur 
als Strahl aus der ewigen Geiſterſonne angeſehen wer⸗ 
den, ſetzet nothwendig die Univerſal— — ———— 
Gottes voraus. 


21. | | 
Alſo gibt es im frengiten Sinne. des Wortes feine 
Katur Religion Denn die ganze Natur kann die 


dee von Gott — nicht geben, uud ohne Idee von Gott 
M feine en 


er 22. s - 
Alfo gibt es im firengiten Sinne auch Feine Vet 


nunft-Religion. Denn die Bernunft hat zwar die 


dee von Gott in fich, aber ſie hat fie nicht aus ſich, 
und kann fie nicht aus. fi) haben. Alfo kann die Vers 
nunft die Religion auch nicht aus fich holen. Eine Ver⸗ 
nunft = Religion ohne Offenbarung Gottes it alſo gerade 
fo unmöglich, als wenig die Vernunft ohne Idee von 


Gott — SIR — kann. 


23. 


Jetzt iſt es recht klar, warum alle Gottes- + Erfenntniß 
aus der Natur (nm. 16) ſich fo abhängig von Gewiſ— 
fen und ‚Gewiffenhaftigtei, fo bedingt * Gewiſſen 


— —— 


und Gewiſſenhaftigkeit darſtellen mußte. Denn das Ge⸗ 
wiſſen iſt, wie die Idee von Gott, ſelbſt nichts anders 
als ein Strahl von jener ewigen Geiſterſonne, ſetzt nicht 
nur Dffenbarung Gottes überhaupt, fondern wirk⸗ 
lihe Gefeßgebung im Menſchen voraus; iſt nicht nur 
Bewußtſeyn des Goͤttlichen, wie alle Vernunft, ſondern 
Bewußtſeyn des göttlichen Geſetze s, das heißt, Got⸗ 
tes — des eigentlichen Geſetzgebers. 





er . 
Au irrt . — —— 





Sehöte Borlefung 
B- ? *. m r :q \ 

Deifung der Kenniniß von Gott durch Die Operatio 
nen der  feienciigen Bernunfts x — * 

24. ae. 


Dies Betracftängen von 10-35 führten ung. zu. Heber- 
zeugungen, die uns im dem Gebiete der Spekulation 
nicht erft bloß orientiren Fünnen, fondern ſchon UN, die 
bedeutendſten Aufſchluͤſſe in ſich faſſen, die naͤmlich: 


I. Die ganze Natur kann dem Menfchen die e Ibee von 
Gott nicht: geben. | 


IL Die Idee von Gott iſt in der Bernünft des ‚ Men 
fchen, aber der Menfch hat fie nicht aus fa und 
kann ſie nicht aus ſich haben. 


III. Der Menſch hat die Idee von Gott — nur durch 
die. Univerfal- Offenbarung Gottes. 


"IV. Es giebt alfo feine Natur— und) feine Vernunft; 
Religion in dem Gimme, ald wenn die Jdee von 
Gott aus der Natur, oder aus Der Vernunft, 
"ohne Offenbarung des Göttlichen hätte fommen koͤnnen. 


! 4 ———— 

Dieſe Aufſchluͤſſe moͤgen uns durch die fruͤhern Epos 
chen der Spekulation bis zu der neueſten geleiten, und 
uns auch in dieſer die Anſchauung des Wahren nie ver⸗ 
lieren, ung ‚nie, irre gehen laſſen. 


1) Mit Leibnitz, Wolf, Stattler ꝛtc. eröffnete fi & "die 
demonftrirende Schule: "fie eriviefen, in ihrer mathes 
matifchen Methode, das Goͤttliche. Die theilnehmenz 
den Gemüther freuten fi, nun auch zw wifjen, was. fie 
bisher geglaubt hatten. Die Begriffe wurden firenger ges 
muflert, genauer beftimmt, und» wenn auch der Stolz; des 


- 


— 56 — 


Wiſſens hervorzutreten ſchien, auch Dinge ſich demonſtriren 
laſſen mußten, die nicht demonſtrirt werden koͤnnen, ſo 
blieb doch das Goͤttliche in Anſehen bei den demontaa 
den Koͤpfen. 

2) Nicht lange hielt ſich die Demonftration; ed fam 
eine andere Schule, die ihre Lorbeeren in Zermalmung der 
demonftrirenden ſuchte. Die Sittlichfeit fette ſich oben an, 
drängte die Religion zuerft bis zur Thuͤre surüc, endlich 
nannte fie fich felber Religion. 


3) Aber auch diefer ärmliche Zuftand möchte ſich nicht 
halten. Denn allmaͤlig erwachte das Heimweh nach der 
zuruͤckgeſetzten Religion; das Gemuͤth ſehnte ſich wieder 
nach den durch Kritik und Sittlichfeit unterdruͤckten 
Ideen des Einen, des Ewigen, und Männer von Geiſt 
Iegten Hand an das Werk, das Anfehen der Ideen zu 
retten. | 

4) In diefer Epoche fehen wir nun wie am hellen 
Zage ein, daß, wenn die alldemonſtrirende Philofophie unzu⸗ 
laͤnglich geweſen feyn mochte, die allzermalmende mit ihren 
Armlichen Behelfen einer bloß geforderten Gottheit, Frei- 
heit und Unfterblichkeit nicht erquicken konnte — das nad) 
Licht und Liebe und Leben fchmachtende Gemuͤth. 


5) In dieſer Epoche ſehen wir nun auch klar ein, 
daß das Göttliche das Hoͤchſte ſey, alſo weder aus ei- 
nem Höhern, das nicht ift, noch aus einem Niedern, das 
nur Sinnbild des Höhern ſeyn kann, eigentlic, erweisbar 
ſeyn koͤnne, fondern in jedem flillen, lautern Gemüthe 
wahrhaftig nachweisbar, und jedem folchen Gemuͤthe 
aus ſich und durch ſich felbft evident feyn muͤſſe. 

6) Im Diefer Epoche fehen wir klar ein, daß die Spe- 
fulation das Gefühl des Göttlichen nicht geben koͤnne, 
fondern von dem Gefühle des Göttlichen Cals dem Teer- 
minus a quo) ausgehen, und zum Gefühle des Gött- 
lichen (als dem Terminus ad quem) zuräcdtommen 
müffe, wenn. ihr Anfang möglich, ihr Gang —— 
ihr Ende — Gewinn ſeyn ſollte. 

—J In dieſer Epoche moͤchte ich meine Zuhoͤrer vor 
den Extremen bewahren, und in der Anbetung fichern. 


— 57 — 


Dazu ſtecke ich zwei Grenzpfaͤhle auf, und füge zwei 
Alternativen hinzu. | | 


u t 


K Erfter Grenzpfahl 


wider den Unſinn alles Unſinnes, wider den Atheismus. 


Auch das tiefſte Forſchen der Spekulation 
kann wider das ewige Seyn Gottes feinen 
guͤltigen Beweisgrund aufbringen, keinen Be— 
weis vollenden, 


+ Denn alles endfiche Ausmieſſungsvermoͤgen Kamm nicht 
—— en das Unendliche. Nun, wenn ein hoͤchſtes Weſen, 
Gott, iſt: ſo iſt es ſein erſter Charakter, daß er, als das 
Urſeyn, und als das Urerkennen, hoͤher liege, als 
alles menfchliche Seyn und Erkennen. 


‚Der Menfch kann mancherlei Träume träumen, : ab 
in ſich felber die Fülle des hoͤchſten Wefens er 
träumen — kann er nicht, und diefe Fülle des hoͤchſten 
Weſens müßte er felber feyn, um es ausmeffen zu koͤnnen. 


Wenn Gott ift, fo iſt er, als das ur⸗, all- und rein- 
vollfommene Weſen, ein Unermeßliches; iſt er ein Uner- 
meßliches, fo Faun er won dem menfchlichen Mefi ungs⸗ 
vermoͤgen nicht ausgemeſſen werden. Wenn nun Gott, 
als ein Unermeßliches, von dem menſchlichen Erkennen un— 
ausmeßbar iſt: ſo kann das wider das ewige Seyn —* 
unermeßlichen Weſens nichts beweiſen. 


Alle Muͤhungen, die ſich der Kopf eines Menſchen ge⸗ 
bieten mag, das ewige Seyn Gottes als nichtig zu er⸗ 
weiſen, ſagen alſo fo viel: Ih Menſchengeiſt kann 
bei dieſem hoͤchſten Weſen meinen Zirkel nir— 
gend anfegen: alſo fann ich ed mit meinem 
Zirkel nicht — alfo ſchon nicht aus⸗ 
meſſen. 


Wahrhaftig, wer ſich ſo weit verlieren koͤnnte, daß er 
ſich anmaßte, wider das ewige Seyn Gottes Beweiſe 
aufzufinden, waͤre der Knabe am Ufer des Weltmeeres 
ſtehend, der, unfaͤhig, das Weltmeer auf⸗ und im fein Ge- 
faͤß aus Thonerde einzufaffen, endlich den Ausfpruch thäte: 


zu > MR... oa 


Es giebtigar.fein Weltmper, denn mein Ge— 
fäßvon — kann es nicht auffaſſen. 


———— Grenzpfahl 


wider Has — aller Anmaßungen, wider das Allwiſſen 
des Goͤttlichen. 


— menfentidjes Forfhen kann das Be 
fen Gottes in feiner ganzen Fülle enthuͤllen, 
d.h. keinen folhen allzaufhellenden Erfennt 
nißgrund von dem ewigen Seyn Gottes auf 

weifen, der zugleich alle Fragen Löfete, und 
alle Zweifel zernichtete, die aus der Uner— 
meßbarkeit des Unermeßliden hernongehen- 
—— 


Denn, was den Unſinn alles Unſinns in ſeiner 
hoͤchſten Bloͤße darlegt, das zeigt auch die Anmaßung 
‚aller Anmaßungen in ihrer Nichtigkeit, das naͤmlich 
das endliche Ausmeffungsvermögen kann nicht 
ausmeſſen das Unermeplihe. Könnte das menſch— 

fiche Forfchen jenen allsanfhellenden Erfenntnißgrund aufs _ 

zeigen, fo müßte das Unermeßbare durch das Ausmeßbare, 
das Unendliche durch das Endliche, das Uebernatürliche 
durch das Natürliche, das Höchlte durch das Niedere, die 

Urguelle alles Seyns und Erfennend Durch das Ausflie 

ende ansgemefjen werden koͤnnen. Dffenbar liegt um 

das hoͤchſte Wefen eine Nacht, vor der alle Anbeter Got: 
tes ehrerbietig itilleftehen. Nun Fann das menfchliche Erz 
kennen Diefe Nacht in Licht verwandeln vder nicht? Kann 


es dieſe Verwandlung zu Stande bringen, ſo iſt es das 


hoͤchſte Licht ſelbſt, ſo all erleuchtend, ſo all durchſchauend, 
wie Gott. Kann es dieſe Verwandlung nicht zu Stande 
bringen: fo kann es eben deßwegen das Weſen Gottes 
in ſeiner Fuͤlle nicht enthuͤllen, alſo jenen 5 
—— nicht aufbringen. 

ing: Br Erfahrung aller Zeiten bat auch diefe beiden Grenz 


marken als richtig anerkannt. Das hoͤchſte Wefen ſtrah⸗ 
4 * let fo viel Licht im jedes offene Vernunftauge aus, daß nie 


it 59 * 


ein Vernuͤnftiger ſprach: Es iſt Fein Gott, und hat zus 
gleich fo viel Dunkel um fich her, daß nie ein Vernuͤuf⸗ 
tiger mit Aufhellung deffelben fertig werden Fonnte, Feiner 
fprechen durfte: Es ift Fein Dunkel mehr, es iſt Al⸗ 
tes Licht. 

} Und: der an keinen Gott glauben möchte, als den er 
in feinem Wiffen ganz durchfchauet hätte, der glaubt eben 
darum an Feinen Gott, fondern-an das, was gewußt werden 
Faun, an fein Wiffen, an fein Ich, an ſich ſelbſt. 


Die erfte Alternative, | 


en nm. das tieffte Forfchen auf einer Seite das 
Mefen Gottes in feiner ganzen Fülle nie enthuͤllen, alfo 
feinen aufhellenden Grund für Das ewige Seyn Gottes 
aufſtellen kann; wenn das tiefite Forſchen auf der andern 
Seite wider das ewige Seyn des hoͤchſten Wefens feinen 
gültigen Beweis aufbringen kann: fo bleibt für die Spe- 
fulation zunächit nur dieg Entweder — Dder: 


Entweder wird fie vor dem unaufhellbaren Dunkel, 
welches das Weſen Gottes umhüllt, ehrerbietig füilteftehen 
und die weitern Aufhellungsverfuche aufgeben, oder fich in 
die nnaufhellbaren Gegenden immer tiefer und tiefer hin: 
einwagen müflen. Im erjten Falle wird fie mit aller 
Menfchenvernunft, die das ewige Seyn Gottes ald das 
Gewiffefte alles Gewiſſen anerfennet, einftimmen, und, 
anftatt das Urwahre zu erklären, ed annehmen, und, an: 
ftatt das Unaufhellbare im Urwahren aufzuhellen, das 
Ganze anbeten koͤnnen. Im zweiten Falle wird fie fich 
in die unaufhellbaren Gegenden immer tiefer hineinarbeiten, 
und den Aufhellungsverfuh ex instituto nicht mehr 
aufgeben wollen, und doch nicht vollenden Fönnen, alfo 
am Ende an dad Wahre ungläubig werden müfjen, weil 
fie e8 nie wird ganz aufhellen koͤnnen, und doch den 
Aufhellungsverſuch nicht wird aufgeben wollen. 


Es giebt hier fein Drictes, Wer das unerflär 
liche Wahre niht annehmen will, bis er es 
ganz erflärt hat, wird ed nie erflären fönnen, 
und doch mit den Erflärungss-Berfuchen nie 


— 6 


ſtilleſtehen wollen — alſo das Wahre nie au 
nehmen koͤnnen — alſo an das Wahre unglaͤu— 
big werden muͤſſen. Um alſo das Wahre annehmen 
zu fünnen, wird er den Faden des Erflärend abſchnei— 
den, einmal im Erflären ftilleftehen muͤſſen. 

Erflären heißt Far machen. Klar. machen kann nur 
dag Licht. Wo alfo das Licht zu Ende geht, und die 
Nacht eintritt, da ift alles Klarmachenwollen eitle Arbeit. 
Wer alfo an Aufhellung der unaufhellbaren Nacht fort 
arbeitet, dem wird am Ende auch das, was das Licht 
Har gemacht hat, ſchwinden muͤſſen. 


x Zweite Alternative, 


+... Da nun aber das Unermeßliche ausmeffen, das Uns 
ausforſchbare ausforfchen, das Unerklärliche erklären wol 
len an ſich ſchon Thorheit, und eine Art von Wahn 
und Unfinn iſt: fo bleibt der menfchlichen Spekulation 
wieder nur dag Entweder — Dder. 
Entweder eine Thörin zu ſeyn, von Sinnen, von 
ſich felbft zu fommen, vder das Ausmeffen des Unermef- 
lichen aufzugeben, und mit aller Menfchenvernunft, die 
das ewige Seyn Gottes ald das Urmwahre anerkennt, ein- 
zuftimmen, und ihr dein fchweiterlichen Handfchlag zu 
"geben; deutlicher: auf den Punkt, wo ſich das unbe: 
Hrenzte Forfchen mit. den Ahnungen des Göttlichen ent 
zweiet hat, zuriczugehen, und da e8 doch mur Eine 
Vernunft im Menfhen geben Fan, mit fich ſel— 
ber wieder Eins zu werden — das Wahre anzuneh- 
men, wo fie es nicht ausmeffen kann, und als das Un— 
ermeßliche anzubeten, wo ſie ſich beſcheiden muß, es 
nicht erklaͤren zu koͤnnen. 

Mir iſt noch nichts Bedeutenderes vorgekommen, 
aͤls was ich einmal die Weisheit zur Wiſſenſchaft 
ſprechen hoͤrte, das Wort: „Entweder kannſt du, edle 
Freundin — Spekulation ! entweder fannft du Gott in 
feiner Fülle erfaffen, oder nicht.“ 

0 „Rannfe du ihn in feiner Fülle erfaffen: fo mußt du 
" entweder das Göttliche: in die Schranken des Menfchlichen 


— 61 — 


einfchließen, oder das Menfchliche (dein eingefchränt- 
tes Wefen) zum Göttfichen erweitern, Schließeft du 
das Göttliche in die Schranken des Menfchlichen ein: fo 
iſt es nicht mehr das Göttliche in feiner Fülle, 
was du erfaffeft; erweiterft dur das Menfchliche zum 
Göttlichen, fo bift du nicht mehr die menf ch lich e le 
fulation, die erfaſſet.“ 


„Sagſt du aber: ich kann das Goͤttliche in fer 
ner Fülle nicht erfaffen, fo wirft du entweder um des 
Erfaßbaren willen auch. das Unerfaßbare, das Goͤtt⸗ 
liche in feiner Fuͤlle, annehmen, das heißt, an Gott 
glauben, oder um des Unerfaßbaren willen auch das Erz ı 
faßbare nicht annehmen, das heißt, an Gott unglaͤu⸗ 
big werden muͤſſen.“ 


83) Die Wort der Weisheit an die Wiffenfchaft 
mag uns aufmerkfam machen auf das, was für die Menſch— 
heit in Hinfiht auf Wiffenfhaft und Leben das 
Allerwichtigite ift. 


„Sleichfern von N Unfenn allg, Unft innes, und von 
der Anmaßung aller Anmapungen wohnt fie, die Weis 
heit, in Mitte zwifchen ‚beiden Ertremen, wohnt 


1) im fillen und nüchtern Bernehmen des 
Göttlichen da, wo es fich vernehmlich offenbaret; 

2) im fetten Glauben an das Göttliche da, wo 
es in das heilige Dunkel zuruͤcktritt; 


3) im demuͤthigen, ſeligen Anbeten des Goͤtt⸗ 
lichen da, wo es ſich in ſeiner ganzen Fülle als un⸗ 
ermeßlich ankuͤndet.“ 


9) Wer es nach dieſen Angaben noch der Muͤhe Wh 
findet, die Frage, die unter, Vernünftigen Feine Frage 
mehr feyn kann, ob fid das ewige Seyn Gottes 
erweifen laffe? nochmal in befondere Betrachtung zu 
ziehen, der wird inne werden, daß fie fchon beantwortet 
ſey, wenn ihr der Cunmögliche) Sinn unterlegt wird: ob. 
man für das ewige Seyn Gottes einen allaufhellenden 
Erfenntnißgrund aufitellen fünne? Denn einen folchen all 
aufhellenden Grund aufitellen, hieße das Wefen Got 


— u 


tes in feiner ganzen Fülle erfaffen; und das We⸗ 
fen Gottes in feiner ganzen Fuͤlle erfaſſen, hieße entweder 
das Göttliche zum Menfchlichen herabwuͤrdigen, oder das 
Menſchliche zum Goͤttlichen erweitern, in jedem Falle das 
hoͤchſte Weſen aufheben. 

Haͤtte aber die Frage den Sinn: ob nicht die menfch- 
liche Spekulation einen gültigen Grund auffinden koͤnne, 
fi von den Höhen, auf denen fie fich fo Leicht. ver- 
‚feigt, und jeden neuen Standpunft für den höchiten zu 
halten verfucht ift, herabzubegeben, und fi ch wieder mit 
den Ahnungen aller Menſchenvernunft, d. i. mit ſich fel- 
ber zu vereinigen, und das Wahre anzunehmen, anſtatt 
es auszumefjen, das Göttlihe anzubeten, anftatt ſich 
neu zu verfteigen? fo ift auch auf diefe Frage die‘ Ant— 
wort ſchon mitgegeben worden. 


Ich fage: 

——— fpekulirende Vernunft Dernunft nicht 
fchon als wirkliches Bewußtſeyn des Göttlichen, auch nicht 
als bloße Empfänglichfeit, des Göttlichen bewußt zu ‚wer: 

- den, fondern.als wahrheitsforfchende Potenz betrachtet) fann 

in ihrem eigenen Wefen, und dann in der gan— 
zen höhern Natur des Menfhen einen gül 
tigen Örund finden, ihren Meptifch von ihren 

Höhen herunterzuftellen, und, Eins mit fid 
felber, das Wahre anzunehmen, das fie nie 
ausmeffen kann. 

10) Die Vernunft kann in ſi ch ſelber einen Grund 
finden, der fie noͤthigt, das Ausmeſſen des Unermeßlichen 
aufzugeben, 

Dieſer Grund legt. im Weſen der Vernunft. 

Als Vernunft kann fie nur vernehmen das Wahre, 
—das zu ihr Spricht, und als menfhlihe Vernunft 

fann fie die Schranfen ihres Wefens nicht durchbrechen,. . 
denn fie ift nicht Gott felber, der fich allein ganz ausfpres 
hen, und eben darum allein ganz vernehmen kann. 

Dieß zweifache Vermögen und Unvermögen der menfch- 

lichen Vernunft: daß fie nur vernehmen fann das 


! 


- 656 — 


Mahre, das zu ihr fpricht, und daß fie das Wefen Got 
tes ſo wenig ganz vernehmen, als ausſprechen Fam, 
hat Jakobi in's Licht hervorgezogen in feinem Briefe an 
Fichte, und in der Abhandlung über Lichtenberg’s Weiſ— 
fagung, doch fo, daß der Brief mehr das Unvermögen, 
die , Abhandlung * das Verund gun der BE 
darlegt. | Y ? 


Aus dem ——— an ichte 


„Bon Bernunft if. die. Wurzel, Deräch mer, Reine 
Bernunft ift ein Vernehmen, das nur. fic —* vernimmt. 
Oder: die reine Vernunft vernimmt nur ſich.— 


Ich verſtehe unter dem Wahren etwas; was vor eu 
außer dem Wiſſen iſt; was dem Wiffen, und dem Ber; 
mögen be MWiffens, der Bern * * einen ei 
giebt. | 


Vernehmen ſetzt ein ee Vernunft das 
Wahre zum Voraus: ſte iſt das Vermögen der Vorauss 
- feßung des Wahren. Eine das Wahre, nicht: voraus⸗ 
ſetzende Vernunft iſt ein Unding 


Bo. die Weiſung auf das Wahre fehlt, da ift eek 
Vernunft. Diefe Weifung, die Nöthigung, das ihr mir 
in Ahnung vorfchwebende Wahre als ihren —— 
als die letzte Abſicht aller Begierde nach Erkenntniß 
betrachten, macht das Weſen der Vernunft aus Sie’ 
ausfchließend auf das unter den Erfcheinungen Verborgene, 
auf ihre Bedeutung gerichtet, auf das Seyn, welches 
einen Schein nur von fich giebt, 'und das wohl durch⸗ 
ſcheinen muß in den Erſcheinungen, wenn dieſe nicht 
an ſich Gef — —— von Nichts sen 
follen. 

„Dem wahren Wefen, auf weldjed die Vernunft * 
ſchließend als auf ihren letzten Zweck gerichtet iſt, ſetzt ſie 
das Weſen der Einbildungskraft koͤntradiktoriſch 
entgegen. Sie unterſcheidet nicht bloß zwiſchen Einbil⸗ 
dungen und Einbildungen: etwa nothwendigen und freien — 
fondern abfolut.- Sie febt entgegen wahres Wefen 
dem Weſen der Einbildungskraft, wie fie das Wachen 


— 64 ee 


dem Traͤumen entgegenſetzt. Mit dieſer unmittelbaren, 
apodiktiſchen Unterſcheidung zwiſchen Wachen und Traͤu—⸗ 
men, zwiſchen Einbildung und wehren Weſen Reh ober 
fällt die Vernunft. 


„Bern der Menſch abgefehnitten wird von der in der 
finnlichen Welt, die ihn umgiebt, ausgedriickten, feine Eins 
bildungsfraft mit Gewalt ordnenden Vernunft, wei 
er von Sinnen fommt. im Traume, im Fieber, — 
wahnfinnig wird: fo verhindert ihn nicht die ihm Abers 
al beiwohnende eigene reine Vernunft, das Ungereim⸗ 
tefte zu denken, "anzunehmen, ‘für gewiß zu halten. “Er 
fommt vom Berftande, und verliert feine menfchliche 
Vernunft, fo: wie er von Sinnen: fommt, fo wie das 
Wahrnehmen ihm unmöglich wird: denn feine einge: 
ſchraͤnkte menſchliche Vernunft iſt lauter Wahrnehmung, 
innere oder aͤußere, mittelbare oder unmittelbare; aber 
als vernuͤnftige Wahrnehmung eine mit Beſinnung 
und Ab ſicht ordnende, feſtſetzende, thaͤtige, freiwillige — 
ahnungsvolle. 44 


„Eine nicht bloß wahrnehmende, fondern alle Wahr⸗ 
heit: aus ſich ‚allein hervorbringende Vernunft, eine Ver⸗ 
nunft, welche das Wefen felbft der Wahrheit iſt, und in 
ſich die Vollkommenheit des Lebens hat — eine ſolche 
ſelbſtſtaͤndige Vernunft, die Fuͤlle des Guten und Wahren, 
muß allerdings vorhanden ſeyn, oder es wäre überall wer 
der Gutes, noch Wahres vorhanden; die Wurzel der Nas 
tur und aller Weſen waͤre ein reines Nichts, und, dieſes 
große — zu entdecken, die letzte Abſicht der Ber- 
nunft. 

So gewiß ic — beſi itze, ſo — beſi ie ich 
mit Ddiefer meiner menjchlichen Bernunft nicht die Boll 
fommenheit des Lebens, nicht, die Fülle des Guten und 
des Wahren; und jo gewiß ich dieſes mit ihr nicht. bes 
fiße, und es weiß: fo gewiß weiß id, es ift ein hör 
heres Weſen, und- ich habe in ihm meinen Urfprung. Dar: 
um ift, denn, auch meine und meiner Vernunft Loſung 
nicht: Ich; ſondern: Mehr als Ich! Beſſer als 
Ich! — ein ganz Anderer! * 
Ich 


„Ich bin nicht, und ich, mag nicht ſeyn, wenn Er 
nicht iſt — Ic —* wahrlich! kann mein hoͤchſtes 
Weſen nicht feyn... So lehrt mid; meine Vernunft its 
ftinftmäßig: Gott. Mit unwiderftehlicher Gewalt weifet 
das Höchfte in mir auf ein Allerhöchites über und außer 
mir; es zwingt mich, das Unbegreifliche — ja das im 
Begriff Unmoͤgliche zu glauben, in mir und außer mir, 
aus Liebe, durch Liebe. 


„Ich behaupte demnach: der Menſch findet Gott, weil 
er ſich ſelbſt nur in Gott finden kann; und er it fich 
felbft unergründfich, ‘weil ihm das Weſen Gottes noths 
wendig ımergründfich if. Nothbwendig! weil fonft im 
Menfchen ein Übergöttliches Vermögen wohnen, Gott von 
dene Menfchen müßte erfunden werden Fönnen. Dann 
wäre Gott nur ein Gedanke des Endlichen, ein einge 
bildetes, und mit nichten das höchite, allein in fich bes 
ftehende Weſen, von allen andern Weſen der freie Urs 
heber, der Anfang und das Ende, So verhält es ſich 
nicht, und darum verliert der Menſch fich felbft, fobald 
er widerftrebt, fi in Gott, als feinem Urheber, auf eine 
einer Bernunft unbegreifliche Weife zu finden, fobald er 
fih in fich allein begründen will. Alles Löfet fich ihm 
dann almälig auf in fein eigenes Nichte. Eine foldhe 
Wahl aber hat der Menfch, diefe Einzige: das Nichts 
oder einen Gott. Das Nichts erwählend, macht er ſich 
zu. Gott, das heißt: er macht zu Gott ein Geſpenſt; 
denn es ift unmöglich, wenn kein Gott ift, daß nicht der. 
Menfch, und alles, was ihn umgiebt, bloß Gefpenit fey. 


„Sch wiederhofe: Gott ift, und ift außer mir ein 
lebendiges, für ſich beſtehendes nn oder 
Ich bin Gott. 


„Es giebt kein Drittes. 

„Finde ich Gott nicht — ſo, daß ich ihn muß: 
Ein Selbſtſeyn — außer mir, vor mir, über mir: 
fo bin ich feldft, Fraft meiner Schheit, ganz und gar, was 
fo genannt wird, und mein erftes und höchftes Gebot ift, 
daß ich nicht Haben foll andere Götter außer 
mir, oder jener Ichheit. Sch weiß alsdann und begreife 

I. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. VIII. Bd. Zte Aufl. 


ae 


sollfommen, wie dem Menſchen „jene thörichte, - abge 
fihmadte, im Grunde gottlofe Abgötterei mit einem We 
fen außer ihm“) entſteht; dieſen Wahn ergründend, des 
duzirend, Eonftruirend, vernichte ich ihn auf immer. In— 
dem ich ihn aber, mich über ihn verffändigend, ver 
nichte, und jenen Gögendienft zu Schanden mache, muß 
ich auch alles, was mit ihm zufammenhängt, vertilgen; 
ich muß vertilgen aus meiner Seele die Religion der Liebe, 
des Beifpield; muß verfpotten jede Anregung und Eins 
gebung eines Höhern; muß verbannen aus meinem Her 
zen jede Andacht, jede Anbetung... 


* Aus der Abhandlung über Lichtenberg's Weiffagung: 


„Das Wahrefte kann nur fo wahr ſeyn, als Gott 
lebet, nur ſo wahr, als daß ein Gott im Himmel, das 
heißt, ſelbſtſtaͤndig außer der Natur und über ihr vorhans 
den ift: ihr freier Urheber, ihr alfweifer und allgütiger 
Beherrfcher; ein Vater aller Weſen, mit Baterfinn und 
Baterherz. Wird dem Menfchen diefer lebendige Gott 
zu einem bloßen, durch Strahlenbrehung und Strahlen, 
f ammlung in die menfchliche Gemuͤthswolke ſich ſtellen— 
den Regenbogen; Ternet er ih fo kennen, nur als eine 
pſychologiſche, jener optifchen ähnliche Tänfchung: dann 
hat feine gefammte Erfenntniß auch ſchon eben diefen Weg 
genommen, und wird, nach derfelben Regenbogen: Theorie, 
fi) immer höher verflären muͤſſen, bis zuletzt ein allge: 
meines, aberınun doch offenbares! Nichts der Er 
fenntniß, als Siegesbeute, dem Epopten bleibt. 

„Es ift nicht anders: Mit dem Schöpfer geht dem 
Menfchen nethwendig auch die ganze Schöpfung unter. 
Beider Schifale find. in feinem Geifte ungertrennlich. 
Wird in feinem Geifte Gott ihm zum Gefpenft: dann 
alsbald auch die Natur; dann fofort auch der eigene Geift. 
Denn das ift der Geift des Menfchen, daß er Gott 
erfennet, daß er ihn wahrnimmt, den Verborgenen ah— 





H So fah man den Glauben an Bott ald ein Wefen aufer uns 
an; fo nannte man das Bernünftigfie, was die Ber 
nunft thun Fann. 


net in der Natur, im feiner Bruft ihn vernimmt, ihn 
anbetet in feinem Herzen. Das ift feine Bernunft, 
daß ıhm das Dafeyn eined Gottes offenbarer und gewifs 
fer als das eigene iſt. Sie iſt nicht, wo diefe Dffens 
barung nicht ift. Oder möchtet ihr fo nennen, was nur 
Unding und lauter Wahn zur Erfenntniß brädte? 
Dann wäre die Vernunft ein Vermögen, nicht der Wahr, 
heit und Weisheit, fondern der Unwiffenheit: eines wiſſen⸗ 
den Nichtwiffeng, eines wiffenden Nichtſeyns; ein 
Vermögen der Verzweiflung; die aͤrgſte Feindesgabe. 

„Das ift der Vorzug, des Menfchen, fagt der. Weiſe 
aus Stagyra, daß er etwas Höheres und Deilere, als 
er ſelbſt it, zu erfennen vermag. 


„Sich felbft findet er ald ein durch und durch abhaͤn⸗ 
giges, entfprungenes, ſich felbft verborgenes Wefen: aber 
belebet von einem Triebe, feinen Urfprung zu erforfchen, 
an ihm fich zu erkennen, durch ihn, aus ihm, von fid 
felbft das Wahre zu erfahren: diefen, feine Gattung aus⸗ 
zeichnenden Trieb nennt ev Bernunft. 


„Der Trieb eines jeden lebendigen Wefens ift bag 
Licht Diefes Weſens, fein Recht und feine Kraft. Nur 
in die ſem Lichte Fann er wandeln, wirken nur aus Die 
fer Kraft. 

„Kein endliches Wefen hat fein Leben in ſich felbft; 
und fo auch sticht von ſich felbft — feines Fichtes Flams 
me, feined Herzens Gewalt. Alle werden in’ Leben 
erft gerufen und erweckt Durch. Etwas außer ihnen; 
fie empfangen ihr Dafeyn;z und diefed ihr leben— 
diges Dafegn ſtehet auch nicht einen Augenbli in ihrer 
eigenen Hand; es muß ihnen fortgefeßt werden, wie 
ed ihnen gegeben wurde; fie find insgeſammt, im all 
gemeinen Verſtande — athmende, das ift, eines immers 
währenden Zufluffes von außen, der Erhaltung bes 
dürftige Gefchöpfe. 

„Mannigfaltig ift die Gabe des Lebens; mannigfaltig 
dad Erwachen in daſſelbe; mannigfaltig feine Führung, 
fein Gebrauch. Gleich dem Thiere erwacht auch der Menfdh; 
zuerft als ein bloß finnliches Gefchöpf an der bloß fine 

5* 


— 68 — 


lichen Natur. Gleich dem Thiere erkennt auch er an— 
fangs nur die Mutter. Dem Thiere aber hat die Mut— 
ter ſelbſt nur Brüfte, fein Angeſicht gereicht. Dar— 
um, wie es der Bruͤſte vergiſſet, fo vergißt es auch der 
Mutter. Herzlos iſt das Thier, daher auch vernunftlos. 
Der Menſch fiehet auf von der nährenden Bruft, erhebet 
Angeficht zu Angeficht, empfindet Liebe, lernet Liebe, 
. und gewinnt Erfenntniß, Er konnte nur weinen; jetzt 
lächelt. er.— Siehe, da hebet den Kächelnden, den Lal— 
fenden, und fihon mit den Händen Langenden — bald 
nun auch des ſpaͤtern Kuffes fähig! — die Mutter aus 
ihrem Schooße auf des Vaters Arm. 

„Wie auf dem Angefichte des Menfchen vie verborgene, 
unfichtbare Seele fichtbar ſich ausdrückt, hervordringt, uns 
begreiffich fich mittheilt, und durch dieſe geheimmißvolle 
Mittheilung Nede und Verſtaͤndniß der Rede zuerſt ges 
biert: fo drüder auf dem Angefichte der Natur Gott 
unmittelbar fich aus; theilet fich durch in Andacht wer 
wandelte Empfindung dem Menfchen unbegreiflich mit; 
fehret- ben num auch am Weberfinnlihen, am Um 
erſchaffnen erwacten Get — ſtammeln Monnelaute 
de8 Schönen, Wonnelaute des Guten; ausfprechen end—⸗ 
lich jenes. Wort des Lebens — Seinen Namen. 

„Ber Gott nicht fieht, für den hat die Natur fein Anz 
gefickt; dem ift fie ein vernunftlofes, herz⸗ und willen, 
loſes Unding; eine geſtaltende duͤſtere Ungeſtalt; ein We⸗ 
ſenloſes, das aus Weſenloſem Gleichniſſe ohne Urbild 
in's Unendliche — nur nach Gleichniſſen bildetz eine 
graͤßliche, von Ewigkeit zu Ewigkeit nur Schein und Schats 
tenleben brütende Mutter Racdıt — Tod und Vernichtung, 
Mord und Luͤge, wo es faget 

„Wohl erkannte ‚alles, diefes umnfer Seher. — Er 
‚spricht — und gewiß, Da er dieſes sprach, ftand er auf⸗ 
gerihtet—: „Der Glaube an einen Gott ift Inſtinkt. 
Er ift dem Menfchen natürlich, fo wie das Gehen auf 
ziwei Beinen. Modiftzirt wird er bei Manchen, bei Man⸗ 
chen gar erſtickt; aber in der Negel ift er da, amd 
zur innern Wohlgeftalt des Erkenntnißvermoͤgens unent⸗ 
behrlich“ 


—— 7— 


„Aſo der Glaube an einen Gott it Inſtinkt. Er iſt 
dem Menſchen natuͤrlich, wie ſeine aufgerichtete 
Stellung. Diefen Glauben nicht zu haben, iſt ihm widers 
natürlich, wie ihm die niedergeworfene, bloß zum Suchen 
an der Erde hingebitte Stellung des angefichtslofen, nicht 
himmelanfchauenden Thiereg widernafürlich it. — Erſticken 
kann er dieſen Glauben; aber in der Ordnung iſt er da; 
und wo er ſich nicht findet, da iſt — Mißgeſtaltung 
des Erkenntnißvermoͤgens. 


Ich wiederhole: der edle Mann, da er dieſes ſprach, 
ſtand aufgerichtet, und er fuͤhlte: dieſe Richtung hims 
melan ift Feine menfhlidhe Erfindung! ein 
Gott hat den Menſchen aufgerichtet, und in 
fein inneres Auge dieſen Reiz gelegt, nach ihm 
hinaufzuſchauen! Inniger, lebendiger, als ſein Da⸗ 
ſeyn auf der Erde, erkannte er in dieſer Stunde feinen 
beffern Urſprung und feine höhere Beſtimmung. 


„Aber in dieſem, zur innern Wohlgeftalt des Erkennt 
nißvermoͤgens unentbehrlichen Glauben: was ergreifet der 
Menſch, und wie wird ihm das Ergriffene begruͤndet? Der 
tiefere Denker, der Weiſe, wie erklaͤret, wie rechtfertiget 
er ſich dieſen Glauben; wie ſtellet er den Gegenſtaud 
deſſelben ſeinem Geiſte bewaͤhrend dar? 


„Er erklaͤret ſich ihn, rechtfertiget ſich ihn, wie er. dert 
Glauben an Natur und eigened Dafeyn, an Bemwußtfeyn _ 
außer ihm und an Bewußtſeyn im fid) rechtfertiget und 
erfläret. Er ftellet den Gegenſtand deſſelben feinem Geifte 
dar, bewähret ihn dein Geiſte, wie er den eigenen Geift, 
den Geiſt feines Freundes — den erhabneren eines So— 
. frates und Pythagoras, eines Timoleon und Cato ſich bez 
währet und darſtellet. Er erfläret nicht, beweiſet nicht, 
. er empfindet, fiehet und weis et. Der erflärende, nad) 
weif ende Berftand hat im Menfchen nicht das erſte, 
nicht dag feste Wort. Selbſt der darftellende Sinn hat 
es nicht; wie dieſes nicht, fo jenes nicht. Nichts im 
Menſchen hat es. Es iſt uͤberall in ihm kein erſtes und 
kein letztes Wort; kein Alpha, kein Omega. Er wird 
angeredet, und wie er angeredet wird — ſo antwortet es 


—— : » — 


ans ihm — erjt mit Gefühlen, mit aus Unluft und Luft, 
aus Schreden und Freuden gemifchtem weiffagendem Ber, 
fangen, mit dem Ausdruck deffelben in tönender Geberde; 
dann mit Empfindungen, mit Gedanfen und Worten. Nur 
wer auszulegen weiß, verftehet, Immer ift etwas zwi⸗ 
fhen und umd dem wahren Wefen: Gefühl, Bild oder 
Wort. Wir fehern überall nur ein Verborgenes; aber, 
als ein, Verborgeneg, fehen wir, und fpüren wir dafs 
felbe: dem Gefehenen, Gefpürten feßen-wir das Wort 
zum Zeichen, das lebendige. Das ift die Würde des Wor⸗ 
tes. Selbſt offenbaret ed nicht: aber es beweifet Offen: 

barung, befeftiget fie, und hilft das Befeftigte verbreiten. 


„Was ſich überall bei einer Gattung findet, das iſt 
nicht die Erfindung, nicht die Erdichtung oder dag Er- 
dachte Eines oder Mehrerer aus diefer Gattung. So 
haben einzelne Menfchen eben fo wenig Religion und Spra- 
che erfunden und erdacht, ald das Sehen und Hören. 
Der Menſch lernte Sprache und Religion, wie er aud) 
das Gehen und Hören lernte. Nie hätte- er fehen ges 
lernt, wären nicht fchon ohne ihn gefonderte, abftechende 
Farben und Umriffe vor fein Auge getreten; nie hören 
gelernt in einer nicht fchon artifulirten, rhythmifchen Ton⸗, 
Accent und Sylbenvollen Natur. Es mußte diefe für 
ihn fchon bereitet, geordnet, fie mußte zu ihm, eben jo 
wie er zu ihr, ſchon organifirt feyn, wenn eine Leitung 
zwifchen beiden entjiehen, er mit ihr fich artifuliren, 
wenn er empfinden, Ieben, denfen, wollen und handeln 
ſollte. Abgefondert, für fich allein, ift er nichts, ein durche 
aus unmögliches Weſen. Sein bloßes reines Bewußtfeyn 
iſt ein bloßer leerer Raum des Denkens, den er felbit 
nicht erfüllen, den er darım auch nicht unterbrechen 
fan, um durch eine folche Unterbrechung wenigſtens ſich 
felbft in feiner Nichtigkeit zu wiederholen, und fein eige- 
nes Echo, ein Sch bin — des Nichts, hervorzubringen. 
Es ift fein Vermögen, Feine Gewalt in ihm, ich wieder 
hole es, zu irgend einem Alpha und Omega, daß er aud) 
nur ein Traummefen in der Phantafie urſpruͤnglich und aus 
ſich allein beftimmen und zum Vorſchein bringen Fönnte. 


— 71 — 


„Du biſt! — der Einzige, der Erſte! — Nicht ich, 
der ich nirgendwo, weder in mir noch außer mir, einen 
erſten Anfang oder ein erſtes Ende, auch nur in Gedan⸗ 
fen, zu ſetzen vermag: fein erſtes Maß, Fein erſtes 
Gewicht, Feine erfte Zahl. Diefes auszumachen, zu er 
finden mit der That, war eines Anderen: war je 

nes geheimnißvollen Wortes, das aller Wefen Beginn, 

das bei Gott war, und Gott felbft. diefes Wort; das, 
ausgefproden, erfchaffenes Licht, erſchaffenes Leben, 
diefe wundervolle Gottes » Schöpfung hervorrief.“ 


Das Mark diefer herrlichen Ausfagen ift dieß: 


J. „Wie es Inſtinkt des Thieres ift, feine. Nahrung zu 
fuchen: fo ift es Inſtinkt der Menfchenvernunft, ſich 
feinen Gott zu finden. 


1. Wenn diefer Vernunftinſtinkt eine e pfischofsgifche Tin, 
fhung wäre, fo wäre die ganze Erfenntniß bes 
Menfchen ein Nichts, die ganze Natur, die ganze 
Menfchheit und das ganze Univerfum ein Gefpenft. 
Da nun dieſes Absurdum ar’ e£orıv das 
Weſen der Vernunft ſelbſt aufhoͤbe: fo iſt der Ver⸗ 
nunftinſtinkt, der Gott ahnet und vorausſetzet, 

Wahrheit, und das Bewußtſeyn, daß Gott iſt, 
die Vernunft felber. | 

II. Dieß Bewußtfeyn des Göttlichen hat zwar bie 
hoͤchſte Gewißheit, aber der Gewißheit von dem 
ewigen Seyn Gottes fehlt das Durchſchauen des 
göttlihen Weſens. 


IV. Wie das Bewußtſeyn von Gott in den Menfchen, 
gleichſam als der Tag nad) einer langen Nacht, 
aufgegangen ift, fo it, was bisher bloß Menfchens 
feim war, nun auch Menfch geworden. “ 
Das letzte Wort von der Menfchwerbung mag uns 
noch eindrücklicher werden durch die — 


Parabel. 


Einf forfchte der Verftand Wahres in der Welt, 
der Geſchmack genoß Schoͤnes in der Natur und 


— ©; — 


Kunſt, das Gewiffen richtete uͤber Gutes — in Ge⸗ 
ſinnung, Zweck, Handlung des Menſchen. 


Da trat ein himmliſcher Genius in ihre Mitte und 
ſprach: Liebe Brüder! was machet ihr denn da? Wif 
fet ihr wohl auch, was ihr wollet? Dein Waͤhres, o 
Verſtand! it nichts — ohne das Wahre; dein Schönes, 
o Geſchmack! ift nichts — ohne das ‚Schöne; dein Gu⸗ 
tes, o Gewiffen! ift nichts — ohne das Gute. Mas 
ihr alſo alle drei Cohne Bewußtſeyn) vorausſetzet und 
vorausfegen miüffet, wenn euer Wahres, Schönes, Gutes 
nicht — nichts ſeyn follte, fehet! das vernehme id 
in mir — deßhalb heiße ich Vernunft; wie ihr Wahres, 
Schönes, Gutes, wahr, fihön, gut findet, fo vernehme 
ich, was ihr alle vorausfeget, das Wahre, das Schöne, 
das Gute. Das Wahre, das Schöne, das Gute, das 
ich vernehme, kann aber nicht wieder. bloß ein Wahres, 
ein Schönes, ein Gutes feyn: fonft wäre es Bm Das 
Wahre, das Schöne, das Gute. 


Es ift alfo das Urwahre, das ich vernehme, und 
das dein Wahres, o Verftand! vorausfegen muß; es ift 
das Urfchöne, das ich vernehme, und das dein Schönes, 
o Gefchmad! vorausſetzen muß; es ift das Urgute, das 
ic) vernehme und das dein Gutes, o Gewiffen! voraus— 
fegen muß, wenn euer Wahres, Schönes, Gutes nicht — 
nichts, wenn ihr drei felber, Verſtand, Geſchmack, Ges 
wiſſen nicht — nichts feyn wollet. D: 


Vereiniget euch alfo mit mir — und forfchet und ge⸗ 
nießet und richtet — in Einigung mit mir. 


Fraget mich aber nicht, wie ich dazu komme, daß 
ich das Urwahre, Urſchoͤne, Urgute vernehme, — denn 
ich. kann ‚nicht. anders: ed iſt mein Inſtinkt, jedem Wahs 
ren das Urmwahre, jedem Schönen das Urfchöne, 
— Guten das Urgute aufzufinden. 


Ohne dieſe Auffindung waͤre ich ſelber nichts. Ich 
bedarf aber bei. diefem Auffinden fein ermuͤdendes Su— 
chen, ‚bei jenem Vernehmen Fein Fünftliches Hervorho— 


FE — 


fen, denn das Urwahre, das Urgute, das Urfchöne fpricht 
laut genug zu mir; ich Darf nur hören. 


Und wenn Semand fpräche: dein Urwahres, dein Ur⸗ 
ſchoͤnes, dein Urgutes, o Vernunft! iſt nicht: ſo hat er 
die Vernunft ſchon aufgehoben. Denn ich Vernunft bin 
nichts als das Vermoͤgen, das Urwahre, das Urſchoͤne, 
und das Urgute zu vernehmen, und mein Weſen iſt: 
‚fein anderes als das Urwahre, Urfchöne, Urgute ver- 
nehmen zumüffen‘ 


Hier ſchwieg die Vernunft und fiel mit Verſtand, Ge⸗ 
ſchmack und Gewiſſen vereint — ſchweigend sur Erde, 
und betete.an... 


Während der Anbetung habe fi ich die Gefichtögiige 
des Anbetenden und fprachen Wahrheit, Scyönheit, Guts 
jeyn in reicher Fülle aus, und ein Serapl) ſchrieb an 
die Stirne: 


Nun ji wieder ein Menſch geworben! 
* Ri * 

Aber nicht nur liegt in der Vernunft ein Grund, das 
Ausmeſſen des Unausmeßlichen aufzugeben; die ganze hoͤ⸗ 
here Natur des Menfchen kann ald ein Nöthigungsgrund 
angefehen werden, von Diefen end = und fruchtloſen a} 
hungen abzulaffeı. | N 


x Anmerfung zur jechöten Borlefing, 


Einer ernften Erwägung würdig ift, was Efchenmayer (im 
erftien Theile feiner Neligionsphilofophie, Tübingen 1818) über 
Wiffen und Nichtwiffen des Menfchen in Bezug auf Gott und 
göttliche Dinge fagt: „Hier tft es, fchreibt er, (Seite 12.) wo 
wir uns beſcheiden muͤſſen, und wo alle Philoſophie zur Demuth 
und zum kindlichen Glauben verwieſen wird. Wer den Grund 
goͤttlicher Exiſtenz und Wirkſamkeit erforſchen wollte, müßte felbft 
ein Gott ſeyn, oder, da jedesmal der Erforſchende hoͤher liegt als 
das Erforſchte, vielmehr uͤber ihm ſtehen. Waͤre Gott ein Gegen⸗ 
fand unferer Begriffe und Ideen, und Fein anderes Dokument 
von Ihm in uns," als was wir uns felbft zufammen fehreiben, fo 
hörte er im Augenblicke auf, ein Gegenfand unferer Verehrung 


i 


zu ſeyn. Nie würde der Menfch vor dem, was feine Vernunft 
durch Schlüffe und Prineipien gefunden und in ein Syſtem einges 
reiht hätte, die Kniee beugen und es anbeten. Es giebt Wahrheis 
ten, die weit über alle menfchliche Vernunft hinaus Liegen, die 
fie nur empfangen, nie entdecken kann. Kant nennt diefe Wahrs 
heit tranfeendent, und unterfcheidet fie von denjenigen, twelche der 
Vernunft ſelbſt innewohnen oder immmament find. Einen andern 
Unterfchied, der hieher gehört, macht fchon Leibniz in feiner Theos 
dieee zwifchen Wahrheiten, welche die Vernunft überfteigen, und 
folchen, welche mit ihr im Widerfpruch ſtehen. Diefe letzteren 
muß die Vernunft verwerfen, weil fie in ihrer eigenen Wurzel 
fich angegriffen fühlt, und als Gabe Gottes mit dem göttlichen 
Weſen in einen unheilbaren Zwieſpalt verfest würde. Jene bins 
gegen zu begreifen, ſieht fie fich ſelbſt zu gering, und muß fich 
demüthigen.“ 

Veber Wiffen und Glauben in Bezug auf göttliche Wahrheis 
ten find eben fo finnreich deffelben Werfaffers Worte (ebenda, Seite 
14—15.) „Wiſſen ift ein Zurückführen aller Erfahrung, Analogie 
und Induktion unter die der Vernunft innewohnenden Wahrheiz 
ten, und was diefen mwiderfpricht, ift ewig Irrthum, mwenigftens 
für Uns und gleiche Vernunftwwefen. Glauben hingegen ift ein 
Auffaffen jener Wahrheiten, die der Vernunft gleichfam von hör 
berer Hand geoffenbarer find. Es ift ein Licht, das die Vernunft 
nicht im fich felbft anzuͤndet, fondern aus einem göttlichen Geftirne 
empfängt. Und diefes Empfangen ift der Glaube. Diep find 
nun die Wahrheiten, welche der Vernunft nicht mwiderfprechen, 


fondern über ihr Gebiet erhaben find, und durch welche fie ſelbſt 


ihre eigene Vollendung fuchen muß. Denn — wenn wir es recht 
: anfehen, fo wird die Vernunft im eben dem Mag, als fie die 
tranfeendenten Wahrheiten in fich aufnimmt uud wirken läßt, füs 
higer, dieß Licht auch auf immanente Wahrheiten fortsupflangen, 
fo. daß wir mit getroftem Muthe fagen koͤnnen: „nur der fromme 
„Mann betrachte auch die Welt in ihrem wahren Lichte und Laffe 
ich nie von ihren Irrthuͤmern und Mängeln bethören, ja felbit 
„Die Natur mit allen ihren Gefegen und Proportionen erjcheine 
‚Abm reiner und Elärer, als jenem unfeligen Haufen von Mens 
Achen, die, in dem Eigendühfel ihres Wiffens verfunken, gerade 
za den ſchoͤnſten Wahrheiten wie blind voruͤbergehen.“ 


Der Herausgeber. 





Siebente Borlefung. x 


Köthigung, die in ber höhern Natur des Menſchen Liegt, 
das Auömefjen des ————— aufzugeben. 


25. 


Sch fage: die Vernunft kann in ber höhern Natur des 
Menfchen einen Grund auffinden, der im Stande ifl, ein 
nuͤchternes Gemuͤth zu nöthigen, das Ausmeſſen des Un⸗ 
ausmeßlichen aufzugeben, und, eins mit ſich, das hoͤchſte 
Weſen anzuerkennen. 


Indem ich dieſen Grund namhaft mache, — ih als 
Menfch hier mein Zeugniß ab, ımd erkläre aß - 
Lehrer dieß Zeugniß. 


Es nöthigen mich die rege gewordenen. Bebärfniffe 
meiner höhern Natur, an ein höchftes Wefen zu glauben: 
bas ift mein Zeugniß. Sch erkläre diefe Nöthigung, 
die ich in mir wahrnehme: dieß ift meine Lehre. 


26% 

Sch fühle drei Bebürfniffe in mir: bad Beduͤrfniß 
nah Wahrheit nach Erkenntniß des Wahren), das Bes 
duͤrfniß nach Heiligkeit, das Beduͤrfniß nach Seligkeit. 
Mit dieſen Beduͤrfniſſen iſt meiner vernuͤnftigen Natur 
das Streben auferlegt, volle Befriedigung der— 
felben zu füchen, und defhalb haben fie eine Art Unend» 
lichkeit in fid). 


Nun, wo werbe ich volle Befriedigung des Beduͤrf⸗ 
niſſes nach Erfenntniß der Wahrheit, wo eine volle Ers 
kenntniß der Wahrheit, die meinen Erkenntnißdurſt ganz 
ſaͤttiget, finden koͤnnen? 


Nicht in der ganzen ſichtbaren Katar, Des 
ren Sunered ich nicht durchdringen kann, und Fein Menſch. 
Sch fehe nur das Zifferblatt und den Zeiger; das Triebs 
werk jehe ich nicht... Viele Augen fehen weber Ziffer, 


m as °—> 


- blatt noch Zeiger, ſehen nur die Anßenfeite, die fich im: 
mer und immer anders geberdet, aber den Sinn der Ges 
berde errathen fie nicht. . Und, went wir. auch die Uhr 
zerlegen, ud Das Triebwerk fehen Fönnten: den Kinit 
ler fähen wir doch nicht, und ben * des — 


auch nicht. 


Nicht in meinen arte die fel6ft in 
dem Falle find, nach Wahrheit fragen. zu miüffen, und 
über unbefriedigtes Bedürfniß zu Flagen, getäufcht find 
und tänfchen, irren und zum Irrthum verleiten, in ihren 
Ausfagen von. der Wahrheit einander durchkreuzen, und 
einander befriegen. 


Nicht in einem übermenfhliden, —— 
aber noch beſchraͤnkten, dem Irrthum unter 
worfenen Verftande, defien Mittheilungen eben fo 
wenig mein Beduͤrfniß befriedigen, als die Gefahr des 
Sreend entfernen, und volle Gewißheit verfchaffen können. 


Alfo nur in einem Wefen, das allfebend if, 
alle Dinge kennt, wie fie find, die Wahrheit. im hellſten 
Lichte ohne alle Finfterniß -fchautz das allguͤtig if, 
meinen Durft nach Wahrheit ftillen zu wollen; das all: 
maͤchti g iſt, ihn befriedigen zu koͤnnen. 


Alſo treibt mich das Beduͤrfniß meines Wefens nach 
Wahrheit, ein Beduͤrfniß, das a) kein ſelbſtgemachtes, 
ſondern Naturbeduͤrfniß iſt, das b) nie ruhet, amd bis 
zur. vollen Befriedigung nie ruhen kann, das  c) auf je: 
dem andern Wege unbefriedigt bleiben muß, — dieß Bes 
duͤrfniß treibt mich, an ein Wefen zu glauben, das eben 
daſſelbe Beduͤrfniß befriedigen Fann, will, wird — 
va das ift mein Gott. | 


Dieſe Noͤthigung finde ich in meinem erſten Beduͤrf⸗ 
fe 
——— 22. | 
& wie ich, als ein verftändiges Wefen, Wahrheit 
ſuche, fo ſoll ich, als ein ſittliches Weſen, das Gefeß: 
Sey gut“ erfuͤllen, ſoll gut, heilig ſeyn. Ich fol! das 


her das Berdbammungsurtheil, dag ic) fiber mic, 
felber ausfprechen muß, wenn id) Boͤſes thue. 
Nun finde ich in mir. 
1) das deal der Heiligkeit — Di: es heiße, heilig 
ſeyn; 
2) dag Geſetz der Helligfeie daß id heilig * 
ſoll; 
3) das ehrliche aber ſchwache Wollen— 
heilig zu werden, das 
4) verbunden iſt mit einem Uebergewiähte der 
firnlihen Natur und mit unzähligen Reizen zur 
Nichterfuͤllung des Geſetzes; das | 
5) noch mehr entfräftet ift durch die. (od enden 
DBeifpiele von Uebertretung des Geſetzes; das 
© ſich nicht erwehren kann, faſt täglich Proben 
‚der Gebrehlichfeit in guten Borfäsen, Pros 
ben. der Unlauterfeit in Abſichten, oft auch 
Proben der Boͤsartigkeit in Geſinnung und 
That zu geben; das 
7) noch am allermeiften gehemmt wird von der Aber 
mächtigen Selbftfucht, die fogar die Sophiftif 
‚des Verftandes wider die Ausfprüche des Gewiſſens 
in ihre Partie zieht und bewaffnet. 


Das finde ih in mir. Nun, wo finde ich die wolle 
Kraft zur Vollendung der, Heiligkeit? 


Offenbar nicht in der finnlichen Natur, die un⸗ 
ter mir iſt, die nicht einmal die Idee von dem Geſetze 
der Freithätigkeit, geſchweige denn die Kraft zum Guts 
feyn geben fan, 

Auch nicht in mir, — unter den genannten 
Rubriken iſt keine, die da hieße: volle Kraft zur 
Heiligung: — oder wer fie in ſich findet, fag’ es 
mir; dann wollen wir zu ihm RERTRUL SEN und und 
“bei ihm holen, was uns mangelt. 


Auch nicht in meinen Mitmenschen, die id) 
täglich über das „Meliora pmebo, deteriora sequor“ 


flagen höre, und die mit mir nach der vollen Kraft zur 
Heiligung fragen. 


Auch nicht in einem uͤbermenſchlichen, aber 
befhränften Wefen, das eben deßwegen dem Böfen 
unterworfen feyn, oder werden kann, are nicht geben 
fann, was es ſelbſt nicht hat. 


Alſo nur in einem Weſen, das ſich ſelbſt Geſetz, und 
eben darum das Heilige iſt im ausſchließenden Sinne; 
in einem Weſen, das allguͤtig, um ein vollkomme— 
nes Bild feiner Heiligkeit in mir fchaffen zu wollen, 
und allmaͤchtig if, es in mir fchaffen zw können. 


Alfo das unbedingte Gebot, heilig zu feyn, und das 
Bebürfnig nach Heiligkeit, ein Beduͤrfniß, das a) fein 
felbfigemachteg, fondern ein Naturbedärfniß ift, das 
b) einmal rege geworden, für fich felber nicht ruhet, 
und nicht ruhen kann, bis es volle Befriedigung wird 
gefunden haben, das c) auf jedem andern Wege 
unbefriedigt bleiben muß — dieß Beduͤrfniß noͤthigt mich, 
an ein Weſen zu glauben, das dieß mein Beduͤrfniß be: 
friedigen kann, will und wird — und dieß Wefen 
iſt mein Gott. 


Ich will aber nicht nur Wahrheit erkennen; ich ſoll 
nicht nur gut ſeyn: ich will auch und muß wollen felig 
werden; ich will, und muß wollen einen Haltungspunft 
ſuchen, der alle meine Wünfche nad voller Selig. 
feit tragen, alle Hoffnungen, Erwartungen meis 
ned höhern Weſens befriedigen fanı. Nun die volle Bes 
friedigung meines Durftes nach voller Seligkeit finde id) 
nicht — in den niedern Gütern der finnliden 
Luft, der Ehre, der Macht, des Reichthums, 
denn fie find brech lich und vergänglich: fie ver 
möchten,. wenn fie auch wider ihre Wefenheit — die 
Schein und Wechfel ift, ohne Ende währen fünnten, doch 
den Durft nach Seligfeit, die meiner höhern Natur ans 


gemeffen ift, nicht zu fättigen, und fie machen much, in 


— Mi: 


ſofern fie mich beherrfchen, für die reinen Freuden, (die 
der Gewiffenstreue und Religioſitaͤt), unempfaͤnglich. 


Bolle Befriedigung meined Durjtes nach voller Selig. 
feit finde id) nicht in der ganzen förperliden 
Natur außer mir, die fchon weit unter der Würde ei« 
nes vernünftigen, freien Willens fteht, und alfo die Bes 
dürfniffe nad) Seligfeit, die der Vernunft und dem freien 
Willen angemeffen ift, ſchon gar nicht befriedigen kann. 


Bolle Befriedigung meines Durfted nach voller Ses 
(igkeit finde ich nicht im der Wiffenfchaft, die als 
menfchliche Wiffenfchaft Außerft begrenzt ift, und alfo 
nicht einmal die Bebirfniffe nach Erfenntniß befriedigen 
fanıt,  gefehweige denn die Summe aller Beduͤrfniſſe 
nach voller Seligkeit zu fättigen im Stande iſt; bie 
höchftens ein Ideal von Eeligfeit entwerfen, aber die 
Seligkeit felbft nicht ſchaffen kann. 


Volle Befriedigung meines Durſtes nad) voller Selig. 
feit finde ich nicht in der Freundfchaft, die manche 
trübe Stunde erheitern, manche Hülfe Teiften, manche 
Freude verbreiten, aber weder die Außern Leiden der Zeit 
alle vom Freunde entfernen, noch durch fich felbft die ins 
nern Leiden, die Unruhen des Herzens, den Aufruhr der 
Leidenschaften ftilen, noch weniger das ftrafende Gewiffen 
ſtumm machen, und die uͤberdem ſich felbft ihre — 
Fortdauer nicht garantiren kann. 


Volle Befriedigung meines Durſtes nach voller Selig, 
feit finde ich nicht in der Tugend, die als Tugend 
Sache des Kampfes ift, und leiden, entbehren, Ge 
nüffe verfhmähen, und felbft das Leben zu opfern 
bereit jeyn muß; Die uns der Seligfeit fühig und werth 
machen kann, aber diefelbe ganz und aus ſich allein zu 
ſchaffen, unfräftig it, weil fie weder in uns bie Die 
harmonie zwifchen den Winfchen und Kräften heben, noch 
außer uns die Gefeße der Natur mit unferm Selige 
teitötriebe in Harmonie bringen kann; die ‚ihr eigenes 
Seyn in Hinficht auf die Gebrechlichfeit des Menfchen 
und die Reize des Böfen, als fehr zweidentig und oft 


nn BE 


gar zu. prefär anerkennen muß; die endlich, wenn fie 
“auch als vollendet gedacht wiirde, wohl als Haupt—⸗ 
bedingung zur Befriedigung des Seligfeitötriebes, aber 
*— nur als negative Bedingung angeſehen werden 
koͤnnte. 


Volle Befriedigung des Durſtes nach voller Seligkeit 
finde ich nicht in dem ganzen Menſchengeſchlechte, 
das gerade in dem Falle iſt, wie ein Individuum des 
Menſchengeſchlechtes, — ſich wohl Seligkeit wuͤnſchen, aber 


nicht ſchaffen kann. 


Volle Befriedigung des Durſtes nach voller Seligkeit 
finde ich nicht in uͤbermenſchlichen, aber noch be— 
ſchraänkten Weſen, denen. wir feine Allmacht, alſo 
kein ungehemmtes All-Vermoͤgen, den Seligkeitsdurſt ü in 
uns zu ſtillen, zutrauen koͤnnen. 


Die volle Befriedigung des Beduͤrfniſſes nach voller 
Seligkeit kaun ich alſo nur in dem Weſen finden, das 
nicht nur ſich ſelbſt Geſetz und das heilig iſt, ſondern 
auch die volle Seligkeit in fi hat, und allgütig if, 
mich vollfommen felig machen zu Beh, und al — 
tig, es zu koͤnnen. 


Es noͤthiget mich alſo das Beduͤrfniß nach voller Se⸗ 
ligkeit, das a) ein Naturbeduͤrfniß iſt, das b) ein Örund- 
beduͤrfniß iſt, wie der Trieb, ſelig zu ſeyn, ein Grund— 
trieb der menſchlichen Natur iſt, das c) nie ruhet und 
nie ruhen. kann, bis es volle Befriedigung gefunden. has 
ben wird, und das d) auf feinem andern Weg befriebis 
get werden kann — dieß Bedürfniß nöthiget mich, an ein 
Weſen zu glauben, das demfelben Bedürfniffe volle Be: 

friedigung ſchaffen kann: und dieß Weſen iſt mein 
Gott. | 


Diefe Roͤthigung an ein hoͤchſtes Weſen zu glauben, 
erſcheint dem im hellern Lichte, der die Seligkeit ſeines 
Weſens in ihrer. hoͤchſten Ausdehnung (extensio) auf 
das Eine und dad ALL, ohne das der Grundtrieb nach 
Seligfeit wicht »geftillet- werden kann, in ihrer höchiten 
Stufe (intensio), ‚und ihrer hochten Dauer (protensio) 

denkt. 


— WE 


denkt. Denn den Durft nach Unfterblichkeit (endloſer 


Dauer) kann offenbar nur die Ewigfeit felber befriedigen. 


Es treiben mich alfo die rege gewordenen höhern Be- 
dirfniffe meiner Natur, an ein Wefen zu glauben, das 
das Heilige, das Selige felber ift, und zugleich all- 
wiffend, allgütig, allmächtig ift, die Bedurfniffe nad; Wahr- 
heit, Heiligkeit, Seligfeit in mir zu befriedigen. Ä 


; x 20. 
Diefe Nöthigung fühle ich in dem Maße Tebhaf- 
ter, im welchem fich entweder ein einzelnes höheres Ber 
durfniß, oder das Eine, dreieinige Beduͤrfniß Fräftiger be 
weget.... Ich kann nicht anders: ich muß ſuchen eme 
Erfenntniß, die meinen Durſt nad Wahrheit ftillet, 
eine Uebermacht des Geiftes ber alle Neize des Bor 
ſen zur Ausubung alles Guten, eine Seligfeit, vie 
den  Grundtrieb meiner Natur befriediget; und dieſe Er: 
kenntniß, dieſe Geiſtes-Uebermacht, diefe Geligfeit finde 
ich nur in dem Wefen, das die Wahrheit, die Heiligs 
feit, die Seligfeit felber ift, nur in dem Wefen, das 


ald Wahrheit der Ruhepunkt für meine Vernunft, als 


Heiligkeit der Ruhepunft für, meinen Willen, ald Selig: 
feit der Ruhepunkt für ‚mein Gemuͤth, für den. Grund- 
trieb der menfchlichen Natur ſeyn kann, nur in Gott. 


Naun aber kann weder meine Bernunft in der uner- 
gründlichen Wahrheit, noch der Wille in der unermeß- 
lichen Heiligkeit, nod) das Gemuͤth im der unausforfch- 
baren Seligfeit ruhen, wenn ich nicht den Berfuch, das. 
Unergründliche zu ergründen, das Unermeßliche zu ermef- 


fen, das Unausforfchbare auszuforfchen, aufgebe. Alſo 


werde ich durch eben die drei höhern Beduͤrfniſſe, vie 
mic; nöthigen, an Gott zu glauben, zugleich genöthiget, 
ben Verſuch, das Unergründliche zu ergründen, dag Uner- 
meßliche auszumeffen, und das a ne auszufor⸗ 
ſchen, — aufzugeben. 

230 


Diefe Noͤthigung, an Gott zu glauben, iſt 1) feine 


blinde, fondern eine Lichthelle, indem fie mit der Lichts 
IM. v. WARE OAmank, Schriften, VIIL. Bd. 3te Aufl. 


x 


ansftrömenden Idee vonder höchften Wahrheit, Heilig. 
feit, ‚Seligfeit, und mit dem Bewußtſeyn von der 


hoͤchſten Wahrheit, Heiligkeit, Seligkeit in Eins zuſam⸗ 
menfaͤllt. 


Der Glaube an Gott, der aus dieſer Noͤthigung her— 
vorgeht, fiftet 2) Frieden, Einigung zwiſchen der Welt— 
anfchauung, Die mid; außer. mich hinauswirft, und zwi— 
ſchen der Selbſtanſchauung, die mich in mir gefangen 
hält. Denn, wie der Glaube eine lebendige Wahrneh- 
mung, gleichfam eine Anſchauung Gottes wird, fo wird 
diefe Anfchauung nach und. nad eine Gentralanfchanuung, 
in der, als ihrem Einheitspunfte, die Weltanfchauung und 
die Selbſtanſchauung, als zwei getrennte Einheiten, ſich 
vereinigen, Gott wird dem Glaubensauge eine Sonne, 
die fih in der Natur, als ihrem Bilde, und in ver 
Menfchheit, als ihrem ‚Ebenbilde fpiegelt. Das Licht, 
das in der Natur glänget, und das höhere Licht, das 
in der Geele des Menfchen dämmert, erfcheinen jest als 
Radien, die aus Einer Sonne famen und auf Eine 
Sonne‘ zurüchweifen. 


Gott wird dem Glaubensauge das Eine ewi ge 
Licht, das in der Natur die Macht des Lebens, in 
der Menfchheit die Schönheit und die Seligkeit der 
Liebe offenbaret. 


WVon nun an fuͤhrt auch die Naturbetrachtung das 

Gemuͤth, ohne es bloß in der Mannigfaltigkeit zu ermuͤ⸗ 
den, auf die Einheit zuruͤck; von nun an draͤugt auch 
die Selbſtbetrachtung das Semith, ohne es bloß in der 
Endlidhfeit — zu hauen auf die Unendlichkeit 
zuruͤck. 


Diefe Nöthigung, an Gott zu glauben, trifft zuſam— 
men 3) nicht nur mit aller Menfchenvernunft, die 
Gott im Gewiffen und in der Natur, in der Weltge— 
fchichte und in den einzelnen Lebensfchicfalen des Men: 
fchen anerfenit, fondern auch mit der Abfiht aller 
fpefulativen Vernunft. Im ihrer wefentlichen 
Tendenz, überall Einheit aufzufinden, wird fie wohl 
and) die abfolute Einheit fuchen müffen. Und diefe hoͤch— 


— BE — 


ſte, dieſe ewige, dieſe unwandelbare Einheit kann 
ſie nicht finden, wenn ſie nicht alles Wahre auf das 
Urwahre, d. i. alle Gründe auf den Urgrund, alle 
Ur-Sakhen rauf das Urwefen, alle Zwede auf den 
Endzwed, alles Gute auf das Urheilige, alles 
Selige auf das Urfelige, alle Schöne auf das 
Urſchoͤme zuruͤckfuͤhrt. Nun aber das Ur» Wahre, Hei- 
Tige, Selige, (dad Urſchoͤne) iſt Gott. 


Mit Gott ift Licht, ft Harmonie im Univerſum, ohne 
Gott Nacht und Widerfprud. 


Sp fimmet denn nicht nur aller Gemeinfinn der 
Menfcjheit, sensus communis, fondern auch die Abficht 
aller fpefulativen Vernunft mit Dem überein, wozu mich 
die höhern Beduͤrfniſſe der menfchlichen. Natur nöthigen, 
und eben diefe Uebereinftimmung ee in mir dag Ge 
fühl jener Nöthigung. * 


Wenn wir dieſe Noͤthigung, an Gott zu —— 
die aus den drei hoͤhern Beduͤrfniſſen der menſchlichen 
Natur hervorgeht, genau betrachten, ſo erhellet, daß 4) es 
eben der Eine Vernunft-Inſtinkt ſey, was und noͤ⸗ 
thiget, an Gott zu glauben, jener Vernunftinftinkt, 
der fich in die drei Triebe nach dem Wahren, Guten, 
Seligen entfaltet, und, ſich wieder in den Einen, in den’ 
Trieb nad) dem Schönen, zufammenzieht. 





6* 





Adte Vorlefung, 


$. Ill. > “= 
‚Das fiherfte Weberzeugungsmittel. 
31. | 


Wenn der VBernunftinftintt, ber fih in 
brei Triebe nah dem Wahren, Guten, Selt 
gen entfaltet, und in Einen, den Trieb nad 
dem Schönen, zufammenzieht, feinen Gott ge 
funden hat: fo erreicht er die hoͤchſte Gewiß— 
heit durch ein goͤttliches Leben. 


Oder: die Nöthigung, an ein Wefen zu glauben, das 
die hoͤchſte Wahrheit, Heiligkeit, Seligkeit, und ebem deß— 
tbegen die hoͤchſte Schönheit felber it, und das die Be— 
‚ bürfniffe nad) Wahrheit, Tugend, Seligkeit — daß tiefe 
Sehnen nach dem Urfchönen in allen empfänglichen Ge: 
müthern zu jtillen, allein im Stande ift, uͤbet in mir eine 
unwiderftehliche Gewalt aus, und macht: den Glauben an 
Gott zu einer heiligen Nothwendigkeit, und erhebt ihn 
zur höchften Gewißheit — durch den ernften Entfchluß 
und durch das treue Streben, fo zu denfen, fo zu 
wollen, fo zu handeln, ald-wenn das Auge der 
Ewigkeit wirklich Zeuge wäre von allen meinen eins 
zelnen Gedanken, Wünfchen, Handlungen, wie es wirk— 
lich Zeuge iſt; als wenn der Heilige mir wirffich goͤtt⸗ 
liche Kräfte zur Vollendung des Guten darreichte, wie 
er fie auch darreicht; ald wenn der Selige das Maß 
der GSeligfeit nach dem Maße der’ Heiligkeit wirflich aus— 
theilte, wie fie feine erechtigfeit gewiß auch austheilt 
und austheilen wird; ald wenn das Urfchöne die, 
- Wunder feiner Herrlichkeit wirklich in mir offenbarte, 

wie es denn auch nichts Geringeres wollen Fan. | 


x 


— 85 ie 


So denfen, wollen, handeln heißt in der Sprache 
der älteften Philofophie: in Gott Leben, in der Sprade 
der Patriarchen: vor Gott wandeln, und dieſes Leben 
in, biefer Wandel vor Gott ift dem menjchlichen Gemüthe 
hienieden die hoͤchſte und beſte Demonstratio DEI 


Denn, wer fo lebet, muß — durch den Um⸗ 
gang ſeines Geiſtes und ſeines Gemuͤthes mit der hoͤch⸗ 
ſten Wahrheit, Heiligkeit, Seligkeit, — mit, dem Urſchoͤ⸗ 
nen, mit Gott, durch den Umgang mit. feinem h oͤ ch⸗ 
ſten Gute, immer vertrauter werden mit dieſem 
hoͤchſten Gute, und dieſes Vertrautſeyn muß allen Zweis 
fel, ob das hoͤchſte Gut unſeres Weſens ſey, 

unmoͤglich machen. Wie der ſinnliche Menſch nimmer 

zweifeln kann, daß es eine Luft giebt, weil er fuͤr die 
Luft gemacht iſt, und ſie immer aus- und einathmet: fo 
wird der höhere Menfch im Menfchen nimmer zweifeln 
koͤnnen, Daß Gott ift, weil er fich für Gott gemacht 
fühlet, und ohne Ihn ii höheres Leben nicht men leben 
koͤnnte. 


— daß ſich der Gedanke des Menſchen immer 
zu Gott erhebt und in Gott neu belebet, bekommt 
er fo. viel Licht, Leben, Beſtandheit, Einfluß auf ſein 
uͤbriges Leben, fo viel Herr haft über fich ſelbſt, daß 
die Exiſtenz des Menſchen zernichtet werden müßte, went 
ihm der Glaube an Gott ſollte geraubt werden koͤnnen. 


Wer fo leber, deffen ganzes Gemuͤth muß zwei— 
tens: Durch immer treuere Befolgung des heiligen Gefes 
Bes — (die im Grunde Eines it mit dem vertrauten 
Gedanken an Gott), ſelbſt immer gerader, aufrich— 
tiger, neidlofer, reiner, mädtiger, allen 
Reizen des Boͤſen zu twiderftehen: muß je länger, 
je ‚mehr ein sprechende Bild des götelithen Weſens 
werden, und an dieſem Bilde muß die Vernuuft (das 
Vermoͤgen, das Wahre zu vernehmen) immer leichter und 
trefflicher des Urbildes wahrnehmen. Da ſich im Men— 
ſchen, der nach dieſem hoͤchſten Grundſatze lebet, das 
Goͤttliche immer ſchoͤner ſpiegelt, wie ſollte er zweifeln 


— 35856 — 


koͤnnen, ob bas, was fi H im Menfchen fpiegelt, auch 
ſey? 
Kurz und noch einmal: 


Durch ein goͤttliches Leben wird man Got 
tes erft recht inne. 


Wenn fih dad Auge des Gemüthes ohne Unterlaß 
von der vergänglichen Geftalt der Natur wegwendet und 
zum Unvergänglichen hinhält: follte es denn nicht geſchick⸗ 
ter werden, die von Gott, als der Welt» und Geifter: 
Sonne, ausgehenden Strahlen aufzufaffen?. Und follte 
der Geift in der heiligen Stimmung, in welcher er die 
Strahlen aus der Welts und Geifter » Sonne auffaffet, 
zweifeln Fönnen, ob es eine Welt: und Geifter - Sonne 
gebe? Gewiß, er wird fo wenig daran zweifeln Fönnen, 
als wenig ein Sonnenfeher am Dafeyn der Sonne zwei⸗ 
feln kann. 


Wahrhaftig! wer vor Gott wandelt, wandelt im 
Lichte, und wird, im Lichte wandelnd, immer mehr in 
das Licht verflärt, und, verflärt in das Licht, follte er 
noch zweifeln fönnen, ob das Licht fey? 


Wer fo lebet, der wird drittens: dadurch, daß er 
fein Gemuͤth ohne Unterlaß über alles Vergängliche weg 
and zum Unvergänglichen erhebet, nicht nur. immer mehr 
Ruhe im Unvergänglichen, immer mehr Friede in 
Gott finden, fondern auch immer fähiger und wiürdiger 
werden, ewig- und rein = jfelig zu jeyn; wird gleichfam 
das ewige Leben jchon anticipiren: wie ſollte er noch 
zweifeln koͤnnen, daß es ein ewiges Leben gebe? Denn, 
was iſt Gott anders, als das ewige Leben, das in ſich 
ewig iſt, und aus ſich in ſeine Kinder uͤberſtroͤmt — 
„eine Fuͤlle des ewigen Lebens? 


Wer fo lebet, der wird viertens: durch neue Mit 
theilungen des Göttlichen, wozu. ihn die treue Anwendung 
des Empfangenen tüchtig macht, immer Gottähnlicher, 
und, durch fteigende  Gottähnlichkeit, höherer Mitthei 
lungen immer empfänglicher werden, und fo wie 
ang jener zunehmenden Beredlung feines Innerſten, alſo 


—ñi 87 —— 


auch aus dieſen wachſenden Zufluͤſſen goͤttlicher Gaben 
immer eine hellere und hellere Anſchauung bekommen, daß 
Gott ein lauteres Mittheilen, ein ewiges Geben ſey. 


Wer fo lebet, wer alſo a) durch vertrauten Um— 
gang mit dem Goͤttlichen, b) durch weitere Entwice- 
lung des Göttlichen in ihm, c) durch fteigenden Ge— 
nuß des Göttlichen, d) durch höhere Mittheilung des 
Goͤttlichen, Gott felber immer mehr Fennen lernt, dem wird 
endlich Gott fo durchaus gewiß ald unentbehr— 
lich, und fo unentbehrlich als gewiß werden müffen: 


Gemwiß und unentbehrlich als die höchfte Wahr— 
heit, und ald die durchſchauende — aller 
Wahrheit. 

Gewiß und unentbehrlich als die hoͤchſte Beahr 
heit, und als die lauterſte Offenbarung aller 
Wahrheit. 

Gewiß und unentbehrlid als die höchfte Wahr: 
heit und zugleich al$ die Fülle alles Guten. 


Gewiß und unentbehrlich als die höchfte Heilig: 
keit und Gerechtigkeit in allem Guten, das geboten, das 
‚belohnet, in allem Böfen, das verboten, das beitrafet wird, 


Gewiß und unentbehrlich als die hoͤchſte Se- 
ligkeit in fich und für alle Geligfeits-fähige Wegen. 

Gewiß und unentbehrlich als die hoͤchſte Schön- 
heit in fi und für alle nach Vereinigung mit ihr noch 
vingende oder ſchon vereinte Gemüther. 


F 51. 


Das fiherfte Mittel, zur unerſchuͤtterlichen Weber: 
zeugung von dem ewigen Seyn Gottes und zur fichthelfen 
Erkenntniß Gottes zu gelangen, das in unſerer hoͤhern 
Natur liegt, iſt alſo dieſes: 


Wenn der Menſch von den hohen Ahnungen 
des Göttlihen ergriffen, von der Spekulation 
‚wenigftens ungehindert, von dem Weſen aller 
Vernunft und von den Bedürfniffen feiner 
höhern Naturgetrieben, und (was am wenigiten ver 


— A: 


fchwiegen werden Darf, weil e8 fich durch befondere Wirkſam⸗ 
feit auszeichnet) etwa von dem Anblice gottfeliger Nady- 
barn begeiftert, fid) ganz mit all feinem Vermögen daran- 
giebt, die dee des Urwahren, Urheiligen, Urfeligen — des 
Urfchönen in ſich feftzuhalten, und vor dem Auge diefed Wer 
fend zu denfen, zu wollen, zu handeln, zu leben: fo 
muß, in diefer anhaltenden Richtung. des Geiftes und des 
Semüthes zu Gott, der heilige Gedanfe an Gott 
in ihm nach und nach fo lebendig und fo belebend, das 
heißt, fo allzerleuchtend für feine Vernunft, fo ale 
gebietend für feinen Willen, fo allzbefeligend und 
‚alleverflärend für fein Gemuͤth werden, daß die hoͤ⸗ 
here Natur des Menfchen zernichtet werden müßte, wenn 
der Glaube an Gott Daraus verbantıt werden follte. 


Das vornehmfte Erfenntnißmittel heißt alfo mit zwei 
Worten: 


Lebe wie vor Gottes Auge, und du wirft 
nie zweifeln fönnen, daß Er ift. 


Sey felber Gottes Bild, und du wirft im Bil— 
de das Urbild ſchauen koͤnnen. 


Daraus erhellet nun auch 1) die gefährlichfte 
Duelle des Unglaubeus an Gott: Leben, als 
wenn fein Gott wäre, führt anfangs zum fre- 
velnden Zweifel, ob Gott fey; in Mitte der 
Laufbahn zu dem blindeften Aberglauben, daß 
Gott nicht fey, und am Ende zur follfühnen 
- Sprade bed wüthenden Unglaubens, daß 
—Gott nicht ſeyn koͤnne. 


Das aͤußere Leben, als wenn kein Gott waͤre, ſetzt 
aber voraus, daß das innere Leben ſich ſchon von Gott 
weggewendet, und an die Stelle Gottes ſein eigenes Selbſt 
geſetzt hat — das entweder, in dem Hange nach dem Gut 
der Erbe, ir diſch, oder, in dem Hange nad) der Luft 
des Thieres, thierifch, oder, in dem Hange nach dem 
Nichts der eitlen Ehre, windig, nichtig, oder, im zus 
fammengefegten Streben nad; dem. Gut der Erde, nad) 
der Luft des Thieres und nad; dem glänzenden Nichts 


— 89 — 


der Ehre, eine breigeftaltige Menfherlarve von 
Erohaftigkeit, Thierheit und Windigfeit geworden ift. 

Ob alfo gleich der Unglaube an Gott ald Wahn— 
finn, als Unfinn feinen Sig im Berftande oder Uns 
verftande hat, fo muß doc feine Wurzel im Gem, 
the gefucht werden, das von Gott los, fich felbft zum 
Gott und das Äußere Leben zum: Spiegel des innern ges 
macht hat. 

Darans erhellet 2), was ber praftifche Unglaube 
an Gott fey; nämlich: fo leben, als wenn fein Gott 
wäre, fein Göttliches im Innern walten, fein Gött 
liches im Aeußern wiederglängen laſſen. Das Gemüt 
des Gottlofen ift durchaus profan, ohne alles Heilige 
thum — und wie fein Gemüth, fo das Leben. „Es it 
fein Gott in feinem Herzen, fein Gott in feinem Haufe, 
fein Gott in feinem Leben.’ 

Daraus erhellet 5), was das ficherfte Bewah— 
rungsmittel vor dem Unglauben an Gott fey. 


Was und in der Ueberzeugung von dem ewigen Das 
feyn. Gottes fo unerfchüitterlich macht,. ift eben das, was 
ung vor allem Unglauben an Gott, vor aller Gotte s⸗ 
vergeſſenheit, und vor aller Gottlofigkeit bewahrt. 


Mer in Gott leben, und vor- Gott wandeln ge 

lernt hat, der bleibt in Gott, würde Johannes fagen. 
x .32 PAR 

Rührend und ‚genau paffend ift Fenelon’d Gebet, 
womit er feine. Beweife vom Dafeyn Gottes fchließt: 

„Wahrheit! Gott! ‚wenn gleich fo viele Menfchen dich 
an dem großen herrlichen Schaufpiele, das du ihnen in 
der ganzen Natur darbeutft, nicht erkennen, fo bift du doch 
nicht ferne von einem Seden aus und. Kin Geder kann 
dich gleichſam mit den Händen fühlen; aber die irdi— 
fhen Dinge, und die Dadurch rege gewordenen Leidenfchafs 
ten. lähmen den Geift, daß er dich nicht anfaffen möge. 
Dein Licht leuchtet mild und freundlich, aber die Finfters ' 
niffe mögen es nicht begreifen; überall Teuchten Spuren 
von. dir hervor, aber die armen Menfchenfinder wenden 


— 90 — 


den Blick von dir weg, und heften ihn auf die Treber der 
Materie, Die ganze Natur in ihrem Feierkleide ſpricht 
laut von dir, erfchallet von deinem, Namen; aber fie 
spricht zu  Gehörlofen, ‚die fich gegen deine freundliche 
Stimme felbjit taub gemacht haben, Du bift um und. in 
ihnen, aber fie irren mit flüchtigen Blicken außer fich felbit 
umher. Sie. wuͤrden dich finden, o du Liebliches Licht! 
o du ewige Schönheit! o du umnerforfchliche Quelle des 
reinften Lichtes! wenn fie dich in fich ſelbſt ſuchen woll—⸗ 
ten. Aber die Gottlofen verlieren dich — du bift ver; 
ſchwunden aus ihnen, weil ihr eigenes Selbft von ihnen 
entflohen ift. Sie bleiben leider! bei den Gefchenfen ſte— 
hen, die ihnen. die freundliche Hand weiſen follten, welche 
fie darreicht; taumeln in ihren Bergnügungen dahin, ‚und 
leben: und weben im finnlichen Genuffe, und vergeffen dar- 
über des Geberd aller guten Gaben, Durch dich leben 
fie, und leben doc fo, daß ihre Gedanken immer ferne 
von dir find, oder vielmehr, fie jterben im Lebensgenuife, 
weil fie ſich nicht mit und von dir nähren. Denn, was 
iſt das nicht für ein Tod, dich nicht erfennen! Sie rus 
ben janft in deinem zärtlichen Baterfchooße, und indem 
fie jo in ihren truͤgeriſchen Träumen dahin ſchlummern, 
fuͤhlen ſie die maͤchtige Hand nicht, die ſie traͤgt. Waͤ⸗ 
reſt du ein ohnmaͤchtiger, lebloſer Koͤrper, wie eine Blume, 
die verwelfet, ein Bach, der dahinfleußt, ein Gebäude, das 
ſteht und. fällt, ein Farbengemenge, das Gemälde heißt, 
wenn unfere Einbildungsfraft Geftalten hineinträgt, ein 
glänzendes Metall: fo wirden die Menfchen deiner wahr: 
nehmen, und in ihrem Wahnfinne dir das Vermögen zu— 
geftehen, ihnen Freude zu gewähren, obgleich Die Freude 
von nichts, was ſeelenlos ift, ausgehen fann, fondern al- 
dein von dir, du Quelle. des Lebens und alles Genuffes! 
Waͤreſt du alfo ein Wefen gröberer Art, hinfällig, leblos, 
‚eine Maffe ohne Selbitvermögen, nur der Schatten eines 
Weſens, jo würde beine nichtige Natur unſere Nichtigfeit 
beſchaͤftigen; du wäreft dann ein angemefjener Gegenjtand 
für unfere niedrigen und thierifchen Gedanken. 
„Beil du aber zu fehr in ihnen jelbit bit, wo. fie nie 
seinkehren, fo bift du ihnen ein verborgener Gott. Denn 


1 


— 91 — 


dieß innere ihrer Selbſt iſt am weiteften von ihrem 
irrgewordenen Blick entfernt. Die Ordnung und Schoͤn⸗ 
heit, die aus dem Autlige deiner Gefchöpfe ftrahlet, iſt 
wie ein Schleier, der dich. ihrem kranken Auge verbirgt 
Das Picht, das fie erleuchten follte, verfinftert ihren Blick, 
und. die ftrahlende Sonne ſelbſt hindert, daß fie Die Sonne 
nicht fehen. Kurz: weil, du bift die reinſte und fublimfte 
Wahrheit, die nicht mit Diefen groben irdifchen Sinnen 
fanır gefaßt werden, fo Fünnen ſich die thierifch geworde- 
nen Menfchen Eeinen Begriff von dir machen, da fie fich 
doch alle Tage einen Begriff von Wahrheit und Tugend 
machen, objchon Fein Sinn ihnen einen Bericht davon ab- 
ftatten kann, weil diefelben weder Geruch, noch Gefchmad, 
weder Farbe, noch Geſtalt, oder eine andere, in die Sinne 
fallende Eigenfchaft an füch haben. Warum follte man 
Doch, ewige Geifterfonne! an deinem Seyn mehr zweifeln, 
als an andern wirklichen und offenbaren Dingen, deren ges 
wife Wahrheit man in den wichtigften Auftritten dieſes 
Lebens vorausfest, und die Doch nicht weniger als du mit 
unfern fchwachen Sinnen koͤnnen begriffen werden? O Jans 
mer und Elend! o fchredliches Dunkel, das alle Adamss 
finder ohne Ende und Zahl umhullt! Der Dienfch in feinem 
verfehrten Weſen hat nur Augen, um Schatten zu fehen, 
und die Wahrheit erfcheint ihm als Trugbild. Was nichts 
ift, hält er fir etwas, und dag Eine Etwas ber Alles 
hält er für nichts. — — Mas erblide ich in der ganzen 
Natur? — — Gott — überall Gott — und Gott als 
fein. Wenn ich denke, o Gott, Vater der Natur! daß 
Alles in Dir Iebet, webet und ift, fo erfchöpfeft und ver⸗ 
fchlingeft du, o o Abgrund der Wahrheit! alle meine Ges 
danken; meine eigene Eriftenz fchwindet vor meinem Bli⸗ 
ce. Alles, was nicht du bift, entflieht mir, und kaum 
bleibt mir ſo viel uͤbrig, daß ich mich in mir ſelbſt finde. 
Weſſen Auge dich nicht ſieht, hat nie etwas geſehen, und 
wer dich nicht fühlet, hat nie etwas gefühlet, Er ift, 
als wenn er nicht wäre; fein ganzes Leben ift ein Traum. 
Su voller Kraft, o Gott! zeige fich deine Rechte, daß 
alle deine Feinde zerfchmelzen, wie Wachs, und vor dei—⸗ 
nem Auge dahin fchwinden, wie Rauch! Wehe dem vers 


— 92 — 


kehrten Geſchlechte, das, von dir entfernt — ohne dich — 
den Vater der Erbarmung und des Troſtes, dahin lebt! 
Aber ſelig, ſelig diejenigen, die dich ſuchen, nach dir 
ſchmachten, und im heißen Drang ihrer Seele’ nach dir 
dürften, wie der: Hirfch nach der Quelle! 


„Vollkommen felig die, über die das Licht deines Aut⸗ 
fißes fanft und mild herableuchtet, von deren Augen deine 
Vaterhand freundlich die Thraͤne weggewiſcht, und deren 
inniges Verlangen und Sehnen nach dir, deine Liebe be— 
reits geftillet hat. — O, mwanı wird diefer feligite Augen: 
blick Eommen? Herrlich freudiger Tag, den ewig fein 
Dunfel mehr trüben wird, an dem du ſelbſt die allleuch- 
tende Sonne feyn, und dich felbft durch mein Herz wonnes 
firömend ergießen wirft! Nach dieſer ſuͤßen Hoffnung ſeh⸗ 
net ſich mit Freude mein Gebein, und ruft im Jubelton: 
Wer iſt dir gleich? Mein Herz zerſchmilzt in Liebe und 
mein Fleiſch ſinkt in Ohnmacht dahin. 


„O Gott! ſey du meiner Seele Luft, und mei 
nes Herzend ewiges Erbtheil.“ | 





——— Wartefind, 
ai ga — — en 


L. Die Gefchichte der "phitofophie in — FR 
II. Zuſammenfaſſung. 


1. Folgen. 4 
Geſchichte der Philofoogie in unfern zum 
v 53. 


Mas die — Zeit uͤber Miffen und Richtwiſta 
des Goͤttlichen auf die Bahn gebracht hat, full hier (bloß 
für die Kenner der Zeitgefchichte und im Zufammens 
hange) fo wahr und fo unbeleidigend, wie möglich, in 
einer Erzählung mehr —“ als ausgeſprochen werden. 


A Erzählung eines Reifenvden. 


Sm Durchfuchen der Alterthümer erhob fich vor meis 
nem ſtaunenden Blicke mitten unter den Ruinen der Vors 
zeit ein hohes Gebäude im neueften Styl, das Haus der 
Weisheit genannt — die Arbeit von mehr als REF 
Sahren. 


‘ Das Haus hatte zwar nur drei tote, aber jes 
des Stocdwerf eine ungeheure Größe. Die Neugierde _ 
trieb mich, das Innere und Aeußere der neuen Erſchei⸗ 
nung genau zu erforſchen. 

Das Erſte, was. ich bemerfte, war das Ginerlei in den 
* Stockwerken; jedes verkuͤndete dieſelbe Bewohnerin 
an: „Hier wohnet die —— hieß es un⸗ 
* in Mitte und oben. | 

Anfangs war ich lange uneins mit mir, wie biefelbe 
Wahrheit in drei Stocdwerken wohnen fünnte. Aber bald 
fam mir zu Sinne: vielleicht hat die Wahrheit drei Klaſ— 
gen Schüler, umd für jede Klaffe ein befonderes Lehr: 


* 


— 94 — 


Kabinet; oder: die Eine Wahrheit hat dreierlei Ge⸗ 
ſichter fuͤr dreierlei Gattungen Seher. 


Was meine Neugierde noch mehr ſpannte, war das 
Send erbare, daß. ich in jedem Stockwerke einen Tem⸗ 
pel wahrnahm. ‚Hier muß Religion geachtet feyn, dachte 
ich: in Einem ‚Haufe drei Tempel. 


An jedem Tempel fand ich eine Thuͤre, und an jeder 
Thuͤre eine Aufſchrift. Die Aufſchriften fielen mir am 
meiſten auf, denn ſie hatten etwas Raͤthſelhaftes. 


Die Erſte hieß: 

„Wir kritiſiren und poſtuliren.“ 
Die Zweite: 

„Wir ſetzen ung und deduziren.“ 
Die Dritte: 
Wie ſchauen und konſtruiren.“ 


J Tiefer nachſinnend und deutend, was ich (a8, hörte 
ich ein feierliches Glockengelaͤute. Als ich den Ki: 
ſter fragte, was für ein Feſt angekuͤndet werde: „Im un⸗ 
tern Stodwerke, fagte er, wird allem Dogmatismus 
und Sfepfizismus, im mittlern allem Empirismus, 
im obern aller Entzweiung — zu Grabe geläutet, 


Jetzt gieng ich in die Tempel ſelbſt hinein. In dem 
unterſten ſah ich den Altar der praktiſchen Vernunft, und 
darauf das Gebot des Gewiſſens, mit dem Worte: 


Adinstar Gottes, 
Im mittlern fand ich den Altat der Sittlichkeit, und 
Darauf Die Göttin Harmonie, mit der Inſchrift: 
IH bin, die moralifche Weltordnung. 
Jetzt eilte ich in den oberſten Tempel hinauf, ‚und 


fand den ‚Altar des alten Parmenides in neuer Form, 
amd darauf mit goldenen Buchſtaben das: 


—— — — 


Eines und Alles. 


— 5 —⸗ 


Was mein Erſtaunen noch mehr erhoͤhte, war dieß: 
Im untern Stockwerke ſchien der Tempel nur ſo am 
Ende des Stockwerkes angebracht, und mehr daran ge— 
baut, als im Stockwerke ſelbſt erbaut zu ſeyn. Bei der 
Anſicht des mittlern ſchlich ſich mir der Gedanke, den ich 
mit Gewalt zuruͤckſtieß, wider Willen in die Seele: da 
die moraliſche Weltordnung uͤberall noch nicht im Reinen 
waͤre, wie denn die Goͤttin Harmonie — jetzt ſchon An— 

betung fordern koͤnnte? Im dritten ward es mir leich— 
ter, das Eine in Allem, als das All im Einen, und 
ungleich fchwerer, den Einen als das Eine zu finden, 


Im Suchen fielen mir zwei Stimmen aus einer alten Ur⸗ 


Funde auf das Herz: „In Ihm haben wir das Leben, die 
Bewegung und das Seyn;“ und: „Gott wirket Alles in 
Allem.’ 


Noch fiel mir ein Unterfchied Auf, Den, unterſten Al⸗ 
tar traf ich verlaſſen — obgleich Spuren eines zahlreichen 
Beſuches da waren; den mittlern einſam, den oberſten mit 
vielen Anbetern umrungen — an. 


Verloren in endloſen Betrachtungen, verließ ich das 
Haus der Weisheit, und ſah nun bald ſo in das Blaue 
des Himmels hinaus, bald wieder in mich hinein. — — — 


Im Weitergehen ergriff mich eine freundliche Säle 
und geleitete mich in.einen Garten. Im Gartenhaufe 
faß Semand, den feine Freunde den Sokratiſchen nen— 
nen; der weckte mich aus meinem Hinbruͤten uͤber die 
drei Tempel unter Einem Dache, und fprad): 


„Dein Austritt aus dem Weisheitshaufe verkuͤndet mir 
deine Verlegenheit; ich gab dem Gärtuer einen Wink, 
dich zu mir zu Taden. Magit du mich von meiner 
Dhorheit erzaͤhlen hoͤren, nachdem dich die Weisheit in 
ihrem eigenen Hauſe noch nicht ganz orientirt hat, ſo will 
ich dir nennen, was dieſe Knochen von innen heraus 
oͤlet. Außer dem menſchlichen Wiſſen, fuhr er, auf 
mein Bitten, fort, vor dem menſchlichen Wiſſen, und 
über dem menſchlichen Wiſſen liegt das Göttliche, 
das Ewige im unzugänglichen Lichte. 


— 96 — 


Das Goͤttliche, Ewige vorauszuſetzen, iſt der 
Inſtinkt meiner Vernunft; dieß Goͤttliche, Ewige 
zu ahnen, das Vermögen meiner Vernunft; 
dieß Göttliche, Ewige zu glauben, anzubeten, durch 
ein göttliches Leben inne zu werden, und durch beit 
Srieden, der alle Begriffe überfteigt, zu genießen, — 
die erhabenite Beſtimmung meiner Vernunft. 


„Wenn aber die Vernunft dieß Goͤttliche, Ewige ers 
forſchen, wiſſen, erklaͤren will, anſtatt das, was fie ah— 
net, durch ein goͤttliches Beben und Durch einen himmlis 
fhen Frieden, der daraus quillt, inne zu werden, fällt fie 
in Taͤuſchung und Nacht.’ 


‚ Eine Weile darnach erzählte er mir von feinem Freunde, 
der. ſich auf eigene Koften eine neue Sternwarte erbaut 
‚hätte, um feinen Durſt nach Wiffen ſtillen zu koͤnnen, 
weil er fich mit dem Glauben an das Wahre und mit 
dem Genuffe des Wahren nicht begnügen konnte. „Der 
Edle, feste er bei, glaubt mit mir, daß zwar das Goͤtt— 

liche, Ewige in ſich unerforfchbar, indemonftrabel, doch 
aber die Manifeftation des Göttlichen; Ewigen, ald des 
Urwahren am Wahren, demonjtrabel fey..... Was ihm 
ald demonftrabef einleuchtet, fucht. er nun feinen Zeitz 
genoſſen eben ſo einleuchtend zu machen. 


Seine ichige Anficht iſt in einem feiner Briefe om . 
deutlchſten ſo ausgedrückt: 


„Ein anders iſt Pheloſophie, ein anders Spekulation. 
Die wahre Philoſophie kaun, ihrem Weſen nach, nichts als 
die deutliche Erfeuntniß des mit dem Wefen der Dinge 
unmifhbaren, und von dem Weſen der Dinge un: 
trennbaren Urwefens, oder die Erfenntmiß der Of- 
fenbarung Gottes an der Natur — die eigentliche Wiffen- 
fihaft der Vernunft ſeyn. Und dieſe Cwahre, einzige) 
Philoſophie wird fo lange verfannt werben, als die After- 
philofophie (die Speknlation) noch nicht in ihrer ganzen 
Stärke und ihrer ganzen Schwäche erfannt iſt. Nun: ftes 
hen wir am Punkte, der die Erfenntniß ihrer Schwäche 
und Stärke — als erfchöpft darftellen wird. + 

8 
„ 


—— E 


„Es ſind naͤmlich nur drei weſentlich verſchiedene Lehr⸗ 
gebäude möglich; die uͤbrigen ſind bloße Verſuche von 
Koalition, oder der Hauptſache ee mit Einem aus 
jenen dreien Einerlel, 


„Sntweder kannſt du es ertragen, daß das Sstttiche 
und das Natürliche — in deinem Wiſſen Eines werden; 
oder du mußt dich mit dem unwandelbaren, vom Bernunfts 
inftinfte gebotenen Glauben begmigen fönnen, daß Gott 
und Natur unvermifchbar und untrennbar find; 
oder du weißt mit diefem Glauben an Gott ein Wiffen 
des Urwahren am Wahren zu verbinden, ein Wiſſen, das 
mit jenem Glauben ſo unvermiſchbar, als von ihm un⸗ 
trennbar it. Ä 


„om erſten Falle — geräthft du in das — La⸗ 
byrinth der Spekulation, das da heißt: Vermiſ chung 
des Unmiſchbaren in ihrer Vollendung; im 
zweiten bleibft du bei dem wiſſenſchaftsloſen Genuſſe des 
Goͤttlichen ſtehen; im dritten leiſteſt du mir Geſellſchaft, 
und biſt mit mir durchgedrungen zum Denken, das je— 
nen Genuß des Goͤttlichen mit der er else 
vereint. 


„Da ſich aber das Ölauben ohne Wiffen bei 
Vielen unferer Zeitgenoffen fehwerlich wird halten fünnen, 
fo ftehen fie in Gefahr, daß fie entweder mit mir zu 
denken anfangen, oder der Koalition des Unglau— 
bens: und des Aberglaubeng, der mm im die 
Spekulation felber — iſt, gewonnenes Spiel 
geben muͤſſen.“ — 


Da ſich jeßt in mir Die * nach gran son 
‚Neuem entzindet hatte, jo führte mich Der Genius der 
Wiffenfchaft zu einem Beteran, der, mein Beduͤrfniß er- 
rathend, über das Wiſſen des Gdttlichen fo beftimmt und- 
jo nüchtern ſprach, daß ich ihn veritehen konnte und lies 
ben mußte. Er faßte mir den Inhalt feiner Betrachtung 
in zehn Lehrfüze zufammen, Die ich zum Stoffe. mehrerer 
Abendbetrachtungen kopirte. 

I. M.v. Sailer’s fämmtl. Schriften VIII. Bd. 3te Aufl. 7 


— 8 — 


Zehn Sehrfäße 


eines 


ungenannten Bhilofophen über das Willen des Göttlichen. 





> Erfter Lehrſatz. 


Schon der Glaube an Gott, der als Glaube 
eine fefte Ueberzeugung, und ald Glaube an 
Gott die fefte Ueberzeugung it, daß Gott if, und das 
höchfte, dad Wefen aller Wefen, die Wurzel al 
ler Dinge ift, fchon Der fo beftimmte Glaube hat ein 
Wiſſen in fih. Denn, wenn der Fond der Menfche 
heit die Empfänglichkeit in fich faßt, der Welt, feiner 
felbft und Gottes bewußt zu werden, und wenn man die, 
Sunpfänglichteit, ber Welt und feiner felbft bewußt zu wers 
ent, Verſtaͤnd, und die Empfaͤnglichkeit, Gottes be— 
vußt zu werden, Vernunft heißen mag: ſo wird man 
„auch fagen müffen, daß, wer immer zum Bewußt— 
feyn feiner felbit und der Welt gefommen tft, 
zum Verftande gefommen, und wer zum de 
wußtfeyn Gottes vorgedrungen iſt, zur eigent— 
lichen Vernunft gefommen fey. Nun dieſes Bes 
wußtfegn Gottes kann weder als vernünftige Ueberzeugung 
überhaupt, nocd als Ueberzengung, daß Gott ift, 
amd das Wefen aller Wefen if, eine fefte Ue 
berzeugung feyn, ohne alles Biffen des Gort⸗ 
lichen | 





Schon der Begriff einer feften Ueberzeng in ei⸗ 
nem vernuͤnftigen Weſen bringt es mit ſich, daß ihr ein 
Wiſſen zu Grunde liegen muͤſſe. Denn damit Die Ueber— 
zeugung in ihm feſt ſey, muß fie einen durchaus fichern 
Grund haben; diefer Grund muß, um ein ganz fie 

rer Örumd zu fegn, unmittelbar angefhaut, 
mithin gewußt ſeyn. Mer alfo vernünftig glaubt, der 
weiß den Grund, warum er glaubt, und fo liegt jedem 
wahren Glauben, als einer feiten Ueberzeugung, ein Wif- 
fen gun Grund. | 


— 


Das Bewußtſeyn Gottes kann ferner ohne alles Wifs 
fen des Göttlichen Feine fefte Ueberzeugung feyn, daß 
Gott if, und daß Gott das Wefen aller Dinge. 
ift. Denn dieß Bewußtſeyn it nothwendig ein Erfens- 
nen, dieß Erkennen it nothwendig ein gewiffes Er— 
kennen, fo wie das gewiffe Erkennen nothwendig ein wahr 
res Wiffen. Alles Bewußtſeyn ift a) ein Erfennen, 
und das Bewußtſeyn Gottes ein Erfennen, daß Gott if, 
und daß Gott das Weſen aller Wefen, die Wurzel aller 
Dinge ift, indem ja ohne diefes Erkennen die Ueberzeugung 
eine blinde Ueberzengung, und dad Bewußtſeyn 
Gottes weder ein Bewußtfeyn, noch eit Bewußt⸗ 
ſeyn Gottes ſeyn koͤnnte. 


Dieß Erkennen muß aber b) ein gewiſſes ſeyn; 
denn ein ungewiſſes Erkennen iſt noch fein Bernehmen 
des Wahren, it fein Bewußtfeyn in einem » ernünfs 
tigen Wefen,. kann auc) feine fefte Uebrrsruging 
‚gewähren: 


Das gewiffe Erkennen des Goͤttlichen iſt c) ein wahs 
res Wiffen deffelben; denn fo gewiß die Vernunft 
weiß, daß fie it, fo gewiß fie weiß, daß fie nicht ift die 
Wurzel aller Dinge: ſo gewiß weiß fie, daß Gore 
Gore iſt. Der Menfch, ver Gottes vernehmend, alſo 
Menſch geworden ift, weiß, daß er fih und die Welt 
verloren hätte, fobald er für fi) und die Welt die ge⸗ 
meinſame Wurzel und den ArIEN Grund nicht in 
Gott gefunden hätte, 


Und mie. der Berftändige fein —— Seyn 
nothwendig erkennt, eben fo nothwendig erkennt der Vers 
nuͤnftige fein höheres Seyn, das eigentlich Menſch— 
liche. Nun aber dieß höhere, Seyn kann nicht ohne 
Gott erfannt werden, fo wenig als der Lichtftrahl ohne 
Sicht, ald der Tag ohne Sonne. Denn, was es auch 
ſey, jenes ‚höhere Seyn des Menfchen, welches die Vers 
nunft nothwendig erkennt: goͤttlich it es, und doch 
nicht Die ganze Fülle der Gottheit. Es kann 
alfo fo wenig ohne Gott gewußt werden, als wenig ein 
Bild ohne das. Urbild, 
\ TE 


rue Wr zz 

Es giebt alfo ein gewiffes Erkennen, ein MWiffen + 
des örtlichen, das mit dem Glauben an — verbun⸗ 
den iſt. 


ı Zweiter Lehrſatz. 


Alber das gewiſſe Erkennen, das dem Glauben an 
Gott innewohnet, diefes Wiffen, dag mit dem: Seyn der 
Vernunft ſchon gegeben iſt, iſt deßhalb noch Fein philo- 
Beine Wiſſen — in dem jet Furfirenden Bes 
griffe. 

Philoſophie, als Faffung des innern Menfchen, iſt 
das Heim weh nach dem Lande der Wahrheit, Hei— 
ligkeit nnd Seligkeit, nah dem Urfhönenz iſt 
die ſtete Kichtung des Geiſtes und Gemüthes zu den ewis 
| & Ideen des Wahren, des Guten, des Seligen, des 

choͤnen. Philoſophiren heißt den Weg zu den ewi- 
gen Ideen von unten hinauf, und den Weg vom oben 
‚herab zur Welt, zur. Natur, zur Menfchheit, zur End- 
lichkeit (zum Weltall) finden. Hätte nun Jemand den 
Weg zu den ewigen Ideen hinauf, und: herab’ zur Eitde 
lichfeit gefunden; hätte er auf dem Wege nach oben 
und nah unten Wahrheit erblicet; hätte er Das 
Mahre, das er auf diefem Wege nach oben umd nach as 
ten erblickte, in einen gegliederten Zuſammen— 
hang gebrannt: fo wäre das Ganze feines Erkennens 
‚en pbilofophifches Syftem. 

[* Das Wiffen von Gott wäre demnach erſt alsdann 
ein philofophifches, wenn in diefem Wiſſen die drei 
Hanptfragen alles menfchlichen Forſchens: 
I. Was Gott an fih ſey? 
‚U. ®ie Gott mit. dem Weltall, und das Weltall mit 
Gott, und. 





” Hieher gehört eine Stelle aus dem. eriten PR der allges 
meinen Zeitfchrift ©. 121: Echter Glaube iſt felbft nichts 
anders, als ein glaubendes, d. h. zuverfichtliches Wiffen, im 
‚welchen, wie in allem wahren Wiffen, Herz und Geift im 
"Einklang ifts Feineswegsı aber tft er eine —— Nega⸗ 
tion alles Wiſſens. 


mr, IH, — 


III. insbefondere: wie Gott: mit der Menfchheit, * 
die Menſchheit mit Gott zuſammenhaͤuge? 


deutlich und bejtimmt geloͤſet, und die deutlichen und be- 
stimmten: Antworten in einen Ganzen, das fein erfünftel- 
te8 Ganze, jondern ein wahres Gegenbild des Univer- 
fumg, wäre, lichthell dargeftellt wären. 


Nun diefe deutlichen, ‚beftimmten Antworten, in einem 
lichten. Zufammenhange dargeftellt, finden ſich nicht in jes 
nem Wiffen, das in dem Bewußtfeyn Gottes gegeben ift. 


F Dritter Yehrfaß. 


Wenn es auch ein philofophifhes Wiffen 
von Gott gäbe, fo koͤnnte dieſes philoſophi— 
fhe Wiffen doch nie eine Durchſchauung des 
göttlichen Wefens werden 


Denn der Menfch müßte aufhören, Menfch zu fen, 
oder Gott, nichtmehr Gott ſeyn, wenn die Fülle des 
Unendlichen von einem endlichen Begriffe begriffen werden 
fönnte. Gott kann nur von Gott durchſchauet werden. 
Das Unendliche kann nie in einen re Rahmen ge⸗ 
bracht werden. 


Wenn es alſo wirklich ein hiloſophiſhes Wiſſen des 
Goͤttlichen gaͤbe, ſo wuͤrde doch das ſchoͤnſte philoſophiſche 
Ganze — noch ein Stuͤckwerk ſeyn — in Hinſicht auf 
die Fuͤlle des Goͤttlichen, das nur von Gott — 
werden kann. — 


„Vierter Lehrſaß 9 


Unter denen, die die Moͤglichkeit des phi— 
loſophiſchen Wiſſens von Gott dem Menſchen— 
geſchlechte abſprechen, ſind Jene die Edelſten, 
welche, bei dem unverdroſſenſten Ringen nach 
Wiſſenſchaft, nur nach reifer vollendeter Be 
trachtung, und dann nur im tiefen Gefühle der 
Anbetung ausrufen: „Das Göttliche in feiner‘ Fülle 
„iſt fin jedes menfchliche Wifjen unzugaͤnglich, ob es gleich 
„dem Glauben: gewiffer it, als das Gewiffelte, und der 


— 108 — 


„Anbetung, der Andacht, ber Liebe fo nahe, fo zugäng- 
„lic; ift, als der Menſch fich felbft nicht feyn kann.“ 


In diefer Anbetung liegt etwas fo Himmlifches, daß 
ed ficherlich Fein weifer Erdenfohn anefelnd wegwers 


fen wird. 
‘ Fünfter Lehrſatz. 


Unter benen, die die Möglichkeit des phi— 
Iofophifchen Wiffens von Gott dem Menſchen— 
gefchlechte zuſprechen, find J Gene die Edeliten, die 


. a) den Durft nad) vollendeter Erkenutniß Gottes, der 

in der Menjchennatur liegt, als ein Unterpfand 
der von Öott felber verheißenen Stil— 

lung anfehen; die | 


b) die Stillung dieſes Durftes noch. in die Grenzen 
dieſes Lebens hernieberziehen; die 


% den heißeften Durft nach Erfenntniß Gottes in fich 

ſelber fühlend, das Wertrennen nach dem Ziele ber 
Erfenntniß, in der Vorausfeßung, es erreichen zu 
fönnen, nicht wur muthig begonnen, fondern ſchon 
eine große Strede des Weges zurüdgelegt has 
ben, und den Lorbeer eigenen Ruhmes verfchmähend, 
ihre fehlgefehlagenen Berfuche demüthig anerken— 
nend, nicht müde werden, auf der Ehrenbahn 
fortzufchreiten. 


In diefem fchönen Ringen liegt etwas fo Großes, 
Heroiſches, daß es die Wahrheit fi f cherlich. nicht unbelohnt 
lafjen wird. 


Sechster Lehrſatz. 


Das philoſophiſche Wiſſen von Gott ift, fo 
—— die Geſchichte vorwärts und- man 
reichet, noch Feine anerfannte Thatfahe g 
worden; d. i; bie Möglichkeit eines philoſophiſchen —*— 
ſens von’ Gott iſt noch durch Fein Syſtem, das eine öf- 
" fentlihe und gefidherte Anerkennung erhalten hätte, 
realiſirt worden; es iſt noch immer mehr ein Suchen, 


— . 105 


als ein Finden, mehr ein Wechfeln, als ein Beitehen, was 
die philofophifchen Syſteme unverkennbar macht. 


Daß die Syiteme mehr ein Suchen als ein Finden 
feyen, it fein Zufall, fondern in der menschlichen Natur 
gegründet, Denn, wenn ein. Menfch in feinem Erkennen 
ein Ganzes aufitellte, daS ein wahres, voljtändiges Bild 


des Weltall wäre, fo wirbe ein Theil das Univerſum 


umfaffen muͤſſen. Da nun: fein. Theil das Univerſum ums 
faffen kann, alfo jeder Einzelne nur das in einem geglies 
derten Zufammenhange augzufprechen vermag, was und 
wie er. es erkannt hat: fo Leuchtet ein, woher der Wech- 
ſel der Spfteme und die vielen Lüden in dem Ganzen 
der Erfenntniß kommen; wie auch, daß die Einfeitigkeit 
derer, die Alles nur nach Einem herrfchenden Syiteme, 
gleichviel welchem, beurtheilt wiffen — bare Unphi⸗ 
loſophie ſey. 
+ Siebenter Lehrfatz. 


Die Moͤglichkeit des philofophifchen Wiſ— 
ſens von Gott wuͤrde ſich ſelber aufheben, 
wenn es die Offenbarung Gottes, von en 

Gebiete fhlehtweg ausfhlöße 


Denn, erſtens: ſchon das Vernehmen Gottes in uns 


ferm innerften Bewußtfeyn, ſchon das Gefühl des Goͤtt⸗ 
lichen, ſchon der Glaube an Gott ſetzt eine Dffenz . 
barung Gottes voraus, Mas zweitens die Offen⸗ 
barung als Chriftenthum betrifft, fo kann e8 dem Wiſ⸗ 
fer des PBhilofophen fo wenig Abtrag thun, wenn er des 
müthig genug ift, daran zu glauben, als wenig die Offen- 
barung Gottes in der Vernunft und die Offenbarung 
Gottes in der Natur das» phifofophifche Wiffen auf 
hebt, indem ed durch beide vielmehr erſt angeregt und ber 
fördert wird. Denn ohne Glauben an das Göttliche hätte 
der Philofoph gar feinen Anlaß, fein Bedürfmiß, fein 
Intereffe, den Glauben an Gott in ein —— 
Wiſſen verwandeln zu wollen. 


* Es if überhaupt die Aufgabe ber wahren Philofsphie, feine | 
Thatſache von ſich auszufchliegen, fondern einerſeits Die 


N 


* 
— 


— 


— 404 — 


Stelle, welche derſelben im Syſteme des Ganzen gebuͤhrt, 
zu erforſchen, und andererſeits den individuellen Geiſt jeder 


Thatſache zu erkennen. Da nun die Offenbarung eine uns 


beftrittene Thatſache sit, fo folgt von felbit, daß die wahre 
Philoſophie diefelbe nie ausfchließen dürfe. Die hriftliche 
Dfenbarung muß aber die Aufmerffamfeit des Philoſophen 
eigens auf fich ziehen; denn er fieht wohl ein, daß eine 
vollkommene Offenbarung Gottes, wie fie die Menfchheit 
bedarf, -weder durch die Natur, noch durch die Vernunft, 


noch auch durch beide zugleich gefchehen koͤnne, fondern einen 


Gottmenfhen als Drgan vorausfere, indem die Men 


ſchen, durch Ihn nur, das Göttliche, ihrer Natur gemäß, 


erfaffen koͤnnen. Da nun das Chriſtenthum von einen Gotts 
menfchen ausgeht, and Alles. auf ihn fich bezieht, fo müßte 
der Philofoph es vielmehr pofiuliten, wenn es nicht vorhans 
den. wäre, als von feinem Gebiete ausfchließen, nachdem es 
gefchichtlih vorhanden ift.— Jedoch muß das Chriftenthum 
nad) Feiner hersfchenden Bhilofopbie gedeutet, fondern nur als 
eine für fich befiehende, abgefchloffene Thatfache aus ihm 


ſelber erklärt und verfianden werden. Das Studium der 


Philsfophie giebt aber jene Entivickelung. des menfchlichen 
Geiftes, ohne welche auch die Wahrheiten der chriflichen 


‚Offenbarung nie wiffenfchaftlich erkannt werden Eönnten. 
** Die Dffenbarung Gottes durch die Natur, zeigt ung Gott 


als ein ewiges Seyn, jene durch die Vernunft als ein unbe 


dingtes Erkennen und Wollen; weder die erfte, noch die 
zweite als ein perfünliches Weſen. Als ſolches kann eg nur 


durch einen Gottmenſchen geuffenbaret werden, der ald Gott 
das ewige Seyn und unbedingte Erkennen in fich faßt, und 
als Menfch perfünlich es ausfprechen und darftellen kann. 


-Ahter Lehrfas. 


Die chriſt liche Offenbarung ſteht dem phi⸗ 


3 — A Wiffen des Göttlihen fo wenig 


m Wege, daß es vielmehr als die befte Em; 
—J9 des philoſophiſchen Wiſſens ſelber 
angeſehen werden muͤßte, wenn die ewigen Ideen des 
Chriſtenthums, ohne kuͤnſtliche Hineinzwaͤngung, wie von 
ſelbſt, im Syſteme als einem wohlgeſchliffe— 
nen Spiegel wiederglaͤnzten. 


105 — 


Denn went dad Wahre, das Gute, das Selige, das 
Schöne, das in den Lehren des Chriſtenthums ausgefpros 
chen ift, fi auch in dem philoſophiſchen Syſteme wieders 
fände, ‚wen follte-die Harmonie zwifchen Ber 
nunft und Dffenbarung nicht erheben zur Einen 
Quelle der Harmonie? Ich fage nody mehr: Wenn ein 
philoſophiſches Wiffen des Göttlichen moͤglich ift, fo iſt 


ed nur durd den Geiſt des Chriftenthbumg möge _ 


lich — der die Tiefen der Gottheit forfchet und 
offenbaret5— und ift nur in dem möglich, welcher 
den Geiſt des Chriſtenthums in fich hat, und in dieſem 
Geifte des Chriſtenthums Gott als das Eine in Al 
lem erbliden, und Alles auf den Einen Gott 
zurüdführen ‚gelernt den⸗ | 


Aber ein folches Rloſophithes Wiſfen waͤre denn 
fein rein philoſophiſches mehr, weil es den vor— 
nehmften Inhalt aus der Offenbarung des ewigen Geis 
fie der Wahrheit zu borgen demuͤthig genug. wäre? 
Darauf antworte ich: Gebt wäre das philoſophiſche Wiſ— 


fen erſt vein, weil e8 fih von den Mafeln und 
Schwächen des Ich's frei gemacht hätte. Und: wie, 


das Melt - Syftem nur durd; den Logos wirklich warb, 
ſo wäre in dieſem Falle auch das. vollendete Miffens- 
a nur durch den Logos wirklich geworden. 


* Sm diefem Sinne genommen, gäbe es denn doch eine Cins 


heit des Wiffens und des Seyng, die das Weſen der 
Wahrheit und das unbeftreitbare PAR: der wahren 
Philoſophie ausmachte. 


NMeunter Lehrſatz. 


Bis das vollendete philoſophiſche Wiſſen von Gott 


gefunden und geſichert ſeyn mag, wird es weiſe ſeyn, 
das ſtille Vernehmen und das demuͤthige An— 
beten Gottes zu verbinden 


a) mit mannhaftem Ringen nach hoͤherer, voll⸗ 
endeter Erkenntniß, 


— 


— 106 — 


" b) mit ruhigem Pruͤ fen deſſen, was Andere ge 
funden haben, und als philoſophiſches Wiſſen aus—⸗ 
geben; und vor allem 


€) mit treuem Feſthalten an dem ewigen 
Evangelium Chrifti, indem wir wiffen, daß 
fein Syftem geboren werden wird, das dem Geifte 

Chriſti etwas anhaben, oder fchönere Hoffnungen 
erregen, oder höhere Kräfte verheißen koͤnnte, ale 
die durch Ihn theils ſchon gegeben, theild verpfändet 
find. 


Be nte e dehrfab. 


—Wenn die Syſteme in der Zeit noch ſo ſehr 
wechfeln ſollten, fo wechſelt doch in dem wer 
fen Manne der negative Maßſtab ihres 
Werthes nicht. 

Dieſer negativ guͤltige Maßſtab liegt in dem Fonde 
der Menſchheit ſelber, und kann ſo ausgeſprochen werden: 


J. Wenn das philoſophiſche Wiſſen von Gott nicht 
von dem Gefuͤhle des Goͤttlichen aus g e⸗ 
het, und auf das Gefuͤhl des Goͤttlichen wieder 
zuruͤckkehret, ſo iſt es ſicherlich nicht das rechte. 
Das dunkle Ahnen des Gefuͤhls mug im Philoſo— 
phen zum hellen Bemwußtfeyn, der tiefe Grund 
des Glaubens zur Elaren Anfhauung gekom— 
‚men ſeyn. Es kann nicht zwei Wahrheiten geben, 
weil es fonft zwei Götter gäbe; Ein Gott, Eine 
Wahrheit. Aber die Darftellungen der Einen Wahr: 
heit koͤnnen dunkler, wie im Glauben, oder heller, 
wie im Wiffen ſeyn. | 
1. Wenn das philofophifche Wiffen im Wiffer nicht 
mit der Tugend überhaupt, und nicht mit Liebe 
und Demuth insbeſondere und ganz vorzuͤglich 
mit Andaht und Anbetung vereint ift: fo ift 
es ficherlich nicht das rechte. Wer in dem Philos 

‚ fophen nur Kunft und Wiffenfchaft fieht, hat weder 
den Boden der Philoſophie Cdie Faſſnung des Ges 
‚müthes), noch die Krone der Philofophie (das 





a ER ae EN 


Leben des Philoſophen in dem Wahren feines if m 
ſens) erſehen. 


III. Wenn das philoſophiſche Wiſſen sie, die Ruhe 
der DBernunft in dem ewig Wahren, nicht die Ruhe 
des Willens in dem Heiligen, nicht die Ruhe des 
Gemüthes in dem Urfchönen und Alleinfeligen grün 
det: fo iſt es ficherlich nicht das rechte. 





Lange hallte in mir befonders das nad, was in dem 
zehn Lehrfägen, obgleich nur wie im Borbeigehen, von 
dem Chriftenthume angedeutet ward. Sch war wie im 
ZTraume, und winfchte den. Propheten zu finden, ber mir 
den Traum auslegte, Im diefem Gemuͤthszuſtande traf 
mich ein Geiftes - und Herzensverwandter des Veterans, 
Raphael, ein Chriftianer; ber nahm mid; in feine 
Hütte, Licht im feinem Auge, Ruhe in feiner Geberde, 
Liebe auf feiner Lippe, fehwieg ex, bis ich die Erzählung 
meined Traumes vollendet hatte. Auch nach der Erzähe 
lung fah er ſtumm in fih hinein. Endlich unterbrad) 
dieß Wort die Stille: „Ich kann nicht für Dich an die Wahr- 
heit glauben, nicht für dich inne werden, was fie fey; 
aber wenn du hören und glauben Fannft, fo wirft bu die 
Wahrheit inne werden. So höre vorerſt: 


Gott ift. 


Gott ift mehr, als ein SOIRDERBPR ahnen, - — 
wiſſen, ſchauen, genießen kann. 


Gott iſt mehr, als ſelbſt ein Unſterblicher fen, 
glauben, wiffen, ſchauen, genießen kann⸗ 


Gott iſt, was Gott allein durchſchauen kann. 


Gott it — wo nehme ich Gleichniffe fir den Unver- 
gleichbaren, Gedanken fir den Unausdenklichen, Worte für 
den Unausfprechlichen her? — Gott ift, lauter Licht, 
Liebe, Leben. 


In dieſem Lichte, Liebe, Leben haben wir Alle Leben, 
Bewegung, Seyn. 


— ve — 


Dieß Licht, Liebe, Leben hat ſich nicht bloß 

1) durch die Natur ſpuͤrbar, 

2) durch Vernunft, beſonders im Gewiſſen, ver nehm⸗ 
| bar, 

3) buch Weltregierung glaubbar, fondern auch 

4) durd Propheten. und U Abm Zeiten, aller Öegen- 

ben erfennbar, 

5) in der Fülle der Zeit — den Einen anſchau— 
Br bat, 
/ 6) Durch ben Seift diefeg Einen genießbar gemacht, 
nnd wird 

7) einſt Alles in Allem Kehiit, mn ni 


Er fchwieg.i— Das Licht in ihm ward Verklärung, 
Die Liebe Entzuͤckung, und die. Geberde Anbetung. 


Ich betete mit an — und glaubte. 


1. 


Zufanmenfafing deffen, was den Inhalt des — 
* Theiles ausmacht. 


34. 

Mein Glaube hängt mit Gott durch fo viele ul ‚feite 
Bande zufammen, daß ich fie nicht zählen kann, "ohne 
mich in dieſem Glauben — ſtark zu 
fuͤhlen. 

Mein Glaube hängt mit Gott zufammen erfteng: 
durch die Idee von Gott, die in meiner Bernunft iſt, 
und nur von Gott gegeben feyn kann (19— 23.) 

Mein Glaube hänge mit Gott zufammen, zweitens: 
durch den. gefunden, geraden Blick der gemeinen 

ne an in mich hinein, und auf die Wett, 
auf die Natur hinaus. Diefer Blick entdeckt fo- 
wohl in der wirflihen Ordnung und Beftand- 
heit, in der. wirklichen Schönheit und Zweck— 
maäßigfeit der Welt, als in der zu bewirfenden 
Drdnung, die mir mein Gewiſſen vorfchreibt, überzeus 


ARE 
= geh 


— 109 — 


gende: Spuren eiteß höhern, mächtigen heiligen 
MWefens Weil die Idee von Gott, jener Strahl von 
der Geifterfonne in mir leuchtet, ſo finde ich Gott zu— 
nächtt in meinen Gewiffen, und dann Auch in. der 
Natur, 


Mein Glaube hängt mit Gott — drittens: 
ſelbſt durch das Weſen der feientififchen Vernunft, 
die a) wider das hoͤchſte Seyn nicht nur nichts beweis 
fen kann, fondern b) im Geſchaͤfte, die vernuͤnftige Er⸗ 
kenntniß des Wahren, Guten, Seltden (des. Schönen) zu 
ergründen, auf ein Urwahres, Urheiliges, Urfeli 
ges Canf ein Urfchönes) zuruͤckkommen muß, und c) nur 
in Annahme des Urwahren, Urheiligen (Urſchoͤnen) Licht 
und Harmonie, und ohne Annahme defjelben nichts 
ald Nacht und Zerrüttung finden kann. | 


' Mein Glaube 7— mit Gott zuſammen viertens: 
durch die hoͤhern Triebe und Beduͤrfniſſe meiner 
vernünftigen Natur nach Wahrheit, Tugend, Seligkeit, Schöns 
heit, die, einmal vege geworden, weder volle Entwidelung 
and Befriedigung, noch auch nur eine Bertröftung auf volle 
Entwickelung und Befriedigung für ſich ausmitteln £ N nen, 
außer in und durch Annahme eines Weſens, das all 
wiffend und allmadtig, das das Heilige und 
Selige, das das Urfchöne, das Gott if. —* 


Mein Glaube haͤngt mit Gott zuſammen fuͤnftens: 
durch ein andauerndes Geiſtesleben „vor dem Auge 
Gottes, das die Gewißheit von dem hoͤchſten Seyn, durch 
vertrauten Umgang mit ihm, durch eine hervor— 
ſtraählende Gottaͤhnlich keit in Gefinnungen, 
Zwecken, Thaten, und durch Genuß eines wahr 
haft goͤttlichen Friedens ſo einleuchtend, und den 
Gedanken an Gott ſo hell, ſo innig, ſo lebendig, — 
und ſo allgegenmwärtig macht, daß mir aller Zwei 
fel daran unmöglich wird, und. das A hnen und Glau— 
ben in ein Ichendiges Schauen übergeht. 


Was in uns an Gott glaubt, ift nur die Vernunft, nicht 
Sinnlichkeit, nicht ein bloß in die Endlichkeit verlorner 
Verſtand. Thiere find Feiner Idee des Goͤttlichen fähig, 















ED — 


und jener niedere Verſtand, der nicht aus der Endlichkeit 
herausgeht, kann wohl auch keine Idee des Goͤttlichen in 
ſich finden. 

Die Vernunft, bie jetzt durch Glaube mit Gott verbuns 
den ift, wird einft durch Schauen Eins mit Gott Werden. 
Man bat zwar auch jest fchon der Vernunft ein Schauen 
beigelegt, und nicht ohne Grund, denn der religiöfe Menfch 


kann in der Gottähnlichfeit feines Innerſten, und ings 


befondere in der Sauterfeit feiner Liebe, und in dem 
böhern Sriedem, der mit jener Liebe Hand in Hand 
geht, Gott ſchauen, das Urbild im Bilde. Allerdings ift 
dieß Schauen fehr embryunenmäßig gegen jenes Schauen 
von Angeficht zu Angeficht. Aber es ift doch ein Schauen, 
Und hier zeigt es fich, daß, wenn dreierlei Meinungen über, 
das Vermögen der Vernunft im Umlaufe waͤren, deren 
eine nur ein Ahnen bes Goͤttlichen, die zweite ein Glaus 
ben des Göttlichen, die dritte ein Schauen des Göttlichen 
geltend machen wollte, alle drei — in einen beſtimmten 
Sinne Recht haben koͤnnten, denn die Eine menfchliche Vers 
nunft koͤnnte in verfchiedenen Stufen ihrer Entfaltung das 


Göttliche ahnen, das. Göttlihe glauben, das Göttliche 


hauen, fo, daß das Vernunftvermögen dreifach in mans 


* cherlei Stufen der Eutwickelung, und doch Ein Vernunft⸗ 


vermögen waͤre. 

Erfahrung und Gefchichte ſtimmen hiermit überein. So 
erwachet das Ahnen des Gdttlichen mit der erfien Regung 
des Gewiſſens; das Ahnen des Goͤttlichen wird Glaube au 
das Goͤttliche bei hinzukommender Meditation, bei dem 
unterrichte in der Religion, bei dem öffentlichen Gottes⸗ 
dienfte 20.5; der Glaube wird ein Schauen des Göttlichen, 


ſobald die heilige Liebe in uns Herberge nimmt, umd dag 


Licht der Kontemplation aufgeht. 


* ch habe bisher Bernuuft und Verſtand in dem Sinne ge 


braucht, und werde fie auch ferner noch in dem Sinne ges 
brauchen, welcher ſich feit einigen Jahren zum Eurfirens 
den machte, oder zu machen firebte, gab aber durch den 
gewählten Ausdruck: man mag die Empfänglichfeit der Welt 
und. feiner felbft bewußt su werden, Verſtan d, man mag 
die EmpfänglichFeit, Gottes betvußt zu werden, Vernunft 
nennen, zu verfiehen, daß dieſer Sprachgebrauch gar nicht 


— 11 — 


frei von MWillkürlichfeit fey, und von mir nur des Leiche 
term Verſtaͤnduiſſes wegen beibehalten werde. Test 
will ich beſt im mt angeben, was der parteilofe Lefer su 


wiſſen nicht unmichtig finden wird. Was wir jet Ver⸗ 


nunft nennen, das war in der dlteften Denfweife der Vers 
fand, und was ir Verfand nennen, hieß Vernunft, 
Intellectus, eigentlich Intelligentia, war das urfprüngliche 
Verfichen des Göttlichen — im Lichte Gottes; Ratio mar 
der won dem urfprünglichen Verſtehen abgefallene, und 


in der Schheit befangene Verftand. Die urfprüngliche In- 


telligentia empfieng von Gott lebendige Eindrücke, und 
Eonnte die Wahrheit. aus deu göttlichen Eindrücen inne 
werden; die Ratio, entblößt von. diefen lebendigen Strah⸗ 
fen, machte fich von der Geiſterſonne, die ſie nie geſehen 
hatte, Schattenbilder. 


Dieſe Bedeutung hat Poiret am Ende des fiebenzchn: 


ten und am Eingange des achtsehnten Jahrhunderts in ſei— 
ner Eruditione solida,, superficiaria, falsa wieder an’s Licht 
hervorgerufen, und Friedrich Schlegel im feinem deutfchen 
Muſeum, Januar 1812, neuerdings in's Andenken gebracht. 


Das menfchliche Denfvermögen ift nicht minder. ent: 


artet und verderbt, als das menfchlihe Herz. Mit der 2 
erfennung diefes Legtern, des firtlichen Verderbens, begi 
die chriftliche Moral; mit der Erfenntnip des Irrthums 
aber und mit der Erklärung deffelben, die chriftliche Philos 
ſophie, deren Aufgabe es ift, den menfchlicheh Verftand von 
feinen angeerbten Gebrechen zu heilen, und zu feiner ur 
fprünglichen Reinheit und Vollkommenheit zuruͤckzufuͤhren. 


„Dieſer urfprüngliche Verftand ift der oberwähnte Eine 
‚Gedanke des ewigen Wortes und aller in ihm befiehenden 
‚göttlichen Dinge, und diefes allein ift es, was im wahrhafe 





ten und höchfien Sinne des Wortes VBerfand genannt. 


werden follte. Sch fage mit VBorbedacht Berkand und nicht 
Vernunft. Denn in der babylonifchen Sprachverwirrung, 
welche feit Kant im der deutfchen Philoſophie herrfchend 
geworden, hat man befonders auch mit diefen Worten. eine 
feltfame Umkehrung getrieben. So wie ich nun der ditern 
Denkart anbänge, welche unter göttlichen Dingen folche 
verficht, welche höher find, alsalle Vernunft, fo 


kann ich nicht umhin, auch den Altern Sprachgebrauch für 


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J 


—— 





dieje Gegenftände wieder zuruͤckzufordern. Zufolge. biefes 
Altern Sprachgebrauches ift nicht die Vernunft (ratio), wel: 
che Allen gemein, und überall die gleiche und felbe if, fonts 
dern der Verſtand (intellectus) derjenige Ort im menfchs 
‚ lichen Erfenutnißvermögen, in welchem eine höhere Erleuchs 
tung Statt. findet. Auch wird, wer forgfältig redet, fich 
von Gott nicht des Ausdruckes Vernunft bedienen; Alle 
‚aber, die Gott als einen Geift erfennen, reden von dem 
göttlichen Verflande. Wiederum wird in der Unterſuchung 
‚über die erften Gründe der Erfenntnif nicht der Verſtand, 
wohl aber die Vernunft der Offenbarung entgegengefekt. 


„Die oben gegebene Erklärung von dem, was ich Vers 
fand nenne, wird für Jeden, der nicht abfichtlich mißverſte— 
ben will, hinreichend deutlich feyn. Der Verſtand alfo if 
uns das Höhere, das Frühere und Urfprüngliches die Vers 
nunft nichts als der in der Schheit befangene, in den leeren 
Ungrumd verirrte Verſtand. Die Vernunft muß erft im 
Glauben untergehen, und fich. felbft abfierben, ehe fie aus 
dem Geifte der Liebe als Erkenntniß der Dffenbarung und 
göttlichen Wahrheit wieder hervorgehen, und von Neuem - 
aufleben. Eaun,  Diefe wiedergeborne Vernunft Fann auch 
WVerſtaud genannt werden, weil fie ja nur die Wiederhers 
ftellung deffelben in feinem urfprünglichen Zuftande if. Beis 

des, Vernunft und Berfiand, iſt allerdings nur eine und 

diefelbe Grundkraft des menjchlichen Denkens und Erken⸗ 
nens, aber in den ſehr verſchiedenen und ganz entgegen— 
geſetzten Zuſtaͤnden der urſpruͤnglichen Reinheit, der Ver— 
irrung und Entartung, oder der Beſſerung und Wiederhers 
ſtellung. Was nun die andern Philoſophen ſeit Kaut Ver: 
ſtand genaunt haben, als ſey er die mit Sinnlichkeit und 
Erfahrung gemifchte, und durch fie getrübte Vernunft, kurz: 
ein Mittelding und Zwitterweſen zwifchen beiden, fo follte 
von einen ſolchen wohl überhaupt in der Metaphyfit gar 
nicht, oder doch nicht mehr die Rede ſeyn, wie etwa von 
der gemeinen Klugheit in der Mora. ——— 


ener urfprüngliche Verſtand aber, obwohl die ganze uns 
endliche Fülle der göttlichen Dinge auffaffend, kann, meil 
er demmach twefentlich und im Grunde nur ein Gedanke iſt, 
der Gedanfe des ewigen Wortes, auch die getftige uns 

ſchauung genannt werden, welche zu erreichen, oder viels 
mehr 





x 


— ER _ ie 


mehr mwieder herzuftellen, allerdings die Aufgabe aller Phi 
Infophie if. Nur darf. der Denker nicht wähnen, -diefelbe 
durch einen ploͤtzlichen Umſchwung und bloßen N. der Will 

für fogleich erreichen au koͤnnen. — | 


„der Anfang der wahren Philo ſppbie ift vielmehr, wie 
ſchon gefagt, die Erfenntniß des Irrthums; die Wies 
derherftellung der geiftigen Anfchauung ift ihr letztes Biel. 
Nun liegt es zwar wohl in der Natur des Menfchen, daß 
er, nachdem er fih an den Srüchten der eiteln Erfenntniß 
überfättiget hat, und von Gott abgewichen if, gleichwohl 
bintendrein ein Werlangen fühlt, auch das hohe Gut des 
‚wahren und göttlichen Lebens zu genießen. Aber bier tre⸗ 
ten ihm furchtbar heilige Mächte entgegen, es zu wehren, 
and es iſt nun, nachdem er einmal abgewichen ift, nicht _ 


» mehr hinreichend, daß es ihm fo beliebt, und er nur die 


Hand ausſt recken dürfte nach. der reinen Frucht des wahr 
ren Lebens und der wahren Erfenntnig. Nur auf. dem mühe 
famen Umwege einer völligen Umgeftaltung des ganzen Mens 
{chen darf er jest hoffen, zu dem erwünfchten Ziele zu ger 
langen. Und daher ift die Philofophie nicht bloß, mie jest 
faft ansfchließend gelehrt wird, eine Wiſſenſ haft, noch 
auch, wie Andere wollen, eine Kunf, —— zugleich und 
vor allem Andern eine Tug end.’ 


30h Abgeſehen von dem wechſelnden Sprachgebrauche, wird der 


Weiſe, unfaͤhig, das paſſendere Zeichen fuͤr die Wahrheit 
geltend zu machen, wenigſtens ſie, die Wahrheit ſelber, 


feſthalten, die Wahrheit: „Es iſt noch ein Funke aus der 


unſichtbaren Welt in uns, du magſt ihn Verſtand oder Wer: 
nunft, oder wie immer nennen: Der Funke kann nicht Licht. 
werden, wenn ihn nicht die Geifterfonne belebet; der Funke 
kann nicht helle leuchten, wenn nicht ein reines Gemuͤth 
“das fcheinende Licht betwahrt; der Funke wird flets von der 
Aſche Sinnlichfeit gedrängt, kann durch Leidenfchaft 
unterdrückt, und durch Spekulation, ohne Wahrheitsliche, 


fo viel als begraben werden.‘ 


x Athanasius ad En 


Divinitas non demonstratione rationum traditur, sed 
fide et pia cogitatione cum religione. 


. IM. v. Sailer's ſämmtt. Schriften. VEIT. Bd. zte auft. 5 


—. 14: — 


Anmerkung zur neunten Borlefung. 


zur Dervoliftändigung der Fehre über die Verſuche der ſpe⸗ 
kulativen Vernunft, das Dafeyn Gottes zu beweiſen, gebührt hier 
eine Stelle der geiftreichen Bemerkung), welche Friedrich Schle: 
. gel feit der zweiten Ausgabe dieſes Werkes im Jahre 1828 über 
die deutfche Philofophie gemacht hat. Derfelbe charafterifirt in 
der erften Vorlefung feiner Philoſophie des Lebens (Wien. 1828), 
&. 15— 23, den falfchen Anfangspunkt, von welchen die herr: 
ſchende Zeitphilofophie, ſowohl die franzofifche des achtzehnten 
Sahrhunderts als die negie deutſche, MERKE mehrenthein aus⸗ 
gegangen iſt. 


„Der eine und erſte Weg, fast er, „welchen die auslaͤndi⸗ 
ſche Philoſophie hiebei einſchlug, war, daß fie Alles auf die Sinn— 
lichkeit im Gegenſatz mir ver Vernunft redueirte, Alles allein aus 
jener herleitete, fo, als. ob auch Die Vernunft ſelbſt nur ein abge 
leitetes Vermögen, Feine urfprüngliche Kraft für- fich, und im 
Grunde genommen, gar nichts märe, als eine Art von chemifchen - 
Niederſchlag und Bodenfas aus allen jenen materiellen Eindrü- 
cken. Der Anfang, in diefem Syften, in welchen alles Erhabene, 
Göttliche, Edle und Große. herabgewürdigt, und materiellen Zwe— 
fen untergeordnet ward, ift gemacht worden mit einerfcheinbaren 
Herabfegung der Vernunft (S. 17—23) unter die Sinnlichkeit, 
als ein Abgeleitetes, ein bioßer Abfall-von diefers der Krieg gegen 
dag Veberfinnliche aber wurde nachher ganz mit den Waffen der 
Vernuuft geführt, freilich nicht der gefunden, wiſſenſchaftlich ge— 
bilderen, fittlich geregelten, fondern einer durchaus fophiftifchen 
und ganz verkehrten Vernunft, aber mit allen Waffen des glan: 
zendften ffeptifchen Witzes, uud in unzaͤhlig varlirten Weuduungen 
des geiſtreichſten Vortrages. 


„Hier, wo nun nicht mehr die Rede von der Verwerfung ei— 
nes einzelnen Pofitiven iſt, ſondern wo die Richtung gegen alles 
Goͤttliche die allgemein herrſchende in der Philoſophie geworden 
iſt, kann man wohl nicht umhin, eine ſolche Philoſophie als athei⸗ 
ſtiſch zu bezeichnen, wie ſie es ihrem innerſten Geiſte nach war, 
und auch in ihren Folgen hiſtoriſch eine ſolche geweſen iſt. Der 
andere Weg, welchen die auslaͤndiſche Philoſophie in der der Re— 
volution vorangehenden Epoche nahm, nicht mit den Waffen des 
Wirges, fondern mit einer feurigen Beredtfamfeit vorgetragen, 
durch die ſelbſt von Natur edle Gemürher leichter ergriffen und 
hingeriffen werden Eonnten, hat ebem deßhalb, wo möglich, 


J 


— 115 — 


noch verberblichere Folgen gehabt, als der erfie. Die Vernunft, 
als der eigenthümliche Charakter des Menfchen im eivilifirten 
Zuftande, ift — fo wurde es hier dargeftellt, — ſo wie diefer felbft 
etwas bloß Erfünfteltes, und im Grunde ganz Unnatürliches, und 
der wilde Natursuftand iſt der einzige dem Menfchen eigentlich 
angemeffene. Als Nettungsmittel gegen den erfünftelten und vers 
kehrten eiviliſirten Zuftaud wurde nun der bekannte bürgerliche 
Vernunft Kontrakt aufgeftellt. Unſer ganzes Zeitalter hat. die 
Belehrung theuer genug erfaufen müffen, daß dieſer praktifch, und 
im Großen angewendet, zwar wohl einen Despotismus der Freis 
heit und des Waffenglückes, aber eben fo wenig eine wahre Wieders 
herſtellung des eivilifirgen Zuftandes, als eine Rückkehr zu dem 
natürlichen bewirken koͤnue, ſo daß es unnoͤthig feyn würde, jetzt 
noch bei den verderblichen Nefultaten oder der innern Unhaltbars 
feit dieſes Syſtems irgend verteilen zu wollen. Bemerkenswerth 
ift es aber, daß auch hier der Anfang. gemacht wurde mit einer 
Dppofition gegen die Vernunft, und einer Herabfegung. derfelben, 
als eines erfünftelten Zuſtandes und einer Abweichung von der 
Natur, um dann nachher der Vernunft fich und die beftehende 
Weltordnung ganz in Die Arme zu werfen, und ihr eine unbes 
Dingte Herrſchaft über alle menfchlichen und göttlichen Dinge 
einzuräumen. Etwas Aehnliches läßt ſich überall bemerfen, und, 
diefen Gang wird es immer. nehmen, wo die Philofophie von irs 
gend einer beftimmten Vernunftfrage und Dppofition ausgehen, 
und diefes dialektifche Vermögen allein nach einfeitigem Stands 
punkte ihren Sorfchungen zum Grunde legen wird.’ 

„Die neuere deutfche Philofophie, in Form und Geift von der 
frangöfifchen ganz verfchieden, ift in ihrem engern metaphnfifchen 
Spielraum viel weniger allgemein wirkend gewefen, und wenn fie 
auch hie und da einige Anarchie hervorgebracht hat, fo ift es mehr 
nur eine Anarchie der Begriffe gewefen. Dennoch ft auch hier 
in anderer Art ein ähnlicher Gang der Umfehrung zu bemerken, 
der mit einer fehr firengen und faft abfoluten Befchranfung der 
Vernunft und Dppofition gegen ihre Anmaßungen beginnend, den- 
noch in Kurzem mit unbedingter Herrfchaft, ja mit einer Ver—⸗ 
götterung derfelben geendet hat. Der Stifter der menern dent: 
fhen Philoſophie fieng feine Lehre mit dem meitfchichtigen Be: 
mweife an, daß die Vernunft ganz unfähig fey, irgend eine Erz 
Fenntniß des. Heberfinnlichen zu erreichen, und daß fie fich dadurch 
‚nur im endlofe Streitigkeiten und Miderforüche verivickle. Auf 
diefe Unfähigkeit der. Vernunft zum Weberfinnlichen wurde nun 

8 * 


= 445. 


das Beduͤrfniß, die Nothwendigfeit eines Glaubens, fo wie diefer 
felbft gegründet. Diefer felbftgemachte Glaube fchien jedoch zu 
ſich felbft eben Fein rechtes Vertrauen zu haben; auch war es, 
näher betrachtet, doch nur wieder die alte Vernunft, die an der 
Vorderſeite des philofophifchen Palaftes feierlich ausgeftoßen, nun 
zur praftifchen Hinterthür unter der fremden Maske von Neuem 
pereingefchlichen Fam. Von folhem Zwieſpalt unbefriediget, 
wählte das philoſophiſche Ich num einen andern und neuen Weg 
des unbedingren Wiſſens, wo es niit lebendiger Kraft’in dem 
ideellen Spielraum anfangs frei fehalten und "walten mochte. 
Nachdem es ‚aber mehr und mehr deutlich wurde, daß hier in die: 
fer idealiſt iſchen Lehre nur von einem bloß innerlichen Vernunft— 
‚ Gott, ohne eigentliche objektive Wirklichkeit, die Rede fenn Fonnte, 
und Das eigne abſolute Ich mit dem Goͤttlichen auf ſolche Weiſe 
ideutifizirt und verwechſelt werde, ſo erhob ſich gegen dieſes egobi⸗ 
ſtiſche Wiſſen der Verdacht, und endlich der Vorwurf des Atheis⸗ 
mus. Freilich ſollte man Bedenken tragen, dieſes Wort da an—⸗ 
zuwenden, wo nicht von einer toben Ablaugnung, fondern nur 
von einer fehr irrigen Verwechslung der Begriffe die Nede ft, 
follte wenigſtens Diefe letzte durch die Benennung eines wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Atheismus unterſcheiden, um zu bejeichnen, daß der 
Tadel und der Name nur dem Irrthum des Syſtems gelte, und 
nicht. dem Charakter der Perfonz da mit einem folchen wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Atheismus uͤbrigens der ſtrengſte Stoicismus in’ der 
Eittenlchre, . tote das auch hier wirklich der Sal war, ſehr wohl 


‚vereinbar if. Eine ftarfe idealifiſche Verwechslung hat aber da⸗ 


bei wohl allerdings Statt gefunden. — Die deutſche Philoſophie 
ſchlug nun andere Wege ein, und wandte ſich mehr auf die Seite 
der Natur, der ſie ſich, der tranfeendenten £eerheit jener ideellen 
Vernunft und des bloß dialeftifchen Denkens ganz uͤberdruͤßig, 
mit voller Bewunderung im die Arme warf, als wo’ allein Leben 
und die Fuͤlle deffelben zu finden fey. Obwohl nun diefe neuere 
Natur» Philofophie manche herrliche Früchte der Wiffenfchaft ge: 


‘tragen hat, fo gieng ihr doch das. Trugbild des Abſoluten auch 


hier mach, und fie ift nicht frei geblieben von dem Vorwurf einer 
pantheiſtiſchen Naturvergoͤtterung. Eigentlich und genau geuom⸗ 
men war es aber nicht die Natur, fondern eben jenes, ihr zum 
Grunde gelegte Veruunftphantom, welches als das Höchfte aufge: 
ftellt und vergöttert wurde; es war eben nur wieder das alte me: 
taphyſiſche Einmal. Eins, in einer wenen Anwendung und einer 


Aebendigeren Form. Alſo auch hier hatte das Syſtem angefangen, 


* 


Re 7 7 


mit einem fcheinbaren Ueberdruß an der Vernunft und mit einer 
Herabfegung derfelben unter die Natur, um dann mit dem unbes 
dingten Prinzip derſelben zu enden. Als »hilofophifche Natur⸗ 
wiſſenſchaft genommen, find es oft wohl mehr nur einzelne fehlers 
hafte und verkehrte Auswuͤchſe geweſen, als daß der darin einge— 
webte Irrthum überall ganz konſequent und ſyſtematiſch bleibend 
durchgeführt wäre, und allerdings iſt auch ein großer Uuterfchied 
zu machen zwiſchen den verfchiedenen Bearbeitern und Verkuͤndi— 
gern derfelben. In der legten Zeit iſt die deutſche Philoſophie 
theilweife auch wieder ganz zurückgekehrt in den leeren Raum des 
‚ abfoluten Denkens. Dbgleich hier nun dieſes und der. darin erfaßte 
abſolute Vernunft⸗Abgott nicht mehr bloß innerlich verftanden, fons 
der objektiv „genommen, und ald das Grundprinzip alles Seyns 
aufgeftellt wird: fo feheint doch. dabei, wenn wir erwägen, wie 
das Wefen des Geifies ausdrücklich in die Verneinung geſetzt 
wird, und wie auch der Geift der Verneinung in dem ganzen Sys 


ſtem der herrfchende ift, faft eine noch ärgere Verwechslung Statt, ' 


zu finden, inden vielmehr, anftatt des lebendigen Gottes, dieſer 
ihm entgegenftehende Geiſt der Verneinung in abſtrakter Verirruug 
aufgeſtellt und vergoͤttert wird, ſo, daß alſo auch hier wieder eine 
metaphyſiſche Lüge an. die Stelle der göttlichen Wirklichkeit tritt.— 
Es findet fih eine fonderbare innere Korrefpondenz; und Wer: 
mandtichaft in den Irrwegen unferer Zeit, wo oft Die entferntes 
ſten -Geiftes : Ertreme, die äußerlich in gar Feiner Berührung fier 
hen, ploͤtzlich auf demfelben Punkte des taͤuſchenden Lichts, oder 
vielmehr einer glaͤnzenden Finſterniß zuſammentreffen. Waͤhrend 
ein wunderbarer brittiſcher Dichter unſerer Zeit in ſeiner tragi⸗ 
ſchen Darſtellung des aͤlteſten Brudermordes, als den Auſtifter 
dieſer That, den Feind des Menſchengeſchlechts und Koͤnig des 
Abgrundes, als den großen Tadler der göttlichen Weltordnung, 
und das Oberhaupt aller unzufriedenen Geiſter und der Oppoſition 
in der ganzen Schoͤpfung dargeſtellt, ihn auf eine Weiſe, wie es 
noch nie geſchehen iſt, mit einer ſolchen ergreifenden und er 
ſtaunenswuͤrdigen Wahrheit geſchildert, und ganz wie nach dem 
Leben gezeichnet hat; ſo daß alle fruͤhern aͤhnlichen Darſtellungen, 
auch der berühmteften Dichter, Dagegen nur als willkuͤrliche Phau— 
tome ohne Wahrheit erfcheinen, gegen diefe Darftellung, die das 
bei doch nicht ohne einige insgehein durchſchimmernde Worliebe 
entworfen iſt, indem der Dichter allen magiſchen Zauber feiner - 
Phantafie über diefe dunkle Figur ausgegoffen hat: fo wird nun 
hier eben diefes feindliche Prinzip, diefer abfolute, d. h. der böfe 


— 118 — 


Geift der Verneinung nnd des Widerfpruches, auf. den Texten Ab⸗ 
wegen der deutfchen Philofophie, obwohl in abſtrakter Unverſtaͤnd⸗ 
lichkeit, in der Mitte des verivorrenen Syſtems auf den Thron 
geftellt; daß alfo durch eine feltfame Art von vorherbeftinmter 
Harmonie der amtichriftliche Dichter, und diefe antichriftlichen 
Denker auf einem Punkt der falfchen Herrlichkeit unvermuthet 
sufanmentreffen. Diefes ift in jedem Falle wohl das dritte Sta 
dium der idealiftifchen Werirrung, die höchfte, und gewiß auch die’ 
legte Stufe des miffenfchaftlichen Atheismus. Sollte ih nun 
meine Veberzeugung und das Werhältnig diefer Philofophie des 
Kebens, die ich Ihnen vorzutragen wuͤnſche, zu der herrfchenden 
Wiffenfchaft und Philofophie der Zeit, fowohl der ausländifchen, 
als der deurfchen, in Kurzem wiederholen, fo wuͤrde ich diefes et: 
wa fo sufammenfaffen. Sch. ehre und beivundere die. unermeßlich 
folgenrerchen wiffenfchaftlichen Entdeefungen in der Phyſik unfes 
rer Zeit, befonders auch Das Große in der franzöfifchen Natur 
wiſſenſchaft, im fofern es reelle Fortfchritte des menfchlichen Wif- 
fens enthält und begründet, fo weit ich diefelben Fenne, und in 
meiner Sphäre verfiehe; aber die materialifiifche Beimifchung der 
frühern franzöfifchen Philofophie, die immer noch fo zahlreiche 
Anhänger hat, kaun ich nicht anders, als ganz verwerflich finden. 
Ich ehre und liebe die überall herumforfchende und allumfaſſende 
deutſche Wiffenfchaft, und auch die deutſche Naturphilofophie noch 
Smiehr, als jene des-Auslandes, da fie Diefelben großen Entdeckungen 
nur noch geiftiger auffaßt; Die idealiftifche, Verirrung aber, mels 
che nebenher geht, uud Damit verwebt ift, von welcher das Ganze 
ausgieng, und von der auch jet Das Syſtem noch bei weiten nicht 
völlig rein und befreit if, kann ich nur für eine folche, für eine 
intellektuelle Verirrung von der fihädlichften, den Geift förenden 
und jerfiörenden Art und Wirkung halten.“ 





| Zehn te Bor lefung.. 





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u L gen y 


Wenn jede bedeutende Ertenutniß einen Reichthum von 
Erkenntniſſen in ſich trägt: ſoll die erſte Wahrheit nicht 
eine Fülle von Wahrheiten in ſich tragen ? 

* v 55 | 


ER 


So gewiß Gott ift, und die Bernunft des 
Menſchen ein Bewußtfeyn des Gsttlihen: fo 
‚gewiß ift mit dem Bewußtſeyn des Göttlidhen 
Das Gefeg gegeben, ed anzuerfennen Dieſe 
"Anerkennung Gottes ift eben das in das Gemuͤth, in 
den Willen und in das Leben ſwergrgangen Bewußt⸗ 
ſeyn des Goͤttlichen. 


Dieſe Anerkennung Gottes iſt alſo ein ——7—7 
deſſen, was die Vernunft von Gott vernommen hat, und 
eine Wiederhall im Gemuͤthe, in den der Wille und 
das Leben. miteinjtimmen. Was die Vernunft erfennt, 
das anerkennt das Gemüth, der Wille, das Leben. 
‚Menn die Vernunft das ewige Wort vernimmt: Ich bin 
die hoͤchſte Wahrheit, das höchfte Sut, das Br 
'fen.aller Wefen, die Wurze aller Dinge: fo 
antwortet da8 Gemüth: Fa, du biſt die hoͤchſte 
Wahrheit, das hödhite Gut, das Weſen aller 
Weſen, die Wurzel aller Dinge, und der Wille 
und das Leben fallen in den Lobgefang ein. 


Diefe Anerkennung Gottes, die von dem Bewußtfepn 
des Göttlihen aus und in das Gemüth, den Willen ımd 
"das Leben des Menfchen übergeht, it eben das, was in 
‚der gewöhnlichen Sprache Gottesverehrung heißt. 


— : 120 — 


Daß diefe Gottesverehrung eine nit dem Bes 
wußtfeyn des Göttlichen gegebene Pflicht des Menfchen 
jey, foll durch maucherlei Betrachtungsweifen und Darftel- 
lungen des Einen Göttlichen noch einleuchtender werden. 


1) Sp gewiß Gott Gott if, fo gewiß iſt es 
erite Pflicht dejjen, der an Gott glaubt, alfo erfte Pflicht 
für mich, Gott ald Gott anzıterfennen — Gott ald Gott 
anzuerkennen im Gemuͤthe, im Willen, im Leben, d. i. 
Gott a) als das Heilige um feinetwillen zu verehren, 
Denn, wenn ed Pflicht für mich ift, alles Gute in je— 
dem Menfchen zu achten: ſoll es fir mich nicht Pflicht _ 
jeyn, das Heilige felber über Alles zu verchren? 


* Süngft hat man behauptet, daß es Feine eigentliche Pflicht 
gegen Gott gebe; allein es ift dieß bloß willfürliche Bes 
ffimmung des Wortes, Pflicht. Denn man mag den näch 

. fen Grund der Pflicht in der innen Schönheit des Gw 
ten, oder im der innen Würde des Guten, oder in den 
unausbleiblichen Folgen des Guten fuchen, fo ift ja die Aus 
erfennung Gottes aus allem, was das Gemüth des Menfchen 
verklären, erheben, befeligen Fann, gerade Das, was fih als 
das Schönfte, als das. Erhebendfie, und als das Beſe⸗ 
ligendfte erweiſet; alfo in jeder‘ Vorausſetzung Pflicht fuͤr 

alle Menſchen, die Meuſchen find, — an Gott zu glauben. 


2) Sp» gewiß Gott Gott ift, fo gewiß ift es 
erfte Pflicht defjen, der an Gott glaubt, alfo 
erſte Pflicht für mid, Gott ale Gott anzu— 
erfennen — im Gemüthe, im Willen, im tes 
ben, d. i. ihbn.b) als Schöpfer aller vernünftigen Wefen, 
alſo auch meines Weſens, und als Urheber des heiligen 
Gefeges in mir und in allen verminftigen. Wefen zu 
verehren. - Denn, wenn ich dem Ansfpruche des Gewifs 
ſens in mir Achtung fehuldig bin: fol ich ‚dem hoͤchſten 
Geſetzgeber ſelbſt a bie höchite Verehrung . ſchut⸗ 
dig 

5) So gewiß Gott Gott iſt, fo gewiß iſt e⸗ 
erſte Pflicht deſſen, der au Gott glaubt, alfo 
erite Pfliht für mid, Gott ald Gott anzu 
erfennen — im Gemüthe, im mAlen, im. Leben, 


— 121 — 


» 1. ihn ©) als den: heiligen Geſetzgeber meiner 
fittlichen Natur, vorzüglid durch Erfüllung dieſes 
feines Gefeges, zu verehren. Denn, wenn er der Urs 
heber des Geſetzes iſt, ſo iſt das Geſetz meiner Natur 
ſein Wille, meine Pflicht — Gehorjam gegenihn, 
und jede Erfüllung des Geſetzes ein Bemeiß meiner 
Verehrung. 


4) So gewiß Bott Gott ii, ſo gewiß ift es 
erſte Pflicht deffen, der an Gott glaubt, alſo 
erite Pflicht für mid, Gott als Gott anzu 
erfennen — im Gemüthe, im Willen, im te 
ben, bi. ihn d) als. die Ur quelle aller Dinge, 
den Schöpfer der ganzen Welt dadurch zu vers 
ehren, daß ich alle Dinge ald Denfzeihen feiner 
Macht, Liebe, Weisheit, und als Werkzeuge, Die mir 
feine Hand dargereicht hat, anfehe, und als folche ats - 
wende, um Die heiligen Zwecke der Schöpfung, Die us 
verkennbar in's Auge leuchten, ihrer Erfüllung zu nähern. 
Denn, wenn ich Jedem, von dem ich die geringfte Gabe 
empfangen habe, Dank fchuldig bin: follte ich gegen Die 
Urguelle aller Gaben undanfbar bfeiben dürfen? Und, 
‚wenn der befte Danf im: guten Gebrauche der Gas 
ben beiteht, fol ich mein Dankgefuͤhl gegen «den höchften 
Geber: aller Gaben anders, als durch den beften Gebrauch; 
diefer feiner Gaben erweifen Eönnen? Und was gäbe es 
für einen beſſern Gebrauch der goͤttlichen Gaben, als 
jenen, der in Uebereinſtimmung mit dem Willen des 
Gebers, der die Heiligkeit ſelber iſt, beſtuͤnde? 


5) So gewiß Gott Gott ift, ſo gewiß ift * 
erſte Pflicht deſſen, der an Gott glaubt, alſo 
erfte Pflicht für mid, Gott ald Gott anzıw 
erfennen — im Gemüthe, im Willen, im Les 
ben, d. i. ihn ©), als den höchften Negierer aller 
Schickſale aller Menfchen, duch Zuverfidht, Erge 
bung, Gedufd und Mitwirkung zu ſeinen heiligen 
Zwecken zu verehren. Denn, wen der freie Wille dem 
hoͤchſten Geſetzgeber Gehorfam fihuldig if, ſollte er 
dem hoͤchſten Regenten, der. die Liebe iſt, nicht Zu 


— 


verficht, der die Weisheit iſt, nicht Ergebung, der 
die, lenkende Allmacht iſt, nicht Mitwirkung ſchuldig 
ſeyn? Sollte der freie Wille nicht aus freier Unterwür— 
figfeit das thun, was die Natur aus blinder Nothwer- 
‚digkeit thut — vollbringen die — die das Siegel 
des hoͤchſten Regenten traͤgt? 


Es giebt eine grobthieriſche Nachahmung der 
Natur, die den Menſchen zum Vieh, eine fein⸗aͤſthee— 
tiſche, die den Menfchen zum Kuͤnſtler, eine religiöfe 
Nachahmung der Natur, die den Menfchen zum Engel, 
zum freiwilligen Diener des göttlichen Willens macht. - 


6) So gewiß Gott Gottiift, fo gewiß ift’es 
erfte Pflicht deffen, der an Gott glaubt, alfo 
erite Pflicht für,midh, Gott als Gott anzu 
erfennen — im Gemüthe, im Willen, im Le— 
ben, di. ihn Maß Richter md Entſcheider 
‘des fittlihen Werthed und Unwerthes aller Menfchen und 
meined eigenen, and ald Vergelter nad eines Jeden 
Wuͤrdigkeit und Unwuͤrdigkeit, durch Enthaftfamfeit "won 
allem Berurtheilen Anderer, das feinem Urtheile vorgriffe, 
durch Selbftprüfung wie vor feinem Auge, und durch ru: 
higes Erwarten der Zukunft, zw verehren. Denn, "wenn 
der höchite Wille im der Gefeßgebung heilig, in Ent- 
ſcheidung des Werthes und Unwerthes gerecht, in Ver— 
geltung heilig und gerecht und allmädhtig if: 
follte nicht Jeder, deffen Vernunft die Hetligfeit, Ge 
rechtigfeit, Allmacht des Göttlichen erkennt, fie auch 
als folche anerfennen, und wie anders anerkennen, «als 
durch Niht-Richten da, wo ed an möthiger Einficht 
fehlen muß, durch Richten da, wo es dem Blicke nicht 
‚an Sehefraft und nie an Stoff fehlen kann, und durd 
Nichterzwingenwollen bdeffen, was nur Be 
Aber fann?, 


7) Sp gewiß Gott Gott if, fo Kent ift es 
erfte Pflicht deſſen, der an Gotr glaubt, alfo 
'erfte Pflicht für mid, Gott als Gott anzır 
serfennen — im Gemüthe, im Willen, im Leben, 
di. ihn g) duch Nachahmung feiner. parteilofen Güte 


— 128 — 


gegen alle Menſchen zu verehren, und durch reine Men⸗ 
fehenliebe fein Bild auf Erden darzuftellen. Denn, wozu 
wäre das Bermögen in mir, göttliche Liebe durch 
Menfchenliebe nachzubilden, als daß dieß Vermögen 
in wirffiche Fertigkeit übergienge, und der Menfchengeift 
in das fchönjte Nachbild des Urbildes fich verwandelte? 

3 * * ar 


* 


Im Syſteme des Glaubens an Gott iſt alſo dag Ge⸗ 
wiſſen — Gottes Wort, das Gebot des Gewiſſens — 
Gottes Wille, die Tugend — Gottes Berehrung, 
die ganze Natur — Gottes Tempel,‘ der innere 
Menfch — Gotte8 Heiligthum Kein Wunder alfo, 
daß der Gottesverehrer, wenn er Gott im Heiligthume 
gefunden hat, ihn auch überall im großen Tempel finde, 
d. h. daß er mit Shafefpeare „Zungen in Bäumen, 
Bücher in rinnenden Bächen, Brediger in Steinen, 
Gott felber in Allem finde Wenn aber ver 
Gottesverehrer Gott in lem ſindet, io verehret er ihn 
auch in Allem. 


Im Syſteme des Slanbeng an Gott Tiegt alfo eine 
zweifache Verehrung Gottes. 


Wir verehren Gott — in Gott; wir verehren Gott 
außer Gott. Die Verehrung Gottes erjterer Art mag die 
unmittelbare, die Der zweiten Die mittelbare heißen. 


Die unmittelbare Verehrung ift nach —— An⸗ 
ſchauungsweiſe des Goͤttlichen 


Anbetung — in ſofern uns das Göttliche als das 
höchfte Gut in fih — als ein Allfelbfigenugfames 

und Unermeßliches einleuchtet, und und — in feiner 
Unermeßlichkeit gleichfam: verfchlinget; 


Liebe und Vertrauen — in fofern ung das 
Göttliche als das höchfte Gut für und — als heiligend 
und befeligend eimnleuchtet, und ung anzichet und mit 
ſich einiget; 


Gehorſam und Ergebung — in ſofern uns 
das Goͤttliche als gefeggebend und —7 
einleuchtet, und uns ſich ſelber unterwirft. 


— 124 — 


Gehorſam und Ergebung iſt alſo Hingegebenheit 
des innerſten Menſchen an Gott, Liebe und Vertrauen — 
Einigung mit Gott, Anbetung — ein Ergriffen— 
und gleichſam ein Verſchlungenſeyn vom Goͤtt⸗ 
lichen. 
Dieſe unmittelbare Gottesverehrung offenbart ſi ch durch 
die mittelbare. Wenn unſer Gemuͤth, vom Goͤttlichen ers 
griffen, an das Göttlihe hingegeben, und mit dem 
Görtlihen einig geworden tft, fo kann cs, im Zuftande 
der Weltanfchauung, nicht anders, als die ganze Welt 
aus dem Gefichtspunfte des Göttlichen beurtheile n, 
und, im Zuftande des Verkehrs mit der Welt, nicht ans 
"ders, als die Welt in dem Gefichtspunfte des ee 
behandeln, 

In fofern. wie nun die Welt in dem Gef — 
des Goͤttlichen beurtheilen, iſt uns die Natur — Got 
tes Werk und Bild, die Welt — Gottes Spiegel, 
ale Schickſa le des Menſchen — Gottes Wille, un— 
ſer eigner Lebensgang — Gottes Fuͤhrung. 

In ſofern wir die Welt in dem Geſichtspunkte des 
Goͤttlichen behandeln, ehren wir Gott in jedem Mens 
fhen, in ung felber, in jedem Gebrauche, und. in 
jedem Widerftande-der Natur. Diefe (unmittelbare 
und mittelbare) Verehrung Gottes iſt dag, was den hoͤch— 
ſten Menfhen im Menfchen zum Hoͤchſten macht; iſt 
das, was die finnlichen Menfchen nicht verftehen koͤn— 
nen, was die profanen nicht verfichen wollen, was bie 
Schreier ald Unfinn verfchreien, weil fie den heben 
Sinn, der darin liegt, nicht fennen. Was Jakobi in eis 
nem Briefe an Erhard fagt, geht tief ein, weil e8 aus 
der Tiefe Fam, und gehört hieher: 


| „Dir gab die Natur, zu den auferordentlichen Geiſtes⸗ 
faͤhigkeiten, ein heiteres Gemuͤth von unſchaͤtzbarem Ber; 
the; Gutmuͤthigkeit, Bruderſinn, edlen Fleiß und ſchoͤnen 
Muth. Dieß liebte ich an dir, dieß werde ich an dir 
lieben und ehren, ſo lange ich athme. 

00, ‚Liebe nicht an dir, und kann nicht an dir fieben, 
was du nicht haſt; was ich dir mehrmals definiren. 


ER | 


follte und nicht eönnte; was, umbefinirt, dein großer Kopf 
als eine Armfeligfeit des Herzend verjchmähte und bes 
’ fächelte — dir fehlt Innigkeit; ein tieferes Bewußtſeyn 
des ganzen Menſchen; ein aus dieſem tiefern Bewußts 
ſeyn hervorgehendes eigenes Vermögen; ſich ſelbſt naͤhren⸗ 
der, ſtaͤrkender, in ſich ſelbſt gedeihender Sinn und Geiſt; 
dir fehlt jene ſtille Sammlung, die ich, verzeihe — Ans 
dacht nennen muß; jenes feierliche Schweigen der Seele 
vor fich felbft und der Natur; das feite Anfaugen an 
Schönes und Gutes, welches tief lebendig macht, ud Das 
durch unabhaͤngig groß, Es fehlt dir em nie verftums 
mendes, eine zweite beifere Seele ya bildendes 
Echo in dem Mittelpunkte deines Weſens.“ — 


‚Zweite Folge. 


| ” 506. J— 
So wie mich der Berrunftinfinkt, der fich m ee 
” Triebe nad) dem Wahren, dem Guten, dem Seligen ent 
faltet, und wieder in den Einen Trieb nad) dem Schoͤnen 
zufammenzieht, nöthiget, an Gott zu glauben, und Gott als 
- Gott anzuerkennen, und wie gerade das Bewußtſeyn, daß 
Gott ift, und daß Gott Gott ift, die eigentfiche Vernunft 
des Menfchen ausmacht: fo wäre es höchite —— 
nicht an Einen Gott zu glauben, 


Denn. 1) derfelbe Vernunftinftinkt, der mich —— 
ein hoͤchſtes Weſen, das die Wurzel aller Dinge und das 
Weſen aller Weſen iſt, voraus⸗ und. obenan zu ſetzen, noͤ— 


thiget mich mit derſelben unwiderſtehlichen Andringungss 


macht, nur Ein hoͤchſtes Weſen voraus⸗ und obenan zu 
ſetzen. 
Wenn das Gemuͤth der hoͤchſten Wahrheit bedarf, 
die den Durſt nach Erkenntniß ſtillen kann: fo bedarf es 
eben deßhalb Einer hoͤchſten Wahrheit, wodurch aller 
Durſt nach Erkenntniß befriediget werden kann. 


Wenn das Gemuͤth der hoͤchſten Wahrheit, Heiligkeit, 
Seligkeit — Schoͤnheit bedarf, um fuͤr dieſe Beduͤrfniſſe 
die hoͤchſte Befriedigung zu finden: ſo bedarf es eben 


— 126 — 


deßhalb der Einen Wahrheit, der Einen Heiligkeit, der 
Einen Seligkeit — Schönheit, weil nur durch diefe Eins 
heit "aller Durſt nad) dem Wahren, Guten, Sehgwerer 
Schönen gejtillet werden kann. 


Nur Ein Wefen kann der Eine Ruhepunkt feyn 
für unfer nie ruhendes Streben, bis es den Einen ge 
fimden hat, 


So gewiß 2) die Idee Gottes in mir it, und fo ge⸗ 
wiß fie Wahrheit iſt: fo gewiß iſt in der Idee Gottes 
die Etnigfeit des Weſens mitgegeben, und die Ei 
nigkeit Gottes eine eben ſo gewiſſe Wahrheit, als das 
- ewige Seyn Gottes. 


„Die Idee der hoͤchſten Vollkommenheit, ſagt Fene 
lon mit allen Weiſen (de lExistence de Dieu P. II. 
Ch. II.), verträgt. ſich nur mit Einigkeit des Weſens. 
Ga, du, Unendlicher! du bijt das Wefen im höchiten Sinne, 
und man bedarf nicht mehr, zu fragen: du bift das Weſen 
ferbit - — du erfuͤlleſt alle Dinge, und es iſt in dem Unis 
verſum und. in meinem Geiſte fein Platz mehr für eine 
andere Vollkommenheit, die der deinen gliche! Du er⸗ 
ſchoͤpfeſt alle meine Gedanken. Alles, was du nicht Si 
it nur ein Schatten von Weſen! — 

„Du, das Mefen, allein ded Namens. werth! Wer 
ift dir gleich? wo find jene Hirngefpinfte von Gottheiten, 
die man dir an die Eeite zu feßen wagte? Du bift, und 
alles Uebrige iſt vor dir wie nichts. Du bift, und als 
les Uebrige ift nur durch dich, iſt, als wenn es nicht waͤre. 
Du biſt es, von dem mein Gedanke kam; du biſt es 
allein, den er ſuchet, den er bewundert. Bin ich et— 
was, fo gieng die ‚Etwas aus deiner Hand, Es war 
nicht, und fieng an, zu ſeyn. ES gieng aus von Dir, 

und ftrebt zurück nach dir. So nimm dem, was Du ger 
macht haft: — erfenne dein Werk. Zu Nichts werden 
follen die falfchen Götter alle, diefe eiteln Bilder deiner 
Größe! Zu Nichts werde alles Seyn, das irgend ein 
Seyn, nur für ſich, haben will! Zu Nichts, zur Nichte 
werde alles, was dem nicht angehören will, der Alles 
für fidy gemacht hat! Zu Nichts werde jenes Ebenteuer 


— 127 — 


eines verivrten Willens, der nicht liebt das ewige Gut, 
da doch alles, was iſt, das Seyn empfangen, hat, nur 


um dieß ewige Gut zu lieben.“ 


Was hier Fenelon, hat lange vor ihm Bernardus 
ansgefotochen : Quid: nempe cuique rei praesentius, 
quam esse suum? quid cuique tamen incom- 
prehensibilius, quam esse omnium? Sane esse 
omnium.dixerim DEUM, non, quia illa sint, 
quod, est ille, ‚sed quia ex ipso et per ipsum et 
in.ipse omnia, Serm IV. super cant.. „Bas ift 
Jedem gegemwärtiger als fein Seyn, und was Jedem un- 
begreiflicher als das ‚Seyn Aller? Das Seyn alles 
Seyenden ift mir Gott, micht, als wenn alles Seyende 
das wäre, was Er ift, fondern weil Alles aus Som, 
durch Ihn, und in Ihm it.‘ 

. Ein Seyn, aus dem, durch das und in Dem Alles 
it, Ein Weſen alles Weſens, Ein Gott. — Diejer 
Glaube, diefe Lehre, dieß Bekenntniß wide, wie ſich eis 
nige Lobredner der Vernunft ausdruͤckten, wirklich der 
Stolz der Vernunft ſeyn — wenn nur der Sonnen⸗ 
ſtrahl ſich ſelbſt machte, und nicht aus der Sonne kaͤme. 
Alles iſt Gottes: alſo auch das Bewußtſeyn, daß er iſt, 
und daß er der Eine iſt. 

3) Nicht nur in der. Idee Gottes, ſondern auch in 
der Welt, und in der phyſiſchen, wie in der moralifchen 
fpiegelt fih die Einigkeit Gottes. Ein heilige 
Geſetz in unfrer Bruft: Ein Gott, deffen Wille eben 
das heilige Geſetz zum heiligen macht. 

| Eine Natur, Eine phyſiſche Welt: Ein 
Sort, ohne den das Leben der Natur Fein Leben, das 
Beitehen der Welt Fein Bejtehen wäre, \ | 

Unum Dominum communis ratura testatur, 
quia unus est mundus. Augustinus serm. 1. de 
Innoc. Eine unverkennbare Ordaung im dem Ganzen: 
aljo Ein Regent: Polyardie, fagt, der Grieche fehr 
fein, it Anarchie. 

Wenn aber die Idee von der Einigkeit ſo lichthell in 
unfrer Natur ftrahlet, und in der Welt wiederglänzet, wie 
famen 4) die Menfchen zur Vielgötterei? Antwort: 


i 


— 128 — 


Sie ſahen a) in der phyſiſchen Welt viele 
Symbole der Gottheit: da vermifchten fie die Zeichen 
mit der bezeichneten Sache. Die Sonne, ein Symbol 
der Gottheit, machten fie zur Gottheit, — das Licht — 
dieß Gewand Gottes — zum. Gotte, 


« Kleuker in ſeiner Zend: Aveſta im Kleinen glaubt, daß die 
urfprüugliche Veranlaſſung zur Meinung, daß die Sterne 
goͤttliche Naturen ſeyen, nicht ſowohl in der Schoͤnheit und 
Wöohlthaͤtigkeit dieſer Lichter des Himmels, ſondern viel⸗ 
mehr darin zu ſuchen ſey, daß man glaubte, es gebe außer 
dem hoͤchſten Gott unzaͤhlige andere Weſen, die, mit goͤtt⸗ 
lichen Kraͤften begabt, ww waudelnde Lichter erſcheinen. 


Sie ſahen b) in der, Menfhenwelt mancherlei 
MWohlthäter, Erfinder, Helden, Geſetzge ber 
da jteigerten fie Die Verehrung, die fie ihnen ſchuldig zu 
feyn glaubten, und vergötterten die a indem f ie 
das Große für. das Größte hielten. 


Sie fahen c) in der moralifhen Welt viele 
Tugenden, z. B. die Gerechtigkeit, die Treue, die Eim 
tracht; dabei fühlten fie etwas Göttliches, und vermeng- 
ten die Nachahmung des Göttlichen mit dem — — 
die Bilder mit dem Urbilde. 


Sie erkannten d) in der en und mora⸗ 
lifhen Welt mande Spuren und manche Fußtritte 
der fhaffenden, Ienfenden, regierenden Gott 
heit... da vermifchten fie dieſe Spuren, diefe Fuß⸗ 
tritte Gottes mit ihm ſelber. 

Wenn nun gleich die dee von dem Einen hoͤchſten 
Weſen fruͤh und auf mancherlei Art unter den Voͤlkern 
getrübt ward, jo hät fie fi) dod), in den Weifen ale 
ler Zeiten und aller Gegenden, rein erhalten, wie mit 
vielen Andern Ramſay in feinem —— sur la My- 
thologie bewiefen hat. 

— — — Geitdem Chriſtus in der Welt, war, ift der 
Sande an Einen Gott allgemeine Religion gewor— 
den. Ein Berdienfi, das ich anführen muß, ehe mich bie 


Srduung vom Ehriſtenthume reden laͤßt. 
Zwar 


— 19 — 


Zwar fehlt es nicht an Athenienſern, denen der grie— 
chiſche Goͤtter⸗Staat lieblicher erſcheint, als der Eine 
Gott der Chriſten. Allein wie fie weiſe ſagen: Wo 
feine Götter wohnen, da giebt es nichts als 
Gefpenfter, fo kann man beifegen: Wo Götter 
ohne Gott wohnen, da giebt-eS wieder nichts 
als Gefpenfter, Oder: der Wahı bildet fid 
Götter, die Bernunft hat Einen Öott. Denn 
wie es eine ungehenre Fiktion wäre, die Gloͤcklein am 
Leibrocke des Hohenpriefters für fo viele Hohepriefter aus⸗ 
zugeben, fo würde es weiter nichts als Fiktion heißen 
fönnen, den Singularis der Geifterfonnerin 
den Pluralig der EERBEHTEREEEN zu ver 
wandeln. 


Uebrigend werben meine Leſer — die poetiſchen 
Licenzen meiner Zeit are zu ſtrenge w nehmen. 





IM. dv. Sailer’d ſämmtl. Schriften. VIII. Bd. Zte Aufl. * 9 


BE‘. 


— 130. — 


Eilfte Borlefung. 





Dritte Folge, 


37. 
& wie mich der Pernunftinftinkt nöthiget, an Einen 
Gott zu glauben, und ihn als den Einen Gott anzuer; 
kennen: ſo wäre es für mich hoͤchſte Unvernunft, nicht 
an das ewige Sevn des menſchlichen Geiſtes 
zu glauben. 
Denn all' die höheren Beduͤrfniſſe nach Wahrheit, 
Heiligkeit, Seligfeit— Schönheit, die nur in 


Gott den Einen Befriedigungspunft finden Finnen, alle 


diefe Beduͤrfniſſe finden ihre volle Befriedigung in Gott 


nur unter der Bedingniß des ewigen Seyns. Das 


Beduͤrfniß nah Wahrheit findet in der kurzen Linie 
des menfchlihen Da» Seyns feine volle Befriedigung, 
fan fie nur ‚finden in der endlofen Linie deg Emwig- 
Seyns. Das Beduͤrfniß nach Heiligkeit, das be— 
friediget werden Toll, findet in der kurzen Linie des 
menfchlihen Da = Seyns feine volle Befriedigung, kann 


fie nur finden in. der endlofen Linie ded Ewig-Seyns. 


Das Beduͤrfniß nah Seligkeit if, als Beduͤrfniß 
nach Seligkeit, ſchon in ſich ein Beduͤrfniß nach en d⸗ 


loſem Wohlſeyn, und, als hoͤheres Beduͤrfniß, ein 


Beduͤrfniß nach einem Wohlſeyn, das mit der Wahrheit 
und Heiligkeit Eines ift: findet alfo in der furzen Linie 
des menfchlihen Dafeyns Feine wolle Befriedigung, kann 
fie nur finden in der endlofen Linie des Ewigſeyns. 
Und da bie hoͤchſte Wahrheit, Heiligkeit, Seligkeit — zus 
gleich die hoͤchſte Schönheit ift, fo fann auch das Ber 
dürfnig nad dem Urfchönen nur in fteter, ungetrübter 
Vereinigung mit ihm volle Befriedigung finden; alfo nicht 
in der furzen Linie des menfchlichen Da > Seyns, fondern 
nur in m endlofen Linie des Ewig⸗Seyns. 


— 151 — 
Und, . wie fi der Eine Vernunftinftinft in drei 
Triebe nad) dem Wahren, Guten, Seligen entfaltet, und 
alle drei in dem Triebe nad) dem Schönen wieder ver 
einiget: fo kann man auch fagen, daß das Beduͤrfniß 
nad) Seligfeit dag Eine hoͤch ſte Beduͤrfniß der Menſch⸗ 
heit ſey. Denn die Seligkeit geht, im Lande des 
MWerdens, aus der Wahrheit und Tugend hervor, und 
it, im Lande des Seyng, mit vollendeter Heili 
gung und ungetrübter Anfhanung der Wahr- 
heit Eines, Das Beduͤrfniß nad dem Seligen faßt 
alfo die Bedirfniffe nad) dem Wahren und Guten in ſich, 
und weil das Sehnen nad) Vereinigung mit dem Urſchoͤnen, 
mit dem Sehnen nach dem Seligen hienieden Eines iſt: fo 
muß auch drüben die Seligfeit — und die Vereinigung mit 
dem Urfchönen Eines feyn. Da nun alle Bedürfniffe, die der 
niedern Natur eingeboren find, fich als fo viele Pfänder ans 
finden, daß ihnen Befriedigung werden kann: fo wird wohl 
auch das Beduͤrfniß nach Seligfeit, das das Eine höchfte 
Beduͤrfniß der menfchlichen Natur iſt, weil es die Beduͤrfniſſe 
nach dem Wahren und Guten in fih faßt, und mit 
dem Bedirfniffe nach dem Schönen Eines ift, als Pfand 
feiner Befriedigung angefehen werden Dürfen. Dieſes 
Eine Beduͤrfniß nach Seligkeit, dieß angeborne Berlangen 
der menfchlichen Seele, unfterblich zu: feyn, war es denn 
auch, was ſich in allen großen Menschen beweget, 
und fie zu den großen Menſchen DeRIAME: hat, die 
fe wareıt. 


Das angeborne Verlangen, unfterblich oder felig zu 
feyn, ift der Lichtfunfe, der in der Nacht der Verirrun— 
gen nie ganz erliſcht, ſondern „bei aller Uebergewalt 
des Erdſchattens in VRTRR Herzen‘ fich immer wieder 
erhebet. 


„Allemal, Cfagt Asmus im V. heit wo wir einen 
- angebornen Trieb finden, der nach einer Sache treibt, 
finden wir auch eine Fonveniente Dispofition und Leber 
einftimmung zwifchen beiden, fo, daß der. Trieb befriedis 
get, oder eine Vereinigung gefchehen fanı. Wie fönnte 
die Natur auch fo irren und Triebe zu unmöglichen und 


9* 


— 13823 — 


widerſprechenden Dingen geben? Aber die Vereinigung 
kann nicht nur geſchehen, ſondern fie ſoll nach der 
Ratur der Sachen auch geſchehen, und würde geſche— 
hen, wenn ihr kein Hinderniß im Wege waͤre; und der 
Trieb iſt im Grunde nichts anders, als die Empfindung 
dieſes Verhaͤltniſſes bei den Dingen, die Empfindungen 
haben, oder das Verhaͤltniß ſelbſt bei denen, die ſie nicht 
haben. 


„Im Mittelpunkte der Erde, z. B., haben die Koͤr⸗ 
per feine Schwere; wenn ich aber eine Kugel an ki 


‚nem Faden aufhänge, auf die Hand oder auf fonft et 


was Iege, fo -drücdt fie in: gerader Linie auf den Mittel 
punkt der Erde, denn fie wird gehindert, dahin zu kom⸗ 
men. Ein Gewächs, eine Pflanze, die in freier Luft 


ſteht, wächst amd ſteht aufrecht; ſtelle ich fie aber in's 


Zimmer, Daß alfo die Einflüffe der Luft und Sonne ges 
hindert werden, fie, wie es ſeyn follte, von oben frei zu 
treffen: fo beugt fie ſich gegen das Fenſter. Wenn ein, 
Fiſch im Waſſer ift, fo hat er Fein Berlangen nach dem 
Maffer, fondern läßt ſich's wohl darin ſeyn; wirft man 
ihn aber auf's Land, fo fühlt er, daß er nicht ift, wo 
er feiner Natur nad ſeyn ſollte, und ſpringt und zap⸗ 
pelt. 


Wenn alſo wir Menſchen ein angebornes Verlangen 
nach Unſterblichkeit haben, ſo iſt es klar, daß wir in 
unſrer jetzigen Lage nicht ſind, wo wir ſeyn ſollten. 
Wir zappeln auf dem Trocknen, und es muß irgendwo 
ein Ocean fuͤr uns ſeyn.“ 


Im gleichen Geiſte ſpricht ein Fruͤhverſchwundener: 
„Wuͤnſche und Begehrungen find Fluͤgel. Es giebt 
Wuͤnſche und Begehrungen, die ſo wenig dem Zuſtande 
unſers irdiſchen Lebens angemeſſen ſind, daß wir ſicher 


auf einen Zuſtand ſchließen koͤnnen, wo ſie zu maͤchti⸗ 
gen Schwingen werden, auf ein. Element, das fie he— 


ben. wird, und auf Inſeln, wo fie fi niederlaffen 


; koͤnnen. * 


Hier moͤchte ich ſprechen: Herr, ich glaube — hilf 


mir wider meinen Unglauben! 


— 4805 — 


Wenn mm aber das Verlangen nach Unſterblichkeit 
ſich in jeder nicht ‚ganz verwahrlofeten Menfchenbruft re 
get: fo mag e8 wohl auch in der Richtung, die ed nimmt, 
fehlgreifen, wie denn die Unfterblichfeit, nad) welcher 
z. B. der finnliche Genuß oder die: umedle Sud) zu 
haben, ringen, fo fterblich iſt, wie ſie ſelber; aber in 
dem Tugendhaften, und in dem Gottesverehrer 
nimmt das Verlangen, unſterblich zu ſeyn, immer die ge⸗ 
rade Richtung nach der wahren Unfterblichkeit, und was 
das Entfcheidendfte ift, gerade in dem Tugendhaften 
und Gottesverehrer geht dad Verlangen, unſterblich 
zu feyn, in die fefte Zuverficht von dem Ewigfeyn 
des menfchlichen Geiftes über. 

Wer die Tugend in fich hat, hört Bud die Sprache 
in ſich: Tugend iſt goͤttlich es Leben in mir: 
ae Leben in mir fann nicht fler- 

Elle. . 

Wer die Gottesverehrung in ſich hat, hoͤrt die Sprache 
in ſich; Gott iſt ewig: was ihn in mir verehret, kann 
nicht zeitlich ſeyn, und: Gottesverehrung ift iu 
mir ein ewiges Leben: das emige I, im 
mir kann nicht ſterben. 


Da nun Gottesverehrung und mb: Eines find, 
wie Licht und Lichtftrahl, wie Sonne und Sonnenftrahl: 
fo liegt e3. in dem Wefen der Gottverehrenden Tugend und 
der Tugenderzeugenden Öottesverehrung, daß wir durch 
fie nicht nur des ewigen Seyns werth, ſondern auch 
gewiß werden. 


„Ein Mefen, dag den Keim der Unſter blich— 
keit iu ſich hat, kann nicht ſterben.“ — Dieß iſt 
die Zuverſicht des Guten, des Heiligen. Denn er hat 
nicht nur mit der Idee des ewigen Lebens den Keim der 
Unſterblichkeit in ſich: der Keim hat in ihm ſchon Bluͤ— 
then hervorgetrieben, hat in ihm ſchon Frucht ge 
bracht — das ewige Leben, (die ‚heilige Liebe des - 
Heiligen, Religion, Tugend,) iſt fchon in ihm, und wal⸗ 
let mit ihm Durch das zeitliche Leben, und über! ebet 
das zeitliche Leben — und ſtirbt nicht. 


— 134 — 


Das Gute macht den Menfchen nicht nur mit Gott 
verwandt, es ift die Freundſchaft zwifchen Gott und dem 
Menſchen felber, und die Freundfchaft ftirbt nicht. 


x 58. 


Die Michtigfeit der Lehre thut die Aufforderung ı an 
mein Herz, das 


Denkwuͤrdigſte, 


was ſich mir in dem Gefuͤhle der Unſterblichkeit noch 
aufdringt, in die offenen Gemuͤther der Hoͤrenden CRejens 
den) einzuſenken. 


Denkwuͤrdig ift ed mir 1), daß bie beften, ebelften, 
reinften Geifter unter mancherlei SHimmelsftrichen und in 
mancherlei Zeitaltern ſich nicht nur gedrungen fühlen, an 
das Ewigfeyn des Menfchengeiftes zu glauben, fondern 
auch die Unfterblichfeit aus demfelben Gefichtspunfte ans 
zufehen. ’Uniterblichfeit ift ihnen a) das Land der Klars 
‚ heit, entgegengefegt dem Lande der Dämmerung, 
b) das Land der Lauterkeit, entgegengefet dem Lande 
der Bermifchung, c) das Land der Ruhe, des Fries 
dens, der Herrlichkeit, der Vollendung — ent . . 
gegengefest dem Lande der Arbeit, des Kampfes, 
der Leiden, der Werdung Wie fehr diefe Anfchaus 
ungen ben höhern Beduͤrfniſſen der menſchlichen Natur 

antworten, darf nicht erſt geſagt werden. 


Denkwuͤrdig iſt es mir 2), daß die allgemeinſte Vor⸗ 
ſtellungsweiſe von der Unſterblichkeit, die von der Vers 
geltung iſt; welche uͤberdem auf. die Belebung und 
Erhoͤhung aller wahren Tugend maͤchtig einfließt, und 
auch dem Gerechtigkeits⸗Gefuͤhle der menſchlichen Natur 
am meiſten Ehre macht, Menfchenleben it Ausfaat 
nur — auf den großen Tag der Garben: gewiß 
"eine der Tieblichften und erhabenften Ideen, die fich * 
am ſchoͤnſten im Evangelium ausſprach! 


Denkwuͤrdig iſt es mir 3), daß unter allen Leiden, 
die das Loos des menfchlichen Lebens werden koͤnnen, ge 
vade die, welche um der. Gerechtigkeit willen ertragen 


— 155 — 


- werben, den Glauben an Unfterblicheit am: kraͤftigſten 
beleben, fo wie fie ihn nothwendig vorausjegen. 


Die‘ gedruͤckte Gerechtigkeit. kann nicht unterdrückt 
werden: Recht muß einmal Necht werden: das Licht 
wird doch noch der Nacht: den Sieg abgewinnen: Dem 
Guten kann der Triumph nicht immer ausbleiben. — — 


— — — — 


Dieſe Unſterblichkeitsgefuͤhle regen ſich nie — 
als in dem Gerechten, da, wo er eben den Kelch der 
Verfolgung trinkt, und die vergeltende Hand ihm aus 
den Wolken winken ſieht. 


Denkwuͤrdig iſt es mir 4), daß der Glaube an Gott 
und an das Ewigſeyn des Menſchengeiſtes im Grunde 
nur Ein Glaube iſt — der Glaube an den Ewig— 
lebenden — an den Ewiglebenden in Ihm, und in fei- 
nen Ebenbildern. Und der erſte Glaubensartifel 
aller Menfchheit ift auch der erſte und RR des apoſto⸗ 
liſchen Bekenntniſſes: 


Ich glaube an ein ewiges Were Gott 
iſt das Eine ewige Leben — in ſich und in Allem, 
was durch ihn ewig lebet. Alles, was ihr mir von 
Menſchenwuͤrde ruͤhmen koͤnnet, hat keinen Sinn, hat kein 
Woher und Wozu, ohne das Goͤttliche, und hat 
feinen Sinn amd hat fein Woher und Wozu — nur 
in dem Göttlichen, dad ewig ift und ewig belebt. 


Denfwürdig ift e8 mir 5), daß der Glaube an das 
Ewigſeyn des Menfchengeiftes höher Tiege, als daß ihn 
die Angriffe der Sinnlichfeit, oder die Sophifte 
reien des Raͤſonnirgeiſtes erreichen fünnen, und daß er 
von der eigentlihen Bernunft, wenn fie ihre 
Heimath kennt, keinen Einwurf zu gewarten habe. 


Die Sinnlichkeit kann nichts Statthaftes wider die 
Unſterblichkeit des Menſchengeiſtes aufbringen. Denn da 
die Sinne den Menſchengeiſt nicht einmal wahrnehmen 
können: wie follten fie über fein ewiges Seyn endurs 
theilen koͤnnen? Was ihren füß,  fauer, weich, hart, 
‚weiß, ſchwarz, angenehm, unangenehm fey, mögen fie be⸗ 


— 136 — 


richten: mas ewig fey, zu berichten, * en ſie bleiben 
laſſen. 


Der Verſtand, den wir den niedern nennen, weil 
er im Gebiete des Raumes, der Zeit urtheilet, der mag 
eben deßhalb im Gebiete des Raumes, der Zeit urthei⸗ 
len, jo gut er's verſteht; aber über das Räumliche, 
Zeitliche fih erheben, Fan er, als gebunden an die Res 


gion des Meßbaren, an die Region. des Entſtehens und 
Vergehens — nicht. 


Was die Vernunft, (wie fie jekt genommen wird, 
als Empfaͤnglichkeit, des Goͤttlichen, Ewigen bewußt 
zu werden, und auch als wirkliches Bewußtſeyn) 
betrifft: ſo kann ſie mit ihren Ahnungen das Ewige 
wenigſtens erreichen, und, als wirkliches Leben, in 
dem Ewigen daheim ſeyn. Da nun die Ewigkeit die 
Heimath aller Ahnungen und alles Lebens der Vernunft 
iſt: ſo wird ſie wohl mit ihren Ahnungen und in ihrem 
eigenſten Leben, nicht wider ihre Heimath ſelbſt angehen — 
ihr eignes Vaterland nicht, befriegen wollen, wenn fie ans 
bers weiß, was fie will. 


Denkwirdig ift e8 mir 6), daß erft durch den Glau⸗ 
ben an Gott und Unfterblichkeit des Menfchengeiftes die 
Idee der Tugend — ihre hoͤchſte Wahrheit und 
ihre hoͤch ſte Schönheit gewinne. Könnte ich bie 
Tugend malen — ich malte die Himmlifche, wie fie 
Gohnend im Heiligthume des Menfchen, 
im Innerſten deffelben) mit dem redjten Auge 
unabgewandt auffchaue zum östlichen, zum Ewigen, 
und aus dieſem ihrem Ur» Elemente Licht und Kraft 
trinke: wie fie mit dem Linken Auge auf die Welt nieder- 
fehe, und in dem finjtern. Lande — dem Gebiete ihres 
Tagwerkes, Licht und Kraft ausjtrahlen laſſe, um auch 
dieſen Schauplak ihrer Thätigkeit zum Tempel des Gött- 
lichen und Ewigen einzuweihen. 


Das Goͤttliche und Ewige — als von der 
ausſtrahlend in den Menſchengeiſt, iſt die Wahrbeit 
des Tugendhaften; das Goͤttliche und Ewige — als vers 


— UT — 


* den Menſchengeiſt, und durch ihn die Welt, iſt 
die Schoͤnheit des Tugendhaften. 


Ohne das Goͤttliche und Ewige fehlt der Tugend 
weiter nichts, ald Alles — weiter nichts, als die —— 
und Schoͤnheit. 


Denkwuͤrdig iſt es mir 7), " die hellſten Köpfe von 
jeher in dieſer Angelegenheit eine ſtille Entſchei— 
dung der Natur anerkannt, und die beſten Menſchen 
den Schluͤſſel aller Harmonie gefunden haben. Im Nas 
men der Erftern fprach Cicero, im Namen Der vepsem 
Sokrates. Sie fprechen auch bier: 


Cicero Quaest, tuso. EI. Nescio, quomodo inhaeret 
in mentibus quasi seculorum quoddam Augurium futu- 
rorum, idque in maximis ingeniis, altissimisque ani- 
mis et existit maxime, et apparet facillime.:. quo quidem 
demto, quis tam esset amens, qui semper in laboribus et 
periculis viverzt? XV. ‚Maximum vero, argumentum 
‚est, naturam ipsam de- immortalitate animorum tacitam 
judiocare, quod omnibus curae sunt, et maxime quidem, 
quae post mortem futura sint, XIV. Quod si omnium 
consensus naturae ‚vox est, omnesque, qui ubique sunt, 
consentiunt, esse aliquid, quod ad eos pertineat; qui 
vita cesserint, nobis quoque idem existimandum est, Et 
si, quorum aut ingenio aut virtute animus exeellit, eos 
arbitramur, quia natura optima sunt, cernere naturae 
vim maxime: verisimile est, cum optimus quisque poste- 
ritati maxime serviat, esse —— sl is par mortem 
sensum sit habiturus. XV. 


„Es haftet tief im unſerm Geifte eine heilige Weiſſa⸗ 
gung der Unjterblichfeit. — Und gerade in den. beſten 
und weifeften Menfchen haftet fie am fefteften und zeigt. 
fi; am fichtbarjten. Ohne diefe Weiffagung der Unfterbs 
lichkeit wuͤrde ſich wohl fchwerlich der Mann finden Taf 


fen, der Muth hähe, RR Leben in Arbeit und Gefahr 
zu opfern. | 


— 11583 — 

„Eben diefe unwiderfprechliche Theilnahme aller Mens 
ſchen an dem, was nad) dem Tode gefchehen. möge, bes 
weifet e8 am fräftigiten, daß der Geheim - Ausfpruch der 
Natur felbft, die Menfchenfeelen für unfterblich erfläre. 
Wenn nun aber die Uebereinftimmung aller Menfchen eine 
Stimme der Natur iftz wenn überall alle Menfchen das 
' fürhalten, daß. es etwas gebe, was auch die Veritorbes 
nen noch angeht: fo müfjen wir wohl auch das naͤmliche 
für wahr halten. Und, went man es den verjtindigiten 
und tugendhafteiten Menfchen zutrauen muß, ‚daß gerade 
fie die Sprache der Natur am beiten verjtehen, "weil fie 
die beiten Produfte der Natur find: fo muß man dar— 
aus, daß gerade die beften Menjchen der Nachwelt am 
meiften dienen, den Schluß machen, daß fie auch nad 
dem Tode noch ein Bewußtſeyn deijen, was ift, * 

werden.“ 


Sokrates! —— dich der Muſik und 

uͤbe ſie aus.“ 

Dieſen Befehl hoͤrte er in wiederkommenden Traͤu⸗ 
men. Er verſtand ihn auch. Denn er ſagte: „Wenn 
die Muſik in der Kunſt beſteht, das Schwache mit dem 
Starken, das Rauhe mit dem Sanften, das Unangenehme 
mit dem Angenehmen in Harmonie zu bringen: ſo kann 
gewiß keine Kunſt herrlicher und vortrefflicher ſeyn, als 
jene, die uns lehret, nicht nur unſere Gedanken und 
Handlungen unter ſich, ſondern auch die Gedanken des 
Endlichen mit den Gedanken des Unendlichen, die Ger 
danken des Erdbewohners mit den Gedanken des All 
wiſſenden in eine große und wundervolle Harmonie zu 
ſtimmen. 

„Was nun in unfere Gedanken und Handlungen eine 
Harmonie unter ihnen, und eine Harmonie mit dem Götte 
lichen bringen kann, ift nur die Ewigfeit — denn die 
Zeit ift die Mutter der fchneidenden Miplaute. „Es 
giebt keine All⸗Harmonie, außer in der Ewig— 
beit⸗ 

Denkwuͤrdig iſt es mir 8), was der Glaube an die 
Unſterblichkeit fuͤr treffende Analogien in der Natur 


und Kunft vorfinde, die ihn wecken, ftärfen, heben — 
fo lange die fränfelnde er den geianben Blick 
nicht ſtoͤrt. 


Der engliſche Biſchof Buttler hat in feiner keefffichen 
Schrift, die Spalding (nachher ein deutjcher Probft) übers 
ſetzte, dieſe Analogien ſchaͤrfer als einer gafgeraet und 
fleißiger ald einer geſammelt. 


Man wirde zu viel fagen, wenn man biefen Ana- 
logien eine demonftrative Kraft beilegte: aber man würde 
auch offenbar zu wenig fagen, wenn man Diefen Analos 


gien die Kraft abfpräche, den ſchon lebenden Ölauben 
an die Unfterblichkeit zu ſtaͤrken. 


N ad. 


Es ift ein Öefeg der Natur, daß die nd 
lichen Gefchöpfe in einer Periode auf ſolchen Stufen 
des Lebens eriftiren Fünnen, welche weit abgehen von des 
nen, die fie in einer andern Periode haben. Das Leben 
des Menfchen im Mutterfeibe, wie ift es fo verfchieden 
vom Leben des Menfchen in feinen zwanziger Jahren? 


Wenn wir alfo glauben, daß wir nach dem Tode 
des Körpers leben; wenn wir glauben, daß diefes neue 
- Leben von dem jeßigen eben fo fehr verfchieden jeyn 

werde, als der jetige Lebendzuftand von dem Lebens» 
zuftande im Mutterleibe: fo glauben wir weiter nicht, 


als wovon wir „in der Einrichtung der Natur ein Anas 
[ogon finden. _ 


Leihen wir dem Kinde im Mutterleibe das Räfonnirs 
vermögen und laffen es bei fich denken: „Bisher lebte 
ich, wie eine Pflanze im Boden der Erde — in Keibe 

meiner Mutter: nun muß ich fterben: nun werde ich aus 
meiner Wohnung in’d Grab der Welt hinausgeworfen — 


da wird fein Leben mehr für mich ſeyn.“ Wäre diefes 
Urtheil wahr ? 


Es wäre geradezu falſch — und man koͤnnte dem 
Kinde antworten: Liebes Kind, was du Tod nenneft, 
das iſt erft Anfang des rechten Lebens: was du fterben 


— 140 — 


nenneft, das iſt nur Geburt zum menfchlichen Leben. Im 
Mutterleibe hatteft du nur das Leben einer Pflanze; 
jetst wirt bu erſt das Leben eines Menfchen anfangen; 
du ftirbft nicht, du wirft erſt geboren. 


- ©» leitet mich die Analogie, dem Menfchen auf dem 
Sterbebette zu fagen: Lieber Freund! du fagelt, jet 
fterbe ih; — das ift nicht fo. Du ſtirbſt nicht, du fängft 
erit an zu Ieben. Denn, wie die Geburt des Kindes 
nicht der Tod des menfchlichen Lebens -ift, fondern das 
Ende des Pflanzen» Kebend: fo ift das, was du Tod 
nenneft, nicht das Ende des Lebend bes Geiftes, fondern 
nur das Ende des finnlichen Lebens und der rechte : An⸗ 
fang des freiern geiftigen Lebens, 


Der Tod iſt eigentlich Geburt in’s beffere Leben. 
Wie das Kind, ‘bei der Geburt, von den Banden im 
Mutterleibe gelöfet, aus dem Zuſtande der Gefangen 
fhaft in den Zuftand der Freiheit übertritt: fo kommſt 
du bei dem Ende diefes finnlichen Lebens erft in den 
Zuftand einer höhern Freiheit — in ein befjeres Leben, 


Mir haben in der Natur noch eine andere, befannte 
Analogie. Der Schmetterling, der jet in der Luft flie- 
get, war vor furzem eine Raupe — war wie todt, und 
vor dem ein träger, Friechender Wurm, Wie groß if 
nun der Abſtand zwifchen dem Leben eins Wurms 
‚und dem Leben eins Schmetterlings? Zwiſchen 
der langfamen Bewegung des Kriechens auf der Erde und 
an Blättern, und zwifchen der fchnellen Bewegung des 
Fliegens in dem’ Elemente der Iebendigen Luft? 


Wenn du nun mit deiner Weisheit dem Wurme dort, 
wo er fich eingefponnen, zugefehen und gefagt hätteft; 
„oO! num ift das Leben des Wurmes zu Ende — er ift 
geftorben auf immer;“ hätteft aber den Wurm nad) 
Monaten in der Geftalt des Schmetterlings fliegen gefe- 
hen: haͤtteſt du deine Voreiligfeit nicht bereuen und zu 
Dir fagen müffen: „du arme Weisheit — was du Tod 
nannteft, war nur Vorbereitung zum höhern Leben!“ Und, 
wenn das sam Wurme gefcjieht, was foll am Mens 


u —— 


ſchen? — — Zwar iſt das höhere Leben des Schmet—⸗ 
terlings won kurzer Dauer: aber Lieber! der Menſchen⸗ 
geift ift fein Schmetterling. Und hier ift der Punkt, 
wo Dad — gewaltig hinkt. 


> bi 


Im Zuſtande des Schlafes und im Zuftande der Oohn⸗ 
macht find die Geiftesfräfte — noch, ob fie gleich (bis 
zur finnlichen Aeußerung) nicht gebraudt werden; 
fie find da, obgleich nicht nur. der finnliche Gebrauch —* 
ſelben, ſondern auch ſogar die vollſtaͤndige Fähigkeit, 
fie zu gebrauchen, fehle. Da nun der Tod nichts iſt, 
als ein höherer Grad der Ohnmacht, und uͤbrigens mit 
dem Schlafe ſo viele treffende Aehnlichkeit hat, daß man 
ihn nur den Bruder des Schlafes nennt: ſo laͤßt mich 
das Gefühl der Analogie aunehmen, daß durch das Still⸗ 
ftehen und Auseinandertveten ber Förperlichen Theile die 
Beiftesfräfte nicht zerfiört werden, wenn gleich ihr weis 
terer Einfluß auf den feelenlofen Leib durch den Tod ges 
hoben wird. 


Man Fanıı beifeken: Gleichwie der Menſch vom 
Schlafe aufſtehen, von der Ohnmacht wieder zu ſich kom— 
men kann: ſo wird der Menſchengeiſt wohl auch aus dem 
Schlafe, der Tod heißt, aus der Ohnmacht, die Sterben 
heißt, aufſtehen — zur Wirkſamkeit wieder gelangen Fön- 
nen. Denn, wenn der Geift den Zuftand des Schlafes 
ie Ohnmacht wie zwei) aushalten kann: ſoll er nicht 
auch den Zuſtand des Todes (die Ohnmacht wie vien) 
aushalten fünnen? 


Und, wenn es Thorheit wäre, zu ſuhen Petrus Bat 
feinen Menfchengeift mehr, weil er fchläft? foll es Weis: 


+ 


heit ſeyn, zu fagen: der Menſchengeiſt iſt in Petrus 


tobt — denn fein Leib iſt es? 


a [079 


Ä Die Scehgläfer find Werkzeuge, Dinge zu fehen, 
die wir fonft nicht, oder nicht fo Klar ſehen würden; 
die Hörrohre find Werkzeuge, Dinge zu hören, die 


/ 


— 7905 — 


man ſonſt nicht oder nicht vernehmlich hoͤren wuͤrde; die 
Stäbe und Hebebaͤume find Werkzeuge, Dinge zu 
berühren, oder zu bewegen, die man unmittelbar MDR 
berühren oder bewegen koͤnnte oder wollte. 


Diefe Werkzeuge find num nicht wir, find nicht. das 
empfindende Wefen felbitz denn die Seh» und Hör- Rohre, 
Stäbe und Hebebäume legen wir weg, verjchenfen, zer⸗ 
ſchlagen, zerſtoͤren ſie, und wir ſind — — wir uͤberleben 
ſie: alſo laͤßt uns das Gefuͤhl der Analogie annehmen, 
daß wir auch die Werkzeuge, die uns die naͤchſten ſind, 
unſern Koͤrper, uͤberleben werden. 


— Ich lebe, wenn: ich gleich * Augenglas verlo⸗ 
ren habe. 

Die Sinne haben zwar den Beruf, den denfenden 
Kräften Stoff zuzuführen und zu bereiten. Aber, 
wenn fie diefen Dienft gethan haben: dann wird wohl 
der Banmeifter, der unſichtbar den Bau geführt Hat, 
fprechen fönnen: ich bedarf der Zufuhr nicht mehr. 


In diefer Ahnung — der Erhabenheit und Unabhäns 
gigfeit meines denfenden Weſens von feiner grobfinnlichen 
Hilfe fühle ich mich beftärft, wenn ich erwäge, daß ich 
die Sinne fchließen, die finnlichen Bedürfniffe befchränfen 
muͤſſe, um das Vergnügen des Nachdenkens ungeftört ger 
nießen zu können. 


In diefer Ahnung beſtaͤrket mich die Wahrnehmung, 
daß, wenn dad Alter das Feuer der. Sinnlichkeit daͤm— 
yfet, der Geiſt, ( gleichſam ewig⸗j jung) ſich leichter 
und ruhiger in dem Elemente des Wahren zu he 

ten wife 


In dieſer Ahnung beitärfet mich die ————— 
daß die toͤdtlichen Krankheiten, die daran arbeiten, den 
Koͤrper zu zerſtoͤren, dennoch in ſo vielen Gottesverehrern 
und Tugendhelden, die dem Tode gelaſſen entgegen ge— 
hen, den vernuͤnftigen Kraͤften nicht beikommen koͤnnen; 
alſo wird wohl auch der Tod, der die Huͤlle wirklich 
zerſtoͤrt, der Vernunft nicht beikommen koͤnnen. 


— 45 — 


Es fehlt nicht an Menfchen, die in den Momenten 
vor dem Hinfcheiden noch feften Charakter, noch mannhafs 
tes Vertrauen zu Gott, noch treue Güte zu ihren Vers 
wandten, noch ungeftörten Gebrauch der Vernunft blicken 
fießen: fol nun der feite Charafter, die treue Güte, die 
Kraft der Vernunft, das Vertrauen zu Gott nicht auch 
den Punkt des Hinfcheidend felbjt überleben können? 


Es kann überleben, was überlebt hat. 
E3 wird überleben, was ftärfer if. - 


x.d 


Man hat: feinen Grund, zu glauben, daß, ‚wenn: die 
Körper zerjtört werden, etwas mehr als die Hüllen, 
etwas mehr. ald die ſicht baren Formen zerſtoͤrt 
werden. 


Man hat aber Grund, — daß die un⸗ 
ſichtbaren Beſtandtheile, die Prinzipien der Koͤrper nicht 
zerſtoͤrt werden: alſo laͤßt uns die Analogie ſchon gar 
nicht dazu kommen, zu glauben, daß bei der Zerſtoͤrung 
des menſchlichen Koͤrpers ſein belebendes Prinzip, der 
Menſchengeiſt, auch mit zerſtoͤrt werden ſolle. 


e. 


Der Lauf der Welt Tiefert fir das Auge des Gots 
tesverehrers viele Denfmale einer belohnenden und 
firafenden Gerechtigfeit; Spuren einer weifen 
Regierung. Es laͤßt fich alfo erwarten, daß die Ges 
rechtigfeit, daß die göttliche Negierung nicht bei dem 
Tode de Menjchen alles unvollendet laſſen werde, 
was fie im feinem BRREREL BANG angefangen 
Er. 


Denken wir und einen gepriefenen Schaufpieler, der 
ein, allem Anfcheine nach treffliches Drama aufführt und 
zu verfichen giebt, daß er das trefflichſte Schauſpiel auf⸗ 
führen werde. Er hat die Perſonen aus allen vier Welt—⸗ 
theifen gewählt — die Rollen bereits ausgetheilt und viele 
hundert Proben halten laſſen. Nun ift der zur Auffühe 


* 


— 444 — 


rung beſtimmte Tag da; die Perſonen ſpielen trefflich; 
die Zuhoͤrer ſind lauter Erwartung; die wundervollſten 
Verknuͤpfungen geben einander gleichſam die Hand; der 
erſte, zweite Akt gehen meiſterhaft den Gang der Ber 
wicklung; die Erwartung ſteigt auf's Hoͤchſte.. Statt 
nun, daß er den dritten, alles entwickelnden Akt folgen 
ließe, kommt er am Ende des zweiten Aktes ſelbſt auf's 
Theater, ſchlaͤgt die Perſonen, die ihre Rolle fo vortreff— 
lich geſpielt haben, uͤber das Theater herunter, und macht 
ſich unſichtbar — — die Zuſchauer gehen hoͤchſt unzufrie⸗ 
den nach Hauſe — — — 

Sp wäre unſer Leber ein Schauſpiel ohne Ent—⸗ 
wickelung des Knoten, wenn ihn die Unfterblichkeit nicht 
loͤſete. | * 

Sobald wir an Unſterblichkeit glauben, dann gewinnt 
unſer Leben und Sterben und alles Leiden, das 
zwiſchen inne liegt, eine vernuͤnftige Anſicht. Dann erſt 
iſt eine vernuͤnftige Werthſchaͤtzung, ein vernünftiger Ges 
brauch des Lebend und aller zeitlichen Dinge möglich: 
Dann iſt unfer Hierſeyn eine Erziehungs - Anftale 
zum Beſſern, und als folche wohl eingerichtet, Es fehlt 
da nicht am Gelegenheiten, zu lernen, zu gehor— 
famen — es fehlt nicht an Zuchtmeiftern, an 
Shulübungen Dann iſt unfer Hierfegn ein No— 
viziat zum geifttgen- ewigen Leben, Dann tft unſer Hier⸗ 
feyn ein Exereitium militare— — und da 
darf es nicht an Strapazen . fehlen... Dann iſt unſer 


Hierfeyn eine. Kuotenverwicelung, der die vollfommenfte 


Auflöfung zum Trofte aller Guten erft noch bevorfieht. . 
Dann it unſer Hierfegn ein kurzer Abfchnitt auf der 
Bahır unferer endloſen Erijtenz, dem die Fortfegung nicht 
fehlen darf. | 
Dann ift das Ende diefes Lebens weiter nichts als 
ein: Sonderungd = Prozeß, dadurd nur die Schlade ges 
fchieden, aber nicht das Gold zerftört wird. Und, wenn 
das Gold in der Fenerprobe nur die Schlade verliert, 
umd reiner aus dem Feuer hervorgeht: fo fagt es zum 
Menfchengeifte: Zittere nicht — vor X — und 
rab: 


— 185 — 


Grab: die Schlacke des Leibes nur fällt in's 
Grab, du felber hältft die Feuerprobe aus! 


Am denfwirdigften ift fiir mich 9) die ältefte Lehre 
aller Philofophie und aller Religion: 


„daß die Menschheit, durch Suͤnde aus ihrem Urſtande 
gefallen, in das Thierfell dieſes Koͤrpers eingehuͤllet 
ward, darin ſie unzaͤhligen Leiden, Feuerproben, Laͤu⸗ 
terungen ausgeſetzt, und zur Wiederkehr in ihren 
Urſtand tuͤchtig gemacht werden fol, 


N 50. + 
Dierte Folge 
Sp gewiß mit dem Bewußtfeyn, daß Gott ift und 
die Wurzel aller Dinge ift, der vernünftigen Natur des. 
Menfchen das Gefek -gegeben ift, Gott ald Gott anzu-> 
erkennen; fo gewiß mich der Eine Vernunftinftinft noͤthi⸗ 
get, an Gott und an .das Ewigfeyn des Menfchengeis 
jtes zu glauben: fo gewiß zeiget eben diefer Glaube an 
Gott und an das Ewigfeyn des Menfchengeiftes, und vor⸗ 
züglich die Anerkennung, daß Gott das ewige Leben in 
fih und. in jedem Geiſte ift, diefe Anerkennung, fage ich, 
zeigt die Freithätigfeit des menfchlichen Willens : ' 


a) in ihrem [hönften Aktus, 

b) in ihrem hoͤchſten Berufe, 

ce). in ihrer göttlichen Abkunft, 

d) in ihrem wahrhaft ewigen Leben. 


Denn, wenn ih Gott als das ewige Leben 
wirklich anerfenne, — im Gemüthe, im Willen, im 
Leben: fo hab’ ich mich won der niedern Negion, mo 
Nothwendigkeit  herrfchet und Bergänglichkeit wohnet, in 
die höhere Region, wo das Göttliche, das Ewige daheim 
it, ipso facto erhoben, habe das Göttliche, Ewige wirf- 
lich aufgefaßt, feftgehalten, und in Gefinnung und Hand» 
lung wie im Wiederfcheine dargeftellt, habe alfo durch 
dbiefe Thatfache bewiefen, daß der menfchlide Wille 

IM. v. Sailer’s ſämmtl. Schriften. VII. Bd. 3te Aufl. 10: 


— 146 — 


das Goͤttliche, das Ewige anfaſſen, feſthalten, nachbilden 
kann. Nun aber, dieſe Anfaſſung, Feſthaltung und Nach- 
bildung des Goͤttlichen, Ewigen iſt wirklich der ſchoͤnſte 
Aktus des menſchlichen Willens, indem ſich in ihm dag 
Urfchöne felber verklaͤret. 


Der Menfch beweifet feine ee wohl aud 
dadurch, daß er 3 B. in dem Bau feines Haufe, in 
Anlegung feine® Gartens, das Ebenmaß, die Symmetrie 
und die Taugfamkeit aller Theile‘ zur Darftellung eines 
ſchoͤnen Ganzen in feinem Entwurfe und in. Ausführung 
defjelben geltend macht: aber in ihrem höchiten Berufe 
zeigt fich die Freithätigkeit des Menfchen doch nur darin, 
daß er, das Göttliche, das Ewige in ſich und in feinem 
Leben nachbildend, feine von Gott, von dem ewigen Les 
ben abgefallenen Mitgefchöpfe zu Gott, zu dem ewigen 
Leben zurückweifet. Der fchönite Aktus des menfch- 
fichen Willens ift alfo wohl auch der höchite Beruf 
deſſelben. 


Die Nachbildung des Goͤttlichen, Ewigen iſt uͤberdem 
fuͤr die Freithaͤtigkeit die Beurkundung ihres Adels, ihrer 
Abkunft. Warum weilet ſie ſo gern in dem Goͤttlichen, 
Ewigen, warum weiſet ſie ihre Nachbarn ſo kraͤftig zum 
— Ewigen zuruͤck? Offenbar muß das Goͤtt— 
liche, Ewige ihre Heimath ſeyn. Dieß zeigt auch die 
Geſchichte der Freithaͤtigkeit von ihrem erſten Erwachen 
bis zu ihrem hoͤchſten Lebenspunkte. 


Sie erwacht mit der Vernunft, mit dem Bewußt- 
ſeyn: Gott ift, die Ewigkeit ift, Gott ift das 
ewige Leben. Und, wie die Vernunft eine Dffens 
barung Gottes vorausfeget: fo ſetzet die Freithätigfeit 
gleichfam eine Elektrifi irung aus ber eg vor⸗ 
aus. 


So lange der Menſch feinen Siſten ſeinem Düntel, 
den veizenden Bildern der Zeit, dem Stoße der Natur 
dienet, beweifet er, daß er ein Sklave feiner Luft, feines 
Dünkels, ein Sklave der Zeit und der Natur if. Su 


Me 


bald er fich aber erhebt uͤber das Leibliche, ber das 
Begreifliche, tiber das Zeitliche, über die Natur zu dem 
Geiftigen, zu dem Ewigen, zu dem Uebernatürlichen, zu 
Gott — dem ewigen Leben: fo beweifet er durch Diefe 
Erhebung, daß ihn das Göttliche, das Ewige berührt hat, 
daß er in und durch Gott wahrhaftig frei iſt. 


Dieg Exercitium nobile libertatis, die 
ſes Leben. des freien. Menfchen in dem Goͤttlichen, 
Ewigen iſt denn ein wahrhaft ewiges Leben, wenig—⸗ 
ſtens eine Vorausnehmung deſſelben.. Go lange 
die Forſcher den freien Willen bloß im Irdiſchen, im 
Zeitlichen, im Natuͤrlichen ſuchten, ſo fanden ſie Erde, 
Zeit, Natur — Nothwendigkeit im Lande der Nothwen⸗ 


digkeit. x 


Aber fobald fie fich felber über Erbe, Zeit, Katır, 
Nothwendigkeit erhoben, da fühlten fie fogleich ein Wer 
hen aus den Geftlden der Ewigkeit, und fie fanden nicht 
mehr nöthig zu fragen, ob der Wille freithätig 
feyn fönne, da fie die Freithätigfeit defjelben durch 
ihre wirkliche Selbft - Erhebung über. die —— 
ſich ſelber erprobt hatten. 


„So laſſet uns denn aufſtehen von der Sklavenbank, 
und durch das Aufſtehen ſelber beweiſen, daß wir aufs 
ftiehen fonnten. So laffet ung denn das Göttliche, 
das Ewige. auffaffen, feithalten, nachbilden, und durch 
diefe Nachbildung beweifen, daß wir es nachbilden fonns 
ten. So lafjet uns denn erflimmen des Berges Spike, 
unfere Bejtimmung, und durch die Erflimmung den Ber 
weis vollenden, daß wir ihn erflimmen Fonnten!“ 


+ Anmerkung zur eilften Borlefung. 


Glauben, Hoffen und Lieben find die drei der menfchlichen 
Seele innewohnenden Sunftionen, durch welche das ewige Band, 
welches den Menfchen mit Gott verfnüpft, oder die Idee der Res 
ligion im der Wirklichkeit fich offenbart. Durch fie wird die 
Weisheit, die Tugend und die Seligkeit aller Menſchen bedingt, 

10* 


— 18 — 


und ohne fie. giebt es nichts Großes und Erhabenes, nichts Schoͤ⸗ 
nes und Edles. im menfchlichen Leben. Es ift nur fo viel Reli— 
gion im Menfchen, als Lebendigkeit des Glaubens, Feftigfeit der 
Hoffnung und £auterfeit und. Feuer der Liebe. Sn dieſen Tu— 
genden regt. und beivähret fich nicht Das vergängliche, fondern 
Das unvergängliche, nicht das irdifche und zeitliche, fondern das 
unfterbliche und ewige Leben des Menfchen. Diefen drei Tugen- 
den, durch welche das ganze Leben der Religion fich ausfpricht, 
liegt das dent Wefen des Menfchen eingebildete Sehnen nach 
dem Emwigen und Göttlichen zu Grunde, welches durch Findlichen 
Glauben und geduldige Liebe in filler Hoffnung feine Befriedi- 
gung finder. 


x Als Wurzel alles Edelſten und Beten in uns, Fann die 
Sehnfucht, wie Friedrich Schlegel (Lebensphilof. S. 158 — 160) 
behauptet, nicht hoch genug geftellt werden. Eine Stelle aus 
ihm, welche Die Wechfelwirfung des Glaubens, der Hoffnung 
und der Liebe fo. vortrefflich zeichnet, - ſchließe dieſe Vorleſung 
über die Religion, bloß vom Gefichtspunfte der menjchlichen Ber: 
nunft aus betrachtet. 


„Die dem Menfchen - -eigenthäusliche Sehnfucht bat dem 
Emigen und Göttlichen, und das daraus hervorgehende Suchen 
und Finden ‚Gottes wird nirgends, fo unnachahmlich. befchrieben 
und ſo hoch geftellt, als in der heil. Schrift h fo, ſehr, daß felbft - 
ein Prophet, ein Mann, der von Gott zu einem außerordentlichen 
Werke beſtimmt und. gefendert, und -auch mit einer. wunderbaren 
Kraft von Ihm dazu ausgerüftet, dort nur geradesu, der. Mann 
der Sehnfucht genannt wird. Gleichwohl aber. ift die Sehnfucht 
nur die Quelle, die Wurzel des Urfprungs, aus welcher jene drei: 
fache Gnadenblume in dem ſchoͤnen Symbol von Glauben, Hoff 
nung und Liebe hervorgeht, die dann in die mannigfachfien geiftis 
gen und fietlichen Früchte, durch alle Stufen und über alle Sphaͤ⸗ 
"ren des; Lebens fich auf das reichfte entfaltet. Wohl läßt man 
fich jenen Dreiflang heiliger Gedanfen und Gefühle im einer 
ernften oder geiftieichen Darftellung, als ein finnvolles Bild im 
Allgemeinen recht gerne gefallen, ohne doch allemal in die genau: 
ern Erforderniffe, in die tiefere Bedeutung gehörig einzugehen. 
Sür unfern Zweck der Lebens + Philofophie, d. h. alfo der Erkennt⸗ 
niß des Bewußtſeyns, iſt die pſychologiſche Seite des Gegenſtan⸗ 
des die vorzuͤglich wichtige und weſentlich zu beruͤckſichtigende. 
Ich will ſagen, wie das menſchliche Bewußtſeyn, welches ſouſt 


und am fich, im lauter Zwieſpalt zerriſſen, in unaufloͤsliche Gegen; 
fäße geſpalten erſcheint, durch Glauben, Hoffnung und Liebe, von 
dieſer Zweiheit errettet, aus dem angebornen Zuſtande des irrigen 
und todten Denkens, und des eben fo todten und nichtigen abſo⸗ 
luten Wollens emporgehoben und mehr und mehr in ſich verſoͤhnt 
und ausgeglichen, und harmoniſch vollendet wird. Durch ‚den 
Glauben, wenn nicht bloß das gleichgültige Wiederholen einer 
todten Gewohnheitsformel darunter verftanden wird, fondern ein 
lebendiger und perfünlicher Glaube an den lebendigen und per; 
fönlichen Gott und Erretter, tritt auch der lebendige Geift der 
Wahrheit an die Stelle, welche fonft dns bloß abfirafte Denken 
eines verkehrten Verftandes in dem ehemals todten Bewußtſeyn 
einnahbm. Wo die reine Güte und Liebe in Geduld und Aus: 
dauer die Seele des ganzen Daſeyns geworden ift, da kann von 
feinem verfteinerten, oder leidenfchaftlich wilden abfoluten Wollen 
mehr die Rede ſeyn; fondern da iſt auch im Willen alles ſchon 
geben, und zwar ein verfühntes, nicht mehr swiefpaltiges, fon: 
dern harmonifches Leben geworden. In dem Fühnen Vertrauen 
der Liebenden Seele zu Gott, in der finrfen, göttlichen Hoffnung 
fodann, die fich heldenmüthig auf das Emige gründet, ift die 
alles leitende, ordnende und fehlichtende Vernunft, und die das 
Unendliche ahnende Phantafie fchon völlig mwieder Eins geworden 
und wird Dadurch die Harmonie des Bewußtſeyns vollendet. Die 
Phantafie, fagte ich früher, ſey das eigenthümliche Merfmal und » 
die charakfteriftifche Eigenfchaft des Menfchen, im Vergleich mit - 
andern geiftigen Naturen; denn die Vernunft als ein bloß negas 
tives Vermögen, kann auch nur ein negatives Kennzeichen des 
Unterfchieds- etwa im Gegenfas mit den vernunftlofen Thieren 
abgeben. Wolftändiger umfaffend, tiefer eingreifend und sugleich, 
genauer bezeichnend, Finnen wir aber jest in der gleichen Bezie⸗ 
bung und dem gleichen Sinne ſagen: Die Hoffnung iſt das ins 
nerfie Wefen des Menfchen und die am meiften charakteriftifche 
Eigenfchaft deſſelben.“ 


„Hier in der heiligen Hoffuung ift die wunderbare See⸗ 
lenblume der Sehnfucht nun fchon zur vollen und herrlichen 
Frucht gediehen. Sicht man auf das Ziel, welches erreicht wer; 
den fol, ſtellt man fich in Gedanken neben diefes: fo erfcheint 
die Liebe als das Höchfte unter den Dreien: denn die Hoffnung 
hört auf, wo die Erfüllung eintritt, an die Stelle des Glaubens 
tritt Das Schauen; aber die Liebe bleibt ewis. Sp lange man - 


— 150 — 


aber noch nicht am Ziele iſt und noch auf dem Wege dorthin 
begriffen, muß vielmehr die Hoffnung als das Wichtigfte bes 
trachtet werden; denn fie iſt Die nährende Lebensflamme des 
Glaubens wie der Liebe und alles höhern Daſeyns. Es ift die 
heilige Hoffnung, Die innere Fruchtbarkeit und Befruchtung der 
unfterblichen Seele durch den göttlichen Geift der ewigen Wahrs 
heit und der lichte Mittelpunkt und Brennpunkt der Gnade, in 
welchen die finfter und zwiefpältig gewordne Geele wieder heil 
und mit fich felbft und mit Gott einig wird.“ 


\ 





=. 4191: — 


Zwölfte R orlefwng. 





Zweiter Abfhnitt. 
Die rag alles Chriſtenthums: gef us von 
Gott gefendet. — 


40. 
Gott iſt, Ein Gott fe 


Von dieſer Wahrheit, welche fuͤr alle Menſchen, die ih— 
res Adels bewußt werden koͤnnen, das hoͤchſte Intereſſe 
haben ſohl, und für alle Gottesverehrer hat, ward bis⸗ 
her das Nöthige dargelegt, und manches Andere be- 
rührt; nun ſoll von der zweiten Lehre: 


Jeſus von Gott gefendet, 


als von einer Wahrheit, die für alle Chriften das 
hoͤchſte Intereſſe hat, und für alle Gottesverehrer, Denen 
davon eine Kunde werben kann, haben ſoll, das Ueber- 
zeugendfte angeführt werden — — und zwar angeführt 
aus der Fülle der Ueberzeugung, die in mir Iebet, und 
angeführt nach den Beduͤrfniſſen meiner Zeitgenoffen, und 
angeführt für die müchterne Vernunft, die noch glau⸗ 
ben kann. 

Daß dieſe Wahrheit: Jeſus von Gott gefen 
det, für ung Ghriften das höchfte Sutereffe habe, fagt 
nicht mehr und nicht weniger, als: für und Ehriften, 
ald Chriften, beruht auf. der göttlichen: Sendung Chri- 
ſti die Goͤttlichkeit der ganzen übrigen Lehre Chrifti 
und feines Reiches, die Zuverläffigfeit unſeres be- 
‚ Ken Troſtes hienieden, und die Sicherheit des ewigen 
Lebens, das feinen treuen Juͤngern hinterlegt ift. 

Pan! 

Borerjt bloß e eine Erklaͤruug, die das „moͤthige Ein⸗ 
verſtaͤndniß zwiſchen dem, der uͤberzeugen will, und 
dem, welcher überzeugt werden ſoll,“ erleichtern mag: 


— 152 — 


1) Bas und wie vielfach überhaupt die Offen 
barung Gottes, und was insbefondere die Of— 
fenbarung ſey, die hier gemeint it; 

2) was ed heiße: Jeſus Ehriftus ift von Gott 
geſendet; & 

3) warum die Sendung Gefr die Fundamentat . 
lehre alles Chriſtenthums genannt werde, da doch 
die Goͤttlichkeit Jeſu Die bedeutendfte aller chrifts 
lichen Wahrheiten ſey; | 

4) was es heiße, an die göttliche Sendung Jeſu 
glauben; 


5) ob und in wiefern ed eme Glaubens- — 
geben koͤnne; 


6) was ich bei dieſer Unterſuchung vorausſebe; 


7) welche die uͤberzeugendſten Gründe für die 
göttliche Sendung Jeſu feyen, und in welcher Ord⸗ 
„nung fie dargelegt werden. 


x Was und wie vielfadh Gottes Offenbarung fey ? 


Wenn wir Chriften befennen: Chriſtus ift von Gott, 
von feinem Bater gejandt, fo befennen wir damit: die 
ewige Wahrheit — Gott hat feinen NRathfchluß, feinen 
Willen, fein Reich in und durch Chriftus Fund gethan, fo, 
daß wir die Lehre Chriſti und Gottes Wort für einerlei 
halten, Wir Ehriften glauben alfo an die Offenbarung 
Gotted in und. durch Chriftus. Da aber diefes Wort 
„Dffenbarung“ vielerlei Mißdeutungen und Miß- 
verftändniffen unterworfen ift, fo halte ich ed für noth— 
wendig, hier ein» für allemal, und zwar fo beftimmt und 
fo klar, wie möglich, anzugeben, was mir Offenbarung 
fey, und hiemit nicht nur das, was in dieſen Borlefungen 
über Offenbarung fihon zur Sprache gefommen iſt, ſon⸗ 
dern auch dag, was davon in der Darftellung des Chri⸗ 
ſtenthums noch zur Sprache kommen mag, als ein Ganz 
zes darzulegen. | 

Mir ift ſonnenklar, daf, ı wenn bie Vernunft ſich fel- 
ber begriffen hätte, ihr nicht nur der Gegenjag zwifchen 


Vernunft und Offenbarung, der für unverföhnlich gehal: 
ten ward, völlig verjchwinden, fondern auch in den verz 
ſchiedenſten Weifen der Offenbarung die Eine Offen 
barung Gottes einleuchtend werden müßte — — Eine 
Sonne mit ihren fi ieben Ausfluͤſſen. 


1) Gott, als das Eine, ewige Licht, ſtahlet noth⸗ 
wendig ein — in jedes offene Geiſtesauge. Daher, wenn 
die Menſchen von ewigen Vernunftwahrheiten ſprechen: 
fo koͤnnen fie nur (bewußt oder unbewußt) dieſe neces- 
sarias irradiationes divinae lucis, die un 
fere Vernunft zur Vernunft machen, ausfprechen. Daher 
die harmonifchen Gefühle des Wahren,. des Guten, des 
Schönen in unzähligen Menſchen, die als lauter Bernunfts 
auöfprüche oder Infpirationen des göttlichen Geiſtes ans 
gefehen werden koͤnnen. 


* Sie⸗ iſt mir die Univerſal⸗Offenbarung Gottes an alle Men⸗ 
ſchenvernunft. Wer Menjch iſt, oder beſſer, wer durch rich» 
tige Erkenntniß Gottes Menfch wird, hat die Univerſal⸗ 
Dffenbarung, die die Realität feiner Vernunft ausmacht; 
denn eben von diefer Offenbarung kommt die Wahrheit, die 
Nealität feines Erfennens her. Demnach wäre auch ſchon 
die bloße Vernunft⸗ Erkenntniß eine Art Wunder. — — 
Der Menfch fähe im Lichte — was Gott iſt. (Bol. 

1924. 33.) 

Wenn aber das meinfühliche Denken, fich allein folgend, 
Alles aus fich, und nichts aus Gott nehmen will, fo ver 
wickelt es fich felber im eine Feindfchaft twider die Univer⸗ 
fals Offenbarung Gottes, und wird atheiltifch, und eben 
deftwegen vernunftlos, unvernünftig. | 


2) Daffelbige ewige Licht hat fich aber nicht bloß auf 
diefe Weife, es hat ſich auch in befondern dazu em 
pfaͤnglichen, augerwählten Gemüthern mit be 
fonderer Lichtes> Fülle zu erkennen gegeben, wie die Ge- 
- fchichte aller Zeiten darthut, zB. in Moſes, in Elias, 
in Daniel un. f. w. Ihr Blick drang in die fernfte Zu- 
funft, ihre Zunge ſprach Gottes: Wort aus, ihre Hand 
verrichtete Thaten Gottes. In allen Völkern aller Zeiten 
waren folhe Agenten der Gottheit mit befonderer 


— 1,54 — 


Lichtes⸗Fuͤlle, die, neben dem göttlichen Lichte der allgemei⸗ 
nen Vernunft, noch befondere Einwirkungen Gottes, ſo 
wie beſondere Beſtimmungen zum Heile der — — 
halten hattem 


* Dieß ift mir eine innere, aber ‚befondere, höhere, pofitie 
Dfenbarung Gottes in: und an der Menichheit. 


5) Wie es eine innere Univerfal- Offenbarung Gottes 
in und an der Menfchenvernumnft giebt, fo giebt es eine 
Außere Univerfal-DOffenbarung. Gottes in und 
an der Natur. Denn nicht nur die Patriarchen, nicht 
nur die Propheten, nicht nur alle wahre Philoſophen als 
ler Zeiten, fordern auch jedes Fromme Gemuͤth fand und 
findet Gott in der Natur. | 


*Dieß iſt mir die Natur⸗ Offenbarung, die zwar eine dufere, 

| aber doch eine wahre if, fo wie fie eine Univerfal + Hffen: 
barung heißen kaun. Aber fie wäre unverftändlich ohne 
jene Yniverfals Offenbarung in und ander Menſchen— 
vernunft. Die Natur weifer nur gleichfam die Fußtritte, 

‚die Vernunft (als das Vernehmen des göttlichen Wortes in 

uns) dolmetſchet dieſe Fußtritte. 


a), Neben dieſer Außern Univerfal » Offenbarung Got⸗ 
tes in und an der Natur kann es noch eine befondere 
in und an der Natur durch ungewöhnliche, außerordent- 
liche Erfcheinungen in der Natur geben; z. B. durch Erz 
weckung eines Todten, kurz: durch Wundertbaten, die jene 
Agenten, der Gottheit unſtreitig verrichtet haben. 

*Dieß ift mir eine dußere, aber befoudere, böpere Dis 
fenbarung in uud an der Natur. 


5) In ber Fülle der Zeit hat: fih Gott als das 
Eine, ewige Licht in hoͤchſter Fuͤlle offenbaret in und durch 
den Meihfer * Jeſus Ehrifins. 


Wenn die Propheten einzelne, befondere Kanäle des 
eihies an die Menſchen waren: ſo iſt Chriſtus nicht et⸗ 
wa ein Kanal, er iſt die Quelle des Lichtes ſelbſt, 
und iſt fie an und für die verfinſterte —— — die 
Fuͤlle, aus der die Andern nahmen. 


* 


ei; BBE: 


* Und dieß iſt mir die hoͤchſt e pofitive Dffenbarung Got 
. tes. in der Zeit, die Erſcheinung des Theauthropos, des Gott⸗ 
menfchen. 


6) Die hoͤchſte off itive — Goites in und 
durch Chriſtus wird durch den Geiſt Chriſti in der Kir⸗ 
che Gottes fortgeſetzt, und im jedem‘ offenen Herzen 
gleichſam reproducirt. „Der Geiſt Chriſti erleuchtet, ents 
zündet, beſeliget das Gemuͤth des einzelnen Menſchen, und 
regiert den ganzen Leib Chriſti, ſeine Kirche, 


* Dieß ift die Offenbarung des Geiftes € hriſti im Menfchen. 


7) Nicht nur in jenen ı befondern Agenten Gottes, 
nicht nur in Chriſtus, nicht nur in der Kirche Ehrifti, fon 
dern auch in der ganzen Weltgeſchichte, ſo wie in einzel⸗ 
nen Begebenheiten und Schickſalen einzelner Menſchen vf⸗ 
fenbaret ſich die ewige Wahrheit, Gerechtigkeit, 
Guͤte, Weisheit, Schönheit — Gott, fo, daß 
man die ganze Meltgefchichte in ‚dem Sinne eine heilige 
Gefchichte nennen Tann. 


* Dieß mag Dffenbarung Gottes in der Weltgefchichte 
heißen. 


8) Don diefen Offenbarungen Gottes in dem. hiefigen 
Leben der jegigen Menfchheit unterfcheiden fich noch zwei 
andere, deren die erjte zu dem Urjtande der Menſch— 
heit, die zweite zu der ewigen Heimath der Heili⸗ 
gen gehoͤrt. 

9) Alle dieſe bisher genannten Offenbarungen Gottes 
an der Vernunft, an der Natur, durch beſondere Agen— 
ten, durch Chriftus, durch den Geiſt Chriſti, durch die 
Weltgeſchichte, in dem Urſtande und in der Heimath der 
Seligen, vereinigen ſi ſich in der Einen Offenbarung 
Gottes, in dem ewigen Logos, der das eigentliche 
Wort, der eigentliche Sprecher, der eigentliche Offen- 


barer der verborgenen Gottheit 4 fr war und feyn 
wird, 


10) Bon allen diefen — unterfcheidet fich 
der fchriftliche Beleg der Dffenbarungen, die ſchon ge— 
ſchehen find, und: die schriftliche Verficherung jener, die 


— 156 — 


noch geſchehen werden. Dieſer Beleg des Geſchehenen, und 
dieſe Verſicherung des Werdenden, iſt die heilige Schrift, 
die man nicht mit den. genannten Offenbarungen vermen⸗ 
gen darf, ob man gleich nicht widerfprechen kann, daß 
Gottes Wort darin aufgezeichnet ft, und dem anbetenden 
Gemuͤthe des Leſers die ewige Liebe, Eräftig offenbaret, 


11) Diefen Betrachtungen zufolge ift es Hat, daß in 
der alten Fehde zwiſchen Vernunft und Offenbarung 


mancherlei Unbeſtimmtheiten, 
mancherlei Mißverſtaͤndniſſe, 
mancherlei Fehlgriffe obwalten muͤſſen. 


Der bedeutendſte Fehlgriff mochte wohl der ſeyn, daß 
die meiſten Apologeten der Vernunft nicht zu wiſſen ſchei⸗ 
nen, daß. eine von der Univerſal— Offenbarung 
Gottes unabhängige Vernunft ein leeres Wort 
f e9, jo wie ein: fehendes Auge ohne Licht. - Faft einen 
ähnlichen Fehlgriff begehen manche, Apologeten ber pofitis 
ven Dffenbarungen, indem fie jene Univerfal- Offenbarung 
Gottes an der Vernunft und an der Natur uige genug 
zu wuͤrdigen ſcheinen. 


12) Daß dieſe Betrachtungen in ſich und in ihren 
Reſultaten aͤußerſt wichtig ſeyen, bedarf keiner beſon⸗ 
dern Eroͤrterung. Ich faſſe ſie kurz ſo: 

Gott iſt lauter Leben, 

das Leben iſt lauter Liebe, 

die Liebe iſt ein lauteres Selbftoffenbaren.- 


Das Eine Selbftoffenbaren iſt ſiebenfach: iſt die 
Eine, ewige Liebe, die ſich offenbaret: 


1) im dem Urſtande ber Deniapei und aller Dinge 
(Ur: Offenbarung); ; 


2) an: jeder Menfchenvernunft und an der ganzen Nas 
tur (Univerfal: Offenbarung an der Vernunft, Unis 
verfal- Offenbarung an der Natur); 


| 3) durch Weiffagungen, Wunder ꝛc. befonderer Agens 
ten Chöhere, * itive Offenbarung); 


Me 


4) in und Durch Chriſtus (die hoͤchſte, poſitive, die 
eigentliche chriftlihe Offenbarung); 


5) durch den Geift Chrifti in der ganzen Kirche und 
‚in allen einzelnen gottfeligen Menfchen (die Offen⸗ 
barung des Geiſtes); 


6) in dem Ganzen der Weltgeſchichte, a in den aus⸗ 


gezeichneten Schickſalen der Einzelnen — IE 
barung); 


7) in dem Stande ber. Wiedergeburt der Dinge, in 
dem Reftitutionsftande (die vollendete Offenbarung). 


Bon allen diefen fieben Ausfläffen der Einen Sonne 
finden fih Spuren, Beweife, Belege in den fchriftlichen 
Urkunden der Chriften und in der Tradition aller Völker. 


Anmerf. Tiefſinnige Gedanken über die dee der göttlichen 
HDffenbarung enthält das geiſtreiche, zu weuig gekannte 
Werk: „die heilige Kunſt, von Alois Guͤgler⸗ (Luzern bei 
Joh. Martin Anich). Im zweiten Bande des genannten 
Werkes ©. 129 fagt Gügler über das Verhältnig zwiſchen 
Religion und Dffenbarung: „Keine Offenbarung ift ohne 
Religion, noch if eine Religion ohne Offenbarung ; „jeder 
diefer Begriffe fehließe den andern nothwendig ein, und 
darin liegt der Grund, warum man im täglichen Sprach 
gebrauch fo häufig eines für-das andere fegen hört. Doch 
muß die Wiffenfchaft beide Begriffe genau fondern, went - 
fie nicht, wie es fo vielen ergangen ift, und täglich ergeht, 
Gefahr laufen will, entweder Leicht. in einen todten Objekti⸗ 
vismus, oder in einem leeren Subjeftivismus ausjugleiten, 
worin ihr das lebendige Ganze verloren geht. Die bloßen 
Dpgmatiften fehen zu gerne von der nothiwendigen Zuthat 
des Wefens, dem die Offenbarung zu Theil wird, weg, fo 
fie gegentheils die ſogenannten Aufgeflärten Alles in eine 
bloße Wirkfamfeit des religisfen Weſens verwandeln moͤch⸗ 
ten, wodurch der Offenbarung ohne weiters aller göttliche 
Halt und alle Wahrheit ausgienge. Heißt das wicht, fie zu 
einem Werk der Täufchung und Lüge entfialten, mit wels 
chen Worten man denn auch diefes Unterfangen überhüllen 

- möchte? Die Religion im Ganzen begreift in fich ſowohl 
den göttlichen, Fichten und mit dem Bewußtſeyn des Wes 


— 158 — 


fens, an dem dieſer Einfluß vorgeht, begleiteten Einfluß, 
der als äußerer Endpunkt in der Offenbarungslinie erfcheint, 
als auch die freie und harmonifche Ruͤckwirkung des Ges 
fchöpfes auf Diefen Einfluß und mit ihm. Es laͤßt fich- for 
mit in dem bewußten Wefen eine objektive und nothwen⸗ 
dige, und eine fubjektive oder freie Religion unterfcheiden, 
deren erſtere jedoch nicht außer das einzelne Wefen, noch 
deren lestere außer Gott und den Einfluß Gottes gefegt 
werden darf, natürlich, fofern beiden der Begriff Religion 
zukommt. 


Was es heiße: Jeſus ift von Gott gefandt? 


Diefe Frage ift nun durch die vorangegangene nähere 
Beſtimmung der Dffenbarungen Gottes ſchon mit gelöjet. 
Jeſus von Gott gefandt, heißt: 


Was Jeſus vor mehr als fiebenzehn hundert Jah— 
ren im jüdifchen Lande als Gottes Wort, und alg 
Gottes Wort von den ewigen Angelegenheiten. 
der Menſchheit lehrte, ift wirklich Gottes Wort 
von den ewigen Angelegenheiten der Menſchheit; was 
Sefug als Gottes Wort ausſprach, das nahm er nicht 
aus bioßer Eingebung des eignen Kopfes, nicht aus bios 
ßem Unterrichte menfchlicher Lehrer, nicht aus bloß menfch- 
licher Einficht in die heiligen Bücher der Sfraeliten, ſou⸗ 
dern aus unmittelbarer Offenbarung Gottes, den er in 
eminentefter Bedeutung feinen Vater nannte, der ihn aud) 
zu dem hohen Berufe, das Leben der Welt zu ſeyn, in 
die Welt gefandt, deſſen eigentliches Wort, deffen eigeut- 
lichen Willen er, als der Sprecher feines Vaters (als 
Logos), den Menſchen verkuͤndet hat. 


— 


Warum Die göttliche Sendung Jeſu die Fundamentallehre 
des Chriſtenthums genannt werde, und nicht EITWEDE 
die Göttlichkeit Jeſu? 


Wer an die Lehrſaͤtze: die Gottheit ift in dem 
Menſchen Jeſus erſchienen, Jeſus ift der wahre 
eingeborne Sohn Gottes, glaubt, der glaubt. an 

fie, weil Chriftus ſich felbft für den wahren, eingebornen 


Sohn ded Vaters bekannt hat. Er hält alſo auch dieß 
Wort Jeſu für Gottes Wort. Die Ueberzeugung, Je⸗ 
ſus iſt von Gott geſandt, gehet alſo in dem Gange 
des menſchlichen Erkennens als eine frühere der Ueber— 
zeugung: Jeſus iſt der wahre, eingeborne Sohn . 
Gottes, voram Und nur in dieſer divaftifchen Ans 
ficht wird die göttlihe Sendung Jeſu ald Fundas 
mentallehre des Chriſtenthums angegeben, Die Lehre von 
der Goͤttlichkeit Jeſu iſt uͤbrigens eine. durchaus gewiffe 
und höchft bedeutende Lehre des Evangeliums, die ich mit 
allen Chriſten von ganzem Herzen bekenne. Dieß zur Be⸗ 
ruhigung einiger frommer Gemuͤther, die ſich in dieſe Lehr⸗ 
weiſe nicht gleich zu finden wußten. 


Anmerk. Es ift hier zu unterfcheiden, die ratio cognoscendi 
von der.ratio essendi, um einen in der Schule gewöhnlichen 
Ausdruck zu gebrauchen. Erſt unter der Vorausſetzung, daß 
Sefus von Gott an die Menfchheit gefendet worden fen, 
haben die Worte Jeſu eine göttliche, und deßwegen durch— 
aus untwiderfprechliche Autorität. Aus den Worten Jeſu 

aber wird feine Gottheit und Menfchheit ertwiefen, und der 
Gottmenſch if Grundlage der ganzen chriftlichen Religion 
als folcher. Ein anderes ift alfo der fubjeftive Grund 
der Erfenneniß, ein anderes der objektive Grund des 
Seyns der chriftlichen Religion und aller ihrer Wahrheiten. 


Was es heiße, an die goͤttliche Sendung Jeſu glauben? 


Glaube an die goͤttliche Sendung Jeſu iſt mir die 
vernünftige (d. i. den Geſetzen der Vernunft gemaͤße), 
alles Schwanken Ausſchließen de Anerkennung, 
daß Jeſus wirklich von Gott geſandt worden; daß er 
Gottes Wort an die Meuſchheit gebracht hat. 


Der Glaube an die Sendung Jeſu heißt ein goͤtt— 
licher Glaube, und zwar göttlih nad Urfprung, 
in wiefern er nicht ohne den Geift Gottes in der Bere 
nunft, im Willen und im Gemüthe des Menfchen bewirkt 
werden ‚Fonnte, und dann auch gottlih nah Wirk 
famfeit, in fofern aus ihm, als einen Samenforne deg 
ewigen Lebens, das ewige Leben wirklich hervorwaͤchst. 


— 160 — 


Der Glaube heißt ein menſchlicher, in ſofern auf⸗ 
merkſames Hoͤren, parteiloſes Forſchen, Willenstreue und 
paſſende Stimmung des Gemuͤthes zur Anerkennung der 
goͤttlichen Sendung Jeſu mitwirken. 


Da alles Seyn gegeben, d. i. Gabe Gottes iſt, ſo 
wird auch der bloß menſchliche Glaube als Gabe an— 
geſehen werden muͤſſen. Allein der Glaube, den ich den 
eigentlich göttlichen, nad Urſprung und Wirkſamkeit, 
nannte, it Gabe Gottes im amsnehmenden Sinne; 
die laͤßt fich in Schulen nicht lehren, die Fann Fein Menfch 
geben. Selbſt auch der bloß menfchliche Glaube kann 
durch Unterricht nicht gegeben werben, aber er kann doch 
durch Worte und Beifpiele veranlaffet, gewedet, gejtärfet 
werden, und von Diefem nur kann jetzt hier die Rede ſeyn. 


\ 


“1 a wiefern e3 eine Glaubens: «Pflicht gebe? 


Mer zur Vernunft gekommen, wer ein Menfch gewors 
den ift, alſo an fein Gewifjen und an Gott glaubt, 
und überdem von einer befondern pofitiven Offen 
barung Gottes au die Menfchen, etwa von der durch 
Chriſtus, Nachricht befommt, dem ift mit der erhaltenen 
Kunde zugleich das Geſetz gegeben, erſtens: zu unter- 
ſuchen, ob dieſe Nachricht gegründet, ob die That: 
fache und der Sinn der Offenbarung gewiß und für die 
Menfchheit interefjant ſey; er it alſo auch verpflich- 
tet, alle Traͤgheit zu überwinden, die ihn etwa in der ı 
Unterfuchung hinderte, und alle Parteilichfeit bei der 
Unterfuchung zu verläugnen, d. i. fo zu unterfüchen, wie 
die wichtigfte Angelegenheit der Menschheit unterfucht wer- 
den foll. Es ift ihm zweitens: das Gefeß gegeben, bei 
einleuchtender Gewißheit, daß die Thatfache, der Sinn 
und das Suterefje der Offenbarung für unfer Gefchlecht 
entfchieden fey, die Offenbarung als wahr anzunehmen ; 
er ift alſo verpflichtet, allen Stolz und jede andere Leis 
denfchaft, die die Anerkennung ber — hemmte, 
zu befiegen. 

Diefes zweifache Soll ift eine Pflicht be Ges 
wiſſ en⸗ und dieſe Pflicht iſt mir die eigentliche er 

en‘ 


— 161 — 


bens⸗ pflicht, die Pic des — Glau⸗ 
bens. 


Per die erffere pfliht der genauen parteiloſen Unter 
fuchung bezweifeln wollte, der müßte entweder die ſchimpf⸗ 
liche, entehrende Gfleichgültigfeit gegen das, was ſich als 
die bedeutendfte Wahrheit, als der heikfige Wille 
Gottes, ald die hoͤchſte Önade des Himmels 
anfiindigte, over die tollkuͤhne Zuruͤckſtoßung des wichtige 
ften Angebotes vor aller Unterfuchung, ‚oder endlich 'die 
ſchaͤndlichſte Parteilichkeit in der Unterſuchung ſelber, vor 
ſeinem eignen Richterſtuhle vertheidigen koͤnnen, und das 
hieße im Grunde allen Sinn fuͤr Wahr und Gut 
heben. 


Wer die zweite Pflicht, Vernunft und Gemuͤth der 
einleuchtenden Wahrheit hinzugeben, und fi e unbedingt 
herrfchen zu laſſen, bezweifeln wollte, der müßte fich wie: 
der au der Heiligfeit feines eignen Gewiſſens, und 
an der Majeftät feines durch das Gewiſſen fisrechen- 
den Gottes verfündigen. „Was fih als Gottes 
Wort an die Menfhheit erweifet, muß als 
Gottes Wort anerfaunt werden von Jedem, 
der das Wort Gottes vernehmen und den Er 
weis des Goͤttlichen fühlen kann.” Wider dieſen 
Grundſatz kann ſchlechterdings Feine Vernunft excipiren, 
ohne fü ich felber aufzuheben. h 


Im Grunde gebeut die Glaubenspflicht nichts anders, 
ald: Heilig, o Menfch! fey»dir die Wahrheit, 
wie Gott felber. Frage ihr nah — mit der 
Eiferfucht eines Freundes, und ruhe nicht, big 
du fie gefunden haft. Und, wenn fie dir begegnet, 
fo falle nieder, und beteran, und ergieb ihrer 
Herrihaft dich ganz; fie fey das Licht deiner 
Vernunft, fie das Leben deines Willens, fie 
die Flamme deines Gemäthes, fie die Seele 
Deiner Seele! 


Das heißt glauben: „dem einftrahlenden Lichte der 
Wahrheit ſich nicht entziehen, fondern ihm fich hingeben, 
ſich ganz hingeben, und fich Laffen auf immer.‘ 

FM, v. Saiter’s ſämmtl. Schriften, VIII. Bd, Zte Aufl. 11 


— 162 — 


Ju unfern Tagen fpotten manche Riefen der Zeit, des 
Glaubens und der Slaubens-Pflichtz denn da 
fie nur an die Wahrheit glauben — die fie felber, wahr: 
haftig, aus Nichts erfchaffen haben: fo fönnen fie an 
feine Wahrheit mehr glauben, die nicht das Werf ihrer 
Hände wäre. Das erſte Opfer, das am Fuße des Als 
tars — der Wahrheit  gefchlachtet werden muß, ift die 
Anmaßung, der Schöpfer des Wahren zu ſeyn. 
Mer nicht abhängig feyn will von etwas, das mehr -ift, 
als er felber, der muß fich felbft feine ganze Wahrheit, 
fein Himmel, fein Gott — fein Alles ſeyn! und da iſt 
‚offenbar die Wahrheit und der Himmel und ber 
Gott des Menfchen fo armfelig, wie er jelber. 


Ich rede zu denen, Die feine Niefen find, die ihre 
Größe in der demüthigen Anerkennung des eignen Gerings 
ſeyns feßen, und gern an etwas Beſſeres, Höheres und 
Seligeres glauben, als fie felber find. 

f * * 

Der menſchliche Glaube an die göttliche Sendung 
Jeſu kann hiftorifch heißen, in fofern er auf dem Ger 
wichte der Thatfachen beruht; philo ſo phiſch, in fofern 
ihn das tiefere Nachforfchen in einem empfänglichen Ge— 
müthe erzeüget; hiſtoriſch-philoſophiſch, eigentlich 
theologiſch, in ſofern in ihm die Ideen der Vernunft 
und die Thatfachen der Geſchichte in Eins zuſammenfallen. 


In den Tagen des Denkens iſt der Glaube entweder 
ein dienender, oder ein gebietender; ein diene n— 
der, in ſofern ihn das ohne ihn geſchloſſene Syſtem des 
reellen oder eingebildeten Wiſſens noch ſo mit hin 
fommen läßt; gebietend, in ſofern er das Syſtem nad) 
ſich bildet, wenigitens die Syftemsfucht bändiget. Daß 
die zarten Glieder des dienenden Ölaubens im Ge⸗ 
draͤnge der Aufklaͤrung gar ſehr .. oft auch ger 
quesichet werden, lehrt die Erfahrung. . 


Ich will hier bloß das tiefere Western tiber 
die Thatfachen des Shriftenthbums zu wecen, zu leiten, 
und * in den Vorhof des Bags einzuführen fürs 





— 165 — 


chen; von dieſem Vorhofe mag ben Glaubwilligen ein 
befferer Lehrer in das Heiligthum einleiten! 


Welches die nöthigen Vorausſetzungen bei dieſer Unter 
fuhung ſeyen? 


Ich fee mit allen Gottesverehrern voraus: Es ift Ein 
Gott, und der Eine Gott ift aud) das Eine ewige Les 
ben in ſich und aus ſich, in fih und in allen Kindern 
feines Geiftes. ig 

Ich feße mit. allen Chriften voraus: daß Das neue 
‚Zeftament ald der vornehmfte Beleg defjen, was ih. 
nen Chriftenthum heiße, angefehen werden koͤnne und muͤſſe. 


ch feße mit allen nüchternen Menfchen voraus: daß 
die Schriften des neuen Teftamentes das Gepräge hiftoris 
foher Glaubwirdigfeit haben. 


Man kann fich über den Sinn vieler Schriftftellen 
entzweien, aber daran wird feine nüchterne Vernunft fo 
leicht zweifeln Fünnen, daß die efchichtfchreiber Jeſu und 
feiner Zünger ehrlihe Männer waren, die redlich bes 
zeugten, was fie Klar gehört und gefehen hatten, und daß 
diefe Zeugnif fe in der Hauptſache unverfälfcht auf 
ung gefommen feyen. 

„So dichtet Niemand”: dieſes iſt von Chriften . 
und befcheidenen Nichtchriften fo zuverläffl g — wor⸗ 
den, daß ich es kuͤhn vorausſetzen darf. 


*Kleuker hat, in unſern Tagen, mit beſonderm Scharf⸗ 
ſinne dieſe Glaubwürdigkeit neu gepruͤfet. In feiner auss 
führlihen Unterfuhung der Gründe für die Eds 
beit und Glaubwürdigfeit der ſchriftlichen Ur 
Funden des Chriſtenthums ift befonders der Beweis 
der Echtheit diefer Schriften aus. den innern 
Merkmalen derfelben originell, und ich darf meine Lefer 

mit gutem Bewußtſeyn darauf verweifen. 


Auch ſeine Theorie von dem, was zu einem Beweiſe 
von der Echtheit der Schriften aus innern Merk 
malen erforderlich fen, verdient tiefere- Erwägung. Den 


höchften et drückt er fo aus: Eine Schrift f 
— 


— 104 — 


echt, ‚welche nicht nur den negativen Bedingungen Fritifcher 
Möglichfeit. Genüge leitet, fondern auch »ofitive und ent 
feheidende Merkmale der Unnachahntlichkeit an fich trägt. 
-Daraus leiter er drei andere Grundfäse ab: I. Jede Schrift 
iſt echt, deren ſpecifiſcher Gehalt, noch mehr aber, deren 
eigenthümliche Behandlungsart ſich nur unter der Voraus: 
fegung denken läßt, daß ihr Verfaffer in der Zeit, mworin 
er. gelebt haben fol, wirklich gelebt hat, und ein folcher 
Mann geweſen if, für den er ausgegeben wird. IL Jede 
Schrift iſt echt, deren Formelles fich nur unter der Voraus: 
fegung erklären läßt, daß ihr Verfaſſer eine äußere Wahr⸗ 
heit zum Gegenflande, umd eine innere Wahrhaftigkeit zum 
Grunde gehabt hat. ITIE. Jedes Werk der Wahrheit hat 
Merkmale, die nur der Wahrheit eigen find, fo wie fich je 
des Werk des abfichtlichen Betruges burch eigne Kennzei⸗ 
chen verraͤth. 


Dieſe Grundſaͤtze wendet er auf die Schriften des neuen 
Zeftamentes an, und Löfet die drei Fragen: ı) ob fie nichts 
‚enthalten, deffentwegen fie wicht echt feyn Eönnten? 2) ob 
fie etwas enthalten, woraus man ficher fchließen Fanı, 
daß fie echt find? 3) ob fie etwas enthalten, woraus einz 

leuchtet daß ſie echt ſeyn muͤſ ſen? 


Ich ſetze mit allen parteiloſen Freunden der Wahr⸗ 
heit voraus: daß die Menſchen, welche die Beweisgruͤnde 
für. das Chriſtenthum faffen und gewichtig finden 
follen, a) felbit überzeugt feyn wollen: ‚denn die Nicht 
wollenden können nicht überzeugt werden; b) daß fie Ehr⸗ 
furcht vor Gott haben, und die Wahrheit lieben: denn 
wer Gott nicht ehret und die Wahrheit nicht Tiebet, wird 
immer etwas einzuwenden haben; c) daß fie feine ars 
dern Beweiſe fordern, als folche, die eine nüchterne Vers 
nunft zum Geftändniffe vermögen koͤnnen: „der Glaube 
‚an die höhere Sendung Jeſu iſt hoͤchſt vernünftig ;”” d) daß. 
fie von Menfchen nicht fordern, was nur Gott geben 
kann — göttliche Glaubenskraft; e) daß fie die genannte 
Glaubens + Pflicht anerkennen, alfo auch, daß fie von 
dem Zeitgeijte, der das Pofitive fo leicht. wegwirft, 
als eine ältere Kleivertracht bei eintretender neuer, noch 
nicht fo weit verfchnupft find, daß fie Lieber mir den 


/ 


— 165 — 


Scherien; in Schriften und Gaͤſthauſen ſchreien, als mit 
den ſuillen Unterſuchern unterſuchen wollen. 


Inhalt und Ordnung der ———— — die götts 
liche Sendung Jefu 


Ein neuer Apologet fagt fehr witig: Man hätte 
nicht beweifen follen, daß die Lehre Chriſti trefflich fey, 
weil fie von Gott Eomme, fondern daß fie von Gott 
fomme, weil fie trefffich fey. Il fallait ne pas prou- 
ver, que le Christianisme est excellent, parce- 
qu’il vient de Dieu, mais qu’il vient de Dieu, 
parcequlil est excellent. ‚Chateaubriand. 


Genau betrachtet, Fat man wohl beides ta, und 
hat es wohl auch ‚feit jeher gethan. Man hat ja zu als 
‚ Ten Zeiten jeit der Erfcheinung Shrifti, bald die innere 
Wirde der Lehre Ehrifti hervorgezögen, um den Uns 
gläubigen an ihre Göttlichkett vorerſt glaubmillig, 
bald die äußern Gründe ihrer Goͤttlichkeit, um ſie ſelbſt 
glanbwirbig zu mächen. | 


Meine Zeit nöthiget mich aber, nicht nur die eihen, 
ſondern dieſe und uam ganz andere Unterfcheidungen zu 
| machen. | | 


Ich unterſcheide ——— 


erſtens: die innern Gruͤnde, die naͤmlich in der 
Lehre, in dem Leben, und in den Schickſalen 
Jeſu liegen, und die offenbar für alle Zeiten ges 
wichtig find; 


zweitens: bie aͤußern Gründe, die ei die ger 
ten Jeſu offenbar erweifend waren; ' 


drittens: Die Gruͤnde, die fuͤr unſth Zeitalter noch 
gültig find; 


viertens: die Gründe, die fir ein Zeitalter noch, ges 
wichtig find, ‚das, aller poſitiven ANISmER MER en t⸗ 
behren zu koͤnnen glaubt; 


} — 166 — 

fuͤnftens: bie Gründe, die in fhon glaubenden Men- 
fhen das Glaubensgefühl ftärfen, und in den 
Nichtglaubenden das Nachdenken wecden koͤnnen. 


Nach Ddiefen Unterfcheidungen werden fich die Erfennts 
niß- runde für die höhere Sendung Jeſu in folgenden 
fünf Sägen wohl am beften ausfprechen laſſen. 


Verfier Sag. 


Jeſus ift in jeder Betrachtung hoͤchſt wär 
dig, als Gefandter Gottes angenommen zu 
werden. 


* Diefer Sag full die nuͤchterne Vernunft glaubwillig machen, 
und fagt nur die innere Möglichkeit der Sendung Jefu aus. 
Hier werden alfo eigentlich nur die innern Merkmale 
der Goͤttlichkeit Sefu, die im der Lehre, dem Leben uud 
den Schickfalen Jeſu liegen, genannt. 


»3mweiter Saß. 


Jeſus hat feine Sendung vor feinen Zeit 
genoffen, vor feinem Volke wirklich und guͤl— 
tig bewiefen. 

* Diefer Satz behauptet, daß die nüchterne Vernunft der Zeit 
genoffen Jeſu gültige Gründe haben konnte, ihn für einen 
göttlichen Gefandten zu halten, — und wenn er bewwiefen ift, 


fo zeigt er die Glaubwürdigfeit der —5 Sendung 
Sefu überhaupt. 


KDrfitee, Sak. 


Die göttlide Sendung Zefu iſt auch heut 
zu Tage noch für die nühterne Vernunft uns 
ferer Zeitgenoffen glaubwürdig. 


* Diefer Sat, gültig ertwiefen, zeiget, daß unfer Glaube an die 
göttliche Sendung Jeſu vernünftig fey. 


4 Vierter Saß. 


Der Glaube an die göttlihe Sendung tft 
gerade in der Zeit, in welcher die menſchliche 


— 467 * 


Vernunft wirklich am aufgehellteſten iſt, oder 
wenigſtens es zu ſeyn glaubt, in einer Zeit, 
wo die Fortſchritte des menſchlichen Denkens 
in allen Wiſſenſchaften am meiſten bewundert 
werden, das groͤßte Beduͤrfniß des menſch— 
lichen Geſchlechtes — fuͤr die mehr Gebildeten, 
fuͤr die weniger Gebildeten und fuͤr die 
ſchen inne ſtehenden Köpfe. 


* Diefer Satz, eriviefen, zeigt, daß, wer das Ehriftenthum ge⸗ 
ring ſchaͤtzet, oder gar verachter, nicht wiſſe, was er thue, 
und dem wahren Intereſſe des RN Geſchlechtes 
entgegenarbeite. 


— J——— Sir 


Die göttlihe Sendung Jeſu beweifet fi 
an denen, die an ihn glauben umd nach feiner 
Lehre leben, anf eine eigene und originelle 
Weife als Wahrheit. 


* Diefer Sag ift der eigentliche Beweis aus der innerm Kraft 
des Chriftenthums, "und beziehet fich auf die u 
Feit des Chriſtenthums. 


Der erfte Sak bereitet nur vor, und fimmet dag 
Gemüth zum Glauben; der zweite zeiget die Wahrheit 
der göttlichen Sendung Zefu für die Zeiten Jeſu; der 
dritte unterfuchet die Wahrheit der göttlichen Sendung 
Jeſu für ung; ver vierte beftimmt die Wahrheit der goͤtt⸗ 

lichen Sendung für die Zeit, die derfelben am meiften ent: 
behren zu koͤnnen glaubt; der fünfte flärft den Glauben 
an die göttliche Sendung Jeſu da, wo er fehon: ift. 


Der und die Wahrheit vom Himmel brachte, öffne 
du den Sinn mir und meinen Zuhörern, daß wir dich 
erfennen, und Den, der dich gefandt hat! 


Denn die ift, wie du einft lehrteſt, das ewige 
Leben, dich erkennen, und Den, der dich geſandt 
hat, den allein wahren Gott. 





— 


— 
* 
* 
Br" 


4 


— 168 — 


Dreizehnte Vorleſung. 


Ausführliche Darftellung des Gates: 


Jeſus iſt in jeder Betrachtung höchſt wärdig, 
als ein göttlicher Geſandter von den Men— 
ſchen anerfannt zu werden, 


8 zur 42. f 
Pr ‘ 


Die endliche Vernunft ift zwar unvermögend, die Un— 
endliche auszimeffen. Sie hat aber doch in fich. ein 
Speal des Gdttlihen, des Gotteswuͤrdigen, 
eben deßwegen, weil fie die Idee des Göttlichen in fich 
hat, und dadurch, daß fie dDiefe Idee in fich hat, und 


zum Bewußtfeyn diefer dee gekommen tft, eigents 


liche Vernunft, eigentliches — des Wahren ges 
worden iſt. 


| Dieſes Ideal laͤßt ſich in Worte bringen: 
Was immer von Gott unmittelbar abſtammen ſoll, 


muß fo hell ſeyn, daß es von der Urquelle alles Lich- 


te8; fo rein, daß es von der Urquelle alles Heiligen; 
fo milde, daß es von der Urquelle alles Schönen und 
aller Liebe; jo macht voll, daß es von der Urquelle 
alles Lebens; fo harmonifch, daß es von der Urquelle 
aller Harmonie gekommen feyn kann. Weder im, Ers 
fennen muß es die Spur des höchiten Lichtes, noch 
im Wollen die Spur der hoͤchſten Lauterfeit, noch im 
Handeln die Spur der hoͤchſten Macht, noch in dem 
Allem die Spur der hoͤchſten Miide und Liebe, 
Schönheit und Harmonie verläugnen Fönnen: 


Die Ideal liegt offenbar in dem vernünftigen 


Menſchen. Denn da ihm das Göttliche nichts ift, als 


die hoͤchſte Wahrheit und Lauterfeit, Milde 
und Bi ebe, Schönheit und Harmonie — das 
ewige und allbelebende Leben, ſo kann er das 


— 169 — 


Gepraͤge des Göttlichen da wicht finden, wo ſich die 
höchjte Wahrheit und Lanterfeit, Milde und 
Liebe, Schönheit und Harmonie — das ewige 
allbelebende eben nicht auf eine fprechende Weiſe 
abdruͤckt. 


Die Worte: Jeſus iſt ee jeder Betrahtung 
hoͤchſt würdig, als ein göttliher Gefandter 
anerfannt zu werden, haben aljo den Sinn: 


„Die Bernunft findet an Jeſus nichts, 
was fie niht mit dem Ideale eines göttlichen 
Gefandten vereinigen Fönnte, und findet an 
ihm alles, was fie in dem Ideale eines gött- 
lihen Gefandten als wejentlid anzuerken⸗ 
nen genöthiger iſt.“ | 

* Daß der Ausdruck, gefandt, nichts — als das Un⸗ 
mittelbare, das Eigentliche der Offenbarung, 
das Göttliche der Beſtimmung Jeſu, iſt erinnert 
worden. 


Das Ideal des Goͤttlichen, des Gotteswuͤrdigen, 
das die vernuͤnftige Natur in ſich hat, wendet ſie nun, 
erſtens auf die Lehren Jeſu, zweitens auf die 
Thaten Jeſu, die ordentlichen und die außerordent— 
lichen, Drittens auf die Schieffale Jeſu und auf, - 
fein Berhältniß zu feinen Zeitgenoffen und dem Menfcheits 
gefchlechte an, und vergleicht fie mit dent Ideale. 


Nach dieſer parteilofen Vergleihung wird ſich dann 
das hoͤchſt bedeutende Reſultat ergeben: 


Die Vernunft findet in den Lehren Jeſu, in dem 
Leben und beſonders in den Wunderthaten Jeſu, in 
den Schickſalen Jeſu und in feinem ganzen Verhaͤlt— 
niſſe zu feinen Zeitgenoffen und zum Meenfchengefchlechte 
nichts, was nicht die Spur des Gotteswärdigen in fich 
truͤge; findet anbei fo ‚viele und. fo. unverfennbare Merk 
male des Göttlichen, daß fie Jeſus als den Unvers 
gleihbaren anerfennen muß — als. deu, der hoͤchſt 
wuͤrdig iſt, ald Gefandter Gottes vor allen he an 
erfannt zu werden. 


| 
Pan 2 5% 
> 


5 


— 0 — 


x 43. 
Spuren ded Göttlihen in der Lehre Jeſu. 


In Hinfiht auf die Lehre Jeſu koͤnnen wir entwes 
der den Lehr⸗Inhalt, oder die Kehr- Art, oder bie. 
nothwendigen Lehr- Folgen in Erwägung ziehen, 


Der Lehrinhalt kann entweder nad den Stufen 
feiner Erfennbarfeit für und Menfchen, oder. nad 
feinen Beziehungen auf die ganze Menfchheit, 


t 


pder endlich nach der hödhften Idee des Chriften- 


thums betrachtet werden, nach der höchften Idee, die 
in der Seele Chrifti felbft die hoͤchſte Klarheit erreicht 


hatte, und von da aus in feine- erften Freunde überges 


gangen war, und in den edeljten Chriſten aller er 
ſich wiederfand, 

In jeder Anficht des Lehrinhaltes ſtrahlte mir das 
Goͤttliche deſſelben in das Auge; in jeder Anſicht iſt es 
mir hoͤchſt genießbar geworden; in jeder will ich es 
darzuſtellen —A 


44. 


Der keſricbal Jeſu nach den Stufen ſeiner Er⸗ 
kennbarkeit. 


Die einzelnen Lehren Jeſu ſind entweder durch ſich 


ſelbſt einleuchtende Lehren von Gott, von der Unfterbs 


— 


lichkeit des Menſchengeiſtes und von dem heiligen 
Gefege in ung; oder foldye Lehren, die in den drei 
genannten enthalten find, und von der Bernunft ohne 
fonderlihe Mühe daraus abgeleitet werden fünnen; oder 
endlich folche, Die zwar mit den vorgenannten im 
Zufammenhange ſtehen, den aber das menſchliche Denken 
aus ſich allein nicht wuͤrde gefunden haben. 


Die Lehren der erſten Gattung neunt meine Zeit, 
oder nannte fie wenigſtens vor ein paar Tagen (denn die 
a menfchlicher Vorſtellungen und ihrer Gepräge 

—— wie die der Eintagsfliegen) die urſpruͤng⸗ 
—* rationalen, die der zweiten die abgeleites 
ten, die der dritten die eigentlidh»pofitiven. 


— Ban — 


45. 
Lehr⸗Inhalt der erſten Gattung. 


A. Re 
Die Lehre Jeſu von Gott und der Unjterblichkeit 
des Menfchengeiftes. 


Mas Jeſus von Gott und von der Unſterblichkeit 
lehrte, ift, wie es feyn mußte, wenn „Gott in Menſchen— 
geftalt”’ es ausgefprochen hätte. Unſer Gott ift nad) 
der Lehre Sefu das alldurhfhauende Auge der 
Ewigfeit — felbft die Finfternig iſt Licht vor feinem 
Blicke; Gott ift ein Geist, und. will im Geijte, Gott 
ift die Wahrheit, und will in der Wahrheit angebetet 
feyn; Gott ift unfer Bater, unfrer höchiten Verch- 
rung und Liebe würdig; heilig und allmädtig 
ald Schöpfer und Gefeggeber; heilig, allgütig 
und allmädhtig als Regierer und Berforger 
der Menfchen; heilig, gerecht und allmaͤchtig als 
Richter und Vergelter in einem ewigen Leben. 
Matth. V, 45. V, 48. XVII, 35... VI, 25, 32. 
VI, 4.0. 18.9.8. Sobe Ih 16. IVs24. %, 28. 
29. XIV, 23. | 


Seine Lehre ift die: 


„Bott ift, und Ein Gott ift, und tere Eine 
Gott ift euer und Mein Vater, und biefer 
unfer Bater iſt die heilige Liebe, nnd Diele 
heilige Liebe iſt ewig.“ 


„Die Welt, die ihr ſehet, iſt das Wert Gottes, und 

Gott iſt mein und euer Vater. Das Geſetz eures Ge- 
wiſſens, das ihr in euch traget, ift das Wort Gottes, 
und Gott ift mein und euer Vater. Jeder Lichtftrahl, 
der von der Sonne in euer Auge fommt, jeder Regen, 
tropfen, der auf euern Ader fällt, jeder Sperling, 
den ihr in der Luft fliegen fehet, jede Blume, die auf 
euern MWiefen prangt, jedes Haar auf euerm Haupte, 
jedes Glied an euerm Leibe, jede Kraft in eurer 


— 11272 — 


Seele ruft euch in's Herz: Wir haben und nicht 
ſelbſt gemadt: Gott hat uns alle gemacht.“ 


„Was euch aber Fein Lichtftrahl des Himmels, Fein 
‚Megentropfen, feine Blume der Erde, Fein Glied an eu- 
rem Leibe, fein Gebanfe in eurer. Seele, fein Gefühl in 
eurem Gemüthe klar ausfprecen fann, das ſpreche 


ih als das Wort des Vaters Far aus: „O Menſch! 


du biſt Gottes hoͤchſtes Augenmerk, und Gott iſt mein 
und dein Vater!“ 


„Hoͤret es, ihr Menfchenfinder! ihr feyb Gottes Kins 
der! Gott iſt euer Bater, und der regiert und 
vollendet, und. der vergilt, und der lebt ewig, 
and der ift ein Gott der Lebendigen, und von 
ihm und durd Me [eben alle Dienfchenfeelen ewig, 
wie er.’ 


„Gott ift euer Vater, und der ift euer hoͤchſtes 
Gut hier und drüben, Fir Ihn und den Menfchengeift 
giebt es feinen Tod. Er iſt das Leben in fich und für 
euch. Er ift die Liebe — und die Liebe ift ewig!” 


* Nãhere Beftimmung feiner Lehre. 


BE 3 Obgleich Gott der Heilige iſt, ſo iſt er doch 
auch der Allbarmherzige; er vergiebt die Suͤnde 
dem irregegangenen Sohne, der wieder zum Vater zus 
ruͤckkehrt. 


*Die Lehre von der Suͤndenvergebung iſt die Troſtlehre des 
menſchlichen Geſchlechtes, und auch hierin iſt Chriſtus ein 
Original. Seine Parabel vom verlornen Sohne bleibt 
ewig das Meiſterſtuͤck der Gnade. Der Water eilt dem 
Sohne entgegen, als wenn er nicht gefündiget hättes 
behandelt ihn To großmuͤthig, als wenn dieſer große 
Verdienſte um ihn biete — vergiebt sans. | 


2) Obgleich Gott der Allbarmberzige ift, . fo 
iſt er. doch auch die Gere chtigfeit felber, fordert Res 
chenfchaft wegen -jedes müffigen Wortes, wegen jedes 
luͤſternen Blickes. 


— 175 — 


* Diefe Lehre bewahrt vor geichtfinn, wie jene vor. Ders 
jweiflung.- 


3): Obgleich Gott der re der Allvers 
gelter in der Ewigfeit ift, fo forgt er doch auch in 
der Zeit für die Menfchen. Und er forget nicht nur 
fir das Ganze — auch für das Kleinfte forgt er. 
Nichts iſt ansgefchloffen von der Regierung © o t⸗ 
t e s. si 
Jede Begebenheit iſt ein Ring an einer Kette, und 
alle einzelnen Ketten find wieder Ringe an Einer gros 
Ben Kette, und dieſe Eine große Kette liegt in der 
allmächtigen Hand, und die allmächtige Hand wird bes 
wegt von der heiligen: Liebe, und die Liebe ift Gott. 


4) Gott -ift, nad) der Lehre Sefu, nicht nur das 
Eine, ewige Heil, jo wie die Eine Lebensquelle aller 
Menfchen und Geifter; er ift auch in Hinficht auf dag, 
was man Natur, Welt, Univerfum nennet, das 
Eine Leben, von dem, in dem, durch das alles ft, 
wirfet und befteht. Und gerade hierin ıft die Lehre 
Sefu fo vriginal, als für die Vernunft und das Ges 
muͤth des Menfchen wie gemacht. Sie it das ABC 
für dag kindliche Gemuͤth, und zugleich die höchite Höhe 
für die vollendete Vernunft. 


A. Gott ift unendlich Aber — Welt, 
Univerſum erhaben. | 


Sie ift zwar fein Merk, fein Hauch, fein Gewand, 
feine Offenbarung, fein Bild, aber nicht er felber. Er 
it zwar der Eine Allerfüllende, aber das, was er, 
erfüllet, it nicht Er felber. 


B. Obgleich über die Katar unendlih er 
haben, iſt er doch nicht von der Natur 
getrennt: fie iſt nur von Ihm, fie wirkt nur 
durch Shi, fie beſteht nur in Ihm. 


C. Gott iſt alſo gerade fo unvermiſchbar 
mit dem Univerſum, als das Univerſum 
von Gott untrennbar iſt. | 


— 4174 — 


Dieß A. B. C. aller Weisheit hat ſich nad Chri⸗ 
ſtus allgemein andgebreitet, und warb die Sprache der 
Welt, da es vor Ehriftus nur von den Wenigjten, und 
von diefen nur felten in feiner Lauterfeit erfaßt worden. 


* Die ganze Lehre, wie erhaben und menfchlich, wie göttlich 
und genießbar, wie herablaffend und erhebend, wie faßlich 
and unausdenkbar! Wahrhaftig! „Kinder ffammeln 
fie ſchon, um: Greife fammeln fie noch 
nicht.“ 


[4 


— 





— 15 — 


Bierzehnte Vorlefung. 





; B 
Die Lehre Jeſu vom heiligen Geſetze. 


Mas Jeſus von dem heiligen Geſetze lehrte, 
if, wie e8 feyn müßte, wenn Gott in Men 
fhengeftalt es ausgefproden hätte. 


Da die Lehre Jeſu von der Liebe ald Tugend 
ald Sittenlehre im zweiten Hauptſtuͤcke ausführe 
lich dargelegt wird: fo fol fie hier une in einen folhen 
Ueberblid zufammen gedrängt‘ werden, der uns das 
Göttliche fühlbar machen Fann, 





RW »46. 


Die Lehre Jeſu von dem. heiligen Gefeße unfrer Nas 
tur. befaßt in fich die Summe des Gefekes, das Weſen 
‚ aller Gefeserfüllung, die unmittelbaren Aktus des gefeßs 
erfüllenden Willens, die äußere Probe der innern Geſetz⸗ 
erfuͤllung, das Muſter alles Guten. 


J. Die Summe des Geſetzes. — beſtimmt 
das erſte, das hoͤchſte Gebot, die Liebe gegen Gott; 
beftimmt das zweite Gebot, Liebe gegen die Mens 
ſchen; macht dag zweite dem erften gleich, und 
faßt dann in biefen zweien Geboten den Geiſt aller Ges 
feßgebung und aller Prophezeihung zufammen. . Matth. 
XXI. 537 — 40. — | 

‚Gott lieben ift der Natur des Menfchen, Gott 
von ganzer Seele, mit ganzem Gemüthe, aus 
allen Kräften lieben ijt der göftlichen Natur aus 
gemeffen. Höcfte Liebe dem hoͤchſten Gut — 
das iſt das oberſte Gefeß im Koder des Chriſtenthums! 


Das oberſte Gefeb des Chriftenthums it aber auch 
das oberſte, das im Gemuͤthe des Menſchen geſchrieben 


’ 
— 


— 176 — 


fteht. Denn das menfchliche Gemüth kann lieben, das 
menfchliche Gemüth ſoll lieben,” das menfchliche Gemüth 
fol fieben nah dem Maße des Schönen, des Liebens— 
würdigen. Alfo: du, Menfch! Tiebe Gott über ak 
les andre und nad deinem ganzen Vermögen, 
zu'lieben. Das it das erjte, das höchite Gebot, ges 
fehjrieben im Gemüthe des Menfchen und in der Bibel! 
Ueber das höchite Gefeß kann es Fein höheres geben, 
Wie fein Wefen über Gott, fo Feine Liebe Aber bie 
Liebe gegen Gott. =” 


Das hoͤchſte Gebot ift alfo die Tauterfte Liebe ge 
a das lauterſte Weſen, und die allherrfchende 
liebe zum Allerhöciten, die ihm die ganze Seele, 

as ganze Gemüth, den ganzen Menfchen weiht. _ 


Das zweite Gebot ift die Näcitenliebe: du 
ſollſt den Naͤchſten lieben, wie dich felbft. 


Die Nächitenliche Tann als Gebot, aß Gefim 
nung. und als Erfenntnißgrund einzelner Gebote 
angejehen werden. 


Die Naͤchſtenliebe, als Gebot, ſchließt alle Richt 
achtung, ale Verachtung, allen Haß, alle Mi 
handlung des Menfchen,. alle Gleichgältigfeit 
gegen Andre — aus, und fchließt alle Gefühle, Ent 
ſchließungen, Thaten und Leiden der Liebe — 
ein, die ſie der Selbſtliebe gleichmachen. 


Die Naͤchſtenliebe als Geſiunung, wie erhaben 
und erhebend! Uns ſelber vergeſſen wir nie, koͤnnen 
uns nie ganz vergeſſen, weil uns die immer regen Be— 
duͤrfniſſe immer wieder an ung erinnern; Andere follen 
wir nie vergeffen, weil Feder den Andern wie ſich anſe⸗ 
hen ſoll. Der Gelehrte ſoll ſi ich im Ungelehrten, der 
Reiche im Armen, der Große im Kleinen, der Geehrte 
im Verachteten, der Gluͤckliche im Ungluͤcklichen wieder— 
finden, — ſich im Naͤchſten ſehen, und ihn lieben, wie 
fich felbft. Die Liebe fieht den Menfchen im Menfchen, 
und liebt ihn, wie 19 ſelbſt, und thut in Liebe, was 

der 


MR 7 


der Liebende an der Stelle des Naͤchſten — daß 
ihm der Andere thaͤte. 


Dieß Auge der — ſich in jedem Naͤch⸗ 
ſten erblickt, dieß Her z der Liebe, das mit jedem Naͤch— 
ſten fuͤhlt, dieſe Hand. der Liebe, die jedem Naͤchſten 
Hülfe bereitet, alg wenn der Geliebte der Liebende waͤre — 
offenbart: fich in der Gefinnung, die Chriftus gebot« \ 


‚Die Nächftenliebe, als: Erfenntnißgrund einzelner Ges 
bote, wie fruchtbar, wie allgemein verftändlich, wie leicht 
anwendbar ® Dich trägt. du in ‚dir, ftet8 umber, ‚und-in 
dir die Selbftliebe, und in ber. Feihiliene.d die * und 
das Maß der Naͤchſtenliebe. 


Jeſus ſetzet die Naͤchſtenliebe der Liebe gehen 4 * 


gleich: Dieß iſt Das zweite Gebot, dem erſten 


gleich. Die Liebe gegen Gott und ‚gegen den Naͤchſten 
muß, alſo al die Eine Gemüthsftimmung angefehen wer: 
den, Nun aber, wo. immer die Liebe, ald die Eine 
Gemuͤthsfaſſung herrfcht, da ift fie, die. eigentliche 
Bollfommenheit des menfchlichen Willens, das Ziel 
unſers Ringens; fie iſt die eigentliche Bollfommen- 
heit, als Richtung des Gemüthes zur Erfaffung des 
Göttlichen, und als Richtung des Gemüthes zur Dars 
Kellung des Söttlichen in Erfüllung der Pflicht. 


Endlich faßt Jeſus das. ganze Geſetz und alle Pros 
pheten in diefen zweien: Geboten zufammen: dara 
hängt das. ganze Gefek und die Propheten. 
Wer alfo Gott. über Alles; und den Nächften wie ſich 
ſelber liebt, hat den Geiſt aller goͤttlichen Gefeegebung, 
hat den Geift aller Prophezie lebendig in fich. 


II. Das Wefen aller Geſetzerfuͤllung Das 
Weſen aller Geſetzerfuͤllung ſetzet Jeſus in die Reinheit 
und in die Energie der innerſten Geſinnung. Das We- 
fen aller Gefegerfüllung ift die Reinheit der Gefin 
nung — Denn nur ‚die kann dem reinften Auge ges 
fallen, nur die fann felig madhen. Selig die- ein 
“ reined Herz haben, denn die werden Gott anſchauen. 
RER V.: BI J 
IM. v. Sailer's ſämmtl. ) VIL®», ate Aufl. 12 


—. TB — 


Das Weſen aller Gefeßerfüllung ift die Reinheit und 
Energie der Geſinnung: Selig, die nah Geredtig- 
feit hungert und dürftet, denn die werben ge- 
füttiget werden. (Matth. V. 6.) 


Reinheit ohne Energie — wäre todt; Energie. ohne 
Reinheit — le bendig zum Boͤſen; Reinheit und Ener: 
gie find.das "Ev Kar av aller Gefegerfüllung. 


' III Die unmittelbaren zwei Aftus des ge 
feßerfüllenden Willens, Dieſe Aktus find, nad) 
der Lehre Chrifti, Die Losreißung des ganzen Gemüthes 
von allem Niedern, und die Erhebung des ganzen Gemuͤ—⸗ 
thes zum Hoͤchſten, d. i. Selbſtverlaͤugnung und Geber — 
im edelſten Sinne des Wortes (Matth. va. 13: 14. 

1-19. VI. 6. 14.) 


Diefe zwei unfichtbaren Aftus —— 
und Gebet) verſinnlicht Jeſus mit zwei Bildern: jene iſt 
ihm das Wandeln auf ſchmalem, verlaſſenem Wege, und 
das Durchdringen durch eine enge Pforte; dieſes iſt ihm 
das nie ermuͤdende Anklopfen; jenes iſt ihm das Aus— 
reißen des Auges, das Anlaß zum Falle giebt; dieſes 
das des Blickes zum Goͤttlichen nf. ie 


— — Bon dem Gebete Fann übrigens nichts Gött- 
‚Tichere® gelehrt werden, ald was das Muftergebet Jeſu 


lehrt. Wenn Jeſus nichts gelehrt hätte, als das: Un- 


for Bater, welchen Schaß von Weisheit hätte er gelehrt? 
Auch hier gilt es wieder: Kinder koͤnnen ed ſchon ftam- 
mein — fo faßlich — und Greife können ed noch nicht 
ſtammeln — fo finnvolf it es. Wahrhaftig finnvoll, 
denn es lehrt Tugend und Freude! Wahrhaftig 
finnvoll denn es lehrt Religion, mit der Weisheit 
und. Tugend, Weisheit und Seligfeit gegeben. it! 


Reinere Tugend Iehrt Feine Sittenlehre als dieß Ges 
bet: „Vater! dir nur die Ehre! dein Neid, fiege, dein 
Wille werde allgebietend 1 Denn das Gutſeyn hat 
feine mächtigeren Feinde als Ehr ſucht, Herr ſchſucht, 
Eigen⸗Willens ſucht, und muͤßte in hoͤchſter Rein— 
heit herrſchen, da, wo nur Gottes Ehre bezweckt, nur 


— 19 — 


Gottes Wille vollbracht, nur Gottes Reich fegent 
wuͤrde. 


Tiefern Sinn fuͤr Freude, fuͤr Seligkeit flößt keine 
Seligkeitslehre ein, als dieß Gebet; denn die Freude 
wuͤrde bald einkehren und dauerhaft werden, wenn die 
Brodforgen in dem ſinnlichen, wenn die Gewiſ— 
fensunruhen in dem fündhaften, wenn die See 
 Lengefahren in dem verführbaren, wenn die Pla- 
gen in dem geplagten Menfchen weggehoben. wären. 


Reineres Gefühl für Religion, und was mit ihr 
gegeben ift, für Weisheit, Tugend, Seligfeit, lehrt feine 
Religionslehre, als dieſes Gebet. Denn, wenn der Menfch, | 
‚im Gefühle feiner Abhängigkeit von Gott, auf Gott ab 
fein alle Ehre zuruͤckweiſet; Gottes Geift allein in fei⸗ 
nem Innerſten regieren laͤßt, und alles’ eigne Wollen 
dem Einen heiligen Willen Gottes opfert: fo wird die 
Wiedervereinigung mit Gott, die eigentlihe Reli. 
gion, Feine bloße Lehre, Fein bloßer Wunfch, Fein bio- 
ßes Streben ‚mehr, es wird im Menfchen Geift und 
Leben feyn. Und da, wo die MWiedervereinigung mit 
Gott Geift und Leben im Menfchen geworden, da wird 
derfelbe Menfch, in Einigung mit Gott, von wahrer 
Weisheit, Tugend, Seligkeit nicht entblößt feyn koͤnnen. 


IV. Die äußere Probe der innern Geſetz— 
erfüllung. Die lautere, energifche Gefinnung. des Her: 
zens muß aus ihrer Unfichtbarfeit hervortreten, und durch 
lautern Lebenswandel, durch gute Thaten, die fichtbar 
werden, fich felbjt gleichfam fichtbar machen, und 
fi) und Andern erprobem Laffet euer Licht leuchten 
Matth. V. 16.J: an ihren Früchten follt ihr fie erken⸗ 
nen (Matth. VIE 165 nicht ein Jeder, der zu mir fagt: 
Herr! Herr! wird in das Himmelreich eingehen; fondern 
der den Willen des Vaters thut (Matth. VII. 21): 
wer meine Reden hört und thut, der. baut auf Felfen, 
der. ift der weife Manı, (VII. 24 — 29). 


Alles Gute fey ald Kraft im Innern, und wirfe 
heraus! -E8 fehle der Sonne nicht der Lichtfirahl, 
128 


— 4180 — 


dem Baume nicht die Frucht, dem Felfengrunde nicht 
fein Gebäude! Die innere Gefinnung fey die Sonne, der 
Baum, das Feljenfundament! Aber die Sonne muͤſſe 
feuchten, und durch ihr Licht beweifen, daß fie Sonne, 
Lichtquelle fey; der Baum muͤſſe Frucht bringen, 
und durch die Frucht beweiſen, daß er ein geſunder Baum 
ſey; das Felſenfundament muͤſſe das Gebaͤude tra— 
gen, und dadurch beweiſen, daß es ſelbſt feſt ſey. 


V. Das Mufter aller Gefegerfüllung. 

Seyd vollfonmen, wie euer Bater im Himmel voll⸗ 
fommen it. Matth. V. 48.) Lieber einander, wie ich 
* euch geliebet habe. (Soh. XV.) 


Gott ift die Liebe feldft: eine heilige, eine allum— 
faffende, ewig fegnende Liebe: Liebe ſoͤllten wir aud) 
ſeyn. 

Dieſes Ideal hat die drei Charaktere: daß es, als 
Liebe, alles Gute in ſich faſſet; daß es, als Liebe 

gegen Gute und Boͤſe, ein Bild bes Hoͤchſten, der 
Feindes liebe, darftellt; daß ed ung 'mit jedem 
Sonnenfträhle, mit jedem Regentropfen unter 
die Augen treten kann. 


Dieſes unfichtbare Ideal hat fich ung durch ein ficht- 
bares — in Chriſto gleichfam fichtbar gemacht. Liebet 
einander, wie ich euch geliebet habe. (Joh. XV.) 


x 47 
Lehren der zweiten Gattung. 


Wie die Lehren Jeſu von Gott, von der Unfterblich- 
feit der Seele und von dem heiligen Gefege unfrer Nas 
tur; in ihrer unuͤbertrefflichen Wuͤrde und Klarheit von 
ſelbſt einleuchten: ſo auch die Lehren, die mit und in 
jenen ſchon gegeben find, 


Hieher gehört ein großer, der. größte Theil der Leh⸗ 
ren Jeſu, die uns aufbehalten worden. Mir genuͤgt es, 
die Vorzuͤglichſten zu nennen. 


— 
I 


= — 


Das umverkennbare Gepraͤge des Goͤttlichen trägt 
a) die Lehre Jeſu von der Verehrung Gottes, 
Cultus Dei, die nichts iſt, als die mit andern Wor⸗ 
ten ausgeſprochene Lehre von der Liebe Gottes. 
„Die gottesdienſtlichen Handlungen der Heiden waren 
faft im der ganzen Welt, wie Porphyrius erzählt, und 
auch die Schifffahrten fpäterer Zeiten noch ehren, voll 
Grauſamkeit.““) Dem es war faft überall einges 
führt, daß die Götter mit Menfhenblut befänftiget 
wurden, und dieſen Gebrauch konnte weder die Geiſtes⸗ 
bildung der Griechen, noch der ernite Geift der römifchen 
Geſetze aus der Welt fihaffen. "I Die Myfterien 
‚der Geres und ded Bachus waren überden fo voll des 
ſchaͤndlichſten Gräueld aller Wolluft, und die Schaus 
ſpiele, mit denen die Fefttage der Götter geheiliget _ 
wurden, waren fo unheifig, daß Cato ſich gefchämt haz 
ben wiirde, denſelben beizumohnen, / 


.. Der Gottesdienft der Ju den hatte allerdings die 
wahre Anbetung des wahren Gottes zur Baſis, und war 
‚ von dieſem dreifachen Gräuel, den Menſchenopfern, 
den gottlofen Schaufpielen, und der Wolluft, 
ald einem Beltandtheile der Liturgie, frei; er mußte aber 
Doch, des harten Nackens ded Volkes wegen, mit Opfe— 
rungen ‚der Thiere, mit Geremonien und Gefetlichfeiten, 
mit Befchneidung und mit Wafchungen aller Art: beladen 
werden, Das Geſetz Chrijti, unendlich fern von jenen 
Gräueln, und von diefen Laſten frei, lehret uns 
Gott ald das reinſte Wefen mit reitem Gemüthe ver: 
- ehren, und mit Thaten, die in fich heilig und fo rein: 
find, wie das lauterfte Gemuͤth. (Joh. IV. 24.) Nicht 
das Fleisch, fondern die Begierde foll befchnitten werden. 
(Roͤm. XI. 28. 29. Phil. III. 3.) Nicht das Blut der 





*) Leſenswerth iſt über dem dreifachen Charakter des Gößendien; 
fies, Trug, Un zucht und Mord, Stollberg’s Gefchichte 
der Religion II. Thl. ©. 376—434. | 

**) Webrigens haben die blutigen Opfer der Heiden fowohl 
‚als der Juden auch eime tiefere tnpifche Bedeutung. Bel. 
‚Maiftre's Abendftunden v. St. Petersburg 26, ꝛc. 


— — 


Thiere, nicht das Fett ſoll Gott geopfert werden, ſon⸗ 
dern der Geift des Menſchen, und mit dem Geiſte der 
Leib, und mit dem Leibe das Leben — ein fortdaus 
erndes leben diges Opfer ded Herrn ſeyn. Das 
Menfchenblut foll nur da fließen, wo es das Zeugniß 
für die Wahrheit und Gerechtigkeit fordert. Wittwen und 
Waifen in ihrem Elende befuchen, und fich zugleich vor 
dem Hauche der Welt unbefleckt bewahren, iſt reiner 
Gottesdienſt, (Jak. I. 21.), Was wir den Dirftigen 
in Liebe ausfpenden, das iſt in den rechten Gottesfaften 
geworfen; was wir dem Nächten thun, das haben wir 
Ehrifto jelbft, Gott in den Armen gethan; und wenn 
wir und mit‘ unferm Bruder verföhnen, fo haben wir 


die fchönfte Gabe auf den Altar Gottes gelegt. (Matth. 
XXV. 27) 


Alfo an Gottes Wort glauben, auf Gottes Verhei- 
Bung trauen, den Menjchen um Gottes» und Gott um 
feinetwillen Lieben, das Bergängliche verfchmähen und 
dem Unvergänglichen anhängen, das ift dad Weſen alles 
innern Gottesdienſtes. Selbſt ein Tempel des hei— 
ligen Geiſtes werden, das iſt die ganze Bedeutung des 
äußern Tempels.“ Hugo Grotius de veritate reli- 
gionis christianae. Amstelod,) 


Das unverkennbare Gepräge des Goitlichen traͤgt 
b) die Lehre Jeſu von der Gerechtigkeit, in ſoferne 
‚ fie der Inbegriff aller Tugenden ift — von der Geredy- 
tigfeit, die Gott ſtets im Auge hat, das Gute als fein 
» Gebot und wie vor feinem Auge vollbringt, ohne fich 
dafuͤr durch den Danf oder das Lob der Menfchen be- 
lohnen zu laffen, valles Andere dem anbeimftellend, der 
in's DVerborgene ſchaut, und üffentlich vergilt; bei firen- 
‚gem Faften die Heiterkeit des Genießenden, bei reich. 
lichen Gaben, die fie als. Almofen fpendet, die Miene 
des Nichtgebenden gegen ihre Vertrauteſten behauptet, 
und im Geben nur von Gott geſehen ſeyn will, (Matth. 


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Das Gepräge des Goͤttlichen trägt c) die Lehre Jeſu 


von ber Demuth, die Gott, als dem Alleinguten, in al- 





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———— 


— 14185 — 


lem Guten, das die Kinder Gottes ihrem Vater nachzus 
thun ftreben, die Ehre giebt; die fich, bei aller Treue in 
Erfüllung der Pflichten, nie aus der befcheidenen Gefins 
nung eines Dieners, der weiter nichts als feine Schul: 
digkeit gethan zu haben glaubt, herauslocken läßt; die 
die innere Schönheit ded Geiftes mit, feiner Selbftgefäl- 
Vigfeit beflecet, und das geheimſte Wohlgefalfen nie auf 
fich, fondern nur in dem Heiligen allein ruhen laͤßt; 
die das Gefühl eigener Schwäche nie verliert, und dag 
Gute im Nachbar wie das Bofe in fich gleich parteilos 
anerkennt; die endlich, indem fie die innere Gerechtigkeit 
holdfelig macht, als die himmlifche Grazie des Chriſten⸗ 
thums erſcheinet. Luk. XVII. 10.) 


Das Gepraͤge des Goͤttlichen traͤgt d) die Lehre Jeſu 
von der wahren Selbſtachtung, die lieber den Ver— 
luſt der ganzen Welt erdulden, als ſich die geringſte 


Selbſtverſchuldung zuziehen will (Matth. XVI. 26.); 


die ſich nie trennt von der Liebe, welche ſich allen 
Menſchen zum Knechte macht, um ſie alle in Koͤnige ih— 
rer Selbſt zu verwandeln; die ſich nie trennt von der 
Demuth, welde ihre Erhöhung in Zeit und Ewigkeit _ 
ganz in die Hand des hoͤchſten Richters niederlegt. (Matth. 
XX. 25— 28.) 


Das Gepräge des Gdttlichen trägt e) die Lehre Jeſu 
von der Menſchlichkeit gegen den, der die Menfch- 
fichfeit an und verlegt, und zuerſt Unrecht an und gethan 
hat. So fehr das füge Nachgefühl dem Beleidigten 
fchmeichelt, fo fehr ihm das Nichtrachenehmen knechtiſch, 
niederträchtig und feige zu ſeyn fcheinen mag, wie denn 
auch NAriftoteles und Cicero ‘den Verſuch machten, die 
Race in den Chor der Tugenden einzuführen: fo ers 
blickte doch Sefus in der Feindesliebe die Großmuth, 
und wohl auch den Himmel, den die Andern in der 
Rache vergebens fuchten. Deßhalb Lehrte er, daß wir 
lieber ein zweites Unrecht erbulden, ald das erite 
erwiedern; ‚die leiſeſte Regung des Zornes und des 
Haffes unterdrücden, um nur von. dem Wiederläftern, 
Wiederfchlagen fern zu bleiben; den Feind fegnen, ſtatt 





— 1854 — 


ihm zu fluchen; für den Beleidiger zu Gott bitten, 
ftatt ihn wieder zu beleidigen, und durchaus feine andere 
Rache nehmen follten, ald die der Liebe, welche Kohlen 
auf des Feindes Haupt fammelt, und das Boͤſe mit Gu⸗ 
tem uͤberwindet. (Matth. V. 38— 48.) 

Das Gepraͤge des Goͤttlichen trägt f) die Lehre Jeſu 
von. dem vollftändigen Friedensfinne, zu dem die 
genannte Feindesliebe gehört, wie ein Theil zum Gans 
zen, : Wer den evangelifchen Friedensfinn in fich hat, 
der fieht Gott ald den Gott des Friedens, bie ent 
| zweiten Menfchen ald entzweite Brüder im Haufe 
des einen Gottes, ihres. Baterd, und die Herftellung des 
Friedens als Nahahmung der väterlihen Liebe 
und als einen Beweis ihrer gemeinfamen Ab- 
funft von Gott an, Selig die Friedengftifter, dem fie 
werden Kinder Gottes heißen. (Matth. V. 9.) 

Das unverkennbare Gepräge des Göttlichen trägt g) 
die Lehre Jeſu von der Heiligung der Geſchlechts— 
neigung Da in den heidnifchen Göttern der Ehebruch 
"und die Nothzucht gleichfam der Verehrung ausgeftellt 
‚waren; da felbft Philofophen die Gemeinfchaft der Weis 
ber empfahlen, und Die natürliche Luft des Gefchlechtes. 
zum felben Gefchlechte mit einem ehrenvollen Namen ber 
legten; da die Mehrheit der Weiber das Herz des Maus 
nes. theilte: da tritt das Geſetz Chrifti in die Welt, und 
dringt bis in Die tieffte Wurzel des Boͤſen ein; ſieht 
ſchon in dem luͤſternen Blicke nach einem fremden Weibe 
die That: des Ehebruches; lehret deßhalb das Herz bes 
wahren, damit das Auge vein bleibe, das Auge bewahs 
ren, damit das Herz reim bleibe, Herz und Auge bewah- 
ren, damit der ganze Leib rein bewahrt, und die böfe 
That deſto leichter. vermieden werden koͤnne; lehrt, Lieber 
den Schmerz des Augenausreißend dulden, als ſich dem 
Reize hingeben; ſetzt die Che als eine. unaufloͤsliche 

Freundſchaft zwiſchen Einem Manne und Einem Weibe 
feſt, und duldet keine Unreinigkeit in dem Geiſte, der als 
Wohnſtaͤtte Gottes, und feine im Leibe, der. als 
Vortempel heilig gehalten werden fol. (Matth. V. 
27322 ,,| | — 


—'485 — 


Das Gepräge des: Göttlichen trägt die Lehre Jeſu h) 
von der Liebe und dem Gebraudhe irdifher Güter. 
Wenn die Aegypter und Spartaner den Diebjtahl zulie- 
fen; wenn ſelbſt der © traßenranb außer den Greiz; 
zen des Landes bei den meiften alten Völkern nicht nur 
für fein Unrecht, fondern fir eine Unternehmung galt, 
die Ruhm und Glorie herbeiführte; wenn der Wucher- 
geiſt Feine ‚Grenzen des’ Nechtes Fannte: fo verbeut das 
Geſetz Ehrifti nicht nur jede umgerechte Befisnehmung des 
fremden Gutes, ſondern auch jede Begierde darnadız 
verbent alle Anhänglichfeit des Herzens an die 
Schaͤtze der Erde, indem der Gelddienſt und der Gotted- 
dienft unmöglich neben einander beftehen Können (Matth. 
VI. 19. 24.), und die Dorner des Neichthums das 
Samenforn des ewigen Lebens, das Wort Gottes, in 
uns. erftiden (Matth. XII. 22.); gebeut zuerft das 
Reich Gottes zu fuchen, und alle peinliche Sorgen 
um das zeitliche Gut durch die Zuverficht auf die Bors 
fehung zu ertödten (Matth. VI. 25 — 34.), und das, 
was die Genigfamfeit entbehren fann, entweder an. die 
Dürftigen als Geſchenk oder als reines Darlchen ohne 
Ausfiht auf Verzinfung hinzugeben. (Luk. VI. 353 


Das Gepräge des Göttlichen trägt i) die Lehre Sefu 
von der Tapferkeit und Seligfeit der Seinen; 
von der Tapferkeit, in foferne der Tugendheld, in der 
Schule des Evangeliums gebildet, Muth hat, um der 
Gerechtigkeit willen Verfolgung zu leiden, und fich dieſes 
Leidens nod freuen und ruͤhmen zu Fünnen, die Men: 
ſchen, die nur den Leib tödten koͤnnen, nicht zu flicchten, 
und, unbekuͤmmert um alles Andere und mit Dargebung 
alles Uebrigen, die Perle des himmlischen Reiches zuerft 
zu juchen ; von der Seligkeit, in ſoferne er die Zus 
verficht in ſich trägt, daß fein Name in dem Himmel 
geſchrieben ſey, und in ſofern er, alle Sorgen in den 
Schoos der ewigen Liebe niederlegend, das Privilegium 
der Kinder Gottes genießt, ſorgenfrei zu ſeyn. 


*Es hat Jemand wider das Chriſtenthum einen Einwurf das 
rin gefunden, daß es Feine tapfern Menfchen bilde. Dies 


— 156 — 


fer Sat ift wahr und falfch, je nachdem man etwas Gu- 
tes oder Schlechtes unter der Tapferkeit verftcht. 


Der Satz ift wahr, wenn von der falfchen Tapferkeit 
die Nede ift, die in der Eroberungsmwurh und blinder Dars 
anfesung des Lebens befteht. Diefe Tapferkeit iſt ein 
Zweig des alten Menfchen. Da nun das Chriftenthum 
den ganzen Baum ausgerottet haben will, fo wird es auch 
des Zweiges micht fchonen. Und nicht nur möchte Das 
Chriſtenthum diefe falfche Tapferkeit verbannt willen, es 
möchte ung auch den Anlaß zu felber rauben. Denn, da 
die Chriften als Chriſten Lieber eine: zweite Beleidigung 
‘ertragen, als die erfte erwiedern, und, lieber. den. Mantel 
auch hingeben als wegen des Leibrockes zanken (Matth. V. 
39. 40.); da fie die Welt nur gebrauchen, als wenn fie fie 
nicht gebrauchten; da fie Söhne des Friedens, Kinder des 
Lichtes, (Matth. V. 9.) find, alfo an die Stelle des Zwi⸗ 
fies, Friede ſetzen; da fie nur das Bellum cum vitiis und 
fein Bellum cum hominibus fennen: fo möchte nach dem 
Geifte des Chriſtenthums der falfchen Tapferkeit aller Anz 
laß, wenigftens von Seite der Ehriften ber, Fege 
ſeyn. 

Iſt die Rede von der wahren Tapferkeit, ſo lehrt 
uns ja 

a) das Beiſpiel Jeſu, ſeiner Apoſtel, der Propheten 

u. ſ. w. fuͤr Wahrheit und Gerechtigkeit muthig leiden 
und muthig ſterben, und dieß iſt das Weſen aller and 
ren Tapferkeit; fo gebeut uns 

b) der Buchfiabe des Evangeliums, den Sohn Gottes 

und die Wahrheit zu befennen, und Feine ‚Gewalt su 
fürchten, die nur den Leib tödten kann; fo flößet ung 


c) auch der Geift des Chriftenthums, der Glaube an das 
Unfichtbare, Ewige, Muth ein, alles Sichtbare, Ber: 
sängliche, Leib und Leben, willig aufjuopfern, wenn 
Gottes Wille diefes Dpfer fordert; und dieſes Opfer 
ift dem wahren Ehriften nicht mehr ſchwer, indem fein 
Herz nicht mehr am Vergaͤnglichen hängt. er 


Verſteht man aber unter Tapferkeit Weiter nichts als 
den Muth, in den Krieg mitzugehen, und wider Feinde 
su fireiten, wenn es die Obrigkeit des Landes gut findet: 


— 187 m 
fo werden die Chriften da, wo fie als Bürger des Staates 
vollſtaͤndige Unterwürfigfeit angelobet haben, das Maß dies 
fer Unterwürfigkeit, die fie nad) Paulus als Gemiffensfache 
anfehen, heilig ausfüllen, fo lange fie nicht die offenbare 
Ungerechtigkeit der Menfchen is Gott mehr als den 
Menichen zu gehorchen. 


Vebrigeng zeigen dieſe und ähnliche. Einwürfe, daß 
die, welche fie machen, nicht nur den Geift des Chriften; 


thums nicht Eennen, fondern — * Buchſtaben ver⸗ 
kennen. 








Fünfzehnte Vorlefung. 


K 48. 
Lehrinhalt der dritten Gattung. 


Da gerade das Pofitive bes Cheiftenthumes, d. i. jene 
Lehren, Einſetzungen, Anſtalten, die durch die Offenbarung 
Gottes in Chriſtus geſetzt find, und deßhalb die pofi— 
tiven heißen, am meiſten verkannt, entſtellt, mitunter 
auch gelaͤſtert werden: ſo ſoll das Gotteswuͤrdige derſelben 
mit ernſtem Fleiße an das Licht hervorgeholt werden, zu— 
mal da ſie als das eigentliche Salz der Erde, das eigent— 
liche Ferment zur Durchſaͤurung der verderbten Maſſe, 
angeſehen werden muͤſſen. | 
Diefe pofitiven Lehren haben 1) das Eigene, daß fie 
fih in der Einen Lehre, als fo, viele Radien in ihrem 
Mittelpunkte, vereinen: Es ift der ewige Wille des 
ewigen Vaters, die von Gott durch Sünde ge 
trennte Menſchheit durd den ewigen Logos, 
der in der Zeitenfülle in Menfchengeftalt er; 
fhienen if, und in den Tagen der Wieder 
bringung der Dinge wiederfommen wird, mit 
Gott zu vereinigen. 
Die pofitiven Lehren haben 2) das Eigene, daß fie 
eben degwegen, weil fie Dffenbarungen des ewigen Rath: 
fehluffes find, über dem menfchlichen Gefichtsfreife Liegen 
müffen, indem ja, was in dem Menfchengeifte ift, nur der 
Geift des Menfchen, was in Gott, nur der Geiſt — 
wiſſen kann. 
Die poſitiven Lehren haben 3) das Eigene, daß, 

wenn fie gleich ber dem. Gefichtskreife des Menfchen Lies 
gen, dennoch weder ein innerer Widerſpruch unter ihnen 
aufgezeigt, noch ihre Verbindung mit. dem Heile der’ Welt 
bezweifelt werben kann. Als Wahrheit geglaubt, und 
als Tugendtrieb in Marimen des Lebens verwans 


* 


— . 189 ” 


delt, haben fie offenbar die bedentendften Einfluͤſſe auf 
die Heiligung und Beſeligung unſers Gefihlechtes, fo, 
daß dieſe Einfläffe in der Gefchichte nachgewiefen, "und 
klaſſiſizirt werben — wie es ‚ver gran * 
ren ſoll. | 
Diefe höhern Gccen ehren fe habei 1) eine’ in⸗ 
nere Tüchtigfeit, und auf das Ra dikalboͤſe aufmerk: 
ſam, md zur fieten Gegenwehr wider daſſelbe ruͤſtig 
zu machen. Hieher gehört ‚fie, die, Centrallehre des Chris 
ftenthums, felbft: die Lehre, von. dem: Falle des 
Menfhen, von demiangebornen Berberbuiffe 
der Welt und von dem Beduͤrfniſſe einer:hh- 
heren Vermittelung; die Lehrers Menſch! du 
bift getrennt von deinem Gott, fern von ihm, 
in Oppofition gegen ihn. Und: du kannſt aus 
dir allein jene Trennung, jenes Fernſeyn, 
jene Oppoſition nicht aufheben. Und: du bes 
darfſt eben deßwegen einer höhern Hand, die 
jene Trennung aufhebe, und die Bereinigung 
wieber herbeiführe, 


Dieß Kadifalböfe ift eigentlich das fereligsäfe 
Prinzip felber, das überall; herrjchet, und überall be- 
kaͤmpfet werden ſoll. „Weil nun (ich laſſe hier ftatt mei 
ner einen Philofophen ferechen, weil er hierin fo richtig 
zeichnet und fo. originell. malet) das Chriſtenthum dieß 
irveligiöfe Prinzip, als überall verbreitet, vorausſetzt, fo 
iſt e8 cin dem reinften Sinne des durch und 


durch polemiſch. 


Polemiſch nach außen, indem es jedes Betdet- 
ben, es Tiege in den’ Sitten oder in der Denfungsart, 
vor Allem aber das irreligiöfe Prinzip felber, überall auf 
decken muß. Ohne Schonung entlarot es baher felber 
jede falfche Moral, jede kraftioſe Religion, jede ungluͤck⸗ 
liche Vermiſchung von beiden. In die innerſten Geheim⸗ 
niſſe des Herzens dringt es ein, und erleuchtet mit der 
heiligen Fackel eigner Erfahrung jedes Uebel, das im Fin— 
ſtern ſchleicht. So zerſtoͤrte es (und dieß war ſeine erſte 
Bewegung) die letzte Erwartung ſeiner naͤchſten Bruͤder 


* 
N 


b * x — 
— ER * 
Ben . 


a 190° — 


und Zeitgenofjen, und nannte es gottlog, eine andere 
Wiederherftellung zu erwarten, ald die: zur beffern Ne 
ligion, zur hoͤhern Anficht der Dinge und zum ewigen Le— 
ben in Gott. Kuͤhn führte es die Heiden hinweg über 
die Trennung, die fie gemacht hatten zwifchen dem Leben 
und. der, Welt der Götter und der Menfchen. 


Wer nicht in dem Ewigen lebt und webt, dem iſt er 
völlig unbekannt.“ 


5So riſſen die erſten Helden des — uͤberall 
anf — die uͤbertuͤnchten Gräber, und brachten die Todten- 
gebeine Cin den heidniſchen und juͤdiſchen Verfaſſungen) 
an?g Licht. Und: wären fie Philoſophen geweſen, fo hät- 
ten fie gewiß ‘eben fo ſtark gegen das Verder⸗ 
ben der Philoſophie. 


Nirgend gewiß verkannten ſie die Grundzüge des goͤtt⸗ 
fie Ebenbildes; in allen Entjtellungen und-Entartungen 
fahen fie gewiß, den himmlifchen Keim der Religion; aber 
als Chriften war ihnen die Hauptſache, Die Entfernung 
Yon Gott, die einen Mittler bedarf, und fo oft 
fie von —— ſprachen, giengen ſie nur darauf 
ans, } 

Molemiſch iſt —* auch das Chriſtenthum — und 
das eben ſo ſcharf und ſchneidend innerhalb ſeiner eig— 
nen Grenzen und in ſeiner innerſten Gemeinſchaft der 
Heiligen. — Im Tone der hoͤchſten Inſpiration kritiſirt 
einer der aͤlteſten heil. Schriftſteller den religioͤſen Zuftand 
der Gemeinen; in einfaͤltiger Offenheit reden die hohen 
Apoftel von ſich feld, und fo foll Feder in den’ heit. 
Kreis, treten — in Demuth das Seinige der allgemeinen 
Prüfung. darlegen, und nichts fol gefchont werden, auch 
das Liebfte nicht... - 

Dieß ift die in feinem Weſen gegruͤndete Weiche 
des Chriſtenthums. 

Sch. bin nicht gekommen, Faebe zu — ſondern 
das Schwert, ſagt der Stifter deſſelben. Und ſeine ſanfte 
Seele kann damit nicht gemeint haben, daß er gekommen 
ſey, jene blutigen Bewegungen zu veranlaſſen, 
die dem Geiſte der Religion ſo voͤllig zuwider ſind, oder 


— 01 — 


jene elenden Wortftreite, die fih anf den todten Stoff 
beziehen, ‘den die: lebendige Religion nicht aufnimmt: nur 
die heil, Kriege, die. aus dem Wefen feiner Lehren. noth- 
wendig entftehen, hat er vorausgefehen, und indem er fie 
vorausfah, befohlen.” «(Ueber die Religion, Reden an die 
Gebildeten unter ihren Veraͤchtern.) 


umſonſt haben: die: Forſcher geſucht, die das Radikal boͤſe 
außer der Wurzel der Irre ligion fanden; umſonſt haben 
die Forſcher geſucht, die die Wurzel des Boͤſen außer dem 
arfprünglichen Abfalle von Gott fanden. Und fo hätten 
denn die Theater, die Schulen, die, Journale und die ge: 
bildeten Gefelfchaften, die über das Erbverderbem der 
Menfchheit fpotteten, weiter nichts gethan, als ihre eigene 
Thorheit zur Schau getragen, und det Beweis vollendet, 
daß fie fich, die Welt und das Leben auf gleiche Weife ver 
fannten, Die erften JTonvranten in ihrem eignen 
Hau ſe, ſelbſt auch, wenn das breite Schild der Philofophie 
‚vor der Thüre hienge. 


Die höhern Lehren Jeſu haben 2) die innere Tuͤch— 
tigfeit, den Muth zur Selbſtbekaͤmpfung des Radifalböfen 
(des irreligidfen Prinzips) anzufachen, zu erhöhen und zu 
halten, indem fie uns den allvermögenden, ſteten Bei- 
fand des großen Mittlers zwiſchen Gott und den 
Menfchen zufichern. Hieher gehören a) die Lehre von 
Chriſtus, ald dem eigentlichen Mittler, dem göttlichen Res 
ftaurator des menschlichen Gefchlechtes felber; b) die Lehre 
von dem Geifte Ehrifti, den der verflärte Chriftus 
den Seinen fandte und fendet; c) die Lehre von der 
Gnade Ehrifti, die dad Herz zum Guten weihet; 
d) die Lehre von dem Gebete, dag nur Erweifung 
deriinnigen Öemeinfchaft zwifhen Gott und 
Menſchen — oder Bewegung des heiligen Strebens 
nach diefer Gemeinfchaft auf Seite des Menfchen ift; 
©) die ‚Lehre von: der Neugeburt des Menfchen zum 
geiftigen, ‘ewigen Leben, die das Prinzip der Religion in 
und zum herrfchenden macht; F) die Lehre von dem fie 
ten Umgange des Menſchen mit dem Goͤttlichen, der 
das Prinzip der Religion in ſteter Bewegung haͤlt, und 


— 


=> 


im — 


das genannte Gebet des Geiftes und Gemüthes — in 
feiner Fortdauer, in der Stetigfeit, iſt. 


„Denn in jedem Momente, wo das teligiäfe Prinzip, 
‚nicht wahrgenommen werden Tann im, Gemüthe, wird 
„das irreligiöfe als herrfchend gedacht; denn nur durch 
„das Entgegengefegte kann das, was ift, aufgehos 
„den und auf Nichts gebracht »werden. Jede Unter: 
„brechung der Religion ift Irreligion; das Gemuͤth kann 


ſich nicht einen Augenblie 'entblößt fühlen von den 


„Anſchauungen und Gefühlen des Göttlihen, 
„ohne ſich zugleich der Feindfchaft und der ETBuns 
„von ihm bewußt zu werden.’ | 


„So hat das Chriftentkum weſentlich die Forderung 
„gemacht, daß die Religioſitaͤt ein Kontinuum 
„ſe yn ſoll im Menſchen, und verſchmaͤht noch, mit den 
„ſtoaͤrkſten Aeußerungen derſelben zufrieden zu ſeyn, ſobald 
„ſie nur gewiſſen Theilen des Lebens angehoͤ— 
‚wen und fie ——— en Reden über die 
Religion.) 


.* Die Keligiof ität, diefer Iebendige Gegenfas des Radital⸗ 
boͤſen, gleicht keiner Brille, die etwa das Auge bewaffnet 
zum Hellerſehen, keiner Decke, die Hand oder Fuß vor 
Kälte ſchuͤtzet, Feiner Speife, die den Leib naͤhret; fie iſt 
die Seele der Seele, ftets gegenwärtig, ſtets belebend, 
und dem ganzen Innern Menfchen belebend, fie — das 
Leben ſelber. 


Die hoͤhern * Chriſti haben die innere Tuͤchtig⸗ 
keit, 3) die ſaure Arbeit des ſteten Kampfes wider das 
Radikalboͤſe, wider das irreligioͤſe Prinzip, in ein liebliches 
Gernethun der Alles Leicht = findenden Liebe zu verwandeln, 
indem fie, Durch Verficherung und Verpfändung der vol 
len Bergebung der Sünde, dem von der Sünde ge⸗ 


Angftigten und von Neue  durchdrungenen Gemuͤthe Be 


ruhigung fchaffen, und, durch ‚den Glauben an die 
wirkliche Vergebung der Sünde, das Feuer der Gegen 
Liebe amduden und dieß heilige Element unter⸗ 


halten. Br 
Hieher 


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Hicher gehören die Lehren, daß der Vater feinen 
Eingebornen für das Heil der Welt hingege 
ben, vaß Gott in Ehriftug die feindlihe Menſch— 
heit mit fich wieder ausgefühnet hat, wie denn auch Ju⸗ 
den und Heiden, die in die Kirche Chrifti traten, Vers 
gebung der Suͤnde durch Ehriftus fanden — und viel 
liebten,. weil ihnen viel vergeben war. 


* Die höhern Lehren Chrifti haben die innere Tichtige 
feit, 4) durch fihtbare Mittheilung unfide 
barer Kräfte zur Heilung und DBefeligung, 
die fie verheißen, den Bedurfniffen ſinnlich— 
vernünftiger Wefen, und insbefondere den Bediürf- 
niffen der durch Sünde jerrütteten Men ſch⸗ 
heit zu Huͤlfe zu kommen, und ſofort auf eine dem 
Weſen und den Beduͤrfniſſen der Menſchheit entſprechende 
Weiſe den Muth zum deiligen Kriege anzuregen 
und zu ſtaͤrken. 


Hieher gehoͤren die Lehren Shrifki von der Mitthei- 
Iungsweife des Göttlichen, 3. B. von der Taufe, von 
dem Abendmahle, von Be was bie Kicchenfprache 
Saframent nennet. 


Die Lehren Chrifti haben die innere Tuͤchtigkeit, 5) den 
Glauben an das Goͤttliche und Ewige (das der Menſch 
anfaſſen, feſthalten, darſtellen fol, um das Ra⸗ 
dikalboͤſe, das irreligioͤſe Prinzip uͤberall zu zerſtoren) theils 
zu verſinnlichen, theils zu beleben. 


Hieher gehören die Lehren von der allgemeinen Auf 
erftehung, von dem Weltgerichte, von der Wieder 
kunft Chrifti und von der, Allvollendung. | 


. Jede wahre Neligionslehre muß, in Hinficht auf. Zus 
funft und Ewigkeit, aufſchließend, alſo weiſſagend 
ſeyn, und dem innern Menſchen, dem ein Licht uͤber das 
Goͤttliche aufgegangen iſt, muß eben deßhalb ein Licht 
uͤber das Ewige aufgehen. Und, wie die vorchriſtliche 
Welt den kommenden Chriſtus im Auge hatte, fo muß 
die chriftliche Welt den Wiederfommenden in's Auge 
faffen, und im Auge behalten. Es iſt nicht genug, daß 
IM. v. Sailer’s fümmel. Schriften. VIII. Bd. 3te Aufl, 15 


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der Geift Chrifti in: und das Neich der Suͤnde zerftöre; 
er muß auch den Tod zerftören, er muß einen neuen Him—⸗ 
mel und eine neue Erde ſchaffen. ... 

Die hoͤhern Lehren Jeſu haben, fo wie die Beitimmung, 
alfo auch die innere Tüchtigfeit, 6) das Ganze feiner 
Xehre, das auf Erleuchtung, Heiligung und Befeligung 
des menfchlichen Gefchlechtes, d. i. auf Befiegung des ir— 
religiöfen Prinzips berechnet ift, in einem, alle kommenden 
Zeitalter und alle Gegenden der Erde umfaffenden 
Inſtitute auszubreiten, fortzupflanzen und 
zu erneuern. 


Hieher gehoͤren die Lehren von der Kirche Jeſu, 
von dem Predigtamte, von dem bis an's Weltende 
der Kirche Chriſti verheißenen Geiſte Gottes u.f.w. 

Wer fühlt es dieſen Lehren nicht an, daß fie, als 
Wahrheit angenommen, ald Wahrheit zur Umſchaffung 
und Belebung des innern Menfchen verarbeitet, mit ber 
Heiligkeit und. Seligfeit unfers Gefchlechtes in Dem inner⸗ 
ſten Zuſammenhange ſtehen muͤſſen ? 


—*Wenn alſo die poſitiven Lehren Chriſti noch nuglelch mehr 
Nnausgründliches hätten, als fie wirklich für den Begriff 
des Menfıhen haben mögen: fo wuͤrde fih denn doch ein 
müchternes frommes Gemüth an der hier angegebenen, 
menfchlichsanfaglihen und himmlifchzEräftigen Seite des - 
Pofitiven mehr als beruhigen koͤnnen. 


= "49. — 

Wenn ſich das poſitive Chriſtenthum ſchon durch — eine 
einzelnen Lehren als Gottes wuͤrdig ankuͤndet: ſo 
erſcheint es, als ein Ganzes betrachtet, erſt recht in 
ſeiner Gotteswuͤrdigkeit. Denn das Chriſtenthum, als 
Ein Ganzes, iſt in feinem Urſprung, in feinem Fort- 
gange und in feiner Vollendung lauter Gnade und Er . 
barmung:. es muß alſo aus ber Duelle aller Gnade und 
. Erbarmung gefommen ſeyn. | 

In der folgenden Da FE ſcheint fowohl da 
Ganze des Chriſtenthums, als die Einheit des: Gan- 
zen klar genug angegeben zu jeyn: 


— 15 — 


I. Ein Gott: alfo Eine, wahre, ewige Religion. 


II. Diefe Eine, wahre, ewige Religion hat fi fich in und 
durch Ehriftus offenbaret mit aller Flle des Lichtes, das 
theils von dem Irrthum verfaͤlſcht, theils von dem Laſter 
verdunkelt, theils in den Huͤllen der Weiſſagung noch ver⸗ 
borgen, und bloß ans und vorgedeutet war. 


UI, Diefe Eine, wahre, ewige Religion iſt in der 
Einen Centrallehre ausgedruͤckt: | 


A. Die Menfchheit kam ans Gottes Hand rein, — 
ſelig; 


B. blieb aber nicht in dieſem Urftande, reinigt fiel in 
Sünde, Nacht, Tod; 


ce. kann aber und wird wieder zur reinen, heiten, fe- 
Ligen, zur Ur: Meufchheit umgefchaffen werden — 
durch den Logos, der das Licht und Leben der Mens 
fehen war und iſt; der zur vorherbeſtimmten Zeit, 
als Chriſtus, in Menſchengeſtalt erſchienen iſt, und, 
nach vollbrachtem Opfer fuͤr die Suͤnden der Welt, 
von dem Tode erſtanden, und, erhoͤhet zur Rechten 
des Vaters, herrſchet, bis ſein Wiederkommen Alles 
vollenden — und Gott Alles in Allem ſeyn wird. 


IV. In dieſer Eentrallehre ſind alle uͤbrige Lehren 
des Chriſtenthums enthalten. Denn jene Neuſchaffung des 
verfinſterten, ſuͤndigen, ſterblichen Menſchengeſchlechtes kann 
nicht werden ohne den heiligen Geiſt, der als der 


Geiſt des Lichtes die Menſchheit helle, als der heilige Geiſt 


die Menſchheit heilig, als der Geiſt des Alleinſeligen die 
Menſchheit ſelig macht; kann nicht werden ohne die 
Gnade, d. i, ohne Geiſtesgaben, die nicht aus irgend 
einem Verdienſte des Menschen, dag dem Sündergefchlechte 
mangeln muß, fondern nur ven dem heiligen Geifte, als 
Ausflüffe der unverdienbaren Liebe, fommen können. 


‚V. Die Reufchaffung des verfinſterten, ſuͤndigen, ſterb⸗ 
lichen Geſchlechtes wird nach den verborgenſten Fuͤh— 
rungen der ewigen Weisheit, die kein Gedanke erforſchen, 
keine Zahl zaͤh len, kein Wort nennen kann, u und von denen 

TR 15% 


— 496 — 


wir nur dieß Eine wiſſen: Alles aus Ihm, Alles 
durch Ihn, Alles in Ihm! 

VI. Dieſe Neuſchaffung beginnt und wird fortgeſetzt 
in der. Kirche Chriſti durch ihre lebendigen Glieder, 
die, Eins mit Chriftus, in feinem Geifte wirken, umd durch 
Saframente, die das, was der Geijt Chriſti unficht- 
bar wirfet, durch fichtbare Zeichen Fund thun. 


VI. Diefe Neufchaffung wird vollendet werden durch 
den. wiederfommenden Chriftus, der alle Berheißungen der 
Propheten, die feine erſte Ankunft unerfüllt gelafjen hat, 
in feiner legten erfüllen wird. 


* 50. | 
Was juͤngſt in einem Vergißmeinnicht am Wege dem 
Freunde in das Herz geſagt war, darf hier fuͤr das groͤ— 
Bere Publikum ſtehen: Die poſitiven Lehren des Chriften- 
thums reihen und einigen ſich in der Idee des Lebens 
zu einem organiſchen Ganzen. 


Die chriſtliche Theologie iſt das Wort von dem Leben 
Apoftelg. V, 20.), und faßt die Sieben⸗Lehre in ſich: 

1) Gott, das Leben, das Eine, ewige Leben. 

2) Der Menfch, ein Recipient dieſes Lebens, 

3) ‚Die. Sünde, eine Entfremdung von dem Leben Gottes. 
4) Ehriftus, der Wiederherfteller des Lebens. 

5) Die Gnade, wirkliche Mittheilung des neuen Lebens. 
6) Die Kirche, die. Gefellfchaft, in welcher ‚der Geift 
dieſes Lebens wirkt, . 


7) Die Ewigkeit, die Vollendung und Bertlärung Die: 
Ba gebend. 





—* 


FE 


Sechszehnte Vorlefung. 
Jeſu Lehrinhalt nad feiner Beziehung auf die Menſchheit. 


* Bisher ward. die Lehre Jeſu mehr als Theologie (als Wort 
von Gott) dargeſtellt: jest fol fie mehr als, Anthropologie 
(als Wort von dem Menfchen) dargelegt werden. Die 
neuen Negifter des menfchlichen Wiffens zählen eine pfn ch o⸗ 
Iogifche und eine medizinifche Anthropologie: Chriftus 
giebt uns eine theulogifche. Daß aber die Lehre Jeſu, 
als Theologie und als Anthropologie, die Eine und diefelbe 
Lehre Jeſu fen, fol Feiner — — RNENER — 
— 

Die Eine * Jeſu if, als Lehre von dem Menfchen 
betrachtet, eine Lehre von der Menfhennatur, und 
eine Lehre von dem Menſchengeſchlechte. 


Die Lehre von der Menfchennatur ift eine Lehre von 
der Wirrde, von dem Berfalle, von ber Reſtaur a⸗ 
tion der menſchlichen Natur. 


Die Lehre von dem Menſchengeſchlechte iſt die Lehre 

von den vornehmſten Schickſalen unſers Geſchlechtes. 

a ; 

Die Lehre Jeſu von der Menfhennatur, und ade. von der 
Würde derſelben. 


Nach der Lehre Jeſu erhellet die Würde der Mens 
fchennatur 


1) aus ihrem Urfprunge Der Menfch, Gottes 


Sohn, und eben. deßwegen Gottes Cbenbild, trug das 


glänzende Siegel feines Urfprunges in Wefen und Geftalt, 
‘ Er war von Gott, ohne Gott zu feyn; unter Gott, ohne 
von Gott getrennt zu ſeyn; das Gefeß des Guten: leuch- 
‚tete in ihm, aber es fproßte nicht aus ihm; er war gut, 
aber fähig, böfe zu werden; jelig, aber nur durch. den 
Alleinguten; gottliebend, aber nicht genöthiget, in der Liebe 


— 1098 — 


zu bleiben. (Matth. XXI, 20. 21. XXI, 9. V, 
9. 45. Soh.XX, 17.) | 


. Die Würde der Menschheit erhelfet 


2) aus ihrer Ur-Beffimmung, die zwar durch den 
Abfall von Gott zurücgefegt, aber nicht aufgehoben wers 
den konnte. „Menſch! die Vollfommenheit. des himmlis 
ſchen Baters ift das Ziel, das du erreichen ſollſt!“ 
(Matth. V, 38. Luk. VI, 36.) . Noch jest wiederhalft 
die Ur- Beftimmung des erften Menfchen in dem gefalles 
nen Gefchlechte: „Werde eine gleichende Kopie deines 
Originals, aber dein Driginal ſey nur Gott.“ 


Die Würde der Menfchennatur erhelfet 


3) aus der Hingabe des Beten für das ewige Les 
ben der Menfchheit. (Joh. IH, 16.) Der Bater giebt 
feinen Eingebornen dahin, um die Menfchheit zum ewigen 
Leben wieder neu zu zeugen. - 

Die Würde der Menfchheit erhellet 

4) aus dem Befige der Freiheit, in. ben fie 
durch Chriftus wieder zuräcgebracht werden. ſoll (Joh. 
VIU, 31. 32. 35. 36.), fo wie aus der Einigung mit 


Gott, die fie hienieden ſchon durch Chriftus erringen fol. 
cSoh. XIV, 16. 17. 21. 23. ,XVH, 20. 21.) 


Die Wirde der Menfchennatur erhellet 
5) aus der Herrlichkeit, die ihr nach diefem es 
ben hinterlegt ift. (Matth. V, 8. Joh. XIV, 23. X, 28.) 
„Gott fchauen in Liebe — Eins feyn mit Chriſtus — 
ewig: das iſt ihr aufbehalten.‘ 


Die Würde der Menfchennatur erhellet 


6) aus dem Erbrechte der Kinder Gottes, zu bit 
ten, um wag fie der Geift Gottes bitten lehrt — ein Erb» 
recht, das fie zum Guten allvermögend und in allem 
Widrigen felig— macht. (Matth. VIL, 7. 11. Joh. XIV, 
15. 14.) Wir find die Kanäle, pie das Göttliche em: 
Yfangen: das Gebet oͤffnet und reiniger die Kanäle, und 
leitet das ewige Quellwaſſer zu und 


TE u ee BG 
4 


— 19 — 


Die Wirde der Menfchennatur erhellet 

7) aus der Baterforge Gottes für fie, aus. 

der Vorfehung, die, Lilien Eleidend und Sperlinge nährend, 

des Menfchen wohl nicht vergeſſen kann, und dem, Der 

das Neich Gottes zuerit fuchet, das ng als .. 
mitgiebt. (Matth. XV, 25—32.) ; j 


Die Würde der Menfchennatur erhellet 


8) aus der Engelpflege, der fie anvertraut iſt 
Matth. XVII, 10.), indem die Seher Gottes nur Bos 


- ten find, zum Beften der Menfchen; und ans den Pflichs 


ten, die der erwachfene Menſch hat, die noch nicht durch 
pofitive Lajterhaftigfeit vergiftete Menfchennatur in den 
Kindern zu refpektiven, die Kleinen, die Sinn für Chris 
ftus haben, nicht ‘zu ärgern, fie wie Chriftus jelber auf 
zunehmen, ‚und von ihnen das Glauben, Hoffen, Lie 
ben, die Einfalt und Wahrheitstiebe zu lernen, 
Matt, XVII, 3. 56) ' Die Menfchheit mag auf 


mancherlei Weiſe mit der Geiſterwelt zuſammenhaͤngen; 


mit den Guten haͤngt ſie affenbar PR — und 
Engeldienſt zuſammen. | 


x 55 
Die Lehre Jeſu von dem Verfalle der Wenfhennatur, 


Der Verfall der jegigen Menfchennatur erweifet fi ich 


1) aus dem urſpruͤnglichen Abfaͤlle des erſten 
Menſchen durch die Verfuͤhrung deſſen, der ein Vater der 
Luͤge und ein Moͤrder von Beginn iſt Geh. VIII, 
44-45.); 


2) aus) der fortdauernden Ausſaat des Böfen durch 
denfelben ’böfen, feindlichen Saͤemaun auf dem Acer der 
Welt, und. aus der befchleunigten Aufkeimung und Ber 
mehrung des Boͤſen (Matth. XII, 24. 25:26); 
3) aus den Schick ſa len des guten Samenkorns — 
indem “ein Theil deffelben "auf dem Wege zertreten, ein 
Theil auf fleinigtem Grunde von der Sonne verfengt, ein 
Theil unter den Dörnern erjtict ward, und nur ein Theil 
chen guten Boden- fand CR Xu, 1—23.); 


— 200 — 


4) aus der Abwuͤrdigung und Verdrängung 
- der göttlichen Gebote durd; Menfchenfasungen (Matth. 
XV, 3—29.)5 


5) aus der Abweichung von den urſpruͤnglichen 
Einrichtungen Gottes; z. B. in der heiligen m: der 
Ehe (Matth. XIX, 8.); 


6) aus der Miderfeglichteit gegen die außer- 
ordentlichen Anftalten Gottes, die Menfchen wieder gut 
zu machen, 3. B. aus der graufamen Behandlung der Bo- 
ten Gottes (Matth. XXI, 33—45.); aus dem thörich- 
‚ten Rennen nach neuen Wundern, nenen Zeichen, verfnüpft 
mit Verachtung der gegebenen Zeichen (Matth. XII, 33 — 
42.); aus der Lälterung des göttlichen Geiftes in. den 
Thaten Chrifti (Matth. XI, 23—38.); aus der Ber- 
folgung aller Guten, des Nameng Chrifti wegen (Matth. 
x, 17—28.); 

z)-aus der totalen Verfunfenheit im Zeitlichen (Matth. 
XIX, 23—24.), die alle dargebotene Hülfe ausfchlägt; 


8) aus dem Unvermoͤgen des fleifchlichen Gemuͤ⸗ 
thes, Früchte des Geiftes zu zeugen: „was aus dem 

Fleifche geboren ift, das ift Fleiſch;“ und aus der 
Unentbehrlichfeit des göttlichen Geiftes zur Erzeugung gött- 
‚licher Gefinnungen (Joh. III, 6.); 


© 9) aus ber — der Sinnes— 
Anderung, die das erſte Wort der Propheten und Chriſti 
und feiner Apoftel war. uf. XII, 5-9.) 

j € 1? 


Eu; ‘ 
Die Lehre, Jeſu von der  Wiederherftellung der. Mens 
fchennatur iſt fo einfad, als erhaben; ſo er qui⸗ 
end für die Menſchheit, als erhebend. 


„Gott beut dir durch Chriſtus ſeinen heiligen Geiſt 
„zur Umſchaffung deiner Natur an; glaube, empfange, 
„gehorche du. Gott thut, was der Menſch nicht 
„kann: der Menſch ſoll nur, was er kann — treu ſeyn 

„jeder Gotteskraft, die ihm zur Erneuerung feines We— 
„ſens dargeboten wird,” 


— 201 — 


Die Lehre Jeſu von — Wiederherſtellung der Men⸗ 
ſchennatur iſt alſo eine Verheißung und eine name 
Sie ift eine Verheißung: 


„Gott thut in der Erneuerung des Menfchen, was 
fein- Menſch thun kann.“ 


Da ihr, obgleich be euren Kindern gute Gaben 
fohenfet, wie vielmehr wird euer Vater denen, die ihn 
darum bitten, feinen guten Geift geben? (Luk. XI, 13.) 

Am legten großen Fefttage trat Jefus auf, tief und fpradh: 
Wenn Jemand duͤrſtet, der komme zu mir, und wer an 
mich glaubt, der trinke, wie denn die Schrift fagt: aus 
feinem ‘Leibe ſollen Ströme des Tebendigen Wafjers flie- 
fen. Das fagte er aber von dem Geifte, den die em— 
fangen follten, welche an ihn glauben würden. (Joh. 
VII, 37— 39.) Bei dem Menfchen iſt es unmöglich, 
aber bei Gott find alle Dinge möglich. (Matth. XIX, 
26) Wer in mir bleibt, und in dem ic) bleibe,. ber 
bringt viele Früchte; denn ohne mich koͤnnet ihr nichte 
thun. (Joh. XV, 5.) 


Die Lehre Jeſu von der Wiederherftellung der menſch⸗ 
lichen Natur ift 2) eine Aufforderung. 


Die Aufforderung nämlich: Menfch! thu, was 
du kannſt. 


Denn die Wiederherſtellung deiner Natur fordert von 
deiner Seite einen Glauben, der nicht nur Gaben em— 
pfangen, fondern auch mit der Gabe wuchern kann; eis 
nen Glauben, der ſich Fräftig erweifet durch einen Ent- 
ſchluß, der allumfaffend, durd; einen Kampf, der un— 
ermmidlich, dur ein Ringen nad; dem Selen, das 
beharrend  ift. 


Die. Wiederherftellung deiner Natur un erftenss. 
eine. aus dem Glauben an Chriftus hervorgehende 


Entfchloffenheit des Willens, und eine Er 


babenheit des entfchloffenen Muthes über 
alle Hindernifje. 


De 


— 20 — 


Hier gilt Feine Entfchuldigung (Luk. XIV, 18. 19.20.), 
hier kommt e8 auf die Fategorifche Erklaͤrung an 
„Wer nicht Vater, Mutter, Frau, Kinder, Bruder, Schwer 
fter, fein Leben hafjen kann, kann mein Juͤnger nicht — 
(uf, XII, 26. 27. XIV, 28. 32.) 


Die Wiederherſtellung der Menſchenwuͤrde 
zweitens: einen dem entſchloſſenen Willen an— 
gemeſſenen Kampf wider alles, was Anlaß zum Boͤſen 
werden kann, es ſey dir ſo brauchbar, wie die rechte 
Hand, fo Lieb, wie dein Auge (Matth. V, 29.), insbes 
- fondere wider die Begierde nach Habe Math. VI, 19. 
21.), indem der Mammonsdienft und der Gottesdienft fich 
unmöglich vereinen laffen (Matth. VI, 24.); wider die 
Kahrungs> und Kleivungsforgen (Matt. VI, 33.); wi 
der jede unlautere Ehrbegierde und Heuchelei (Meith, VI, 
6. 14. 16. 17. 18.); wider alles Auffliden guter Thaten 
auf böfem Grunde (Matth. IX, 16. 17.3; wider alles 
Scharfrichten uud unzeitiges Reformren außer ſich (Matth. 
VI, 1—6.); wider die Beiſpiele der Menge, die auf 
Dem breiten Wege wallt und zur weiten Pforte eingeht 
(Matth. VII, 135—14.); wider die täufchenden Kunſt⸗ 
griffe der Verführung duch falfche Propheten. (Matth. 
VII, 15—.20.) 


Die Wi iederherftellung der Menfchenwirde fordert 
Drittens: 
“ein ketigeg Ringen nad dem Höciten.- 


Ein ſtetiges Ringen nach der) höchiten Reinheit ‚der 
leiſeſten Begierde (Matth. XV,17—19.), des öffentlichen 
Wandels (Matth. V, 16.); ein fietes Ringen, nach der 
höchften Vollkommenheit der dreieinigen Liebe gegen Gott, 
Chriſtus, die Menſchen Euk. X 2757 L26. 
Matth. V, 42—48. VII, 12. XVII, 22; Joh. XV, 
12.); nach der höchiten Einfalt, Aufrichtigkeit im —* 
kehr mit Menſchen (Matth. V, 37. X, 16.); nad) dem 
höchften Duldungsſinn um ber Öersigteit willen. REN: 

V, 10—12.) 


* Dieß fietige Ringen nach dem * — iſt eben das von Chri⸗ 
us fo fehr empfohlene Allzeit-Beten (£uf. XVII, 1-8.), 


— 205 — 
und die mit gleichem Nachdrucke eingepraͤgte Treue in 
Benutzung des gegebenen Talentes. Denn, wie das Ger 
bet das Gemuͤth nie aus der Verbindung mit Gott Foms 
men läßt: fo läßt uns die Treue die Haud nie wegheben 
son dem einmal ergriffenen Pfluge. 


Die Lehre Jeſu von den Schickſalen unſers Geſchlechtes. 


Ihr bloßer Inhalt iſt Zeuge und Buͤrge des Myers 
würdigen. 


Weil die Menfchheit einmal von dem Vater 
Geiſter, von der Urquelle des Lichtes abgefak 
len if: fo wird 1), was aus dem Fleifche geboren ift, 
nur Fleiſch, und nur das, was aus dem Geifte wieders 
geboren ift, Gert ſeyn koͤnnen, alſo die gefallene 
Menſchheit nur durch deu heiligen Geift zur urfpränge 
lichen Menfchheit vegenerirg werden koͤnnen. (Joh. IIL,6J 


Weil auf einer Seite auch in der gefallenen Menfch- 
heit der Lrieb nach dem Lichte ſich ſein Recht nicht wird 
nehmen laſſen; weil der Vater des Lichtes ſich nirgend 
unbezeugt laͤßt; weil die Soͤhne des Lichtes ſo wenig 
muͤßig ſeyn koͤnnen, als das Licht ſelber; weil auf der 
andern Seite die Finſterniß — auch ihr Reich und das 
Reich ſeinen König hat; weil die Kinder der Finſterniß 
in ihrer Art kluͤger find, als die Kinder des Lichtes; weil 
der Böfe das Licht haffen muß, in dem Maße, als er 
Urfache hat, es zu fihenen: fo wird 2) in dem Mens 
fhengefchlechte ein Kampf zwifchen Licht und Finfterniß 
entftehen, und die Vorliebe zu den Finfterniffen den 
Charakter und das Gericht der Welt ausmachen. 
(36h. I; 5. II, 19. 21.) 


Wenn es gleich nie an Streitern für das Eiche 
wider die Finfterniß, noch dem Lichte felber an Siegess 
fraft gebrechen mag: fo wird denn doch 3) das Mens 
fchengefchleht in fteter Vermifhung' der Guten 
und Böf en, der Söhne des Lichtes und der Söhne” der 
Finſterniß fortdanern bis an's Ende der Welt; nie wird 
bloß Licht, fondern Licht und Finſterniß ſeyn, nie bloß 


a — 


Weizen, fondern Unfraut und Weizen auf einem: Acer 
Gottes wachfen, fo lange hienieden ein Acker Gottes feyn 
wird. (Matth. XII, 28—40.) 


Es wird aber doc, einmal 4) ein Tag des Trium—⸗ 
phes, ein Tag der Aernte kommen; einmal das Licht über 
die Finſterniß einen vollendeten Sieg erkaͤmpfen; einmal der 


Werzen von dem Unfraut ganz gefondert werden Matti. 
Al, 40.) 


Was dem Wu des Lichtes fiber die Finfterniß ein 
Uebergewicht verfchaffen wird, ift 5) eben die auf bie 
Fülle der Zeiten berechnete Erfcheinung des Lichtes der 
Welt, d.i. die Erfcheinung des Menfchenfohnes auf Er- 
den. Denn durch ihn wird eine Scheidung und eine 
Sammlung der Kinder Gottes aus allen Verfaffungen ans 
gebahnet, durch ihm ein Reich Gottes gegründet werden — 
‚das fortdauern wird, bis einft Gott Alles in Allem jeyn 
wird. (oh. X, 26.) 


Diefes Neich Gottes (Kirche Chriſti, Heerde Chrifti) 
wird der Geiſt Chriſti 6) nie verlaſſen; nie wird die 
Macht der Hoͤlle dieſe Burg Gottes uͤberwaͤltigen koͤnnen 
bis an's Weltende. (Matth. XIV, 18. XXVIII, 20) 


Wer immer, in allen. Welttheilen, Chriſti Wort hoͤ— 
ren, bewahren und in ſich fruchtbar werden laſſen wird, 
der hat 7) hier ſchon ewiges Leben in ſich, ſtirbt nicht, 
wenn ev auch ftirbt, und geht, nad) dem Tode, nur zur 
Fortſetzung des ewigen Lebens über. (Joh. V, 24.) 


Endlich: Nicht nur ‚jeder einzelne Jünger Chrifti, fon- 
dern das ganze Gefchlecht wird durch Chriſtus vom Tode 
erweckt, wird vor den NRichterftuhl Chrifti geftellt, und 
nimmt aus der Hand Chrifti die Vergeltung nach eines 
jeden Werfen. (Joh. V, 28: 29. Matt. XXV, 31. 
52. 35. 34. 41.) 


— —— Da dieſe Lehre nichts fuͤr unfere Herzen 
zu wuͤnſchen übrig läßt, fo wird fie nach feinem andern 
Beweife ihrer Göttlichfeit Umfrage halten dürfen, indem 
fie den klarſten ſchon in ſich ſelber traͤgt. 


— ' 205 =» 


M 56. | 

Wenn wir num alle einzelne Lehren Chrifti in die 

Eine „Lehre von dem Menſchen und für den 
Menſchen“ zuſammenfaſſen, ſo geht die erhabene er 
me hervor: 

I. Der Menfch war — groß ... cicthel, 
rein, felig.) 

:D. Der Menfch trägt. jeßt noch Spuren feiner urs 
fprünglichen Größe an fich, mitten unter den Nar— 
ben feines tiefen Falles — ift klein, ohne m ur⸗ 
ſpruͤnglich geweſen zu ſeyn. 

III. Der Menſch kann aber wieder groß werden... 
ift noch in der Potenz, groß zu werden. 


9 Groß wird der Menſch wieder durch den neuſchaf⸗ 
fenden Geiſt Chriſti. | 


V. Wie diefer neufchaffende Geiſt fich ausbreitet in 
unferm Gejchlechte, jo wird das Licht fiegend über 
die Finſterniß. 


VI Noch währt: der Kampf zwiſchen Licht und Fin⸗ 
ſterniß. 


VII. Aber der Kampf iſt nicht ewig. Siegen wird 
eine aus den ftreitenden Parteien, und der Sieg 
‚wird fich entjcheiden auf die Seite des Lichtes, und 
den Sieg vollenden — wird Chriſtus — dann wird 
Pe: Alles in Allem jeon, Hallelujah! 


Ren nach diefen N Lauten aus dem Heiligthume - 
eine Gefchichte , gejchrieben werden koͤnnte: dann wuͤrde 
eine Univerfalbiftorie, im hoͤchſten Sinne des Wor— 
tes, möglich feyn. Bis dahin müffen wir und mit $rag- 
menten und Ahnungen behelfen. | 


57. 


— 


Lehrinhalt Jeſu nach der höchſten Idee des Chriſtenthums. 


Die hoͤchſte Idee des Ehriftenthumg iſt eben in der 
genannten Centrallehre (n. 48.) klar genug angedeutet, 


** 


A f 


— 206 — 


und könnte hier fo ausgefprochen werben, wenn das Uns. 
ausjprechliche ausfprechbar wäre: 


Die Menſchheit bedarf höherer Bermittes 
lung, um mit der Gottheit, von der fie abge 
falten ift, wieder vereiniget zu werden. 


„Wenn nun aber die Menfchheit (als das 
Endliche) der Bermittelung eines Höhern bes 
barf, um nicht noch weiter fih von Gott zu 
entfernen, und noch mehr, um mit ihm wieder 
Eines zu werden ſo kann ja das Vermit— 
telnde, das doch felbft nicht wieder der Ber 
mittelung benöthigt ſeyn darf, unmöglich bloß 
endlich feyn: es muß beiden angehören; es 
muß des Gdttlihen eben fo theithaftig ſeyn, 
wie e8 des Endlichen theilhaftig iſt.“ - (Ders 
gleiche die Reden für die gebildeten Verächter der Religion.) 


„Dieß DVBermittelnde fann von frommen 
Herzen gewünfchet, erflehet, aber nur von 


‚Gott felbft gegeben, kann durd feine Speku— 


fation ergriffen, fann nur durd) Offenbarung 
fund gemadht werden.’ 


„Dieß Bermittelnde ift Bott in Chriftns, 


iſt Jeſus; Niemand Ffennt den Vater als Der 


Sohn, und dem es der Sohn offenbaren will.‘ 


Die höchite dee des Chriſtenthums it alfo die Idee 
von göttlihen, vermittelnden Kräften, die fi 
in Chriſtus konzentrirt, und durch ihn auf die Menſchheit 
ausgegoſſen haben — und ſich ausgießen werden, bis der 
Bater Alles in Allem ſeyn wird. 


Daß dieſe höchite Idee des Chriſtenthums die ganze 
Seele Chriſti durchdrungen, und mit der hoͤchſten Klarheit 
fich feines ganzen Weſens bemaͤchtiget hatte, erweiſet ſich 
aus allem, was er von ſich ſelber ſagte, — denn alles, 
was er von ſich ſelber ſagte, ſollte nur ſeyn — ein Bild 
dieſer hoͤchſten Idee, ein Fingerzeig auf dieſe hoͤchſte 
Idee, ein Laut dieſer hoͤchſten, ewig⸗ ⸗unausſprechlichen 
Idee. 


— TH — 


Und erſt von dieſer Idee aus betrachtet, treten die 
Ausſpruͤche Jeſu von Ihm ſelber in ihr eignes Licht. 
In dem heitern Blicke auf dieſe Grundidee ſeines 
Weſens und ſeines Berufes nannte er ſich 
Gottes Sohn — geſandt zum Heile der 
Menſchen, und ſprach dadurch ſein ganzes Verhaͤltniß 
zur Gottheit und Menſchheit aus. 


Als Gottes Sohn (Joh. VIII, 54. IX, 35. X, 


56.) . nannte er fih den Inhaber aller Reicht huͤ— 
mer Gottes (Joh. XVI, 15. XVII, 10), den Sms 
merwirfenden, wie fein Vater immer wirkt (Joh. V, 
17.26); den Verherrlicher feines Vaters (Soh, VIH, 
49.50. XIV, 31.)5 den Geliebten and Verherr- 


lichten -feines Vaters (Joh. VIIL, 54. X, 17); den. 


Anbetungswürdigen, wie ed fein Bater it, (Joh. 
Wr23). 


Als geſandt zum Heile der Welt Soh. III, 
17.) nannte er ſich den Alleinoffenbarer des 86 
lichen (Matth. XI, 27. XXIII, 10.); den neuen beſ—⸗ 
fern Gefeßgeber, der das Geſetz in das Herz fchreibt 
(Joh. XIV, 26.); den Weltüberwinder (ob. XVI, 
339; den Allanzieher der Menfchen (Joh. XIL, 31. 


ie 52.); den Sündenvergeber (Matth. VII, 48. 50%, 
IX, 2—6.); den Freimacher der Sindenfnechte (Joh. 


VUI, 35—36.); den Arzt und Beleber des kran⸗ 
ken Gefchlechtes Matth. XL, 5); den Sender des 


heiligen Geiſtes, feines Stellvertreters (30h. X VI, ı 
8.);5 den Baumeijter einer neuen heiligen. Kirche, er 


Goͤttesgemeine (Matth. XVI, 1835 den Siemann 
guter Menſchen, den Vater einer heiligen Nachkommen— 
fhaft (Matth. XIII, 37—38.J; den Selbftopferer 
feines Lebens für das Leben der Welt (Joh. XVIT, 19.); 
den Hirten der Seinen (Joh. X.), und den Befeli 
ger der Guten jchon in dieſem Leben (Joh. XIV, 23.); 
den Stätte-Bereiter für die Seinen. im Haufe ſei— 
nes Baters (Joh. XIV, 2—3.); den Todtenerweder, 
den Allvergelter, den Mittheiler des ewigen Les 
bens. (Joh. V, 28— 29. X, 28. Matth. XXVI, 27) 


un 200 — 


Am liebſten kleidet Jeſus die innerſte Anſchauung ſei⸗ 
ned: Verhaͤltniſſes zur Menſchheit in die vier großen Bil- 
der: Licht, Waffer, Brod, Leben. Ich bin das 
Licht der Welt. (Joh. VI, 46. VIU, 12.) Ich bin 
das lebendige Brod, das rechte Nahrungs» und Erquis 
Fungsmittel der Menjchheit. (Joh. VI). Ich bin. die 
nie verfiegende, die ftetd erfriſchende Quelle. (Joh. IV, 
13. 14. VO, 37) Ic bin die Wahrheit und das fe 
ben. Seh. XIV, u 


* 


Gotteswuͤrdig erſcheint uns a⸗ die Lehre Jeſu, wir 
moͤgen ſie nach den Stufen ihrer Erkennbarkeit, 
oder nach ihrem Verhaͤltniſſe zur ganzen Menfchheit, 


oder nach ihrer hHöditen Idee, die ſie in dem Geiſte 
ohriſti hau, betrachten. 





Sieben 


— WE — 


Siebenzehnte Borlefung 
— | 


Mie der kehrinhalt gotteswiirdig,. fo ift auch Die dehr⸗ 
weiſe Jeſu eines goͤttlichen Geſandten werth. 


Er lehrte durch ſich, — 
Er lehrte durch ſeine erſten Freunde, | 


Er Iehrte und lehrt und wird I dur ‚u feine 
Kirhenanftalt. 


Er Iehrte durch fih, und lehrte 
1) kafual, fagte die Wahrheit, und fagte fi fie vo, 
und fagte fie Dort, und fagte fie fo, melde und wen 
und wo und wie fie zur fagen, ihm der heilige Anlaß ges 
bot — heilig ald Dolmetfcher des göttlichen Willens, 
Die Liebe hat überall ihren Katheder, wo bad — 
einen aufſchlaͤgt. 


Er lehrte 
2) größtentheils in Steihniffen, Bildern, Syms 
bolen, um das Himmlifche fir das arglofe Auge der, 
Nathanaele zu enthüllen, und für dag —— 
des Phariſaͤismus zu verhält en. 


Er lehrte 
3) ſtets hinweiſend zum- Thum des erfannten « 
Wahren, ald dem Schläffel zum Erkennen des noch Un— 
erfannten: „Wer thut, was ihm in meiner Lehre einleuche 
tet, wird inne werden, was ihm noch nicht einleuchter — 
daß es aus Gott ſey.“ Goh. VII, 17.) 


Er lehrte 
4) weiſe anfnäpfend fein neues RR an 
das alte, d, i. an das Wahre, Goͤttliche in der 
Ifraelitifchen Anftalt. Er konnte fagen: Sch kam nicht, 
das Goͤttliche, das da ift, in feiner jeßigen 
Form zu zerftören, fondern in feiner reichern 
3. M. v. Sailer's ſaͤmmtl. Schriften, VIIL. Bd, Zte Hufl, 14 


— — 


Fuͤlle darzuſtellen. Glaubt ihr an Moſes, fo glau⸗ 


bet — an mich; forſchet in den re f e zeugen 
von mir, | 


Er lehrte 


5) anpaffend fein Wort an die Ausfpräche aller 
Menfchenvernunft; wollte menfchlid von Menfhen ver 
fanden, geliebt, nahgeahmt werden. 


Er Iehrte 


6) das Wahre nie im firengen Söftem mit philo⸗ 
ſophiſchen Gründen, die nur für die Wenigften, und 
für die wohl kaum auf die Dauer gewefen wären, fon 
dern ſtuͤtzte es mit dem Argumente, das allein für die Bes 
duͤrfniſſe der Menfchheit allgemein gelten kann — mit der 
Autorität feines himmlischen Vaters, 


Er lehrte 


7) fein Wort verfiegelnd mit Thaten, und feine 
Lebensthaten mit dem Tode, 


Er lehrte durch feine erften Freunde, aber erft Ban 
dem er fie durch feinen perfönlichen Umgang brei Jahre 
lang vor; gebildet, und durch den allauffchließenden B eis 
ftand feines Geifted hinreichend nach-⸗ gebildet hatte. 


Er lehrte und lehrt durch feine . fortdanernde 
Kirchenanftalt, die alle. fommende Zeiten und alle 
Voͤlker der Erde umfaffen fol, alfo die. Grund: 
beftimmung hat, die allgemeine Kirche, ee 
aasoAıan, zu ſeyn. 


„ehret alle Völfer der Erbe; Ich bin bei end) bis 
an das Ende der Welt.” 


„Die Pforten der Hölle follen fie nicht aberwaltigen. u 


Daß vor ihm der göttliche Gedanke, auf alle fom- 
mende Zeitalter und das ganze menfhlihe Ge 
ſchlecht zu wirken, und zwar auf die großen ewigen 
Angelegenheiten unſers Gefchlechtes zu wirken, feine Men- 
fehenfeele berührt hat — davon befonders in einer 
nachitehenden Erimerung. 


— ‚211 — 


50. 

So wie in dem Lehrinhalte und in der Lehrweife, fo 
offenbaret fi) das Göttliche der Lehre Jeſu auch in bei 
unausbleiblihen Folgen derfelben, die. ald gute 
Früchte für den guten Baum fprechen, 


Wenn nämlich die Lehre Jeſu, als das Wort ber 
Wahrheit, feit geglaubt, tief zu Herzen gefaßt und 
treu befolgt wird, alfo in eine volltändige Bearbeis 
tung, und in eine lebendige Anſchauung des Im 
nerften übergeht: fo bringt fie indem Menfchen,- der fie 
ald das Wort der Wahrheit feft glaubt, tief zu Herzen 
faßt, treu befolgt — und unter der Bedingung, daß fie 
feft geglaubt, tief zu Herzen gefaßt und treu befolget 
werde — nothwendig ſolche Folgen hervor, die die Sem 
dung des Lehrers als gotteswärdig darftellen koͤnnen. 


Dieſe Folgen ſind 
Erſtens: fittliche Verbeſſerung — 
vom Grunde aus. 


Die Lehre Jeſu a) von Gott, dem Vater der Mens 
ſchen, der fie lieb hat, und feinen. Eingebornen für. fie 
‚ dahingiebt, von fi felbft, dem Erlöfer der Mens 
ſchen, der fich für fie opfert, von dem heiligen Geifte, 
der die Jünger Jeſu neu belebt; b) von der Nothwens 
dDigfeit der Buße, wodurd nicht etwa Die Oberfläche, 
fondern der tiefſte Grund des menschlichen Herzens ges 
beffert werden muß, und von der vollftändigen Kraft 
zur Befjerung, die dem Slaubenden dargereicht wird; 
c) von der Vergebung der Sünden, von dem 
himmliſchen Frieden, der dem Gebefferten, und von 
der Seligfeit, die dem Bollendeten zu Theil wird, koͤn— 
nen unmoͤglich fejt geglaubt, tief zu Herzen gefaßt und 
treu befolgt werden, ohne daß fie in dem, der fie glaubt, 
zu Herzen faßt und befolgt, eine preifache Umände- 
rung in feinen Anfichten und Urtheilen, in feinem Wol« 
len und Nichtwollen, und in feinem ganzen Thun und 
Zaffen hervorbringen. Der Sinn diefer Lehren wird den 
- ganzen innern Menfchen ergreifen, bearbeiten, durchdringen, 
14° 


— — 


neu bilden — als das goͤttliche Ferment, das Jeſus in 
die verderbte Maſſe geworfen hat. Nun aber jene drei— 
fache Umaͤnderung iſt eben das Weſen, der Geiſt aller 
Buße, iſt die ſittliche Verbeſſerung ſelber. 


Dieſe Folgen ſind 
Zweitens: volle Beruhigung des Gebeſſerten. 


Die volle Beruhigung des Menſchen iſt die Beruhi— 
gung ſeiner Vernunft in den wichtigſten Angelegenheiten 
unſers Geſchlechtes, die Beruhigung ſeines Gewiſſens 
in Hinſicht auf Suͤnde und Suͤndenvergebung, und die 
Beruhigung ſeines Herzens in Hinſicht auf eigne und 
fremde Schickſale. 

Nun gewaͤhrt uns die Lehre Jeſu, als das Wort der 
Wahrheit, feſt geglaubt, tief zu Herzen gefaßt, treu bes 
folgt, diefe dreifache Beruhigung. : Sie gewährt Beni: 
gung ber Bernunft. 

„Bott hat mir durch Chriſtus feine ewige Liebe 

offenbart: an die halte ich mich — hier im Lande bes 
Glaubens, bis ich im Lande des Schauens fehen werde 
von Angeficht zu Angeficht, was ich hier glaube,” Jb- 
ros E0a — fagt der Ehrift mit vollem Rechte: ich habe 
geforfcht, und meine Vernunft fand überwiegende Gruͤnde, 
das Wort Chrifti für das Wort der Wahrheit zu halten. 
Sept ſteht ſie ehrerbietig ftille, und unterwirft ſich nur 
der hoͤchſten Vernunft. 
Die Beruhigung der Vernunft — aſo feſt — auf 
dieſem Grundſatze: Was ich, um gut und ſelig zu wers 
den. zu erfennen nöthig habe, hat mir mein Gott hier 
{don offenbaret;— was mir noch dunkel ift, und für den 
unfterblichen Seift Intereſſe haben kann, daruͤber * mir 
einſt die Ewigkeit Aufſchluß. 

Die Lehre Jeſu gewaͤhrt Beruhigung dem Gepif ſen. 
Mein Gewiſſen,“ ſpricht ber Chriſt, welcher die For⸗ 
derungen und Verheißungen Chriſti in feine Geiftes + und 
Lebens-Marimen verwandelt hat, „irt ruhig — verdammt 
mid) nicht, fhredt mich nicht, Angitigt mich nicht; 
ift ruhig in Hinſicht auf die Vergangenheit, denn die 


— 15 — 


Suͤnde iſt mir vergeben, indem der Geiſt ‚Gottes mic, 
von ihrer Herrſchaft erloͤſet hat; mein Gewiſſen iſt ruhig 
in Hinſicht auf die Gegenwart, indem mich der Geiſt 
Gottes zu dem Entſchluſſe geſtaͤhlet hat, mit Gott zu 
vollenden, was ich vor Gott vollenden ſoll; mein Ges 
wiſſen iſt ruhig in Hinſicht auf Die Zukunft, weil mir 
der Geiſt Gottes die Verficherung gegeben hat, daß er 
für mid) alle Sindenfolgen, die etwa noch ungetilgt find, 
aufheben und vergüten werde,’ 


Die Lehre Yefu gewährt Beruhigung dem Herzen. 


Wer die Forderungen und Verheißungen Chriſti zu 
feinen Geiſtes- und Lebens-Maximen gemacht hat, trägt 
1) im Glauben an das Wort Ehrifti die Zuverſicht 


im Herzen, daß ben Gottliebenden alle Dinge zum Beiten 


dienen werben; trägt 2) im fih dag Gefühl feines 
überlegenen Muthes, alle Neigungen in fich zu bes 
herrfchen, und dadurch die Unruhen, die aus unbeherrfch- 
ten Neigungen fommen, zu verhuͤten, oder zu unterdruͤcken; 
weiß: 3)" in, allen, was erduldet, getragen ſeyn muß, fich 
in den Willen und in: die. Führung der ewigen Liebe zu 
ergebem Nun jene Zuverficht, dieſer Heroismus und 
dieſe Ergebung  ftillen jeden: Aufruhr des Herzens, wenn 
- fie ihm nicht beyorfommen können. ° 


Und zu jener Hoffnung, zu diefem Heroismus und zu 
diefer Ergebung führt und die Lehre Jeſu. 


Wer einen Chriften kennt, hat in feinem Gefichte das 
weneuse diefer dreifachen Ruhe gewiß ſchon oft gefehen. 


Diefe Folgen find 


Drittend und letztens: eine fortfhreitende Er 
leuchtung des menfchlichen Gefchlechtes in feinen wich—⸗ 
tigiten Angelegenheiten, woraus ‚die Befferung und „Bes 
ruhigung der Einzelnen hervorgeht, und zwar eine Er⸗ 
leuchtung, die nicht ihres Gleichen hat, 


h an Ausdehnung auf alle Menſchen, die hoͤren 
pruͤfen, glauben koͤnnen; 


2) an Ausdehnung auf alle Zeiten durch Fortpflan⸗ 
zungider Lehre in Familien und einzelnen Ge⸗ 
meinden; 


3) an Sicherung des Lichtes durch höhere Autorität, 
die nicht nur fir jeden nüchternen, glaubwilligen 
Menfchen eine hinreichende Meberzeugungsfraft hat, 
fondern uͤberdem auch der forfchenden Vernunft Stoß 
und Stoff giebt, fich felber zu entwideln, und bie 
Data der Offenbarung in Vernunftwahrheiten, we 

nicht zu verwandeln, doch die Verwandlung zu vers 
ſuchen. * 


Die Lehre Chriſti iſt alſo gotteswuͤrdig in Hinſicht 


auf ihren Lehrinhalt, 
auf ihre Lehrart, 
auf ihre Lehrfolgen. 


Min. a 


Was bisher von der Lehre Chrifti dargeftellt ward, 
fcheint nicht bloß bedeutend zu ſeyn, fondern ift wirklich 
fo bedeutend, daß es der Mühe Iohnt, den Charakter deſ— 
felben tiefer in die Seelen der Hörenden (Leſenden) zu 
prägen. | 





— 213 — 


Achtzehnte Vorlefung 


Freimuͤthige Erinnerungen an meine Zeitgenoffen. 





> - 60. 
“Erfe Erinnerung. 


Von dein Zufammenbange zwifchen Evangelium und ’ 


Philoſophie. 


Die Phllolorhe als Wiſſenſchaft, wenn ſi e das Bote 
feijtet, "was fie Teiften Tann, erhebt ung zu den ewigen 
Ideen des Wahren, Guten, Seligen — des Schönen, 
und lehrt ung ringen nad, Wahrheit in afem Denten, 
nach Sauterfeit in allem Wollen, nad —4 
digkeit in allem Handeln. 


Nun aber, wie ſchoͤn harmonirt mit — beſten 
Zwecke der beſten Philoſophie das Ev augelium, das 
und nicht nur das gegebene Denkvermoͤgen heilig ges 
brauchen lehrt, fondern die erworbenen Erkenntniſſe mit 
neuen Dffenbarungen, neuen Ausfichten vermehrt; nicht 
‚nur die höchite Lauterfeit im Wollen zum Geſetze macht, 
fondern aud) höhere Macht des Geiſtes zur Reinigung 
des Willens verheißtz nicht nur die wahre Selbſtſtaͤndig⸗ 
keit in Dem, der allein aus ſich und in ſich beſteht, uns 
ſuchen lehrt, ſondern uns geradezu an Gott in Chris 
ſtus anweiſet, der unſer beſſeres Selbſt wirklich 
erhoͤhet, indem er es mit den Kraͤften der unſichtbaren 
Welt in Vereinigung bringt, und hier auf Erden von ei- 
ner Stufe der Tugend und Geiftesfreude zu andern, und 
drüben zur höchiten Heiligkeit und Seligkeit erhebt? 


Philofophie, ald ein Streben nad Weisheit, kann 
nicht8 Befjered thun, ald daß fie felbit, ald demüthige 
Juͤngerin, zu Ehrifius in die Schule geht, und hordet, 


— 446 — 


wo fle nicht lehren, glaubet, wo fle nicht wiffen, e m⸗ 
pfängt, wo fie nicht geben fann — und wird, mas 
fie nicht. iſt. 

Das Chriftenthum lehrt Feine neue Logik, fondern 
eine neue Geburt: „Wer Gottes Reid fehen 
wii, muß aus dem Öeifte geboren werden.” 


Dieſe Ueberzeugung von dem Inhalte und Geifte des 
. Evangeliums, die meine Geele fo heiter und meine 
Lebensbahn fo ſicher macht, die mir ſchon die fchönften 
Freuden meines Lebens gewährt hat, und noch ſchoͤnere 
gewähren wird — göumnte ich allen Menſchen, goͤnne fie 
befonderd den Jünglingen, die noch auf Scheidewegen 
ftehen, goͤnne ſie Ihnen, meine theuerften Zuhörer — bon 
Herzen, und hoffe, daß fie in Ihnen ſchon Wurzel ges 
faßt habe, und immer tiefer. wurzeln ‚werde, damit fie, 
zum Baume der Religion erwachfend, die Frucht 


der ungefaͤlſchten Tugend, 
des ungetrübten Friedeng, 
ber Tautern Freude und ! 
der KR, Wirtfamteit 
bringen möge! 
— Und ſo würde bie iifofechie, was fle in 
den fruͤheſten Zeiten des Chriſtenthums geweſen iſt, — 


wieder ein Erzieher zum Evangelium, ein Padageg, der 
uns zu Chriſtus weiſet. 


Dieſe große Anſicht von der Philoſophie und von 
dem Evangelium hatte auch der DE Philoſoph Cle⸗ 
mens von Alerandria. Strom. 


ESo war. denn die Philofophie vor - Ankunft des 
Herrn den Griechen nothwendig zur Tugendz jest aber 
ift fie nuͤtzlich als Vor + Unterricht zur Gottfeligfeit 
für die, welche die Früchte. des: Glaubens durch Apodife 
tik fammeln wollen. Es wird, wie es heißt, dein 
Fuß ſich nicht verffoßen, wenn du alles Gute auf 
die Providenz Gottes zurücführeft, es ſey griechiſch oder 
unſer. Denn Gott ift der RE von allem Guten, 


> 





— 217 — 


und zwar vorzugsweiſe von einigen Dingen, wie von 
dem alten und neuen Bunde, von andern Ableitungsweife, 
wie von der Philoſophie. Vielleicht Ffann man auch fas 
gen, daß auch die Philofophie Damals. den Griechen: vor⸗ 
zugswetfe gegeben worden, ehe der Ruf des Herrn an 
fie ergangen iſt. Denn die Philofophie war deu Heiden, 
was das Gefes den Hebraͤern war — ihr Paͤdag os 
su Ehriſtus him Cein Kinderlehrer).“ 


„So. find. denn auch die Philoſophen Kinder, bis fie 
zu Männern gemacht werben,“ ‚Strom. lib. L n. XI. 


Eine ähnliche Anfhanung hatte Tertullian, der, nach⸗ 
dem er die Lehre Chriſti aus der Glaubensregel erwieſen 
hatte, ihre Gruͤnde auch in der menſchlichen Natur nach— 
wies, alſo — Harmonie zwiſchen Phikoſophie und Evan— 
gelium vorausſetzte. Schon der Titel der Schrift iſt 
merkwuͤrdig: de Testimonio animae. Die Seele 
zeugt ihm von dem Goͤttlichen und Ewigen, das ſich in 
Chriſtus nur herrlicher offenbart hatte. „Dieſe Zeugniſſe 
(daß naͤmlich ein Gott und die Menſcheuſeele unvergaͤng⸗ 
lich fey), Die. ſich im Innerſten der Seele ausſprechen, 
haben fo viel Wahrheit als Einfalt, fo viel Leichtvew 
ftändlichfeit als Einfalt, fo viel Allgemeinheit ald Leicht 
verſtaͤndlichkeit, ſo viel Natur als N; fo viel 
Göttlichkeit als Natur.‘ 


„Niemand wird das Falt und oͤde Kuben, —* an die 
Majeität der Natur denkt, yon welcher die Würde der 
Seele abhängt. So viel du der Lehrerin beilegft, fo 
viel giebft du der Schülerin. Lehrerin ift die Natur, 
Schülerin die Seele. Was aber jene gelehrt, dieſe ges 
ferne hat, ſtammt von Gott, dem Lehrer der Lehrerin. 
Was die Seele von ihrem vornehmjten Lehrer voraus—⸗ 
feßen kann, mag dir die Seele, die in dir iſt, offenbas 
ven.  Fühle den Werth derjenigen, die fih dir gu fühlen 
giebt. Lerne in allen ihren Ahnungen die Prophetin, 
in allen Ereigniffen die Deuterin, in der Gegenwart 
die Borherfeherin der Zukunft: erkennen. Daß ſie, 
von Gott gefommen, dem Menfcher weiſſaget, iſt ſo we 


— TBB — 


nig zu verwundern, als daß fie den erkennt, won den 
‚fie gekommen ift. Auch umlagert vom: Feinde, hat ſie 
noch ‘die Erinnerung an ihren Urheber, an feine Güte, 
an feinen Rathſchluß, an feinen Widerftreiter: fein Wun⸗ 
der, daß fie, von Gott verfchaffen, das Lied fingt, das 
‚Gott feinen Freunden geoffenbaret hat. Wer dieſe Ur- 
ausſpruͤche der Seele fir Feine urfprüngliche Lehre der 
Natur, für feinen ftillen Auftrag des angebornen Gewif- 
ſens anfieht, der wird fie für eine Frucht des gelehrten 
Denkens, für einen Spracgebraud oder Sprachfehler 
der eingeführten Wiffenfchaft ausgeben. Allein war den 
die Seele niht früher als der Buchſtabe, 
bie Rede früher als das Bud, das Gefühl 
früher als die Schreibfunft, der Menſch fri- 
her als der Philoſoph und Didter?” 


+61. 


Zweite Erinnerung. 


Von bem Zufammenhange zwifhen Evangelium und 
| Humanttät. 


- Wenn Humanität fein fo abgenüstes, entweihtes 
Wort wäre, und die Menfchen zur hellen Anſchauung 
der vollendeten Humanität zuruͤckgebracht werden koͤnnten, 
fo witrde wohl feine intereffantere Darftellung des Chri- 
ftenthums gegeben werden fünnen, als die: 


Was Chriftus Lehrte, ift Die Religion ber 
Humanität. 


— — Gie iſt wahrhaftig die Religion ber Hu 
manität im fchönften Sinne des Wortes. , Denn, da 
die Lehre Chriſti, feft geglaubt, tief zu Herzen gefaßt, 
treu befolgt, nothwendig „eine unvergleichbare Erleud- 
tung des menschlichen Geſchlechtes in feiner. allerwichtig« 
fien Angelegenheit, eine ſittliche Verbeſſer ung vom 
Grunde aus, und eine volle Beruhigung der Ber 
nunft, Des Gemiffens und. des Herzens hervors 
bringt, fo iſt fie eine, dem dreifachen höhern Beduͤrfniſſe 


der. menfchlichen Natur nah Erfenntnif, nah Ti 
gend, nad Seligfeit höchft angemefjene Lehre, alfo 


1) eine eigentliche Lehre für die Menſchheit, .d. i. 
eine Lehre von dem Menfchen und für den 
Menfchen Da die Lehre Chriſti von Gott auss 
geht, und den Menſchen zu Gott zuruͤckweiſet, ſo iſt 


2) ihr Inhalt und Zweck kein anderer, als Wieder⸗ 

anknuͤpfung bed. Meufchen an Gott, Wiedervereinis 

gung mit Gott, d..i5 Religion für Menſchen, 

wie fie find. Da ferner Chriftus Gott als Liebe 

darftellte, da er das Gefeß der menfchlihen Ber 

ſtimmung im der Liebe Foncentrirte; da er un ſich 

die Gefchichte der Liebe, in fofern fte ſich opfert 

für das. menfchliche Gefchlecht, und durch die Selbſt⸗ 

aufopferung ihre eigene Berflärung findet, und, 

- verflärt, den. Menfhen gut und felig 

macht, gleichſam zur Anſchauung darſtellte; da die 

ur reinen, heiligen. Liebe entwickelte Menſchennatur 
die ſchoͤuſte Humanitaͤt iſt: fo iſt | 


3) die Religion, die Jeſus Iehrte, offenbar die Reli i⸗ 
gion der Humanitaͤt. 

— — — — Ein Freund bat mic, das. Chriſtenthum 
als Religion der Humanität in ihrer Schönheit 
zu malen; allein, abgefehen davon, daß ich fein Maler 
bin, finde ich uͤberdem Die Augen meines Zeitalterd fo 
verfchleiert, daß fie die wahre Humanität gerade fo vers 
fennen, wie die Religion. ° Einigen ift die gerühmte Hus 
manität weiter nichts, als die gewandte Eigen 
liebe mit der Larve der Menfhenliebe, die, 
Schande auf Schande häufend — mit f[hönen 
Worten pranget, und ein gutes Gefidht zum 
böfen Spiele luͤget. Andern ift Humanität der 
freie Lebensgenuß ohne Menfhendprud und 
ohne Religionsgefühlz; wieder Andern iſt Humanis 
tat die füßlihfade Schwashaftigfeit von 
Menſchenbegluͤckung, die alles außer fi mer 
tert, und in ſich felber der Leidenfhaft früh 


* 


— — 


net Den Wenigen, den Auserwaͤhlten iſt Humanitaͤt 
bie heilige Liebe, die, von Gott ausgehend, Die ganze 
Menfchheit umfaßt, und von dem edlen Tagwerfe — dem 
Streben, die einzelnen Menſchen unter ſich und mit 
Gott wieder zu vereinigen, nur in Gott, in dem fie zu— 
ruͤckkehrt, ausruhet. Dieſe Wenigen beduͤrfen aber keines 
Gemaͤldes, denn ſie ſind ſelber das ſchoͤnſte Gemaͤlde der 
Humanitaͤt, die Religion iſt, und der Religion, die Hu 
manität ift — das fchönfte Gemälde der durch Kiebe 
zur Liebe entwicelten Menfchennatur. 


*Wer die vergangenen dreißig — vierzig Jahre im unſerm 
deutfchen Vaterlande nachſinnend mitgelebt bat, wird wiſ— 
fen, dag man, vorerſt mit Empfindfamfeit, nachher mit 
Aufklärung, endlich mit SittlihFeit, (Humanität) 
bald Abgötterei getrieben, bald Blindekuhe gefpielet, bald 
Theriak und Mithridat zur Heilung des Franfen Gefchlech; 
tes daraus bereitet hat. Aber leider! da der Empfindjam: 
feit das Herz der Religion, der Aufklärung das Auge bei 
Religion, und der Humanität der Geift der Religion fehl; 
te, fo Eunnten weder’ die Iuftigen Taͤnzer um diefe drei 
goldenen Kälber, noch die blinden’ Spieler, noch die bered— 
ten Marftfchreier ettvas anders bewirken, .als daß fie dem 
Manne von Geift und Gemüthe, wenn fie ihm im dem 
Kreife feiner trefflichen Nachbarn empfindfam, aufge: 
Flärt, human hätten nennen wollen, wo nicht ein Erroͤ— 
them vor ihm felber, doch ficherlich ein beimitleidendes Laͤ— 
cheln über Die unberufenen gobreöner abgedrungen eg 
würden. - I 


z 
aeg 
BEEreT TI zZ 


dr 62. 


Dritte Ekinnebung— 


VBon dem Zuſammenhange des Planed Jeſu mit ‚ber, eu 
höhern Sendung feiner. Perſon. 


en 6 Nachdem ich die Spuren des Göttlichen, die in: ber 
Lehre Chrifti, im feiner Lehrart und in den Lehrfolgen 
Liegen, dargejtellt habe: fo ift mir ein nuͤchternes Urtheil 
aber Reinhard's Berfuh: „von dem Plan, den: der 
Stifter der chriftlichen Religion zum Beiten der Menſch—⸗ 


— DEE en 


heil entwarf,’ fehr erleichtert, Der Inhalt und Geift dies 
fer Schrift it. kurz der: \ 


1) Der Entwurf Jeſu tft groß im Umfange, groß 
‚im feiner Beſchaffenheit, groß in der Art der Aus⸗ 
führung. Er wollte ein Reich Gottes gründen, 
welches das ganze Meufhengefhleht um 
faßte, ‚und wollte „diefes Neich der Wahrheit, Tus 

gend, Seligkeit nicht duch offenbare Gewalt, 

Nicht durch verſteckte Einflüffe einer gehei— 
men Geſellſchaft, fordern durch eine, alle Welt 
und alle. Zeiten. umfaffende, Lehr⸗ und Heils⸗ 
Anſtalt gruͤnden und erhalten. 


2) Diefer Entwurf tft nicht nur groß, e er it in Jeſus 
einzig, denn fein großer Mann des Alterthums 

vor Jeſus bat einen Plan von folgen Umfange, 

von folder Befhaffenheit und folder Aus 
führung, einen Heiligungs⸗ und Beſeligungsplan 
für das ganze menfchlihe Geſchlecht entworfen; 
a) Feiner unter den Stiftern von Staaten und Ges 
ſetzgebern; b) Feiner unter den Helden und Ber 
theidigern ihres Baterlandes; c) keiner unter den 
weifen Königen und Stantemännern; d) feiner un⸗ 
ter den Bhilofophen und Öefehrten ; ©) feiner um 
ter den Neligionsitiftern, nicht Mofes, nicht Zoroas 
ſter, nicht Confucius. 


3) Da Jeſus wirklich diefen —D —— all⸗ 


umfaſſenden Plan in feiner Seele trug, und vor | 


ihm feiner auch nur einen ähnlichen entworfen 
hatte: jo folgt daraus, daß die erhabenften Eigens 
fchaften, Die ein menfchlicher Geift befigen kann, in 
Jeſus vereinigt  feyn mußten, ohne. die ſich jener 
Entwurf nicht. denken. ließe, naͤmlich eine alluͤber—⸗ 
treffende Weisheit, beifpiellofe Stärke. der Seele, 


a Güte, hoͤchſtes Auen gegen die Menfchs 
eit 


4) Da diefe außerordentliche Eigenschaften Jeſu ſi ich, 
nach den — FEN Bildungsgefegen, in Ies 


— — 


ſus nicht wohl entwickeln konnten, fo find fie nicht 
ohne einen höferu Einfluß Gottes entwidelt wor 
den, 


5) E3 wäre alſo hoͤchſt unvernünftig, den — Ein⸗ 
fluß Gottes, ohne den jener große, allumfaſſende, 
einzige Entwurf nie in der Seele Jeſu Sinn, Le 
ben und Beftand hätte gewinnen koͤnnen, zu 
läugnen. Es ift alfo höchft vernünftig, ihn feines 
großen, allumfafjenden, einzigen Entwurfes wegen, 
der einen höher Einfluß der Gottheit vorausfeßet, 
für einen Gefandten Gottes an die Menſch⸗ 
um zu halten. 


v > 


Sch will hier nicht fragen, ob nicht in dem Schluß 
ſatze (n. 5.) mehr ausgeſprochen werde, ald in ben Bors 
derfäsen (1. 2. 3. 4.) liege; auch nicht erinnern, daß 
wir den Mann, der unter höhern Einflüffen Gottes. fteht, 
deßhalb noch nicht ald Gefandten Gottes an die Menfch- 
heit anzufehen gewohnt: find, indem wir fonft jeden gott— 
feligen Deenfchen, ſo wie er nothwendig unter höhern 
Einflüffen Gottes fteht, audy nothwendig für einen Boten 
Gottes an die Menjchheit halten müßten. Nur das Eine 
will ich bemerkt haben: 2 


Der Ausdrud? „Jeſus entwarf einen allumfaſ— 
fenden Plan,” hat eine Bedeutung, der nicht nur. von 
der Gefchichte widerfprochen wird, fondern die gerade 
am meilten den Eindrucf des Goͤttlichen ſchmaͤlert. 


Denn Jeſus behauptet ſtandhaft: Es ſey nicht 
ſein Gedanke, nicht ſein Plan, nicht ſein Wil— 
‚fe, den er ausfuͤhre; es ſey des Vaters Rath— 
fhluß, des Vaters Auftrag, was er in's Wert 
zu ſetzen habe. 


Alfo davon, daß Jeſus fich einen fo großen Entwurf 
felbft gebildet habe, hätte der Verfaſſer ſchweigen follen, 
da die heilige Schrift nicht nur davon fchweigt, fondern 
jeder Selbftbildung des Entwurfes ausdrüdlich widers 


— 223 — 


foricht. Deß ungeachtet fchmwebte ihm etwas Wahres 
vor, das aber, um wahr zu ſeyn, alle‘ —— des 
Entwurfes ausfchließt. 


Deshalb, um den Inhalt bier Schrift mir genieß⸗ 
bar zu machen, uͤberſetzte ich die Sprache des Buches in 
eine andere, und zwar in dieſe: „Es lag in der Seele 
Chriſti der große Gedanke, ein Reich Gottes auf Erden 
zu gründen, das alle Voͤlker und alle Zeiten in ſich faß 
fen, ja das Heil der Welt darſtellen ſollte. Und dieſer 
große Gedanke war in Jeſus einzig, und dieſer einzige 
Gedanke iſt ſowohl in der Art der Ausfuͤhrung, als in 
feiner Beſchaffenheit einzig. Und dieſer durchaus eins. 
zige Gedanke trägt offenbar das Gepräge des Ööttlichen. 
Und diefer offenbar. göttliche Gedanke beweifet feine gött« 
liche Abfunft noch deutlicher, wenn wir die Entwidelung 
der menfchlichen Natur überhaupt und die Zeit und die 
ganze Lage, in. der Chriftus erfchien, erwägen.’ 


Gerade dieß it das hoͤchſte Siegel der Sendung 
Jeſu, daß er feinen eigenen Willen, feinen eigenen Plan 
hatte, „Eins mit dem Bater, Iehrte er nur defjen 
Wort, vollbrachte nur deffen Willen.‘ 





— 224 — 


Neunzehnte Vorleſung. 





x 68. 
Jeſus {ft hoͤchſt würdig, als Geſandter Gottes anerkannt zu 
werden, in Hinfiht auf fein Reben. 


Dar Werth eines Menfchenlebens verhaͤlt fich, wie das 
Wollen und Thun, wie das Nichtwollen und 
Richtt hun, wie das Thun und Leiden des Men— 
ſchen. Harmonirt ſein Wollen und Thun, fein Nichte 
wollen und Nichtthun, fein Thun’ und Leiden unter ſich 
und mit dem heiligen Geſetze, (dad der im Gewiffen: 
und im Gemüthe ausgefprochene Wille Gottes iſt, und 
eben vefwegen das heilige Gefek heißt, weil es won 
dem Heiligen ſtammt und zum „Heiligen  weifet), und 
halt Diefe- Harmonie an, fo Tange das Leben felber dan 

ert: fo kann man einen folhen Menſchenleben das Ges 
präge des Göttlichen, des Gotteswirdigen nicht abfpres 
hen. Und diefes Gtpräge wird fich in dem Leben Jeſu 
jedem yarteilofen Blicke nicht ſo faſt zeigen als * 
dringen. 


Die Gotteswuͤrdigkeit des Lebens Jeſu erweiſet ſi 


Erſtens: in ſeinem Wollen und Chun. Sein 
Wollen war nır Eined. Er wollte nichts, ald was fein 
himmlifcher Vater wollte. „Dieß ift meine Speife, daß 
ih den Willen. deffen, der mid) gefandt hat, ausrichte, 
und fein Werk vollbringe.“ (Joh. IV. 34.) 


Der Wille ſeines Vaters war gleichſam das hoͤhere 
Element, in dem Jeſus lebte und ſchwebte; daraus ſprach 
er, daraus handelte er, dadurch bewies er ſeine innigſte 
Verwandtſchaft mit dem Vater, darnach beſtimmte er die 
Verwandten ſeines Geiſtes: „Sieh! deine Mutter und 
‚beine Brüder fuchen dich da draußen. — Mer ift meine 
— wer ſind meine Bruder ? Da, (Jefus deutete 

auf 


* 


— 9 — 


auf die Umſtehenden) da iſt meine Mutter, da ſind meine 
Bruͤder, denn wer den Willen meines Vaters thut, der 
iſt mir Mutter und Schweſter und Bruder’! (Markt, UL 
55 — 35.) 


Dieß Wollen’ machte: fich ſichtbar durch ſein Thun. 
Sein Thun wie fein Wollen — Ein lauteres Vollbrin⸗ 
gen des göttlichen Willens... Um aber die vollftändige 
Gotteswuͤrdigkeit der Thaten Jeſu unter unfere Anfchaus 


ung zu bringen, dürfen wir hier nur den größten 


Mapftab anlegen, der in unferer Vernunft liegt; denn 
wir werden ihn. ficherlich nicht zu groß finden Die 
Gotteswuͤrdigkeit des menfchlichen Thuns verhält fich 


a) wie die Fülle der Wohlthaͤtigkeit, die darin 
liegt; 


b) wie das Heilige des Endzweckes, ber es bes 
ſeelet; 


ch wie die Dauer des Guten, die es zum Augen⸗ 
merfe hat, und wie der Aufwand von Kraft, 
der zur Gründung des Guten gemacht wird. An 
dieſem Maßſtabe gemeffen, erſcheint die Gotteswuͤr⸗ 
digkeit der Thaten Jeſu im ſchoͤnſten Lichte. 
Die Gotteswuͤrdigkeit des Thuns iſt 
a) wie die Fülle der Wohlthaͤtigkeit, die darin liegt. 
Die Schöpfung des Univerfums ift doch wohl gottes⸗ 
würdig. Warum? Es Tiegt in dieſem, ewig unaus— 
forfchlichen und ewig neuen Schöpfungsaftus die ganze 


Fülle von Wohlthätigkeit. Mir ihm ift Seyn: und Leben 


und Beitand aller Kräfte gegebeit. 


Sp wird denn auch das Leben Jeſu holleswuͤrdig 
fegn., Denn es it nichts anders als eine Summe, nener 
Schöpfungen für Thoren, die weife, für Sünder, bie 
gerecht, für Gottesvergeffene, die gottfelig, für 
Leidende, die getroft, für Kranke an Geift und 
Leib, die gefund an Geift und Leib, fir Blinde, die 
fehend, für Lahme, die gehend, für Taube, die 
hörend, für Todte, die lebend wurden, 

IM, v. Sailer's ſämmtl. Schriften. VIII. Bd. Zte Aufl. 15 


— 226 — 


* Hier fehe ich an den Wunderthaten Tefu mehr auf die Lebens: 
solfommenheit Jefu, als auf das Wunderbare des Thuns. 


Die Gotteswärdigfeit des Thuns iſt 


b) wie die Reinheit des Endzweckes, der dem. 
Handelnden befeelt, und zur Handlung begeiftert. Der 
Wille (die Abficht) des Schöpfers war in der Schr 
yfung fo heilig, fo lauter, wie das Wefen Gottes. Gott 
kann in der Schöpfung nur fich offenbaren wollen, nur 

die Wahrheit, Heiligfeit, Seligfeit — die Schönheit, das 
goͤttliche Wefen offenbaren wollen. Die Unermeßlichkeit 
der Gefchöpfe follte nichts anders. ſeyn, als eine Uner⸗ 
meßlichfeit von Spiegeln, in denen ſich das Wefen Got- 
tes nach unzähligen Weiſen darftellte.. Die. vollfommenz- 
ften Spiegel follten die gleichendften Ebenbilder de 
göttlichen Wefens, die ganze Natur, alle Dinge follten 
Bilder des göttlichen Weſens ſeyn. 


Die ewige Liebe kann in der Schöpfung nur ſich 
offenbaren wollen in allen Bildern und Ebenbildern ihres 
Weſens, und durch diefe Offenbarung nur fie felber, 
die Offenbarung ihres Weſens vollenden, die Ebenbilder 
ihres Weſens zu vollendeten Ebenbildern machen wollen, 
daß fie lichthell, heilig, felig, ſchoͤn wie Gott feyen. 


Alſo: die Schöpfung ift nichts als, Offenbarimg der 
ewigen Liebe, und die Heiligung und Befeligung 
aller empfänglichen Gefchöpfe die vollendete Offenbarung 
des göttlichen Weſens — die eigentliche Abficht der Sa 
| RR | 
* Da * Heiligung und Beſeligung ohne das Licht der 

Wahrheit, und die. Heiligkeit und Seligkeit eines. licht: 

hellen Wefens die Schönheit eben diefes Weſens ift: fo 

will ich mit dem kuͤrzern umd runden Ausdrucke, Heiz 
ligung umd Beſeligung, die Darftelung des ganzen 
göttlichen Wefens bezeichnet haben. 


Und gerade diefe einzige, gotteswuͤrdige u cht liegt 
allen Handlungen Jeſu zu Grunde. 


- Er erflärt fich felbft über diefe feine Abſicht 
in dem merfwirdigen Gebete, am Abende feines Leidens 


— ET 


und Lebens, in dem reinſten Ausguſſe feines Herzens, 
und ich habe noch nichts Ruͤhrenderes kennen gelernt als 
dieſe Erklaͤrung: „Ich habe dich, Vater, auf Er⸗ 
den verherrlichet, habe vollendet das Werk, 
deſſen Vollendung du mir aufgetragen haſt.“ 
(Joh. XVII. 4) „Ich habe deinen Namen den 
Menfhen offenbaret, die du mir gegeben haft 
von der Welt.’ GJoh. XVIl. 6) 


Siehe da den Endzweck des Lebend Jeſu, — Sf fen 
barung bes Vaters! 


„Sch bitte nicht nur für fie: für Alle, die 
durch ihr Wort an mich glauben werden, bitte 
ih: Laß fie Eines werden, Eines mit ung, 
wie du in mir und ich in dir bin, 21) Hei—⸗ 
lige fie in Wahrheit. (v. 17) Sie follen feyn, 
wo ich bin, und bei mir, damit fie meine 
Herrlichkeit ſehen.“ (. 24.) 


Siehe da die Abficht der Offenbarung — 
Heiligung und Befeligung. 
Die Gotteswürdigfeit des Thuns ift 


c) wie die Dauer des Guten, das Dadurch bezme; 
det und erreichet wird, und wie der Aufwand, ber 
zur Gründung des Guten gemacht werden muß. Nun 
aber, was war das ganze Leben Jeſu anders als ein 
Wahrmachen des Wortes: 


„Ich gebe mein Leben, 
„damit die Welt ewig lebe’? 


Ewigkeit ift doch das hoͤchſte Maß aller Dauer: das 
Leben opfern it doc; das höchfte Maß alles Aufwandes, 
ben wir machen koͤnnen. Diefes Aufwandes zum Erwerbe 
eines ewigen Gutes dürfte fich „Gott in Menfchengeftalt” 
nicht fchämen. Es laͤßt fich Fein größerer Muth denfen, 
als der, welcher das Leben opfert: und Fein dauerhaftes 
res Gut, als dag ewig währe „Ich gebe das La 
ben für meine Schafe.” (Joh. X. 15.) „Ich gebe 

15° ı 


— 228 — 


ihnen das ewige Leben.“ (Joh. X. 28.) Siehe 
hier den hoͤchſten Aufwand: ich gebe mein Leben! Siehe 
hier die höchfte Dauer des bezielten Gutes: ich gebe ih 
nen das ewige Leben! „Das ift Das ewige Leben, 
daß fie dich, den einigen, wahren Gott erfer 
nen, und den du gefandt haft, Jeſum Chr 


I ftu m.“ (Joh. XVII. 3.) 


Sowohl den Allaufwand des Liebenden, ald 
dad große Gut, das fo thenter erfauft ward, bezeich— 
net die Schrift mit zwei Bildern, die fo klarſprechend 
find, als unausfprechbar reich an Sinn. Jeſus ift das 
Lamm, geopfert für die Seinen, und wird durch den 
Opfertod der große Hirt, mächtig, die Seinen zu fans 
meln und -felig zu machen. Der Dichter des Joſeph 
- von Arimathen hat beide Bilder richtig gefaßt und 
rein Dargeftellt. 


Die Gotteswürdigfeit des Lebens Jeſu ermeifet ſich 


Zweitend: in feinem Nichtwollen und Nicht 
thun. Fuͤr das Nichtwollen Jeſu finde ich nirgend 
ein Bild als in der eerzeaben des menſchlichen 
al 


Wie z. B. ein ——— nichts fuͤhlt: ſo durfte 
ſich in Jeſus, der nur die Ehre ſeines Vaters im Auge 
hatte, fein Wunſch nach eigner Ehre, in Jeſus, der ges 
bend und fegnend vorüberwandelte, Fein Wunſch nah 
fremder Habe, in Jeſus, der fich felbft opferte, fein 
Wunſch nach Selbſthuͤlfe, die außer ſeinem Berufe lag, 
in ſeinem Innerſten wider die allentſcheidende Fuͤhrung 
ſeines Vaters erheben. Sein Nichtwollen offenbarte ſich 
in ſeinem Nichtthun, im treuen Unterlaſſen alles deſſen, 
was außer ſeinem Berufe lag. 


Er mengte ſich a) nicht im die zeitlichen Privatange⸗ 
legenheiten, z. B. in's Erbſchlichten: „Menſch, wer 
hat mich zum Erbſchiedrichter oder Theiler 
zwiſchen euch geſetzt?“ ſagt er zu jenem gu⸗ 
ten Manne, der ihn bat: „Meiſter, ſage meinem 
Bruder, daß er mit mir das Erbgut theile.“ 


.-, 


— 229° — 


(Euk. XII. 14.) Er mengte ſich nicht b) in die oͤffent⸗ 


lichen Geſchaͤfte; er riß den ſtehenden Koloß des Staats— 


gebaͤudes nicht nieder, und wollte keinen neuen Koloß 
von Staatsgebaͤude auffuͤhren, weil er dazu nicht gekom⸗ 
men war, weil es nicht in ſeinem Berufe lag. „Mein 
Reich iſt nicht von dieſer Welt.“ (Joh. XVII. 
36.) Er beguͤnſtigte indeß Feine Anordnung. Er lehrte 
ausdruͤcklich, „daß man dem Kaiſer geben fol, 
was des Kaifers if“ (Matth. XXI. 21) Sa, 
ſogar das Geſetz Mofes hob er unmittelbar ſelbſt nicht 
auf, vielmehr wollte er es aufs vollfommenfte erfüllt 
wiffen. | 
Er proteftirte c) gegen ale bewaffnete Selbſtverthei⸗ 
digung des Petrus, und begehrte keine Legionen von En⸗ 
geln, die ihn vom Tode retteten, weil es nicht des Vaters 
Wille war. „Stecke dein Schwert in die Schei— 
de — meinſt du, ich koͤnnte meinen Vater nicht 
bitten, und er ſchickte mir mehr als zwoͤlf Le— 
gionen Engel: aber wie würden alsdaunn die 
Schriften erfüllet werben?‘ (Matth. XXIV. 
52 — 54.) 

. Er. antwortete d) bei den falfchen Anklagen (Matt. 
xxVvi. 14.) nichts. Er ließ e) den wunderfüchtigen 
Herodes Feine einzige Spur feiner Wunder 


 Eraft fehen (uf, XXHOL 8) Er trug feine 


Kraft nicht zur Schau Men - rührt nicht. Diefe 
göttliche Größe des Schweigens and des Nichtwuns 


derthuns? 


Wie das Nicht-Wiſſen kleinlicher, nichtiger Dinge 


dem Weiſen, fo ziemt das Nicht-Wollen dem Guten, 
das Nicht⸗Thun dem Großen. 


Die Gotteswuͤrdigkeit des Lebens Jeſu zeigte ſich 


Drittens: im Leiden des Widrigen, unzertrenn—⸗ 
lich vereint mit Gutesthun — vereint mit dem Eifer, 
des Boͤſen immer weniger zu machen. 


Was Chriſtus von feinem himmliſchen Vater erzählte, 
daß er, der Alleingute, nur Gutes wirft, daß er 


— u 


Boͤſes duldet, ‘und zugleich der Ausbreitung des Boͤſen 
entgegen arbeitet, indem er Propheten, Weiſe ꝛc. ꝛc. 
fendet: das offenbaret ſich als treue Nachahmung des 
Baterd in dem Sohne. Er thut Gutes, weil er gut 
ift, und arbeitet dem Böfen entgegen, um dem Guten 
zum Siege zu verhelfen. Er duldet von den Böfen 
Midriges, und kann die noch lieben, die ihn haffen. Wie 
der Himmel ſich aufthut, um den Guten auszuzeichnen, 
fo thut fich die Hölle wider. ihn auf, um das Gute im 
Guten zu befämpfen. Die Läfterung, dieß Kind ber 
Hölle, ift der erfie Angriff des Heiligen, die Kreuzigung 
der letzte. Aber Jeſus fegnet, die ihn Tätern, und betet 
für die, welche. ihn Freuzigen, wie fein Vater feine Sonne 
aufgehen laͤßt über Gute und Böfe, feinen Regen fendet 
über den Acer des Gerechten und des Ungerechten. 


Wie er auf Erden wandelnd jeden Schritt mit Wohl 
thun bezeichnete, fo tröftet er zum Tode wallend noch 
die weinenden Frauen, und erwecker fterbend noch die 


Erwartung des paradieſiſchen Lebens in dem Mitgefreus 
zigten. 


Die Gotteswuͤrdigkeit des Lebens Jeſu zeigt ſich end» 
lich darin, daß das Wollen und Nichtwollen, das Thun 
und Laſſen, das Thun und Leiden — unter ſich und mit 
dem Willen ſeines Vaters vollkommen harmonirten, und 


dieſe Harmonie waͤhrte — bis Er ſein Haupt neigte und 
ſtarb. 


Die Einigung Jeſu mit —— Vater in ſeinem Leben 
und Sterben war gleichſam die himmliſche Muſik, die 
ihn in allen Handlungen begleitete, und dieſe himmliſche 
Muſik unterbrach kein widerlicher Laut. Wer fuͤr dieſe 
Harmonie Sinn hat, wird auch hier nicht trennen wol- 
len. Die Lehre, ein Abdruck himmlifcher Weisheit, und 
fein Leben, ein Ausdruck himmliſcher Kraft — werden 
ihm Ein Öanzes, vol Licht und Milde, ſeyn! 








2338. — 


Zwanzigſte Borlefung. 
+ 64. 


So gotteswuͤrdig das Leben Jeſu, als ein Ganzes, 
ſo gotteswuͤrdig iſt es auch in Hinſi — auf das, was 
wir Wunder nennen. 


* * * 


Wer das Göttliche in den Wunderthaten Jeſu, in ſei— 
ner unmiderftehlichen Klarheit, anfchauen will, muß vor⸗ 
her über bie Eine richtige Betrachtungsweife in Hinficht 
auf Wunder mit‘ fi) Eines feyn. 

1) Die Naturbetrachtungen find mancherlei. Das 
bloße Anftaunen der großen Erfcheinungen der Nas 
fur, die die Aufmerkfamfeit mit fortreißen, und die Neflerion 
‚binden, ift nody nicht Betrachtung. Erft, nachdem fich 
der Menfch vom eriten Erftaunen erholt hat, wird Be— 
trachtung möglich. Und dann forfchen wir entweder: bloß 
nach dem Zufammenhange, den die Dinge unter fich ha— 
ben, oder wir erheben uns bis zum letzten Urgrunde aller 
Dinge. Im erftien Falle bildet fich der Verſtand einen 
Begriff von ihrer zeitlichen Abhängigkeit von einander, 
im zweiten kann die Vernunft die Abhängigkeit der Natur 
von dem leßten, von dem Urgrunde, gewahr werden. 


2) Die Naturbetrachtung hat zweierlei denkwuͤrdige 
Schickſale. So lange die Vernunft in einem religiöfen 
Gemüthe hinausfchauet in die Natur: fo lange findet fie 
in der Schönheit und Harmonie der Dinge einen Abglanz 
des Urfchönen. Die Natur ift ihr nur das Schatten 
gewand des Urlichted, das Urlicht — Gott. Sobald aber 
der in Zeit und Raum befangene Berftand den Ausspruch 
der Bernunft. meiftert, und die Stimme des religiöfen Ge: 
müthes ganz unterdrüdet: fo wird die Natur ein von 
dem Urlichte getrenntes, fich felbft gebärendes, und ſich 
wieder verfchlingendes singeikuenn der Menſch ift ohne 
Gott in der Welt. | 


— ER 


5) Die Betrachtungen der Wunder haben eine auf- 
fallende Achnlichfeit mit der Naturbetrachtung. Wer z. 2. 
bei der Erweckung des Lazarus durch das Machtwort Jeſu 
mit Petrus und Johannes zugefehen hätte, für den würde 
die That (vor aller Reflerion) etwas Marfvurchfchauerns 
des gehabt haben. Der bloß ſchauende Menfch wäre 
ein lauteres Staunen geworden, Hätte fih der Staus 
nende yon feinem erjten Erjtaunen erholt: fo würde der 
Berftand in den Berhältniffen des Raumes und der Zeit, 
und in allen ihm befannten Berfettungen der Dinge, in 
dem ganzen Kanfalnerus der Natur nichts haben finden. 
fönnen, das dem marfdurfchauernden Creigniffe in der 
Reihe natürlicher Erfcheinungen einen Platz angewies 
fen hätte. Er würde alfo ausgerufen haben: Dieß 
Ereigniß ift über alle Drdnung der Nas 
tur, iſt außer der Drdnung der Natur. - Wenn 
fih nun derfelde Menfch über die Natur und die Naturs 
erfcheinungen zu. Gott, den Jeſus feinen Vater nannte, 
deſſen Wille fein Wille war, erhoben, und mit feinen Bes 
trachtungen in Gott, als der Quelle aller Weſen, als 
dem Leben alles Lebens, geruhet hätte: fo würde er aufs 
gerufen haben: was dem Blicke abwärts, dem Blicke in 
die Endlichkeit außerordentlich war, das ift dem Blis 
cke aufwärts, dem Blicke zu dem Unendlichen, zu Gott, 
die höhfte Ordnung; es ift das ewige Werf der 
ewigen Liebe: Gott hat ſich in Chriftus als das Leben 
offenbaret. 

4) Demnach wäre daffelbe Ereignif, bie Erweckung 
des Lazarus, erſtens: fuͤr die ſinnliche Anſchauung 
des Menſchen etwas Ueberwaͤltigendes, etwas Markdurch⸗ 
ſchauerndes, etwas durch den Schreck des Niegeſehenen den 
Menſchen faſt Vernichtendes; zweitens: fuͤr den in der 
Endlichkeit befangenen Verſtand deſſelben Men— 
ſchen ein durchaus unerklaͤrbares, alle gem oͤhn liche Or d⸗ 
nung der Dinge und der Gedanken in Mitte durch— 
ſchneidendes Faktum, das uͤber die Grenzen des im 
Endlichen befangenen Verſtandes weit hinausläge; drit⸗ 
tens: für die Vernunft, in einem Gott anbetenden Gemüthe, 
eine lautere Offenbarung der ewigen Liebe, bie 


— A +7 


der. heiligen Natur gerade fo angemeffer wäre, als alle 
Naturerfcheinungen der erjcheinenden Natur, 

5) Ein Wunder, 3. B. Die Erweckung des Lazarus 
durch das Machtwort Chriſti, iſt a eine Offenbarung 
der ewigen Liebe, die 


a) für eine ſinnliche Anſchauung durch die Ungewöhns 
lichkeit der Erfcheinung Marfsdurhfchauernd; 
b) für ben in der Enbdlichfeit befangenen Verſtand, 
durch ihre Erhabenheit über alle Berftandesbegriffe, 
außerordentlich und übernatürlid; 


c) für. die Vernunft in einem Gott anbetenden Ges 
müthe aber, als wirflihe Offenbarung der 
ewigen Liebe, in das innerfte Bewußtfeyn eins 
tritt, wobei das, was für den Berftand übernatürz - 
lich, außerordentlich ift, als das Werk der höchften 
Drdnung, der heiligen, der. göttlichen Natur gemaͤß, 
ſich darſtellt. 


6) Das Wunder, an ſich betrachtet, iſt alſo nichts 
anders, als Gott, die ewige Liebe, ſich offenbarend in 
dem menfchlichen Willen, der mit Gott vereiniget iſt, durch 
den alfo Gott ungehindert wirken kann und wirfet. 


7) Das Wunder hat, auch an fich betrachtet, noch 
immer etwas Wundervolles, Geheimnißreiches, 
in fofern jede Vernunft, das Wefen der Gottheit zu durch» 
ſchauen, unfähig, vor dem Abgrunde fille ftehen, — bes - 
- wundernd anbeten muß, — — — 


— Der mit Diefer Betrachtungsweife vertraut ges 
worden, wird in den MWunderthaten Sefu überall nichts 
als Göttliches fehen, er mag das Bermögen Wu 
ber zu thun, oder die einzelnen Thaten, welce, 
oder die heiligen Zwecke, wozu, oder die Art, wie 
fie gefchahen, oder die F vlgen, die damit verbunden 
wareı, ya / 


+ Das Bermögen, Wunder zu thun. 


Wie die Allmacht in Gott goͤttlich iſt, ſo iſt ſi fi e, in 
Jeſus wirkſam, dieſelbe Allmacht, gleich göttlich. 


— 253 — 


Mas die Meinung betrifft, daß die. Wunder Aırs- 
nahmen von Naturgefeßen feyen, fo will ich das 
von nichts anregen, daß. die, Geſetze der Natur gar oft 
bloß willführliche Ruhepunkte unferer Betrachtungen feyen; 
aber das kann ich nicht vorbeigehen, daß die eifrigen Apo— 
Iogeten der Naturgefege, bei der. erfcheinenden Nas 
tur fiehen geblieben, und nicht bis zur heiligen Natur 
aufgeftiegen, ja nicht einmal bis zur freithätigen Natur 
des Menfchen weit genug vorgedrungen find. Sonft hätte 
ed ihnen ar werden müfjen, daß die Macht, die die Ge: 
fege der niedern Natur überfteigt, den Geſetzen einer hoͤ⸗ 
hern gemäß feyn kann. 

So ift jede Einwirkung menfchlicher Freithätigfeit auf 
‚ die Aufere Natur, wodurch eine neue Welt von Erfcheis 
nungen hervorgebracht wird, z. B. die Kultur bes 
Landes, die Baukunſt u. ſ. w. — in Hinfidt 
auf die bloße yhyfifche Welt, ein Wunder, weil 
ſich in der phyſiſchen Welt Feine Kraft zu diefer neuen 
Drdnung der Dinge vorfindet, und ohne Vernunft, die 
Entwürfe macht, und ohne freithätigen Willen des Mens 
fohen, .der die Entwürfe verförpert, jene Naturverfchönes 
rung nicht an's Licht getreten wäre. Könnte die phys 
fifche Natur auf einmal ihrer bewußt werden, und dieſe 
Einwirkung der Menjchen wahrnehmen: fo müßte fie 
auffchreien: Hier ift Wunder! und diefer Schrei der Nas 
tur hätte Grund. 

So ijt mir, in Hinficht auf die Menfchenwelt, die 
Belebung eines viertägigen Todten ein Wunder, weil ich 
in der Menfchenwelt Feine Kraft zu diefer Belebung finde. 


So wie die neue Welt der Erfcheinungen, die der 
freie Wille des Menfchen hervorbringt, vor, in und nad) 
allen Dispuͤten über die menfchliche Freiheit in praftifcher 
+ Anficht feftfteht: fo fteht die neue Welt der Erfcheinungen, 


te 3. 3. Gott durch Chriftus gewirkt hat, feft — vor, 


in und nad allen Dispäten über die Möglichkeit 
göttliher Einwirkungen auf die Welt. 

Wenn nım die Gefchichte — Jeſu ein Vermögen beis 
legt, Dinge zu thun, dazu wir in der gemein» menfchlichen 


— 15 — 


Natur Feine Kraft vorfinden, wenn er wirklich handelt 
nicht fo faft ald Diener der Natur, fondern als Gefeß- 
geber der Natur, fo kann dieß Vermögen, dag in dem 
Schöpfer — goͤttlich iſt, in Jeſu gedacht — nichts, Uns 
göttliches, nichts Gottsentehrendes feyn. Wenn Gott 
durch den freithätigen Menfchen Dinge thut, die er durch 
die Thierwelt nicht thut: fo ift darin nichts, das das 
Göttliche erniedrigte. Wenn nun Gott durch Chriftug 
Dinge thut, die er durch die übrige Menfchenwelt nicht 
thut, fo it dieß eben fo wenig für die Vernunft empoͤ⸗ | 
rend, als e3 die Vernunft empört, daß das Göttliche im 
Menfchen heller durchfcheinet ald im Thiere. Sind doch 
überhaupt fo viel Menſchen, fo viel Spiegel des durchs 
fcheinenden Göttlihen: warum follte e8 meine Vernunft 
empören, in Chriſto eine Macht zu fehen, die fich in der. 
gemein⸗ menſchlichen Natur nicht offenbarte? Der Alles 
in Allem wirft, hat ſich diefes Höhern wegen, das er in 
und durch Sefus wirft, nicht zu verantworten, — wenig 
ftend kann Feine menfchliche Vernunft die göttliche dar— 
über zu Rede ftellen, ohne ſich Lächerlich zu machen. . 


Die einzelnen Wunderthaten Jefn. tragen 
offenbar das Gepräge des Göttlichen. 


Gotteswuͤrdig find offenbar 


1) die momentanen Heilungen der Kranken, Haben 
die Gefchichte Jeſu erzähle. Denn“) wenn Gott durd) 
Arznei alle diefe Krankheiten geheilet ‚hätte, wäre es ofs 
fenbar, gotteswärdig gewefen:— alſo muß es doc, auch 
gotteswärdig. feyn, fie ohne Arznei zu heilen. Denn Heis 
lung bleibt Heilung, fie mag mit gemein= menfchlichen 
oder - höhern Kräften bewirkt worden ſeyn; Wohlthat 
bleibt Wohrthat: und Wohlthun ift Gottes, der die Liebe 

ift, würdig. | 5 


So it auch die Befreiung der Leidenden von Dime 


nen Cabgefehen hier von der Frage, was Dämonen feyeıt, 
und ob fie Einflüffe auf Menjchen haben) offenbar gottes⸗ 





) Sieh hierüber nach im dem trefflichen Werke: Reviſion 
der Juden- und Chriſtenbibeln. 


— 256 — 


würdig. — Denn: Ervettung ift Errettung, und Erret- 
- tung gotteswuͤrdig. 

| Dffenbar gotteswirdig find 
2) Speifungen vieler taufend Menfchen mit wenig 
Brod und Fiſch. Denn, wenn ed gotteswärdig ift, jährs 
lich das Saatforn in der MuttersErde fegnen, daß Brod 
vermehrt, und Menfchen und Vieh dadurch ernähret wers 
den kann: fo wird e8 wohl Gottes: nicht unwirdig ſeyn — 
Brod ohne Saatkorn zu vermehren. 


Offenbar gotteswuͤrdig ſind 


5) Erweckungen der Todten. Denn, wenn ed gotteds 
würdig if, den Menfchen das Leben zu geben: fo fann 
es nicht Gottes unwuͤrdig feyn, denen, die es verloren 
haben, das DBerlorne wieder zu geben. Wenn es gottes- 
wuͤrdig it, die Kranken durch Arznei vor dem Tode zu 
bewahren, jo wird es wohl auch gotteswuͤrdig ſeyn, die 
Todten ohne Arznei wieder zu beleten 

Offenbar gotteswuͤrdig ſind 

45) die Thaten Jeſu, die ſich auf das Element Wafs 
fer beziehen. Einen Fiſchfang ſegnen — iſt fo gottes- 
wuͤrdig, als Fiſche geſchaffen haben zum Beſten der Mens 
ſchen; den Sturm baͤndigen mit einem Machtgebote, iſt 
doch gewiß ſo gotteswuͤrdig, als das tobende Meer, nach 
den Geſetzen der Natur, wieder ſtille werden laſſen. Wau⸗ 
deln auf den Wogen des Meeres — iſt ſo gotteswuͤrdig, 
als den Menſchen den Verſtand gegeben haben, ſich Schiffe 
zu erfinden, und das Meer gangbar zu machen. 
Waſſer unmittelbar in Wein verwandeln, iſt fo got— 
teswuͤrdig, als jaͤhrlich den Wein am Rebſtocke reifen laſ⸗ 
ſen — das auch Bit anders ift, ald Waffer in Wein 
verwandeln. 

Sr diefem Lichte betrachtet erfcheinen wohl auch alle 
übrige Wunder Jeſu — gotteswuͤrdig. 

Die Weiſe, 


wie Jeſus dieſe Großthaten verrichtete, iſt, wie die Tha⸗ 
ten ſelber — durchaus eines goͤttlichen Geſandten werth. 


=.937 — 


under that er ohne alle Vorbereitung, ohne 
alle Runftanftalten, ohne alle Berheimlichung, 
ohne alle Verabredung mit Andern, ohne alle 
Grimaſſe der Taͤuſchung. Wunder that er gerade fo 
fafual, wie er lehrte. Wo fidy der Anlaß von jelbit 
gab, wo ſich das Beduͤrfniß zeigte, wo ſich Glaube, Bers 
trauen regte, da half er nad) Beduͤrfniß und Empfaͤng⸗ 
lichkeit. Wunder that er ohne Oftentation, nicht 
zur Schau tragend feine Größe. Wunder that er — 
nirgend feine Ehre fuchend, fondern Die Ehre feines Bas 
ters. Auf ihn wies ev — auf den Allfeinguten, wie er 
ihn am Liebjten genannt haben mochte. 


Y Zweck der Wunder Jeſu. 
Die Zwecke, die Jeſus ſelber angab, koͤnnen zunaͤchſt 


. anf ihn, oder auf die Menſchheit, oder auf die unſicht⸗ 
bare Gottheit. bezogen werden: die Gotteswuͤrdigkeit ders 


ſelben ſtrahlet überall gleich in das Auge. 


Die Zwecke in naͤchſter Hinſicht auf Jeſus. 
Zweck der Wunder Jeſu war es, 

a) die, für das Menſchengeſchlecht kennenswuͤrdigſte 
Perſon des Meſſias auf eine entſcheidende Weiſe kenn— 
bar und jedem redlichen Iſraeliten un verkenn bar zu 
machen. „Vater, ich danke dir, daß du mich erhoͤreſt 
haſt; zwar weiß ich, daß du mich allezeit erhoͤreſt, aber 
ich rede nur um des Volkes wegen, das da herumſteht, 
damit fie glauben, daß du mic geſandt hafl.“ 
(Joh. XI, 12.) So fprach Jeſus, ehe er rief: Lazarus, 
komm hervor! Nun den Erlöfer des menfchlichen Ges 
ſchlechtes kennbar machen iſt gewiß ſo gotteswuͤrdig, als 


ihn zu ſenden. 


Zweck war es, 

b) die kennenswuͤrdigſte Perſon hoͤchſt glaub— und 
vertrauenswuͤrdig zu machen. „Ich habe ein groͤ—⸗ 
ßeres Zeugniß fuͤr mich aufzuweiſen, als das Zeugniß Jo⸗ 
hannes. Denn die Werke, die zu verrichten, mir der 


— 2358. — 


Bater Macht und Beruf gab, die Werke, die ich wirklich 
thue, die * von mir, daß mich der Vater geſandt 
hat.’ (Joh. V, 36.) Nun den Gefandten glaubwuͤrdig 
machen, ift fo. gotteswärdig, als ihn zu ſenden. 


Zweck war es, 


c) dem Lehrworte Jefu die höchfte Autorität, die 
Autorität Gottes zu verfchaffen. Deßhalb rief Jeſus fo 
laut: „Meine Lehre ift nicht meine Lehre, fon 
dern deffen, der mich gefandt hat.” Nun dag 
Evangelium glaubwirdig machen — ift fo gotteswuͤrdig, 
als es dem Menſchen zu geben. 


Zwecke in nachſter Hinſicht auf die Menſchheit. 


Zweck der Wunder Jeſu war es, 


d) den huͤlfsbeduͤrftigen Menfchen in dem Gebiete des 
Leiblichen, des Zeitlichen, Hülfe zu fchaffen, und durch diefe 
Hilfe im Leiblichen, im Zeitlichen, das Sehnen nach dem 
Geiftigen, nach dem Ewigen, nach der vollfommenen. 
Huͤlfe zu erregen und zu ftärfen. | 


Deßwegen hat Jeſus, nachdem er dem Blindgebornen 

das Auge: des Leibes geöffnet, ihm auch fein Geiftes- 
auge aufgethan. (Joh. IX, 33.) Deßwegen fagte Jeſus 
Dem, welchen ser am Teiche geheilet hatte, im Tempel das 
Wort in's Ohr: Suͤndige nicht wieder, damit dir“ nicht 
ärgere Dinge widerfahren. (Joh. V, 14.) Deßwegen 
begnuͤgte ſich Jeſus nicht damit, daß er dem hungrigen 
Volke Brod ſchaffte; er ſprach am folgenden Tage mit 
ganz befonderem Ernſte und Nachdruck — von der Seelens 
fpeife, die für das ewige Leben nähret (Joh. VI, 27.), 
von dem Lebendigen Dimmelsbrode, das der Welt 
das Leben giebt... (Joh. VL, 31—653.) Dephalb — war 
es ein Ruf feines Herzens: Kommt her zu mir Alle, die 
ihr mühfelig und beladen feyd: ich will euch erquicken. 
Matt). Al, 283° *' 


Nun Hülfe im Zeitlichen —— um der Huͤlfe im 
Ewigen Bahn zu machen, iſt offenbar ſo gotteswuͤrdig, 


— 259: — 


als Zeitliches und Ewiges in einer — zu 
einigen. 


Amede-im naͤchſter Hinficht auf bie unfichtbare Gottheit. 


Zwec der Wunder Jeſu war es, 


e) dern Vater im Himmel durch Thaten, die im Nas 
men des Vaters und durch die Macht des Vaters geſche⸗ 
hen zu verherrlichen. 


„Dieſe Krankheit iſt nicht auf den Tod des — 
ſondern auf die Ehre Gottes abgeſehen. Goh. XI, 4) 


| Die Folgen 
entfprachen den Zwecken Jeſu, find alfo fo gotteswuͤrdig, 


wie dieſe. Was Jeſus bezweckte, traf, wo nicht all. 


gemein, doch unverkennbar genug ein. Denn die 
Wunder Jeſu rißen die Aufmerkſamkeit der ganzen 
Nation von den Volksfuͤhrern, Phariſaͤern, Sadduzaͤern, 
Prieſtern weg, und hefteten ſie auf die bisher unbekannte 
Perſon — auf Jeſus. „Wie der, ſo ſpricht Keiner; 
wie dieſer, ſo handelt Keiner. Ihm ſtehen Meer und 
Winde zu Gebot: Er ſpricht, ſo ſteht es da.“ 


Dieß war die herrſchende Stimme des Volkes: „Nur 
Ein Jeſus in Iſrael.“ Jeſus ward alſo durch den 
Ruf, den ſeine Lehren und Wunder vor im herfandten, 
wirflich 


a) Fennbar gemacht, 


b) ald die kennens wuͤrdigſte Nerfon Dargeftellt, 


©) als die glaubz und verttanenemwärbipfte 
Perfon ausgezeichnet. 


Die Wunder Jefur erleichterten wirklich die gebeikete 


Menschheit im unzähligen Gliedern derfelben. Kranke, 
Arme, Hungrige, Blinde, Taube, Lahme — das 


menfchliche Elend ſammelte fich um ihn — umd wartete 


auf Errettung, und fand Errettung. 


Aber nicht nur das- menfchliche: Elend, auch — die 
beffern Iſraeliten fchloßen einen Kreis um ihn — um 


er 


— 240 — 


Worte des ewigen Lebens von ihm zu hoͤren. Und aus 
dieſem Kreiſe waͤhlte er nachher die Grundſteine ſeiner 
Kirche, die, ſtatt bloß Huͤlfe im Zeitlichen zu bringen, 
Licht und Kraft zum Ewigen ausſpendete. Und auf die- 
fen Srundfteinen erhob fih fpäterhin das Gebäude, . 
in dem wir Chriften, im neunzehnten Jahrhunderte, noch 
aus⸗ und eingehen. 


Und ſo verbreiten die Wunder Jeſu ihre wohlthaͤtigen 
Folgen bis auf unſere Zeiten, und werden ſie ausbreiten 
bis an das Ende der Welt.... | 


Wollte man die Weiffagungen Jeſu mit feinen 
Wunderthaten in eine Reihe feten, und beide mit 
Dem. Zwede der Sendung vergleichen: fo ftele auf. die 
Wunder Jefu ein neues Licht, das mancherlei finjtere Zweis 
fel verfcheuchen, und die jelbjtgemachten Skandale, die dem 
Wundervollen wie Schatten nachzogen, zernichten koͤnnte. 


1) Die urfprüngliche Menfchheit war Eines mit Gott, 
war allvermögend in Gott, befaß durch Gott. die Herrs 
“Schaft über die Natur und die Herrfchaft über die Zeit. 


’>.2) Diefe urfprüngliche Würde der Menfchheit gieng 
durch die Sünde verloren: der Menſch ward ein Knecht 
der Natur, ſchwach, ſterblich, ein Unterthan der Bei, 
konnte nicht mehr in die Zufunft ſchauen. Ä 


3) Die urfprüngliche Würde der Menfchheit follte 
durch Chriftus wieder hergeftellt werden. 


4) Das hergeftellte Einesfeyn der Menfchheit mit Gott 
faßt in ſich die hergeftellte Herrfchaft Aber die Natur, 
und die hergejtellte Herrfchaft über. die Zeit. 


5) Die Herrfihaft Aber die Natur fpiegelt fich im den 
Wunderthaten, die Herrfchaft über die Zeit indem 
Borherwiffen, Weiffagen der Zufunft. He 


6) Wunder und Weiffagungen find alfo Borfpiele 
der urfpränglichen, wieder erringbaren Wirde der Menfch- 
heit, und Singerzeige auf die verlorne. ' > 
7) Wenn 


— 41 — 


2) Wenn durch Chriſtus die urfprängliche Wuͤrde der 
Menſchheit hergeitellt werden follte: fo mußte er feldft 
Eins feyn mit Gott, und dieſes Einsſeyn offenbaren. Ä 


8) Da nun das Göttliche als Allmacht in Hinficht 
auf Die Natur, und als Allwiffen in Hinficht auf Die Zeit 
anerkannt werden muß; da. fi ferner die. Allmacht in 
Wunderthaten, und das Allwiſſen in Weiſſagungen kund 
thut: ſo leuchtet es ein, daß Wunder und Weiſſagungen 
in Chriſtus, als die zwei Offenbarungen ſeines Einsſeyns 
mit Gott, nicht wohl fehlen durften, und daß man fie 
mit allem Grunde als die zwei Pole feines — ur 
rufes auf Erden anfehen kann. 


DE Anmerkung zur Wwanzigſten Dorlefung. ” 


Sehr Iefenswerth ift, was Eduard Lilbopp über die Wunder 

des Chriſtenthums ſagt. (Mainz, Müller ſche Buchhandlung, 1822.) 
Den Charakter und das eigentliche Weſen eines Wunders ſetzt mit 
ſcharfer Beſtimmtheit folgende Stelle in helles Licht: „Kein Er: 
zeugniß der Natur, fey es auch noch fo groß, noch fo prächtig, 
noch fo wortrefflich, ift ein Wunder, wenn ung auch Die ed erzeu⸗ 
gende Kraft jest noch unbekannt ift, oder vielleicht es immer 
bleibt. Kein Naturereigniß, fey es auch noch fo-auffallend, iſt 
ein Wunder, wenn auch die veranlaffende Urfache ung ewig in ein 
undurchdringliches Dunkel gehuͤllt if. Keine Handlungen, kein 
Kunftwerf,: Eurz, nichts, was nur immer der Menfch oder irgend 
ein gefchaffener Geift unmittelbar aus eigner Kraft und Faͤhigkeit 
heroorbringt, ‚if ein Wunder, wenn auch der Urſprung der Chat 
noch fo raͤthſelhaft erfcheint. Denn in den Begriffe eines Wun⸗ 
ders iſt jede Einwirkung des Endlichen, Natürlichen, Geſchaffenen, 
und daher der Natur und des geſchaffenen Geiſtes aus geſchlof⸗ 
ſen. Es iſt reine That Gottes, unabhaͤngig von Naturgeſetzen, 
ſeyen ſie auch noch ſo tief und verborgen, ja in dem Augenblicke 
ſeines a — und ſeiner Bet jedes Naturgeſetz auf⸗ 
heben. 

Die katholiſche — — überhaupt alles Wunder⸗ 
bare mit dem. Ausdrucke: prodigium, und unterfcheidet ſtreng 
zwiſchen: prodigium naturae, prodigium diabolicum. (praestigia), 
und prodigium divinum ‚(miraculum). Unter prodigium verſteht 
man im Allgemeinen. jedes ungewöhnliche Ereignig, deſſen zurei- 

J. M. dv. Sailer’ ſämmtl. Schriften. VIIISSd. Zte Aufl. 1 


—— 


— DE 


chende Urfache ung nicht in den ung befannten Naturgeſetzen ge: 
gründet feheint. „Wenn wir auch das Gefer, das ein ſolches be: 
ſtimmt, vermöge unferer befchränften Kenntniſſe bis jegt noch nicht 
ergründet haben, ſo koͤnnen wir doch aus der Art und Weiſe fei- 
ner Wirkfamfeit und feines Zweckes auf feinen Entftehungsgrund 
fchliegen. Finden wir auf diefe Weife, daß bei aller Ungewoͤhn⸗ 
lichkeit der Erfcheinung ein folches Ereigniß doch durch Natur⸗ 
kraͤfte, wenn auch unbekannte, erzeugt ſeyn mag, und ihr Zweck 
mit den allgemeinen Naturzwecken koincidirt, ſo nennen wir daſ⸗ 
ſelbe ein prodigium naturae. Der edle Fleiß der neuern Zeit in 
der Erweiterung und Bereicherung des Gebietes der Naturwiſſen⸗ 
fchaft, und die durch vaftlofes Forſchen -geläuterte Phyſik hat feit: 
ber viele fogenaunte prodigia naturae in ihrem Kaufalnerus mit 
dem übrigen Kräften enthüllt. Je mehr der menfchliche Vers 
fand fich Damit.befchäftigte, den ganzen Umfang der Naturkraͤfte 
Fennen zu lernen, und vermittelt ihres Gebrauches neue, vorher 
unerhörte Wirkungen hervorzubringen, defto mehr verloren jene 
dunklen Erfcheinungen durch Diefes Aufftellen des Begriffes von 
ihrer Vraturgefesmäßigfeit den Schein des Wunderbaren, und 
. wurden Gegenftände der Erperimentalphnfik. 


„Serner glaubte man auch zu allen Zeiten und bei allen Voͤl⸗ 
fern an gewiſſe geiftige Wefen — Dämonen — welche, vermöge ih⸗ 
rer höhern Kraͤfte, auch größere phyſiſche Wirkungen als die Men: 
fchen hersorbringen koͤnnten. Sn ſofern dieſe von feindlich geſinn— 
ten Weſen herruͤhren, und in der Art ihrer Wirkſamkeit von dem 
gewöhnlichen Läufe der Natur abweichen, nennt man fie prodigia 
‚diabolica oder praestigiae. Ob und in wiefern diefer Glaube ger 
gründet if, wollen wir in der Folge näher unterfuhen.— Wer 
den fie aber von Gott felbft unmittelbar oder auch mittelft gefchaf: 
fener Wefen, 5. B. Engel, Heilige u. ſ. w., aber doch durch den 
Willen und die Kraft Gottes erzeugt, fo heißen fie in der Spra- 
che der Eatholifchen Dogmatik prodigia divina oder miracula — 
wahre Wunder. 


Jedes Wunder iſt eine Ahweichung von dem Gange der Par 
tur. Diefe Abweichung felbft kann mehrfacher Art feyn. Ent: 
weder ift das Dbjekt des Wunders über die Soräfte der Natur er: 
haben. So vermag die Natur zwar Leben zu erzeugen, aber kein 
organiſches in dem entſeelten Körper. Aber mit göttlicher Kraft 
ausgerüftet, erweckten fchon im alten Teftamente Elias (3 Kön. 17.) 
und Elifäus (4 Kön. +) Todte nd Leben, ‚Eine folche Abwei⸗ 


hung nennt man daher miraculum supra naturam, Werden aber 
durch die Kraft Gottes Wirkungen hervorgebracht; welche den 
Produkten der Naturkräfte geradesu widerfprechen, fo find es mira- 
cula contra naturam. Der heil. Auguftinus (de Genes. ad Hit. 
lib. 6. cap. 13.) jagt zwar, es gebe Feine Wunder wider die Na— 
tur. Der große Kirchenvater nimmt aber Natur hier in einer 
ganz andern Bedeutung. Er fagt: „Der Wille Gottes ift die Nas 
tur eines jeden Dinges. Alles, was er felbft unmittelbar in der 


Natur erzeugt, iſt nur uns wunderbar, denen der wahre Natur⸗ 


lauf unbekannt iſt, da wir nur nach dem urtheilen, mas ung ers 
fcheint, nicht aber Gott, dem nur das Natur ift, was er felbft 
macht.“ (I. c. et de eivit. Dei L. 21. e. 8.) Doch in diefem Sinne 
gebrauchen wir hier nicht den Ausdruck Natur. Es koͤnnen wirk— 
lich folche Wirkungen eriftiren, welche. den Erzeugniffen der Natur 
gerade entgegengefekt find, wenn fie nämlich von der Art find, 


daß in der Natur jenes Gefek, das durch eine göttliche Handlung . 


momentan aufgehoben wurde, in der Zolge in feiner Wirkfamkfeit 
verharrt. Als durch die Allmacht Gottes die Fluthen des rothen 
Meeres fich theilten, und dem Geſetze der Schwerkraft entgegen 
zu Mauern. aufthürmten, zwifchen welchen das ifraelitifche Volk 
trocknen Fuͤßes überferte, fo war die gewiß ein Wunder, welches 
wider die Produkte der Nraturgefege ſtreitet. Auf gleiche Weife 
gefchah durch das Machtgebot Joſua's: Steh Sonne! und durch 


das Zurückgehen des Schattens ‚auf der Sonnenuhr bei dem Ges 


bete des Propheten Jeſaias (4 Koͤn. 20. ef. 38.) ein miraculum 
contra naturam. 

„Es koͤnnen jedoch manche Wunder in der Subſtanz ihrer Wirs 
Eungen mit den Naturproduftionen übereinftimmen, und fich bloß 
von diefen durch die Form, durch die Art und Weife ihres Erfcheis 
nens untericheiden. Solche heißen miracula praeter naturam, 
Auch die Natur Fann Krankheiten heilen, Mauern umfürzen, 
Städte zerfiören, SKriegsheere vernichten, aber nicht wie. Elifäus 
den Syrer Naaman durch ficbenmaliges Wafchen im Jordan heilte, 
> nicht wie Jericho's Mauern fielen, nicht wie Gomorrha vertilgt 
wurde, nicht wie Sanherib’s Hunderttaufende oder die Erfigebors 
nen des Aegyptervolkes durch den Todesengel erwürgt wurden. 
Mancher Menfch wurde ſchon eine Beute wilder Thiere, aber nicht 
auf die-Weife, wie es die zweiundvierzig Knaben wurden, die das 
ehrwürdige Haupt des Propheten verfpotteten, und manches Glied 
am menfchlichen Körper zehrte ab, aber nicht wie des Goͤtzendie— 
ners Serobvam Hand auf des von Sort gefendten Sehers Geheiß 

10° 


_ 214 — 


verdorste. Dbgleich alfo diefe Thaten den Schein des Natürlichen 
am fich tragen, fo iſt doch in ihnen die unmittelbar mwaltende .. 
Gottes unverkennbar. 


„Endlich lehrt uns auch die Erfahrung, daß manche Handlungen 
gottbegeiſterter Menſchen die Form des Wunderbaren fuͤr ſich ha— 
ben, ohne in der Subſtanz wahre Wunder zu ſeyn, da ihnen die— 
ſes oder jenes weſentliche Zeichen abgeht. Die ſolche wunder— 
ähnliche Wirkungen erzeugende Kraft nennt man ſodann donum 
extraordinarium oder gratiae, und fie werden von der —— 
Kirche ſtreng von den eigentlichen Wundern ausgeſchieden.“ — 





— 24s — 


| Cinundzwanzigfte Vorleſung. 
| Die — — 


x 366. vr P } =“ 


Die Kirche Chriſti in wohl felbft das größte, das wohl⸗ 
thaͤtigſte, Zeit und Ewigkeit umfaſſende Inſtitut. Hier 
habe ich aber nicht das allgemeine Juſtitut, fondern 
die befondern Inſtitute im Auge, die fich auf den 
Geiſt jenes großen Inſtitutes (des göttlichen Reiches, der 
Kirche) beziehen, und als finnliche Zeichen uͤberſinnlicher Ga— 
ben in der Kirchen und Schulfpradhe Saframente heißen. 


Für gotteswärdig müßte eine Einſetzung angefehen 
werden, wenn fie a) mit der Natur des Menſchen, 
der aus Leib und Seele befteht, aus Sinnlicyem und Ueber- 
finnlihem, b) mit den Bedärfniffen der Menſch— 
heit, die nur durch: das Sinnliche zum Ueberfinnlichen 
erzogen werden kann, c) mit dem Geifte der Kirchen 
‚ anftalt, d) mit der Natım jeder. andern Geſell— 
{haft harmonirte; denn unter diefer Borausfegung dürfte 
(ein menfchlihes Wort von dem Göttlichen) fich Die 
Gottheit nicht fchämen, ſolche Einfeßungen ve ag 
gemacht zu haben. 


Gegen ‚diefe Charaktere des Sottestnrbigen kann keine 
nuͤchterne Vernunft ercipiren. Auguſtin hatte fie im 
Blicke, ald er von Chriftus fagte: „Primo itaque te-_- 
nere te volo, quod est hujus disputationis caput, 
Dominum nostrum Jesum Christum,  sicut ipse 
in Evangelio loquitur, leni jugo suo nos subdi- 
disse et sarcinae levi: unde sacramentis numero | 
paucissimis, observatione facillimis, significatione 
praestantissimis, societatem novi populi colligavit, 
sicut est Baptismus Trinitatis nomine consecra- 
tus, communicatio corporis et sanguinis ipsius, 
et siquid aliud in scripturis canonicis commende- 


— 246 — 


tur, 'exceptis iis, quae servitutem populi veteris 
pro congruentia cordis eorum et prophetici tem- 
poris onerabant, quae et in quinque libris Mosi 
leguntur. — ad Januarium Epist. LIV. C. I. 
Es war gotteswärdig, daß Jeſus ſolche Einfegungen 
machte, das heißt, ſinnliche, bedeutende, ſchickliche, kraft⸗ 
volle Zeichen uͤberſinnlicher Gaben ordnete und feitftellte, 


» Denn daß folche Einfeßungen gemacht werden, ſtimmt 
überein a) mit der Natur des Menfhen Der 
Menfch ift ein finnliches und itberfinnliches Wefen — und 
das Sinnliche ift Bild und Gefäß des Ueberſinnlichen. 
Es it alfo feiner Natur gemäß, daß ihm uͤberſinnliche Gas 
ben durch finnliche Mittel angeboten und mitgetheilt wer: 
den. b) Mit den Bedürfnifjfen des Menfchen. 
Der Menſch a überall finnlicher Dinge, dazu, 
daß der überfinnliche Geit gewedet, gereiniget, ge 
ftärfet, erhöhet werde. Muß ich Doch meinen Ge 
danfen fichtbar oder. hörbar, machen, um auf den Geift 
des Menfchen durch Auge oder Ohr zu wirfen? ec) Mit 
dem Zwede des Chriſtenthums ald einer Kirchen- 
anftalt. Chriftus wollte eine fihtbare Menfchen : Se- 
meinde, Die eine eigentliche, Gotted= Gemeinde feyn follte, 
ftiften. Für eine fichtbare Gemeine gehören  fichtbare 
Zeichen d) Mit-ver Natur jeder andern Men 
fhengefellfihaft Es faun. feine menfchliche Gefelk 
fchaft ohne ſinnliche Zeichen, Mittel ꝛc. bejtehen. 

Diefelbe Gotteswuͤrdigkeit ftrahlet aus jedem. einzel- 
nen Saframente hervor. | 


| 2 Die Taufe | 
Die Taufe iſt nad Paulus (Tit. III. 5.), was fie 
nach Jeſus ſeyn ſollte (Joh. IL, 5): „Das Bad der 
Wiedergeburt und der Neubelebung durd 
den heiligen Geiſt.“ 
Die ae der Taufe it einleuchtend. 
Senn 
An das Waſer, das den Leib — an ſich 
ein ſchickliches Zeichen. deſſen, was nur der Geiſt Got— 


— MUT — 


tes im Meunſchen, ⸗Geiſte wirken kann, Se} Geiſtesr ei is 
nigung. 


b) a dag Waffer ein er — — — 
Zeichen; denn wie dad Waſſer den befleckten Leib wirklich 
reiniget, fo wird, nach Ordnung und Verheifung Jeſu, 
der Geiſt von allen Befleckungen gereiniget. „Was aus 
Geift geboren ift, iſt Geiſt.“ (Joh. IL. 63 


e) If das Zeichen und die bezeihnete Sache 


und die Verbindung beider den Bedürfniffen des 
Menjchen angemeſſen. Die bezeichnete Sache: denn 
da wir Sünder find, fo bedürfen wir nichts fo fehr, 
als der Reinigung; und da wir uns nicht felbit reis 


nigen koͤnnen, fo bedürfen wir des göttlichen Geiftes, der | 


‚-reiniget. Das Zeichen: denn da unfer Get an ven 
Körper gebunden, jo iſt nichts Schicklicheres, als daß die 
unftchtbare Geiſtesreinigung durch ein koͤrperliches Reini⸗ 
gungsmittel bezeichnet, und durch ein hoͤheres Reinigungs⸗ 
prinzip das, was das koͤrperliche bezeichnet, auch bewir⸗ 
ket werde. Die Verbindung: denn wie die Verbin— 
dung des Leibes und Geiftes den Menfchen, fo macht 
‚auch Die Verbindung des Zeichens und der ERAMACEN 
Sache das Saframent aus, 


dy Dieſe Einſetzung iſt dem Zwecke des Chriſtenthums 
angemeſſen; denn da Chriſtus gekommen iſt, die Menſchen 
zu reinigen, neu zu beleben und unter ſich und mit Gott 
zu vereinigen, und die Taufe die Menſchen reiniget, 
neu belebet, einiget: fo harmonirt fie mit der Ab: 
ficht Sefu, als ein Mittel, fie zu erreichen. — — — Die 
Zwecmäßigfeit der Taufe zur Einigung der Men- 


ſchen hat Paulus befonders herausgehoben: „Wie ein 


Körper ift und viele Glieder hat, und alle 
Glieder eines Leibeg, fo. viel ihrer find, doch 
nur einen Leib ausmakhen: fo ift auch Chri 
us (mit feiner Gemeinde) nur EinLeib. Denn 
wir find in Einem Geifte zu Einem Feibe ge 
tauft, wir Alle, Juden, Heiden, Freie, Knech— 
te.“ (ı Kor. XL 12. 13.) 


ot 


£ : Das heilige Abendmahl, die Euchariftie. 


Wer die Gotteswürdigkeit dieſer Einfegung ſelbſt fuͤh⸗ 
len und Andern fuͤhlbar machen will, darf hier nur das 


zu Grunde legen, was. alle Ehriſten, ihren Konfeff {onen 
zufolge, anerkennen, . 


I. Der. Menfchengeift im feinem urſpruͤnglichen Zu⸗ 
ſtande hatte fein Leben aus Gott. 


A. Durch den Abfall von Gott verlor der Geift des | 
— ſein Leben aus Gott. 


III. Er bedarf alſo einer Wiederbelebung, um 
volle Tüchtigkeit zum Guten zu erhalten, und einer Nah: 
rung, um das Leben des Geiſtes fortzufegenz und ber 
darf ihrer fo ‚nothwendig, als der Leib Förperlicher Bele 
bung, Nahrung — um Eh fi — Leben fortzu⸗ 
ſetzen 

IV. Diefe geiftige Wiebebelebung und Nahrung, de⸗ 
ren der Geiſt des Menſchen bedarf, kann ohne ein geiſti⸗ 


ges Wiederbelebungs » und Nahrungs⸗ —— wohl nicht 
gedacht werden. 


V. Das vollfommenfte Wiederbelebungs⸗ und Nah⸗ 
rungs Prinzip fuͤr den menſchlichen Geiſt iſt Chriſtus al⸗ 
len denen, die an ihn glauben, auf ihn trauen, ihn lieb 
haben, ihm durch reine Geſinnung und heiligen Wandel 
nachleben wollen. (Soh. VI. 26 — 72.) 


sh bin das Simmelbrod, wer an mich 
glaubt, hat das ewige Leben; wer zu mir 
Tommi, den hungert nicht mehr, 


VL Diefes Wieberbelebungs - und Nahrungs: Prinzip 
wird Chriſtus allen denen, die im Glauben und in Liebe 
ſich mit ihm und mit. einander einigen, und im Geiſte 
diefer Einigung, feinem Teſtamente zufolge, das Abend: 
mahl halten, von feinem Fleiſche eſſen und von feinem 
Blute trinken, oder mit Paulus zu reden, von dieſem 
Brode efjen, von dieſem Kelche trinken. . 


‚VI Bas Shriftus dem Menſchengeiſte wirklich iſt, 
nämlih Das Wiederbelebungs- und Nahrungs 


Prinzip im Hinſicht auf das Leben des Geiftes, das 
kann nicht ſchicklicher dargeſtellt werden, als durch die 
Zeichen des Brodes und des Weines. "Denn Brod und 
Wein ſind ja die eigentlichen Belebungs » und Nahrungs- 
mittel zur Fortſetzung des -Eörperlichen Lebens, und. eben 
deßhalb die yaffendften Symbole aller Belebungs + und. 
Nahrungsmittel zur Fortjeßung des geiftigen Lebens, 


Dieſe fü ieben Nummern zur Örundlage gelegt Cohne fir 
jeßt in. die Lehre, von dem Wie des heiligen 
Abendmahls, welches Doc mur aus dem Sinne und 
Geiſte der ganzen Tradition edge Werben‘ barf, ein⸗ 
zugehen), ſage ich: 


1) Es iſt gotteswuͤrdig, dem Menſchengeiſte ein Wie⸗ 
derbelebungs = und Nahrungsprinzip in Hinſicht auf 
das Keben des. Geijies, ein geiſtiges Nahrungsmittel 


zuu verfchaffen. ——— geziemt bed) * dem 
Allbelebenden. 


2) &8 ft gotteswuͤrdig, den gog08, der das Licht 

und Leben der Menfchen ift, der Fleiſch geworden, 

and als Chriſtus erſchienen iſt, zum Wiederbele⸗ 
bungs⸗und Nahrungsprinzip gr den Geijt des 
Menſchen zu machen. 


3) Es if —— die innere Belebungs ‚und 
Nahrungskraft dieſes himmliſchen Belebungs + und 
Nahrungsprinzips durch Zeichen eines Abend- 

mahls dem finnlihen Menfchen anzudeuten und 
dem geiftigen angedeihen zu Iaffen. ; | Denn der Geiſt 
bedarf geiftiger Nahrung, und der fr innliche Menſch 
bedarf finnlicher Zeichen des Ueberfinnlichen. | 


4) Diefes Gotteswärdige erfcheint und noch einleuch⸗ 
. , tender, wenn wir dad Wefen des geiftigen Le— 
bens und die Bedeutjamfeit der genannten 
Zeichen näher betrachten. a) Geiftig leben 
heißt Eines ſeyn mit Ehriftus als dem 
Haupte, und den Menfchen ald den Gliedern der 
Gemeinde, der Kirche. b) Diefe Einigung kann doc) 
Niemand bejjer bewirken, als Jefus, das Hanpt 


— 358 — 


des Leibes, das alle Glieder unter ſich und mit ſich 

Bel, ec). Diefe Einigung kann nicht. fehieflicher 

bezeichnet werben, -ald durch ein Mahl. Denn die 

| nährenden und. ftärfenden Kräfte von Speife und 

Trank einigen fich mit dem Leibe und gehen in 

“Theile des Leibes über. Wir find alle zu Ei 
nem Geiſte getränft. (1. Kor. XIL 13.) 


Die Nbfolution von Sünden, durch Jünger, Stellvertreter 
Chriſti, geiſtig ertheilt und ſinnlich ausgedrückt. 


„Bas ihr auf Erden loͤſen werdet, te 
gelöfer ſeyn im Himmel.” 

Chriſtus gab a) feinen Apoſteln diefe SE: 
Dieß it Thatſache. 

Die Löfungsgewalt warb b) geiftig aus geubt und 
ſinnlich ausgedruͤckt, und mußte wohl auch geiſtig aus— 
geuͤbt und ſinnlich bezeichnet werden; ſonſt gaͤbe ſie nichts, 
oder taugte ſie nicht in den Wirkungskreis einer ſichtba— 
ren Kirche; wie denn Chriſtus ſie auch geiſtig ausuͤbte 
und ſinnlich ausdruͤckte: „Dir ſind deine Suͤnden 


verziehen“ — — — und der Gichtbruͤchige konnte fein 


Bette heinitragent. 


Diefe geiftig ausgeuͤbte und ſinnlich ausgedruͤckte Loͤ⸗ 
ſungsgewalt, oder kuͤrzer, dieſe Abſolution ſtimmt ‚e) ganz 
uͤberein mit der Natur des menſchlichen Herzens, mit dem 
Weſen des lebendigen Chriſtenthums, mit den Beduͤrfuiſ⸗ 
ſen eines von ſeinen Suͤnden geaͤngſtigten Gewiſſens. 


Es iſt Natur des menſchlichen Herzens, daß es 
einen Freund ſuchet, dem es ſein Innerſtes anvertrauen, 
durch deſſen Rath es geleitet, durch deſſen Kraft es ge 
ſtaͤrket, durch deſſen Uebermacht es von allem Drucke frei 
werden kann. Jeder wirkſame, gebildete Freund der 
Menſchen kann ſagen: „Es kamen ſchon viele edle Men— 
ſchen, dieſem Naturgeſetze zufolge, zu mir, und ſchloßen 
mir ihr Herz auf, und bewieſen, daß es Beduͤrfniß des 
Menſchenherzes ſey, ein Herz zu ſuchen, in das ſich das 
ihre ausgießen konnte — haben alſo mir um Grunde ges 


wet 251 hp 


beichtet.“ Der Menfch will Feine Laft allein tragen — 
und jebe Freude, — Leid, jede erkannte Suͤnde iſt 
ihm eine Laſt. 


Es it Wefen des Tebendigen Ehriſtenthums, daß die 
Menſchenherzen ſich in Liebe Gottes und der Menſchen 
einigen, und zur vollkommenſten Harmonie und Freund- 
fchaft befähiget werden follten. — Und wo diefe Freunde 
ſchaft, da Dffenheit, da Mittheilung, da Herzendergies 
Bung. 

Es it Natur eines von Sünden geängftigten 
Herzens, daß es fi, in der wichtigften Angelegenheit 
des Suͤndennachlaſſes, nicht ſelbſt helfen, rathen, beruhis 
gen, tröften mag, um ja nicht parteiifch und ſelbſtſuͤchtig 
zu Werfe zu gehen, fondern durd einen Sreund zur 
dauerhaften Ruhe, zum bleibenden Trofte und zur feſten 
Zuverſicht gebracht zu werden jirebt. 


Sch fage: es Liegt in der Natur eines von Suͤnden 
geaͤngſtigten Herzens — — Es iſt in dieſem Zuftande — 
eine ſolche Empfindung ſehr natuͤrlich. Das Gemuͤth fuͤhlt 
die ganze Schwere der Suͤnde. Das Bauholz ſchwimmt 
nicht mehr in dem Strome des Lebens, ſondern liegt auf 
der Schulter des Gewiſſens — und da druͤckt es den 
Traͤger faſt zu Tode. 


Wozu nun die Natur des menſchlichen Herzens, das 
Weſen des Chriſtenthums, und die Beduͤrfniſſe der Ges 
wiffensangft treiben, dazu wird und. der Stifter des Chris 
ftenthums wohl auch haben. Bahn machen. koͤnnen und 
machen dürfen. 


Mas ung die Natur des Menfchen, das Weſen des 
Chriſtenthums und die Empfindung des Gewiſſens zum 
Beduͤrfniſſe machen, das konnte, durfte uns Ehrifius ver⸗ 
ſchaffen durch die Abſolution. 


Dieſe Abſolution, die mit vorangehender Offenbarung 
ſeines Suͤndenzuſtandes auf einer, und mit hinlaͤnglicher 
Belehrung, Beruhigung, Troͤſtung, Ermunte— 
rung, Warnung, Beſtrafung auf der andern Seite 
in Verknuͤpfung kommt, iſt a) eine ſolche Wohlthat für 


— 752 — 


das Suͤndergeſchlecht, daß ich nach den Erfahrungen, die 
ich gemacht habe, kein wohlthaͤtigeres Mittel kenne, die 
Verſunkenen empor zu heben, die Unwiſſenden zu beleh— 
zen, die Aengſtigen zu beruhigen, die Trägen zu fpornen, 
die, Unreinen zu. reinigen, und felbft die wanfende Un- 
fchuld vor dem Falle zu bewahren, als: diefe Loͤſ ung 
fraft mit dem Geiſte Chriſti ansgeäbt. 


Sie, diefe Einſetzung, ift b) auch dem Geifte des 
Chriſtenthums jo angemeffen, daß, wenn fie nicht das 
‚Merk Chrifti wäre, fie fich felbft eingefeßt hätte, d. h. 
als eine Anftalt, die aus dem Mefen des Chriftenthums 
fo nothwendig. hervorgegangen wäre, wie der Kichtitrahl 
aus der Sonne, angefehen werden müßte Kurz: es iſt 
gotteswuͤrdig, den Sünder zu retten, durch Menſchen 
zu retten, dieſe göttlihe Rettung finnlid 
auszudruͤcken. Und viefe drei Stüde machen "das 
‚ans, was man in der Kirche Sacramentum Bee 
tentiae nennet. 


Zwar find nicht alle Beichtvaͤter gut und weiſe ge⸗ 
nug zu dieſem Amte. Aber dafür kann Chriftus und 
die Abfolution und das Beduͤrfniß des Gewif 
ſen s nichte, 


Zwar ſcheut der eitle Sinn des Menſchen die Offen⸗ 
barung feines Innerſten. Allein dem von Suͤnden ge⸗ 
aͤngſtigten Gemuͤthe iſt ſie mehr Erleichterung als Buͤrde. 
Und, da der Fall des erſten Menſchen das Luͤgenge— 

fühl der Hoffart in unfer Geflecht einführte, ſo 
ziemt es fi), daß der zweite Stammpäter dieſe Erb- 
krankheit durch den. Geift der Demuth heile. 


>” Die übrigen Einfeßungen Chrifti, man mag fie für unmittel> 
bare oder ‚mittelbare anfehen. 


Es iſt offenbar gotteswärdig, durch Auflegung der 
Hände a) die ſchwache Glaubensfraft geiftig zu flär- 
ten, und die Stärkung finnlich zu bezeichnen, wel 
ches wir Firmung nennen (Apoftelg. VIII, 14.); b) den 
 - angehenden Arbeitern auf dem Ader Gotted die Geiſtes— 


— 253 — 


und Amtsfräfte durch Auflegung der Hände mitzutheilen, 
und zu bezeichnen, welches ung Ordo, die Weihung ıder 
Kirchendiener heißt (Apoſtelg. XIII. 335 0) dem ge 
fchwächten Muthe der Kranken durch Salbung und 
Gebet aufzuhelfen Sat V.15.), was die legte Delung 
genannt wird; d) die eheliche Einigung zwifchen Mann 
und Weib als ein Zeichen der Vereinigung zwifchen Ehri- 
ftu8 und der Gemeinde, wie ed Paulus nennet, zu fegs 
nen, und das Ehepaar zu Erfüllung ihres heiligen Bes 
rufes einzuweihen, damit ihre Einigung ein Eräftigeg, 
lebendiges &benbild der Einigung zwifchen Jeſus und. jeis 
ner. Gemeinde werde, was wir das Saframent der. Ehe 
nennen. Denn es ziemt Gott, das Schwache, überfi unlich 
zu. ftärfen und- zu fegnen, und. feine überfinnliche Gabe 
durch finnliche Zeichen und Mittel zu bezeichnen und. mit⸗ 
zutheilen. Es geziemt Gott, wohlzuthun Be —— 
auf eine göttlich + menfchliche Weife, 


* Auch nichtkatholifche: Chriften haben in unfern To "die 
Siebenzahl der Saframente niit andern Augen angefehen, 
‚Philofophen und Dichter... Einer aus diefen ſagt es in ſei⸗ 
nem Leben II. Thl. ©; 180 gerade heraus: „Fehlt es dem 
Ä protefantifchen Kultus im Ganzen an gülle, ſo unterfuche 
man das Einzelne und man wird finden, der Proteftant 
hat zu wenig Sakramente, ja er hat nur eins, bei dent. er 
fich thätig erweist, das Abendmahl, denn die Taufe fieht 
er nur an Andern vollbringen, und es wird ihm nicht wohl 
dabei. Die Sakramente ſind das hoͤchſte in der Religion, 
das finnliche Symbol einer auferordentlichen örtlichen 
BGunſt und Gnade’ rc, a. | 3 
Das Schriftchen: „Die fieben peiligen-Sabramente: in — 
mit erklaͤrendem Texte,“ zu München im koͤnigl Haupt⸗ 
verlage der deutſchen Schulbuͤcher 1809 gedruckt, mag der oͤf⸗ 
fentlichen Empfehlung vielleicht nicht unwerth ſeyn. Ein Ge⸗ 
danke daraus verdient hier ausführlich dargelegt zu werden. 


Y x 67 # 


Das Gottesmwärdige ders Cinfesungen 
Shrifti erfheint:in einem.nod) hellern Lichte, 
wenn wir ſie aus der Hirtentreue Chrifti 


— 234 — 


und dem mütterlihen Sinne der Kirhe dol— 
metfdhen 


Wie Chriſtus ein Tiebender Hirt für die einzelnen 
Glieder feiner Heerde. und für die ganze Heerde, fo. ijt 
die Kirche Chrifti eine liebende Mutter für ihre einzelnen 
Kinder und für die ganze Familie. Sie forgt 1) mit 
Mutterliebe für die Einzelnen. 


- Der Menfch ift ihr von der Wiege bis zum Grabe — 
ein Heiligthum, das fie mit zarter Sorgſamkeit yflegt. 
Wie fie das neugeborne Kind in der Taufe. Chrifto, dem 
Heilande der Welt, in Arm und Schooß leget, und zum 
heiligen Leben weihet: fo falbet fie in der Firmung den 
fhwachen Zögling. der Gnade zum Streite wider die 
Sünde. Hat der Knabe, der Juͤngling, der Mann, von 
der Luſt des Böfen übertäubt, Gott und die heilige Freude 
verforen: fo eilet die mütterliche Freundin, die Kirche 
herbei, hebt den Gefallenen von der Erde auf und füh- 
net den Reuefühlenden im Saframente der Buße mit 
Gott und der heiligen Freude wieder aus. Sehnt ſich 
der Neubefehrte nach göftlicher Speife, um im Kampfe 
wider das Ungöttliche nicht wieder zu unterliegen, fo hat 
ihm die Kirche den Tiſch ſchon gededt; fie naͤhrt und 
tränfet den, welchen nach Gerechtigkeit und Seligfeit hun- 
gert und dürftet, mit dem Brode des Himmeld und mit 
dem Kelche der Unfterblichkeit, 


Die Zartliebende, wicht zufrieden, den intritt des 
Menſchen in das Leben geheiliget zu haben; nicht zufrie— 
den, den Gang des Menſchen durch das Leben uͤberall 
mit Segen und Freude gekroͤnt, hier den. Schwachen ges 
ſtaͤrkt, da den Strauchelnden wieder aufgerichtet, dort den 
Hungrigen erquicer zu haben — macht fie fidy’8 zum be- 
fondern Gefchäfte, auch die Franken Tage, und vorzüglich 
den Austritt aus dieſem Leben zu heiligen. Sie rüftet 
ihn zum Kampfe, in dem Saframente der Delung, reicht 
ihm das ftärfende Lebensbrod als feine MWegzehrung, ehe 
ihn am Ende der Laufbahn der Schooß der Emigfeit 
empfängt, umd geht nicht vom Sterbebette, bis fie dem, 


1 - Ben 


von dem letzten Bande des Leibes gelösten Geift in bie 
Hand Chrifti übergeben hat. 


Sp forgt die liebende Mutter für den Einzelnen. 


Aber wie Chriſtus nicht nur Hirt und Heil’ für die 
einzelnen Glieder der Kirche, fondern Hirt und Heil für 
das Ganze iſt: io — ihm 2) auch hierin die Kirche 
nach. 


Wie durch die Taufe neue Glieder dem Leibe Chriſti 
einverleibet, wie durch die Firmung, die Schwachen im 
Glauben befeftiget, wie durdy. das Saframent der Abfo- 
lution die Unreinen gereiniget, durch das Saframent 
des Altars die Sereinigten zum ewigen Leben genähret 
und geftärfet, wie. die gebensmäden durch die legte Delung, 
zum legten Kampfe gefalbet werden: jo ſaͤumt die Kirche 
nicht, durch die zwei heiligen Saframente der Priejter- 
weihe und der Ehe für das Ganze zu forgen, Und wie 
durch das Saframent der Ehe das Gefhledht der 
Menfchen, fo fol durch die Priejterweihe die Kirche 
Gottes in ihren Dienern  fortgepflanzt, werden, Und 
wie die Kirche durch die Ehe ſtets neue Glieder des hei- 
ligen Leibes, der fie felber iſt, neue Kinder erhält: fo 
fol fie durch die Prieſterweihe ſtets neue Vorfteher der 
Gemeine, neue geiftliche Bäter und Freunde erhalten. 


Dadurch wird nun aber auch offenbar, daß die Sie— 
benzahl der Saframente nicht nur dem öffentlichen Kul⸗ 
tus einen Neichthum und eine Fülle verfihäffet, wie ihn 
das wielgeftaltige Beduͤrfniß der Menfchheit bedarf, fons 
dern der Religion ſelbſt ein ftetiges und öffentliches 
Leben giebt. Bielleicht find Die Tage nicht mehr gar 
- ferne, wo diefe Betrachtungen, welche die falfche Auf- 
klaͤrung mit ihren todten Begriffen und mit ihren kuͤnſt⸗ 
lich übertünchten Leerheiten verdränget hatte, wieder all 
gemeine Anerkennung finden werden. 





— Vorleſung 
Von den Schickſalen Jeſu. 





Erſter Saßtz: 


Jeſus iſt hoͤchſt wuͤrdig, als Geſandter Gottes anerkannt 
zu werden, in Hinſicht auf das, was man die Schid⸗ 
fale Jeſu nennen kann. 


| er 68— Le 

Schickſale Jeſu find alle die ‚großen Begebenheiten, 
die, nach den neuteftamentijcyen Urkunden, fich mit ihm 
(und durdy ihn) schon ereignet haben, und mit ihm amd 
durch ihm) ſich noch ereignen werden, die der anbetende 
Chrift mit dem menfchlihen Ausdrude, Rathſchluͤfſe 
des Baters, Führungen der ewigen Liebe, neunet. 


*Schon die einzige Anficht des Chriften von dem. Schiefale 
bürgte für die Würde des Chriſtenthums. Denn, wenn Der 
Heide in der Natur und in der Welt einen diamantenen 
Ring erblickt, der alle Dinge umfchlinget: fo fieht der Tf- 
raelit über dem Ninge das Auge der Providens, das Als 
les durchſchaut; ſo fieht der Chrift über demfelben-Ninge 
ein allliebendes Herz, das flammend den ganzen Kreis 
durchdringt, und, mit dem Auge. der Providenz ſeheud, nach 
der Eingebung der ewigen Liebe alle Dinge ordnet und re; 
giert. Demnach wäre Schieffal die heilige Nothwen 
digfeit ini Regimente der Liebe, und unter dem auſchauen⸗ 
den zuge der Ewigkeit. 


} Unter habe Scidfale Jeſu rechnen wir — vor⸗ 
zuͤglich feinen wundervollen Eintritt in die Welt durch Em 
pfängniß und Geburt, ſeinen Ausgang aus dieſer Welt 
durch einen fehmerzhaften Tod, fein Wiederaufftehen von 
den Todten, und feine Erfcheinungen, feine Erhöhung und 
fein Herrfchen zur Rechten des Baterd, feine Geiſtes—⸗ 
inbung am. Pfingſttage, den religioͤſen Kultus und die 
Adoration 


— 17 — 


Adoration Jeſu von Millionen Menſchen, und ſein erwarte⸗ 
tes Wiederkommen zum Weltgerichte und zur Allvollendung. 


* In dieſen Schickſalen if nicht alles reines Schickſal: denn 
j. 3. bei feinem Austritt aus der Welt, bei feinen Erfcheis 
nungen nach der Auferfiehung, bei feinem Herrfchen zur 
Rechten Gottes, bei feiner Geiſtesſendung, bei feiner Wies 
derkunft ift wohl nicht der freie Wille Chrifti ausgefchloffen, 
aber da er vollkommen Eines ift mit dem Vater, und hier 
mehr göttlihes Walten, als menfchliches Wollen hervor 
tritt: fo ift Die Bezeichnung „Schi ekfal” nicht unpaſſend. 


Die Schieffale Jeſu Haben nun das Eigene, daß fie 
fo genau harmoniren mit dem ewigen Willen des Vaters, 
der in der heiligen Schrift als Abſicht vorgeftellt wird, 
mit fich felber, mit der Perfon Chrifti, mit den Lehren 
Chrifti, mit den Beduͤrfniſſen der Menfchheit, mit den hei— 
Tigen Sagen der Vorzeit, und mit den beftimmten Fingers 
zeigen der beffern Zeitgenoffen Jeſu. 


Die Schickſale Jeſu harmoniren 1) mit dem ewigen 
Willen. ded Vaters, d. i. mit den großen, im neuen Te—⸗ 
ftamente deutlich angegebenen Abfichten net, Die Ser 
fus ausführen: follte. 


Mit dieſen Abfichten harmonirt ſeine — — niß 
und Geburt. Da er geſendet war, die Menſchen mit dem 
Geiſte zu taufen (Joh. I, 53.): fo war feine Menſch⸗ 
werdung durch die Kraft dieſes Geiftes — der Ab- 
ſicht des himmliſchen Vaters angemefjen. Wer mit dem 
Geifte taufen follte, durfte, durch die Kraft des Ger 
ſtes — eintreten im die Laufbahn diefes Lebens. Wer 
die Menfchen von allen Sinden reinigen follte Matth, 
J, 12), der durfte allerdings von der reiniten Sfraelitin 

geboren werden. Wer das findige Gefchlecht der Men— 
ſchen heiligen follte, in dem durfte doch wohl die Men— 
fhennatur zuerjt geheiliget ſeyn. Der beftimmt war, in 
Paulus Sprache, die Scheidewand zwifchen Fuden und 
Heiden niederzureißen, und, nad) Simeons Winfe,. Iſraels 
Ehre und das Licht der Völker zu feyn Luk, II, 32J5 
der. beitimmt war, Himmel und Erde und alle Völker mit— 

I. M. v. Sailer's ſämmti. Schriften. VIII. >. Zte Aufl. 17 


— 258 — 


einander. zu vereinigen: bei: deffen Geburt durften: aller: 
dings die Engel einen Freudengefang anjtimmen — durf- 
ten allerdings ifraelitifche Hirten durch einen Engel, und 
heibnifche Weife durd ein himmlifches Licht zur Anbe⸗ 
tung des Neugebornen gerufen werden. Die angegebenen 
Abſichten, die Menſchen zu reinigen, zu einigen und zum 
Leben bes Geiſtes neu zu ſchaffen, find offenbar. gottes- 
würdig, und mit diefen Abſichten ſtimmen überein. die Art 
und Umftände des Eintrittes Jeſu in die Welt. 


Mit diefen Abfichten harmonirt der Tod Jeſu am 
Kreuze Denn. da Jeſus gefandt war, die Liche des 
Daterd gegen die Welt (Joh. IIT, 16.) und feine eigene 
Liebe gegen die Menfchen (Joh. X, 15.) im höchften Lichte 
zu offenbaren, und der Tod Jeſu wirklich das anfchau- 
lichite Dofument der höchiten. Liebe des Vaters, und der 
höchften Liebe des Sohnes zu den Menfchen ift: ſo ftimmt 
der Tod Jeſu offenbar mit der angegebenen Abficht Got⸗ 
tes, die lauter Liebe iſt, überein. 

Mit diefen Abfichten harmonirt die Auferftehung 
Jeſu. Denn, da Gott ‚ein Gott der Lebendigen, und 
nicht der Todten iſt; da Jeſus nach dem Willen feines 
Vaters der Auferwecker und Richter des gefammten Men: 
fchengefchlechtes feyn. follte (Joh. V, 26 —- 30.), und ein 
Todter doch nicht. beleben und nicht richten Fan: fo flimmt 
die Auferfichung Jeſu offenbar mit dem erflärten Willen 
Gottes überein. 


Mit dieſen Abfichten harmoniren die m annigf als 
tigen Erfheinungen Fefu vor feinen Freun— 
deit. “Denn, da der Vater wollte, daß Jeſus feine. Apo—⸗ 
fiel. fenden follte, wie er ihn gefendet hatte, daß die Freunde 
Jeſu alle Bölker Iehren und taufen follten (Matth. XXVIII, 
19. 20I: ſo mußten: fie wohl Zeugen des lebendigen 
Sefus werden, damit fie mit Wahrheit fagen fonnten: 
Bir haben ihn gefehen, gehört, betaftet. 

Mit diefen Abfichten harmonirt die Auffahrt Jeſu, 
und fein Herrfhen zur Rechten des Bater®. 
Denn, nachdem der Vater feinen Sohn verherrlichen wollte, 
wie ihr dieſer verherrlichet hat (Joh. XII, 28.)5 nachdem 


_ 59 — 


er ihm alle Gewalt im Himmel und auf Erden geben 
wollte (Matth. XXVII, 18); nachdem das ganze Men⸗ 
fchengefchlecht an ihn, alg Erlöfer, Mittler, Hohen 
priejter, angefchloffen feyn jollte, weil e8 doch an einen 
befjern Freund nicht wohl angefchloffen werden konnte: 

fo leuchtet e8 ein, daß der Heimgang des Sohnes zum 
Vater, und die Befignehmung der Herrlichkeit mit diefen 
Abfichten des Vaters vollkommen übereinfiimmen, zumal 
das Herrfchen Ehrifti zur Rechten des Vaters nichts als 
die Allbelebung der todten Menfchheit, und Gott wahr- 
haftig Fein Gott der Todten, fondern der Lebendigen ift. 


Mit diefen Abfichten Harmonirt die Geiftesfendung. 
Denn, da der Bater in dem Innerften des geifligen 
Menfchen fein himmliſches Neich errichten wollte, und die 
Errichtung dieſes Reiches ohne Ummandlung des ſinnlichen 
Menfchen, und diefe Umwandlung ohne Einfluß des heis 
Tigen Geiftes nicht gefchehen kanu (Joh. III): fo ſtimmt 
die Sendung des Geiftes mit dem Zwecke Gottes, das 
Menfchengefchlecht zu heiligen, offenbar überein. 


Mit diefen Abfichten harmonirt die Adoration Jeſu 
von Millionen Menfchen. Da der Bater alle Menfchen 
in Einem Namen felig machen will: fo fann die Adora- 
tion diefes einigen Namens nicht anders, als dem Willen 
des Vaters gemäß feyn. „Der Bater hat all Ge⸗ 
richt dem Sohne gegeben, damit Alle ehren 
den Sohn, wie fie den Bater ehren; — wer den 
Sohn nicht ehret, der ehret auch den Bater 
nicht, der ihm gefendet hat. (Soh. V, 22—23) 
Deßwegen hat ihn aud Gott erhöhet, und ihm 
einen Namen gegeben über alle Namen, da 
mit alles Knie im Namen Jeſu gebeuget 
werde im Himmel und auf Erden und unter 
der Erde” (Phil. I, 9. 10.) 


Mit diefen Abfichten harmonirt endlich die erwartete 
MWiederfunft Jeſu zur Vollendung. Denn da 
Gott die Liebe iftz da er als Liebe die Vollendung des 
menfchlichen Gefchlechtes will; da er fie durch Jeſus ver- 
heißen hatz da die Vollendung noch nicht da ift, und 

17° 


— 260 — 


doch kommen muß: ſo kann das Kommen derſelben nicht 
anders, als mit der Liebe, mit dem Willen des Vaters 
uͤbereinſtimmen. 


Die Abſi ichten des Vaters, die ich angeführt häbe, fo 
verſchieden ſie im Ausdrucke ſeyn moͤgen, ſind doch nur 
eine und dieſelbe Abſicht, die deßhalb die Endabſicht heis 
en kann, find der Eine, ewige Wille des Vaters, „das 
Menfchengejchlecht Durch Jeſus gut und felig zu machen.‘ 
Und mit diefer Endabficht, und mit diefem Einen, ewigen 
Willen ſtimmen alle Schickſale Jeſu überein. 


Meine Zeit verwirft die Abſichten in Gott, weil fie im Men: 
ſchen ein Beweis feiner EndlichFeit find. „Uber ich 
daͤchte;: meine Seit ſchwiege von Gott ganz, oder ſpraͤche 
von dem Goͤttlichen auf eine men ſchliche Weiſe. Gott iſt 
unſer Gott — allein im höchften, reinften Sinne des Wor⸗ 
tes. Wenn nun Alles in Gott göttlich ift, ſo werden wohl 
auch — die Abſichten, die weiter nichts find, als der eine 
ewige Wille des Ewigen, göttlich feyn müfen. Der Gott 
des Evangeliums. ift ein Gott für das menfchliche Gefchlecht, 

der die Menfchen Lieb ‚hat, der fie gut und felig haben will, 
der die Liebe felber ift. Wer einen beffern Gott inventiren 
kann; Der ntag es, wenn er anders fich mit ſeine eigeneu 

Invention begmügen kann. 


Die Schickſale Jeſu härmanireh 2) mit 
ſich ſelbſt. 


Der fo goͤttlich⸗ herrlich in die Melt hereintrat, follte 
in der Welt’ fo göttlich milde leben und Leiden; der fo 
tief erniedrigt ward, follte: fo hoch. erhoben werden; der 
ſo hoch erhoben ward, ſollte die allerhoͤchſten Gaben ge— 
ben; der ſo große Gaben giebt, ſollte der Allangebetete 
werden, und der Allangebetete ſoll — und wird auch der 
Allvollender ſeyn. Welche Harmonie! Wer dichtet ſo? 
Wer koͤnnte einen vollkommnern Einklang dichten? 


Laßt uns anbeten und glauben! Wie hängt Alles fo 
feft aneinander in dieſer einzigen Kette! Es Tieße fid, 
von dem Tode Gef, ald dem Mittelgliede, ein Vorfchluß 
und Ruͤckſchluß auf die übrigen Glieder machen. = 


— 201 — 


Die Schickſale Jeſu EN genau mit der 
Perfon Jeſu ſelbſt. 


Die Perſon Jeſu iſt eine Einheit zweier Extreme, 
des Goͤttlichen und Menſchlichen. Und dieſe Vereinigung 
der Extreme iſt in den. Schickſalen Jeſu durchaus fichts 
bar. Hier der Menfch in der Wiege — da der. Sohn 
Gottes am. Throne feines Vaters; hier der Ge 
freuzigte — da ber Angebetete; bier die hoͤch ſte 
Schmach — da die größte Ehre; hier im. Tode 
Jeſu unterliegt dag Licht dem fcheinbaren Stege der Fin—⸗ 
ſterniß, aber in der Auferſtehung und in den Er 
hböhung Jefu, da zeigt ſich der wahre a des Kir 
tes Aber Die Finfternip, 


Die Shidfale Jeſu harmanireit 4) genan 
mit den vornehmften Lehren Jeſu. 


Aus unzaͤhligen nur einige: Wenn das Samen 
forn nicht ſtirbt in der Erde, fv bleibt es aL 
fein, und bringt feine Frucht. Wenn es aber 
wird geraden jeyn, daum bringt e8 viele 
Frucht. (Joh. XI, 24. 25.I. Sieh da die Schickfale 
Jeſu! In feinem hatte er wenige, nach ſeinem 
Tode und durch ſeinen Tod bekam er Millionen Wreunbe 
und Anbeter. BR 


Das Himmelreich iſt gleich einem Senfkorn: 
es iſt ſo klein im Anfang, nach und nach wird's 
groß, und endlich ein Baum, Darunter Die Voͤ⸗ 
gel des Himmmels wohnen. (Matth. XII, 31— 
32.) Sieh, das Chriftenthum fproßte in einem Winkel 
der Erde unanfehnlich aus dem Boden, und nun ift es ein 
Baum, unter deſſen Schatten bie beiten Menfchen wohnen! 


Wenn ich werde erhöhet werben, Daun ziehe 
ih Alles an mid. GJoh. XIL 32.) Sieh da die 
Geſchichte der tiefiten Erniedrigung und der Erhöhung! 


Wer an mich glaubt, auß deſſen Leibe 
werden ganze Ströme des lebendigen Waf- 
ſers ausfließen. (Joh. VII, 58.) Sieh da die Ge- 


— 202 — 


fchichte der Geiſtesſendung und der Gruͤndung der erſten 
Kirche und aller Evolutionen des Goͤttlichen im Menſchen! 


Die Schidfale Jefun harmoniren 5) genau 
mit den Bedürfniffen der Menfchheit. 


Mir Menfchen find von Gott getrennt, das ift unfere 
Sinde und unfere Strafe: diefe Trennung kann Jeſus 
aufheben, der dazu gekommen ift, daß er und mit Gott 
wieder vereinige. Wir Menfchen kennen eben deßhalb 
Gott nicht: von Gott kann ung Jeſus erzählen, der aus 
dem Schooße ded Vaters hernieder kam und Menfch ward, 
um mit und menfchlich umzugehen. Wir Menfchen haben 
eben deßhalb nicht Muth und Zuverficht genug zu 
Gott: dazu hilft und Jeſus, der für und in den Tod gieng. 
Wir Menfchen fürdjten eben deßhalb den Tod: davon 
befreit und der Vater durch bie Erweckung Jeſu aus 
dem Tode. Wir Menſchen haben ein Verlangen nach 
ewigem Leben: davon verſichert und die Auffahrt Jeſu 
und ſein verheißenes Wiederkommen. 


Die Schickſale Jeſu harmoniren 6) mit 
den heiligen Sagen der Vorzeit und den Win⸗ 
ken ſeiner beſſern Zeitgenoſſen. 


Mit den Sagen der Vorzeit z. B.: In deinem Sa: 
men werden alle Bölfer der Erde gefegnet 
werden. (Genef. XI, 3) Er wird zur Schladts 
bank geführt werden, wie ein Lamm. (Sfaias 

LIII, 7.) 


Mit den Winfen feiner beffern Zeitgenoffen. Sohans 
ned ruft: „Das ift dad Lamm Gottes, Daß bie 
Sünden der Welt hin wegnimmt — der tauft 
mit Geiſt.“ (Joh. 1, 29. 35.) Simeon: „Er ift 
gefegt zum Falle und zur Auferftehung Vie 
ler, und zum Zeichen, dem widerfprodhen wird, 
damit die Gedanken vieler Herzen offenbar 
werden.“ (uf. I, 34. 35.) 


Wenn nun die Schiefale Jeſu mit dem ewigen Wil 
len des Vaters, mit fich felbfl, mit der Perfon Jeſu, mit 
den vornehmften Lehren Jeſu, mit den Bedürfniffen der 


— 20353 — 


Maenſchheit, mit den heiligen Sagen der Vorzeit und dem 


Wirken feiner beffern Zeitgenoffen harmoniren: iſt denn 
diefe Harmonie Fein Charakterzug ihrer Gotteswuͤrdigkeit? 


Die vollftändige Harmonie ift für gefunde Augen ein 
Charakter der Wahrheit, und die vollſtaͤndige Harmonie 
der bedeutendften Schickſale Iefu mit den Abfichten Gots 
tes und den Beduͤrfniſſen der Menfchheit ift für mich of 
fenbar ein Charafter der Gotteswärdigkeit. | 


Was von Segen und. Milde überfließt, und nichts 
als Segen und Milde ſeyn kann, was der Menſch ſo 
ſehr bedarf, und nur von oben kommen kann, was ſo 
durchaus Eins iſt mit ſich und mit Gott und mit den 
innigſten Wuͤnſchen unſrer Natur; unſern Chriſtus, def 
ſen Lehren und Leben und Schickſale Ein ſchoͤnes Gan— 
zes find; den Gekreuzigten und Angebeteten, den Ex 
niedrigten und Erhöhten, den Menfchen mit Gottesfraft, 
und den Gott in Menfchengeftalt, den Freund unfrer Erde 
und den Segen aller Sahrhunderte, die Erwartung der 
Borzeit und die Hoffnung aller guten Menfchen — foll 
uns Feine Thorheit und Feine Weisheit, kein Lob und Fein 
Tadel, feine Freude und fein Leid rauben. Ihm huldi⸗ 
gen wir; Er ift es, der unfere Anbetung und Lob und 
Danf verdient. Ihm neige fich nicht nur unfer ‚Knie, 
fondern unfer ganzes Wefen! 


i> 69, 
Ueberfiht und Schluß. 


1) Es ift alfo in der Lehre, in den Thaten, in 
den Schickſalen Sefu nichts, was dem Ideale eines 
goͤttlichen Geſandten widerſtritte. 
2) Es ſind uͤberdem unzählige Spuren des Goͤttlichen 
in feiner Lehre, in feinen Thaten, in feinen Schick 
falen. 

3) Dieß beide * und ſoll weiter nichts, als 
nuͤchterne Vernunft glaubwillig machen. 

4) Diefe Glaubwilligkeit wird noch mehr geſteigert 
in dem, welcher die Beduͤrfniſſe unſers Geſchlechts über: 





— 264 — 


haupt, und insbeſondere die Beduͤrfniſſe der Zeit, in ber 
Sefus erfchien, zu Nathe zu ziehen, Kunde und Gefühl 
genug hat. 

5) Dem, Menfchengefchlechte koͤnnte nämlich offenbar 
nichts Ermwünfchteres feyn, als die Erſcheinung eines gütts 
Iihen Gefandten, deſſen Lehren, Thaten und Schickſale fo 
innig verknuͤpft wären, erftens: mit der Erleuchtung, 
zweitens: mit ber fittlihen Verbefferung, drit— 
tens: mit der Beruhigung und Befeligung ber 
Menſchen, das it, mit Befriedigung ihrer vornehuſten 


Beduͤrfniſſe. 


6) Das Zeitalter, in dem Chriſtus erfchien, bedurfte 
insbeſondere ‚einer fo außerordentlichen Hülfe, indem a) bie 
Neligion der Sfraeliten, dur die Parteien zerrifs 
fen und. durch Menfchenlehren entftellt — kraftlos gewor⸗ 
den, bie Religion der. Heiden aber b) in den beit 
fenden Köpfen zu ſterilen Spigfindigfeiten aufs 
gelöst, c) in dem Bolfe zu dem kraſſeſten Aber 
glauben herabgefunfen war, und ch auch die wahr 
re Religion der Weiſen unter den Heiden 
auf. fo Wenige befhränft war, und e) in der 
Maſſe des Bolfes faft unwirffam blieb. 





— 265 — 


Dreiundzwanzigfte Vorlefung. 


- 





X70. 
Zweiter Saßı 


hat ſeine goͤttliche Sendung vor fei⸗ 
nen iſraelitiſchen Zeitgenoffen wirklich 
und gültig erwiesen. 


* Vorerſt full der Sinn diefes Satzes beſtimmt, hernach die 
Summe der erweifenden Gründe gemennt, dann 
das, was diefen Gründen neues Gewicht verfchaffet hatte, 
angegeben, endlich die erweifenden und beflätie 
‚genden Gründe ausführlich dargeftellt werden. 


Der Sat: Jeſus hat feine göttliche — vor 
ſeinen Zeitgenoſſen wirtlic und guͤltig bewieſen, ſagt das, 
und nur das: 


Jeſus hat ſo viele, und fir die ruhig e, nüchterne, 
wahrheitliebende: Bernunft feiner  Zeitgenoffen fo 
entfcheidende und geltende Beweisgründe von feiner hüs 
heru Sendung. vor das Auge und das Gefühl feiner Nas 
tion: ‚hingeftellt, daß jeder ruhige, nüdhterne, wahr 
heitliebende Zeitgenoß, der die Beweife wahrnehmen 
konnte und fühlen wollte, ihn fiir einen göttlichen Gefand- 





ten halten konnte, und gerade der gewifjenhaftefte Sfraelit , 


ihn dafiir. halten mußte, d. i. ohne Widerſpruch yo 
Gewiffens nicht, nicht dafür halten konnte. | 


- Summe der erweifenden Gründe. 


1. Sofus zeuget von fich felbft, daß er ein liege 
od ſey. 

U. Jeſus appellirt auf‘ das gültige Kun os 
hannis. 


III. Jeſus — ſeine hoͤhere Brabus durch wirk⸗ 
liche Wunder fuͤr ſeine Zeitgenoſſen. 


— 206 — 


“ Beftätigung diefer Brände. 


Diefe Beweisgrinde befommen, für bie Zeitgehöffen 
Jeſu und feine erſten Boten ein neues Gewicht: 


I. durch die Auferſtehung Iefu, deren Wirklich, 
teit ber Zert des Zeugniffeg der Apoftel ward; 


II. durch die Weiff equugen Jeſu, deren wirkliche 
Erfüllung fie erlebten; 


Il. durch die Wunderthaten an den al 
und durch die Jünger Jeſu. 


71« 
Ausführlide Darfellung der beweifenden Gründe. 


Erfter Beweisgrund. 


Sefus bezeugt von fid, daß er von Gott ge 
fendet fey, und vertheidiget feine be 
zeugte Sendung. 


> TEN 


Sc, nenne das Zeugniß Jeſu von fih den — 
Beweisgrund; denn das wiederholte, ſich immer gleiche, 
nie wankende Zeugniß eines wahrheitliebenden, befcheides 
nen, demuͤthigen, ernſten, gerechten, gottverehrenden, wei⸗ 
ſen Mannes von ſich ſelbſt, und von ſeiner wichtigen 
Angelegenheit, die ihn am naͤchſten angeht, die er am be 
ſten wiffen kann, die er ſelbſt Eraft feines Amtes bezeus 
gen muß, und die durch fein Zeugniß am beiten darge 
than werden kann, bat zu allen Zeiten einen entjcheiden- 
den Werth gehabt für Jeden, der Manu ift, und den 
Werth eined folchen Zeugniffes fühlen kann. 

Warum follten wir diefen Vernunftkanon aller hiſto⸗ 
rifhen Wahrheit nicht im_eminenteften Sinne auf. Jeſus 
anwenden dürfen? 


— 


Ba | Anwendung des Grundſatzes. 


4) Jeſus fonnte von fi, zeugen, wenn er wirf- 
* von Gott geſendet war. Denn die göttliche Gens 


— 267 — 


dung iſt eine Sache, die ihn zun aͤchſt angieng, und bie 
er am beten mwiffen mußte. 

Alles, was uns zunaͤchſt angeht, und wir zunaͤchſt 
und am beſten wiſſen muͤſſen, das koͤnnen wir auch bes 
zeugen. So kann der Geſandte bezeugen: dieſen Aufs 
trag habe ich von meinem Herrn erhalten. 
So wird auch Jeſus haben bezeugen koͤnnen: dieſen 
Auftrag habe ih von Gott erhalten. Und, 
wenn wir und fchon felbit diefe Weberzeugungsmeife 
Sefu, aus Mangel an ähnlichen Erfahrungen, nicht ganz 
helfe machen koͤnnen, fo müffen wir denn doch annehmen: 
Wen Gott fendet, den wird er aud davon zu 
überzeugen wiffen, daß er ihn gefendet habe, 
Und: wer davon überzeugt if, wird aud bes 
zeugen fünnen: Gott, der Herr, hat mid ge 
fendet. 


2. Jeſus mußte, wenn er wirklich von Gott gefen- 
det war, es von fich bezeugen, daß er von Gott gefen- 
det ift. Denn ſonſt Fönnte er ja nicht fordern, daß fein 
Wort als Gottes Wort refpeftirt würde; 
fonft könnte er fih ja nicht als Gottes Boten legitimis 
ren, wenn er ſich nicht als Gottes Boten erflärte, wenn 
er nicht "bezeugte: Ich bin von Gott gefendet. 
3) Wenn Sefus feine Sendung wirflich bezeuget hat, 
fo war fein Zeugniß hoͤchſt glaubwärdig; denn 
er hat erftens: in dem Auge feiner Ration das. reinfte 
Bild des untadeligiten Lebens dargeftellt, hat nie die ge- 
ringfte Spur von Heuchelei oder Leichtfinn oder 
einer Gefegwidrigfeit fehen laffen, fo, daß er auf 

die. allerfannte Untadeligkeit feiner Perſon appelliren 
konnte, und. feine Gegner herausfordern durfte: „Wer 
kann mich einer Sünde befhuldigen?” (Joh. 
VII, 44.) Diefe anerfannte Rechtfchaffenheit fchließt 
allen vernünftigen Verdacht aus, als wenn. er hätte bes 
trügen wollen. | 


Er hat zweitens: in feiner Lehre fo viel Scharfs und 
Tieffinn, in feinem Leben und Leiden fo viel Ruhe 
und Gelaffenheit bewiefen, daß man gar feinen Ber: 


— 200 — 


dacht haben kann, als wäre er von ſich ſelbſt ge 
taͤuſcht, oder von Andern betrogen worden. 


Sein Zeugniß, wenn er eined abgelegt hat, ” alfo 
glaubwürdig. 


5 Jeſus Chriſtuis hat wirklich das Zeugniß abge 
Legt, daß er von Gott geſendet, daß feine Lehre Gottes 
Wort if, niht Ein Zeugniß, foudern Zeugniffe. Und 
diefe Zeugniffe find fo Elar, fo beftimmt, fo unver; 
fänglid, daß fle, aufammengeftellt, jeden ſchnellferti⸗ 
gen Abſprecher uͤber ſein ſchnellfertiges Abſprechen erroͤ⸗ 
then machen muͤßten. 


Hier eine ———— der vornehmſten 
Benguifie Sean; von fid und feiner Sendung. *) 


geſus im Tempel vor allem Volke. 


Ace tief, im Tempel von, feinem Lehrplatze aus: 
So wiſſet ihr. es denn, wer und woher ich bin? Sch 
habe mich nicht .zu dem aufgeworfen, was ich bin, , fon 
dern der Wahrhaftige iſt es, der mich gefendet. hat, und 
den fennet ihre nicht. Ich kenne ihn, - denn von ihm bin 
ich, und er hat mich geſendet. Seh. VI, 28. 29. ds | 


Jeſus am Gotteskaſten vor den Juden: 


Der mich geſendet hat, der iſt der Wahrhaftige, und 
ich rede nur das in der Welt, was ich von ihm ‚gehört 
habe. Geh. VIH, 23.) 


Jeſus am Gottedtaften: vor den gupen: 


Wire Gott euer Vater, fo würdet ihr mich ja lies 
ber. Denn ic bin von Bater ausgegangen und gefom- 
men. Ich bin nicht von mir felbft gekommen, ſondern 
er hat mich geſendet. ob. VII, 22.) N 





5 Eben deßhalb, weil Jeſus ſelbſt, wenn er von der Goͤttlich/ 
keit ſeiner Lehre ſprach, den Ausdruck: Mein Vater 
hat mich geſaudt, fo oft wiederholte, wählte und be: 

nutzte ich ihn auch zur Bezeichnung der Grundlehre alles 

RER 


— 269 — 


Jeſus vor Volksmengen nach einer Brodvermehrung. 


Nicht Moſes gab euch das rechte Brod vom Him— 
mel: mein: Vater giebt euch das wahre Himmelsbrod. 
Denn dieß göttliche Brod iſt der, erh vom Himmel 
gefonmen if, und welder der Welt das Leben giebt. 
Darauf fagten die Juden: Herr, gieb ung doch diefeg 
Brod für immer! Sefus antwortete» Sch bin. das Brod 
des. Lebens, wer zu mir Fommt, wird nie —— Teens 
Goh. VI, 33. 359 | | 


HART 


Jeſus vor Suden und Heiden. 


Ich rede aus mir nichts, fondern der Vater, der mich 
geſendet hat, der hat mir den Auftrag «gemacht, was ich 
fagen und thun folle. Und fein Auftrag” geht nur auf 
ein ewiges Reben hinaus: Was ich alfo rede, das rede 
ich, fo, wie mir «ed «mein. Vater geſagt hat. (Joh. AU, 
49. 50.) | | 


Ev Jeſus vor. feinen Züngern nach dem Nbendmahle, N, 


Selbſt der. Vater hat. euch lieb, weil ihr mich lieb 
habet, und daran glaubet, daß ich vom Vater ausgegan⸗ 
gen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen, und in die 
Welt gekommen, und verlaſſe die Welt wieder und gehe 
zum. Vater zuruͤck. (Joh. XVII, 22. 289 Ich habe 
dich verherrlichet auf Erden; habe das Werk vollendet, 
das du mir aufgetragen haſt — — habe deinen Namen 
den Menſchen verkuͤndet. (Joh. XVII, 4. 6.) Alsdann 
werdet ihr es erfennen, \daß ich in meinem Vater bin. 
Soh- XIV, 20) Philippe, wer mich ſieht, der fieht 
meinen Bater. GJoh. XIV, 93 Glaubet ihr denn nicht, 
daß ich im DBater bin und der Vater in mir? Die 
Worte, die ich zu euch rede, rede ich nicht von mir felbft. 
Seh. XIV, 10. 11) Wie du mich in die Welt ge 
jendet haft, fo fende ich fie in die Welt. (Joh. XVII, 18.) 
Ich in ihnen, du in mir: daß fie vollfommen Eins feyen, 


und die Welt erkenne, daß du mich — Geh: Re 
XVI, 2393 | 


— . 270 — 


Jeſus hat 5) nicht nur von ſich gezeuget, fondern 
er hat auch fein Selbſtzeugniß für glaubwürdig ausgege— 
ben, hat ſich auf dieß fein Selbftzeugniß berufen, hat eis 
nen neuen, ihm eigenen, Grund feiner Glaubwuͤr— 
digkeit angeführt, und dadurch den Vorwurf, als könne 
Niemand von fich zeugen, ald nichts beweijend erklärt. 


Er feldft dat a) fein Zeugniß von fid, 
von feiner Sendung, für glaubwürdig gehak 
ten, und zwar aus dem Grunde, den ich den Vernunft 
fanon aller hifterifchen Wahrheit nannte. 


Wenn ich von mir zeuge, fo ift mein Zeugniß wahr, 
denn ich; weiß, woher. ich gekommen bin und wohin ich 
gehe. (Joh. VIII, 14.) As fagte er: was ich gewiß 
weiß, das kann MR als gewiffe Wahrheit auch bezeu- 
gen, 


Er hat fi ») auf fein Selbftzeugniß be 
rufen: Sch bin es, der von fich felber zeuget. (Soh. 
VIII, 18.) 


Er hat co) die Glaubwuͤrdigkeit ſeines 
Selbſtzeugniſſes aus einem neuen, ihm aus— 
ſchließend eigenen Grunde dargethan: Wenn 
ih (von mir) Ausſpruͤche thue: jo ift mein Ausſpruch 
wahr; denn ich bin nicht allein, fondern ich, und der 
mich gefendet hat, mein DBater. Nun flieht in euerm 
Geſetze gefchrieben: daß das Zengniß von Zweien gültig 
fey. Ich zeuge von mir, und der Vater, der mich ge: 
fendet hat, zeuget auch von mir. 


Er hat. d) mit diefem ihm ausfchließend eigenen Ber 
welsgrunde den Vorwurf, als fünne Niemand 
von ſich zeugen, ald nidhtig erflärt, Denn es 
war ihm diefer Vorwurf wirklich gemacht worden. Die 
Phariſaͤer ſagten zu ihm: Du zeugeft von dir ſelbſt, dein 
Zeugniß ift nicht wahr. (Joh. VIH, 133 Und eben 
diefer Vorwurf veranlaßte die fo eben dit. a.'c.) an⸗ 
geführte Widerlegung. Mein Zeugniß von mir ift wahr, 
weil ich weiß, woher ich gekommen bin, und wohin’ ich 


u 5 Fe. 


gehe. (Joh. vm, 14.) Und: Ich bin es nicht allein, 
der von mir zeuget; mein Vater, der mich gefandt hat, 
der. zeuget auch von. mir. Nun dieſes Zeugniß aus dem 
Munde zweier Zeugen müffet ihr ja nad) euerm eigenen 
Gefege gelten laſſen. (Joh. VIII, 19. 16. 17. 18). 


6) Sefus hat felbft bei manderlei Antäf 
fen mandherfei Apologien für feine Sendung 
gehalten, die ald fo viele Zeugniſſe von ihm a 
angefehen werden können 


Wenn ihr mir nicht glaubet, fagte er, fo folltet ihr 
doch a) euerm Mofes glauben Wenn ihr an 
Mofes glaubtet, fo würdet ihr auch mir glauben. Denn 
er fchrieb von mir, Wenn ihr aber feinen Schriften 
nicht glaubet, wie werdet ihr meinen Worten BR? 
Qoh. V, 46. 47. 


Wenn ihre mir nicht glaubet, ſo ſolltet ihr doch F 
meinem Taͤufer Johannes glauben. Es iſt ein 
Anderer, der mir Zeugniß giebt, und ich weiß, daß ſein 
Zeugniß wahr iſt. Ihr habt ſelbſt zu Johannes geſchickt, 
und er hat der Wahrheit Zeugniß gegeben. Ich habe 
zwar nicht noͤthig, mich auf menſchliche Zeugniffe zu be— 
rufen: aber um eueres Beſten willen berufe ich mich 
darauf. (Joh. V, 32 — 34. 


* Das Zeugniß des Tänfers und: die Appellation Sefi auf deſſen 
Zengniß, fo wie auch die: Berufung Jeſu auf feine Wuns 
der und auf feine Auferfiehung werden in befondern Vor— 
lefungen befonders dargeftellt ; hier find fie nur als fo viele 
Zeugniffe von ihm felber sufanmengedrängt. 


Wenn ihr mir nit glanbet, fo folltet ihr 
doch c) den Thaten meined Vaters glauben. 
Sch habe ein Zeugniß für mich, das größer ift, als je 

nes des Johannes. Die Werke, die der Vater mir zu 
vollbringen auftrug, dieſe Werfe zeugen von mir, daß 
mich der Vater gefendet hat. Seh. V.82) 


Wenn ihr mir nit glaubet, ſo folktet ihr 
d) meinem Tode glauben Wenn ihr des Mens 


— DEI — 


fchenfohn werdet erhöhet haben, dann werdet ihr's erken⸗ 
nen, daß ich's bin, und daß ich von mir nichts thue, 
fordern nur dad rede, was mic, mein Vater gelehrt hat. 
Und der mic gefenbet, der it bei mir, und laͤßt mich 
nicht allein. (Joh. VIII, 28. 29.) 


Wenn ihr mir nicht glanbet, fo fofltet ihr 
e) meiner Anferftehung glauben. Dieß boͤſe, 
ehebrecherifche Gefchlecht fucht ein Zeichen, und es wird 
ihm fein Zeichen gegeben werden, als das Zeichen Jonas, 
des Propheten. So wie Jonas drei Tage und drei 
Naͤchte im Bauche des Wallfiſches war, fo wird des 
Menſchen Sohn im Herzen der Erde drei Tage und drei 
Naͤchte ſeyn. (Matth. XII, 39. 40.) 


7. Jeſus hat ſeine ſo oft bezeugte Sen— 
dung feierlich vor Gericht bejtätiget, eidlich 
einbefannt, und dieß feim Bekenutniß mit 
dem Tode verfiegelt. 


Sefus fteht vor. dem hoͤchſten Gerichte feiner 9 Raten | 
der Hoheprieiter ruft: Sch beſchwoͤre dich bei dem. Ieben- 
-digen Gott, daß du und fagefl, ob du Chriftus, der 
Sohn des Hochgelobten, ſeyeſt; und Jeſus antwortete: 
Sch bin es, und ihr werdet den Menfchenfohn zur Nech- 
ten der göttlichen Majeftät figen, und in den Wolfen 
de8 Himmels Tommen fehen. Mark. XIV, 62. Matth. 
XXVI, 64.) Auf dieß Bekenntniß fin ı warb Jeſus 
zum Tobe verdammt und ftarb. 


Er zeugte von ſi J — einem ſolchen Zeugen glau— 

be ich. de MR . 
Dieſes Selbſtzeugniß Jeſu macht wenigſtens auf mich 
einen unnennbaren Eindruck. Der idem tenor vitae, 
das Eine Wort, immer aus demſelben Munde 
hat fchon für fich allein eine gebietende Kraft. Wenn 
nun das Eine Wort aus demfelben Munde mit bewähr- 
ter Heiterfeit des Geifteg, mit einleuchtender 
Heiligkeit des Lebens, mit ENERERN Weis 
heit 


- 


— 2175. 


heit ber Lehre, mit ſtiller Größe des Leidens, und mit 
unnachahmlicher Erhabenheit der Selbftaufopferung 
tbereinftinmt; wenn in diefem Einen Worte aus 
demfelben Munde alle Erwartungen der Vorzeit, alle 
Ahnungen der Mitzeit und alle Segnungen der Nachwelt 
zufammentreffen: dann zieht das Eine Wort aus demfel- 
ben Munde die Waffe der Unwid erftehlichfeit 
an, und nimmt Vernunft und Gemuͤth in Beſitz, und 
der ganze Menfch — ift Glaube, und der Glaube — 
wird Anbetung und Jubel, und die Zunge findet Fei- 
nen Laut al: Wahrhaftig, du biſt der Sohn 
Gottes! ern | * 





J 


FM. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. VIII. Bd. 3te Auft. 18 


N 


— 274 — 


Vierund zwanzigſte Vorleſung. 





72. 
Zweiter Beweggrund. 


Ku — auf das Zeugniß des Taͤufers Johannes 
von ihm, das heißt hier: Das Zeugniß Johannis von 
Jeſu iſt gültig, und: die Appellation Jeſu auf dieß 
gültige Zeugniß Johannis ift es auch. ; 


| EN 
Das Zeugniß Johannis von Yefu ift gültig. 


— 


Johannes zeugte von Jeſus. 


Erſtes Zeugniß: vor der juͤdiſchen Geſandt— 

ſchaft. (Joh. I, 15-28.) 

Johannes zeugte von ihm, und ſprach laut: „Dieſer 
war es, von dem ich ſagte: der nach mir kommt, war 
vor mir, denn er war hoͤher, als ich; aus deſſen Ueber— 
fluſſe haben wir Alle empfangen, Gnade fuͤr Gnade: denn 
durch Moſes war das Geſetz gegeben, aber Gnade und 
Wahrheit kam durch Jeſus Chriſtus; Keiner hat Gott 
jemals geſehen: der eingeborne Sohn, der im. Schooße 
des Vaters war, der hat's erzaͤhlet.“ 

Dieß Zeugniß legte Johannes ab, als die Juden von 
Jeruſalem Prieſter und Leviten an ihn abgeſandt hatten, 
ihn zu fragen, wer er waͤre. Und er hat es bekannt und 
nicht gelaͤugnet. Er hat bekannt: Ich bin nicht Chri— 
ſtus; ſie fragten ihn darauf: Wer biſt du denn? Biſt 
du Elias? Er antwortete: Ich bin's nicht. Biſt du der 
(erwartete große) Prophet? Ich bin der nicht. Sie frag- 
ten ihn alfo: Wer bit du denn, für wen giebſt du. dich 
aus: wir müffen denen, die und abgefandt haben, doch 
eine Antwort bringen. Da antwortete Johannes: Ich 
bin die Stimme eines Nufenden in der, Wuͤſte: Meachet 


— 275 — 


den Weg des Herrn eben, wie es bei Feſaias, dem Pro⸗ 
pheten, heißt. Die Abgeſandten waren Phariſaͤer. Sie 
fragten ihn alſo weiter: Warum taufeſt du denn, wenn 
du weder Chriſtus, noch Elias, noch der Prophet biſt? 
Johannes antwortete: Ich taufe nur mit Waſſer: es iſt 
aber Einer unter euch, den ihr nicht kennt: und der iſt 
es, der nach mir auftreten wird, ob er gleich vor mir 
war; der ift ed, dem ich den Schuhriemen zu Löfen nicht 
würdig bin. Dieß gefchah in Bethanien, lie des Jor⸗ 
dans, wo Sohannes taufte. 


Diefes Zeugniß fteht, dem wefentlichen Inhalte nach, 
auch bei (Matth. III, 5—12. —— 1, 31: Lul. III, 
4. 16.) 


Zweites Zeugniß: bei der Taufe Ser Seh. 
I, 29—34. 


Tags darauf fieht Johannes Jeſum zu fich, fommen, 
und fpricht: Seht ihr's, das Lamm Gottes! Seht ihr’s, 
diefes Lamm nimmt die Suͤnden der Welt hinweg! Dies 
fer ift es, won dem ich gefagt habe: Nach mir fommt 
ein Mann, der vor mir war; denn er war höher, als 
ich: ‚und ich kannte ihn erft felbjt nicht, und. Doch bin ich 
gekommen, mit Waffer zu taufen, damit, er in Iſrael be- 
fannt würde, Und Johannes legte fein Zeugniß ab, und 
foradh: Ich hab’ e8 mit Augen gefehen, wie der Geijt in 
ZTaubengeftalt vom Himmel herniederjchwebte, und über 
ihm blieb. Erſt kannte ich ihn nicht, aber der mid) fandte, 
mit Waffer zu taufen, fagte zu mir: Auf wen du den 
Geift ſich niederlaſſen, und uͤber wem du ihn bleiben ſiehſt, 
der iſt es, der im heiligen Geiſte tauft. Das habe ich 
geſehen, und ich habe es begeugel, daß dieſer der Sohn 
Gottes iſt. 

Dieſe merkwuͤrdige ang erzählt auch Matth. 
II,. 16. Mark. I, 10. Luk, III, 22. Lukas und Mat- 
thäus erzählen von dieſem wichtigen Zengniffe Sohannis 
noch das: „Er hat eine Wurffchaufel in der Hand, wird 
feine Tenne fäubern, den Weizen in feine Scheune ſam— 
meln, und die Spreu in unausloͤſchlichem Feuer ver: 

brennen.‘ uf, III, 17. Matth. II, 12.) Ä 
18°” 


— v6 — 


Drittes Zeugniß: vor feinen Sängern. 
(Soh. I, 35 — 36.) 
Tags darauf ftand Johannes wieder da, und zwei 
ſeiner Schuͤler bei ihm. Er wandte ſeinen Blick auf Je— 
ſus, und ſagte: Sehet, das iſt das Lamm Gottes! 


Und ſo fuͤhrt Johannes Chriſto ſeine eigenen Schuͤler 
zu; denn es heißt gleich: Und ſeine Schuͤler hoͤr— 
ten es, und giengen Jeſu nad. (I, 37.) 


Viertes Zeugniß: als ſeine Juͤnger erzaͤhl— 
ten, daß Jeſus taufe, und Alles zu ihm 
fomme. (Joh. III, 27—36,.) 


Johannes antwortete: Kein Menfch kann fich etwas 
zueignen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben: ift. 
Ihr muͤſſet mir ja ſelbſt dad Zeugniß geben, daß ich ges 
fagt habe: Ich bin nicht Chriftug, fondern nım fein Vor- 
bote. Der ift Bräutigam, der die Braut hat. Der Freund 
des Bräutigamg, der da fteht, und auf ihn horcht, freut 
fi von Herzen, fobald er die Stimme des Bräutigams 
höret! Gerade diefe Freude ift mir volfommen zu Theil 
geworden. An ihm ift ed, zu wachjen, an mir, abzuneh- 
men. Der von oben kommt,’ it höher als Alle: wer von 
der Erde her ift, der ift von der Erde, und fpricht von 
der Erde, Cift und fpricht: wie ein Menfch). "Der von dem 
Himmel kommt, der ift über Alle, Und was er gefehen 
und gehört hat, das bezeugt er, und doch giebt feinem 
Zeugniffe Niemand Gehör. Wer aber feinem Zeugniffe 
Gehör giebt, der druͤckt das Siegel darauf, daß Gott 
wahrhaftig if. Denn der, den Gott gefendet hat, der 
redet Gottes Wort. . Denn ihm bat Gott nicht nach 
Maße — ungemeffen hat ihm Gott feinen Geift gegeben. 
Der Bater liebt den Sohn, und hat Alles in feine Hand 
gelegt. Wer aber an den Sohn ungläubig bleibt, wird 
das —5 nicht ſehen, — Gottes Zorn auf ihm haften. 


Indhalt der gengnife. 


Der in diefer Zeugniffe ift groß, und 
bie Sendung Jeſu erweifend für Jeden, der 


— ER 


ihre Glaubwirdigfeit und Zuverläffigkeit 
nicht wohl bezweifeln Fan 

» Denn nad dem Haren Sinn diefer Zengniffe it Je⸗ 
ſus: Quelle der Wahrheit und Gnade; der Eingeborne, 
der Vertrauteſte des Vaters; der Herr; der Hoͤhere, 
dem Johannes nicht werth iſt, die Schuhriemen zu loͤſen; 
der Erfuͤllte mit dem heiligen Geiſte; der Taͤufer mit dem 
Geiſte; der Mann mit der Wurfſchaufel, der Sammler 
des Guten; das Lamm Gottes, das die Weltſuͤnde tilget; 
der Chriſtus; der Braͤutigam unſers Geſchlechtes; hoͤher 
als Alle; von Oben gekommen, vom Himmel gekommen; 
von Gott geſendet; der Sprecher goͤttlicher Worte; der 
Geliebte des Vaters, dem er Alles in ſeine Hand gege— 
‚ben hat; der, an den glauben und ewig leben, an den 
nicht glauben — und das Leben nicht fehen, Eines tft. 

Johannes bezeugte alfo nicht nur, daB Jeſus von 

Gott gefendet, fondern auch: daß er Gottes höchiter Ges 
fandte, Gottes. Vertrauteiter, Gottes  eingeborner Sohn, 
mit Gottes Geiſt ohne Maß erfüllt, Gottes vollkommen: 
fier Sprecher, . Gottes Macht» Allinhaber, und iu Abficht 
auf Menfchen: Täufer mit. dem Geile, Gnaden- 
quelle, Sonderer des Guten und Böfen, Herr und 
Bräutigam unfers Geſchlechtes iſt. 


Glaubwürdigkeit der Zeugniſſe. 


Die Glaubwuͤrdigkeit dieſer Zeugniſſe wird dem ſtill⸗ 
ſinnigen Gottesverehrer in dem Maße einleuchtend, in wel— 
chem er, mit der Geſchichte Johannis vertrau., zu Gott 
aufblict, der dieſen Zeugen vorbereitet, erzogen, geſandt, 
erleuchtet hat. 

Es war erfteng fein ganzer Beruf, vom Lichte 
zu zeugen. „Es war ein Menfch, der Johannes heißt, von 
‚Gott gefandt. Diefer Fam zum Zeugniffe, Fam, fein Zeugs- 
niß von dem Lichte abzulegen, damit Jedermann durch Je— 
nen an diefes glauben möchte. Er war nicht felbit das 
Licht, er follte nur zeugen von dem Lichte.“ (Joh. 1, 6—9.) 

Er war zweitens fchon vom Mutterleibe aus dazu 
ausgerüftet, ja er war fogar dazu von Gott dem flehens 


— 278 — 


den Vater geſchenkt, daß er dem Herrn und der Wahr⸗ 
heit Zeugniß geben, und ihm ein Volk zuruͤſten ſollte. 
(Luk. 1, 15. 16. 17. 41. 68—80.) | 

Er war drittens dazu von Gott erzogen, baß 
er mit Feftigfeit von der Wahrheit zeugen folite, 

„Bein und ſtarkes Getränf wird er nicht trinken.“ 
Ruf. I, 15I „Das Knäbchen wuchs heran, und ward 
am Geifte ftark, und der junge Mann hielt fich in den 
Einsden auf, bis am die Zeit, da er in Sfrael öffentlich 
auftreten ſollte.“ (Luk. 1, 80.) Er ward alfo erzogen in 
der firengften Enthaltfamfeit, und gebildet zum fchneidens 
ven Prediger der Wahrheit. 


Er ward viertens ausdruͤcklich im finfzehnten Sahre 
der Regierung des Kaiferd Tiberius durch das Wort 
des Herrn aufgefordert, von Jeſus zu zeugen. 
„Es gefhah das Wort des Herrn an Johannes in der 
Wuͤſte, und er fam in alle die Gegenden am Jordan, 
und predigte die Taufe auf Buße hin, zur Vergebung der 
Sünden, (Luk. II, 1-18.) 


Er ward fünftens durch eine göttliche Offen 
barung und durch eine göttliche Erfcheinung unters 
richtet, wer Jeſus wäre, um ja die Perfon nicht zu vers 
fehlen, von der er zeugen mußte. 


„Ich Fannte ihn nicht, aber der mic, fandte, im Taf 
fer zu taufen, der fagte zu mir: -Ueber den du den Geift 
herniederfchweben, und auf dem du ihn wirft bleiben fe; 
hen, der ift’3, der mit dem Geiſte taufet.”” (Joh. J, 33.) 


Daraus fehen wir fo viel, daß Johannes wif fen 
fonnte, wovon er zeugte. Denn er fchöpfte fein Zeugs 
niß aus der Duelle der Wahrheit. 


Die Ölaubwirdigfeit diefer Zeugniffe wird dem 
ftillfinnigen Gottesverehrer ın dem Maße einlenchtend, in 
welchen er in der Gefchichte und in dem Charakter des 

Mannes forfchet, der dieg Zeugniß ableget. 

Es Fonnte ihn Feine Menfhenfurdht hindern, 
die erfannte Wahrheit zu ſagen. Er fagte fie 
dem Könige: „Du darfft deines Bruders Weib nicht ha= 


/ 
’ 


— 279 — 


- 


ben,” und ließ ſich auf die Wahrheit hin in den Kerker 
werfen, und den Kopf vom Rumpfe fchlagen. (Matth. 


"XIV, 1—12.) Und wie er fie jest dem. Koͤnige fagte, 


fo hat er fie vor dem Bolfe, den Zöllnern, den Sol- 
daten, den, Pharifäern, den Abgefandten ge 
fagt. &uf. II, 1—18.) 


Es fonnte ihn 2) Feine Eitelkeit, fein Hoch— 
muth hindern, Die Wahrheit zu reden. Er ließ 
fih nur von der Wahrheit leiten. — „Ich bin's nicht, 
ic) bin's nicht, ich bin's nicht. fe. 

So einfylbig antwortet er auf die Fragen: ob er 
Shriftus, Elias, der Prophet wäre? „Sch bin die Stims 
me eines Rufenden in der Wuͤſte.“ Ein fo we 
nig fagendes Wort fucht er heraus, wenn er jagen —— 
was er doch waͤre. 


Er freute fih, abzunehmen, damit Jeſus wachſe; er 


‘ wehrte ſich, wenn er Jeſus taufen follte; er freute fich, 


wer die Augen der Nation fi von ihm weg, und auf 
Jeſus hinwandten; er hält fich für einen Sohn der Erde, 


Jeſum fuͤr den Himmliſchen; er ift ſich nur der Freund — 


des Bräutigams, 


E3 konnte ihn 3) fein Eigennutz und feine Ber 
quemlichfeitsliebe Hindern, die Wahrheit zu fagen. 
Abgehärtet, felbitvergeffen, der freimüthigfte Bußprediger, 
der eiferne Mann in Kameelhaare gekleidet, abgefondert 
von Berwandten, der Enthaltfame, nad; dem Ausdrucke 
Jeſu, der nicht aß und nicht tranf: wie follte er dazu . 
gereizt werden, die Wahrheit zu verfälfchen 


Es konnte ihn 4) keine feurige Einbildungs— 
fraft, Fein vernunftzvorfpringender Enthufia $- 
mus begeijtern, mehr zu fagen, als an der Sa- 
he iſt. 

Denn ſieh! er draͤngt ſich nirgend hervor, geht nur 
vor dem Herrn daher, wartet in der Einoͤde, bis ihn der 
Herr ruft, thut nur Vorbotendienſte, zeugt nur von dem 
Lichte, und will es nie ſelbſt ſeyn — — oder, mit einem 
Manne zu reden, der die Größe des Propheten in deſſen 

\ 


— 280 — 


Geringfeyn erfchaute, begnügt fi, Berge abzut— 
gen vor der Sonne, maßrs ſich aber nie an, 
Sonnenftrahlen zu machen; will nichts erzwingen, 
nichts überfchnellen, Laßt fich einfperren um der Wahrheit 
willen, und. kann ruhig fterben, ehe fich die Sadıe des 
Herren entjchieden hatte. 


Erfolg der Zeugniffe. 


Diefe Zeugniffe Johannis hatten wirflid 
Glauben gefunden — und eine allgemeine 
Senfation in der Natiomerwedt 


Denn. 1) konnte und durfte Jeſus daranf appellicen: 
„Ihr habet ja felbit an Johannes eine Gefandtfchaft abs 
gehen laffen, und er hat der Wahrheit das Zeugniß geges 
ben. Indeß habe ich nicht nöthig, auf Menfchen- Zeug- 
niß zu appelliren..... Sch fage dieß nur, daß ihr möch- 
tet gerettet werden. Er war wirflich ein erwärmendes 
und erleuchtendes Licht, an dem ihr euch nur eine Weile 
erluftigen wolltet.” (Joh. V, 35—35.) 


Sefus Eonnte 2), feine fcharffinnigen Gegner mit der 
Taufe und dem Zeugniffe Johannis wirklich in eine Ver— 
Vegenheit verjegen, aus der fie ſich nicht einmal heraus- 
lügen fonnten, Der Auftritt it merfwärbig. „Indem er 
nun das Bolf in dem Tempel lehrte, Famen die Hohen 
priefter und Schriftgelehrten und Aelteſten des Volkes 
ie Häupter der Nation) zufammen, und thaten die Frage 
an ihn: Sage und, aus welcher Vollmacht thuft du die, 
oder wer ift ed, der dich dazu berechtigt? Jeſus: Ich 
will euch auch ein Wort fragen, gebt mir Antwort: War 
Sohannis Taufe göttlichen oder menfchlichen Urfprunges? 
Antwortet mir. Aber fie dachten bei fich, fagen wir: fie 
war von Gott; fo wird er fagen: warum habt ihr ihm 
alfo nicht geglaubt? Sagen wir aber: fie war von 
Menschen, jo wird uns alles Volk fteinigen. Denn es 
find Alle überzeugt, daß Johannes ein wahrer Prophet 
fey. - Sie fanden alfo für gut, zu antworten: Wir. wifr 
ſen's nicht, woher er jey, Daranf antwortete Jeſus: So 


— 231 — 


fage ich es denn euch auch nicht, in weſſen Vollmacht ich 
dieß thue.“ Au XX, 1-8) 

Diefe Stimmung der Nation und dieſe Verlegenheit 
der Häupter beweifet alfo hinlänglich, wie tief und. aus: \ 
gebreitet der Eindruck geweſen feyn muͤſſe, den Johannis 
Zeugniß gemacht hat. 

Johannis Zeugniß hatte 3) ſo viel — daß nach 
ſeiner Enthauptung Herodes durch die Wunder Jeſu und 
ſeiner Juͤnger irre gemacht wurde, und vielleicht geneigt 
war, zu glauben: Johannes waͤre in Chriſtus wieder auf— 
erſtanden. „Einige ſagten (heißt es bei Luk. X, 8. 99: 
Johannes iſt von den Todten auferſtanden; Andere: Elias 
ſt erſchienen; Andere: einer der alten Propheten iſt auf: 
eritanden; Herodes aber: den Johannes habe ‚ich ent— 
hauptet, wer ift aber der, von dem id) ® Bieles höre? 
Und er wollte ihn ſehen.“ 

:B« 

Wenn das Zeugniß des Täufers von Jefus gültig 
it: fo iſt es auch die Appellation Jeſu auf das Zeugniß 
des Taͤufers. Denn 

1) wer bie Wahrheit kennt und Fiebt und frei befennt, 
ver kann und darf fich auf dag Zeugniß eines An 
dern, der die Wahrheit auch Fennt. und liebt und 
frei befennt, und als ein freier Befenner der Wahr- 
heit überall befannt ift, vor denen berufen, die gegen 
das Zeugniß des Letztern keine Einwendung zu ma⸗ 
chen im Stande ſind. Der Wahrhaftige kann und 
darf appelliren auf das Zeugniß eines andern Mans 
nes, deſſen Wahrhaftigkeit anerkannt iſt. 

2) Was Jefus konnte und durfte, das that.er auch — 
er appellirte wirklich auf das Zeugniß Johannis 
(Soh. V, 33—35.), und. er. ift wahrhaftig (Luk. 
XX, 1—8.), und der Mann, auf deffen Zeugniß 
er fi ich berief, ift es auch. | | 

3) Diefe Appellation war nicht nur nicht fruchtlos, 
ſondern wirkte ſo viel, daß ſeine Gegner entweder 
glauben, oder verſtummen mußten, Auf. XX, 1—8.) 


- 


— 282 — 


4) Die Appellation Jeſu auf das Zeugniß Johannis 
war alſo nicht nur gültig, ſondern auch geltend, 


* * 
* 


Johannes zeugte von Jeſus, und Jeſus appellirte auf 
dieſes Zeugniß — einem ſolchen Zeugen und einem ſolchen 
Appellanten glaube ich. 


* ueber das Zeugniß Jeſu und ſeine Appellation auf das — 
niß Johannis verdient Dederlein Religionsunterricht nach: 
gelefen zu werden. 





— 23 — 


Füunfundzwangigfte Borlefung. 





Dritter Beweisgrund,. 


Sefus hat feine Sendung durch Wunder feinen Zeitgenofs 
fen wirklich "bewiefen. 


* Hbgleich die Darftellung von der Gottestwürdigkeit der Wun— 
der Jeſu .(n. 64) den nüchternen Leſer fchon geſtimmt has 
ben Fünnte, dem frommen Iſraeliten etwas von dem, was 

er bei dem Anblicke jener großen Thaten gefuͤhlet haben 
"möchte, nachzufuͤhlen: fo wird denn Doch ein Wort von dem 
Wundern, ‚in fofern fie Beweife göttliher Sendung ſehn 
folten, und dann ein zweites über den Efel unfers Zeitz 
alters an den Wundern Jeſu, als Vorbereitung, zur Leiche 
tern Erfaffung des dritten Bemweisgrundes- nicht überflüßig 
feyn. 


Vorbereitung zur Erfaffung des dritten 
Bemweisgrundes. 


1. + I# > | 
Was ih von den Wundern als Beweiſen der göttlichen Sens 
dung halte. 


Vorerſt: Was ich ſchon gar nicht behaupte. 


Ich ſage 1) nicht, daß die Wunder, allein und 
fuͤr ſich betrachtet, ein Beweis der Sendung Jeſu ſeyen. 
Erſt in Verbindung mit der himmliſchen Lehre, mit 
der lautern Abſicht, mit dem milden Charakter, 
mit dem heiligften Wandel Jeſu mögen fie ein ent— 
fcheidendes Gewicht haben. Die Harmonie des Ganzen. ift 
Index veri, und in diefer Harmonie ſind die Wunder 
ein Ton, der in. den Einklang der Übrigen Töne, ſtatt 
ihn zu. ftören, lieblich einfällt. 


Ich fage 2) nicht, daß fie die Hauptprobe Br 
lich machen: „Wer meine Lehre thut, wird inne 


— 284 — 


werden, ob ſie aus Gott ſey.“ Das treue Voll— 
bringen des klar Erkannten iſt immer der unentbehrlichſte 
Schluͤſſel zum Innewerden des Ungekannten. Die Haupt⸗ 
ſache muß immer die Hauptſache bleiben. 


Ich ſage 3) nicht, dag die Wunder ein’ Beweis für 
jeden Menfchen find. Sie koͤnnen nur ein Beweisgrund 
für. ‚die werden, welche die nöthigen Bedingniſſe 
mitbringen, ohne. die ihre Beweiskraft nicht gefühlt, ihr 
Gewicht nicht gefchäßt werden kann. 


Sch fage 4) nicht, daß fie insbefondere den Koyf 
überzeugen Eönnen, der durch Spekulation an dem Wer— 
the des Gefchehenen und an ber Wahrheit der Gefchichte 
irre gemacht worden, 


* ‚Und dieß iſt zum Theil Krankheit meiner Zeit; der blinde 
Glaube an felbfisemachte Vorftellungen macht uns Falt 
‚gegen den Werth der Gefchichte und fEeprifceh in Hinficht 
auf die Wahrheit der Gefchichte, alfo, da der Glaube an 
das Pofitive des Chriftenthums auf Gefchichte beruht, un: 

vermerkt abgeneige gegen das Pofitive des Chriftenthums, 
oder wenigfiens fo verſt immt, daß wir unfähig find, es 
yarteilos zu beurtheilen, indem mir fogar unfähig find, 
es auch nur richtig er 


Sch * %) nicht, daß die Wunder, auch in Bers 
bindung mit den übrigen Beweifen, ein Wiffen hervor: 
bringen Eönnen. Genug, daß fie, ald Spuren des Hoͤ— 
bern, auf Hoͤheres weifen, und den fchlafenden Glau— 
bensfinn weden. 


Am allerwenigften fage ih 6), daß ein einzelnes 
Wunder, und diefes einzelne außer der Verbindung mit 
der Weife, wie fie gefchehen find, und außer der Verbin- 
dung mit den übrigen Thaten Jeſu, die Sendung . 
Sefu bemeifen fönne. Denn, wenn gleih der Total 
eindruck der Gefchichte Jeſu nicht anders, als für den 
Glauben an feine höhere Sendung entfcheidend ſeyn kann 
in jedem "glaubwilligen Gemüthe: fo folgt ja daraus nicht, 


— 285 — 


daß die Kraft des Totaleindrucks in jedem abgeriffenen 
Lebens » Fragmente fpürbar feyn müßte.  Hernad: 


Was ich, auch in Hinfiht auf meine Zeit 
genoffen, mit voller En. mit gegründeter Meberiengung 
fagen dürfte 


Mer a) die vier Evangelien für gl — hau, 
wer b) uͤberdem die Würde, die Schönheit, Die 
Wohlthätigfeit der Lehre Jeſu, bie Heiligfeit feiz 
ned Wandels, die Lauterkeit feiner Abfichten und die 
unvergleichbare Milde ſeines Charakters fühlen 
fann, und firenge im Auge behält; wer c) Muth genug 
hat, die Hauptprobe aller Wahrheit, — das Thun des 
Erfannten — an fich felbjt zu verfuchen; wer dh ein 
reines und energifches Verlangen nach höherer Erfenntniß 
Gottes ‚in fich fühlt; wer e) Vertrauen genug hat, Gott 
um Erfenntniß der Wahrheit anzuflehen; wer F) Abris 
gend die Dinge gerade anzubliden und nüchtern 
zu beurtheilen gelernt hatz wer gJ endlich die Wahr- 
heit felbjt von gauzem Herzen lieb hat, und nicht für die 
Langeweile — gut werden möchte, und alfo alle mögs 
liche. Bedingniffe mitbringt, um in der gegenwärtigen Unters 
fuchung eine Stimme geben zu fönnen, der koͤnnte über- 
wiegende Gründe finden, die göttliche, Sendung Jeſu, 
auch um feiner Wunder willen, für wahr zu halten. 


Was ich denn eigentlich behaupte? 


Meine Zeitgenoſſen ganz ande Acht laſſend, ſage ich 
jetzt nur: 


Die Wunderthaten Jeſu mußten Bar die ruhige, nuͤch⸗ 
terne, wahrheitliebende Vernunft feiner frommen, an 
die Verheißungen Jehovas glaubenden Zeitgenoffen, 
die dieſelben Thaten mit Augen ſehen, und mit der Lehre 
und dem Wandel und der übrigen Geſchichte Jeſu ver— 
gleichen Fonnten, einen folchen Eindruck machen, daß fie, 
ohne Widerſpruch der Vernunft und ohne Widerfpruch ihr 
res Gewiſſens, nicht wohl ungläubig an die höhere Sen- 


dung Jeſu bleiben konnten. Und — Glaube beruhte 
auf guͤltigen Gruͤnden. 


— 236 — 


Woher der gelehrte (oder ungelehrte) Ekel komme, den mein 
Zeitalter an den Wundern Jeſu genommen hat. 


Er kommt bei Einigen von Anmaßung des Ver— 
ftandes, bei Andern von Eingenommenheit des 
Willens, bei Dielen vom Hangen an Aufto 
rität. | 


Gr gründet fich bei Bielen auf Yamabung des raͤ⸗ 
ſonnirenden Kopfes, womit fie ihre Abneigung rechtferti- 
gen. Anmaßung des Berftandes ift eine GSelbittäw 
ſchung des Fe als hätte er eine Staͤrke, die er 
nicht hat. 


„Webend in den aͤußern Geſtalten der Natur und in 
den Formen des Raͤſonnements daruͤber — find. fie uns 
fähig, das Göttliche, das Ewige, das außer der Geftalt 
der Natur und außer den Formen des Näfonne 
. ments liegen muß, zu erbliden, — alſo unfähig, die Spu- 
ren des Höhern in einzelnen Begebenheiten, an denen ed 
/fidy abbildet, anzuerfennen, Alles ift ihnen Katurgeftalt 
und Räfonnement darüber: wozu ein Göttliches, das 
in. dem Gedränge gemeiner Ereigniſſe fich auszeichnete, 
Spuren höherer Abkunft gäbe, und auf die Urquelfe aller 
Dinge mächtig zuruͤckwieſe? 


Weil fie nun das Göttliche, dad Ewige — weder in 
* Naturgeſtalten, noch in den Formen des Begriffes, 
den ſie ſich von den Naturgeſtalten gebildet haben, finden 
koͤnnen, ſo verſchmaͤhen ſie, die Blitze deſſelben in hoͤhern 
Begebenheiten anzuerkennen — und maßen ſich an, den 
hoͤhern Begebenheiten das Höhere, dem Wunder das 

Wunder abzuſprechen. Deßhalb fohreien fie: Wunder 
feyen unmöglich, und fühlen nicht, daß, wer Wun- 
der unmöglich macht, der Sonne nicht erlaubt, den Dia- 
mant mit ihrem Lichte zu durchdringen, weil fie den Stamm 
der Eiche nicht durchleuchtet; dem ewigen Leben ver- 
beut, in dem "weichen Boden des hingegebenen Willens 
eine Lebensfrucht zu erzeugen, die e8 in dem Kiefelgrunde, 
des widerftehenden Gemuͤthes * hervorbringen kann. 


Aug 237 = 


Deßhalb fehreien fie: Natuͤrliches fey vollfoms 
mener, als Uebernatuͤrliches, und fühlen nicht, daß 
einerfeits die Großthaten der Menfchheit fchon ein Ueber⸗— 
natürliches in Hinſicht auf die Thierwelt find, ande> 
rerſeits für die heilige Natur in Gott nichts übernatürs 
fich, nichts Aber feine heilige Natur ſeyn kann. Deßhalb 
fchreien fie: Wunder ließen fih vom Nichtwunder 
nicht unterfcheiden, und fühlen nicht, daß 5.8. der 
Blindgeborne das Wunder des Sehens beffer unters 
fcheiden Eonnte, als die fehenden Pharifäer, die der Haß 
des Wunderthäterd ſkeptiſch, d. i. blind gemacht hatte. 


Deßhalb fchreien fie: Wunder wären wenige 
ſtens nicht für die Nachwelt bezeugbar, und 
fühlen nicht, daß fie die Thatfachen und das Urtheil dars 
über verwechfeln. Thatfache ald Thatfache wird bezeugt; 


das Höhere der Thatfache kann nur durch offenen Siun | 


für das Höhere unterfchieden werden. Und den Sinn 
kann dir natürlich Fein Zeugniß geben — du follft ihn 
in dir ſelber haben. 


Deßhalb fehreien fie: Wunder haben wenig 
tens für uns. ihre Bedeutung verloren; ung 
genuͤge wenigſtens die Würde der Lehre, und 
die Heiligkeit des Lehrers, und fühlen nicht, daß 
die Harmonie des Göttlichen, die fih durh Wahrheit 
der Lehre und Heiligkeit des Lehrers anfündet, 
durch den Einflang feiner höhern Thätigfeit nur noch mehr 
verjtärft werden müßte; bedenken nicht, daß es vielleicht 
. doch noch im Jahre 1851 ein Ohr geben koͤnnte, das fuͤr 
die verſtaͤrkte Harmonie offen ſtuͤnde. 


Deßhalb ſchreien ſie: die Wunder Jeſu wären 
aus der Imagination erklaͤrbar, und fuͤhlen nicht, 
daß man tauſend Dinge durch Imagination in einer kunſt— 
vollen Abhandlung erflären zu koͤnnen wähnen mag, die 
man dur; Smagination in der eg nicht res 
produziren kann. 


Deßhalb fehreien fie: die Wunder Jeſu würden 
unzuläffig, wenn man die unzähligen falfchen 
Legendenwunder und die Natur des Alles 


— 


— 2358 — 


vergrößernden Rufes betrachte, und fühlen nicht, 
daß ich aus falfchen nachgemachten Fouisd’oren und aus 
ber Natur des nachahmenden Eigennußes richtiger 
fchließe, daß e8 doch echte Louisd'ore geben müffe, 
weil es falfche giebt, ald daß es Feine echten gäbe, weil 
fo viele falfche im Umlaufe ſeyen. Und dann du, lieber 
Großwardein! es ift nicht Alles falfche Münze, was dein 
Stempel dafür erfennt, denn du haft ja die entfcheidendfte 
Vors Frage noch nicht gelöfet, gb nicht etwa Deinem Stem⸗ 
pel felbft das Gepräge des Truges und der Füge eins 
gegraben je 

Der Ekel an den Wandern Jeſu gruͤndet ſich bei An⸗ 
dern auf praͤexiſtirende Eingenommenheit des 
Willens gegen das Chriſtenthum, die ſich dann gern in 
den Mantel der Vernunft kleidet, und daher dem Ver⸗ 
ſtande die Aufgabe vorſchreibt, das Chriſtenthum laͤcherlich 
zu machen, oder die Beweiſe dafuͤr in ihrer Bloͤße zu 
zeigen. Dieſe Eingenommenheit des Willens kaun man⸗ 
cherlei Gruͤnde haben. 


Wer in das Riedere dieſer Welt verſenkt iſt, kann 

eben darum keinen Sinn fuͤr die Spuren einer hoͤhern 
Welt haben. Alle Nachrichten von einer uͤberirdiſchen 
Kraft ſind dem zweideutig, der ganz an der Erde haftet. 
Wenn der Menſchengeiſt im Dienſte des Thieres thieriſch 
geworden iſt, fo faßt er nicht mehr, was bloß geiſtig tft. 


Mer nur dem Fleifche dient, ſcheut eine Lehre, die 
das Fleiſch kreuziget, — alſo auch ein Wunder, das fuͤr 
dieſe Lehre ſpraͤche. 


Mer wider die Diener des Chriſtenthums eingenom⸗ 
- men, mit wilden Hafje- gegen fie angeht, der kann auch 
bald. gegen das Chriftenthum felbft eingenommen, werden, 
und dann auch gegen die Beweife defjelben. 


Es ift eine Art füßer Nache, das zu läugnen, deſſen 
Behauptung man fir Handwerks- oder Zunftfache des 
gehaßten Standes hält, Um den Prieftern Tort zu thun, 
verachtet man ihte Lehre; um die Lehre verachten zu koͤn⸗ 


nen, ihre Gründe, Deßhalb ift ein unwuͤrdiger Diener 
der 


— 220 — 


der Religion dem Anſehen der Religion ſo ſchaͤdlich, weil 
er die Schwachen zuerſt wider ſich, und dann auch wis 
der die Religion einnimmt. 


Wer ſich durch Paradoxie der Meinungen auszeichnen 
will, und den bunten Geſtalten des Neuen wie ein Schmet- 
terling nachläuft, kann fich Leicht: wider das Chriftenthum 
einnehmen Taffen, um fich durch Diefe Eingenommenheit 
auf dem kuͤrzeſten und leichteſten Wege als ein Genie 
darzuſtellen. 


Wer die neue moraliſche —— oder die 
ſogenannte Naturreligion fuͤr allgenugſam haͤlt, wird da⸗ 
durch gegen alle Offenbarung, alſo auch gegen alles, was 
Wunder heißt, eingenommen. Es fehlt unſerm Jahrzehend 
hierin nicht an Beiſpielen; es hallet mir noch im Ohr 
nad, was fo oft zur Sprade fam: „Ich glaube an 
mein Sittengefeß, Aue Gott und ——— was 
brauche ich mehr 2‘ 

Die wider das Pofitive des Chriſtenthuns einge⸗ 
nommen ſind, die ſind es auch im hoͤchſten Grade gegen 
die Wunder Jeſu. Denn fie fuͤrchten ſich, wieder glaus 
ben zu muͤſſen, wenn fie die Wunder etwas gelten ließen, 


Deßhalb befennen fie fich fo gern zur Natur- oder 
Bernunftreligion. Denn diefe hat Feine Eriftenz in der 
fihtbaren Welt, feine Kirche, feinen Altar, feinen Prie 
fter, feinen Prediger, feinen Kultus, feine Safra- 
mente, feinen Taufſtein, feinen Beichtftuhl, feine 
Bibel, feine Zeremonien, feine Fefttage, fein Kir 
hengefeß, feine Berfammlung. Jeder, der fich zur 
Natur⸗ oder Vernunftreligion befennt, ift ſich felber Kir, 
she, Altar, Priefter, Bibel, if fih Geſetzgeber, 
Superintendent, De Papſt, Zeremonia 
rings — — Mles felbft. . Wer ſich alfo zur Natur: 
oder Vernunftreligion befennt; ſchafft ſich Vieles, was 
ihm Läftig werden fünnte, Kirche, Altar, Bibel, Prie⸗ 
fter, Predigt, Saframente.ıc, vom Nacken. — 
Und ob er in ſich wirflih Kirche, Altar, Predigt, 
Bibel, Religion habe, da kann fein Zeuge hinein⸗ 
ſchauen. 


I M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. VIII. Bd. Zte Aufl. 19 


"Er hat ſich alfo von vielen Laften unabhängig ges 
macht, und noch obendrein das Lorbeerfränzchen eines 
Weiſen errungen, der ſich Alles felber feyn kann, Kir 
he, Altar, Bibel, Priefter, Prediger — was Ans 
dere außer ſich fuchen en und, wie er fagt, fo theuer 
bezahlen muͤſſen. 


Der Ekel an den Wundern Jeſu gründet fich bei 
Manchen bloß auf Auftorität, auf den bon ton in 
Schriften und Gefellfchaften. Es wird Mode, gegen die 
Wunder abzufprechen. Diefe Art: Gegner verdienen Feine - 
Widerlegung; fie wiffen fo wenig, warum fie vom Jahre 
1830 angefangen, an feine Wunder zu glauben, als fie 
vorher gewußt , haben mochten, warum fie bis auf den 
legten Jänner 1829 daran glaubten, 


Das ift die Gefchichte des Efeld an ben Wundern 
Jeſu. Nun aber kann weder die Anmaßung des Ver—⸗ 
ſtandes, noch die Eingenommenheit des Willens, noch die 
blinde Ergebenheit an eine gleich blinde Auktoritaͤt den 
Widerwillen gegen das Wunderbare rechtfertigen. Denn, 
wenn ſich das ewige Leben in Chriſtus wirklich offenbaret 
durch Thaten, die uͤber dem Gebiete der Menſchheit lie— 
gen: ſo hat die Einrede des Begriffes, daß er das, 
was uͤber ihm liegt, nicht begreifen kann, gerade fo wer 
nig zu. bedeuten, ald daß der ftolze Nacken fich vor dem 
Heiligen nicht beugen will, oder der Verſtand ſinnlos 
nachbetet, was ihm wider die Dffenbarung Gottes durch 
Wunderthaten der FERN: feiner Nachbarn fi innlos vor⸗ 
betet. 


Ganz anders das Einbrüche Gemüth des Seifen: über» 

all, wo ed Spuren des. Göttlihen wahrnimmt, betet es 
an, und bekuͤmmert fich nicht um das Gefpött der Andern, 
die es gern fähen, daß, wenn der ewige Vater handeln 
wollte, er zuvor bei den Kleinlichten Begriffen ee um 
muͤndigen in bie Schule gehen follte, | 


Freunde! Taffet und wenigſtens nüchtern fen, wenn 
wir nicht weiſe * wollen! 


— 





ei BE 


Sechsund zwanzigſte Vorlefung. 
Darſtellung des Pen Beweidgrundes, 


Bra 


Um die Beweisfraft fir die Sendung Jeſu, bie feine 
Wunder in den Augen feiner Zeitgenoffen haben konnten, 
dem empfänglichen Leſer (denn einen andern kenne ich 
jeßt nicht), fühlbar zu machen, werde ich darthun muͤſſen: 
erftens: Jeſus hat ſich wirklich auf feine Wunder bes 
rufen, um feine Sendung zu beweifen; zweitens: Diele 
feiner Zeitgenoffen haben, der Wunder wegen, wirklich 
an Sefus geglaubt: alſo mußte ihnen die Sendung Ser 
fr dadurch glaubwirdig geworden (d. bh. ſubjektiv 
bewiefen) feyn; drittens: dieſer Glaube an- die 
Sendung Jeſu, der Wunder wegen, war hoͤchſt vernänfs 
tig, d. h. die Wunder Jeſu konnten feine Sendung feis 
nen Zeitgenofjen (objektiv) beweifenz; viertens: Ein 
einziges. beſtimmtes Wunder, als ‚Beifpiel angeführt, -Fanır 
die Ueberzeugungskraft der Wunder Jeſu für feine Zeit 
genofjen fo. darthun, daß hundert Einwirfe wider. die 
Wunder überhaupt verfchwinden, fobald man ihren - 
Gehalt an einer beſtimmten Thatfache pruͤfet. 


Eritens: 


Jeſus hat ſich wirklich auf feine Wunder: Gerufen, 
um feine Sendung zu beweifen, 


Sefus hat fih 1) vor dem Volke nachdruck⸗ | 
fam auf feine Wunder berufen, um feine 
Sendung zu beweifen. * | 


„sch habe ein Zeugniß für mich, das ‚größer iſt, aß 
jenes von Sohanned. Denn die Thaten, die der Vater - 
mir. zur Vollendung auftrug, die Thaten, Die ich wirklich 
thue, (3. B. die Heilung des 3gjährigen Lahmen) legen 
das Zeugniß von mir ab, daß mich der Vater gefandt 

A 2 19* 


“ft 


BR 


hat. (Joh. V, 36.) Auf die Frage der Juden: wenn 
du denn Chriſtus bift, fo fage es und öffentlich — ants 
wortete Jejus; Die Thaten, die ich im Namen meines 
Vaters thue, Diefe geben Zeugnig von mir. Aber ihr 
glaubet mir. nicht, weil. ihr ‚nicht: zu meinen. Schhlern ge— 
höret.. (Joh. V, 26I Als fie ihn fteinigen wollten: Sch 
habe, euch viele wohlthätige Werke fehen laffen: faget an, 
wegen welches fteiniget ihr mich denn? — Wenn ich nicht 
die Thaten meines Vaters thue: fo möget ihr mir nicht 
glauben. Wenn ich fie aber thue, und ihr mir ſelbſt 
nicht glauber: fo glaubet doch den Thaten, damit ihr 
erfennet und glaubet, daß der Water in mir if, und id) 
in dem Bater bin.” (Joh. X, 37.) 


Jeſus hat fih DI nicht nur vor dem Volke 
auf feine Wunder als Beweife feiner Ser 
dung berufen, fondern bat es auch dem um 
gläubigen Theile des Volkes zu einer, alle 
Eutfhuldigung audfchließenden Sünde ar 
gerehnet, daß es bhefem Beweiſe widerſtan— 
Ren, hat. ’ 


Wenn ich nicht En wäre, und zu ihnen geres 
bet hätte: fo Hätten fie fich nicht an mir verfimdiget. 
Aber jest koͤnnen fie fich ihrer Sünden halber nicht: mehr 
entſchuldigen. Wer mich haßt, der haft auch meinen 
Vater. Hätte ich die Thaten nicht gethan, die Fein Anz 
derer gethan, fo hätten fie feine Suͤnde auf fih. Sekt 
aber haben fie (dieſe Thaten) gefehen und doch mich 
und meinen’ Bater gehaſſet.“ oh. KV, 221283 


Sefus beruft fid 3) niht nur vor dem 
Volke, ſondern auch vor ſeinen vertrauteſten 
Juͤngern in jenen heiligſten Ergießungen ſei— 
nes Herzens, nah dem Abendmahle, auf ſei— 
‚ne Wunder, als Beweiſe feiner Sendung. 


Glaubt ihr denn noch nicht, daß der Vater in mir 
if, und ich im Vater? . Was ich zu euch rede, rede ich 
ja nicht aus mir. Der Vater, der in mir bleibend ift, 
> that eigentlich die Werke, die ich thue. Glaubt ihre mir 


f 


— 298 — 


niun nicht (um meines Zeugniſſes willen), daß ich "in 
dem Vater, und der Vater in mir iſt: fo glaubt es um 
meiner Werke willen,“ ‚oh. XIV, 10—12.) 


Sefus.beruft fih 4) nicht nur, nor einen 
Juͤngern, fondern auch vor den Juͤngern Jo⸗ 
hannis auf ſeine Wunder, als Beweife ſeiner 
Sendung, die mehr ueberzeugungskräft has 
ben müßten, als feine Antworten. N Ä 


Als Johannes, feine, Jünger zu. Jeſus ſchicte um f ie 
ganz an Ihn,anzufchließen, und die Frage. in ihren, Mund 
legte: Biſt du, der. da, kommen ſoll, ‚oder erwarten. wir 
einen Andern: ſo blieb Jeſus ruhig, that Wunder wie 
vorher, und ließ die Thaten de, Stelle, fu; Autwort 
vertreten. A gene 

„Gehet, ſaget the ——— was ihr gefehen: Blinde 
(ehe Lahme gehen, Ausfägige werden rein, ‚Taube hoͤ⸗ 
ven, Todte ſtehen wieder auf: den Armen wirb EM 
Botfchaft gebracht.“ (Matth. XL) Gi; 

* Daß Sefus feine Wunderthaten ſelbſt als Bewelſ⸗ 
Sendung angeſehen, und ſich auf ſie, als Beweiſe ſeiner 
Sendung, berufen hat, iſt für mich das Entſcheidendſte. Er 
- mußte doch am befien wiſſen, was er wolle, und un 
ag in ihm wirke. 


Zweitens: 


J 


Es haben viele Zeitgenoffen Jefu um der 


Wunder Jefu wilfen an Ihn geglaubt, ni. 
die Sendung Gefu war ihnen um der Wun—⸗ 
der willen (ubijektiv) gewiß. 


Nikodemus 


glaubte an Jeſus, um feiner Wunder willen. „Meiſter, 

wir wiffen, daß du als Lehrer von Gott gefommen bift, 
denn Niemand kann die Zeichen thun, die du thuft, es 
ſey denn Gott mit ihm.“ (Job. Er R Song: 


Nathanael 


glaubte an Jeſus, um ſeiner wundervollen Erkenntuiß 
willen: „Beil ich dir geſagt, daß ich dich unter dem Fei⸗ 


— 24 — 


genbaume ſah, glaubeſt du: aan wirft — größere Dinge 
ſehen.“ Goh. — 
Die uͤnger Jeſu 

hlaubten an ihn, um des erſten Wunders willen: „Dieß 
(die Waſſerwandlung in Wein) war das erſte Wunder, 
das Jeſus gethan hatte, und er offenbarte dadurch feine 
Herrlichkeit, und feine Sänger glaubten an Ihn.“ oh. 
Il, 11.) 

Der ſehendgewordene Blinde glaubte an die Sendung 
Jeſu, um ſeiner Wunder willen: „Das iſt wunderlich, daß 
ihr nicht wißt, woher er fey: da er Doch meine Augen 
aufgethan hat. Wir wiſſen ja, daß Gott die Suͤnder 
nicht erhoͤret, ſondern wer Gott verehret, und feinen Wils 
len thut, den höret Er. Seitdem die Welt fteht, ift 
es nicht: erhoͤrt worden, daß Jemand einem Blindgebors 
nen die Augen aufgethan habe. Waͤre er nicht von a 
fo hätte ver nichts dergleichen * Können. N IX; 
30 —33. — 

Viele Suben 


—— an 1 Shn, wegen der Heilung des Btindgebornen: 
„Und es entjtand wieder ein Zwift unter den Juden, um 
diefer Reden’ willen, Einige fagten: er hat einen Teufel, 
und ift wahnfinnig. Andere fagten: einer, der den Teus 
fel hat, kann nicht fo reden: Oder fann etwa der Ten: 
fel, einen, Blindgebornen fehend machen? (Joh. X, 19 — 
22.) Und Viele famen zw ihm, und ‚fagten: dZohames 
hat fein Zeichen gethan: aber alles, was Johannes von 
ihm gejagt hat, das iſt wahr, Und Biele glaybten am. 
ihn.’ (oh. X, 41. 42.) 


Viele Juden 


— an Feſus um der wundervollen Auferweckung 
des Lazarus willen. Goh. XL 45 — 49.) „Viele aus 
den Juden, die zu Maria, und Martha gefommen was 
ren, und das, was Jeſus gethan, geſehen hatten, glaub⸗ 
ten an Ihn. Andere aber giengen zu den Phariſaͤern, 
und fagten ihnen, was Jeſus gethan. Diefe «ließen die 
Priefter und den großen Rath zufammenfommen, und 


— 205 — 


ſagten: Was fangen wir an, da dieſer Menfch ſo viele 
Zeichen thut? Wenn wir ihn fo fort machen Tafjen, fo 
glauben noch. gar Alle an Ihn, und die Roͤmer kommen, 
und nehmen ung Land und Leute weg. Bon diefem Tage 
an ſannen fie alfo battn, ‚wie fie ihn toͤdten —— 


(d. 93.) 
Drittens: 


- Diefer. Glaube an bie Sendung Jeſu, um ſeiner Mu, 
ber willen, war in den Zeitgenoffen Jeſu nicht. bloß fubs 
jektiv — er war auch an fi hoͤchſt vernünftig, 
d. h. Sefus hat feine Sendung nicht nur auf eine, gels 
tende, fondern auch auf. eine, gültige Weiſe dargethan. 


Gerade die beften und weifeften Sfraeliten hatten gar 
feinen gültigen Grund, die Thaten. Jeſu, und une 
ter Diefen die Auferwedung des Lazarus für B etrug 
oder für Selbfttäufhung Jeſu, oder bloß für ein 
Werf der gemeinmenfchlichen Naturfräfte anzufehenz fie 
hatten‘ vielmehr die entfcheidendften, gültigiten Gruͤnde, 
fie für seine Sprache Goͤttes, die die höhere 
Sendung, Jeſu darthun follte, zu halten. Alle 
Mertmale des Hoͤhern, des Uebermenſchlichen 
vereinigten ſi ich theils in diefer Handlung felbft, theils 
in der Handlungsweife, theils in der Perſon 
Chriſti. Denn 


1. der den Lazarus von dem Tode erweckte, war eben 
der, der den fleckenloſeſten, heiligften Cha 
rafter in feinem Leben dargeſtellt hatte und wirf- 
lich darjtellte, und. insbefondere den Charafter der 
reinften Wahrheitsliebe und der frömme. 
ſten Menfchenliebe dargeftellt hatte und darſtell⸗ 
te, alfo ſchou den bloßen Gedanfen an eine veran- 
ftaltete Hintergehung des Volkes fo viel als unmög- 
lich machen mußte in allen redlichen, —— Ge⸗ 
muͤthern, die Ihn kannten. 

2. Der den Lazarus vom Tode erweckte, war eben der, 
der feinen Lehren das. unverfennbare Gepraͤge ber 
höchiten Weisheit aufgedrücdt hatte, alfo durch - den 


— 296 — 


Ruf ſeiner Weisheit den bloßen Gedanken an eine 
Selbſttaͤuſchung Jeſu fo viel als unmöglich" ma⸗ 
chen mußte in allen redlichen, nuͤchternen Gemuͤthern, 
die Ihn kannten. 


3. Die Handlung felber, : die Erweckung eines Zobten, 
war recht dazu gemacht, den Inbegriff der allerwich⸗ 
tigſter Wahrheiten zu beſtaͤtigen in den glaubenden 
Iſraeliten: „Gott iſt, und Ein Gott iſt, und Dies 
ſer Eine Gott ift allmaͤchtig, und der Eine ATL 
mächtige ift das All=belebende Leben, und 
diefer Alfbelebende ift ein Freund des Gerechten und 
höret fein Gebet, und wirfet durch ihm, und. diefer 
Allbelebende ift Fein Gott der Todten, fom 
dern der Lebendigen — ift das wahre ‚ewige 
Leben, in fih — und in feinen Kindern.“ Mel 


Diefer Inbegriff der‘ allerwichtigften Wahrheiten 
ward durch die Erwedung des Lazarus gleichſam anz 
fhaulich gemacht, neu dargeftellt... Nun komme der 
ſinnloſe Sprecher und frage noch: wozu Wunder? 


Was das ewige, Leben den geiftlichtodten 
Menfchen. gleichfam ipso facto anfhaubar macht, 
das. it — das Wunder der Erweckung, und du fragit 
noch nach Zwecken? 


4. Der von ſeiner hoͤheren Sendung ſo oft mit Bor 
ten gezengt hatte, der. mit‘ feinem heiligen Leben 
täglich davon zeugte, der ausdruͤcklich auf feine 
Wunder als Beweife feiner Sendung appellirt 
hatte, der verrichtete insbefondere diefe ‚wundervolle 
Handlung offenbar in der Mitabficht, die er. felbft 
deutlich angab — feine höhere Sendung zu beweiſen: 
„Damit fie glauben, daß du mid Blende 
ha ft, 44 


5. Der fo oft die Erklaͤrun wiederholt hatte, daß ich 
er, daß eigentlich fein in in ihm wirfe, daß er 
deffen Worte verfünde: der rief vor der Erwedung 

des Lazarus mit lauter Stimme den Namen feines 


— — 


Vaters an, und verrichtete dieſe Handlung ausdruͤck⸗ 
lich erſt nach Anrufung des goͤttlichen Namens. 


6. Der ſich als den Wahrhaftigen und Einfi htsvollen 
in allen. andern Handlungen‘ und. Lehren dargeftellt 
hatte, der am beften wiſſen mußte, in wejjen Ras 
men und in weffen Kraft er Handle," fehrieb 
ausdriicklich dieſe Handlung der Kraft Gottes, ſeines 
Vaters zu: „Ich banfe Ge en du — — 

ergagt Abe re. A 


7. Der in feinem ganzen: Leben Feine Erik des Sich⸗ 
felbfihervorzieheng, feine Spur des Schauftes 
hen, keine Spur des Strebend nad) Selbftver- 
herrlichung gegeben: hatte, verrichtete auch dieſe 
‚Handlung - ohne, Prunf, ohne, alle Dftentation, 
ohne. die leifefte Geberde des. Etwasrfeyn- Wol 
lens, verrichtete ſie wie im Gebete, vereinigt mit 
ſeinem Bater — that göttlich das a / 


Alle diefe Merkmale, die theils in der Handlung, 
theils > in. der Handlungsmweife, theils in der Per: 
fon des Handelnden liegen, und in der Erweckung des 
Lazarus fich fo fehön vereinigten, und fich ald ein Gans 
zes darſtellten, ſprechen vor dem Richterſtuhle jeder un⸗ 
beſtochenen, Gott = verehrenden — nicht wahnftnnig ges 
wordenen Vernunft, und insbeſondere in dem Gewiffen 
eines Gottsanbetenden, dieſe Erweckung des todten Laza⸗ 
rus mit anſchauenden Iſraeliten dag Urtheil laut aus: 
„Wahrhaftig, entweder iſt hier Sprache Got 
tes an die Menſchen, oder ſie iſt nirgends. 
Eine ſolche That, unter ſolchen Umftänden, von eis 
nem folhen Manne verrichtet, und fo verrichtet — 
it Gottes» Werf — oder ed giebt fchlechterdings Fein 
Gottes werk.” 


*Es ift ein Anblick zum Erbarmen, einen Gelehrten des meun: 
schnten Jahrhunderts fehen müffen, der, von aller Anfchaus 
ung des Göttlichen entbloßt, und in feinen todten Buchs 
ſtaben befangen, die Feder fpißet wider die göttliche Erwe—⸗ 
«ung des Lazarus, an die er gewiß Telbit hätte glauben 


DO 


muͤſſen, wenn er Augenzeuge hätte ſeyn können. Es ift 
fehr leicht, den Buchftaben zu meiftern, da fich die Der 
gangenheit re mehren kann! 


13231737 


"Bierteng: 


Um die Uebergengungstraft , ber Wunder Jeſu Bar 
thun, dürfen ‚wir. nur „ein beftimmtes. Wunder, 13; wie es 
bie Geſchichte erzaͤhlt, betrachten; denn 


a) hundert Einwirfe, die man gegen Wunder. ds 
haupt machen Fan, verſchwinden, fobald man. ihren 
Gehalt an einent beitimmten Wunder prufet. 


95 Wenn auch nur Ein Wunder die Sendung Sefn 
beweiſet, ſo iſt ſie bewieſen. 


©) Und, was man von Einem Wunder: Auge EN 
Taßt fich, mit Ausnahmen, auf bie — RER 
Mühe anwenden. 


Die beftimmte — — an der ſich die Rich— 
tigkeit der Einwuͤrfe wider die Wunder uͤberhaupt von 
ſelbſt offenbaren möge ſey dieſelbe — des — 
* IE 


—* 


mir — 12. — 
Die :hatfage. wie fie Zohannes XI. erzäpt, Pr 


WIND Der eigentliche Tod des Lazarus war 
phyſiſch gewiß. Er lag ſchon vier Tage im Grabe — 
und wie man den Stein weghub, ſchlug der ic * 
Verweſung gewaltig heraus. (v. 59.) Sa, 
2) Iefus wußte, daß Lazarus ögentä 
todt war. Denn er fagte es zuerſt verblümt, und dann 
ohne Bild: „Lazarus iſt todt.“ (v. 11 - 15.. 


3) Jeſus gieng deßhalb nad Bethanien, 
um den gewiß todten Lazarus vom Tode zu 
erweden. Eazarus, unſer Freund, ſchlaͤft, und ich gehe 
bin, ihn vom Schlafe zu erwecken.“ (u. 11— 12.) 


4) Jeſus wußte gewiß, daß er den todten. 
gazarus auferweden würde, Denn er fügte es 


- feinen Juͤngern beſtimmt vor (v. 4.)5 er fagte es auch 
der Martha: „Dein Bruder wird auferſtehen“ (v. 24), 
und als es dieſe von. der Auferſtehung am juͤngſten Tage 
verſtand, wies er die Irrende zurecht, und nannte ſich 
in vollem Sinn die Auferſtehung und das Leben. (v. 29.) 


5) Jeſus hatte, bei aller Gewißheit, daß er den tod⸗ 
ten Lazarus auferwecken werde, ein: menſchenfreundlich⸗ 
ſchlagendes Herz im Leibe; denn als er ſeine Freundin⸗ 
nen weinen ſah, und die Juden weinen ſah — ſo weinte 
er auch (v. 35.), und die Juden ſahen die Arm 
„Sieh, ſagten ſie, wie er ihn lieb: hattet” 


6) Der göttliche Trieb, wohlzuthun — war bei Je⸗ 
ſus offenbar auch Trieb, den todten Lazarus zu er 
wecken. Denn es heißt vor der Erzählung: „Jeſus Re 
Maria und Martha lieb.“ (v. 8.), 


7) Sefus forderte von Martha den: Stauben, daß ' 
er den Lazarıd auferwecen koͤnne: „Glaubſt du dieß ? 
(0.22. Hab ich es dir nicht gefagt:. wenn du glaubft, 
jo. ‚wirft du die Herrlichkeit Gottes ſehen? 


8) Jeſus ließ ſi ich durch die unzeitige Kritik einiger Ju⸗ 
den nicht hindern, den frommen Schweſtern ihren Bru⸗ 
der yon den Todten zu erwecken. „Einige ſagten: hätte 
denn der, welcher den Blindgebornen fehen gemacht. hat, 
nicht machen fünnen, daß Lazarus nicht. ftürbe 2 (v. 37.) 


9) Jeſus unternahm die Erweckung des Lazarus nicht 
in einem Winkel, ſondern vor viel Boll Es waren viele 
Juden zu den; Schweſtern gekommen, fie zu troͤſten— 
@: 9.) Und dieſe "waren mit zum Grabe gegangen 
(v. 31.) und flanden um Jeſus — als er den Laza⸗ 


rus erweckte. (v. 42.) 


10) Jeſus bekannte Sffentlic, daß er den 
Lazarus nicht in ſeiner, ſondern in des Va— 
ters Kraft erwecke. Denn er betete vor der Er— 
weckung des Lazarus, um die Menſchen zu uͤberzeugen, 
daß er im Namen, und durch die Kraft ſeines Vaters 
Todte erwecke: „Jeſus erhob ſeine Augen, und ſprach: 


— 5300 — 


Bater, ich danke bir," daß du mich erhöret haft. Ich 
wußte zwar, daß du mich alfezeit erhörteft, aber um des 
umftehenden Volkes willen hab’ ich’8  gefagt, ‘damit ſie 
glauben, daß du mich gefendet haft.’ (» 41. 42.) 


11) Jefus hatte bei der bevorſtehenden 
Erweckung des Lazarus wenigſtens die Mit— 
ab ſicht, feine Sendung zu beweiſen. Denn er 
ſagte bei der Nachricht von der Krankheit ſchon: „Bei 
diefer Krankheit: iſt es nicht fowohl auf: das Sterben ala 
aufi die Ehre Gotted abgefehen: der Sohn: Gottes‘ follte 
durch dieſe Krauuen verherrlichet werden” (v. 4.; ex 
erklaͤrte ſich den Juͤngern, beim Hinreiſen nad) Betha- 
nien, noch deutlicher: Xqzarus iſt todt, und ich freue 
mich, daß ich nicht dort war, damit ihr deſto feſter glau⸗ 
bet“ (9. 14. 15.)5;° ex. wieberh) olte es nochmal. beim Ges 
bete: „Ich habe es um. des Voltes willen geſagt, damit 
ihr‘ glaubet.“ (v. 425)0 


12. Jefus rief, den todten N! mit Be 
nem Machtſpruch in das Leben: „Lazarus komm 
hervor —! und er kam. (. 43.) Binder ihn los und 
Iafjet ihn! gehen.“ 


135) Diefe. BEE ug" war an fih 
on publif, und ward fogleid notorifc, 
Denn es war ‚viel Volk dabei, als fie geſchah; einige 
Augenzeugen glaubten um dieſes Wunders willen auf der 
Stelle. an Jeſus; Andere machten die Anzeige bei den 
Phariſaͤern, die *— ſogleich großen Rath uͤber die ganze 
Sache halten ließen; Bethanien war nur drei Viertel 
Stunde von der Hauptſtadt entfernt; die Familie des 
Lazarus war in Jeruſalem ſehr bekannt; es gieng nach 
der Begebenheit täglich viel Volk nach Bethanien, um 
den Lazarus zu ſehen (Soh. XII. 9.)5 das Volk gieng 
Jeſu, als er in Jeruſalem hineinzog, entgegen, und legt 
ein oͤffentliches Zeugniß ab, daß es dabei war, als Je⸗ 
| ſus den todten Lazarus erweckte. 


| 14) Diefe Todtenerweckung warb — 
von den Gliedern des hohen Raths anerkannt— 


— 


— 301 — 


Denn’ fie ließen ein Concilium plenum anſagen, und 
ſprachen: „Was fangen wir an, da der ae fo viele 
Zeichen thut?“ (v. 47.) 


115) Dieſe Todtenerwedung war fo gewis, daß die 
Phariſaͤer, weil ſie der Thatſache nicht widerſpre—⸗ 
chen konnten, nicht nur den Befehl gaben: „Wer Je— 
ſum kenne, ſolle eine Anzeige machen, damit er gefaͤng— 
lich eingezogen wiirde,” und den Schluß faßten, ihn zu 
tödten (9. 53.), ſondern auch den Lazarus umbringen 
wollten, weil, fo viele Suden um feinetwillen an —2 
pinubten, (Joh. XU. v. 10— 12.) | 


76. 
Ueber die Thatſache. 


1) Diefe Todtenerwedung ift Außerft slanbmäß 
dig. Johannes, der erzaͤhlet, iſt der redlichſte, edelſte 
Menſch, ein Augenzeuge; der Ton ſo voll Einfalt und 
Wuͤrde; jeder Charakter Jeſu, der Juͤnger, der 

Schweſtern, der Juden ſo treffend, ſo wahr gezeichnet; 
die Begebenheit felber publik, notoriſch, zus 
fammenhängend mit dem. erfolgten, Tode Jeſu und 
andern Begebenheiten, anerfannt: vom Bolfe und den ' 
Pharifäern, Leiht wahrnehmbar; feine Spur eineg 
Betruges, einer Vergrößerung 2C. 


2) Dieſe Todtenerweckung iſt durchaus eines 
lichen Geſandten wuͤrdig. Wuͤrdig eines goͤttlichen 
Geſandten iſt a) die Handlung ſelbſt — Todte bele— 
ben iſt ſo goͤttlich, als das Leben geben. Wuͤrdig eines 
göttlichen Geſandten iſt b) der Zweck, ben der Han—⸗ 
delnde bezielte, und die Handlung erzielte, der Zweck 
naͤmlich, die leidenden Schweſtern zu troͤſten, die Wahrheit 
der Unſterblichkeit und Auferſtehung anſchaulich darzuthun, 
und den himmliſchen Wohlthaͤter unſers Geſchlechtes glaub⸗ 
wuͤrdig darzuſtellen. Wuͤrdig eines goͤttlichen Geſandten 
iſt c) die Art der Todtenerweckung, feine Charlatanerie, 
fein Gepränge, Feine Dftentation. ı Ein Machtfpruch — 
und der Todte lebet. Wuͤrdig eines göttlichen Gefandten 


— 502 — 


ift A) das Gebet, das der Erweckung vorangieng, die 
Ermunterung zum Glauben, das Mitweinen mit 
Maria und das ſtumme Nichtachten der Judenkritik. 


5) Dieſe Todtenerweckung iſt offenbar nicht alle 
gorifch zu verfiehen.  Unallegorifch ift der Tod, unalle— 
goriſch der Geruch. der Verwefung, unallegorifc das Stein; 
wegwaͤlzen, unallegorifch die Summe der Folgen der Auf: 
erwedung: alfo wohl auch die Auferweckung felber. 


4) Diefe Todtenerwecdung gefchah offenbar nicht durch 
die magifchen Kräfte der Smagination Man fann 
ſich zwar durch Einbildungsfraft eine Krankheit wirklich 
einbilden, aber einen viertägigen Todten kann man 
durch Einbildungsfraft nicht, aus dem Grabe lebendig 
heraus-bilben, Ä 


5) Diefe Todtenerweckung, wie fie Johannes erzähz 
let, überjteigt offenbar die Kräfte des zerftörten or 
ganiſchen Lebens. Denn wo volle Verwefung, da fein 
Lebensprinzip — in dem Gebiete der Verweſung. 


6) Diefe Todtenerwedung uͤberſteigt offenbar die 
menfhlihen Kräfte des Wortes: Komm her: 
vor. Denn das Menfchenwort kann Todte offenbar 
‚nicht Tebendig machen — und außer diefem ward gef 
Menfchenkraft in Bewegung gefekt. 


7) Diefe Todtenerweckung überfteigt offenbar nicht 
das Bermögen des Allbelebenden — — ie nicht 
unmöglich fir das Leben alles Lebens. 


8) Diefe Todtenerwedung trägt alle Spuren eines 
‚ wahren Wunders. Denn a) fie gefchah auf Gebet und 
im Namen Gottes; b) fie überfteigt an fich alle Kräfte 
des zerftörten organifchen Lebens, alle Kräfte der menfch- 
lichen Smagination, alle Kräfte des bloßen Menfchens 
wortes; c) fie betätigt die wichtigfte Xehre, daß Gott 
fein Gott der; Todten, fondern der Lebendigen — und 
Jeſus fein wahrer Gefandter iſt; d) fie ward in der 
Mitabficht gewirfet, den Ölauben an diefe Wahrheit zu 


— BOB — 


wecken; e) ſie ward durch den Heiligſten und Weiſeſten 
bewirkt, und von ihm ſelber als das Werk feines Va— 
ters ausgegeben; f) fie ward auf die gotteswuͤrdigſte 
Weiſe bewirket; g) ſie kann nicht allegorifch verftanden 
werden; h) fie hat als Thatſache das Gepraͤge der 
Glaubwuͤrdigkeit, und als die ſo beſtimmte Thatſache das 
Gepraͤge des Goͤttlichen. 


Dieſe Todtenerwecun beiveifet alfo die Sendung 
Jeſu. Denn fie it Sprache Gottes, md if be 
fimmte Sprade Gottes, indem, was Gott durch 
die Thatfache ſprechen wollte, Jeſus felbft mit feinem 
Worte deutlich ausgefprochen hatte: „Aber um der Um— 
tehenden willen hab’ ich es gefagt, damit: fie 
glauben, daß du ** BI haft.“ 








Siebenundzwanzigfte Vorleſung. 


a A Zuſammenhang. 
Jeſus hat feine Sendung vor feinen Zeitgenoſſen gültig 
erwiefen durch. fein Selbjt » Zeugniß; durch das. Zeugniß 
Sohannis; durch das Zeugniß feiner Thaten., 


Diefes dreifache Zeugniß mußte als Zeugniß beftäti- 
Get, fo wie aud) der Eindrud, den es machte, verſtaͤrket 
werden 


erſtens: durch die Auferſtehung Chriſti; 


zweitens: durch die Erfüllung der vornehmſten Weiffa- 
gungen Jeſu bei denen, die fie erlebten; 


drittens: durch die Wunder an den Sängern. Chriſti 
und durch die Juͤnger Chriſti. 


Dieſe Beweisgruͤnde, die die beſtaͤtigenden und 
verſtaͤrkenden heißen, verdienen, um ihrer unverfenn- 
baren Eindrücke willen, die fie auf die Jünger Ehrifi 
machen mußten, eine befondere Darftellung. 


I 78. 17 
Die Auferftehung Jeſu. 


Denken und fühlen wir und nur in.die Anfchanungs- 
und mpfindungsweife der erften Jünger Jeſu hinein, 
um die Ueberzeugungsfülle ahnen zu Fönnen, die 
‚ihnen die erwiefene Auferſtehung Jeſu von feiner göttli- 
chen Sendung verfchaffen mußte. Abgefchnitten von dem 
Zeitalter der Apoſtel durch fo viele Sahrhunderte, kann 
der fpätere. Chrift, in unfern Tagen noch, den höchiten 
Beweis der höheren Sendung Jeſu in feiner geglaub« 
ten Auferfiehung finden: wie tief mußte die Erfcheis 

nung 


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— 305 — 


nung des Erſtandenen auf die FE REED ORG 
betaſtenden Jünger gewirket haben? 


Um die Tiefe diefes Eindruces einigermaßen fühlbar 
zu machen, darf ich nur Die Gewißheit der erjten Jünger 
von der Auferftehung Jeſu unter die Anfchauung bringen; 
denn Teuchtet eine folche Thatfache einmal. mit Tichtheller, 
unwiderſtehlicher Gewißheit ein: ſo kann ihr ſiegender 
Eindruck in die ſchauende Seele nicht äh als ent⸗ 
ſchieden ſeyn. * — 

1) Die Schriften des alten Bundes haben 
die Auferftehung des Meſſias als einen Charakter deſſel⸗ 
ben. angegeben. (Pſalm XV, 10.) | 


2) Zefus hat feine Auferfiehung oͤfters 
und beſtimmt vorhergefagt den Juͤngern und Pha— 
rifäern und Schriftgelehrten. Es ward ihm auch Diefe 
Borherfagung, obwohl unverflanden, zur Auflage gemacht: 


„Er hat gefagt: ich will den Tempel einreißen. nd in » 


drei Lagen wieder aufbauen.” (Matth. XXVI, .61.) 


5) Sefus hat feine fünftige Auferftehung 
am dritten Tage als einen Hauptbeweis für 
die Ödttlihfeit feiner Sendung angegebem 
(Matt. XII, 38 — 40.) „Alsdann fprachen einige aus 
den Schriftgefehrten und Pharifiern zu ihm: Meifter, 
wir wollen ein Zeichen von dir fehen. Darauf. antwors 
tete er ihnen! Das böfe, ehebrecherifche Gefchlecht fucht 
ein Zeichen, und es wird ihm Fein Zeichen gegeben, als 
das Zeichen des Propheten Jonas. Denn wie Jonas 
drei Tage und drei Nächte im Bauche des Wallfiſches war, 
jo wird der Menfchenfohn drei —— und drei ro 
im Herzen der Erde ſeyn.“ 


4) Durd dief e Borherf agungen und Appellationen 

Jeſu auf feine Auferfiehung wurden Freunde 

und Feinde auf dieſe Begebenheit aufmerk 

fam gemacht. „Herr, ſagten die vornehmften Priefter 

und Pharifäer, die fich beim Pilatus am Tage nach dem 

Tode Jeſu verfammelt hatten, „wir erinnern ung, daß Dies 
J. M. v. Sailer’s ſämmtl. Schriften, VIII. Bd. Ste Aufl, 20 


— 306 — 


ſer Betrüger bei feinem Leben fagte: innerhalb drei Tas 
gen werde. ich wieder von ben Todten auferfiehen. "Das 
rum fo befiehl denn, daß das Grab bis an dem britten 
Tag bewacht werde, damit nicht etwa feine Schäfer den 
Leichnam ftehlen, und dem Bolfe jagen, er fey von den 
Todten auferftanden.” (Matth. XXVII, 62 — 66.) 


Jeſus hat feine fünftige Auferftehung 
vom Tode fo gewiß vorher gewußt, daß er 
den Tag vor feinem Tode das heilige Abend» 
mahl als einen wefentlihen Beftandtheil fei- 
ner Religion eingefegt hat. Er will, daß fein 
fchmählicher Tod vor aller Welt follte befannt und als 
die hoͤchſte Wohlthat mit feftlicher Freude gefeiert wer: 
den — bis daß er wieder fomme Er mußte alſo feſt 
überzeugt gewefen feyn, daß er nicht todt bleiben, fon- 
dern im Neiche des Vaters wieder vom Gewächfe des 
Weinſtockes trinfen werde. 


6) Jeſus war wirklich todt Denn Jeſus 
ward vollfommen getödtet, fo wie öffentlich gekreuziget. 
Der Soldat gab ihm mit der. Lanze einen Stidy durch 
die Seite; der Hauptmann der Wache -felbft berichtete, 
auf des Landpflegerd Anfrage, daß er wirklich den Geift 
aufgegeben habe. Der Leichnam ward mit. Genehmhal⸗ 
"tung des Pilatus vom Kreuze abgenommen, und in ein 
neues Grab gelegt, das and einem Felfen ausgehauen 
worden, und ein großer Stein vorgewälzt. (Joh. XIX, 
35 — 35. Marl, XV, 45. Matth. XXVII, 37.) Ju⸗ 
den und Heiden famen alfo darin überein, daß Jeſus 
am Kreuze geſtorben ſey. 


2) Das Grab, in dem’ die Leiche Jeſu lag, 
ward auf die Erlaubniß des Pilatus mit ei— 
ner Wache verſehen und mit einem Siegel 
verſiegelt. (Matth. XXVII. 


) Jeſu s, der todt war, gieng am —— be 
ffimmten Täge lebendig aus dem Grabe her 
vor; davon befamen die Apoftel die hellleuchtendften Be: 
weife, und eine fo unerſchuͤtterliche als unmwiderftehliche 


— OFT 


Gewißheit, welche von den Apofteln in die chriftlichen 
Gemeinden übergieng, und das eigentliche Leben ber Kicche 
‚ausmacht — big auf diefe Stunde. 


Bon den Momenten der Gewißheit, die fic in ihrem 
Innerſten enthuͤllten und in ihrem Leben darſtellten, und 
durch ſie in die Kirche Chriſti uͤbergiengen, ſind uns ‚200 

wenige aufbehalten : 
> l. 


Der determinirtefte Unglaube der Jünger 
Jeſu, der ihrem Glauben aus dem Schauen vorangieng, 
und nur durch das Schauen der Wahrheit überwunden 
werden fonnte. Sie hatten fid) aus Fuccht vor den Ju⸗ 
den verfchloffen, und erwarteten die Auferftehung nicht 
Markt. XVL); konnten alfo nicht glauben, was fie nicht 
erwarteten: Nachher erzählte Maria Magdalena den 
Füngern, daß ihr der Herr erfchienen — fie glaubten 
nicht. (v. 110 EI erzählten: ihnen die zwei Jünger, die 
von Emmahus zurücgefommen waren, daß der Herr mit 

‚ ihnen gereist fey — fie glaubten e8 noch nicht. (v. 12 — 
135.) 8 erzählte ihnen Petrus, daß er den Herrn ges 
fehen — fie glaubten noch nicht recht. Endlich zeigte 
fi) der Herr den verfammelten Jüngern..... fie glaubs 
ten nicht (Ruf, XXIV, 37.5 wähnten einen Geift zu fe 
hen, fürchteten fi. Jeſus redete fie freundlich an, zeigte 
ihnen Hände und Füße, und‘ widerlegte durch die That, 
daß er Fein Geift fey; denn, fagte er, ein Geift: hat ja 
nicht Fleifh und Bein — "und fie glaubten noch nicht. 

.@. 41.) Darauf nahm er einen gebratenen Fifch und 
Honigfeim, und aß vor ihnen (. 42. 45.), und verwies 
ihnen ihren Unglauben und ihre Herzenshärtigfeit. Mark. 
XVI, 14.) Jetzt erfi, nachdem fie ihn genug gefehen, 
gehört, betaftet hatten — glaubten fie, jetzt erſt, da fie 

| nicht mehr zweifeln konnten. 


Der ganz befonderd audgezeihnete Um 
glaube des Thomas, der feinem Glauben aus dem 
Schauen vorangieng. Der Unglaube konnte fich - wicht 

20* 


— 508 — 


beftimmmter audfprechen, ald in den Worten Thomas: Es 
fey denn, daß ich in feinen Händen die, Nägelmale fehe, 
und lege meine Finger in die Nägelmale, meine Hand 
in feine Seite, fo glaube ich nicht, Die allübertreffende 
Freundlichkeit Jeſu konnte fich aber auch nicht beffer of: 
fenbaren ald in den Worten der Huld: Thomas!. reich 
deine Finger her, und fiehe meine Hände: reich beine 
Hand her, und lege fie in meine Seite! So wie aber 
der Unglaube des nichtglaubenden Thomas im Angefichte 
der übrigen Singer geheilet ward: fo mußte wohl auch 
deffen Teste Wurzelfafer in den übrigen Juͤngern ausge— 
tilget werden durch die Anfchauung des — 
der ſo handeln konnte. 
x III. ; 

Die merkwürdige Dffenbarung Jeſu. (GJoh. 
XXL). Jeſus fegnet ungefannt den Fifchfang der Juͤn⸗ 
ger; Sohannes erfennet zuerft den Segnenden; der 
Guͤtige hält ihnen ein Feines Mahl; giebt ihnen Brod 
und. Fifche; thut an Petrus, der ihn. dreimal verläugnet 
hatte, nach dem Mahle, die dreifache Frage: „Liebſt du 
mich?” und macht ihn zum Hirten feiner Schafe; weif- 
faget ihm feine Todesart, beftrafet den Vorwitz des Fras 
genden um die Schicfale Johannis — — fpricht, hanbelt 
fo menfchlich mit -Menfchen: da hat Feine Imagi— 
. aation Pag, und zur Erdichtung war Johannes zu 

ehrlich. 
u | +7; 

Die Dffenbarung Jefu vor mehr als fünf 
hundert Sängern zugleih, von welchen nodh 
einige lebten, andere fhon geflorben waren, 
als, Paulus an die Korinther ſchrieb. Cı Kor. 
XV, 6) Da hat feine, Imagination Platz, und zum 
Berrägenwollen waren die fuͤnfhundert Juͤnger und Pau⸗ 
lus zu ehrlich. 

Der vertraute, in vierzig Tagen ſo oft 
wiederholte Umgaug des erſtandenen Jeſus 


— 309 — 


mit den Juͤngern bis zum Tage der Auffahrt. 
(Apoſtelg. I, 3.J Da hat feine Taͤuſchung Platz, und 
zur Erdichtung find die Männer Gottes zu ehrlich. 


N. VL 


Die unmittelbaren Zeugen, die Jeſum in 
den vierzig Tagen fo oft gefehen, mit ihm 
geredet hatten, wurden aud Augenzeugen, 
als er vor ihren Augen gen Himmel auffuhr, 
und. fahen ihm lange nad, und giengen mit 
feinem Segen und von feinen Berheißungen 
geftärft nah Serufalem, und warteten eim 


muͤthig im Gebete verharrend — aufdie Er 


füllung der Zufage Jeſu. OApoftelg.], 9— 13.) 
Der Anblick des Auffahrenden, fein Abfchted, fein Segen, 
fein Teßter Auftrag, in Jeruſalem zu warten, bis die 
Kraft aus der Höhe über fie Fame — wie mußte dieß 
alles die Gewißheit von der Auferfiehung Jeſu erhoͤhet 
haben? | | 

* ‘VL. 


Die Juͤnger Jeſu, die Augenzengen des 
erfiandenen Jeſus waren, empfiengen bald 
nah der Auffahrt Jeſu, feiner Verheißung 
gemäß, den heiligen Geift, und wurden alfo 
durch dDiefen Beweis von dem Leben Jefu, des 
Gefreuzigten, überzeugt. (Apoftelg. II, 1— 14) 
Wie mußte die Gewißheit der Geiftesfendung jener der 
Auferſtehung Jeſu das höchfte Siegel aufdruͤcken! 


VIII. 


Die Junger Jeſu, und unter dieſen vor 
züglich Petrus, legten zu Serufalem öffent 
lich ihr Zeugnig ab von der Auferftehung 
Sefu, und madhten dieſe Lehre zur Grund 
lehre, und überzeugten in Einem Tage drei 
taufend Seelen. (Apoſtelg. IL, 14— 41) So ges 
wiß waren die Jünger ihrer Sache, und fo kraͤftig wirkte 
ihr Zeugniß. | 


— 


geſehen, gehoͤret. “ 


— 510 — 


eb, As 


Die Heilung des Lahmgebornen. (Apoftelg. 
II. IV.) Petrus und Sohannes bezeugen ad) nicht nur 
die Auferftehung Jeſu öffentlich, fondern machen auch im 
Namen des erilandenen Jeſus einen Lahmgebornen vor 
der fihönen Tempelpforte zu Serufalem augenblicklich, 
ohne menfchliche Hülfe, gefund, daß er fpringt und Gott 
preifet, und alles Volk ihn fieht und Gott mit preiſet. 
Und Petrus bezeuget b) vor allem Volke, daß er im Nas 


‚men Jeſu, des Erftandenen, den Lahmgebornen geheilet 


habe. Und als Petrus und Johannes gefänglich einger 
zogen worden, bezeuget Petrus‘ c) auch vor dem hohen 
Rathe, auf die obrigfeitliche Anfrage, daß dieſe Heilung 
nur durch Jeſus, den von den Todten Erweckten, gefchehen 
fey. Die Beifiter ded hohen Raths fahen den Lahmges 
bornen, der gefund war, und fonnten d) nichts dagegen 
einwenden, und fprachen: Was wollen wir anfangen, 
das Wunder ift offenbar: damit es aber nicht noch weis 
ter unter dem Bolfe ausfomme, wollen wir ihnen verbie- 
ten, daß fie von dieſem Namen zu keinem Menfchen mehr 


‚etwas reden follen. Petrus und Johannes antworteten 


e) freimäthig: Urtheilet ſelbſt, ob es vor Gott gerecht 
fey, daß wir euch mehr ald Gott gehorchen ſollten. Dars 
auf wurden fie mit einer bloßen Bedrohung entlaffen — 
denn die Richter hatten den Muth nicht, fie zu ftrafen. 


Das Zeugniß der Apoftel durch ihren Tod, 
Die Apoſtel Jefu wurden, fo lange fie lebten, nicht müde, 
ihr Zeugniß von der Auferfiehung Jeſu zu wiederholen, 
achteten Feines Kerkers, Feiner Leiden, und verfiegelten es 
endlich mit ihrem Tode. Sie ftarben nicht auf Meinuns 
gen, fondern auf die Thatfahe: „Wir haben Jeſum 


XI. 


Die Bekehrung des Saulus. Nicht nur die 
Juͤnger Jeſu bezeugten die Auferſtehung Jeſu, ſondern 
auch ſein hitzigſter Verfolger wird ein Zeuge und Beken- 


— 511 — 


ner des Jeſus, der ſich ihm geoffenbaret hatte, und wird 

‚ein Zeuge mit Lehre, That, Leiden, Sterben. 

* Die Beweiskraft diefer Begebenheit fol in einer befondern 
Vorleſung befonders dargeftellt werden. 


XXI 


Dwrh das Wort von der Auferfiehung 
Jeſu, und auf den Glauben an die Auferfties 
hung Gefu find alle die erften chriſtlichen 
Gemeinden geftiftet worden. Unter dieſen frühern 
Chriften zeichnen fich ald mittelbare Zeugen von der Auf 
erſtehung Jeſu befonders aus: Klemens, Ignatius, Poly 
farpus, Juſtinus, Tatianus, Irenaͤus, Clemens Aler., 
Tertullianus ꝛc. ꝛc. Wenn nun die Juͤnger Jeſu fahen, 
daß der Glaube an die Auferſtehung ihres Herrn, ſeiner 
Verheißung gemaͤß, ſo große Dinge bewirkte: daß vor 
ihm die Larven der Synagoge und die Goͤtzen des Heis 
denthums vwerfchwanden — daß Sefus, der Erhöhete, wirk⸗ 
lich Alles an ſich zog: wie hell mußte das Licht feheinen, 
in das ſich ihr Glaube an den Auferftandenen verklärte? 





— 312 — 


Achtundzwanzigfte Vorlefung. 
Sr DIR Weiſſagungen Jeſu. 


78 


Der Eindruck, den die Wunder Jeſu auf feine Zeitgenofs 
fen gemacht haben, ward gar fehr beftärfet durch die Weiſ— 
fagungen Jeſu, befonders bei denen feiner Zeitgenoffen, bie 
‚ihre Erfüllung erlebt hatten, 


* Was Stattler, Le, Kleufer u. a. m. über diefen Gegenftand 
Treffliches gefast haben, möchte ich hier im’s Andenken brin- 
gen; befonders die hiftorifchen Data hat der zweite treff⸗ 
lich zufammengeftellt, und fie Fönnen bei ihm ausführlich 

nachgelefen werden. 


Es verhält fih mit den Weiffagungen Jeſu wie mit 
den Wundern: man kann Vieles gegen fie im Allgemei- 
nen jagen; aber gegen eine beftimmte und gegen die Eine 
merfwirdigfte müßte es der miüchternen Vernunft ſchwer 
werden, etwas Erhebliches zu fagen. Und dieſe Eine 
merfwirdigfte -will ich, ftatt aller, jetzt ausführlich betrach⸗ 
ten. Zuvor noch ein Wort von Weiffagung nberhaupt. 


1) Eine göttliche Weiffagung ift mir eine Flare, bes 
ftimmte Vorherfagung zufünftiger, zufälliger, wichtiger Bes 
gebenheiten, die ſich nachher genau erfüllen, deren Vor— 
fenntniß die Kräfte der gemeinmenfchlichen Natur tiber: 
fteigt,, und deren Bekanntmachung eine Offenbarung 
Gottes ift. 


Eine göttliche Weiffagung ift alfo ein Wunder ber 
Erfenntniß. Darum ift der Uebergang fo natürlich von 
den Wundern Jeſu zu feinen Weiffagungen, oder es ber 
darf vielmehr Feines Uebergangs. 


2) Ueber die Möglichkeit einer Weiffagung, das — 
darüber, daß Gott a) die Zukunft kenne, die wir nicht 
kennen; daß Gott b) dieſe EIERN der Zulunſt Men⸗ 


— 533 — 


fchen mittheilen koͤnne; daß dieſe mitgetheifte Erkenntniß 
ec) ein Zeichen ihrer Sendung werben fönne .... dar 
über ftreiten, it mir ein Beweis kleinlicher Anſi chten und 
großer Beſchraͤnktheit. 


3) Daß Wunderthaten, als ein Bild der Allmacht, 
und Weiſſagungen, als ein Bild der Allwiſſenheit, das 
Goͤttliche in dem Einen Chriſtus unnachahmlich ausdruͤcken, 
ward ſchon n. 65. berührt. Daß aber dieſe beiden Ab- 
bifdungen des Göttlichen im Menfchlichen von der ſchein— 
bar vernünftelnden Unvernunft am meiften getadelt wers 
den müffen, verfteht fich auch von felbft. Meine Zeit hat 
fih bereits einen Gott gemacht, der Feine Wunder thut; 
ſie wird ſich alſo wohl auch einen Chriſtus machen, der 
keine Wunder thut, und ſo klein und an die Natur ge⸗ 
bunden iſt, wie ſie ſelber. 


4) So wie die Weiſſagungen ein Bild der Allwiffen- 
heit find, fo bringen fie auch die Allwiffenheit durch Thats 
fachen gleichfam unter die Anfchauung; und ich wuͤrde fle 
die praftifchen- Lehrer der Präfcienz nennen, wenn unfer 
Lehrweſen ſich nicht fo lächerlich gemacht hätte, daß es 
faum mehr zum Dienfte für ein Gleichniß gut genug ift. 


5) Die drei befannten Weiffagungen Sefu von feiner 
Auferftehung, von der Zerftörung. Jeruſalems, von ber 
Ausbreitung feiner Lehre fünnen im Grunde fir. Eine 
Weiſſagung angefehen werden, von feiner Herrlichkeit naͤm⸗ 
lich, die mit feiner Auferfiehung anfängt, und durch den 
Sturz der Synagoge und. die Zertruͤmmerung der jildis 
ſchen DVerfaffung einen neuen Raum für die himmiiſche 
Kirche gewinnt, deren Anfaͤnge und —9— ſich in die 
Ewigkeit verlieren. 


6) Daß dieſe Weiſſagungen in Denen, die ihre Erfül- 
lung erleben und den Erfolg mit der Vorherfagung kon— 
frontiren koͤnnen, eine befondere Entfcheidungsfraft haben 
muͤſſen, laͤßt fi wohl auch nicht. bezweifeln. Dieß gilt 
vorzüglich von der Einen benfwärdigen Prophezie, die die 
Zerftörung Jeruſalems und das Schickſal der * 
Nation vorherkuͤndigte. 


— — 


314 


Davon ſoll gezeigt werden 


J. was und wie Jeſus von der Zerſtoͤrung der Stadt 
Jeruſalem, des Tempels ꝛc. vorhergeſagt habe, und 
daß dieß Alles in die vollkommenſte Erfüllung ges 
fommen fey; > 

II. daß dieſe Vorherfagung eine göttliche Weiffagung 
fey. e 

Die Flaffifchen Bücher find: die Evangelien, die bezeus 
gen, was Jeſus gejagt habe, und des Joſephus Flavius 
Gefchichte vom jüdifchen Kriege, die bezeugt, wie die Weifs 
fagung in Erfüllung gegangen fey. 

Sch will die Weiffagung auf eine, die Erfüllung auf 
die andere Tabelle fegen, und muß den Leſer um Geduld 
bitten, denn ich habe von der allerfchreclichften Begeben- 
heit zu reden, und um Nachlefe im Joſephus, denn ich 
kann nicht den taufendfien Theil erzählen, 


— 
Vorherſagung und Erfolg. 


Weiſſagung. 

Jeſus nennet ) die Bor 
boten des großen Jam— 
mers „die URL BEINAN« 
ten.” 


Sehet, daß euch Niemand 
verführe; denn es werden Diele 
in nteinem Namen Eommen, und 
fagen: ich bin Chriftus, und Viele 
verführen. _ (Matth. XXIV, 
5: 6.) 


Alsdann wenn euch Jemand 
faget: da ift Chriftus, dort ift er, 
fo glaubt es nicht, denn e8 wers 
den falſche Chriſti und falſche 
Propheten aufſtehen, und große 


Erfolg. 

a) Unter die Haupturſachen 
der Verblendung, welche Die Ju⸗ 
den bethörte, fich gegen die Nömer 
zu empören, fest Joſephus viele 
nichtstwärdige Schwärmer und 
Betrüger, die fich für göttliche 


Geſandten, für Propheten ausga: 


ben, und Dadurch eine Menge 
Volkes zum Aufftande verleite: 
ten. Betrüger (fagt er Lib. VI. 
e.5. $.3.)— welche fich für 
göttliche Geſandten aus 
gaben, verblenderen das 
unglüdlidhe Volk, daß fie 
aufdie Zeichen ihres Schiek— 
ſales nicht achteten, ſon— 


‚ Weiffagung. 
"Zeichen thun, fo daß, wenn es 
möglich wäre, auch bie Gerechten 
verführt würden. Sehet, ich habe 


es euch vorgefagt. Wenn fie alfo 


fagen werden: in der Wüfte ift 
er: fo gehet nicht hinaus; im 


515 


Erfolg. 
dern fie vielmehr glei 
Unfinnigemveracdhteten. 

b) Schon unter des Felix Land⸗ 
pflegerfchaft im I. Chr. 45 vers 
leitete der Betrüger Theudas 
eine Menge Volkes, ihm an den 


den Kammern ift er: fo glaube 
es nicht. (v. 23—26.)- 


Jordan zu folgen, wo er fie tros 
ckenen Fußes durchführen wollte. 
(Antig. Jud. lib. XX. c.5. $.1.) 


ec) Um das Jahr ss, unter Nero, war Judaͤg voll von Be⸗ 
trügern, welche das Volk gegen die Römer aufwiegelten, große 
under verfprachen, und es bewegten, ihnen in eine Wüfte zu 
folgen. (Antig. Jud, Lib. XX. c. 5. $. 3.) 


d) Um das Jahr 6o, zur Zeit des Porrius Feſtus, verfprach 
ein Betrüger, die Juden von allen ihren Bedrücdungen zu befreien, 
wenn fie ihm in die Wüfte folgen würden. (L. XX. c.8. $. 10.) 


e) Sogar bis in den Festen Augenblic-Liegen fie fich von fals 
fchen Propheten bethören. (Bell. Jud, Lib. VI. e.5. $.2.) Als der 
Tempel fchon brannte, folgten 6000 Menfchen, Männer, Weiber 
und Kinder, einem falfchen Bropheten, und beftiegen einen Gang 
beim Tempel, bei dem ihnen Errettung von Gott werden follte, 
Die Römer. fegten diefen Gang in. Brand, und es Fam nicht ein 
einsiger mit dem Leben Davon. N 


f) Die Zeloten, eine Rotte der verdorbenften Menfchen, zwan⸗ 
gen die Nation zum Sriege gegen die Römer und zu den biutig- 
fen innern Kriegen, brachten die Obrigkeit größtentheils um, toͤd⸗ 
teten den Schagmeifter Antipas, festen den Hohenpriefter ab, ers _ 
mordeten die Tapfern und Mächtigen, mwätheten gegen Religion, 
Tempel und die Gottheit. (Lib. IV. c. 6.) 


Alle menschlichen Rechte, fast Jofephus, gertraten fies auch als 
les Göttliche ward von ihnen verlacht, und alle Orakel der Pros 
pheten verfpotteten fie als Lügen der Gaukler. Und ich glaube, 
wenn die Römer gezögert hätten, diefe Böfewichter zu firafen, fo 
würde die Stadt entiveder von der Erde verfchlungen, oder über: 
ſchwemmt, oder wie Sodoma mit Feuer zerfiört worden ſeyn. Sie 
liefen Eeinen Belagerten aus der Stadt fliehen; es durfte Nies 


316 


mand die Leichname begraben, damit die Graufamen fie plündern 


Eonnten. 


* Man muß nicht überfenen, wie die. Worte Eprifti : 


in penetralibus 


und in deserto, fo fhredtid wahr geworden find. 


MWeiffagung. 

Jeſus giebt 2) noch ein zuver⸗ 
Täffiges Kennzeichen an, aus dem 
feine Jünger die gemwiffe Heran⸗ 
näherung des Unterganges ler⸗ 
nen Eönnten: „Die fürmliche 
Einfbhliegung Jerufſa— 
lems.”’ Wenn ihr werdet die 
Stadt Serufalem von Sriegsheer 
umfchloffen ſehen: dann wiſſet, 
daß ihre Verwäftung nahe F 
(Luk. XXI, 20.) 


Erfolg. 

Titus fieng zuerſt die foͤrmliche | 
Belagerung Serufalems an, nach 
dem fchon vorher die Römer zwei⸗ 
mal im Anzuge waren, aber wies 
der zuruͤckzogen, und erfchien den 
14. April, im Sahr Chr. 70, mit 
einer Armee von ‚60,000 Mann, 
und ſchloß die Stadt rings hers 


‚um mit einer Mauer ein, weil 


die Belagerten durch Ausfälle die 
Schanzen zerfiörten (Bell. Jud. 
V. 2), und sog fich nicht mehr 
zurück, bis die Verwuͤſtung voll 
endet var. 


RR MWohlthätigfeit der Weiffagung. 
Der väterlihen Warnung Jeſu folgten bie Shriften: 


flohen ſchon bei Annäherung des Ceſtius nach Pella, eis 
ner Stadt. jenfeitd des Jordans, und fo gefchah’s, wie 
Euſebius berichtet (Lab. IIL. Hist. eccl. c. V.), daß 
fein Einziger von den — Jeſu hiebei das Leben 


verlor.. 


| Weiſſagung. 

Jeſus beſchreibt 3) den Jam⸗ 
mer ſehr lebhaft, vaͤterlich 
warnend, der mit dem Unter⸗ 
gange des juͤdiſchen Staates ver⸗ 
bunden ſeyn wuͤrde, ſo gaͤrtlich, 
wie ein Freund der Nation war⸗ 


nen kann: Weil die Goͤttloſigkeit 


uͤberhand nimmt, wird die Liebe 
erkalten. (Matt. XXIV, 12.) 


Das Elend wird ſo groß ſeyn, 


Erfolg. 

a) Eine unzaͤhlige Menge Ju⸗ 
den wurde getoͤdtet; 40,000 zu 
Jotapata. Nach der Einnahme 
von Gamala ſtuͤrzten 5000 Be: 
lagerte vom Selfen; die übrigen 
4000 wurden ohne Verſchonen 
umgebracht. Die Zeloten ermors 
deten im einer Nacht 85,000. 

Die drei Faktionen des Jo— 
hannes, Elenzar und Simon ries 


MWeiffagung. 
als e8 nie geweſen iſt vom Ans 
fange der Welt bis hieher. (V. 21.) 


Wer in Judaͤa iſt, fliehe auf 
die Berge; wer auf dem Haus—⸗ 
dache ift, ergreife augenblicklich 
die Flucht, ohne etwas vom Haufe 
mitzunehmen; wer auf den Felde 
ift, hole nicht erft die Kleider. 
Wehe den Schwangern und Saͤu⸗ 


genden! (DB.15—22.) Wenn die 


Zeit der Trübfal nicht abgekuͤrzt 
würde: fo würde Fein Einziger 
fein Leben retten. (V. 22.) 


—* 


Noch mehr: Maria, eine 


317 


Erfolg. 
ben fich einander von Innen auf, 


‚ während fie durch die Roͤmer von 


Außen gedrängt wurden. In der 
Belagerung der Stadt Jeruſa⸗ 
lems wurden durch Hunger oder 
gemwaltfamer Weife 110,000 hin⸗ 
gerichtet. Ueberhaupt fraß der 


- Krieg, wie Ufferius aus Joſephus 


berechnete, 1,337,490 Juden. 


p) DieHungersnoth war ſchreck⸗ 
lich. Mütter rigen den Kindern 
das Brod aus dem Munde, und 
die Zeloten fragen dem flerbenz 
den Greifen den Biffen von dem 
Munde weg. 


reiche Frau, tödtete NB. „ihr 


fäugendes Kind,’ — und nährte fih mit feinem Sleifche. Ti⸗ 
tus ward darüber fo entfest, daß er Gott zum Zeugen feiner Uns 
fchuld an diefem Elende anrief, und fich entfchloß, dieſe Gräuels 
that in den Ruinen der Stadt gu begraben, 


e) Die Sraufamkeit der Soldaten half das Elend vergrößern. 
Die römifchen Soldaten fchnitten in einer Nacht 2000 Juden, die 
fich aus der Stadt fortgefchlichen hatten, um Nahrung zu fuchen, 
die Bäuche auf, und durchwühlten ihre Eingemeide, um verſchluck⸗ 
tes Geld zu finden. 


d) Nach der Einnahme der Stadt wurden Juden zu Tauſen⸗ 
den, bei oͤffentlichen Shhauſoielen den wilden Thieren vorge⸗ 
worfen. ER 


e) Joſephus urtheilet fo, als wenn er über die Weiffagung 
Jeſu Fommentirt hätte: Keine Stadt hat je ein ſolches 
Unglüd betroffen, und feit Anbeginn der Welt if 
auch Feim einziges Menfchenalter fo fruchtbar an 
Bosheit geweſen. 


Weiſſagung. 
Jeſus weiſſaget 4) den 
‚sollfommenen Untergang 
der Stadt und- des Tem; 


Erfolg. 
Nachdem die Belagerung vom 
14. April, im J. 70, bis zu dem 
8. Sept. gedauert hatte, endigte 


Weiffagung. 
pels. Es werden Tage Über 
dich kommen, und deine Feinde 
werden dich mit einem Wal uns 
geben, und dich einfchließen, und 
dich beängftigen, und dich zu Bo⸗ 
den flürzen umd deine Kinder, 
und Feinen Stein auf dem aus 
dern laſſen. | 


Jeſus weiſſaget s), daß 
Serufalem von Fremden 


vollfommen wird beherrs 


ſchet werden, und die Jw 
den in alle Welt zerfireuet 
und geplaget werden, bis 
die Zeiten der Heiden ihre 
Endfhaft erreiht haben 
werden. —— Und fie werden 
durch das Schwert umkommen, 
und gefangen gefchleppet werden 
zu allen Völkern hin, und Ger 


rufalen wird von dem Heiden. 


mit Füßen sertreten werden, big 
die Zeiten der Heiden werden 


1 


318 


Erfolg. 
fie ſich mit gaͤnzlicher Zerſtoͤrung 
des Tempels und der Stadt. Zi: 
tus wollte zwar des Tempels ſcho⸗ 
nen, aber er ward von den Sol 
daten, wider des Feldherrn Wil 
len, angezündet. Titus eilte zur 
£öfchung herbei, aber es war Feine 
Rettung moͤglich. Aller Reiche 


thum des Tempels wurde geplün« 


dert, Die heiligen Orte mit dem 
Dlute der Juden gefärbt, und 
der ganze Tempel in Afche ges 
leget. Die Römer fiellten nun 
ihre Fahnen an dem Plage des 
Tempels auf. Die Stadt ward 
auf Titus Befehl bis auf den 
Grund verwüfter. Nur drei fefte 
Thürme blieben übrig, nebft eis 
nem Stüde der weftlichen Mauer, 
die der römifchen Befagung sum 
£ager dienen follte. Es blieb, 
fchreibt Joſephus, nicht das ge; 
singe Merkmal der ehemaligen 
Sudenbewohnung übrig. 


Kaifer Aelius Hadrianus ließ 
alles, was zu Jeruſalem von Ge: 
bäuden feit Titus Zeiten errichs 


‚tet worden, niederreißen, und 


baute auf dem Boden des alten 
Jeruſalems eine neue Stadt, die 
er Yelia Capitolina nannte, und 
two der Tempel Gottes fand, 
ward einer dem Jupiter geweiht, 
Die Römer beherrfchten hernach 
die Stadt noch einige hundert 
Sahre. Unter diefer Zeit mach: 
ten Juden und Heiden einen der 
merkwuͤrdigſten Verſuche, den juͤ⸗ 
diſchen Tempel und Gottesdienſt 


— 


Weiſſagung. 
erfüllt ſeyn. (Lukas XXI, 
24.) 


Jeſus weiſſaget 6), daß die Ju⸗ 
den, ungeachtet ihrer erfireuung 
und Drangfale, dennoc) ein eige: 
nes Volk ausmachen werden. 
(£uf. XXI, 24.) 


sig: 


Erfolg. 
wieder herzuftellen. Julian half 
dazuz aber ſelbſt heidnifche Schrift 


ſteller, und unter diefen Julian's 


Freund, Ammianus Mareellinus, 
berichten, daß der angefangene 
Dan durch heftige Erdbeben und 
Ausbrüche eines unterirdifchen 
Feuers, wobei alle Arbeiter um 
das. Leben kamen, verhindert 
worden. 


Jetzt iſt Jeruſalem ſchon feit 
1700 Sahren von fremden Voͤl⸗ 
Fern beherrfchet. — Daß die Zus 
den in alle Welt zerfireuet find, 
und unzählige Trübfale auszu—⸗ 
fiehen haben, ift ein Faktum, das 
fein Menfch läugnen Tann. 


Auch diefer Erfolg ift wieder 
eine augenfcheinliche Thatfache. 

Die Juden leben beinahe in 
allen Winkeln der Erde — und. 
haben fich unvermifcht mit dem 
übrigen Völkern der Erde erhalz 
ten — find in Religion, Sitten 
und Charakter fih gleich — ein 
Volk, einzig im feiner Art. 


II. 
Goͤttlichkeit der Weiffagung. 
Dieſe Borherfagung hat alle Charaktere einer 0 


lichen Weiſſ agung. 


Denn fie ward - 


1) faft vierzig Sahre vor dem Erfolge ausgefprochen, 
Die Gefchichtfchreiber des erften und zweiten Jahrhun— 
derts bezeugen, daß .tufas, Markus, Matthäus ihre 
Sefchichtbücher noch vor Jeruſalems Zerſtoͤrung ver⸗ 
faſſet und befannt gemacht haben. | 


— 3120 — 


2) Die Begebenheiten find aͤußerſt zufällig, Denn bei 
der großen Gefälligfeit der damaligen vornehmen Ju— 
‚ben gegen die Römer war an feine Empörung, umd 
im Falle der Empörung bei der damaligen Größe der 
Römer an feine Verwuͤſtung und Zerſtreuung der Zus 
den, und im Falle der Zerftörung an feine Erhaltung 
der Exulanten zu gedenfen. | 


3) Die Ankhndigung felbft ift Far und beftimmt; be⸗ 
ſtimmt die Borboten des Jammers; beftimmt die Haupts 
fache; klar und bejtimmt die Umftände und Merk: 
male der Begebenheit. 


4) Die Ankündigung gefchah mit dem Ausdruce einer 
Zuverficht, die wohl nicht größer feyn Könnte: „Him⸗ 
mel und Erde werden vergehen, ehe meine Worte wer: 
dei, vereitelt werden fönnen. — 


5) Die Ankuͤndigung geſchah in den heiligſten Mo— 
menten des Lebens Jeſu: a) ald er die Stadt 
anfah, und. weinte — die Thräne des Mitleidg tiber 
die kommende Verwuͤſtung (Kuk. XIX, 41 — 45); 
b) als feine Junger den fehönen Tempel betrachteten, 
und Jeſus gerade vom Tempel herausgieng, nachdem 
er den Pharifüern mit der edelften Freimüthig- 
feit die heilfamften Wahrheiten an's Herz 
' gelegt hatte (Matth, XXI, 24.); c) als er in den 
Tod gieng, warnte er noch: „Weinet über euch, nicht 

> über mich, denn e8 werden Tage kommen, wo es heis 
fen wird: Selig die Xeiber, die nicht geboren, und die 
Brüfte, die nicht gefäuget haben, Dann werden fie 
fagen zu den Bergen: Fallet über ung! und zu den 
Hügeln: Dedet ung !“ 


6) Die Erfüllung ift fo ganz genau — und. ge 
ſchah zum Theile durch Behr ald 1700 Jahre, und 
gejähieht noch. 


Es muß alſo ein uͤbermenſchlicher Blick geweſen Toon, | 

4 in die Zukunft ſo tief hineinblicken FO und ſo 
te gefehen hatte. ; | 
Da 


— —— 


Da nun Jeſus theils durch Heiligkeit ſeines 
Wandels, theils durch die Goͤttlichkeit ſeiner Wun- 
der, theils durch die einleuchtende Gotteswuͤrdig— 
keit feiner Lehre ſich mir ſchon als Geſandten Got—⸗ 
tes erwieſen hat: ſo wird der Glaube an ſeine Sendung in 
mir durch die Betrachtung dieſer ſeiner Weiſſagung nur 
noch mehr geſtaͤrket. Es wird mir leicht, ihm einen gött- 
lichen Blick zuzugeftehen, nachdem ich durch feinen Wan—⸗ 
del genöthiget ward, ihm eine göttliche Liebe, und durch 
feine Thaten, ihm eine göttliche Macht beizulegen. . 

Der fo ehren, fo handelt, fo weiffagen kann — iſt 
mir höchft glaubwirdig. 
| Und ic; will mid, lieber einem ſolchen — anver⸗ 
trauen, als meiner ſelbſtgemachten, ſich immer ſelbſt wider⸗ 
legenden Einſicht, oder als einer fremden, die im Grunde 
eben ſo truͤgeriſch, wie die meine iſt, und noch dazu im 
Kampfe liegt mit ſich und mit den gleich truͤgeriſchen Ein⸗ 
ſichten der Uebrigen, und vielleicht nicht? allemal fo ehrlich) 
ift, wie die meine, 


Der fo weitausjehende Schicfale vorherfagen Fonnte, 
dem vertraue ich Das meinige willig an, . und ich deufe: 
die Wahl wird mich nie. gerenen. 


Und, wenn die geleſene und mit dem Erfolge bloß 
verglichene Weiffagung: fo. tiefen Eindrud: in mir macht: 
was wird fie bei denen gewirkt haben, die an Jeſus glaub» 
ten, feine Weiffagung im Herzen trugen — und ihre Erz 
füllung fchauen konnten, geſchrieben mit dem Griffel der 
Wahrheit in den Ruinen der heiligen Stadt, und des um 
heiligen Volkes? 


l 





IM. v. Sailer’s ſämmtl. Schriften. vii. Bd. Z3te Aufl. 21 


— 522 — 


Neunun dzwanzigſte Vorleſung | 





2 Beweis des zweiten Satzes. 


Die Bahrkeit der höhern Sendung Jefu du vrich 
Die Bekehrung des Saulus in der Anſicht 
der erſten Chriften neu beftätiget. 


* Littleton hat dieſen Gefland erfchöpftz; hier das Wichtigſte 
in einem Auszuge. 


| 70. 

Was ich in den Weifen des Heidenthums nicht fand, 
fand ih in dem Fifcher Johannes und in dem Zelten: 
macher Paulus, — wahrhaftige Zeugen von der Wahrheit, 
die ihnen in Chriſtus erſchienen iſt. Was muͤſſen erſt die 
Zeitgenoſſen Jeſu in ihm gefunden haben, da ſie dieſelben 
Eindruͤcke, die die Lehren und Thaten Jeſu auf fie ger 
macht hatten, durch die Lehren und Thaten feiner Juͤn—⸗ 
ger — in fih aufgefriſchet und beftärfet — fanden? 
Wer den Helden Paulus feine Befehrungsgefchichte er; 
zählen hören konnte: wie mußte dem zu Muthe gewefen 
feyn? Da wir nun diefe Erzählung aus feinem Munde 
nicht vernehmen fönnen, fo wollen wir die gefchriebenen 
Zeugniffe uns erzählen, und den innerften Menfchen in 
ung, der Göttliches vernimmt, wo es fich hören laßt, und 
Göttliches ehrt, wo er es vernimmt, darüber urtheilen 
lafien. - 
1) Inhalt deffen, was Paulus von fic felber aus⸗ 
ſagt a) Apoſtelg. XXVI, 1 -32. vor dem König Ag⸗ 
rippa; b) Apoftelg. XXIT, 10—16. vor den Juden. 
Diefed ſtimmt genau überein mit dem, was c) Lukas 
Apoftelg. IX. von Saulus erzählt, und mit dem, was | 
d) Paulus in feinen Briefen Phil, II, 4—8. 1 Timoth. 
I, 12—13. von ſich ſelber bezeugt. 

„Jeſus iſt mie auf dem Wege nach Damaskus er⸗ 
ſchienen; Jeſus hat mich zur Erkenntniß ſeines Namens, 


— 


— 825... — 


zur Buße, zum Glauben,‘ zum neuen himmliſchen Leben 
gebracht; Jeſus hat mich unter die Völker zur Verkin- 
dung feines Evangeliums geſendet; Jeſus hat fich mir 
felber offenbaret.“ Dieß ift das Marf feiner Ausfage, 
die, wiederholt, in Allem fich gleich bleibt, 1 


2) Ueber den Inhalt diefer Ausfage kann die nich, 
terne Vernunft zu Feinem andern, als dieſem aut aut — 
- Entweder, Oder gelangen. Ein Menfch, der folche Dinge 

Horgiebt, und von dem es Andere auf eine jo bewährte 
Weiſe vorgeben, muß ' 


A. entweder ein Betrüger gewefen feyn, der etwas 
vorgiebt, von dem er wußte, daß es falfch ſey, au 
den Borfas hatte, Andere: zu betrügen; an 


B. oder er muß ein Enthufiaft geweſen feyn, der. 
ſich durch feine higige Ernbilbungefraft felbft betro- 
gen hat; 


C. vder er muß von Andern betrogen. worden 
ſeyn; 

D. oder es muß dasjenige, was er als Urfache 
Bekehrung angiebt, wahrhaftig gefhehen, —* 
lich die Lehre Jeſu — Gottes Wort ſeyn. 


3) Das erſte aut — Das Entweder, hat nit 
Statt — „Paulus war fein Betrüger” Denn 
erſtens: läßt fich Fein Beweggrund ausfindig machen, 
warum er einen folchen Betrug hätte organiſiren follen. 
Zweitens: wenn er ihn doch hätte organifiren wollen, 
fo hätte er’ durch die von ihm gebrauchten Mittel in der 
Ausführung unmöglich fortkommen koͤnnen. 


4) Darftellung des erjten Grumndes. Hätte 
ihn etwas verleiten Fönnen, den Betrug zu unternehmen, 
fo wäre es entweder die Hoffnung gewefen, unmittel- 
bar zeitliche Guter, Anfehen, Gewalt dadurdy zu erlan⸗ 
gen, oder die Hoffnung, dadurch wenigftens Mittel und 
Gelegenheit zu befommen, einige feiner keidenſchaften zu 
befriedigen. 


21* 


3243 — 


5) Es fonnte ihn Dazu feine Hoffnung ver- 
leiten, zeitliche —— Anfehen, Gewalt zu 
erlangen. 

Paulus konnte a) nicht hoffen, durch dieſen 
Uebergang zur chriſtlichen Religion reicher zu 
werden. Denn die Partei, davon er fich trennte, hatte 
alle Ehrenftellen, alle Gewalt und Güter im juͤdiſchen 
Lande auszutheilen, und die, welchen er fich beigefellte, 
waren dürftige, gedruͤckte Keute, denen fein Mittel gelaf- 
fe worden, ſich zu bereichern, und wer unter ihnen ein 
Vermögen hatte, Der vertheilte folches unter die Glaubens— 
brüder, die doch nicht einmal die Nothdurft davon haben 
konnten. Paulus nahm von den Gemeinden, die mehr Ver- 
mögen hatten, als die zu Serufalem, auch den nothdärf- 
tigen, ihm aus Liebe und Hochachtung angebotenen Unter: 
halt.nicht. an, fondern Titt Hunger und Durft, und er: 
‚arbeitete fich den Lebensunterhalt mit eigner Hand bei 
Tag und Nacht, und gab noch davon den Armen, und 
Eonnte fich auf diefe feine notorifche Handlungsmweife über: 
al berufen. Cı Kor. IV, 11 —22. 2 Kor. XU, 14. 
1,<hefj. Il, 4—9. 2 Thefl. III, 8. Apoftelg. XX, 33. 34.) 


Paulus konnte b nicht hoffen, Ehre, An 
ihn; berühmten Namen zu befommen. Denn 
der Ehriftenhanfe war damals der allerverachtetite unter 
dem Himmel; die Führer defjelben waren Leute von ger 
ringer Geburt, fchlechter Erziehung, niedrigem Stande, 
ohne Gelehrfamfeit. Ein Doktor. im Kollegium armer 
Fiſcherleute zu werben, hatte nicht viel Schmeichelhaftes 
für einen Schuͤler Gamalield. Das Haupt ihres Glau— 
bens war als ein, yon den Borftehern der Nation öffent: 
lich dafuͤr ausgefprochener umd- zum Tode verdammter 
Miffethäter, gekreuziget zwifchen zwei Verbrechern. Die 
Lehre vom. Gefreuzigten ward überall für Unfinn oder 
Aerger ‚gehalten. Paulus erfuhr auc wirklich allen Fluch 
der Welt, wie er ſelbſt ſagt (1 Kor. 135 13. ſchaͤmte 
Ai ‚aber des Evangeliums Bunt... ;- 


| Paulus fonnte c) nit von der Hoffnung, 
jur Herrfhaft zu gelangen, zum Betruge ge " 


# 


WR — 


trieben werdem Denn herrfchen über eine Heerde 
Schlachtfiehafe, deren Hirt erſt Furz ermordet worden, 
und dabei erwarten muͤſſen, daß er von Hohenprieftern 
und Oberften als Verräther und Apoſtat behandelt werde, 
hat an fich nichts Reizendes. Er maßte fid) auch wirk— 
lich Feine Gewalt über die Chriften an, indem er fih viels 
- mehr. den Allergeringiten unter den. Chriften nennt und 
als folchen beträgt. (Ephef. III,» -ı Kor. XV, 9) Er 
wirbt ficy feine Partei, und vuldet keine, will durchaus 
nicht, daß man pauliſch geſinnt ſey Cı Kor. I, 12. 135; 
will nur Diener des Herrn feyn Cı Kor. II, 5. 2 Kor. 
IV, 5.35; alles Anfehen, dag er ımter den Chriften ges 
habt hat, ift bloß geiftlicher. Ark, zielet nur auf Erbauung, 
ohne alle Vermiſchung mit einer weltlichen Macht; er 
fucht nicht, wie z. B. Mahomet unter den Araber, 
ein geitliches Anfehen, um ein weltliches zu befommen; 
er macht gar feine Neuerung in bürgerlichen Dingen; 
prediget und ibet den Gehorfam gegen die weltliche Macht; 
fchmeichelt Itiemanden, um einen Anhang zu befommen, 
fondern  ftraft ohne Scheu, was firafwiärdig ift; forget 
abwefend für die Gemeinde, wie anmefend; treibt alle 
Shriften zum ordentlichen, untadelhaften Wandel. Er will 
nur immer Mitknecht und Mitarbeiter in feinen neugepflanzs 
ten Gemeinden feyn, fucht gar feinen Borrang über Die 
übrigen Apoftel; achtet alles, wag er vor Audern hat, 
gering, um nur Chriftum zu predigen (1 Kor. II, 1— 
15.)5 lehrt, was die übrigen Apoftel lehren u. ſ. f. 


‚Allein Paulus Fonnte nicht nur an Reichthum, Ehre, 
Herrichaft nichts gewinnen, wenn er ein Chrift wurde, 
er mußte vielmehr d) viele Güter, die er hatte, verläug> 
nen und aufopfern, und hatte viel Arges zu fürchten. Er 
mußte, um ein Chrift zu werden, verläugnen feinen Ruhm, 
den er ſich ald ein großer Eiferer für das Gefes erwor- 
ben. hatte (Phil. III, 6.); die zeitlichen Güter, die er in 
dem Laufe feines Gifers noch erhalten hätte; feine Freunde, 
jene Verwandten, feine Familie, von der er fich auf feine - 
Lebendtage verbannte; die jitdifche Lehre und die Sa—⸗ 
gungen der Väter, für die er fo hitzig geeifert hatte (Cal. 


— 326 — 


I, 14.)5: die yharifäifche Sekte, die in dem größten An⸗ 
fehen jtand, und der er von Herzen zugethan war. 

Er hatte, bei dieſem Verluſt fo vieler Guter, e) noch 
viel Widriges zu fürchten; hatte zu fürchten die unver: 
föhnfiche Rache feines Volkes, die bewaffnete Verachtung 
derer, die in ihm vorher einen Verfechter ihrer, wie fie 
glaubten, heiligen Sache verehrten, und nun in ihm einen 
Veberläufer zu ihren Feinden verabfcheuen mußten, und 
unzählige Leiden (2 Kor. XL), die einen Betrüger gewiß 
von einem fo mißlichen Vorhaben abgefchreckt hätten. 


6) Die Hoffnung, eine von feinen Leiden 
fhaften zu befriedigen, fonnte ihn auch nicht 


- verleiten, fih zum Chriftenthume zu wenden. 


Die Gefchichte lehrt, daß einige Betrüger göttliche Offen- 
barungen vorgegeben haben, um ihren Leidenfchaften den 
‚ Zügel zu laffen, um das Joch der Tugend und Landes- 
ordnung abzufchitteln. Allein diefer Abficht miderfpricht 
die Lehre Paulus. - Alle feine Schriften dringen durch⸗ 
aus auf. einen tugendhaften Wandel, verabfcheuen alle 
‚Frechheit, Muͤßiggang und alles Böfe, welches unter dem 
Mantel der Gottfeligfeit ausgeuͤbt werben fünnte, (Roͤm. 
XI, 12. Kolofj. HI.) Diefer Abficht widerfpricht auch 
der Wandel Paulus Sein Leben war unter den 
Ehriften, wie vormals unter den Juden, unfträflich, fo daß 
er auf die Unfträffichfeit feiner Lchre und feiner Sitten 
durchaus appelliren durfte. (2 Kor. XIL, 2.) 


7) Man Fann anch-nicht fagen: daß er fih aus 
der guten Abſicht, um etwa die Gittenlehre 
der Chriften einzuführen, einen fogenannten 
heiligen Betrug erlaubet, und die Geſchichte 
‚des Chriſtenthums, ob er gleich von ihrer Er 
Dichtung überzeugt, oder felbft der Dichter ger 
wefen wäre, als wahr angegeben hätte. Denn 
dieſer wahrhaft unheilige Betrug wäre a) die ſchrecklich⸗ 
fie Grauſamkeit gegen ihn felbft und die Neubefehrten ge: 
wefen, indem er durch feinen Betrug ohne Noth die firch- 
terlichften Leiden auf ſich und die Chriften geladen hätte. 
Vielmehr fagte er felbft b) die größten Leiden den Chri- 


— 527 — 


fen vor (1 Theſſ. II, 4. Phil. I, 28—30. 2 Kor. VI, 
45: Koloff. I, 9-11. Epheſ. VI, 11— 16. Röm. VIH, 
35. 36.), und tröftete fich und: fie mit der ehrlich ges 
glaubten Herrlichkeit Chriſti. Nom. VIII, 17.18. 2 Theff- 
I, 4—7..1 Kor, XV, 18.) c) Er ferbft hätte wohl für 


fi wi nicht Kraft genug gefunden, fo Vieles für Chriſtus 


auszuftehen, wenn er feine Lehre nicht für wahr gehalten 
hätte. d) Er gieng überall fo gerade und freimüthig, fo 


offen und einfältig zu Werke, daß auch diefe Art, zu taͤu⸗ 


fhen, wie jeder andere Betrug, ganz außer feinem Cha- 
rafter. liegen mußte, und das geradefte Gegentheil aus 
feinen Schriften heroorleudhtet. 


8) Darftellung des zweiten Grundes. „Wenn 
Paulus, gegen alle vernünftigen Gründe, hätte betriigen 


wollen: fo hätte er den Betrug durch die von ihm an⸗ 


gewandten Mittel nicht ausführen koͤnnen.“ 


Denn vorerft hätte er den Betrug unter Ju— 
den und Chriſten wohl nicht durchſetzen koͤn— 
nen. Da er die Lehre, die er annahm, nicht felbft erfunden 
hatte, weil fie vor ihm da war; da er Jeſum nicht pers 
fönlich gefaunt; da er in der Hiße der Verfolgung gar 
nicht die Stimmung hatte, die Lehre der Chriften vom 
Hörenfagen kennen zu lernen: wo. nahm er denn die mit 
den Apofteln fo vollfonmen übereinftimmende Kenntniß der 
Lehre Jeſu her, ohne von ihnen in Geheim unterrichter zu 
feyn? Und wie ** er das Vertrauen gewinnen, daß 
ſie ihm die Einſicht in ihre Geheimniſſe mittheilten? Wenn 
er eine bloß erdichtete Erſcheinung vorgiebt: wie kann er 
dieß Gedicht geltend machen, vorausgeſetzt, daß ſeine Be⸗ 
gleiter nicht mit einftimmen? Und, wie kann er dieſe 
ausgewaͤhlten Ruͤſtzeuge des Judenthums ſogleich fuͤr ſich 
gewinnen, daß ſie gemeinſchaftlich mit ihm luͤgen? Wie kann 
er Juden und Chriſten zugleich bethoͤren, denen beiden Al— 


les daran lag, feine Ausſage zu prüfen? Wie kann er 


den ehrlichen, den heiligen, der Wahrheit und ihrem Be- 
fenntniß geweihten Ananias gewinnen, daß er fich zum 
Betrug als Werkzeug mitbrauchen laſſe? Wenn er ein 
Betruͤger iſt, wie kann er e8 wagen, die Apoftel drei Jahre 


2 


— u 


nicht zu beſuchen, fich um ihre Lehre nicht zu bekuͤmmern? 
(Sal. I, 7.8.) Er behauptete vielmehr durchaus (Gal. I, 
12.), daß er ‚fein Evangelium nicht von Menfchen em 
pfangen habe; er widerfpricht dem Petrus (al, I, 11— 
14.): wie durfte er fo handeln, wenn er ein Betrüger 
gewefen wäre? 


9) Noch weniger hätte er feinen Betrug 
bei den Heiden durchſetzen koͤnnen. Er hatte 
erfteng mit der Lift und Gewalt der DObrigfeiten zu 
fireiten. Der Staat duldete zwar hie und da die Eins 
führung neuer Götter, aber man duldete nicht, daß die 
alte Religion nmgeftoßen wurde Man hielt. dieß für eis 
nen Frevel wider den Staat. 


Er hatte zweiteng zu fireiten mit dem Anfehen, 
Intereſſe und Betruge der heidnifchen Priefter. Er fah 
vor, wie fich diefe Leute firäuben wirden, wenn er die 
Art an die Wurzel ihrer Ehre und ihres Nutzens anſetzte. 


Er hatte Drittens zu jlreiten mit den Borurtheilen 
und Neigungen ded großen Haufend. ES war in den 
heidnifihen Bölfern nichts, das feiner Lehre einigen Eins 
gang verfchafft hätte. Denn ed war a) fein altes Teita- 
ment, wie bei dent Juden, auf das er fi als ein Ar- 
gumentum ad hominem hätte berufen koͤnnen. Das 
Kicht der Vernunft war bei ihnen b) fait erloſchen. ( Roͤm. 
I, 23. 24I Es konnte alfo die Appellation auf dafjelbe 
nicht viel fruchten. Die Abgötterei war c) den Voͤlkern 
nicht nur fehr an's Herz gewachfen, fondern faſt mit dem 
Herzen verwachſen, und die Anbetung des Einen Gottes 
im Geifte und in der Wahrheit fonnte in dem irbifchen 
Grund und Boden nicht Wurzel fafjen. Die Heiligkeit 
des Evangeliums widerſprach dI dem Heidenthum, wie 
dem  fleifchlichen Sudenthume geradezu. Die Lehre vom 
- Kreuze Ehrifti fonnte e) dem natürlichen Menfchen nicht 
fondetlich einleuchten, Cı Kor. U, 14.) 


Paulus hatte viertens zu fireiten mit der einge 
bildeten Weisheit der Weltweifen. Shre Weisheit beftand 
geößtentheile in metaphyſi fchen Grillen, in logiſchen Klei- 
nigfeiten, in unendlichen Zänfereien, in ftolzer Ueberredung 


— 329 — 


von der Allgenugſamkeit der menſchlichen Weisheit, in hart⸗ 
naͤckiger Behauptung zweifelhafter Meinungen, oder in hart⸗ 
naͤckiger Bezweiflung klarer Wahrheiten. Sie waren bes 
reitd durch Stolz zu Narren und durch Wolluſt zu widers 
natuͤrlichen Thoren geworden Nm. I, 22.I: fie konn⸗ 
ten alfo an der Lehre von der Auferftehung feinen Ges 
ſchmack finden. Die chriftliche Religion ſtieß mit einem 
Male alle ihre Lehrgebäude um; fie lehrte die lauterſte 
Tugend, und baute auf einen neuen Grund, der ihnen 
durchaus fremde war. Die Weltweifen mußten alfo nas 
türlich dagegen aufgebracht werden. Gegen diefe Hinderz 
niffe ‚brauchte ed wahrlich etwas Beſſeres, als emen 

Betrug. 


10) Das zweite aut hat aud) nit Sa 
„Er war fein Selbſtbetrogener.“ Der Enthufiads 
mus mag aus der übermannenden Hitze für eine 
Lieblingsface, aus Melancholie, aus Unwiffen 
heit, aus teichtgläubigfeit, aus Eitelfeit entſte⸗ 
hen. Saulus hatte eine Hige — aber wider das Chriſten⸗ 
thum. Paulus ift rein von aller Melancholie, Er duldete 
viele Leiden, aber freuete- fich, um Chriftus willen zu Teiden. 
Er winfchte zwar, aufgelöst zu werden; aber er arbei- 
tete deßungeachtet thätig fort. Er wandte fogar alle 
Klugheit an, um feinen DVerfolgern zu entgehen. Er 
war fein Unwiffender, er war ein eigentlicher Gelehrter, 
und hatte unter Gamaliel den Gradum Doctoratus ex 
Sacrosancta Thheologia judaica genommen. Leicht— 
gläubig war er fo wenig, daß er die Shriften fleißig 
in's Gefängniß lieferte, in den Mord des Stephanus ein⸗ 
willigte, und fich durchaus fo hartgläubig bewies, als ein 
Sude nur immer feyn kann. Von Eitelfeit ift er durchs 
aus rein. Er nennet fich ehrlich den. Vornehmften der 
Sünder, und wenn er von feinen Gaben reden muß, um 
feine Gemeinden vor Verführung zu bewahren, fo redet er 
von ſich in der dritten Perfon, und führt gleich darauf 
feine Schwächen an. 


11) Das dritte aut hat auch nidt Statt. 
Die EChriften ließen es fih nicht einfallen, ih 


‚ee. = 


ven Verfolger beträgen zu wollen. Und, wenn 
fie ihn hätten betrügen wollen, fo hätten fie 
e8 auf die angegebene Weife nicht durchſetzen 
koͤnnen. Ein Licht in der Luft anzuͤnden, das heller waͤre, 
als die Sonne; aus dieſem Lichte Worte hoͤren laſſen, die 
Paulus verſtand; ihn drei Tage blind, ihn am vierten wies 
‚ ber. fehend machen — uͤberſteigt fowohl die Kraft des 
menfchlichen Betruges, als es außer den Verfuchen der 
erſten Chriften lag. 


Eben fo wenig einuten die Juden ihn hinter 
gehen wollen, indem fie Alles verfuchten, ihn in dem 
Laufe feiner. Unternehmungen aufzuhalten, und fogar aus 
dem Wege zu räumen. 


12) Alfo tft Das letzte aut — Paulus 
ward wirklich durch hoͤhere Fuͤhrung zu ſeinem neuen Amte 
eingeweihet. Sp ungereimt es iſt, aus Paulus einen Bes 
trüger, oder Betrogenen, oder Hintergangenen zu madyen: 
fo übereinftimmend mit fich findet e8 die Bernunft, ihn für 
einen Mann, den höheres Licht beftrahlte, zu halten. So 
lange ih an Einfalt und Wahrheit glauben Fann: 
werde ich nie zweifeln, daß Saulus durch Gottesfraft be 
fehret, gefendet —— ſey — — und ſo lange ich an 
Paulus glaube, glaube ich auch an Jeſus. 


Und, wenn es den Chriften im neunzehnten Jahrhun— 
derte unmöglich ift, an der Aufrichtigfeit des erzählenden 
Paulus zu zweifeln, wie tief mußte fein Wort auf die 
glaubenden Junger gewirket haben, da fte ihn fehen, ihn 
fprechen hören, Zeugen feines Lebens feyn konnten? D, 
Ihr, meine theuren Zeitgenoffen! fo theuer, als die Wahr: 
heit: lernet euern innerften Sinn für Wahr, Gut und 
Schön bewahren. ... dann werdet ihr an Paulus nicht 
nur glauben Eönnen, werdet glauben muͤſſen, und wenn 
ihr an Paulus glaubet, fo glaubet ihr mit ihm an Jeſus. 


* Mer fein Gefühl für, Wahr, Gut und Schöu bewahret hat, 
und in diefem Gefühle die Gefchichte won der Bekehrung 
des Saulus und von den Verdienften des Paulus um die 
Kirche Ehrifti lefen kann, wird die Littleton'ſche Deduftion, 

daß im dieſer heiligen Angelegenheit Feine Betruͤgerei, 


| = Re 


feine Selbfitäufchung und Eeine Hintergehung von 
Andern denkbar fey, entbehren Eönnen. Wer aber in der 
dialeftifchen Richtung, die — fein Kopf oder fein Herz ge: 
nommen bat, um jenes Gefühl für Wahr, Gut und Schön 
sefommen ift, dem wird auch die gelehrtefte Auseinander- 
fegung, daß Paulus von thätiger und leidender Täufchung 
frei gemwefen fey, jenes Gefühl nicht wieder geben Fünnen. 
Alfo hätte fie wegbleiben follen? Nicht doch, wen fie nicht 
überzeugen kann, den fol fie wenigſtens ſtutzig, und in feiz 
nem Dielvertrauen auf eigene Weisheit irre machen..... 
Und das Srrewerden an falfcher Weisheit (denn das ift alle 
ſelbſtgeſchaffene) ift der erfie Schritt zur wahren. 





— BER — 


Dreißigſte Vorleſung. 





> Beweis des dritten Satzes. 
Die goͤttliche Sendung Jeſu iſt auch heut zu 
Tage nodh für die nühterne Vernunft uns 
ſrer Zeitgenoffen hoͤchſt glaubwürdig. 


! 80. 


Denn 1) Jeſus bfeibt nach dem, was er gelehrt, nad 
dem, was er gethan, nach dem, was er gelitten 
hat, und was an ihm gefchehen ift, alfo nach feinen Leh- 
ren, Thaten, Schieffalen, noch diefe Stunde der Wirdig- 
fte, von der Vernunft als Gefandter Gottes anerkannt 
zu werden. Der Verlauf der Zeiten ändert nichts in 
den Hauptmomenten diefes Urtheils: „Er ift werth, 
. als Gefandter Gottes anerfannt zu werdem, 
und mehr als jeder Andere.“ | 


Es iſt noch Keiner gekommen, der * waͤre, un⸗ 
ſer Auge von Jeſus weg und auf fi; hinzuwenden; 
denn 
a) ſein Sharakter ift noch der erhabenjte, 
"b) fein Wandel ift noch der heiligfte, 
-c) feine Lehre noch die weifelte, 
d) feine Schiefale noch die Gotteswärbdigften, 
e) der Rathſchluß der ewigen Liebe, dad Menfchen- 


gefchlecht durch Sefus wieder mit ſich Er 
noch ber anbetungswärdigfte. 


* Alſo die inneren Gründe von der Glaubwürdigkeit der Gem; 
dung Jeſu find noch diefelben, gleichgetwichtig für den rei; - 
nen Sinn, der fie wägen kann. 


— 555 — 


ns 


2) Das Zeugniß Jeſu von ſich, als das Zeugniß 
* Gerechteſten, Wahrheitliebendfien, Red 
lichſten — und das Zeuguiß vom ‚einer Sache, die er 
wiffen, und am beſten wiſſen fonnte; — und das 
Zeuguiß Johaunes von ihm, iſt 20 hoͤ ch ſt glaub⸗ 
wuͤrdig. 


Wem wollen wir glauben, wenn wir Jeſu nicht glau- 
ben? Wem follen wir. glauben, wenn wir Sefu und 
feinem Freunde Johannes nicht glauben ?. 


3) Wenn die Wunder Jefu die redlichen ——— 
gen auf die Perſon Jeſu aufmerkſam machen konnten: 
fo koͤnnen und ſollen die naͤmlichen Wunder Jeſu — ehr: 
lich aufgezeichnet, und unverfälfcht. bis auf ung, wie fie 
es find, erhalten, auch und auf die nämliche Perfon auf 
merkjam machen, 


Es ift noch heut zu Tage: wahr: 


A) Der vier Tage todtgewelene — tam aus dem 
Grabe hervor, 


'b) Und fam auf das Wort zefn aus dem Grabe 
‚hervor. 


c) Und Jeſus, der Heiligite, Weifefte,. der Wahrhaf—⸗ 
tige ſchrieb dieſe Belebung eines Todten hg, himm⸗ 
liſchen Vater zu. 


d) Und Jeſus mußte die Urſache feiner, Belebung. wiſ⸗ 
ſen, und beſſer als wir nach ſo vielen Jahrhun⸗ 
derten. 


e) Wenn wir alſo von fu denten, was er won 
fih gedacht hat, fo urtheilen wir nad, dem Urtheile 
des Heiligften, Weiſeſten, des ‚Wahrhaftigen, alfo 
höchft vernünftig ; 


H Zumal unſere jetzige Weisheit u nicht das Ge⸗ 
heimniß erfunden hat, aus menſchlicher Kraft Todte 
zu erwecken, oder auch nur die Gewißheit der Ge— 
ſchichte zu erſchuͤttern; endlich — das Wort Jeſu: 
„Selig, die nicht geſehen haben, und doch glaus 


— 554 — 


ben’ und befonders angeht, und zum Glauben an⸗ 
mahnet. 


Uebrigens laͤugnen wir nicht, daß die Wunder 
in den Augen der Zeitgenoſſen kraͤftiger wirken fonn- 
ten, als in den Ohren der Nachwelt. Aber ihre 
ganze Kraft geht deßwegen nicht verloren. Und 
zwar haben fie noch dieie beftimmte Kraft, auf uns 
zu wirken; 


Die Wunder Jeſu brachten die Juͤnger und 
die erften Chriften, die diefer Zeit am naͤchſten was 
ren, zum Glauben an Jeſus, und und macht diefer 
Glaube der erſten Chrijten, auf die Thatfachen, die 
ihren Glauben veranlaßten, und der Gharafter der 
Thatfachen auf Jeſus, durch den fie gefchahen, auf- 
mertfam Erft dann in Verbindung mit ver 
Weisheit, mit der. Heiligkeit ꝛc. betrachtet, koͤnnen 
fie für und ein. Glaubensgrund werden. 


4. Die Weiffagung Jeſu von der Zerftörung Seru- 
faiems, von der Zerftrenung der Juden ıc. hat für ung 
eine beſondere Weberzeugungsfraft, indem fo viele Jahr: 
hunderte Zeugen von der Wahrheit ihrer Erfüllung find. 
—. Die Ueberzeugungsfraft diefes Beweifes fühlten große 
Geifter — unter andern Auguſtinus — ſie nannten deß— 
halb die Juden „den wandelnden Beweis von der Wahr: 
heit des Chriſtenthums,“ 

 Argumentum ambulatorium de veritate Religionis 
christianae, | 


5) Das Große, das die Lehre und Kirche Chrifti 
feit 18 Jahrhunderten in allen Weittheilen gewirfet hat, 
erfeget und einigermaßen das, was wir Dadurch verlieren, 
daß wir fo entfernt von dem Theater, auf dem, und von 
der Zeit, in der Jeſus auftrat, leben. Denn, obgleich 
Aberglaube und Unglaube, Eigennuß und Ehrgeiz die 
‚Lehre und Anftalt Jeſu auf: mancherlei Weiſe theils ent: 
ftellet, theils mißbraucht haben: fo hat doch die Lehre 
und der Geift Ehrifti fo große und fo reine Menfchen 
gebildet, und durch dieſe fo viel Gutes gewirfet, daß ich 


— . 355 — 


nicht umhin fan, "die Quelle, aus der dieß alles: flo, 
zu’ — * und Ya zu king u TR 


—6 
UF AN 


rl 
Was die Glaubwilligfeit an die Lehre Chrifti in jun— 
gen Gemuͤthern gewaltig flöret, ift unter 'andern der ihr 
nen tief eingebildete Wahn, als koͤnne es in unſern Ta— 
gen Feine Wunder mehr geben: es dürften alfo auch die 
‚ erzählten von den Tagen. des Menfchenfohnes wielleicht 
nicht ſo zuverlaͤſſig ſeyn. Daher die Frage nicht jelten 
im Zone des Siegers Umhergeboten wird: „Barum 
jet, feine Wunder mehr?” Der Ton giebt zu ver⸗ 
ſtehen, daß es nie feine gegeben haben folle. Um des 
Singlings wegen, der am Scheivewege fteht und rath— 
fchlägt, will, ich hier die Frage BUCHE * beſtimmen, 
und dann eelcr 


Naͤhere — der Frage. 


1) &8 if das Wunder aller Wunder auch in unfern 
Tagen noc nicht ausgeſtorben. Denn ſo wie das Uni- 
verſum fortwaͤhret, ſo muß auch der Schoͤpfungsaktus fi ch 
immer und immer wiederholen. Dieſe conservatio uni- 
versi, oder wenn man will, diefe nova creatio per- 
petua iſt das Wunder aller Wunder, das, erſte, das 
hödhfte, das fortdanernde Wunder — in Hinficht auf das 
Univerfum. 


2) Auch in Hinſicht auf die Menſchheit iſt das Wun⸗ 
der Kar e&oxrv heut zu Tage noch nicht ausgeftor- - 
ben. Denn jede wahre Befehrung eined von Gott ab- 
gefehrren Willens zu Gott, ift ein in dem. innerften Fond 
des Menfchen gewirftes Wunder im ausnehmenditen Sinne 
des Wortes. Das göttliche Leben, das im Menfchen er: 
ftorben iſt, kann nur durch Gott wieder erweckt werden, 


3) Selbft aud) die Außern Wunder, zB. wunder: 
volle Errettungen ꝛc. find nicht ausgeftorben; von Zeit 
zu Zeit veget fich der Finger des göttlichen Geiſtes, * 
alle Kirchengeſchichte dem ruhigen Forſcher darthut. 

geſchehen auch in unſern Tagen Ereigniſſe, die jedes * 


— 356 — 


ligiöfe Gemuͤth nach der kaͤlteſten Prüfung — wunberboil | 
nennen muß. 


Die Frage kann alfo nur die feyn: Marım find die 


Wunder, die zur Zeit Chrifti und der Apoſtel ‚gewirkt 


wurden, nicht in derfelben Menge und in derjelben Herr⸗ 


lichkeit fortgepflanzt worden auf unſere 7 


Auflöſung der fo. beſtimmten Frage. A 
4) Die Urfache deffen liegt nicht in Gott felber. Denn 


‚feine Hand iſt nicht abgekürzt. Er ift noch das Licht, 


die Liebe, das Leben — und dem Fichte, der Liebe, dem 
Leben it ed wefentlich, fich zu offenbaren, und Wunder 
find nichts ale Dffenbarungen des Lichtes, der Liebe, des 
Lebens. 


5) Die Urfache liegt auch nicht etwa darin, daß. die 
ganze Menfchenwelt jchon fo weit: in der Erfenntniß Gote 
teg und Ehrifti fortgeräckt wäre, daß die weitere Ausbrei- 


tung oder Wiederbelebung des Evangeliums feiner, Wun— 


der mehr bedurfte Denn es ift a) unter denen, Die 
Shriften heißen, viel Unglaube, viel Aberglaube, viele La- 
fterhaftigkeit. Es ift b) in der nichtchriftlichen Welt, die 
zwei Drittel ‚ded ganzen. Erdfreifes ausmacht, viel Fin- 
fterniß, Irrthum, Verfall, Berfunfenheit, u. f. w. 
Deutlicher: Es iſt ungemein viel Heidenthum außer 
dem chriſtlichen Gebiete, und nicht wenig Heidenthum im 
chriftlichen Gebiete, Obgleich alſo einige Wunder (wie 
Paulus andeutet in jener denfwirdigen Stelle: die Ga 
ben der Sprache find Zeichen für die, welche noch nicht 
glauben, die Gaben der Prophezie find Gaben für die, 
welche fchon glauben, I. Kor. XIV, 22.) als, Zeichen 
der Wahrheit für die Ungläubigen gehören: fo kann man | 
doc, nicht jagen, daß auch diefe Zeichen bei dem jeßigen 
Derfalle des Glaubens und bei der zunehmenden Herr: 
ſchaft des Unglaubens überflüßig feyn follten. | 


6) Die Urfache liegt fchon gar nicht in einer etwa 
ſchon bewirften totalen Miündigfeit der Vernunft, die mit 
folchen Offenbarungen Gottes, wie die Wunder Chrifti - 

und 


x 


5 — 
3 und ‚der. After waren, unvereinbar ſeyn follte. Denn 
5 a) gerade die muͤndigſte Vernunft ſetzt ja felber ſchon 
eine Offenbarung Gottes voraus. Und b) auch die muͤn⸗ 
i digſte Vernunft kann (aus ſich, durch reines Selbſtdenken) 

den Rath der ewigen Liebe nicht inne werden — ber 

muß ihr durch Offenbarung gegeben werben. | 


Ge miündiger die Vernunft ift, deſto heller 9 ſieht 
ſie die Unwiſſenheit, die Laſterhaftigkeit und das Elend 
der Welt ein — daß alſo ſolche außerordentliche Huͤlfe, 
| 4 die Wunder waͤren, gar nichr uͤberfluͤßig gehalten 
werden koͤnnen. 


7) Die Urſache kann alſo nur in dem — lie⸗ 
gen — und nur darin, daß die Menſchen durch Unglaus 
ben, oder Mangel an Glauben unempfänglich für ſolche 
Wirkungen Gotted geworden find. 


8) Die Beweife diefer Unempfänglichfeit finden wir 
wohl jelber in dem immer allgemeiner werdenden Unglau- 
ben an die gefchehenen Wunder des neuen Bundes, Die 
Menſchen, ſind ſo aͤußerlich geworden, daß fie das Wunz 
der sar éSoxhv — in ſich nicht wahrnehmen koͤnnen, 
weil fie dafjelbe durch ihren nach außen gefehrten Sinn 
unabläffig von der Hand weiſen. Die Menfchen find 
fo _Außerlich geworden, daß fie die Bliße des göttlichen 
Lebens, die aus Chrifius und den Apofieln in die End— 
lichkeit hervorbrachen, „und die Nacht erhellten, unglaub- 
lich finden müffen. Die Menfchen find: fo Außerlich ges 
worden, daß fie ihre Unempfänglichkeit, an die gefchehenen 
Wunder zu glauben, ſo wie die Unempfänglichkeit, das 
Wunder der Befehrung im ſich zu erfahren, doppelt uns 
empfänglich machen muß dafıır, daß Außere Wunder 
durch fie gejchehen follten. 


9) Die Kirchengefchichte Tiefert den Beweis, daß bie 
Wundergaben a) in den erjten Jahrhunderten noch fort 
dauerten, weil der Glaube, dieſe Empfänglichfeit — fort⸗ 
dauerte; daß fie b) abnahmen, wie der Glaube, dieſe 
Empfänglichfeit, abnahm; daß fie.c) nie ganz ausiterben, 

J.M. v. Saiter's ſämmti. Schriften. VIII. Bd. Zte Aufl. 22 


— 3538 — 


weil in ber Kirche Gottes ber. Glaube. nie san, we; 
ben. kann. 


Von der Fortdauer der Wundergaben nur ger En 
Zuuſtinus: „Bis auf diefen Tag find prophe— 
tiſche Gaben unter uns: daraus mußt ihr ſelbſt 
einfehen, daß jett und übertragen ift, was ehemals bei 
enerm Volke Cden Suden) war.“ (Dial. contr., Tryph.) 





Irenaͤus: „Wir hören, daß manche Brüder in der 
Kirche, die prophetifche Gaben haben, durch ‚den Geift 
mit verfchiedenen Zungen fyrechen, die verborgenen Ge: 
banken der Menfchen offenbaren, und Gottes Geheimniſſe 
enthuͤllen.“ (Lib. Vs ce. 6.) 


10) Daß der Glaube an den. allwirfenden Geift Got: 
tes eben diefem Geifte Bahn mache, fich zu offenbaren, 
wie den Willen  empfänglich, ‚dazu, daß fich der Geiit 
durch ihn offenbaren. kann: wird der tiefern Philofophie 
anfchaulich. in dem, was die Natur ig und — 
verſucht. 


Mag ſich der dettriſche Strom durch Reibung der 
Eleklriſ rmaſchine noch ſo ſehr gehaͤufet haben: er wird die 


Umſtehenden nicht durchdringen, wenn ſie nicht durch wech⸗ 


ſelweiſe Beruͤhrung eine ununterbrochene Reihe mit dem 


erſten Beruͤhrer darſtellen, und ſofort der Schlag, der den 


Zunaͤchſtſtehenden trifft, ſich allen mittheilen kann. Und, 
wenn das austretende Baͤchlein im Garten des Land⸗ 
mannes' dem Fleinen Ninnfale folget, das der Knabe ge 
graben hat: jo ſiehſt du auch in diefem Bilde, daß das 
Geben Gottes, das Nehmen des Menſchen ift, und 
dap der Glaube den außftrömenden Gaben, die in Gott 
ein unermeßliches Meer find, in dem Empfänger aber ein 
Gemeſſenes werden, ein leitendes Rinnſal graͤbt. 


11) Wenn nun aber der Glaube die Ausfluͤſſe der 
Guͤte ein- und fortleitet: fo wird der Unglaube wohl 
auch als eine Wehre wider das Eindringen der himins 


Nu Se 


aß, wo 


—2* 
re un ee Grein a u 


lichen Gaben, als eine Hemmkette göttlicher Mittheilun⸗ 





— 5590 — 


gen angeſehen werden koͤnnen. Ein Dichter hat dieſe 
Wahrheit, die große Philoſophanten nicht erfaſſen konn⸗ 
ker vichtig erfaßt: J H 


"De Miraculis Christi. In Incredulos. — 


"Non tibi tanta ſides, facere ut miracula possis, 
' Tanta nec, ut possis credere facta, fides. 


Cessatio Miraculorum. fi 


Abbreviata Dei, siquidem miracula cessant, 
Est manus? An potius nostra minuta fides? 


12) Daß, wenn das Evangelium allgemein ausge⸗ 
breitet: wäre, und alfo die signa pro non eredenti- 
bus wegftelen, deunnoch die signa pro fidelibus, die 
Geiftesgaben zum Beiten der Gläubigen fortdauern wir: - 
den, hat der Apoftel im genannten Briefe klar genug gu 
verſtehen gegeben, und Chryſoſtomus in feiner erſten Pfingit- 
rede ausführlich erwiefen. Denn, fo wie ohne Glaube, 
Liebe, Hoffnung fein Chriſtenthum, fo können ohne die 
Gaben des heiligen Geiftes, Glaube, Liebe, Soffnung we⸗ 
der ſeyn, noch beſtehen. 


15) Ob man die fortdauernden Geitedgaben,: weil 
fie zur unftetigen Ordnung. der Gnade gehören, außeror- 
dentliche nennen folle, ‚oder nicht, iſt feiner weitern Er- 
Örterung bebürftig. Denn, um: bei dieſem Ausdrucke fte- 
hen zu bleiben, die Ordnung der Gnade finde denn Be 
höher, ald die Drduung der Natur. 


19) Daß die Liebe unter allen Geiſtesgaben oben⸗ 
an ſtehe, daß ſie auch dann noch ſeyn werde, wenn die 
Prophezie, die Sprachengabe, die Wiſſ enſchaft aufhoͤren 
werden, iſt als That durch den Geiſt des Chriſtenthums, 
und als Wort durch das XIII. und XIV. Hauptſt. des 
erſten Briefes an die Korinther ausgeſprochen. 


15) Eben fo wenig foll, wenn die Fortdauer der 
Wundergabe zur Sprache fommt, die Wunderfucht, die 
gar oft ein Geigenbiatt des Unglaubens und noch öfter 

22* 


- BD 


das Wert des Aberglaubens iſt, in Schuß genommen 
werden, denn Chriſtus und Paulus haben fi e an den 
Juden nachdruckſam genug beſtraft. | 


16) Endlich: wenn fchen der Glaube ald das Prin- 
‚zip angefehen werden Fanıt, das den Menfchen: der weis 
tern göttlichen Gnade empfänglich macht: fo ift doch die 
wirkliche Mittbeilung des Göttlichen nicht in die Hand 
des. menfchlichen Wollens, noch in die Thätigfeit des 
menfchlichen Laufens gelegt, fondern allein, als das Werf 
der ewigen Erbarmung, die nur nad) dem Geſetze ber 
unerforfchlichen Weisheit wirkſam werden kann, anzufe- 
hen. Und fo ift auch hier die Thure dem Wiffen wie 
ber zugejchloffen, und nur der Anbetung offen. gelaffen. 

Und. gerade dieß ift. das Siegel der Wahrheit, dieß, 
daß die Anbetung dem Wiffen voran, dem Wiffen mit⸗, 
dem Wiffen nach⸗ gehet, und. auch dort noch ‚allein. fort 
gehet, wo alles Bien aufhört. 


NX 82. > 
Beweis des vierten Satzes. 


Der Glaube an die goͤttliche Sendung Jeſu 
iſt gerade in der Zeit, wo das menſchliche 
Denken wirklich am aufgehellteſten iſt, 

oder zu ſeyn ſcheint; in einer Zeit, wo die 
Fortſchritte in allen Wiſſenſchaften mit 
Grund bewundert, oder in Güte voraus— 
geſetzt werden, ein wahres Beduͤrfniß des 
menfhlihen Gefhledhtes fowohl für die 
mehr gebildeten, als für die minder gebil- 
deten Köpfe, 


ı) Ein Bedürfniß für die mehr ge kilherkh 
Köpfe. Denn entweder haben fie in dem Gange: ihres 
Denfens den Glauben an Gott und das ewige Seyn des 
Menſchen gerettet, oder nicht ıc. Im erften Falle kann fie 


a) bei ben tiefen Abgründen, die jene zwei Lehren 
von Gott und der Unſterblichkeit des Menſchengei⸗ 
ſtes umgeben; 


—_ 3 — 


"by bei dem bfendenden Anfehen und dem ‚glänzenden 
Weisheitsruhme der Vielen, die jene Wahrheiten bes 
zweifeln, oder laͤugnen, oder jtolz dariiber hinfehen; 

©) bei dem Gefreifche der fih aneinander reibenden, 

und einander durchfreuzgenden Meinungen won dem 
Urſprunge aller Dinge, md bei * — der⸗ 
ſelben; 

d) bei den unzaͤhligen Verſuchungen zum Unglauben, 

die ang der Beſchraͤnktheit des Verſtandes, und aus 
den Neigungen des Herzens hervorgehen; 


e) bei den Bewegungen bes Zeitgeifted, der das Prob- 
lem, die Menfchheit ohne Gott weife, groß und fes 
"fig zu machen, ſich felbft aufgegeben zur haben, und 
praftifch loͤſen zu wollen fcheint, der Glaube an die 
göttliche Sendung Jeſu ungleich zuverlaͤſſiger, als 
irgend eine andere, ſelbſt gemachte Huͤlfe in dem 
‚ruhigen Befige des Glaubens an Gott: und an die 
Unſterblichkeit des Mienfchengeiftes erhalten. 


Im zweiten Falle. kann die bloße, Achtung für den 
reinen Charafter Jeſu für fie ein Leitfaden ‚werben, der 
ſie den: Ruͤckweg zum verlaffenen Glauben an Gott und 
-Unfterblichkeit, und dann im Glauben an die hoͤhere Sen- 
dung Jeſu, das Ende der Berirrungen und die Bewah- 
rung vor » dem wiederkehrenden Unglauben, finden lehrt. 
Deutlicher: die ſich in dem Labyrinthe der Spekulationen 
verirrt haben, koͤnnen ſich an dem Stern, an den uns | 
Den Evangelium weifet, wieder orientiren. 


Wirklich iſt der Charakter Chriſti ſo rein, ſo — 
milde, fo. anziehend und wohlthuend für bag menfchliche 
Geſchlecht, daß der bloße Reſpekt fuͤr dieſen Charakter 
in den denkenden Koͤpfen eine unuͤberwindliche Achtung 
fuͤr ſeine Lehre von Gott und Unſterblichkeit, und alſo 
auch eine unwandelbare Achtung fuͤr die Wahrhaftigkeit 
ſeines Bekenntniſſes: „ber Vater hat mich geſen— 
det,“ einflößen kann. 


Es wird alfo der Charakter Shrifti gleichfam ein ı Feld 
in Mitte des Meeres von Zweifel, Unglauben, Finiterniß, 


= 2 — 


an dem fie fi retten — vor ben allverfchlingenben Ab⸗ 
gründen. 

* Och felbft kannte einen Kaufmann, den bie Sophifterei feiner 
Zeit zum Atheiften, der fill fuchende Blick in das Evange⸗ 
lium zum Gottesverehrer, - der einleuchtende Geiſt Chrifti 
sum, Chriften, der vertraute Umgang. mit Chriftus zum Heis 
ligen gemacht hatte. Sanft ruhe feine Afchel 


Aber, ſagen fie, die Heiden haben die heiligen Schrifs 
ten: Jeſu nicht Fontrollirt. Antwort: der Glaube der 
Welt hat fie kontrollirt; Philofophen und Nichtphilofophen 
glaubten an den wefentlichen Inhalt dieſer Schriften, ehe 
dieſe Schriften verfaßt wurden, und nachher. 


"2) Der Glaube an die göttliche, Sendung Sefu if 
gerade in unfern Tagen ein Bedärfniß für die minder 
gebildeten Köpfe. Denn diefe können weder 


a) an den Vortheilen der tiefern Philofophie Theil 
nehmen, (weil fie nicht bis in die Tiefe eingedrun⸗ 
gen find, noch eindringen können), noch ſich 


b) mit dem ruhigen Glauben der nicht grübelnden Ger 
wiſſenhaftigkeit begmigen, weil fie ſchon felbft zu 
denken angefangen haben. — Für fie ift alfo der 
Glaube an die höhere Sendung Jeſu hoͤchſtes Bes 
duͤrfniß, um ſich im Glauben an das Goͤttliche zu 
halten, und daran und dadurch weiter fortzubilden. 


3) Die negative Seite madht aud hier. den 
ftärfften Eindrud, Es fann nämlich feine Vernunft 
einen feitfiehenden Beweis führen, daß fie Feiner poſitiven 
Offenbarung beduͤrfe; nicht die Ungebildete, die der Offen⸗ 
barung bedarf, um ſich ſelber bilden zu koͤnnen; nicht 
die Gebildete, die der Offenbarung bedarf, um nicht wies 
- der in die Nacht zuruͤckzutaumeln, aus der ſie ſich er⸗ 
hoben hat. Dieß findet in der Geſchichte feine Beſtaͤti⸗ 
gung. Gerade in der höchften Bläthe der Wiffenfchaften 
unter ben Griechen und Römern haben Lafterhaftigkeit, 
-Unglaube und Aberglaube den höchiten Ginfel erreicht. 
Nicht ganz ungleich auch; hierin — war das neue Franfs 
veid; den alten Völkern. — — Gerade wo Alles zu den: 


_ Zu — 


fen anfängt, bedarf die Thätigkeit des menfchlichen Wol⸗ 
lend einen befondern Sporn, und der Borwiß des menfch- 
lichen Denkens einen befondern Zaum. Und jenen Sporn 
und diefen Zaum giebt ung der Glaube an die göttliche 
Sendung Jefu. 

Ich fee noch bei: gerade in unfern Tagen, wo die 
Wiſſenſchaften, wenn nicht die hoͤchſte Stufe, welches kein 
Weiſer ſagt, erreicht, doch gewiß die hoͤchſte Gaͤhrung 
hervorgebracht haben, iſt der Glaube an Chriſti Sendung 
das einzige Rettungsmittel vor der Aufloͤſung aller Res 
ligion,. oder, tie ich fagen möchte, vor der Glaus 
bensanarchtie; denn um nur Yon denen zu reden, Die 
ſich felber auf die philofophifche Bank ſetzen, fie mögen 
hinauf. gehören. oder nicht: wo iſt eine feſte Norm des 
Glaubens nöthiger ald da, wo die glänzenden Formen 
des Wiſſens fich faft an jedem Abende serichlagen, um 
am Morgen aus ihren eigenen Trümmern in erneuerten 


Wiſſensformen hervorzutreten; noͤthiger als da, wo bald 


das Gefühl der Vernunft aufgeopfert und alle Wahrheit 
in ein leeres Nichts verwandelt wird, bald die Vernunft 
dem Gefühle gefchlachtet, und leerer *— an die Stelle 
der Wahrheit gefeßt wird ? 

Indeß, während daß die Wellen * Zeit die ‚oben 
fchwimmenden Wiffensformen verfhlingen, und aus dem 
. Abgrumde des Meeres neue heraufdrängen, fteht diefelbe 
Lehre deffelben Evangeliums als ein Leuchtthurm für die 
Seefahrer aller Syfteme — unzertruͤmmert da, und leuch⸗ 
tet in die Nacht und Die Stürme des — hinein — 
die Lehre: —* 


„Es iſt ein Gott — die Heilige diebe— RM 
„Der Menſch — Gottes Bild ift von Gott abgefallen.‘ 


„Der Abgefallene kann durch Chrifti Geift wieder zu 
Gottes Bilde umgeſchaffen werden.“ 

„Ewiges Leber denen, die zu Gottes. Bilde neu ges 
ſchaffen, in me Merken beharren — bis am’s 
Ende! | 





Wr 


Einunddreißigſte Vorleſung. 





UN BB: 
Sünfter Saß. 


Die göttliche Sendung Jeſu, d. i. die Wahrheit des 
 Chriftenthums bewies und beweiſet fich an denen, Die 
an ihn glaubten und glauben, nach feiner Lehre Iebs 
ten und leben, auf eine originelle Weife als Wahr; 
heit. 


Deutlicher; die Wahrheit des Chriftenthums, bargethan 
‚aus den ſchon gemachten Erfahrungen und aus ber 
bleibenden Erfahrbarfeit, 


1) Das lebendige, wahre Chriftenthum ift jenes, das 
nicht in Büchern, fondern in. den Chriften Iebet und an 
den Chriſten offenbar wird, wie es leben und offenbar 
werden kann, und nad) dem Willen des Stifters Teben 
und offenbar werden joll, 


2) Das Iebendige, wahre Chriftenthum, wie es in 
den. wahren. Chriften Iebet und an ihnen offenbar wird, 
# nichts anders, als 


göttlicher Sinn, 
göttlicher Friede, 
göttlicher Wandel, — 


bewirfet durch göttliche Lehren, Beiſpiele, Kräfte. 


3) Der göttliche Sinn ift die Liebe Gottes und der 
Menfchen, die reine, thätige, die allumfaffende und aus- 
dauernde Kiebe. 


4) Diefen Sinn nenne ich göttlich, in fofern er Gott 
ähnlich — ähnlich der heiligen Liebe alles Heiligen, bie 
uns Gott ift und heißt, in fofern er Gott wohlgefällig, 
als ein Nachbild des Göttlichen, in fofern er nicht so 
Gottes Beiltand bewirfbar if. 





5) Der göttliche Friede ift Gewiffensruhe in Hinficht 
anf BVergangenheit und auf Gegenwart, gegründet auf 
‘ der fetten Ueberzeugung: „Was ich gefündiget habe, iſt 
mir verziehen, und jetzt firebe ich, mich vor aller Sünde 
zu bewahren, und die täglichen Fehltritte werden mir 
auch vergeben; iſt Herzengruhe im Hinſicht auf Gegen: 
wart und Zukunft, eine Ruhe in fteter Selbjtbeherrichung, 
die die Neigungen ziigelt, daß fie Feinen Hader anrich 
ten; eine Ruhe aus Zuverfiht, daß dem Gottlichenden 
fein Leiden und feine Freude, Kein Seyn und fein Wer: 
den fchaden Fönnenz iſt Harmonie des Geiſtes und Her: 
zens mit Gott und Allen guten Weſen. 


6) Diefer Friede. ift göttlich, in fofern er ein Bild 
der Seligfeit Gotted, ein Gegenftand feines Wohlgefals 
Iens, ein Werk feiner Kraft. it. 


7) Der göttliche Wandel iſt die fich ſtets gleiche 
Meife des Thuns und Lafjens, nach dem Gebote des 
göttlichen Einnes und mit dem durchfcheinenden Gepräge 
des göttlichen Friedens, iſt Darftellung des m 
Sinnes und göttlichen Friedens. 


8) Diefer Wandel ijt göttlich, in fofern er gottähnz 
lich, gottgefällig, nicht ohne Gottes Beiftand bewirt⸗ 
bar iſt. 


9) Das lebendige Chriſtenthum befaßt alſo zweierlei 
in ſich. Erſtens: Mo lebendiges Chriſtenthum iſt, da 
it lauterer Sinn, hoher Friede, heiliger Wandel. Zwei 
tens: Und diefer Iautere Sinn, dieſer hohe Friede, dies 
fer heilige Wandel ift das Werk göftlicher Lehren, Ver⸗ 
heißungen, Beifpiele, Kräfte, mit denen der freithätige 
Wille des Menfchen einträchtig wirket. Das erfte druͤ⸗ 
det die Merkmale des Chriftenthums; das zweite den 


Urſprung, das Prinzipium des. Chriftenthbums aus, 


10) Diefer Tautere Sinn, diefer hohe Friede, biefer 
heilige Wandel ift da, wo er iſt, 


a) ein Faktum, ein Seyn, 
b) ein anhaltendes Faktum, ein anhaltendes Seyn, 





* ein wahrnehmbares Faltum, ein — 
Seyn; 


alſo erfahrbar, alſo bezeugbar, alſo aus Erfeh⸗ 
rungen und Bezeugungen erweisbar. 


11) In. den heiligen Apofteln und vielen aus ben 
erften. Chriſten war wirklich dieſer fchöne Sinn, ‚Friede 
und Wandel“ ein Faktum, das fie felber erfahren: und 
bezeuget haben. Beides ift in den Schriften des neuen 
Teftaments offenbar ausgefagt. Paulus z. B. hatte den 
lautern Sinn, den. hohen Frieden,: den heiligen Wandel 
in ausgezeichnetem Maße. Er hatte einen lautern-Sinn, 
eine Liebe, die nicht das Ihre fuchte, die lieber jterben 
wollte, ald den Bruder ärgern; die gern ein Fluch wers 
den wollte, um nur. feine Brüder zu retten. Er genoß 
einen hohen Frieden; denn er Fonnte im Gefängniffe um 
Mitternacht Gott Lobpreifen, im Sturm‘ auf dem Meere 
ruhig bleiben, und im Gedränge unzähliger Leiden von 
innen und außen, den Kopf oben und das Herz — in 
einem höhern Elemente behalten. ı Die Reinheit feines 
Wandels firahlte- Freunden und Feinden in das Auge, 
und feine einzige Abfchiedgrede zu Miletus bürgt ftatt 
aller anderen Beweife dafür. Wo wäre das reine Auge, 
das fie ohne Thräne leſen koͤnnte? 


12). Die. Wahrheit des Chriftenthums, nad — 
Merkmalen betrachtet, iſt alſo aus Erfahrung erwieſen 
und erweisbar. Es iſt in den Menſchen, die ſich zur 
Lehre Jeſu mit ganzer Seele bekannten, ein reiner Sinn, 
-ein hoher. Friede, ein fledenlofer Wandel geboren wor⸗ 
den. Es ift alfo die Lehre Sefu, in ſofern fie Heiligkeit 
fordert und. Geligfeit „verheißet, Fein Traum. - Sie ift 
durdy Erfahrung wahr. befunden worden. * 


13) Daß aber dieſer lautere Sinn, dieſer hohe Fries 
de, dieſer heilige Wandel nicht ohne Gottes Beiftand bes 
wirft worden fey, kann der Chrift, das heißt, der Inha— 
ber des lautern Sinned und Friedend, und der Darftel- 
fer deffelben im heiligen Wandel und im feligen Umgange 
mit Chriften, a) aus dem Ungewöhnlichen des Lichtes, 


der Milde, der Freude, die er: in ſich wahrnimmt, , und 
aus den vorangegangenen he Kämpfen, Sier 
gen, Umwälzungen in feinem Innern, vernünftig ſchlie⸗ 
fen; b) um des Zuſammenhanges der Lehre von dem 
göttlichen Urſprunge des Chriftenthums mit der. übrigen 
aa Lehre Jeſu und der Apoſtel willen, vernünfs 
tig glauben; c) burd das unmittelbare Zeugniß. des 
heiligen Geiftes inne werden. Er kann mit aller Zuvers 
laͤſſigkeit den Schluß machen: was mir ſolche Aufſchluͤſſe 
in meinen ewigen Angelegenheiten verfchafft, das kann 
doch nur von dem Vater der Lichter Tommen; was mid) 
von der Uebermacht der Leidenſchaft erloͤſet, und ſo ſtille 
und eins mit mir macht, das muß doch wohl aus dem 
Lande des ewigen Friedens kommen; was mich von aller 
Todesfurcht frei, und ſo ſelig in Gott macht, das kann 
doch nur aus der Quelle aller Freiheit und Seligkeit 
kommen. Er kann mir aller Vernunft glauben, daß, 
wenn jene Lehre Chriſti, die Heiligkeit fordert und Selig⸗ 
feit verheißt, gewiffe, 'erfahrbare nnd mit unzähligen wirk⸗ 
lichen Erfahrungen verfiegelte Wahrheit ift, auch die 
Grundlehre, daß nämlid) Jeſus nicht Menſchenwort, ſon⸗ 
dern Gottes Wort gelehrt habe, folglich das Chrifenthum 
eines göttlichen Urfprunges ſey, wahr feyn muͤſſe; denn, 
mein wahr it, (wird fein innerftes Wahrheitsgefühl aus⸗ 
ſprechen) wenn wahr ift, was erfahrbar, und Erfahrung 
geworden it: fo wird wohl auch das, was mit dem Er⸗ 
fahrbaren und den wirklichen Erfahrungen im innigen Zus 
fammenhange fieht, um eben dieſes Zufammenhanges wes 
gen als wahr anerkannt werden muͤſſen. Er wird, was 
er. vernünftig -fchließen, «vernünftig glauben: konnte, durch 
das unmittelbare Zeugniß des heiligen »Geifted inne wers 
benz Wer meine Lehre halt, wird.inne werden, 
ob. fie aus Gott fey,  fpricht Jeſus; Der Geift 
giebt unferm Geifte Zeugniß, daß wir Kinder 
Gottes find, fchreibt Paulus; «beide. lehren, daß. der 
heilige » eift Sefum und: feine Lehre in uns verklaͤret. 
Diefe Verklärung mag denn auch als eine Erfahrung höhes 
ter Art angefehen werben, und hienieden das. leßte Siegel 
auf den göttlichen Urſprung des Chriftenthums druͤcken. 


— 348 = 


14) Die Apoftel haben bezeuget; daß fie von dem 
göttlichen Urfprunge des Chriſtenthums wirklich durch eine 
Dffenbarung belehret worden find, und ihr Zeugniß iſt 
hoͤchſt glaubwuͤrdig. Denn was wollten Männer eines 
fo Tantern Sinnes, eines fo hohen "Friedens, eines fo 
heiligen BURN: Nm er * iſt a. — 
glaubbar. Bl 2 


1:15) ‚Der. Tautere, Sinn, der hohe Friede, ber — 
Wandel eines Ehrijten iſt noch dieſe Stunde fuͤr jeden 
aus uns erfahrbar — wer ſich deſſen fähig macht, und 
bie Lehre Sefu. ‚befolget; und wenn ‚wir ihn erfahren has 
ben, für jeden aus ung begengbar, Denn wir find a), 
Menſchen, wie die. erſten Jünger Jeſu, als Menfchen des 
lautern Sinnes, des. höhern Friedens, des heiligen Wan⸗ 
dels empfaͤuglich, wie ſie, und als Menſchen von Gott 
getrennt, des lautern Sinnes, des. höhern Friedens, des 
heiligen Wandels beduͤrftig, wie ſie; b) die Lehre Jefu 
it auch für uns daſſelbe Ferment, ‚Tann. von derſelben 
Hand Gottes im unfer Herz geworfen werden, ift fräftig 
genug, allmälig aud in uns die ganze Maffe des Den— 
tens und Wollens ‚zu durchſaͤuern; diefelbe Wahrheit, kann 
von demfelben Geiſte der Wahrheit auch auf. die Tafel 
unſers Innerſten geſchrieben werden, und uns in einen 
Brief, lesbar im Angeſichte der Kirche, verwandeln. Der 
Glaube, in Liebe wirkſam, muß ©) auch in ung dieſel⸗ 
ben Fruͤchte der ‚göttlichen Gerechtigkeit, des himmliſchen 
Friedens und des ewigen Lebens bringen. Zweimal zwei 
vier. muß auch bei ung vier bleiben. .... 


16) Der göttliche Urfprung diefes Sinneg, Friedens; 
Wandels, ift noch dieſe Stunde fuͤr jeden aus und, der 
ſich deffen fähig und theilhaftig gemacht: hat, a) ver: 
nünftig vermuthbar: Was fo gut und felig’ macht, 
kommt von Gott, dem Alleinguten, dem Alleinfeligen; 
b) vernünftig glaubbar: Die erften Sünger Jeſu 
haben dieſen Urfprung bezeugen können und bezeuget — 
und ihr Zeugniß iſt wirklich glaubbar; c) auf eine 
eigene Weife erfennbar: „Der Vater und gi wers 
den kommen, und uns ihm offenbaren.” 


B7 












alen für Jeden 
„und Muth — bau 
ra zweitens die Wahrheit d 
feinem göttlichen Urfprunge höchjt g 
vernünftig ift die Ueberzeugung, 3 3 
in der Gefchichte des Chriſtenthum forſchenden, und alles 








* At "Dei 


Gute in fich nachbildenden Juͤngers Chriſt nach und nach 






entwickelt: „Die Lehre Jeſu — befolgt, fü uf-in den Men⸗ 
fchen, die fie befofgten, einen laute Sim, einen hohen 
Frieden, einen tadellofen Wandel: fie ift alfo nicht nur 
wohlthätig in ihren Wirkungen und gotteswuͤrdig in ih⸗ 
rem Urſprunge, ſondern wahrha t — in Kraft und 
Urſprung.“ pn 

18) Kurz: bie praftifche fr ig des 6 Chriſtenthums 
koͤnnen wir im ſtrengſten Sinne erfahren, die theoretiſche 
mit aller Vernunft glauben, bis wir fie in der Verklärung 
unfers Innerſten, ald einer Folge der geglaubten und be> 
folgten Lehre, mit neuen Augen werden ſchauen koͤnnen. 


| 19) Alfo will ich die Hanptprobe vonder Wahrheit 

des Chriſtenthums an mir machen. Sch will nach der 
Lehre Jeſu leben, um zu. erfahren, ob fie mich lauter im 
Sinn, feftgegründet im Frieden, heilig im. Wandel mas 
de; ich will nach der Lehre Jeſu leb um inne zu wer⸗ 
den, ob ſie aus Gott ſey. | 








x Bu. 
Beilage zum zweiten Abjchnitt. 


Marcherlei Fingerzeige eines Ungenännten, die mans 
chem jeiner Zeitgenojjen das erfchwerte Glauben an die 
pofitive Seite des Evangeliums auf mancherlei MOOS er⸗ 
leichtern moͤgen. 

Einſt, Nachher, Jetzt. 
Harmonie. 


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— "350 — 


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4 . * 


Nachher, Jetzt. 

— — Ge von dem Lichte, der 
Wärme und der Sr r neuen Prediger Petrus, Jo⸗ 
hannes, „Baulye, . a rchdrungen von der Liebe Got- 
tes, die ihnen in © — konnten nicht umhin, 
mit unendlichem Pi die neue Lehre, als Gottes 


Wort, wie aus dem Munde Chrifti aufzuneh- 
men, von dem Wandel der Jünger auf das 





Beiſpiel zu ſehen, und immer neue Kraft- 


fülle aus dem Geifte Chrifti, durch Gebet und Treue, zu 
holen. Nachher giengen viele ihrer Zöglinge aus dem 
Mittelpunfte immer weiter in die Peripherie heraus, durch. 
grübelten die einzelnen Lehren, wurden gegen das Bei- 
fpiel Falt, und um SKraftfülle unbefüimmert..... 
und fofort zaͤnkiſch in Meinung, heidnifch im Leben, 
arm an Geijteskraft. Dagegen wehrten fich die Befjern, 
und arbeiteten daran, an die Stelle des Zwiſtes Er 
nigfeit, an die Stelle ded altafademifhen neu 
himmlifches Leben, an die Stelle der Geiſtes— 
armuth Öeiftesfülte zu ſetzen. Dieſer Kampf ift 
noch... Was koͤnnen wir, da ſich jetzt jenes Uebel vor 
unſern Augen in der hoͤchſten Potenz offenbaret, was koͤn⸗ 
nen wir anders, als: Gott in Chritus, diefen Inbegriff 
aller Sehrweisheit, feſt anfaffen, die Liebe, als Inbegriff 
alles Guten, mächtig anftreben, und Gebet und Treue, 
Treue und Gebet fir den ficherfien Kanal aller neuen 
Mittheilungen des Göttlichen, und fir das befte Giegel 


— Bd * J 


—_ ab 


des heilſamſten Gebrauches, der mwen, —* * 
Ipägen. machen Ne ‚halten? 


a 


i Hey * iu 


x — * — ” 


* Man hat ehemals Ge Harmonie — den vier 
’ Evangelien gefucht: jetzt fucht man Die ie zwiſchen 
Philoſophie und Evangelium. Ich ſuche ſi ie, nicht En Kr 
dem noch Suchenden empfiehlt ſich dieſer | 


Berfuch, die Harmonie zwiſchen phiſſophie und ka 
lium anzudeuten. 


Sy a 
Te 


Die Vernunft des Menfchen, wenn fie einmal erwacht 
und zum. Leben durchgebrungen ift, kann nicht ruhen, bis 
ſie jedem Seyn das Urſeyn, jedem Leben das Urleben, 
jedem Wahren das Urwahre, jedem Guten das Ur— 
gıtte, jeder Freude das Urfelige Gedem Schönen das 
Urfhöne) aufgefunden hat, und hiemit zum lebendigen 
Bewußtſeyn von Gott, und eben dadurd) zu ihrem vollen 
Selbfibewußtjeyn angelangt iſt. 


IE 


Die Vernunft des Menfchen kann in dem bloßen Ber 
wußtſeyn des Göttlichen feinen Ruhepunkt finden: fie 
muß auch daffelbe Göttliche (das Urbild, das Urfchöne) in 
fih nacyzubilden und an fich Ddarzuftellen ſuchen. Deun 
mit der Vernunft ift dem Menfchen das Vermögen gege 
ben, fich liebend nach dem Urfchönen auszuſtrecken (Ger 

mäth), und die Züge des Urfcönen in fich nachzubilden 
und an fi a darzuftellen (freier Wille). 


x. Il. 


Die Bernunft des Menſchen kann 4 bei allem 
Streben, das Goͤttliche in ſich nachzubilden, und an ſich 
darzuſtellen, keinen Ruhepunkt finden, wenn fie nicht zus 
gleich daſſelbe Urbild (das Urfchöne) in Andern, wie in 
ſich nachzudilden, und an Andern, wie an ſich Darzuftel 


—— 352 — 





fen ftrebet. Dem jedes Exemplar der Menfchheit iſt fuͤr 
jeden Nachbar weiter nichts, als eine Leinwand, auf der 


er das Bild des — ner fe ſoll. 
Biv pr u: 


| Die Bermnfe des Menfhen kann nicht hoffenz in. je- 
ner Nachbildung des Goͤttlichen in fich und in Andern, 
in jener Darſtellung des Goͤttlichen an ſich und an An⸗ 
dern zum Ziele zu kommen, wenn ſich nicht nach der kur⸗ 
zen Linie des Erdenlebens für uns Alle das Thor der 
‚Unfterblichfeit- aufthut, und die Ewigfeit vollendet, was 
die Zeit angefangen hat. Und fo ijt Gott der, Vernunft 
das A und S[2, das A als der Urfprung, und das 2 
als die Vollendung der Dinge. 
* V. 

Die Vernunft kennt alſo nichts Hoͤheres, als Gott 
.), nichts Beſſeres, als das Gottaͤhnlichwerden bis zum 
gleichenden Ebenbilde des Goͤttlichen (II. III), nichts 
Seligeres, As die Vollendung dieſer Gottaͤhnlichkeit im 
kande drůben. EN) 

VI | 

Die Vernunft findet ſich aber aus fich viel zu fchwach, 
die vollendete Erfenntmiß des Höchiten CI.), die vollendete 
Liebe des Beſten (II. TIL), den vollendeten Genuß des 
Seligften IV.) in ſich und in Andern zu Stande. zu 
bringen, um jo mehr, ald ihr die Kunde des menjchlichen 
Geſchlechts und ‚die Kunde des menfchlichen Herzens Spu- 
ren genug aufweifet, Daß die Menfchheit von Gott abge: 
fallen, und in dem Abfalle von Gott um das volle Ber: 
mögen der Ruͤckkehr zu Gott gekommen ift, 


VII. 


Es koͤnnte ihr alſo keine Wohlthat, deren ſie beduͤrf— 
tiger, und die fuͤr ſie wuͤnſchenswuͤrdiger waͤre, zu Theil 
werden, als wenn etwa das erſte, das vollkommenſte Ab- 
bild des Urbildes, der erfte, erfchöpfende Abglanz des Ur: 
lichtes, des Urfchönen, felbft in das Mittel träte, und 


unfere Weisheit, die Erfenntniß Gottes CI.), unfere Hei 
ligfeit, 


*— — 


ligkeit, die Gottaͤhnlichkeit IL TIL, unſere Seligteit, den 
Genuß des Goͤttlichen je ar das große Werk unſerer 
(Wieder) Vereinigung mit Gott zu Shi, und vann 
auch zur Vollendung brächtes ; | 


‚* Bis,hieher würden die Platone, die, Eofrates allendeiten 
* immen muͤſſen ‚und deu Widerſpruch der Ariſtippe uud 
Be ihrer, ‚Konforten würden, fie für eine Berdigung der. Dal Ä 


et De J RE. 28 —— 3 J ag 
> 61 VIII. wa Kain U 3* ——— 


Das Abbild · des Urbifdes, RER 0 
glanz der ewigen Herrlichkeit iſt —— im das Mitel 


Hetreten — durch Ehritusi Da A nd „iu nn ⸗ 
] Hei, > ie ‚iR 
* Die Eine große Thatfjache des Chrifenehume.” ” H 
" IX. er 


Wenn nun — Nummern Kaya Rast de 
Philofophie, und die Nummer ‚VII das M 1888 
Evangeliums in ſich faßten,. ſo waͤre das Ein 9 
zwiſchen Vernunft und Evangelium entſchieden im. i uge 
deffen, ‘dem jenes gewiß, und dieſes glaubwuͤrdig wäre 


r 


Ein — unſers Heons, Bra 


Das Chriſtenthum hat 1) einen vohn »Brüfkäichen Theil: t 
Liebe Gott über Alles, und deinen Nädften 
wie did; 2) einen reinsgöttfihen Theil: Gottes 
Geift wohnet in Gottes Kindern; 5) einen - reits 
hiftorifchen. Theil, der jene beiden in fi faßt: Der Bas 
ter offenbarte fih in und Durch Chriftug, fer 
nen Sohn, und in und durch die Jünger Ehrifti. Da ich 
num das heilige Geſetz, das der erſte ausfprach, erfüllen 
foll; da ich an der Wahrheit des zweiten nicht wohl 
zweifeln kann: fo wird mir die Glaubwürdigkeit des 
‚dritten in den Maße einleuchtender werden müffen, in 
welchem ic; mehr Treue im eriten beweifen, uud mehr 
Erfahrungen im zweiten machen werde, Wohl mir, daß 
ic) im erften Kicht, im. zweiten Flamme, und im brit 
ten die Quelle von beiden gefunden habe! 

J. M. v. Saifer’s ſämmtl. Schriften. VIII. Bd. Zte Aufl. 23 


a. 


A Im Geiſte Zauler s. PR 


Sc) — einfaͤltig mit den heiligen . Apofteln, die 
Gnade des Vaters und des Herrn Chriſti zuſammen, und. 
finde mich felig dabei — — laffe darneben einige aus 
den Altgläubigen das Geheimniß erklären, wie fie wollen, 
und einige aus den Neugläubigen wegwerfen, was fie 
nicht erflären Finnen — ich aber erfläre nicht mit Jenen, 
und werfe nicht weg mit diefen... Die Ewigfeit wird 
mich auch deßhalb nicht tadeln — und nad) dem 2 
der Zeit frage ich. nichts. 


Nathanaels Selbfigefpräch., 


1. Was Gefus war und’ ward, Iehrte und that, litt 
und genoß, empfieng und gab, ift das Borbild mei: 
ned Seyns und Werdeng, Lehrens und Thuns, 
Leidens und Genießens, Empfangens und 
Gebens, ſo göttlich erhaben und ſo voll RE, 

“Daß es einzig. bleibt. 

IL Dieß Einzige, Goͤttlich⸗ erhabene und Kraftvolle will 

— ich in mir wirkſam werden, ſeyn und bleiben laſ— 
fen — bis das Nachbild dem Vorbilde aͤhnlich ſeyn 
wird. 

II. Damm werde ich wohl auch den Zufammenhang 
defjen, was für mich im Vorbilde zugänglich ift, mit 
dem, was in ihm unzugänglich if, mit dent Goͤtt⸗ 
lichen, je laͤnger je deutlicher einfehen Lernen. 

IV. Big dahin glaube. ich ‚willig an den Zufammen- 
hang, wie Johannes, Paulus, Petrus auch an ihn 
glaubten. 


Mit dieſer — 9— mit dieſer Entfcließung, 
mit diefer Erwartung und mit diefen Glauben werde 
ich mich vor Gott und vor jedem Blicke, in: dem Fein 


Falſch iſt ſehen jan dürfen. 


> Keine Klage. 


Ge mehr. das Lebendige Chriftenthum in der Anebe⸗ 
nung abnimmt — ſchwindet, deſto ſchlimmer hat es der 


— 309 


fbergebliebene wahre Ehrift. Denn er hat Niemand fiir 

fih. Dem Ungläubigen ift er ein H euchler, dem Fromme 

ler ein Ketzer, dem, Gelehrten ein Dummfopf, dem 

Profanen ein Sauertopf, dem Zeitweifen ein Schw ar Is 
mer, dem Zhiermenfchen — ein Narr. 


Aber, wenn die Wahrheit ihm zwifchen vier Augen 
die Hand druckt, und mit dem Blicke in die Seele fpricht: 
„Ich halte es mit dir,“ ſo iſt er ſelig in ſeinem Alleinſeyn, 
und iſt nie allein — weil die Wahrheit ſeine Een 
feine Freundin, fein Alles it. “ 


x Noch eine — 


Jemand, von feiner Zeit, bethoͤrt, ward mit vielen 
Zweifeln umlagert, ob das Pofitive Des Evangeliums ſo 
wahr ſey, wie dag Moraliſch-religioöͤſe. . Er 
fämpfte lange, endlich erfchien ihm die Wahrheit, ‚und 
ſprach: ‚sieben! Heil dir, denn bu liebſt die Wahrheit; 


min höre: In deinem Moralifchereligidfen oder 


Religioͤs— moralifhen — glaubſt du eigentlich doch 


nur dir, das iſt, deiner Vernunft, und deiner Erfah 
rung, wenn du es dem Evangelium glaube. Im Por 
fitiven haft du das Entweder, Oder. Entweder Fannft 
und willſt du ven heiligſten Menſchen glauben, die dein 
Moralifch zreligiöfes auf eine ausgezeichnete Weiſe in ſich 


getragen und an ſich dargeſtellt, und dabei bezeugt haben, 


ſie ſeyen durch die Kraft des Poſitiven ſo reine, gute 
Weſen geworden, als fie wirklich waren: oder du mußt 
deinen unglaͤubigen Zeitgenoſſen glauben, deren viele von 
dent Neligiög-morglifchen wenig oder nichts in ſich tra- 


gen, wenig oder nichts am ſich darftellen, alfo nicht aus 
eigener Erfahrung, aus inniger Anfchanung ſprechen Föns 


nen, und das Poſitive weder felbit aus vollendeter Pruͤ— 


fung fennen, noch Andern, die. geprüft und erfahren haben, 


glauben wollen. Denn hätten fie die Prüfung vollendet: 
fo wirden fie das vorfchnelle „Lautwerdenlaſſen“ deffen, 
was fie nicht * und durch verſtehen, ſich nicht er⸗ 
lauben“ 

———— 


% 


— 56 — 


Selbſttaͤuſchung. 


Der ‚Blendfchein der falfchen Weisheit taͤuſchet unfere 
beiten Köpfe, daß fie Chriſtum verfennen, und ihr Arms 
liches Kopfgemächte zum Heilande der Welt kreiren. O, 
die armen Schöpfer des noch Ärmern Heilandes! Was 
bereiten fie ſich für reiche Thränen » ernten Durch diefe 
Ausfaaten von —— 


* ‚Da fi Hefte Weg. 


Allerdings offenbaret fich der Geiſt der Lehren Sefu 
durch ihren Zufammenhang mit den Bedirfniffen des Mens 
ſchen nach Wahrheit, Tugend und Seligkeit, der Vernunft, 
und, durch die wirkliche Erleuchtung, Reinigung und Be— 
ſeligung des“ Menſchen, dem Herzen deſſelben. 


Sobald ſich aber der Verſtand in den Erklaͤrungsweg 
hinein, und das Herz aus dem Erfahrungsweg herauss 
werfen laͤßt, fo hat Verſtand und Herz den Glaubens— 
‚weg verlafjen, und es wird der Buchſtabe tödtend, indem 
man den Sinn kreuziget und den Geijt betrübet. Und 
dieß zeigte ſich in der Gefchichte der Kirche faft zu allen 
Zeiten. 


Es bleibt uns alſo nichts anders uͤbrig, als den En 
Härungsweg dem Streite der ſtreitruͤſtigen Menfchen zu 
überlafjen, und ung gewiffenhaft am den Glaubens, und 
Srfahrungsweg zu halten. Da ift Heil! Wenn wir. glaus 
ben, fo fönnen wir erfahren, und wenn wir erfahren has 
ben, fo koͤnnen wir wieder mit neuem Muthe glanben. 
Und Glauben und Erfahrung bringen ung zum, Berjtehen 
des Geglaubten und Erfahrnen. Aber dieſes . Berftehen 
ift noch nicht das Schauen ſelbſt. Deßhalb führt ung ‚Die 
Hand Gottes aus dem Glauben, aus dem Erfahren. und 
aus dem Berftehen immer weiter und weiter im das Claus 
‚ ben, Erfahren, Verſtehen hinein, bis dieſe ganze Glau— 
‚benss Periode geendet, und. die Schauens - Ewigkeit für 
und angebrochen feyn wird — jener Tag ohne Nacht! 


Mir ſelbſt gelaffen, bin ich ein Fuͤnkchen aus der 
Geiſterſonne, ſchwebend uͤber Abgruͤnden von Finſterniß, — 


* 


— 557 — 


und: ehe ich, mir's verſehe, gelingt e8 der. Finfterniß, das 
Fuͤnkchen, nicht: zu toͤdten denn. es: iſt aus Gott, untoͤdt⸗ 
bar wie Gott), aber zu begraben, als wenn es todt waͤre. 
So iſt es mit meiner Erkenntniß. Mir ſelbſt gelaſſen, 
bin ich ein Flaͤmmchen aus dem großen Feuerherde, kaͤm⸗ 
pfend wider die Suͤnde und wider das Ungeheuer der 
Eigenliebe. Aber ehe ich mir's verſehe, hat die Eigenliebe 
gefiegt, und Die — Liebe zu Gott und den Mens 
schen — iſt — wie dahin. Mir ſelbſt gelaffen, bin ich 

ein ſchwaches Rohr, mit, dem Bilde der Allmacht geziert. 
Aber, ehe ich mir's verſehe, hat der Wind das Movsrohr 
wiebergeweht, und Das Bild der Allmacht in Suͤmpfe ges 
taucht. ©» iſt es mit meiner Liebe und meinen Werfen. 
Wenn ich mic alfo vor Gottes Auge erforfche, ſo finde ich 
faft nichts als Finſterniß, die das Fünfchen, nichts als Sünde, 
die das Flänmchen, nichts als Tod, der mein ganzes That 
vermögen zu Grabe begleitet. Laſſen wir uns alſo da⸗ 
durch nicht irre machen, daß wir in uns das Loos der 
jetzigen Menſchheit finden. Keiner, der redlich fucht und 
richtig findet, fann in fich etwas anders finden. ‚Aber, 
was wir in ar nicht finden, das finden wir in Chriftug, 
und Durch 1 ihn in dem Vater — finden Licht zur Bes 
ſiegung der — Liebe zur Beſiegung der Suͤnde, 
Leben zur Beſiegung des Todes; — und hier bin ich wies 
der ‘bei jenem großen Yusfpruce: von Licht, durch. Licht, 
Dr Licht, Das heißt: | 


LI Bon dem Lichte des. Glaubens zum che De 


Liebens; 
"II. von dem Fichte des Glaubens und des Liebeng zum 
Ri Lichte des Verſtehens; 
hr von dem Lichte des. Glaubens, des- Liebens und 
des — zum Lichte des Schauens. 


Der Aberglaube der Roͤmer. 


Seneka in libro contra superstitiones. 

‚Bon, diefem verloren gegangenen Buche hat und Anz 
guſtin mehrere Stellen aufbewahrt. CLib. IV. de civi- 
tate Dei cap. X.). „Hier eine einzige: | 


— 5598 — 


Bon dem Aberglauben der Roͤmer: Si cui intueri 
vacat, quae faciunt, ‘quaeque patiuntur, inveniet 
tam indecora honestis, tam indigna liberis, tam . 
dissimilia sanis, ut nemo fuerit dubitaturus, furere 
eos, si cum paueioribus furerent.. Nunc sanita- 
tis patrocinium insanientium turba est. 


ner fich Zeit nahme, zu beobachten alles das, was 
fie thun und leiden, der würde finden fo viel Entehrens 
des für Ehrliebende, fo viel Unwuͤrdiges für Freie, fo viel 
Unfinniges für Gefunddenfende, daß Niemand fich erweh- 
ren würde, zu behaupten, fie wären rafend geworden — 
wenn fie nur mit Wenigen rafeten. Nun ift die Menge 
der Verruͤckten der ſchuͤtzende Beweis, daß fie es nicht find,” 


Würden wir die häßlichen Geftalten des Aberglau— 
bend, die auf der vor=chriftlichen und außer» chriftlichen . 
Welt umherzogen, .beffer fennen, fo wirde ung die fchöne 
Geſtalt des apoftolifchen Glaubens, der mit einem Fuße 
den Aberglauben, und mit dem andern den Unglauben 
zertrat, in ihrer himmlischen Macht helfer einleuchten koͤnnen. 


Hinblick auf meine Zeit. 


Man hat in-unfern Tagen auch der Religion zwei 
Pole und emen Gndifferenzpunft gegeben; auf 
dem Pole der Realität ließ man die Religion als Natur 
religion in der - Form des Heidenthums, auf dem Pole 
der Sdealität als. hiftorifche Religion in der Form des 
Ehriftenthbums hervortreten — im Indifferenzpunfte das 
Heidenthum und Chriftenthum ſich in eine abfolute Re⸗ 
ligion, die erſt kommen follte, verlieren. | 
Diefe Darftellung ift mehr biendend als richtig, und 
für den Kenner des Chriftenthums nicht einmal blendend. 
Denn das Chriftenthum faßt die Naturreligion, die hifto- 
rifche Religion und die abfolute Religion in fih. Die 
Naturreligion, in fofern e8 das Göttliche im Na- 
türlichen wahrnehmen; die hiftorifhe Religion, 
in fofern es den Vater im Sohne erfennen und verehrten; 
die abfolute Religion, indem es uns Gott als das 
Eine in Allem anerkennen, und im Geifte und in Wahr 





rin Sk: 


“4 


heit: anbeten, und Eins mit Kar in en Liebe wer⸗ = 


Beilage aus — —— Philo ſopbie der ———— | 


Zweiter Band, ©. 8. 


„Das Geheimniß der göttlichen Erlöfung des Dee 
tes aber geht über die Sphäre der Gefchichte und hiftorifchen Nach: 
weifung hinaus. Auch die chriftliche Gefhichte, oder Philofophie 

‚der Gefchichte, wird es zwar ſtillſchweigend vorausferen, und als 
bekannt, und fich unter den Gleichgefinnten von felbft verſtehend, 
annehmen, auch im innern Gedanken dieſes Glaubens fehr Vieles, 
das Meifte, faft Alles in den hiftorifchen Erfcheinungen und Thats 
fachen darauf besiehen; jenes Geheimniß felbft aber kann fie nicht 
mit in ihren Umkreis hineinziehen, fondern es muß diefes Heilig: 
thum ganz der Religion überlaffen bleiben. Eben fo wie es auch 
jederzeit nur eine nachtheilige Wirkung haben Fan, wenn Die 
Philvfophie daffelbe ihren miffenfchaftlihen Denkſyſtem einvers 
leiben, oder darin einreihen will; denn indem fie dafjelbe eben 
dadurch ſchon zu erElären verfucht, und gleichſam deduziren möchte, 
hört das Geheimniß der Erlöfung nun auf, ein-göttliches Faktum 
zu feyn, da es doc) nur als ein folches Religion, und die vollftäns 
dige ewige Grundlage derfeiben ift und feyn kann. Nur eine 
Meinung muß ich hier ganz ausdrücklich entfernt zu halten wuͤn⸗ 


ſchen, weil fie durchaus unhiftorifch, und auch für das Ganze mer 
fentlich förend if. Sich weiß fie in der charakterifchen Kürze nicht ' 


fehneller und treffender zu bezeichnen, als daß fie darin befteht, 
Ehriftus fey, um es mit Einem. Worte zu fagen, ein jüdifcher 
Sokrates geweſen, und es habe alfo der Erhabenfte und Edelſte 
unter allen reinen Sittenlehrern, nach der ganz natürlich zu neh⸗ 
menden und zu verfteheuden Gefhichte, denfeiben für die Menfchz 
heit nicht minder beflagenswerthen Ausgang gehabt, der auch jes 
nen athenienfifchen Bhilofophen und Weifeften aller Griechen bes 


troffen hat. Hierauf laͤßt ſich nur das Eine -erwiederns wenn 


Ehriftus nicht mehr gemwefen ift als diefes, ſo war Er dann auch 
nicht einmal diefes. Aber nicht bloß deßwegen ift diefe Meinung 
eine unhiſtoriſche, oder vielmehr antihiforifche zu nennen, weil ſie 
mit allen Verheißungen, Zeugniffen, eigen Ausfprüchen, Berichz 
ten fo ganz in dem fchneidendften Widerfpruche ſteht; fondern eben 
fo fehr und noch weit mehr deßwegen, weil, wenn diefer göttliche 
Mittelpunkt aus der Weltgefchichte weggenommen wird, alsdann 


— 360 — 


aller hiſtoriſche Zuſammenhang in derſelben verloren geht, der al⸗ 
lein auf dieſer neuen Gotteskraft im Wendepunkt der Zeiten, und 
bis an's Ende bleibenden Gottes⸗Hoffnung beruht. Denn wie 
wohl ich dieſe felbft uachzuweiſen, und entwickelud zu begründen, 
außer diefer gefchichtlichen Sphäre ‚liegend finde: fo beruht doch 
in diefer Vorausſetzung, und in dieſem Glauben das Fundament 
und der Schlüfel des Gasen: ohne welchen die ganze Welt: 
gefchichte Nichts feyn „würde, als ein Raͤthſel ohne Löfung, ein 
Labyrinth ohne Ausgang, ein großer Schutthaufen aus den eins 
zelnen Trümmern, Steinen und Bruchftücen von. dem nun uns 
vollendet gebliebenen Bau, aus der großen Tragödie der Menſch⸗ 
heit, die alsdann gar Fein Refultat haben würde.“ 





Prem. 100. 


Zweiunddreißigfte Borlefung. 





Dritter Abſchntt des zweiten Theiles. 


Die Fun da mentalle hre des tatholiſhen Ei 
— J9 


2— 


88.4 


„as fih ale Be Shrifti, als Gottes ort ı an ie 
Menfchen durch den Charakter der Katholicität 
ankuͤndet, ift als Lehre Chrifti, als Gottes Wort an die 
Menfchen anufeen. 


* Gewiſſenhaft unterfcheide ich hierin, was als Thatſache 
nicht widerfprochen, oder in Thatfachen leicht nachgewie⸗ 
fen werden Fann, von dem, was nur durch tiefere Unters 
fuchungen entfchieven werden kann: jenes lege ich dem 
Zwecke meines Amtes gemäß meinen Zuhörern dar, dieſes 
laffe ich dem eigentlichen forum der Theologen sur nähern 


Beſtimmung über. Um aber Die mwefentliche Lehre diefeg > 


Abfchnittes verfändlicher zu machen, fcheide ich fie im Vor⸗ 


trage von ihren ausführlichen hiftorifchen Belegen, und 


laffe jene in kurzen Sägen vorausgehen, und vom dieſen 
Einiges in genauen Neberfegungen nachfolgen. 


** Was unmittelbar von Gott ausgeht, und zum Heile der 
Menfchheit beftimme ift, muß nothwendig den Charakter 
der Allgemeinheit haben; und nur was von Gott ausgeht, 
oder was göttlichen Urſprungs und. göttlicher Art if, kann 
im firengen Sinn des Wortes den Charakter der Allgemeius 
heit haben. Es geht aljo aus der unmittelbaren Offenba; 
rung Gottes fo nothwendig die Katholieität hervor, als aus 
der letztern auf den unmittelbar göttlichen Urfprung einer 
Dffenbarung un wird. 


ie DER 


A. 
Ihatfachen mit leichten, unverwicelten Schlüffen, die 
die genannte Fundamentallehre außer Zweifel ſe⸗ 


gen. | 
Erfte Thatfadhe, 
die allgemein anerkannt if, und von jeher ohne Wis 


derſpruch anerkannt war. Die Kirche Chriſti iſt in ihren 
erſten Gemeinden gegruͤndet worden 


a) nicht durch die Schriften des N. T.; fie iſt ge 
gründet worden 


b) I ange Zeit, ehe die Schriften eriftirten; ſie if 
gegründet worden 


c) noch viel länger, ehe fie gefammelt worben; 
fie ift gegründet worden Ä 


dh durch die mündliche Predigt, durch die Kern 
Zradition der Apoftel. 


.* Diefe. hiftorifch unbeftreitbare Wahrheit ſtellt ausführlicher 
dar Johann Adam Möhler in feinem geiftreichen Werke: 
„Die Einheit in der Kirche, oder das Prinzip des Katholizis⸗ 
mus’ ꝛc. (Tübingen bei Heinrich Laupp. 1825.) „Die Apos 

ſtel verfündeten, was fie von. dem Herrn in lebendiger 
Rede erhalten hatten, von Einem Geifte befeelt, in leben: 
diger Rede an allen Orten wieder. Wo eine Gemeinde ge: 
gruͤndet wurde, hatten fie dieſelbe £chre niedergelegt, und 
zwar vermittels deffelben heiligen Geiſtes, weil ohne diefen 

die Stiftung einer chriftlichen Kirche nicht möglich ift. So 
mußte denn im der gefammten Kirche nach ihrer ganzen 
Ausdehnung eine und diefelbe Lehre ertönen, als Ausdruck 

des einen Innern religioͤſen Lebens, gleichfam als die An: 
fprache eines umd deffelben Geiftes. So gieng es, nachdem 

die Apoftel die jugendlichen ‚Gemeinden vertaffen. hatten, 
fort; fie zwar Fonnten diefen entzogen werden, aber nicht 

der Geift, der auch ihren Schülern verheißen und gegeben 
Wwar. Lehrer, gleichfam ihre Fortfeßung und Drgane Deffels 
—ben Geiſtes, hatten fie in jeder Kirche aufgefellt, die mit 
Tkeeue wieder zu geben im Stande waren, was ihnen aus; 
- vertraut wurde. II Timoth. 1, 123—14. 2, ı—2. vergl. 


= 365 — 


Tit. x, 5. So wurde denn in erſter und zweiter Reihe u, 
ff. die hrifiliche Lehrerin lebendigem Worte fortgepflanst, 
als allenthalben diefelbe; die Kirchen, die aus einer apoſto⸗ 
lifchen entftanden, waren der treue Abdruck dieſer felbft, 
‘als der gemeinfamen Mutter. So fagt Tertullian: ‚Zur 
erfi begeugten die Apoftel in Judaͤg den Glauben an Jeſus 
Chriſtus, gründeten Kirchen und veisten dann in die ganze 
Welt: diefelbe Lehre deffelben Glaubens verfündeten fie 

den Voͤlkern. Kitchen fifteten fie fofort in jeglicher Stadt; 
von dieſen entlehnten hierauf die übrigen Kirchen den Abs 
leger des Glaubens und den Samen der Lehre, und ent 
lehnen ihn täglich, damit fie Kirchen mwerden. Dadurch 
werden fie ſelbſt apoftolifche Kirchen, weil fie deren Erzeug⸗ 
niß find. Ein jedeg Wefen irgend einer Art muß mach feis 
nem Urfprunge beurtheilt werden; es find daher dieſe fo 
vielen und fo großen Kirchen eine: jene erſte, von den Apo⸗ 
ſteln gegründet, nämlich, aus welcher alle ſtammen. Sy 
find alle die erften (die urfprüngliche) und alle ayoftolifch, 
indem. fie Eine find; alle beurkunden die Einheit.“ Daher 
Fonnte fich Irenaͤus alfo ausdruͤcken: „Dieſe Predigt, diefe 
gehre, welche die Kirche, wie wir fagten, empfangen hat, 
„bewahrt fie mit Sorgfalt, obfchon in der ganzen Welt zer⸗ 
fireut, wie wenn fie Ein Haus bewohnte. Sie glaubt ihr, 
wie wenn fie eine Seele,und ein Herz, übereinftimmend 
predigt, lehrt und überliefert fie, wie wenn fie einen Mund 
hätte. Der Sprachen zwar in der Welt find viele, aber 
„die Kraft der. Ueberlieferung iſt nur eine und dieſelbe.“ 


Die Apoſtel ftanden als Iebendige Zeugen da, # e fas 
men, forachen, fiegten — ihr lebendiges Wort pflanzte 
den Garten Gottes. Die ganze Apoſtelgeſchichte be⸗ 
zeugt dieſe Thatſache. Und, wenn ein Kaͤmmerer im 
faias liest, fo tritt gleich ein Evangeliſt zu feinem Was 
gen, und das lebendige Wort des Apoftels dolmetfchet das 
todte des Propheten. : Der Lefer war, ift Hörer gewor: 
den, Er hört, glaubt, befennt — wird getauft, ift Chriſt. 


Deshalb ift es auch ein Ariom des neuen göttlichen 
Reiches: fides ex auditu, der Glaube fommt vom 
Hören Deßhalb fandte Jeſus Feine zwoͤlf Schreib: 
federn in die Welt — er fandte zwölf Tebendige 


— 3564 — 


Zungen in die Welt, die, von feinem Geifte bewegt, 
jeine Worte — Sie ſprachen, und die Welt 
glaubte. 


1) Der NR, t des apoflolifihen Chriſtenthums iſt 
alſo der Inhalt der lebendigen Predigt, der lebendigen 
Tradition, und das Faktum dieſer Predigt war das Bet 
tum der Gruͤndung der Kirche, 


Hieher das Wort eines Apoſtels: ‚er ben Kamen 
des Herrn anruft, wird. felig werden. Wie, follten fie 
aber den anrufen, an den fie nicht. glauben? Wie ſoll⸗ 
ten ſie aber glauben an den, von dem ſie nichts gehoͤrt 
haben? Wie ſollten ſie aber hoͤren ohne Predigt? Wie 
ſollten ſie ‚aber predigen, wenn: ſie nicht geſendet wers 
den?“ (Roͤm. X,.13 — 15.).und ‚vor, allem der Schluß: 
„So kommt der Glaube von dem Hoͤren, das 
Hoͤren aber von dem Worte Chriſti ‚das die 
Apoftel ausgeſprochen.)“ 


tb Zweite Thbatfade. | 
Nach dem Tode. der Apoftel war das Depositum , 
fidei apostolicae (das nämlich, was in den apoftoli- 
ſchen Gemeinden bewahrt wurde, was den Inbegriff des 
lebendigen apoſtoliſchen Glaubensbekenntniſſes ausmachte, 
der in den aͤlteſten Symbolen zuſammengefaßt und auf⸗ 
behalten ward), die Norma fidei, die Regula fidei, 
der Canon veritatis, wie e Die fehrer der Kirche nann— 
ten, and unter dieſen Jrenaͤus, Tertullianus, Au⸗ 
————— Chryſoſtomus. 


Dritte Shatfade. 


Diefer —Jv Glaube hieß denn auch der Fa: 
tholifche, in fofern alle apoftolifche Gemeinden in dem 
Weſen des Glaubensbekenntniſſes uͤbereinſtimmten, und 
dieſes Uebereinſtimmen Aller in Einem den Grund, 
der Allgemeinheit ausmachte. 


2) Die Regula fidei Allieas war alſo der In⸗ 
begriff des apoftolifchen Glaubensbekenntniſſes, der im 


— 3 — 


Schooße der apoſtoliſchen Gemeinden —— und in 
demſelben —““ worden. 


3) Die Eine ganze,aud allen anoftortfchen Gemein⸗ 
den beſtehende Kirche Chriſti ward alſo, nicht ohne Grund, 
als Custos fidei catholicae, als Siegelbewahrerin des 
Fatholifchen Glaubens angefehen, und dieß ihr entſchie— 
denes Anfehen beitand darin, daß fie Magistra fidei ca- 
tholicae, Lehrerin Des fatholifchen Glaubens war, und 
in fofern fie Custos fidei apostolicae war, hieß fie 
von Nechtöwegen, Eeclesia ——— die katholiſche 
Kirche. 


4) Das Glaubensprinzip der a heiten. waren 
alſo D nicht die Schriften des neuen Teftamentes. Denn 
erſtens: die chritlichen Gemeinden nahmen die Schriften 
des neuen Teflaments nur deßhalb ad wahr und als 
göttlich an, weil fie mit der lebendigen Predigt‘ der 
Apoftel und mit dem ganzen apoftolifchen Glaubensbe— 
fenntniffe als der. Regula fidei uͤbereinſtimmten; weil 
fie die Apo tel, dieſe febehdigen Prediger, zu Berfaffern, 
oder von den Apofteln, diefen Tebendigen Predigern, Ges 
nehmigung empfangen hatten. Zweitens: Die apoſto— 
fischen: Gemeinden waren früher, als die Schriften des 
N. Tr ‚gefchrieben, und lange vorher, che fie gejammelt 
wurden. . Drittens: der Buchitabe der. heil, Schrift , 
iſt ja auch Buchſtabe, und ein ſtummer Buchſtabe; als 
Buchſtabe iſt er faͤhig, Zweifel und Streit zu erregen; 
als; ſtumm it er unfähig, Zweifel und Streit. zu entfchei- 
den. Biertens: an die Stelle des lebendigen Wortes 
der Apoſtel trat das lebendige Wort der Kirchenworfteher, 
das, den Apofteln nachfprechend, offenbar die Kraft des 
apoftofifchen Wortes haben mußte, und wirklich hatte 


Daher, um aus Vielem nur Eines zu nennen, Die 
ſtarken Ausdruͤcke, z. B. des OHREN, nn in ſei⸗ 
nen Briefen: 


Ich ermahne die Biſchoͤfe, bie: Gottes Stelle vers 
treten, und die. Presbyter, Die den Senat! der — 
repraͤſentiren.“ 


— 500 — 


„Alle ehren den Bischof als das Bild des Vaters, 
die Presbyter, als den Rath Gotted. Wenn du dieſe 
hinweguimmft, fo it feine Kirche mehr.‘ „Öehorchet dem 
Bifchofe, wie Jeſus Chriſtus ſeinem Vater.“ 


„Niemand maße ſich an, etwas, das der Kirche 
ift, ohne Einftimmung des Bifchofes zu thun.“ 


„Bo der Bifchof erfiheint, da fammelt fi PA auch bie 
Menge; wie wo Jeſus Chriftus iſt, auch die — 
Kirche: iſt.“ 

Hi Bierte Shatfade 


Indeß, wenn ſchon die Schriften des N. T. ich 
das eigentliche Glaubensprinzip der erften Chriiten waren, 
noch ſeyn fonnten: fo ‚wurden. fie Doch der Kirche, in 
dem Maße, ald fie befannt, ausgebreitet, gefams 
melt, vorgelefen, ausgelegt worden find, die Als 
teten gefchriebenen Belege: des. muͤndlich verbreiteten: apo— 
ftolifchen Glaubensbekenntniſſes. Man ſah fie an als 
den Kryftall, in dem ſich das fließende Wort der Apoftel 
firirt hätte u... der aber. durch das Tebendige Wort der 
Kirche wieder fließend gemacht: werden müßte, um bie 
Herzen der Bölfer zu tränfen. 


WEN geitellt, fteht die ‚heilige Shrife am 
rechten Orte, und im diefer Stellung hat fie ihren ei— 
genen Werth, ihr eigenes Licht Sie ift das 
gefchriebene Zeugnig — dem erſtens das leben— 
dige der Apoſtel vorangieng, und dem zweitens das 
nachfolgende Tebendige Wort der Kirche — — 
Sinn giebt und geben 


5) Das Glaubensprinzip der erſten Chriſten war 
ſchon gar nicht und konnte nicht ſeyn die raͤſonnirende 
Kraft der Menſchen, man mag. fie Verſtand oder Ver— 
nunft, oder wie immer nennen. Denn die räfonnirende 
Kraft des Menfchen Fonnte aus fich ſelbſt nicht ausmit- 
ten, was Chriftus als Wort Gotted den Apoiteln ge⸗ 
offenbaret, und was die Apoſtel als Wort Chriſti im 
Schooße der erſten Gemeinden, die durch ihre Predigten 
gegründet worden find, niedergelegt hatten. So wenig 


— * 


die erſten Chriſten aus ihrem bloßen Raͤſonnirvermoͤgen 
vorausſehen konnten, was in der letzten politiſchen Revo— 
Intion im und durch Frankreich gefchehen werde; fo 
wenig fonnten fie durch ihr bloßes Näfonnirvermögen 
ausmitteln, was Ghriftus als Wort Gottes, und ie 
Junger als Wort Chriſti ausgefprochen hatten. Den In⸗ 
halt ihres Glaubens Fonnten und mußten fie nur aus 
der offen daliegenden Regula fidei nehmen, obgleich 
dieſe Annahme der Regula fidei felber vernünftig war, 
und che fie angenommen wurde, wie. bei jeder vernuͤnf— 
tigen Handlung, vernünftige Veberlegung, vers 
nuͤnftige Prüfung vorhergehen mußte. 


6) Das Glaubensprinzip der erſtern — war 
alſo IID) dieſes: 


„Was von allen apoſtoliſchen Gemtladen ats Wort 
Chriſti, als Wort Gottes wirklich angenommen, und als 
ſolches yon denſelben aufbewahret worden, und dieſer all- 
gemeinen Annahme und Bewahrung wegen Katholifch 
heißt, ift auch von mir als das Wort Gottes anzunehs 
men. Was als Lehre. des Glaubens den Charakter der 
Katholicität, der Uebereinjtimmung mit Den Bekenntniſſen 
aller apoſtoliſchen Gemeinden hat, das iſt auch mein Glau⸗ 
be, iſt auch mein Glaubensbekenntniß. M 


x. Beilage zur vierten Ehatfade. 


Herr Möhler entwicelt in feinem oben angeführten Werke 
(Prinzip des Katholisismus, Seite 56— 61.) das Verhältnig der 
Tradition zu der heiligen Schrift und beider sur Kirche, ſo wahr 
als ſinnreich in folgenden Momenten: 

ı) Die Tradition iſt der durch alle Zeiten hindurch laufende, 
im jedem Augenblick Lebendige, aber zugleich fich verförpernde 
Ausdruck des die Geſammtheit der Gläubigen belebenden, hei⸗ 
ligen Geiftes. 

2) Die Schrift ift der verkoͤrpernde Ausdruck deſſelben heili⸗ 
gen Geiſtes im Beginne des Chriſtenthums durch die beſonders 
begnadeten Apoſtel. Die Schrift iſt in ſofern das erſte Glied in 
der geſchriebenen Tradition. 

3) Da die Schrift aus der febendigen Tradition gefchöpft 
wurde, nicht diefe aus jener, fo kann aus jener nicht bewieſen 


— 3068. — 


merden, daß in dieſer nichts enthalten ſeyn dürfe, was nicht 
in ihr enthalten ſey. Die Schrift telbft jagt. das 0 


(Sob. 20, 30. 31. 21, 24. 25.) Eben ſo wenig kann mit ug bes 


bauptet werden, daß die Apoſtel nicht Manches weit beſtimmter 
muͤndlich noch in den Gemeinden predigten und FREIHEIT als wir 
es in ihren Briefen finden. 

4) Wenn gefagt wird, die Schrift. allein fey fuͤr den 
genug, fo iſt man berechtigt nach dem Sinn dieſer Behauptung 
iu fragen. Die Schrift allein, und abgejehen von unſerer Auf⸗ 
faſſung, iſt gar nichts, iſt ein todter Buchſtabe; erſt das Produkt, 
welches durch Beziehung unferer Geiftesthätigkeiten auf 'die 
Schrift zum Vorſchein kommt, ift etwas. In dieſer Beziehung 
muß nun behauptet werden, die Tradition ſey in ihrer zweifachen 
oben angegebenen (jedoch im Grunde derſelben) Bedeutung noth— 
wendig. Nimmt man ſie als das lebendige, eben in der Kirche 
verkuͤndete Evangelium mit allem, was zu feiner Verkuͤndung ges 
hört, was Irenaͤus auch die kirchliche Erziehung nennt, fo verſte⸗ 
hen wir ohne fie, die heilige Schrift, fo wenig, als fie ohne jene 
den Gläubigen gegeben wurde; unſere Geiftesthärigfeit muß alfo - 
durchdrungen ſeyn von dem chriftlichen Geifte, wenn aus ihrer 
Beziehung: auf die Schrift ein chriftliches Produkt zu Tage gefoͤr— 
dert werden fol. — Wäre aber das zu jeder Zeit verfündere Ic 
bendige Evangelium nicht jedesmal auch ein gefchriebenes gewor⸗ 
den; hätte fich alſo die Tradition micht auch zugleich verkörpert, 
fo wäre Fein hiſtoriſches Bewußtſeyn möglich, wir lebten im «eis 
nem traumartigen Zuſtand, ohne zu wiffen, wie wir geworden 
find, ja felbft auch ohne zu wiffen, was wir find und fern follen. 
Weil die Kirche und die einzelnen ihrer Glieder die Identitaͤt ih: 
res ehriftlichen Bewußtſeyns mit dem aller Zeiten nicht nachwei⸗ 
fen Fönnten, Eänte uns das unfrige felbft zweifelhaft vor, wir haͤt⸗ 
sen Feine Gewißheit, ob es das chriftliche wäre, wir ſtuͤnden ab⸗ 
geriffen da, und eben deßwegen haltlos. Ja es gäbe eben darum 
Eeine Kirche, denn dieſer iſt wie die Einheit des Innern Lebens, 
fo auch die Stetigfeit des Bewußtſeyns dieſer Einheit bei allen 
wechfeinden Zufiduden ihrer Eriften; ſchlechthin nothwendig, was 
ſie als eine moraliſche Perſon durch ihr Gedaͤchtniß, (ſo moͤgen 
wir auch die verkoͤrperte Tradition nennen) muß erweiſen koͤnnen. 
Indem aber durch die Tradition nachgewieſen werden kann, wie 
der chriſtliche Geiſt zu allen Zeiten ſich ausgeſprochen hat, 
und daß er immer als derſelbe ſich ausgeſprochen hat, ſo wird es 
zuverläffig, welches die rechte Auffaſſung der chriſtlichen Lehre 

ſey, 


— 369 — 


fen, nämlich die allzeit geweſene. Wäre auch diefe nicht richtig, 
ſo verzweifelten. die Chriften mit. Recht, je su erfahren, was dag 
Chriſtenthum ſey; fie verzweifelten mit Recht, ob e8 einen heiliz 
gen, die Kirche erfüllenden, ob es überhaupt einen chriftlichen. 
Geif, und ein. beftimmtes- chrittliches Bewußtfenn gebe. Wie 
denn auch diejenigen, welche die Tradition vermwarfen, in einen 
folchen Zuftande, wie wir. fehen werden, fich befanden, und dort 
von einem objektiven, ‚Eirchlichen. Shriftenthum nicht die Nede 
ſeyn konnte, Wie alfp die Schüler der Apoftel in dem unmittel 
baren Umgange mir den Apofteln, d. h. mit der damaligen Gez 
ſammtheit aller Chriften den Aufern Beweis für die Wahrheit 
ihrer Auffaffung hatten, fo die Folgenden in dem immer gleichen 
Charakter der apoftslifchen Lehre durch alle Sahrhunderte hin—⸗ 
durch, bis zu den Apoſteln hinauf. Mit andern Worten ift es 
das, was wir ſchon wiederholt geſagt haben, daß alle Ehriften, 
ohne Unterſchied der Zeiten, ein Ganzes bilden, 

5)Die Frage, ob die Tradition der Schrift Foprdinirt oder 
ſubordinirt fen, iſt, als von irrigen Vorausfegungen‘ ausgehend, 
abzuweiſen, Es. giebt keinen Gegenſatz zwiſchen beiden. Auch 
liegt dieſer Rede die Annahme zum Grunde, als liefen Tradition 
und Schrift wie zwei Parallellinien neben einander einher. Dieß 
iſt nicht ſo, wie die Geſchichte zeigt. Sie giengen in einander 
über, und lebten in einander Sp wenig man im der Kirche je 
die Schrift ‚ohne, Einfluß der EFirchlichen Erziehung las: eben fo 
wenig kann ins zweiten und dritten Sahrhundert die Eirchliche 
Erziehung, der Kirchenglaube ohne Einfluß der Schrift a 
werden. 

6) Die Behauptung, das fen im der Tradition anzunehmen, 
was fchriftmäßig fey, iſt fich felbft unklar. Auch fie geht von eis 
nem Gegenfaß aus; was die Tradition, wie wir ihren Begriff 
gefchichtlich enttwickelt haben, enthält, if. nie gegen die heilige 
Schrift; und wo die Schrift etwas der Tradition Widerfprechenz 
des ausfagen foll, da fagt es nicht ſie ſelbſt, ſondei⸗ man laͤßt 
ſie's ſagen. — 

7) Diejenigen, die meinen, Einiges werde bloß aus der Tra⸗ 
dition nachgewieſen, alles Andere aus der Schrift, haben nicht die 
richtige Einſicht in die Sache. Alles haben und bewahren mir 
durch die Tradition, fo wie auch Diejenigen, die fie nicht anneh— 
men, fehon in der Alteften Kirche alles’ ohne fie verworfen haben. 
Bezieht fich denn die Ersiehung in der Gemeinfchaft der Glaͤubi⸗ 
gen, und der heilige Geiſt, der und durch fie gewährt wird, nur 

IM. v. Sailer's ſämmtl. Schriften. VIII. Bd, Zte Aufl. 24 


er, A 


auf das Eine, oder das Andere? Es giebt Feine folche Tremmung. 
Davon mußte bie Ältefte Kirche nichts. Alles wurde in dem er— 
fie Sahrhumderten aus der heiligen Schrift geläugnetz; und die 
Kirche mußte alles Chriftliche von Schritt zu Schritt ang der 
Tradition fefihalten. Die £ehre von Gott in ihrer gefammten 
Ausdehnung; vom Sohne Gottes in allen Punkten; vom heiligen 
Geitte; von Sreiheit und Gnade m. f. w., wurde von folchen, bie 
fich Chriſten nannten, mit der Bibel in der Hand (d. h. durch ihr 
ren verkehrten Gebrauch) von Anfang der Kirche an ſchon verwors 
fen, und durch den Geift der Kirche und ihrer Meberlieferung ber 
mwahrt. Es ift wunderlich, daß man das nicht zugeben oder ver; 
drehen will, da es fo Flar in der Gefchichte vorliegt. 

8) Dhne die heilige Schrift, als die aͤlteſte Werkörperung des 
Esangeliums, mwäre die chriftliche Lehre im ihrer Reinheit und 
-Einfalt nicht bewahrt worden, und es ift gewiß ein großer Mans 
gel des Nuhmes vor Gott, wenn man behaupten will: fie ſey 
zufällig, weil fie uns aus rein zufälligen Veranlaffungen gefertigt 
worden zu ſeyn fcheint. Welche Vorſtellung vom Walten des heis 
ligen Geiftes- in der Kirche! Es fehlte ferner ohne Schrift das 
erſte Glied in der Reihe, die felbft ohne die heilige Schrift, ohne 
eigentlichen Anfang, und darum unverfiändlich, verwirrt und 
chaotifch wäre; aber ohne fortlaufende Tradition mangelte ung 
der höhere Sinn für die Schrift, weil wir ohne Ztwifchenglieder 
feinen Zufammenhang müßten; ohne Schrift koͤnnten wir uns 
Fein volftändiges Bild von dem Erlöfer entwerfen, weil es uns 
an zuverläffigem Stoff fehlte, umd fich gewiß alles in Zabelır un: 
gewiß machte; ohne die fortgefeste Tradition fehlte ung der Geijt 
und das Intereſſe, uns ein folches Bild von ihm zu entwerfen; 
ja auch wieder der Stoff, denn, wie wir bald fehen werden, haͤt⸗ 
ten wir ohne Tradition auch Feine Schrift. Ohne Schrift wäre 
ung die eigenthümliche Form der Reden Jeſu vorenthalten; wir 
wüßten nicht, wie der Gottmenfch ſprach; und ich meine, Leben 
möchte ich nicht mehr, wenn ich ihm nicht mehr reden hörte. Als 
lein ohne Tradition wüßten wir nicht, wer da redete und was er 
verkündete; und die Freude an dems wie er ſprach: waͤre auch 
dahin! Kurz alles gehört sufammen, und mit göttlicher Weisheit 
und Gnade wurde es uns auch unzertrennlich gegeben.” — 


Fünfte Thatſache. 


An diefen öffentlichen Charakter der Katholicität, an 
dieß Glaubensprinzip hielten ſich die erfien Bäter und 


= SU — 


Lehrer der Kirche, die: von den Apofteln aufgeftellt wa- 
ren, die weifeten und frömmften Bifchöfe und überhaupt 
die Kirchenvorfteher (GBiſchoͤfe, Päpfte) der erſtern Jahr, 
hunderte, und hielten fi daran 


a) in ihren öffentlihen J 
b) in ihren Schriftauslegungen, 
ce) in ihren Synoden, ' 


d) in — — der a sa Eh und ins 
befondere 


e) in Vehimmungen Beifen was Irrfehre 
sen. | 


* Das Wort des heiligen Papites Stephanus des erſten, das 
er in der Streitſache von Wiederholung der Ketzertaufe 
wider Cyprianus ausſprach, iſt nicht nur als der Uhrze i⸗ 
ger ſeiner Zeit, ſondern auch als das Loos wort der 
ganzem Kirche fuͤr alle kommende Zeiten merkwürdig: 
::»Nihil;ionovetur;: nisi quöd. traditum est... Und dieß Ur⸗ 
theil der Tradition war für Auguftinus fo wichtig, daß er 
es mit dem Urtheile der Kirche Für Eines: und daffelbe 
"hielt. Non aceipio, quod de rebaptizandis haereticis B. 
Cyprianus sensit, quia hoc Ecclesia non accipit, ‘Pro qua 
B. Cyprianus sanguinem fudit. „Ich halte es in Hinficht 
auf die Wiedertaufe der Häretifer nicht mit dent heil. Cy— 
prianus, weil es die Kirche nicht mit ihm halt, für die er 
geftorben iſt.“ Diefes Urtheil der Tradition hatte Auguſti⸗ 
nus im Auge, als er fihrieb: Evangelio non crederem, nisi 
Ecclesiae me commoveret audtöritäs, 
ia er 


Für diefe <hatfachen zeugen in den fruͤhern Zeiten 
A) Irenaͤus. 
'B) Tertullianus in ſeiner Praescriptione ndres- 
sus Haereticos. 
Sn jpätern Zeiten 


C) Auguflinng, befonders in feinen zwei Briefen ad 
Januarium und ad Casulanum. 


24" 


/ — ZT — 


D) Vincentius Lirinensis in-Commonitorio, (es 
erfchien im. Jahre 434.) | 


Leffing felber hat diefe Thatfache nicht nur in feis 
ner nöthigen Antwort auf eine fehr unnöthige Frage des 
Herrn Hauptpaſtor Göze in Hamburg (Wolfenbuͤttel 
1778) zur Ehre der Wahrheit veingeftanden, fondern auch 
aus den Schriften der Väter erwiefen. 


Sechste Thatfahe 


Ans eben diefem Grunde hat das fogenannte apoftos 
liſche Symbolum, das im’ unſern Katechismen voranfteht, 
von jeher als etwas, das den Charakter der Katholicitaͤt 
traͤgt, im. hoͤchſten Anſehen geſtanden, und iſt als regula 
ßidei angeſehen worden. Nicht. nur, Auguſtinus legt es 
den Taͤuflingen wörtlich. aus, und nennt es ausdruͤck— 
lich die regula ſidei, ſondern auch Irenaͤus und Ter- 
tullianus fuͤhren es der Haupt ſacch e nach an, und fin⸗ 
* darin bie Summa fidei,, bie regula eredendorum. 


7) Die Kirche, welche: flets auf die febendige,, apo⸗ 
ſtoliſche Tradition gehalten hat und ud wird mit: ‚Recht 
bie apoftolifche genannt. 


So feyd ihr denn nicht mehr ai und — * 
linge, ſondern Mitbuͤrger der Heiligen und Hausgenoſſen 
Gottes, erbauet auf dem Grunde der Apoſtel.“ (Er. II, 
19. 20.I.;; ; | 

Wer Er rei Shatfahe. | 


Die Rich zu Rom fand von den früheften Zeiten 
her. bei allen  apoftolifchen Gemeinden in. befonderm. Anz 
fehen, und zwar dephalb, weil fie 1) von Petrus ges 
ftiftet war, den Chrifius felbjt den Felfeumann feiner 
Kirche nannte; weil fie 2) nicht nur. der Stiftung und 
Lehre nach eine apoftolifche Kirche war, ‚Sondern uͤber⸗ 
dem die Tradition dieſer Kirche ſich in befonderer Ach— 
tung erhalten hatte, fo zwar, daß 5) die Uebereinſtim⸗ 
mung: der. einzelnen, apoftolifchen Gemeinden mit der ayo- 
ſtoliſchen Kirche von Rom fchon dem Irenaͤus und Cy- 


N 


ee — 


prianus als ein Charafter der Anineikerite galt, 
womit die fpätern Lehrer fo offenbar zufantmentrafen, 
daß es überflüßig wäre, befondere Zeugniffe anzuführen. 


8) Aus den angeführten Thatfachen. erhellet von felbft 
der Sinn und Werth der apoftolifchen Tradition; denn 
a) die ‚heilige Schrift des N. T. felber ift nichts anders, 
als eine gefchriebene apoflolifhe Tradition; 
alle Schriftfteller, die nicht eine durch fich. felbft offenbar 
einleuchtende Gewißheit haben, müffen b) ihr Licht von 
der apoftolifchen Tradition nehmen. Auch c) die hiftori- 
ſche Glaubwiürdigfeit des N, T. beruhet darauf, daß die 
‚apoftolifchen Gemeinden die heil, Schrift als apoſtoliſch, 
oder von den Apofteln genehmigt, oder mit apos 
ftolifher Tradition üubereinitimmend angenommen 
haben. Selbft alles, was d) für die Integrität des Kaz 
nond des N. X. gefagt werden fann, muß nur. aus der 
Annahme der frühern apoftolifchen Gemeinden. hergeholt 
werden, Ueberdem berufen fich auch e) die Ausfpri- 
he der Kirche in ihren Verfammlungen auf die Tras 
dition. Go ift auch F) der Sonntag — das fiehende 
Denkmal der apoftolifchen Tradition. | 


9) Daraus erhellet, daß jede Konfeffion, die ihr Glau⸗ 
bensprinzip von der apoftolifchen Tradition unabhängig 
macht, den Keim der Berwefung in ſich trage, und wenn 
fi e eine Weile Beftand hat, nicht durch ihr inneres Prinz 
zip bejtehe, fondern nur. durch AußerewGrinde BR 
gehalten werden muͤſſe. 


Dieß ließe ſich auch durch zwei Begebenheiten, aus 
der Weltgeſchichte darthun, die ich, ohne der Wahrheit et⸗ 
was zu vergeben, lieber erlaſſen, als klar ausſprechen mag. 


10) Daraus erhellet, daß die katholiſche Kirche, in 
fofern fie die apoſtoliſche Tradition zu ihrem Grund⸗ 
ſteine macht, und deßwegen, weil fie die apoſtoliſche Traz 
dition zum Grundfteine macht, umiberwindlich fey, und 
ihr nicht das Geringſte angehabt werden koͤnne. 


11) Daraus erhellet, daß jede Auglegungsweife der 
Schrift, die in Dolmetfchung des fehriftlichen Buchſtabens 


— 34 — 


nicht von dem Inhalte und Geifte der apoftoli 
fhen Tradition ausgeht, und nicht überall darauf 
zurüdgeht, ein brodlofeg, fih und die Schrift 
felber zerftörendes Kunftwerf fey, daß alfo die 
Eregefe diefer Art, die ſich von der apoftolifchen Tradi—⸗ 
tion unabhängig macht, um im Schriftbuchftaben einen 
Zummelplag für fich zu gewinnen, das fehiclichite Mittel 
ſeyn müffe, die Lehre, die fle fortpflanzen follte, aufzus 
heben, indem die Willfür nur willfürlihe Sinndeutungen 
in den Buchftaben legt, und, um fie hineinlegen zu Füns 
nen, ben urſpruͤnglichen Sinn zu verdrängen nicht um⸗ 
hin kann. 

12) Daraus erhellet insbeſondere, daß die raftlofen 
Mühungen, die fi unfere Gelehrten geben, mit jeder 
Meffe wieder ein paar Wunder aus dem Evangelium hins 
aus, und ein paar natürliche Erflärungsweifen hinein zu 
eregefiren, ein verfehrtes und fich felbft zu Schanden mas 
chendes Getriebe feyn. Denn davon zu ſchweigen, daß 
die Erklaͤrungen des Wunderbaren faſt immer wunder⸗ 
licher ausfallen, als die Wunder ſelber, die fie weg— 
ſchaffen wollen, und dag Natürlich-feyn-follende für 
die unbeftochene Vernunft unglaublicher ift, als das Ueber⸗ 
natürliche: fo hätten Die fleißigen Arbeiter, wenn fie alle 
Wunder der Schrift natuͤrlich erflärt hätten — (und das 
hin follen fie noch fehr weit haben): fo hätten fie doch 
noch nichts gethan. Denn die Wunder, die in der Schrift 
ftehen, find nicht deß wegen geglaubt worden, weil 


fie in der Schrift ſtehen, fondern fie wurden 


gefchrieben, weil fie zuvor der Glaube der erw, 
ften apoftolifchen Gemeinden geheiliget hatte. 
Alſo müßten fie vorher noch alles Wunderbare aus der 
apoftolifchen Tradition wegräfonniren, ehe fie mit dem’ Weg- 
räfonniren fich an die Schrift mit Vernunft wagen duͤrf⸗ 
ten — wenn fie anders die Sache nicht am unrechten 
Ende angreifen wollten. 

. 13) Daraus erhellet aber auch, daß man nicht die 
aͤlteſte apoſtoliſche Tradition der ganzen Kirche aus den 
ſpaͤtern Traditionen einzelner Gemeinden, ſondern ben 
Werth diefer aus dem Werthe jener beftimmen müffe, 


_ 35 — 


14) Daraus erhellet, daß fich der Fatholifche Theo⸗ 
log felber im Wege umgienge, wenn er was anders, als 
den wefentlichen Inhalt des Depositum fidei aposto- 
licae aus der Tradition erweifen wollte, 


15) Daran erhellet ſowohl die große, erhabene Idee 
der Kirche, als das Anfehen berfelben: fie tt nämlich 
das göttliche menfchlihe Organ der Fortpflanzung, 
der Erhaltung, der Berewigung der apoftolis 
ſchen Tradition; fie ift als folches hoͤchſt ehrwuͤrdig; 
fie hat als folches die Beſtimmung und die Macht, Jrrs 
lehre und Spalt zu entfernen. 


16) Daraus erhellet endlich, wie ſinnvoll und wahr 
das Wort Fenelon’s fey: 


„Demithig glauben und rein lieben, iſt das 
vollftändige Opfer des Ehriften, und die 
fhönfte Krone der Fatholifhen Religion. 


* Ramfay hatte nämlich die Gruͤnde der bloßen fogenaunten 
Kernunftreligion, die Feiner pofitiven. Offenbarung bedürs 
fen follte, ausgelegt. Fenelon zeigte die Blößen diefes reis 
nen, eigentlich leeren Theismus, und fagte im Gtros 
ine feiner Widerlegung: Le Christianisme n’ajoute rien 
ä votre pur Deisme que le Sacrifice de l’esprit, et la ca- 
tholieite ne fait que perfectionner ce Sacrifice. Aimer pu- 

_ rement, croire humblement, voilä toute la Religion catho- 
lique! Nous n’avons proprement ‘que deux articles de 
fol; lY’amour d’un Dieu invisible, et l’obeissance à l’Eglise, 
son oracle vivant. Toutes les autres verites particulieres 
s’absorbent dans ces deux verites simples et universelles, 
qui sont à la portee de tous les esprits. Y-at-il rien de 
plus digne de la perfection divine,'ni plus necessaire pour 
la foiblesse humaine! (Ramsay, vie de Fenclon.) 


B. 
Belege des dritten Abfhnittes. 
=i Irenaeus contra ‚haereses lib. I. 6.‘ 


„Die Kirche, die ja Durch den ganzen Erdenkreis bis 
an die letzten Grenzen ausgebreitet. worden, bewahret den⸗ 


— 370 — 


ſelben Glauben, den fie von den Apoſteln und ihrem Juͤn⸗ 
gern erhalten hat, den Glauben an den Einen 
Gott, ven allmädhtigen Bater, der Himmel 
und Erde und das Meer, und alles, was darin 
if, gemadht hat; den Glauben an den Einen 
Sefus Chriftug, den Sohn Gottes, der für um 
fer Heil Menfh geworden tft, und an den hei 
ligen Geift, der durch die Propheten angefün 
det hat die Haushaltung Gottes und die Aus 
kunft unferd Herrn Jeſu Chrifti, und feine 
Geburt aus Maria, der Jungfrau, und fein 
Leiden und Auferftiehen von den Todten, und 
feine Himmelfahrt im Fleifche, und fein Kom— 
men aus dem Himmel in,der Herrlichfeit des 
Batersd, zur Wiedererneuerung aller Dinge- 
und zur Wiederbelebung aller Menſchen, das 
mit, nach dem gätigen Willemdes unfichtbaren 
Vaters, unferm Herrn und Gott und Heiland 
und König Jeſus Chriftus alles Knie im Him- 
mel, auf Erden, unter der Erde gebogen wer 
de,.und alle Zunge Ihn befenne, und Er ein 
gerechtes Urtheil von Allen ausfpreche, indem 
Er die böfen Geiſter, die Engel, die das Ge. 
feß übertreten haben und abgefallen find, 
und alle böfe, ungeredhte, lafterhafte und gott 
läfternde Menfhen dem ewigen Feuer über 
antworte, den Gerechten aber, den Heiligen, 
die feine Gebote gehalten, und in der Liebe 
zw ihm theils vom Aufange her, theils von 
der Zeit- ihrer Sinnedänderung beharret ha- 
ben, das Keben und die Unvergänglidfeit 
fchenfe, und die ewige Herrlichkeit ertheile; 
dieſe empfangene Predigt, fage ich, und dieſen Glauben 
bewahrt die Kirche, ob fie gleich in der ganzen Welt zer— 
ſtreut ift, mit aller Treue, ald wohnte fie in Einem Haufe; 
dieß glaubet fie mit wundervoller Uebereinftimmung, als 
hätte fie Eine Seele und Ein Herz; dieß prediget, lehret 
und überliefert fie, als hätte fie Einen Mund. So ver: 
‚fchieden Die Sprachen in der Welt immer feyn mögen,‘ fo 


ER — 


hat doch die Tradition in allen Sprachen Eine und Die- 
felbe Kraft. Nicht anders glauben, nicht anders Ichren 
die Kirchen in Germanien, in Spanien, in Gallien, im 
Drient, in Aegypten, in Libyen, in Italien. So wie 
Eine Sonne, von Gott gefchaffen, in aller Welt leuch— 
tet: fo leuchtet auch diefelbe Wahrheit durch Hülfe der 
Verkuͤndung überall, und erleuchtet alle Menfchen, Die zur 
Erkenntniß der Wahrheit kommen wollen. Vi 


\  Irenaeus contra in lib. III. ec. IV. 


„Da fo viele Beweife Cin der Tradition) vorhanden 
find,, fo duͤrfen wir nicht erſt bei Andern die Wahrheit 
fuchen, die wir fo leicht von der Kirche nehmen koͤnnen. 
Dem die Apoftel haben alles, was (jeligmachende) Wahr: 
heit ift, in der Kirche als einem reichen Behältniffe nieder— 
gelegt, daß Jeder, der will, den Lebenstranf Daraus em⸗ 
pfangen kann. Sie it das Thor zum Leben... 


„Wie aber, wenn und bie Apoftel gar feine Schriften 
zuruͤckgelaſſen hätten, müßten wir. alsdann und nicht an 
die Ordnung der Tradition halten, die fie denen, wel- 
chen fie die Kirchen anvertrauten, mit anvertrauet haben? _ 
An diefe Ordnung halten fich Viele aus den ungebildeten 

Bölfern, die nämlich an Chriftus glauben; da fie, ohne 
Schreibroffe und Dinte, das Heil in ihrem: Herzen, von 
dem Geiſte gefchrieben, bewahren, und die alte Tradition 
heilig. halten, glaubend an den Einen Gott, der Himmel 
und Erde, und alles, was darin ift, erfchaffen hat, durch 
feinen Sohn Jeſus Chriſtus, der, aus unuͤbertrefflicher Liebe 
zu feinem Gebilde, von einer Jungfrau geboren, dag Goͤtt⸗ 
liche mit dem Menfchlichen einigte, unter Pontius Pilatus 
fitt, wieder erftand, und aufgenommen in die Herrlichkeit, 
wiederfommen. wird als ein. Erretter ‚derer, Die errettet 
werden, und als ein Richter, derer, die gerichtet, und als 
Verfälfcher der Wahrheit, ald BVerächter feines Vaters 
und feiner Ankunft dem ewigen Feuer überlaffen werben. 


„Dieſen Glauben haben ohne Schrift angenommen 
jene Völker, die wir Barbaren nennen, weil fie unfere 
, Sprache nicht reden, die aber nad) Gefinnung, Handlung 


— STB — 


und Lebensweiſe, Die ganz. dem Glauben entſprechen, uns 
ter die Weifeiten gerechnet werden dürfen, denn fie haben, 
wandelnd in aller- Gerechtigkeit, ‚Keufchheit und Weisheit, 
das Wohlgefallen Gottes für fih. Sollte ihnen Jemand 
das, was die. Häretifer erfunden haben, in ihrer eigenen 
Sprache ankinden, fo würden fie gleich die Ohren zuhals 
ten, und weit davon fliehen, weil fie ein folches Gott 
entehrended Gefpräcd, nicht einmal. hören - koͤnnten. So 
fiherte fie die alte Zradition der Apoſtel, daß fein fol 
ches portentofes Geſchwaͤtz mit ihren Vorſtellungen 
veien koͤnnte.“ 


Irenaeus hb, III. e. 1II, adversus haeres, 


„Alle, die die Wahrheit fehen wollen, können alfo die 
Tradition der Apoftel, Fund gemacht in der ganzen Welt, 
in der Kirche wahrnehmen; wir fönnen ihnen auch vors 
zählen die Bifchöfe in den Gemeinden, die die Apoftel eins 
gefegt haben, und ihre Nachfolger bis auf unfere Tage, 
die nie etwag gelehret oder erfannt haben, was diefe Thos 
ren behaupten. Denn wenn bie Apoſtel Geheimlehren 
gehabt hätten, die fie den Uebrigen verborgen, und nur den 
Vollkommenen mitgetheilt hätten, jo würden fie diefelben 
denen am Gewiſſeſten mitgetheilt haben, denen fie die Kir- 
chen felber anvertranten. Denn ed war ihr entfchiedener 
Wille, daß diejenigen, die ihnen nachfolgten, und denen 
fie ihre Lehrjtellen überließen, in Allem vollfommen und 
untadelig feyn follten; indem ihre Untadeligfeit den Bol 
fern zum großen Segen, ihr Fall zum höchiten Unheil 
werden müßte. Weil e8 aber zu weit führen würde, in 
diefem Buche die Neihen der Nachfolger. der Apoftel in 
allen Kirchen aufzuzählen, fo wollen wir bloß anzeigen, 
was für ‚eine Tradition der Apoftel, und was für ein 
Glaube den Menfchen in der größten, Alteften, allbekann⸗ 
ten, und von den zwei glorreichen Apoſteln Petrus und 
Paulus gegruͤndeten und konſtituirten Kirche zu Rom, 
durch eine Aufeinanderfolge der Biſchoͤfe bis auf uns herz 
ab, Fund geworden ſey; dadurch machen wir denn zu 
Schanden Alle, die aus böfer Selbftgefälligfeit, oder eit- 
ler Ehrfucht, oder aus Verblendung und falfcher Mei: - 


= a 


nung anderd fammeln, als fie fammeln follten. Denn. 
mit diefer Kirche muß, um der ausgezeichneten Borziige 
wegen (propter potentiorem principalitatem), jede 
andere Kirche zufammenjtimmen, jede andere Kirche, Die 
‚bie Tradition der Apoſtel erhalten hat, das iſt, alle 
Glaͤubige.“ 


- Fertullianus de praescriptione C. XIX. ERIK 


„So muß man fich dem nicht auf die heiligen Schrif—⸗ 
ten berufen, und den. Streitpunkt nicht auf Gründe an—⸗ 
fommen laffen, die entweder feinen, oder einen ganz 
ungewiffen,: oder einen fo viel als ungewifjen 
Sieg gewähren Eönnen. Denn, wenn auch die Bergleis 
hung der Schriften fein Nefultat gäbe, die beide Theile 
mit gleichem Scheine für ſich auslegen koͤnnten: fo gebeut 
doc; die Ordnung, daß jene Frage, worauf 68 im Streite 
allein ankommt, zuerft erörtert werde; die Frage naͤm⸗ 
ih: Welhen der Glaube angehöre, welden 
bie Schriften eigen feyen, von wem und durch 
welche und an welde und wann die Lehre, die 
ben Shriften zum Ehriften madt, übergeben 
worden fey? Denn, wo die "wahre Lehre und der 
wahre Glaube der Chriften it, da wird wohl aud) die 
wahre. heilige Schrift und die wahre Auslegung und. die 
wahre chrijtliche Tradition feyn. Chriſtus Jeſus, unſer 
Herr G(aßt mich ihn nur fo nennen, wer er immer fey, 
weſſen Gottes Sohn, aus was fir Stoff er immer ge 
baut, was er immer für ein Menfch-und Gott fey, was 
er immer für eine Religion gelehrt, was er immer fir 
einen Lohn verheißen haben möge), hat in feinem Erden— 
leben entweder vor dem Volke öffentlich, oder vor feinen 
Juͤngern in Geheim vansgefprochen, was er ift, was er 
war, was ihm fein Dater, und was er den Menfchen 
aufgetragen hat. Aus diefen feinen Fingern hat er Zwölf 
erwählet, die ihm nie von der Seite gehen durften, und 
die zu Lehrern der Welt beftimmt waren. Als einer das 
von abftel, befahl er, nad) feiner Auferftehung und vor 
feinem Hingange zum Vater, ben Eilfen, zu den Natios 
nen zugehen, fie zu Iehren, amd auf den Bater, Sohn 


* 380 — 

und heiligen Geiſt hin zu taufen. Die Apoſtel (in unſe⸗ 
rer Sprache ſeine Geſandte) waͤhlten durch das Loos an 
die Stelle des Judas den Matthias, wie es im Buche 
der Pſalmen vorgedeutet iſt, wurden erfuͤllet mit der ver⸗ 
heißenen Kraft des heiligen Geiſtes, die ſie beredt und 
ſtark zu ihrem Berufe machte, legten ihr Zeugniß von dem 
Glauben an Jeſus Chriſtus und der Stiftung feiner Kir 
che zuerft in Judaͤa ab; dann giengen fie in ferne Län: 
der, verfündeten diefelbe Lehre von demfelben Glauben vor 
den Bölfern, und errichteten in ihren Städten Kirchens 
gemeinden, von welchen nachher die übrigen Gemeins 
den den Stammzweig ded Glaubens und das Samen— 
korn der Lehre empfangen haben und täglich empfangen, 
um Kirhengemeinden zu werden Daher fommt 
es denn, daß fie auch apoftolifche Kirchen heißen, als fo 
viele Kinder apoftolifcher Kirchen, Alle Gefchlechter wer- 
den als Gefchlechter ja ‚nad ihrer Abfunft von den 
Stanmeltern beurtheilt. So machen denn alle einzelne 
Kirchen, fo viele und fo groß fie immer feyn mögen, Eine 
appftolifche Kirche aus. Sie find alle die Erfte, und alle 
apoftolifch, weil fte ſich alle als die Eine ermeifen; weil 
fie alle das Band des Friedens, den Namen der 
Brüderfchaft und das Siegel der Gaftfreundfchaft has 
ben. Und alle diefe Rechte beruhen auf derfelben Glaus 
bensregel, die fie dur, die Eine Hebergabe erhalten 
haben (Ejusdem Saeramenti una traditio). Und das 
her kommt auch unfere Präfcription, die nämlich: 
Wenn der Herr Jeſus Chriftus Boten zum Lehramt aus—⸗ 
gefendet hat, fo muͤſſe man feine Lehrer amtehmen, als 
die er eingefeßet hat: weil doch Keiner den Bater ken⸗ 
net als der Sohn, und dem ed der Sohn geoffenbaret 
hat, und weil der Herr ed feinem Andern geoffenbaret 
hat, ald den Boten, die er ausgefendet hat, das zu leh- 
ren, was er ihnen geoffenbaret hat. Was fie aber verfüns 
den, das ift, was ihnen Chriftus geöffenbaret habe, wird 
auch 'hier nad dem Grundfasge der Präfcription 
nicht anders entfchieden werden koͤnnen, als durch dieſel⸗ 
ben Kirchen, welche die Apoftel geftiftet haben, indem: fie 
ihnen mit Mund und Feder ihre Lehre mittheilten. 


— 381 — 


Demnach wird alle Lehre, die mit jenen Kirchen 
übereinftimmt, welche die apoftolifhen Kirchen und 
Mutterfirhen, die Originalkirchen unfers Glau⸗ 
bens ‚heißen, ald wahr angenommen werden muͤſſen, in— 
dem. fie ohne Zweifel das behauptet, was die Kirche 
von den Apofteln, die Apoſtel von Chriſtus, 
Chriſtus von Gott empfangen hat. Demnach wird 
aber auch alle Lehre fuͤr falſch angeſehen werden muͤſſen, 
die wider die Wahrheit der Kirchen, der Apoſtel, 
ag Gottes angeht. 
Es ift alfo nur noch Eines zu hun, nämlich zu be> 
weifen, ° ob unfere Lehre, deren Regel wir oben aufgeftel- 
let haben, von den Apofteln zu ung gekommen, das iſt, 
oͤb "die entgegengefeßte Lehre falſch ſey. „Wir ftehen 
in der Kommunion mit dem apoftolifhen Kir- 
den, weil wir feine andere Lehre haben: dieß 
iſt > Zeugniß der Wahrheit,“ 


\ Le Tertullianus de praesc. XXXII. 


var Möchten doch ffe (die Häretifer) die Anfänge ihrer 
Kirchen befannt machen; möchten fie doch die Reihen ih— 
rer Biſchoͤfe darlegen, und vom Anfange durch ein ftetes 
Aufeinanderfolgen zeigen, daß ihr erfter Bifchof einen Apo⸗ 
ſtel oder apoſtoliſchen Mann zum Vormann und Stif— 
ter der Kirche gehabt habe, wie in der Kirche zu Smyrna 
der Polykarpus von Johannes, in der Kirche zu Rom 
Clemens von. Petrus aufgeſtellt ward!“ 


Tertullianus de praesc. XXXV. XXXVI. etXXXVI. 


„Unfere Lehre flieht nicht hintenanz fie fteht oben 
an, und ift früher als alle (Lehren der Häretifer). Und 
das iſt das Zeugniß der Wahrheit, daß fie, die Wahr: 
heit, überall die 'erfte Stelle einnimmt. Die Apoftel ver 
dammten fie nicht, vertheidigten fie fogar, Und das ift 
dag Zeichen, daß die Wahrheit eine (den Apofteln) eigene 
Wahrheit it. Denn da: fie diefelbe nicht verdammen, in— 
dem fie jede fremde Lehre verdammten, fo geben fie zu 
verfichen, daß jene Lehre ihre Lehre -fey, und vertheidis 
‚gen fie als die ihres Wohlan denn, Lieber, wenn du im 


— 382 — 


Geſchaͤfte deines Heils deiner Neugierde den beſten Spiel; 
raum anweiſen willſt: durchreiſe die apoſtoliſchen Kirchen, 
bei denen noch die Lehrſtuͤhle der Apoſtel obenan ſtehen, 
bei denen noch die Handſchreiben der Apoſtel vorgeleſen 
werden, die Handſchreiben, in denen noch ihre Stimme 
wiederhallt, in denen ſich noch ihr Angeſicht konterfeiet. 
Liegt dir Achaien am naͤchſten, ſo gehe nach Korinth; haſt 
du nicht weit nach Macedonien, fo eile nach Philippis, 
nach Theſſalonich; kannſt du nach Aſien kommen, ſo geh 
nach Epheſus; grenzeſt du an Italien, ſo reiſe nach Rom, 
wo auch unfere Lehre neue Auftorität, findet.  Dy eine 
überfelige Kirche, in der die Apoftel ihre. ganze Lehre 
ſammt ihrem Blute ausgegoffen haben, wo Petrus im Leis 
den dem Herri gleich gemacht ward, wo Paulus mit dem 
Tode Johannis des Taͤufers gefrönet, wo’ der Apoſtel 
Johannes, im glühenden Oele — nichts Leidend, auf die, 
Inſel verwiefen ward. Laßt uns fehen, was die Kirche 
zu Nom gelernet, was fie gelehret, was fie mit den Kir: 
chen in Afrika bezeuger habe. Sie kennet den Einen Gott, 
den Schöpfer des Univerſums; fie kennet Jeſum Chriftum, 
den Sohn Gottes, des Schöpfers, den Gebornen aus, der 
Jungfrau Maria; fie fennet die, Auferftehung des Fleis 
ſches; fie vereinet das Gefes und die Propheten mit den 
evangelifchen und apoftolifchen Schriften. Daraus trinkt 
fie ihren Glauben; viefen Glauben bezeichnet fie mit 
dem Waffe, bewahret fie mit dem heiligen Geifte, 
fpeifet fie mit der Euchariftie, belebet fie ducch den Tod 
der Märtyrer; ohne diefen Glauben nimmt fie feinen als 
Bruder at.  Dieß ift die Lehre, die, ich fage nicht bloß, 
die kommenden Irrlehren geweifjaget, fondern fie ift die 
Lehre, aus der die Irrlehren hervorgegangen find. Aber 
fie waren nicht mehr von ihr, feitbem fie fich wider fie 
in's Feld geftellt haben. Auf dem Stamme der milden, 
fraftreichen, unentbehrlichen Olive wachfen die Zweige der 
wilden Delbäume, auf dem Stamme der füßen, faftigen 
Feige die Aefte der wilden Feigenbäiume empor. So find 
die Irrlehren von unfern Stauden, aber nicht von ums 
ferm Geſchlechte; wuchſen auf nicht vom Samenforn 
der milden Wahrheit, fondern von dem Samenforn der 


— 3853 — 


wilden Lüge. Wenn alfo die Wahrheit anf unfrer Seite 
ift, indem wir alle auf jenem Richtmaße einhergehen, wels 
ches die Kirche von den Apoſteln, die Apoftel von ‚Chris 
ſtus, Chriftus von Gott. empfangen hat: fo ſteht der Grund 
unferes Borfages feit, daß man die Häretifer nicht auf 
die heilige Schrift provociren laffen ditrfe, indem wir ohne 
Schrift —— daß ihnen die Schrift nicht angehoͤre⸗ 


\ Tertullianus dr praescript, Yı. 


ale * Athen mit Jeruſalem, was die Atabem⸗ 
mit der Kirche, was die Ketzer und die. Chriſten mitein 
ander gemein? Unfer Unterricht fommt aus der Halle 
Salomon's, der auch ſelbſt gelehrt hatte, daß man den 
Herrn in Einfalt des Herzens ſuchen muͤſſe. Moͤ— 
gen die zuſehen, die zuerſt * ſto iſchen, und einen 
platonifchen, und einen dialeftifchen ———— 
nismus. — — haben! 


> Tertullianus de corona militis c. IV. 


— du in den heiligen Schriften das Geſetz 
und anderer ähnlicher Einrichtungen: aufſucheſt, ſo findeſt 
du keines. Die Tradition wird als Stifterin, die Ges 
wohnheit als Beftätigerin, und die Glaubwilligfeit als 
Beobahterin genannt werben Daß es die Vernimft 
mit ber Zradition, der Gewohnheit und dem Glauben 
hält, wirt du entweder felbjt einfehen, oder von Eis 
nem, der die Einficht hat, Ternen. Inzwiſchen magit du 
glauben, daß allerdings ein Grund vorhanden fey, der 
deiner — werth iſt.“ 


Cyprianus lib. I. Epist. xIM. 


| . Gott it, Ein Chriſtus tft, Eine Kirche 
if, und Eine Katheder, durch das Wort deg Herrn 
auf einen Felſen erbaut, Es kann fein anderer Altar er- 
“richtet, Fein anderes neues Prieſterthum eingefegt werden, 
auger dem Einen Altar, außer dem Einen Prieſterthume.“ 


% Cyprianus edit, Erasın, lib, J. Epist. IM. 


„Da fie überdem ſich von den Häretifern einen Biſchof 
aufſtellen ließen, wagen ſie es noch, zur Katheder Petri 


— 584 — 


und zur Prinzipalkirche, von der die Einheit des Prieſter⸗ 
thums ausgeht, zu ſchiffen, und dahin Briefe von Siler 
matifern. und Profanen zu überbringen.’ 


" ‚Cyprianus lib. IV, Epist, III. 


‚Einige verwirren denn doch durch mancherlei Nach⸗ 
richten, die ſi e wider die Wahrheit ausſtreuen, die Ge— 
muͤther. Denn wir haben alle einzelne Schiffende, um ſie 
vor Anſtoß zu bewahren, von unſerer Anſicht unterrichtet, 
und ermahnet, daß fie die Matrix und Wurzel der 
fatholifhen Kirche anerkennen, und fi daranıhal 
ten. möchten, Aber, weil unfere Provinz fich fo weit 
ausdehnt, und auch das angrenzende Numidien und Mau⸗ 
ritanien in ſich begreift, ſo hielt ich e$, Dazu, daß die Ent: 
zweinngen der Städte die Abwefenden. durch ungewiffe Ges 
richte nicht in dieſelbe Verwirrung mitzeinzögen, für dien⸗ 
lich, daß ſaͤmmtliche Bifchöfe an: die. Presbyter: und Diaz 
konen Sendfchreiben ‚ergehen Tiegen, nachdem die Wahrheit 
aufrecht gehalten, deine Verordnung durch den Beitritt 
vieler anfehnlicher Männer befräftiget, und alle Bedenk— 
fichfeiten aus den einzelnen Gemuͤthern getilgt worden. 
Diefe Briefe werden denn auch ausgefertiget, damit alle 
unfere Kollegen dich und ihre Einftimmung mit Dir (com- 
municationem tuam) zugleich, das iſt, die Einigkeit 
und die Liebe der Fatholifchen ie fefthalten und mu» 
thig — 


Cyprianus de unitate Ecclesiae. 
u 


„Es iſt Ein Episkopat: davon jeder —— Bi⸗ 
ſchof einen fuͤr ſich beſtehenden Theil hat. So iſt denn 
auch Eine Kirche, die ſich durch die zunehmende Frucht— 
barkeit nur weiter ausbreitet. Viele Sonnenftrahlen, aber 
Ein Licht, Viele Aefte, aber Ein feſter Stamm, tief gez 
mwurzelt. Viele Bäche, aber Eine Quelle. Viele Aus— 
flüffe, aber Ein Urfprung. Trenne den Strahl von dem 
Einen Lichte, er erlifchtz brich den Aft vom Baume, er 
verdorrt; fondere den Bad) von der Quelle, er vertrod- 
net. So fendet die Kirche, durch das Licht des Herrn 

aus⸗ 


* 


— 55 — 


ausgebreitet, ihre Strahlen durdy die Welt, Aber «8 ift 
Ein Licht in den mancherlei Strahlen. Die Kirche ſtreckt 
ihre Hefte ber: die ganze Erde aus: aber ed iſt Eme 
Wurzels und Stammfraft in den mancherlei Aeften. Die 
Kirche gießt in ihre Bäche reichlicheds Waffer aus: aber 
ed fließt Ein Quellwaffer in den mancherlei Bächen. Die 
Kirche hat viele Kinder: aber es trug und gebar fie alle 
Eine Mutter. Von ihrem Leibe find wir geboren, von 
ihrer Mitch genähret, von ihrem Geiſte belebet.., Gott 
kann nicht zum Vater haben, wer die —— nicht zur 
Mutter hat.’ 
er; 

„Das © Saframent der Einheit, dieß Banb der EN 
das einen untrennbaren Zufammenhang hat, bildet fich ab 
in dem Leibrode Ehrijti, der * BEE: und nicht zer⸗ 
riſſen ward.“ 

3 

„Eben deßhalb kam auch der heilige Geiſt im Bilde 
der Taube. Einfaͤltig und froh, kennt die Taube keinen 
Ingrimm, weiß nichts um wilde Biſſe, und hat feine ge—⸗ 
waltſam zerreißende Klaue, liebt menfchliche Gaſtfreund⸗ 
ſchaft und die Gemeinſchaft Eines Hauſes. Dieſe Thiere 
lieben ihre Jungen, fliegen miteinander, und halten ſich 
zuſammen, ein Sinnbild der Liebe, der Eintracht, der Eins 
muͤthigkeit. Dieſe Einfalt des Sinnes, dieſe Liebe muß 
in der Kirche herrſchen. Die Bruderliebe muß die 
Chriſten den Tauben, die Sanftheit muß fie ben Laͤm⸗ 
mern gleich machen.“ 


„Ein Gott, — 

Ein Chriſtus, 

Eine Kirche Chriſti, 

Ein Glaube, 

-Ein Volk, durch den Rn der Einrac * Einem 
Leibe geeiniget.“ 


4. 


Augustinus ad Catechum. de — 


„Ss vernehmet denn, liebe Kinder, die Regel des’ 
Glaubens, die da. heißet dad Symbolum. Und, wenn 
J. M. v. Sailer’ fänmtl, Schriften. VIII. Bd. 3te Auf, "© 25 


— 3860 — 


ihr e8 vernommen haben werdet, fo fchreibet es euch in 
das Herz, und fprechet es täglich, Jeder für ſich. Ehe 
ihr euch zu Bette leget, ehe ihr aus dem Haufe gehet, 
‚ bewaffnet euch mit eurem Symbolum, Das Symbolum 
wird nicht geſchrieben, damit man es etwa leſen koͤnne. 
Das Buch, in dem es geſchrieben ſtehen muß, ſey euer 
Gedaͤchtniß. Daraus muͤſſet ihr es hernehmen, daraus 
ſprechen, damit nicht in Vergeſſenheit gerathe, was euch 
der treue Fleiß uͤberliefert hat. 


„Bas ihr hören werdet, das werdet ihr auch glauben. 
Mas ihr glauben werdet, das werdet ihr auch öffentlich 
befennen. Denn der Apoftel fagt ja: das Herz 
glaubt — und das maht gerecht; der Mund 
befennt, und das macht felig. Nun der Inhalt 
dieſes Glaubens, dieſes Bekenntniſſes it eben das Sym- 
bolum, das ihr ——— lernen und oͤffentlich ſprechen 
werdet. 


— — — Ihr fanget an, Gott zum Vater zu haben, 
fobald ihr durch die Kirche, als eure Mutter, werdet ges 
boren u 46; 


‘ Augustinus de fide et Symbolo, 


„Es ” der fatholifche Glaube in dem Symbolum den 
Gläubigen verfündet, und ihrem Gedaͤchtniſſe 
eingeprägt. worden. in dem möglich Firzeften Aus— 
drude. Damit die Neugebornen in Chriſtus als Anfän- 
‚ger und Säuglinge, die noch nicht Stärke genng haben, 
in den göttlichen Schriften auf eine geiftige Weiſe und 
mit Fleiße felbjt zu. jorfchen, in wenig Worten das als 
Glaubensinhalt anfaſſen koͤnnten, was den Fortſchreiten⸗ 
den, die in Demuth und Liebe zur Erkenntniß der goͤtt— 
lichen Lehre herangebildet werden, mit vielen Worten er⸗ 
klaͤrt werden muß.’ / 


\ 


% Augustinus ad Catechumenos de Symbolo, 


„Nach der Dreieinigfeit fommt: die heilige Kirche. 
Gott und feinen Tempel fennet ihr jetzt. Denn der Tem⸗ 
pel Gottes iſt heilig, Spricht der Apoſtel, und der feyd 
ihr. Die Kirche ſelbſt ift eine heilige Kirche, eine ei- 


— .387 — 


nige Sirche, eine wahre Kirche, eine Fatholifhe 
Kirche, die ftreitet wider alle Irrlehren. Gtreiten kann 
fie: befiegt im Streite kann fie aber nicht werden. Alle 
Irrlehren find von ihr ausgegangen, ald unnüge Zweige 
vom Weinftocke gehauen: fie aber bleibt in ihrer Wurzel, 
an ihrem Weinftode, in der Liebe: die Pforten der Hölle 
übermächtigen fie nie, | 


« Augustinus Sermon, VII. de flamma in rubo, 


„She müffet euch aber feinen Gedanfen erlauben, ber 
von der Regel des Glaubens abweichet. — 


4, Serm. de Natali Domini, 


„Laſſet euch alfo nicht hinterliftig fangen von der Mei⸗ 
nung derjenigen, welche zu wenig achtſam auf die Regel 
des Glaubens, und auf die Oracula der —— Schrif⸗ 
ten ſind.“ 

4 San. 69. 


z „Wie follten fie * anrufen, an den ſie nicht glau⸗ 
ben? Deßhalb habt ihr das erſte Symbolum gelernet, 
welches die Regel unſers Glaubens iſt, kurz und BET: — 


Augustinus Sermon. ad Catechumenos. 


„Ihr follet wiffen, daß das Saframent des Sym⸗ 
bolums, das ihr empfangen, das ihr auswendig gelernt, 
und fuͤr euer —— Heil im feſten Andenken behaltet, 
das Fundament des katholiſchen Glaubens ſey, auf dem 
fih erhob das Gebäude der Kirche, von den Händen der 
Propheten und —— erbauet.“ 


v Kost de fide et Symbolo. 


Nachdem er das ganze Symbolum erflärt hat, macht 
er. den finnvollen Schluß, der feine große Einficht in das 
Weſen des Chriſtenthums verbürget: | 


„Dieß ift der Glaube, deffen Inhalt den Neulingen 
im SPUCHLINNE mit wenigen Worten Dargereichet wird. 
25* 


ii BER 


Alle Gläubigen Eennen dieſe wenigen Worte, und 
haben fie dazu Tennen gelernet, daß fie 


‚glaubend — Gott fi ich unterwärfig machen, 


Gott unterwärfig gemacht — nach Pflicht und Recht 
leben, 


ie Pflicht und Recht lebend — - ihr Her immer ar 
reinigen, 


und reinherzig, was fie — endlich auch verſte⸗ 
hen moͤgen.“ 


Haec est fides, quae paucis verbis tenenda novellis 
Christianis datur. Quae pauca verba fidelibus nota sunt, 
ut credendo 

subjugentur Deo, 

subjugati recte vivant, 

recte vivendo cor mundent, 

eorde mundato, quod credunt, intelligant. 


De fide et Symbolo, ultima verba libri. 


» Augustinus Epist. XLIII. p. 91. lit. E. von der’ Kirche 
zu Rom: 


7 qua semper apostolicae cathedrae viguit princi-. 
patus.* Stets blühte in ihr der — des — 


ſchen Lehrſtuhles. 


X Augustinus Epist, prima ad Jan. 


„Vorerſt mußt du mit mir in dem Hauptpunfte dieſer 
Unterſuchung eines ſeyn, naͤmlich darin, daß unſer Herr 
Jeſus Chriſtus, wie er im Evangelium ſelbſt ſagt, uns 
eine leichte Buͤrde und ein ſanftes Joch auferleget hat. 
Eben deßhalb hat er mit Sakramenten, die an Zahl ſehr 
wenig, an Beobachtung ſehr leicht, und an Sinn und Be— 
deutung ausgezeichnet find, die Geſellſchaft des neuen Vol: 
kes zufammengebunden, als da find die Taufe, gemweihet 
durd; den Namen der Dreieinigfeit, die Theilnahme an 
feinem Fleiſch und Blute, und was fonjt noch in Fanoni- 
fhen Schriften empfohlen wird, das abgerechnet, was nur 


— 389 — 


noch den Fnechtifchen Sinn des alten Volkes, nad den 
Bedürfniffen feines harten Herzens, belaften mußte, oder 
fonft dem Zwecke prophetifcher Zeiten entſprach, was auch 
in den fünf Buͤchern Mofis zu leſen ift. 


„Was wir aber nicht als gefchrieben, fondern als 
überliefert fonft nod; beobachten, und was auf der 
ganzen weiten Erde beobachtet wird, davon läßt es ſich 
nicht wohl in Abrede ſtellen, daß es von den Apoſteln 
felbfi, oder den allgemeinen Kirhenverfamms 
lungen, deren Anfehen in der Kirche höchit heilfam ift, 
empfohlen und verordnet worden fey, 3. B. daß das Leis 
den, die Auferſtehung und Himmelfahrt Chriſti, und die 
Ankunft des heiligen Gelſtes mit jaͤhrlicher Feier begangen 
wird, und wenn ſonſt noch etwas von der ganzen Kirche, 
fo weit fie ſich ausgebreitet, beobachtet wird, 


„Was aber nach Art und Landfchaft wechfett, z.Be 
daß Einige am Sonnabende faſten, Andere nicht, Einige 
täglich die Kommunion des Leibes umd Blutes des Herrn 
empfangen, Andere an beftimmten Tagen, daß der Leib 
und das Blut Chrifti an einigen Drten täglich geopfert 
‚wird, an andern nur am. Sonnabende und Gonntage, 
wieder an andern nur am Sonntage, und was fonft in 
dieſe Klaſſe einfchlägt, dieß Alles ift der freien Beobach⸗ 
tung heimgeftelt. Und. der ernfte, kluge Chrift hat hierin 
feinen beſſern Maßſtab, als daß er ſich nach den Sitten 
der Kirche füge, zu der er gerade fommt. Denn was 
nicht wider die Glaubensregeln anftößt, noch die guten 
Sitten beleidigt, ift an ſich für gleichgeltend anzufehen, 
und nur wegen ©efellfchaft, in der wir eben, zu bes 
‚sbachten. Ich glaube, du. hattet e8 fchon einmal aus 
meinem Munde gehört, ich will es dir-aber dent doch 
noch einmal erzählen. Meine Mutter gieng mit mir nad) 
Mailand, und fand, daß die Kirche Dafelbft am Sonn— 
abende nicht faſte. Das machte ihr allerlei Gedanken, 
und fie wußte nicht recht, was fie thun folltee Da mich 
fo etwas nicht anfocht, umd ich nur ihretwegen mit Am 
brofi us, feligften Andenfens, ‚darüber fprach, fo gab er 
mir zur Antwort: er könne mich nicht anders lehren, als 


— 300 — 


was er ſelber thaͤte; denn wenn er etwas Beſſeres wuͤßte: 
ſo wuͤrde er's vorerſt ſelbſt thun. Und da ich glaubte, 
er haͤtte uns, ohne einen Grund beizubringen, bloß mit 
feiner Auftorität zum Nichtfaften am Sonnabende ermah- 
nen wollen, fo fette er bei: „Wenn ich nach Rom fomme, 
fo fafte ih am Sonnabende; wenn ich hier bin, fo faſte 
ich nicht. So halte ‚auch dir dich, wenn du irgend zu 
einer Kirche kommſt, an den Gebrauch diefer Kirche, wenn 
du Andern Fein Aergerniß geben und feines nehmen willſt.“ 
Als ich dieß meiner Mutter erzählte, fo ergriff fie es 
mit beiden Händen. Se länger ich aber tiber diefe Aeus 
Berung nachdachte, defto wichtiger ward fie mir, und ich 
hieft fie ftets für einen Ausforuch des Himmels. Denn 
ich habe nicht ohne tiefes Schmerzgefühl wahrnehmen muͤſ⸗ 
fen, daß die Schwachen auf mancherlei Weife verwirret 
werden — durch zänfifche Starrfinnigfeit, oder durch aber 
gläubifche Furchtſamkeit einiger Brüder, die nie aufhören 
Eönnen, Streitfragen aufzumwerfen, und nichts für gut hal 
ten, ald was fie felber thun, und dieß zwar. in Sachen, 
welche weder durch das Anfehen der heiligen Schrift, noch 
durch die Tradition der Univerfalffirche, noch durch den Eins 
fluß der Lehre auf die Berbefjerung des Lebens entfchieden 
werden fünnen, indem Seder nur feinen Dünfel zu Grunde 
legt, es ſey hernach der Dünfel der Gewohnheit, 
weil er es fo in feinem DBaterlande zu thun gelernet hatte, 
oder der Dünfel der Entfernung, weil er ſich in 
dem Maße für gelehrt hält, je größere Strecken Weges 
er von feiner Heimath aus zurückgelegt hat. | 

„Es behauptet etwa Einer: „Man fol nicht alle Tage 
die Euchariſtie empfangen.” Warum nit? „Man muͤſſe,“ 
fagt er, „ſolche Tage wählen, an denen, der Menſch rei- 
ner und enthaltfamer Iebet, um zu einem folchen Sakra⸗ 
mente wuͤrdig hinzugeben. Denn wer unwuͤrdig ißt, der 
ißt und trinkt fih das Gericht hinein.” Ein Anderer 
fpricht anders: „Wenn es um die Suͤnde eine folche 
große, große Plage, und die Kranfheit fo heftig ift, daß 
folche Heilsmittel verſchoben werden müfjen: fo wird Je 
der durch die Auftorität ded Vorſtehers von dem Altare 
fern gehalten, dvamit er Buße thun Fünne, und durch 


\ 


— 391 — 


\ 
diefelbe Auftorität wieder ausgeföhnt werden miüffen, da⸗ 


mit er dem Altare näher Fommen dürfe, Dem das hieße 


das Abendmahl unwuͤrdig empfangen, wenn man e8 zu 
der Zeit’ empfienge, wo man Buße thun müßte Es fol 
nicht Seder nach Willkuͤr fich won der Kommunion auss 
fchließen oder davon genießen dürfen. Wäre uͤbrigens die 


Sünde nicht fo groß, daß fie den Menfchen der Exkom⸗ 


munifation fchuldig machte, ſo dürfte er fich die Arznei, 
die ihm. alle Tage offen steht, ‚nicht jelber verbieten. 
„im beften wirde wohl der den Streit entfcheident, 


welcher beide Theife vorerft ermahnen würde, daß fie, 


fich im Frieden Chrifti unverrädt halten mödy» 
ten, und Jeder Jeden Das thun ließe, was Jeder 
nach feiner innerften Ueberzeugung thun. zu 
müffen ehrlich glaubt. Denn im Grunde entehret 
Keiner aus beiden den Leib und das Blut deg Herrn, 
fondern fie wetteifern ja darin, wer das heilige Safras 
ment ehre. Es war auch Fein Widerfpruch und fein 
Rangſtreit zwifchen Zahäus und dem Haupt 
manne, obgleich jeher den Herrn freundlich unter ‘fein 
Dad aufnahm, und Diefer es laut ausfprach: ich bin 
nicht werth, dich unter mein Dad; aufzunehmen. Beide 
ehrten den Heiland, Jeder auf feine Weife; beide waren 
durch Sünde elend, beide fanden Erbarmung und Gnade, 
Hatte doch audy das Himmelbrod, das den Ifraeliten ges 
geben ward, nicht in jedem Munde denſelben Gefchmacd. 
So kann aud) das Saframent, das die Welt unterjochte, 


\ 


in den. Herzen der Chriſten mancherlei Eindrücke machen. 


Einer getraut fi fich nicht, , es taͤglich zu geniepen, ein Anz 
derer getraut fic nicht, den Genuß auch nur einen Tag zu 
unterlaſſen. Aber diefer. genießt — und Jener unterlaͤßt 
den Genuß aus Einem Grundtriebe, weil fie Ehrfurcht 


voor dem Heren haben. Nur verachtet will jene Speiſe 


nicht ſeyn.“.. 1% 
| Augustinus Epist, II. ad Januar, 
| Eine wahrhaft Elaffifche Stelle. 
„Alles alfo, was weder das Anfehen göttlicher Schrif- 


ten, ‚noch eine Einfeßung in den‘ Verfammlungen der Bir 


fchöfe, noch Die Gewohnheit der Uniwerfalficche für ſich 
hat, fondern nad, dem Wechſel der Sitten an man 
herlei Dertern auf unzählige Weifen wechfelt, fo daß - 
man feinen, oder fait feinen Grund mehr ausfindig ma- 
chen kann, der die Menfinen zu folchen Einfeßungen ver- 
leitet haben mochte, dieß Alles foll man, wenn man fann, 
mit feiter Hand wegfchneiden. Denn, wenn‘ man auc 
nicht geradezu‘ darthun Faun, daß. diefe Dinge wider die 
Pegel des Glaubens angehen, fo druͤcken fie doch die Res 
ligion, welche die Erbarmung Gottes, die nur wenige und 
einleuchtende Saframente einfeßte, frei und unbefchwert 
laffen wollte, mit knechtiſchen Laſten, ſo, daß das Loos 
der Juden erträglicher ſeyn dürfte, welche, ob fie gleich 

die Zeit der Freiheit nicht erkannten, fich doch nur ges 
 feglihen Buͤrden, und feinen bloß menfchlichen Fore 
derungen der Anmaßung ünterwerfen mußten... Aber bie 
Kirche. Gottes, gefegt zwifchen Spreu und Unkraut, weiß 
Vieles zu dulden, ohne Doch) etwas, was wider Glauben 


und heiliges Leben angienge, zu — noch zu verſchwei⸗ 
gen, noch zu thun.“ 


Omnia itaque talia, quae neque sanctarum Scriptura- 
rum auctoritatibus continentur, .nec in conciliis Episco- 
porum statuta inveniuntur, nee consuetudine universae 
Ecclesiae roborata sunt, sed pro diversorum locorum di- 
versis moribus innumerabiliter variantur, ita ut vix aut 
omnino nunquam inveniri possint caussae, quas in eis 
instituendis homines secuti sunt, ubi facultas tribuitur, 
sine ulla dubitatione resecanda existimo, 


Quamvis enim neque hoc inveniri possit, quomodo 
contra fidem sint: ipsam religionem, quam paucissimis 
et manifestissimis celebrationum Sacramentis miserieor 
dia Dei esse liberam voluit, servilibus oneribus premunt, 
ut tolerabilior sit conditio Judaeorum, qui etiamsi tem- 
pus libertatis non agnoverint, legalibus tamen sarcinis, 
non humanis praesumtionibus subjiciuntur. Sed Ecelesia 
Dei inter paleam multaque zizania constituta, multa to- 


— 3095 — 


lerat, et tamen quae sunt contra fidem, vel bonam vi- 
tam, non approbat, nec tacet, nec facit. 


EChryſoſtomus in feiner Homilie von dem apoftolifhen Syms 
bolum (Edit, Basil. MDAÄXXIX. Tom, V. p. 462) 


Die Univerfalficche frohlocket in Einer Regel der viebe 
Chriſti, und jauchzet im Glauben an den Namen Chriſti, 
beſonders wenn ſie durch den Zuwachs neuer Glaͤubigen 
bereichert wird. Judem das auserwaͤhlte Volk zunimmt, 
erweitern ſich die Herzen zum gerechtmachenden Glauben, 
Öffnen ſich die Lippen zur Feier des heilſchaffenden Ber _ 
kenntniſſes. Ihr aber, ihr. Sprößlinge des auserwählten 
Gefchlechtes, ihr Neulinge der Heerde Gottes, die von 
dem Könige der Könige, von dem Herrn der Herrfchens 
den das Gefchenf der Gnade heifchet, uud die Taufe des 
Heild erwartet, kommt, höret die Worte eures Bes 
fenntuiffes. Diefe Lehre, die unfere Regel if, 
belebet die Glaubenden, ftärfet die Zunehmenden. . 

„Die Apoftel haben uns nicht Alles in Briefen uͤber⸗ 
liefert, Vieles auch ohne Schrift. Und Diefes Viele ift 
auch glaubwürdig. Deßhalb halten wir auch die Ueber 
lieferung der Kirche für glaubwürdig. Es ift eiite 
Tradition: num Ei man nicht mehr weiter.‘ Meber 
Theſſal. II. Brief II. 9: 14.) 


Vincentius Lirinensis in feinem Commonitorium, 


„Da ich mich öfter mit großem Fleife und hoͤchſter 

Achtſamkeit bei den meilten, durch Heiligkeit und Lehrweis⸗ 
heit ausgezeichneten Männern: erfundigte, wie ich durch 
Huͤlfe einer gewiſſen und allgemeinen Negel die Wahrheit 
des Fatholifchen Glaubens von dem Irrthume der Häre 
tifer unterfcheiden koͤnnte, erhielt ich von Allen die Eine 
Antwort: Daß, wenn ich oder ein Anderer die Irrgaͤnge 
der Haͤretiker entdecken und meiden, und im geſunden Glau⸗ 
ben geſund und unangeſteckt beharren wollte: ſo muͤßten 
wir auf zweifache Weiſe unſern Glaubensweg befeſtigen, 
erſtens mit der Auktoritaͤt des goͤttlichen Ger 
ſetzes, und hernach mit der Tradition der — 
tholiſchen —— Caup. 1.) | 


— 394 — 


„In der Fatholifchen Kirche felbft muß man darauf fes 
hen, daß man das fefthalte, was überall, was alk 
zeit, wad von Allen geglaubt worden ift. 


„Denn das ift wahrhaft und eigentlich tathouſch wie 
es das Wort felbft anzeigt, weil es Alles auf eine uni⸗ 
verfale Weiſe in ſich fapt. 

„Dieß wird aber nur alsdann gefchehen, wenn wir ung 
nach der Univerfalität, nach der Antiguität und 
nach der Uebereinſtimmung richten. Wir richten. ung 
nad) der Univerfalität, wenn wir das für allein wahr 
in Sachen des Glaubens befennen, was die ganze, ‚auf 
dem Erdenkreiſe ausgebreitete Kirche befennt; wir richten 
ung nach der Antiquität, ‚wenn wir von den Lehren 
unferer heiligen Borfahren und Väter nicht abweichen; 
wir richten ung nad der Uebereinftimmung, went 
wir ‚in den Ausfprüchen des Alterthums allen oder faft 
alfen Lehrern und, Prieftern folgen. (cap. 3.) i 


sy Bielleicht „fragt Jemand: Da. das Verzeichniß der 
heil, Schrift vollfommen und dieſelbe in ihrem Suhalte 
überall zureichend. tft: warum fol ihr noch die Auftork 
taͤt der kirchlichen Einſicht beigefüget werden? 
Darum, weil, bei der Tiefe der goͤttlichen Schrift, die⸗ 
ſelbe nicht von Allen in einem. und eben dem Sinne vers 
ftanden wird, fondern der Eine ihre Ausfprüche fo, und 
der Andere — erklaͤrt, daß es beinahe ſcheint, als 
koͤnnten aus ihr eben ſo viele verſchiedene Bedeutungen 
als es Menſchen giebt, ausgemittelt werden. 


‚Anders erklaͤrt ſie Novatianus, anders Photinus, an— 
ders Sabellius, anders Donatus, anders Artus, Euno⸗ 
mins, Macedonius, anders Apollinaris, Priscillianus, an⸗ 
ders Jovianus, Pelagius, Coͤleſtinus, anders Neſtorius. 
Wenn nun allen dieſen fo großen Um⸗ und Abwegen des 
Irrthums ausgewichen werden fol, fo ift es nöthig, daß 
die Linie der prophetifchen und apojtolifchen Auslegung 
nach der Richtſchnur des kirchlichen und ———— Sin⸗ 
nes gezogen werde, (cap. 20 | 

„Was soll: alfo ein katholiſcher Chriſt ei wert füch 
ein Theilchen der Kirche von der Theilnahme an dem 


Univerfalglauben Iogreißt? Was anders ald dem ange 
jtecften und peſtaushauchenden Öliede die Gefundheit des 
ganzen Leibes vorziehen. Das foll er. Wenn aber eine 
neue Anfteefung nicht etwa ein Theilchen, fondern Die ganze 
Kirche bedrohen würde: fo Hanmere er ſich feſt an bie 
Antiquität, die durch Teinen Neuerungstrug irregeleitet 
werben kann. (cap. 4.) 


„Aber, fagt vielleiht Jemand, ſoll denn die Religion 
in der Kirche Chriſti nicht ſelbſt perfektibel de Zu⸗ 
nahme) faͤhig ſeyn? 

„Allerdings iſt ſie einer Zunahme fähig, und zwar der 
höchften, : Denn, wo wäre das Scheuſal im Auge 
Goͤttes, oder der Menfchenfeind, der und das Fort 
fihreiten in der Religion wehren wollte? Zum Wachs: 
thume wird erfordert, daß eine Sache, in ſich felber 
erweitert, zur Umänderung, daß etwas von einem Dinge 
in das andere verfest werde. Es ſoll alſo die. Kirche in 
allen und in den einzelnen Öliedern, nad) den Stufen 
des Alters und des Jahrhunderts, wachen an Verſtand, 
Wiſſenſchaft, Weisheit, aber wachfen in ihrer Art, und 
fo ſtets Eines im Glauben und Eines in der Lehre bleibe, 

„Die Religion der Seelen muß den Wachsthum der 
‚Körper nachahmen, die mit fortfcyreitenden Sahren ihre 
Theile entwiceln und ausbreiten, und doch diefelben bleiben, 


„Welcher Unterfchied zwifchen der Blüthe des Knaben, 
des Juͤnglings, und der Reife des Mannes, des Greifeg! 
Und doc, dieſelben, die einſt Knaben und Juͤnglinge was 
ren, dieſelben werden Männer, Greiſe. Bei allem Wech—⸗ 
ſel des Aeußerlichen in einem Menſchen bleibt dieſelbe Nas 
tur und dieſelbe Perſon deſſelben Menſchen. Klein ſind 
die Gliedmaßen des Saͤuglings, groß die des Juͤnglings, 
und ſind doch dieſelben. Das Syſtem der Koͤrpertheile 
iſt in dem Manne wie im Kinde daſſelbe, und wenn auch 
Einige bei reifem Alter erſt hervortreten, ſo waren ſie 
doch in der Anlage des Kindes ſchon da. Was im Greiſe 
erſcheint, lag ſchon im Säuglinge. Dieß ift alſo das Ge— 
ſetz des Fortſchreitens, dieß die Bedingung des 
ſchoͤnen Wachsthums: daß mit Zunahme der Jahre 


— 39060 — 


diefelben Theile, die die Weisheit des Scyönfers im Kinde 
gleichfam im Kleinen vorgebildet hat, int wadhfenden 
Körper nur größer werden. Würde die Menfchengeitalt 
in ‚eine fremdartige verwandelt, und zur jtehenden Zahl 
der Gliedmaßen ein. nened Glied hinzugefegt, oder eines 
von. derfelben abgejchnitten werden: jo müßte entweder 
der ganze Körper zu Grunde gehen, ‚ober aͤußerſt ge⸗ 
— oder mouſtroͤs werden. 


“ „S» ſoll auch das Chriſtenthum ſich an daſſelbe Ges 
fe ber Perfeftibilität halten; es foll mit den Sal 
ven an Feftigfeit, mit der Zeit an Ausbreitung, 
mit dem Alter an Innigkeit gewinnen, aber unverlegt 
immer baffelbe, bleiben, alle feine Gliedmaßen und 
Sinne beibehalten, die den wollftändigen Körper bilden, 
und in dem, was fein Wefen und. feine Beftimmung aus- 
nacht, Feine Umänderung leiden, Haben unfere Voreltern 
anf den Kirchengcker das Weizenkorn des Glaubens ge 
fäet: fo wäre es ungerecht, wenn wir, ihre Nachkommen, 
ſtatt des reinften Weizens der Wahrheit, das nebenbei ges 
füete Unkraut des Irrthums aͤrnten wollten.“ (eap. 
28 — 30.) 


* Mich. Feder hat fehon im Jahre 1785, noch als Kaplan zu 
Gersishofen, das ganze Commonitorium überfeßet, Bamberg 
bei Dederih. Es mag alfo das Ganze nachgelefen werden. 
Vorzuͤglich empfiehlt fich aber eines vortrefflichen Manıies 
legte vortreffliche Arbeit: Commonitorium J. Vincentii Li- 
rinensis. Praemisit Epistolam et Prolegomena ac netis illu- 


Ä stravit Engelb. Klüpfel, Viennae apudl. G. Binz MDCCCIX. 
wa * | 
Wer mehrere Belege diefes Geiftes leſen will, Forfche 
felber in den Alterthuͤmern der Kirche nadı, und er wird 
über die Menge und Reichhaltigkeit derſelben er⸗ 
ſtaunen, oder ſehe ſie wenigſtens in unſern Beſſern, z. B. 
in Stattler Dem. Cath. , nad). 


Daß übrigens das, was hier Tradition heißt, in 
Hinſicht auf dad Wort Gottes, das von Hand zu 


— 507 — 


Hand übergeben wird, eine göttliche, in Hinficht auf 
die erſten Zwifchenhände, zwifchen Chriſtus und uns, 
die fie übergeben, eine apoftolifche, und im Hinficht 
anf die Kirche, die fie von den Apofteln 'empfängt und 
fortpflanzet, erhält und verewiget, eine kirchliche Tra⸗ 
dition heißen koͤnne, duůͤrfte zu bemerfen ai uͤber⸗ 


fluͤßig ſeyn. 
Aber Eines, was der Grundlehre des katholiſchen 
Chriſtenthums ihre voͤllige Beſtimmtheit, und eine geſicherte 
Anwendbarkeit verſchaffet, darf nicht oberflaͤchlich auges 
blift, e8 muß mit einen? bis auf den Grund eindringen 
den Blick erfafjet, und mit einem runden Ja ausgefpros 
chen werden, dieß nämlich: Da der Buchjtabe der Tradis 
tion felbft wieder Buchjtabe ift, und erſt durch die Kir 
che, die ihn mit That und Kehre ausfpricht, ein le—⸗ 
bendiges Wort werden fann: ſo liegt ed Har da, daß 
alles Streben nad; Einheit — nach dem, was Die ficht- 
‚bare Kirche zur Einigen Kirche (unam Ecclesiam), zur 
Univerſalkirche (Ecclesiam catholicam) machen 
kann, vergeblich fey, wenn nicht ein fihtbarer Mittelpunkt 
der Einheit angenommen wird. Und diefer fichtbare 
Mittelpunft der Einheit muß nicht durch willkuͤr⸗ 
liche Dichtungen, nicht durch hiſtoriſche Muthmaßungen, 
fondern durch beurfundete Thatfachen gegeben, und ſelbſt 
eine außer Zweifel gefeste Thatfache feyn. Der heilige 
Cyprian fchente fich nicht, zu befennen, daß er dem fichte 
baren Mittelpunkt der Einheit in der Katheder Petri, 
von der die Einheit des Prieſterthums ausgeht, in der 
Einen Katheder, die durch das Wort des Herrn auf 
einem Felfen erbauet ift, gefunden habe, wie die im hi- 
ftortfchen Belege genannten Stellen ausweifen. Erſt die 
Anerkennung diefes fichtbaren Mittelpunktes der Einheit . 
giebt der Fundamentallehre des fatholifchen 
Chriſtenthums völlige Beſtimmtheit, fichere Anmwend- 
barkeit. Jetzt iſt der ſtumme Buchſtabe der apoſtoliſchen | 
Tradition ein lebendiges Wort, fortfchallend in der Ka- 
theder Petri und in allen apoſtoliſchen Gemeinden, die mit 
ihr die Eine : AGO Kirche daritellen. 


— 3098 — 


So gewiß es aber iſt, daß die Fundamentallehre des 
katholiſchen Chriſtenthums erſt durch den anerkannten ſicht— 
baren Mittelpunkt der Einheit voͤllige Beſtimmtheit und 
geſicherte Anwendbarkeit erhaͤlt: ſo iſt es eben ſo gewiß, 
daß gerade dieſe Unentbehrlichkeit des ſichtbaren Mittel— 
punktes der Einheit ein neuer Beweis von der Funda— 
mentallehre des katholiſchen Chriſtenthums ſey. Denn al 
les, was die katholiſchen Theologen von dem Centrum 
unitatis Eeclesiae, von der Auctoritas Ecclesiag, 
von der Potestas summi Pontifieis lehren, können fie 
zwar als Philofophen aus der. Idee der Kirche abzu— 
feiten oder zu Fonjtruiren verfuchen, als Theologen aber 


nur aus der apoftolifchen Tradition, das ijt, theils 
aus jenen Schriftitellen, die eine fir fich beftehende 


Klarheit haben, und als die gefhriebene Tradi— 
tion angefehen werden müfjen, theils aus der apoftos 
fifhen Tradition, die ſich außer den Fanonifchen 
Schriften und ohne diefe erhalten hat, ableiten. Und fo 
anerkennen fie durch die That, daß die apoftolifche Tras 
dition die ne des ie Ehriften- 
thums fey. 


r Beilage zur zweiunddreißigſten Vorleſung aus Maiſtres vor⸗ 
ttrefflichem Werke: „Vom Papſt;“ überſetzt von sr 
Lieber. Zweiter Band, S. 27284 


vd heilige römifche Kirche!“ rief ein der große Bifchof von 
Meaur vor Menfchen, die ihn hörten, und doch nicht hörten; „o 
‚heilige Kirche von Nom! Eünnte ich, wenn ich dich je vergeffe, 
‚mich felbft vergeffen! möge meine Zunge vertrocknen, und unbe⸗ 
„weglich mir im Munde bleiben ! 


Dr») heilige roͤmiſche Kirche! rief: feinerfeits Fenelon in je⸗ 
mer denkwuͤrdigen Verordnung, durch welche er ſich der Verehrung 
aller Jahrhunderte empfahl, indem er die Verdammung ſeines 


Buchs unterſchrieb; „o heilige Kirche von Rom! koͤnnte ich, wenn 


‚ch Dich je vergeſſe, mich ſelbſt vergeſſen! möge, meine Zunge 
„vertrocknen, und unbeweglich mir im Munde bleiben!“ 


Dieſe beiden erhabenen Geiſter waͤhlten aus der heiligen 
Schrift dieſelben Ausdruͤcke, um der großen Kirche ihren Glauben 


x 


— 399 


und ihre Unterwuͤrfigkeit auszufprechen. Heute iſt es an und, den 
glücklichen Kindern dieſer K Kirche, der Mutter aller Andern, die 
Worte jener beiden erlauchten Männer zu wiederholen, uud laut 
einen Slauben zu befennen, dem ung die größten Unfälle noch theus 
rer. müffen BER haben. 


Wem — heute der herrliche Anbli, den die Vorſehung 


den Menſchen giebt, und Alles, was ſie dem Auge eines Mahn 


Baar noch verfpricht, wicht begeikenk 


Pe 


9 heilige Kirche von Rom! fo Tange die Sprache mir e Beibg, 


werde ich fie gebrauchen, um dich zu feiern. Sey gegrüft, du um: _ 


fierbliche Mutter der Wiffenfchaft und der Heiligkeit, salve magna 


‚parens! Du .verbreiteteft das Licht bis zu den aͤußerſten Enden 
der Erde; überall, two verblendete Souverainitäten deinem Eins 


fluffe Feine Hinderniffe in den Weg legten, und oft fogar troß 
derfelben. Du warſt es, die den Menfchenopfern, den barbarifchen 


oder fchändlichen  Gebräuchen, den: traurigen Worurtheilen, der 


Tracht der Unwiſſenheit ein Eude gemacht; und überall, wo deine 
Gefandten nicht hingelangen konnten, fehlt etwas an der Men; 
fihenbildung. Die großen, Männer gehören dir an.. Magna vi- 
rum! Deine Lehren reinigen die MWiffenfchaft von jenem Gifte 
des Stolzes umd der Unabhängigkeit, welches fie allemal gefähr: 
li) und oft unheilbringend macht. Deine Päpfte werden bald 


allgemein ausgerufen werden als die hoͤchſten Agenten der Mens 


fehenbildung, die Schöpfer der 'enropäifchen Monarchie und Ein— 
heit, ‚die Bemwahrer der Wiffenfchafe und der Künfte; die Grin: 
der und gebornen Befchüger der bürgerlichen Freiheit; die Vers 
nichter der Sklaverei, die Feinde des Des potismus, die unermuͤd⸗ 
lichen Stuͤtzen der Souverainitaͤt, die Wohlthaͤter des menfchlichen 
Geſchlechtes. Wenn fie zumeilen bewiefen haben, daß fie Mens 
fchen waren: Si quid illis humanius aceiderit, die Augenblicke 


waren kurz: eim Schiff, welches das Waffer durchſchneidet, laͤßt 
wenigſtens Spuren ſeines Weges zuruͤck, und Fein Thron der Erde 
hat je fo viel Weisheit, Wiffenfchaft und Tugend getragen. In Mitte 


aller ordentlichen Umwaͤlzungen hat Gott über Dir, o du ewige 
Stade! beitändig gemacht. Alles, was dich vernichten kounte, 
hat fich gegen dich vereinigt, und du ſteheſt aufrecht; und wie du 
einft der Mittelpunft-des Irrthums gemwefen, fo. bift du -feit acht; 


‚sehn Jahrhunderten der Mittelpunkt der Wahrheit. Die tömifche 
Gewalt hatte dich zur Veſte des Heidenthums gemacht, welches 


J— 
— 
Tr 
4 
— 


— 100 — 


in der Hauptſtadt der bekannten Welt unüberwindlich ſchien Alle 
Jerthuͤmer der Welt vereinigten fich, zuſammen laufend, wider 
Dich, und der Erfte deiner Kaifer fammelte fie in einem einsigen 
firaplenden Punkte, und heiligte fie Alle in den Pantheon. Der 
Zempel aller Götter erhob fich innerhalb deiner Mauern, und 
von allen den großen Monumenten ift er allein noch ganz unvers 
legt. Die ganze Gewalt der chriftlichen Kaifer, aller Eifer, alle 
Begeifternng, und wenn man will, auch alle Rache der Ehriften 
gieng gegen die Tempel los. Theodoſius hatte kaum das Zeichen 
gegeben, und es verſchwanden alle diefe prächtigen Gebäude, Ver⸗ 
gebens fchienen die erhabenften Schöuheiten der Architeftur um 
Gnade für dieſe ſtaunenswuͤrdigen Gebäude zu bitten; vergebens 
ermüdete ihre Fefigkeit die Arme der Zerſtoͤrer; um die Tempel 


von Apamaͤa und Alerandrien zu jerflören, mußte man die Mittel 


ergreifen, ‚welche: der Krieg bei Belagerungen anmwandte. Aber 
nichts. Fonnte der allgemeinen Aechtung mwiderfichen. Das Pan— 
thbeon allein ward erhalten. Ein großer Zeind des Glaubens ers 
Flärt beider Erzählung diefer Thatſachen: daß er nicht wiffe, 
durch welch ein Zufammentreffen slüfliher Umſtaͤude 
das Pantheon fey erhalten worden bis zu. dem Auges 


“blicke, wo in den erſten Sahren des fiebenten Jahrhunderts ein 


Papft dafielbe alten Heiligen weihete. Ja wohl ohne Zwei⸗ 
fel, er wußte es nicht; aber wir, wie Fünnten wir es nicht wiſ— 


fen? Die Hauptftadt des Heidenthums war beſtimmt, die des 


Chriftenchums zu werden; und der Tempel, der in Diefer Haupt: 
fiadt alle Siräfte der Abgötterei vereinigte, follte alle Lichter des 
Glaubens vereinigen. Alle Heiligen an die Stelle aller 
Goͤtt er! Welch ein unerfchöpflicher Gegenfand tiefer philoſo⸗ 
phifcher und religiöfer Berrachtungen! In dem Pantheon if 


‚ das Heidenthum berichtigt, und zu dem urfprünglichen Syſtem zu⸗ 


ruͤckgefuͤhrt, wovon es nur eine fichtbare Verderbniß geweſen. 
Der Name Gott iſt ohne Zweifel ausſchließlich und unmittel⸗ 
bar; deſſenungeachtet giebt es mehrere Götter im Him⸗ 
mel und auf Erden Es giebt Geifter, beſſere Naturen, vers 
göttlichte Menſchen. Die Götter. des Chrifienthums find Die 
Heiligen. Alle Götter verfammeln fih um Gott, um ihm 
an der Stelle und im der Ordnung, die ihnen angewieſen ſind, zu 
dienen. 


O wundervolles Schauſpiel, wuͤrdis deſſen, der es uns bereis 


tet hat, und nur — fuͤr diejenigen, die es zu betrachten 


a 
Perrus 


Petrus mit feinen bedentungsvollen Schlüffeln hat. die des- 
alten Janus verſchwinden machen. Er ift überall der Erfte, und‘ 
alle Heiligen treten nur in feinem Gefolge herein. Der Gott der’ 
Ungerechtigkeit, Plutus, hat dem größten Wunderthäter Plag‘ 
gemacht, dem demuͤthigen Franziskus, deſſen unerhörter Auf 
ſchwung die freitvikige Armuth fehuf, um den Laftern des Reich⸗ 
thums das Gleichgewicht zu halten. An die Stelle des fabelhafr 
ten Eroberers von Indien feher den bewundernswuͤrdigen E aver, 
welcher es wirklich ergbert hat. Um Millionen von Menſchen zu 
Nachfolgern zu erhalten, rief er Eeinestvegs Trunfenheit und Aus⸗ 
ſchweifung zu Hülfe; ‚er umgab fich nimmer mit unreinen Bas 
chantinnen: er zeigte nur ein Kreuz; er predigte nur Tugend, 
Buße und Kreuzigung der Sinne. Johann von Gott, Jo— 
hbann von Matha, Vinzentius von Paulus (die jede 
Sprache, jedes Alter fegnen möge!) merden den Weihrauch em— 
pfangen, der einft zu Ehren des Menfchen mordenden Mars, der 
rachfüchtigen Juno verdampfte, Die unbeflecdte Sungfrau, 
die vorzüglichfte aller Kreaturen in der Ordnung der Gnade und 
Heiligkeit, ausgezeichnet unter allen Heiligen, wie die Sonne 
unter allen Sternen, die Erfie von menfchlicher Natur, 
welche den Namen des Heils ausgefprochen;z Die, de 
ven Schvof der Ewige gefegnet, indem er feinen 
Geift ihr einhauchte, und einen Sohn ihr gab, wel 
herdas Wunder des Univerſums iſt; Die, der es gegeben 
war, ihren Schöpfer zu gebären; die nur Gott über fich fieht, und 
die von allen Jahrhunderten felig wird genennt werden: die goͤtt⸗ 
lihe Maria fleigt auf’ den Altar der Venus-Pandemos. 
ch fehe Chri'ſſt um mit dem Gefsige feiner Evangeliften, feiner 
Apofiel, feiner Kirchenlehrer, feiner Märtyrer, feiner Bekenner in 
das Pantheon einziehen, wie ein König als Sieger mit dem Ges 
folge der Großen feines Neichs in die Hauprftadt feines übers 
wundenen und vernichteten Feindes einzieht. Bei feinem Anblicke 
verſchwinden alle die Menfchen : Götter vor dem Gott⸗Men— 
fhen. Er heilige durch feine Gegenwart das Pantheon, und err 
füllt es mir feiner Majeſtaͤt. Es iſt gefchehen um daſſelbe: alte 
Zugenden haben die Stelle aller Later eingenommen. Der huns 
dertkoͤpfige Irrthum bat vor der unrheilbaren Wahrheit die Flucht 
genommen: Gott herrfcht in dem Pantheon, wie er im Himmel 
in Mitte aller Heiligen berrichet. 

Fuͤnfzehn Jahrhunderte waren über die heilige Stadt bins 
gegangen, ald der chriftliche Geift, bis zum Ende Befieger des 

I. DM. v. Sailer’s Sammel, Schriften. VIII. Bd. Zte Aufl. 20 


» 


* 


— 402 — 


Heidenthums, das Pantheon in die Luͤfte zu erheben unternahm, um 
aus. demſelben nur die Krone feines berühmten Tempels zu ma— 
chen, den Mittelpunft der Eatholifchen Einheit, das Meiſterwerk 
menfchlicher Kunft, und die fehönfte irdifche Wohnung Deffen, 
der unter und gewohnte bat voll der Gnade und der 
Wahrheit 2 5 


AN 








‘ 
entre FR 


— 403 — 


Dreiunddreißigfte Borlefung. 





Der zweite hei * Religionslehre. 
Die Sittenlehre, die Tugendlehre, die Lehre von ‚der Liebe. 


87%. 


Das die Lehre Sefu von der Liebe gegen Gott und den 
Nächften alle Spuren einer himmlifchen Abkunft. in fich 
trage, daß Jeſus insbefondere das Weſen aller Geſetz⸗ 
erfüllung, die Neinheit und Energie des guten Willens, 
die unmittelbaren zwei Aktus des gefegerfüllenden Wil 
lens, Selbftverläiugnung und Gebet, die Probe des Tugend« 
finnes, und das Vorbild alles Guten auf die gottes⸗ 
würdigfte Weife gelehrt habe: ward. im zweiten Abfchnitte 
der Glaubenslehre mehr angezeigt, ald ausgeführt. Hier 
fol_vorerft die Lehre jelber in ihrem eigenen Lichte ents 
hüllet, uud dann die ganze Tugendlehre — ald eine tehre 
von der Liebe dargeftellt werden. 


4% 


Die Lehre von der Liebe, in ihrem eigenen Lichte, 
dargeftellt. | 
Wenn Jeſus als der unvergleichbare Sohn des HE 


fifchen Vaters, und als der göttliche Gründer eines 
neuen unſterblichen Reiches auf Erden anerfannt wird, 


wie ihn anzuerkennen die Vernunft Gründe genug hat, , 


und der Ehrift die Seligfeit genießt — ihn für das zu 
halten, was er ift: fo wird feine und feiner eriten Juͤn-⸗ 
ger Lehre überhaupt, und die Lehre von der Liebe ing- 
befondere als Eine angefehen werden müffen. Denn, wie 
ihn der Vater mit feiner Geiſtesfuͤlle auf eine unver⸗ 
gleichbare Weiſe taufte: ſo kaufte er feine Jünger 
mit der ſeinen — auf eine bewunderungswuͤrdige 
20° 


— 4104. — 


Weife. Die Einheit des Geiftes in Jeſus und feinen 
erften Apofteln jirahlet am hellften aus der Einheit des 
Inhaltes der Lehre in das Ange, und ftrahlet am aller: 
hellſten in das Auge defjen, der nicht bloß die That- 
fache, daß Jeſus durch fich und feine Apoftel Liebe ges 
Vehret, genau unterfuchet, und dann den großen Sinn 
der Lehre ausgeforſchet hat, jendern die Liebe — in ſich 
ſelber lebendig tragend, ſie aus eigener, anhaltender, in⸗ 
nerſter Anſchauung kennt. | 


Da dieß Lestere, die Eine große Hauptfade, 
nicht ‚gelehrt werden kann, fo muß ich mich begnügen, 
zuerſt die Thatfache, und dann au den Sinn ver 
Lehre dar zulegen. 

HERR 5 
Die Thatfade 


Ä Zeſus war der goͤttliche Evangeliſt der Liebe in ſi ich und 
durch * Apoſtel. | 


88 jr 
gefis = — der göttlihe Evangelift der Liebe in feine eigenen 
Perſon. 

Daß Jeſus die Liebe gegen Gott und die Menſchen 
ausdruͤcklich als das hoͤchſte Geſetz (das Hauptgeſetz) 
und als das ganze Geſetz erklaͤret habe (Matth. XXII, 
35—40. Mark. XII, 28 -315), iſt um fo weniger zu 
verwundern, “da dieſes ſchon Mofes gethan hatte, der 
doch fon fo große Ruͤckſicht auf den harten Nacken feines 
Volkes und feiner Zeit nehmen mußte, aber hier nur auf 
die heilige, urfprüngliche Menjchheit, wie ſ e aus Gottes 
Hand kam, geſehen haben. konnte. 


Liebe iſt Jeſu nicht nur de. Inbegriff alles Ge 
feßes, fie iſt ihm auch Inbegriff aller Prophezeiung. 
Es fann in der göttlichen Gefeßgebung nichts geboten 
werden al Liebe, und: ber. Seher Gottes kann nichts 
feben, nichts fordern, nichts verhrißen, nichts ans, 
bahnen ald Liebe, und alle Seligfeiten, die mit 


3 
j 
J 


— 405 — -» 


ihr som Himmel kommen und‘ den: Himmel felber aus⸗ 
machen; kann nichts ftrafen, als was die Liebe ſchwaͤcht, 
unterdrückt, verbannt, nichts drohen — als die Hölle, 
die mit der verbannten Liebe un das Menſchenherz fommt.u... 


Liebe iſt Jeſu das hoͤchſte Geſetz und das ganze 
Geſetz: "eben deßwegen fetzt er auch die hoͤch ſte Voll⸗ 
kommenheit, die wahre Gottaͤhnlichkeit, deren 
der menſchliche Wille fähig iſt, in die Liebe. Lieber wie 
Gott, dam feyd ihr vollkommen, wie Gott. ! (Matth,V, 

45 — 48.) Ließe fich eine höhere Vollkommenheit bes | 
menfchlicherr Willens denken, als die vollfommene Liebe 
des Urs und All Bollfommenen in ihm und in feinen 
Ebenbildern: fo koͤnnte die Liebe nicht das hoͤchſte, nicht 
das ganze Geſetz feyn. 

Liebe iſt Jeſu das hoͤchſte das Haupt "und das 
ganze Geſetz: darum iſt ſie ihm auch die Bedingung 
des ewigen Lebens. (Ruf. * 20 Auf die Eine 
Frage aller Fragen: Was muß ich thun, daß ich 
felig werde? giebt e8 nach Jeſus auch nur Eine Ants 
wort aller Antworten: Du follft lieben, lieben 
Gott von ganzem Herzen, aus ganzem Gemüthe, mit als 
fen Kräften; du follft lieben, lieben beiten Nächften 
wie Dich. 

Lliebe iſt Jeſu das hoͤchſte Geſetz und das ganze 
Geſetz: darum konnte er nicht umhin, ſie auch zum Sie— 
gel feiner Juͤngerſchaft zu machen. Liebet: daran ſoll 
alle Welt erkennen, daß, ihr. bei mir, im Die: Schule ‚gez 
gangen feyd. (Joh. XIH, 359: Die geheimen Schulen 
haben Geheimftegel, Geheimzeichen ihrer Glied; die öfs 
fentliche, ‚die Univerfalfchiile Ehrifti hat, zum oͤffentlichen, 
zum Univerſalſiegel ihrer. Glieder — Die Liebe. Die Schu— 
len der, Philofophen der Vorzeit lehrten mancherlei: Die - 
Epnifcye Schule Lehrte Ruͤckkehr zur Einfachheit der Na⸗ 
tur, die, Afademie Zweifel, die Stva Unabhängige 
feit von der Begierde — die Schule Jeſu — Liebe. 

Liebe iſt Jeſu das Höchfte und das ganze Geſetz: 
darum hat der Eingeborne, der Schooßvertraute des Va⸗ 


— 406 — 


ters, von ſeinem Vater nichts zu offenbaren, als die Liebe 
gegen die Menſchheit (Joh. III, 16.), und bei die 
fer Offenbarung feinen höheren Zweck, als die Menfch- 
heit, durch die bevorfommende Liebe des Vaters gegen fie, 
zur dankbaren Liebe gegen ihn -umzufchaffen. (Joh. XIV. 
XV. XVL) Darum hat feine Erfcheinung auf Erden 
feinen Zwed und feinen, Beruf, al8 den Einen: „Dem 
ausgearteten Gefchlechte wieder Macht zu geben, Gottes 
Geſchlecht aus Liebe, in Liebe und durch Liebe zu 
werden.’ (Sob. I, 12.) Demnady find nicht bloß die 
einzelnen Lehren Jeſu — wo er von der Liebe als Gefeß 
foricht, ald Lehren von der Liebe anzuſehen; fondern die 
ganze Dffenbarung Gottes durch Chriſtus hat feinen an 
dern Text, ald den: Gott ift die Kiebe; fein ande 
res Gebot, ald das: Liebet; feinen andern Zwed, 
ald den: das Feuer der kimkfifchen Liebe auf Erden 
anzuzinden. Und die möchte wohl die Fürzefte, die eins 
fachite, die erhabenfte und die wichtigfte Demonstratio 
Evangelica feyn: „Gott ift die Liebe: liebet, o Men- 
fhen! dann werdet ihr Licht im Lichte fehen, den 
Bater im Sohne erfennen! Dann werdet ihr ewi- 
ges Leben haben im ewigen Leben! Dann werdet 
ihr immer weiter vor- und tiefer eindringen vom Lichte, 
durch Liebe, zum Leben.“ Dieß ift das Evangelium 
Gottes durch Jeſus; darin ift die ganze Glaubens-, 
Sitten» mid Geligfeitslehre in Eins verſchmolzen; das 
trägt auch zugleich die höchfte Evidenz und den Himmel 
von Gewißheit in fich — für ein jedes Gemüth, das nicht 
von allen Eindrücken des Göttlichen entblößt, und für geift- 
liche ag n od ein geijtliches Auge hat, oder ſchon hat. 


Liebe iſt Jeſu das hoͤch ſte und das ganze Geſetz: 
darum konnte auch fein ganzes Leben nichts anders dar—⸗ 
ftellen, al® das erhabenfte Muſter der reinften 
und thätigften Liebe gegen feinen Vater und 
die Menſchen. Gein Leben und Sterben war nur Eine 
That- und Mufterlehre: liebet, wie ich geliebet 
habe; Eine That» und Mufterlehre, die fih in dem, 
Consummatum est am Kreuze am fchönjten ausſprach. 


— 407 — 


I 85: 
Jeſus, der göttliche Evangeliſ der Liebe in feinen Ypoflei. 
Ein Geift, Eine Lehre, Fine Liebe — in der Lehre 


Shrifti und feiner Lehrboten. Sefus lehrte dieſelbe Liebe 
durch Johannes, der nicht ohne Grund der Juͤnger 


der Liebe heißt, einmal, weil er am meiſten geliebet 


hatte und geliebet ward, und dann, weil er das bered⸗ 
teſte Organ der Liebe geworden iſt. 


Weil Liebe gegen Gott und Liebe gegen bie Men, 


fchen, im Gemuͤthe des Liebenden und. dem Weſen nad, 
Eines ift, und Eines feyn muß, wenn fie anders bie 
heilige Liebe des Heiligen — das iſt, was fie ſeyn foll; 


weil die Liebe gegen Gott und die Menfchen Eine Flamme - 


bildet, nur verfchieden in der Richtung nach oben, oder 
nach der Menjchheit hin: fo hatte Johannes nicht nöthig, 
wenn er von der Liebe fprach, den Falten Beifaß: gegen 
Gott und gegen die Menfchen, zu machen. Denn 
die Eine Flamme, die von Gott ausgeht, und‘ die 
Menfhheit umfaßt, und von da fich wieder in Gott 
zuruͤckbeugt (und das ift ihm die Liebe, und das ift fie 
nach ihrem Wefen), macht nicht viel: Worte, it lauter 


Leben, und wenn fie reden muß, ſo fpricht fie glühende 


Worte, und wenn fie fchreiben muß, fo fehreibt fie Flam— 
menfchrift.. Wenn alfo Johannes öfter von der Liebe 
gegen die Brüder, als von der Liebe gegen Gott ſpricht: 
ſo hat er doch nur das Eine Feuer im Sime, Der 
Blitz ift einſylbig, die Liebe auch. N 


Liebe it nad Sohannes, oder nach Chriftug, die — F 
durch ihn offenbaret, 


1) das Neu⸗Gebot und. dag Alt:Gebot. (1 — 
I, 7.) Das Gebot der Liebe iſt fo alt, als das Geſetz 
des Lichtes. Sobald das himmlifche Licht‘ ein Menfchen- 
her; durchleuchtet, fo find die Finjterniffe, und mit 
ihnen die Merfe der Finfterniß, Menfchenhaß und Eigen- 
liebe, gewichen — und das göttliche Weſen der Liebe hat 
den. Thron, der ihr von Rechtswegen gebührt, eingenom⸗ 
men. Die Liebe iſt das Alt⸗-⸗Gebot, denn Liebe war 


— 408 — 


das Eine Gefen im Paradiefe, und blichb dad Eine Gefer 
nad) dem Falle. 


Die Liebe ift dad alte Gebot, denn es in das Ge. 
ſetz der Engel, die Gott ſchauen, und der Menfchen, die 
zum engelreinen Sinn und Gottesfchauen erzogen werden 
folfen. Die Liebe ift das alte Gebot, denn nachdem 
es in der Religion der Patriarchen, im Geſetze Moſis, 
und in der Weiffagung der Propheten als die Eine Seele, 
die den ganzen Leib der Tugend befebet, geherrfcht hatte: 
fo durfte es -in der Gefeßgebung Jeſu nichts von feiner 
Wuͤrde verlieren, Vielmehr hat ſich das Alt- Gebot der 
Liebe durch die Ausgießung des heiligen -Geiftes in den 
Süngern Sefu mit neuer Kraft und in neuer Herrlichkeit 
dargeftellt, und darum ift dag Alte neu geworden. Wie. 
viele Chriften, fo viele Gefalbte mit Ehrifti Geiſt; wie 
viele Gefalbte, fo viele Herzen, die das Gebot der Liebe, 
mit dem Finger Gottes: gejchrieben, in fich tragen. Denn 
die Liebe, im Innern gebietend, falbet den ganzen Mens 
ſchen mit Muth, mit Milde und mit herzdurchdringen⸗ 
der Kraft, daß der Nachbar, der ihn handeln, leiden, 
lieben fieht, ausruft: Hier it Ehrifti Geiſt! : 
Liebe it ihm eben deßwegen 

2) das Keunzeichen des Lichtes. (1 Joh. II, 
10. 11.) Der Liebende iſt ans dem Lichtreiche neu ges 
boren, alfo ein Sohn des Fichte; alfo it lieben — 
bie Probe höherer Abkunft. Wer noch haffet, wandelt 
im Finſtern, und weiß nicht, wo er hingeht; wer liebet, 
wandelt im Lichte, und ſtoͤßt nirgend an. Das iſt der 
Kanon des göttlichen Bruͤder⸗Vereins, den Jeſus ſtiftete. 
Die Nacht, die auf der Menſchheit liegt, wird nur durch 
die allerleuchtende Liebe beſiegt. Die Finſterniß flieht nur 
da, wo die Liebe einkehrt, und kehrt da wieder ein, wo 
die Liebe das Haus verläßt. 


Nur die Liebe, aus dem Lichte gezeugt, und im Lichte 
wirkſam, -verfcheuchet mit ihrem „nie entweihten Auf 
färungs-Strahle” — die Nadıt. - Alles Gekreiſch 
von Aufklärung in den ewigen Angelegenheiten ift, ohne 
himmlifches Licht, und ohne Liebe, die aus dem Lichte ‚ges 


— 409 — 


zeugt wich, und neues Licht —— nur Mutterweh 
neuer Finſterniſſe. | 


Liebe it ihm eben deßwegen 


3) das Siegel der Kindſchaft Gottes, der Haube 
orden der Kinder Gottes. Wer den Bruder nicht Fiebt, 
ift nicht aus Gott, (1 Joh. III, 10.) Wer Sinde thut, 
iſt Aus dem Teufel. (8) Wer aus Gott geboren ift, hat 
feinem Pater die Liebe, den fprechendften Zug des goͤtt⸗ 
lichen Weſens, abgelernet. Es giebt in Familien aus⸗ 
gezeichnete Lineamente, die ſich von Kindern zu Kindern 
forterben; in dem Geſchlechte der Kinder Gottes erbet 
ſich das herrſchende Lineament der Liebe fort. Deun, 
was aus Liebe geboren iſt, iſt Liebe. 


Liebe iſt ihm eben deßwegen 


4) Charakter des geiftlihen Lebens. Wer ben. 
Bruder nicht_liebt, bleibt im Tode. Wir wiffen, daß 
wir aus. dem Tode in das Leben durchgedrungen find, 
denn wir lieben die Brüder.‘ (1 Joh. Ill, 14.) 


Licht, Liebe, Reben find Eines, wie Finfternig, Mens 
ſchenhaß und Tod Eines ſind. 


Dieß göttliche Drei-Eins, Licht, Liebe, Leben, iſt ah 
in. Hinſi icht auf Erkenntniß Gottes und Chriſti; iſt 
Liebe in Hinſicht auf die Richtung des Gemuͤthes zu Gott 
und den Menſchen; iſt Leben in Hinſicht auf die Grund 
thätigfeit, die Licht ausftrahlet, und’ Liebe entzündet, und 
durch Ficht und Liebe auf die Menfchheit wirfet, und fie in 
ſich und Andern aufhellet, heiliget und befeliget, Deßwegen 
fonımt (1 Joh. Il, 23.) das große Schlußwort vor: 
Und das ift fein Gebot, daß wir an den Namen feines 
Sohnes Jeſu Ehrifti glauben, und einander Tieben. 
Das geiftliche Leben ift ald Glaube Licht, ald Ergebung 
an Gott und ald Hingebung für die Brüder Liebe, 
Daraus ergiebt fich denn auch, Daß, wer entweder Piebe 
ohne Glaube erziehen, oder. Liebe außer ber Sphäre 
des geiftlichen Lebens bilden will, ‘das — Drei 
Eins zerreißt. 


— 440 — 


Liebe iſt ihm * 


5) nicht bloß geiſthiches, ſondern wahrhaft ewi- 
ges Leben, das, aus. Gott ſtammend, Feinen Tod zu 
fürchten hat, und unfterblich, wie Gott, in dem Menſcheu⸗ 
geiſte fortlebet von Aeonen zu Aeonen — hier eine wahre 
Antizipation der Ewigkeit, und druͤben nur Fortſetzung 
des Lebens ohne Ende. Wer den Bruder haſſet, iſt 
ein Todtſchlaͤger, und im Todtſchlaͤger haftet nicht das 
ewige Leben. (1 Joh. III, 15.) Alſo muß in dem Lie 
benden ewiges Leben wurzeln, ewiges Leben blühen, 
ewiges Leben als volle Frucht fih im Schooße der Emwig- 
feit auszeitigen. 


Liebe ift ihm | 

6) die einzige Dankbarkeit, die und ziemt gegen 
den, der zuvor geliebet hat, und der einzige Erfaß dafuͤr, 
daß wir Gott ſelbſt nicht fehen Fönnen. 


Liebe it der einzige Dank, deffen wir empfänglich 
find: denn darin befteht die Liebe, nicht, daß wir Gott 
zuvor geliebt hätten, fondern daß er und zuvor geliebt 
und feinen Sohn zur Verföhnung für unfere Suͤnden ge 
fandt hat. (1 Joh. IV, 10.) 


Ein ftolzes Gemuͤth ift entblößt von aller Liebe; denn 
es ift voll von ſich, fieht feine Sünde nicht, bedarf 
feiner Vergebung, tft fih felbft Alles, kann 
nichts lieben — als fich ſelbſt. Aber mit dem Lichte, 
das die Suͤnde aufdect, mit der Gnade, die Vergebung 
anfiindet, fommt Demuth und Danfgefühl in die 
hoffende, von Erbarmung lebende Seele, Laſſet ung lie: 
ben Den, der ung ‚zuvor geliebt! 


Liebe ift Erfah für das Nichtſehen Gottes. Denn uns 
fähig, Gott in feiner Unzugaͤnglichkeit zu ſchauen, 
können wir Gott — wenigftens in feinem Bilde, in der 
Liebe, die unfer Innerftes erhellet, entzündet, reis 
niget, mit lauter himmlifchen Trieben und Selig— 
feiten füllet, fhauen Wer in ſich die Liebe fchauet, 
fchauet Gott. 


— HE — 


„Niemand hat Bott jemal gefehen: wenn wir 
einander lieben, fo bleibt Gott in und 16, 
cı Sch. IV, 12) ° 


Liebe ift ‚ihm 


7) die einzige Nachahmung Gottes kb die wahre 
Vereinigung mit Gott. Die einzige Nachahmung des 
Göttlichen; hat und Gott zuvor geliebet, fo — wir 
einander auch lieben. (1 Joh. IV, 16.) 


Es fehlt zu feiner Zeit an Menfchen, die in Wiffen- 
‚Schaft, an Andern, die in Allmadht,.und an Einigen, 
die in Wiffenfhaft und Allmacht Götter werden 
wollen; in Wiffenfchaft Jene, die fich jelbft ihr Gott ge: 
worden find; in. Allmacht die, welche eine neue Schöpfung 
außer ſich bereiten; in Wiffenfchaft und Allmacht die, wel⸗ 
che nicht nur in ſich das alte Univerfum in Ideen neu 
fchaffen, fondern auch außer fich ein neues Univerfum in 
Staat und Kirche darftellen wollen. Wie weit fie es in 
diefer dreifachen Dperation gebracht haben, bringen 
und bringen werden, davon ift die ganze Weltgefchichte 
theils Zeuge, theils Prophet. Daß aber die drei Lauf—⸗ 
bahnen, in denen die Kandidaten nicht weniger als die 
Götterwerdung ‚in Wiffenfchaft und Allmacht“ er 
ringen wollen, in unendliche Labyrinthe führen und führen 
muͤſſen, wenn fie nicht von der, Laufbahn der Liebe aus; 
gehen, und fich immer in Berbindung mit der’ Laufbahn 
der Liebe halten, bedarf Feines Erweifes aus der Welt 
gefchichte. Es Tiegt im Weſen des Göttlichen. Nicht die 
Allmacht Liebt, nicht die Allwiffenheit Tiebt — ſondern 
umgefehrt: Gott ift die Liebe, und die Liebe ift das te 
ben jelbft, und das Leben — ift allfhauend und all 
belebend. 


* „Das höhere Schauen fast wahr und finnreich Arnold 
Kanne), dem wir in der Forfchüng nachiagen, ift nämlich 
bedingt durch ein höheres Seyn, und es wächst das Miffen 
nicht auf dem Baume thepretifcher Erfenntniß, fondern auf 
dem Baume des Lebens. Thätlich, mit Leben und Weſen, 
follen wir im Befig deffen fenn, was mir erfennen, und das 
Erkennen fol nichts feyn, als das Bewußtwerden von dem, 


| 


— 412 — 


was wir im wirklichen Weſen find. Das Wiſſen alſo wird 
Daun hervorgebracht durch wirkliches, lebendiges Haben, und 
if, da es ſich auf innere, im Weſen der Seele vorhandene 
geiſtige Guͤter bezieht, ein Innewerden von dem, was wir 
inne, d. h. innen haben. Gott wird dann auf dieſem Weg 
erkannt, dadurch, daß Er in uns erlebt wird, und Er ift ung 
dadurch bewieſen, daß Er fich thätig und lebendig an uns 
„erwiefen. Sind wir dann fo mit wirklichen Weſen in Ihm 
und Er in ung, Er die Fülle der UniterblichFeit, fo iſt uns 
der Beweis von der Unfterblichfeit der Seele von felbft zus 
gefallen; denn wir erleben dann die Hufterblichkeit ſelbſt: 
es ift und völlig gewiß, daß wir eines göttlichen unfterblichen 
Gefchlechtes find, weil wir in Leben und Weſen ein Antheil 
an Gott befiken. Eben fo wird uns die dritte Frage der 
Metaphyſik auf diefe lebendige und thätliche Weiſe beant; 
wortet: denn wer im Leben mit Gott in Liebe und kind— 
lichen Gehorfam feinen Willen den göttlichen Willen ganz 
uͤͤbergiebt, der wird ohne allen Verfiandesbeweis inne, daß 
fein Wille vollendet frei if. Gerade als Gebundener des 
Herrn weiß er ſich in völliger und herrlicher Sreiheit. 


Auf diefem Wege, wo man fehauet, was und wie man 
if, und Weiterfihreiten in der Erkenntniß bedinge ift durch 
das, was man im Weſen geworden if, — auf diefem Wege 
wird dann erft endlich ein erfleflicher, d. i. nach allen Sei⸗ 

ten zureichender Satz gewonnen, der toirklich etwas fekt, 
und Diefer Sat ift num Fein todrgeborner Begriff, ſondern 
ein lebendiges Wefen Wort, das Leben, Wefen und That 
bat und bringt, und in dem Leben die Wahrheit. 


- Diefen Weg der Erfenntnig weist uns die Dffenbarung, 
und aus den erfien Dffenbarungen Gottes aır die Menfchen 
Fennt ihn noch die Philofophie der Indier. Denn die indi⸗ 
ſche Philoſophie handelt von einem Oum ⸗Adkiteh, einem 
Seyn⸗-Wiſſen oder Weſen— Wiſſen,*) in welchem der Menſch 
mit dem Urweſen auch das Urwiſſen wieder erlangt, oder 
von einem Nour⸗Diat, d.h. Licht und Leben, das ſich felbft 
‚and Andere fieht, das ewige Geyu, welches zugleich auch 
das ewige Wiffen, und das ewige Willen, das auch) das 
ewige Seyn iſt.“ — 





* So nannten es gerade auch die chriſtlichen Myſtiker. 


 AEE- 


er alfo nah Macht md Wiffenfcha ft: frebt, 
um in den Chor der Götter aufgenommen zu werden, 
treibt, ‚ein > verfehrtes Werk. Kinder Gottes muͤſſen erſt 
feyn, ehe fie: als Kinder Gottes willen, ı was Gottes 
iſt, und thun, was. ihm gefällt; fie muͤſſen den Geift Got⸗ 
tes haben, ehe ſie der Geiſt Gottes treiben Fan) ehe 
fie, inne werden, was der ‚Geift in den Tiefen forſcht, 
ehe ‚fie mit Gottes Kraft, wirken koͤnnen. Nun aber: wer 
den die Kinder Gottes durch die Liebe — denn. Gott iſt 
bir Liebe. 

Wenn nun aber die Liebe‘ das Reiltjeihehe des 
—* wenn Se einge! des PN — 


— 9 


wenn fie ie der ME Erf aß für das Kelch — 
Nichtſchauen Gottes, wenn fie vie Nahahnung des 
Göttlichen und wahre Einigung mit ihm iſt: fo wird! es 
ung nimmer befremden koͤnnen, daß ſie jo große Dinge 
thut, daß fie auf Erben: wandelt t, "wie einft Chriſtus 
1 Joh. IL 5.) 5 daß ſie das Boͤſe und den Vater 
des Boͤſen uͤberwindet (1 Joh. II, 14.)5 daß ſie die 
Welt und alles, was in der Melt. ift, Fleiſchesluſt, Au⸗ 
genluſt und Hoffart des Lebens, mit verſchmaͤhendem Fuße 
zertritt Cı Joh. II, 15. 16.); daß fie Die Wahrheit im 
fich trägt, die fie von innen aus belehret, und von Dies 
fer ſtets tönenden Lehre unterwiefen, feinen Schritt außer 
dem. Pfade der ‚Gerechtigkeit feßt Cr Joh. II, 27. 29.);5 
daß. fie, von der Hoffnung, Gott in eine Lichte zu 
ſchauen, befeelet, nicht muͤde wird, fich zu reinigen, bie 
fie dem ‚gleichet, den zu fehen ihr hoͤchſtes Sehnen ift, 
(1-30b. IL, 2. 3.)3 daß. ihre Bewegungen: zum Beten 
Anderer nicht in der. Luft‘ verhallen, : wie die Worte der 
Thoren, nie in der halben ‚Begierde‘ fterben, "wie die 
MWünfche der Faulen, fondern That werden, weil fie 
aus, Wahrheit: geboren find 'Cı Joh. HL, 18.); daß 
fie das Herz nicht nur. vor Gottes zichtenbem Auge ftil 
bet, fondern auch mit Freudigfeit traͤnket, und mit-Freis 
mithigfeit des Gebetes ruͤſtet C1ı Joh. III, 21.22.35 
daß fie. Zuverficht und frohen Muth auf bei Tag des 


Gerichte bereitet, und, indem fie im Umgange mit dem, 
der das reinjte Licht und die Liebe felbit iſt, täglich reis 
ner und zugleicdy inniger wird, fie auch die Furcht ims 
mer mehr bannet, bis die Teste Regung derfelben getöd- 
tet feyn wird (1 Joh. IV, 17. 18. I; daß fie. alle Kin⸗ 
der Gottes in dem Erſtgebornen, wie eine Familie, mit 
ihren zarten and langen Armen umfaſſet (1 Soh. V, a. )5 
und in der Zeit für die Brüder arbeitend, zugleich in 
Gott ruhet: (1 Joh. IV, 16. 


Treues Bild der Liebe aus den treuen Zügen, di 
Sppanucs zeichnete! 


° Aber nur fennbar dem, der die Farben, womit er es 
ansmalet, aus feinem gottgeweihten Herzen nimmt! ® 


- Wenn Johannes die Innigkeit und die Geben 
ftätte der Liebe mit zartem, leifem Striche mehr andeus 
tet als darjtellt, jo wirft Paulus das ganze Leben der 
Liebe — mit einem kuͤhnen Wurf des Genied auf die 
Leinwand hin. Und, wenn Chriftus ſich und die: Liebe 
im der Reinheit und Zartheit durch Johannes. aus— 
drückt, fo ftellt er fich und die Liebe in ihrer Höhe und 
Tiefe, in ihrer Breite und Länge in Paulus dar. 


Liebe it nach Paulus, oder nach Ehriftus, der ſich 
durch ihn offenbaret, 


1) das neue, goͤttliche Gebilde im gefallenen 
Menfchen, das nur durch die Central- und Total—⸗ 
Umänderung feines Innerften, nur durch den Schoͤ— 
pfungsaftus der ewigen Liebe felber werden konnte. 
In und vor Chriftus gilt weder Judenthum noch 
Heidenthum,  fondern die Neue Kreatur (al. VI, 
15.), und dieſe Neue Creatur ift die Liebe und 
diefe Liebe — nichts anders ald die Energie des 
Glaubens: in Chrifto gift weder Judenthum noch 

Heidenthum, fondern der Glaube wirkfam in und 
ss durch Liebe. (Sal. V, 6.I Liebe iſt alfo die ſchoͤn— 
© fte, die edelite Glaubensthätigfeit. Der Glaube 
zieht das Göttliche hernieder, und Liebe umfaßt und 


— 415 — 


prägt es in fich, und ftellt es * ſich im ke 
bilde — im eben dar. 


Liebe — iſt die göttliche Wirkfamfeit und Leidſamkeit 
des Glaubens an das Goͤttliche. 


Wenn die Liebe ſo rein, ſo edel, ſo erhaben iſt im 
Urſprunge, ſo mußte ſie ihm 


2) auch als Gemuͤthsfaſſung das Edelſte, Rein⸗ 
ſte, Erhabenſte ſeyn. Cı Kor. XIII, 4— 8.) Die 
Liebe mußte dem: Paulus Raphael erjchienen und 
geſeſſen ſeyn; fonft hätte er fie nicht jo nad) dem, 
Leben malen können. 


„Sütig, ‚freundlich, rein von. Eiferfucht und aller. 
Selbftfircht, frei von blähender Eitelfeit, und von herz 
verengender Erbitterung, bat fie nur Freude an der Wahr: 
heit und an ihrem Siege, trauert fie nur über das Un⸗ 
recht, und feine Fortfchrittez vergißt eigenes Wohl und 
Wehe, um in Andern und für Andere zu leben; unuͤber⸗ 
windlich im Glauben und Hoffen, unermüdlich im Dul- 
den und Tragen, unerfchöpflic in‘ Selbftaufopferung.’ 


Sie borgt Fein erzwungenes Berbeißen des Schner- 
zens, Fein Schautragen erfinftelter Gefühlfofigfeit von der 
St oa. Mild im Blide, einfach in der Geberde, 
wahr in jedem Worte, herz lich im Umgange, rein 
in Begierde, lauter in Abficht, ſtark in Zuverficht, 
verfhwiegen im Wohlthun, muthig im Leiden, 
thätig in Ruhe, — immer ftill in BA. wohnend 
und tief in Gott gemwurzelt.. —— Leſer! er 
dann male du! 


Wenn die Liebe in ihrem Urfprunge und als Faf 
fung des Gemüthes fo rein, ſo edel und erhaben il, 
fo mußte fie ihm auch x 


3) in Beziehung auf Menfhen und auf Gott ‚das 
Edelſte, Reinſte und. Erhabenfte feyn. 


In Beziehung auf Menfchen iſt fie ihm wirklich das 
vollkommenſte Band, das feitefte und allumfafjende 


— 4116. — 


Bereinigungsmittel für, Menfchen, und » 8 Leben das 
trefflichſte Kunſtwerk. 


‚Sie iſt das vollkommenſte naeh fir 
Menſchen Ueber Alles aber gehe euch die Liebe, deun 
fie. it das Band der Vollfommenheit (das vollfommenfte 
Band). (Joh. II, 14.) Was Liebe nicht bindet, iſt Log, 
und ohne Kiebe find alle andere Bande feine Vanbe 
Was Eigennutz bindet, loͤſet Eigennutz; was Zwang bins 
det, loͤſet Zwang; was die Uebermacht der Zeit bindet, 
loͤſet die Uebermacht der Zeit, im neuen Geſtalten herauf—⸗ 
kommendz was Eigenduͤnkel bindet, loͤſet Eigenduͤnkel. 
Nur was Liebe bindet, iſt unaufloͤsbar; denn ſie iſt ſtaͤr⸗ 
ker als der Tod, ſtaͤrker als die ganze Menſchheit. 
Und Gott loͤſet die Liebe nicht, denn er iſt ſelbſt die 
Liebe. | 


‚Sie ift * Elch Band.. Dem fie verknuͤ⸗ 
J die einzelnen Menſchen miteinander, daß ſie alle Ein 
Menſch werden, und verbindet ſie mit Gott, das —* 
Eins mit ſich, Eins mit Gott werden. 


Wo Liebe, da iſt das trefflichſte Kunſtwerk ale Kim: 
ftelei._ Denn, wer die göttliche Xiebe in ſich hat, der 
wird ‚Allen Alles, um Alle der, Wahrheit, um Alle 
Chrifto, um Ale Gott ‚zu gewinnen; den Juden ein 
Jude, den Heiden ein Heide, den Knechten ein. Knecht, 
den Freien ein Freier, um Alle felig.zu machen. Geld 
liebe macht dem Menfihen zum nieder Knechte des Gel- 
des; Ehrliebe zum niedern Knechte der Ehre; Buch— 
ſabentlebe zum niedern Knechte des Buchſtabens; 
die heilige Liebe macht den Liebenden zum freien 
Knechte aller Menſchen, um ſie Alle zu freien Weſen, 
zu Selbſtherrſchern, um fie Alle felig zu machen. Das. 
Leben des Liebenden ift alſo das fchönfte Kunftwerf: Ein 
Menſch Allen Altes, um Alle zu vergöftlichen. 


Wenn alfo die Liebe in der Erfcheinung das treffe 
lichſte Kunftwerf darstellt, fo muß fie felbjt die erſte Künits 
lerin ſeyn. Denn; ſie macht das Venſihliche zum Or⸗ 
gan — des Goͤtt lichen. | | 

"Meine 


* 


u MR, m 


Meine Zeit organiſirt Staaten, Kirchen, Nepublifen, 
‚ KRönigreiche, Wiffenfchaften, Künfte, das Univerfum, Die 
Buͤcher reden jest am öftejten und Tiebiten vom „Drgas 
nismus.“ Ah! daß meine Zeitgenoffen alle vorerjt 
Dich, du ewige, du Cine Künftlerim, daß fie, Liebe! 
dich Fenneten! Dann würden fie in ſich felbft den fchöns 
ſten Organismus barftellen, und alle Glieder Einen 
Leib bilden, den Ein Geiſt, die Liebe befeelte, 


In Beziehung auf Gott: iſt die Liebe die hoͤchſte 
Gott-Aehnlichkeit, Chriſtus⸗Aehnlichkeit: ſeyd 
Gottes Nachfolger, wie ſeine guten Kinder; wandelt in 
der Liebe, wie Chriſtus gewandelt (Eph. V, 1. 2); und 
die Erfuͤllung des ganzen —— Geſe⸗ 


tzes: wer den Naͤchſten liebt, hat das Geſetz erfüllt, 
(Rom. X, 10) - 


Menn nun aber die Liebe, nach Paulus, —— in 
ihrem Urfprunge, als in der Faſſung des menſch— 
lichen Gemütheg, die mit ihr gegeben feyn muß, fo: 
- wohl in Beziehung auf Gott, ald auf die Men ſch— 
. heit das Edelſte, das Bene, das Erhabenfte ift, fo 

muß fie ihm ‚auch 


4) das hoͤchſte Gut, welches allein Werth hat a 
| allem übrigen Werth giebt, und das allein ewige 
‚Gut des Menfchen feyn, 


Liebe it ihm das hoͤchſte Gut.‘ (1 Kor. XUT, 
1— 3) „Könnte ic die Sprachen aller Menfchen und 
aller Engel reden, und hätte die Eine Liebe nicht: fo 
wäre ich ein tönendes Erz, eine Elingende Schelle. Hätte 
ich die Öabe der Prophezeiungen, wüßte ich alle Ges 
heimmiffe, wäre alles Wiffen mein, hätte ich den berg- 
verjegenden Glauben ꝛc., aber bei diefen allem die Eine 
Liebe nicht: fo wäre ich Nichts. Gäbe ich mein Ver— 
mögen den Armen zur. Speife, meinen Leib zum Brand- 
opfer der Flamme, hätte aber die Eine Liebe nicht: fo 
wäre dieß alles — Nichts.’ 

Die Liebe ift alfo das Göttliche im Menfhen, 
das allen feinen Gedanken, Bewegungen den Charakter 

J. M. v, Sailer's ſämmtl. Schriften. VIIL Bd. Zte Aufl. — 


— DIS — 


des Goͤttlichen eindrüct, das den Wundergaben und ſelbſt 
dem Heldentode Werth giebt. 


Die Liebe iſt ihm das alleinzemwige Gut des 
Menfchen. Das Stuͤckwerk von Wiffen und die Weiſ— 
fagungen- fchwinden, der Glaube fihwindet, wo Das 
Schauen eintritt; die Hoffnung ſchwindet, wo endlofer 
Genuß eintritt. Aber die Liebe dberlebet das Stück 
werf von Wiffen, und den Glauben, die Weiffa- 
gung und die Hoffnung — sur fich nicht. Die Liebe 
ift ewig, wie Gott; denn Gott ift die Liebe, (1 Kor. 
XII, 8— 42.) * 





— 419 — 


Vierunddreißigſte Vorleſung. 





++B; 
Sinn der Lehre— 


Wer die Liebe erforſcht haͤtte, der haͤtte das Soeice 
und das Menſchliche, der hätte das ALL erforfcht. Sit 
dem ich als Menfch auf vollendete Erforfchung Verzicht 
thun muß, ſpreche ich als Lehrer bloß das aus, was mir 
im Forſchen, mehr durch Uebung als uschn bloßes Sa 
fchen, klar geworden: 


Bon der Liebe gegen Öott, 
Bon der Liebe gegen die Menſchen, 
Bon der Liebe: als Einheit. 


"Mas die Liebe gegen Gott fey, was fie voraus 
fege, womit fie im Gemüthe des Menfchen zufam: 
menhänge, dieß ift das Klare, das ich nennen Fann. 
Denn das Höchfte ift das Unnennbare, Wort > und 
Begriff - eur | 


Bi 90. 
Was ‚Die Liebe gegen Gott fey. 


Da die Liebe, gegen Gott, nad) der Sprache der - 
Schrift, das ganze Herz, die ganze Seele, das. 
ganze Gemüth und alle Kräfte bes Menſchen in 
Befis nehmen, da fie fich den ganzen Menfchen: unter- 
werfen, und in Unterwiürftgfeit halten muß, um Dem Buch⸗ 
ſtaben des Geſetzes gleich zu kommen: fo kann fie nichts 
Geringeres ſeyn, als jene fouveräne Richtung des 
Menſchen zu Gott, die den ganzen Menſchen 
zum Organe des göttlichen Lebens macht, 
nach der Fähigfeit jeder einzelnen Kraft 
Wenn aber die Menfchheit eine fouveräne Nichtung zu 


Gott nehmen fol: fo wird fich das Erkennen zum Urwahren, 
27% 


\ 





— GRD m 


das Wollen zum Urguten, das geheimfte Sehnen zum 
Urfeligen, das Wohlgefallen zum Urfchönen erfchwingen, 
und nicht, bloß zum. Ur- Wahren, Guten, Seligen, Schoͤ— 
nen ſich erjchwingen, fondern das Urwahre, Gute, Se 
lige, Schöne felber eine fo ausgebreitete und fo durch— 
greifende Herrfchaft im Gemüthe des Menfchen gewinnen 
muͤſſen, daß alle feine Entfchlüffe und Zwede im Innern, 
alles fein Thun umd Laſſen im Aeußern — ein Ebenbild 
des göttlichen Lebens, d. i., ein Abdruck des —— 
ren, Guten, Seligen, Schoͤnen werden. 


Die Liebe gegen Gott iſt alſo in ihrer. Bolten 
dung, die das Geſetz gebeut, die vollftändige, bleibende 
Harmonie: des menfchlichen Lebens mit dem Göttliche; 
die Harmonie der menfchlichen Gedanfen mit den Urwah— 
ren (mit dem Rathſchluſſe Gottes, die Menfchheit 
heilig und felig, Eins mit fih zu machen) ; die Hars 
monie des menfchlichen Wollens mit dem Urguten (mit 
dem Willen Gotteg, der ſich zunaͤchſt im Gewiſſen 
ankuͤndet, und auf maucherlei Weiſe offenbaret); die Har⸗ 
monie des menſchlichen Sehnens mit dem Urfeligen, des 
innerſten Wohlgefallens mit dem Urſchoͤnen (mit den ihr 
rungen Gottes, die, ir. ihrer Vollendung nichts. als 
das Urfchöne offenbaren, das Urfelige darftellen koͤnnen); 
Harmonie des menfchlichen Thuns und Lafjens mit dem 
Urwahren, Urguten, Urfeligen, Urfchönen (mit dem Nath- 
fhluffe, mit dem Willen, mit den Fuͤhrungen Gottes.) 


Wenn die Liebe, ald Nichtung zum Göttlichen, die 
Erhebung‘ der Vernunft zum Urmwahren in ſich faßt: 
fo ift ſie nicht nur ein feſter Blik auf. dag Ur wahre 
in allem Wahren, fondern auch ein Vorausblick auf das 
Ewige im Zeitlichen, auf das Himmlifche im. Irdi⸗ 
ſchen, gleichſam die Autieipation DAR: — 
durch. Glauben. 


Wenn die Liebe, als Richtung zum ——— ge⸗ 
bietendes Wohlgefallen an dem Urſ hönen, das ſich in 
allen Fuͤhrungen Gottes enthuͤllet, in ſich faßt: ſo iſt ſie 
nicht bloß innige Freude an dem Einen in Allem, 
an der Liebe, die ſich in Allem abdruͤckt und ausdruͤckt, 


— 41 — 


ſondern auch in den Momenten, wo das Unermeß—⸗ 
liche in den Führitngen Gottes, das Unergründlice 
im Rathfchluffe Gottes, das Unerforfchbare im Wil⸗ 
len Gottes den ſchauenden Geiſt berühret, eine das We— 
fen des Menfchen durchiihauernde Bewunderung Dee 
örtlichen. Der Menſch ift unter allen Gefchöpfen der 
Erde das Eine, das einer Bewunderung fühig, ſo 
wie: das. Göttliche der Eine höchfte Gegenftand der 
Bewunderung iſt, den beine En 
kann. 


Wenn die Liebe, als Hebleltende Richung zu Gott, die 
Erjchwingung des menſchlichen Willens zum Götts 
lichen in fich faßt: fo it fie nicht nur innige Verehrung 
gegen das Heilige in dem göttlichen Willen, die fich 
in Anbetung aufloͤſet, ſondern auch Unterwärfigfeit 


unter Die Geſetzgebung des goͤttlichen Willens, und Ex⸗ 


gebung in die Regierung des —— wi in 
alle Schickſale des Lebens. 


Wenn die Liebe, als Richtung zum Gounen leben⸗ 
diges Sehnen nach dem Urſeligen in ſich f faßt: ſo iſt ſie 
reges Danfgefühl in Hinfiht auf das hoͤchſte Gut, 
das ihr in ‚einzelnen Gaben ſchon geniefbar geworben; 
fo iſt fie fefte Zuverficht in Hinficht auf das hoͤchſte 
Gut, das ihr in aller Fülle genießbar werden wird; -fo 
ift fie ein Nuhen in dem hoͤchſten Gut, das allen goͤtt⸗ 
fichen Führungen zu Grunde liegt und deßhalb das Erfte 
heißt, das allen. göttlichen Führungen ald Zielpunft aus⸗ 
geſteckt iſt, und deßhalb das teßte heißt, 


Gott iſt die Liebe, und die heilige Liebe — 
fi; in Allem, was fie ſchaffet und ordnet, gebeut 
und füget, offenbaret fi in dem Licht punkte, aus 
dem Alles hervorgeht, in dem Lichtpunkte, in den Alles 
zuruͤckſtrebt, und in der Reihe aller Führungen von 4 bis 
zum „2. - Sie heißt eben defwegen auch das Fund 2. 
Der heiligen Liebe ziemt Anbetung; der ger 
jeßgebenden Gehorfam; der regierenden Er - 
gebung; der befeligenden — BAER TIMER 
Ruhe 


— 


— 422 — 


Wenn die Liebe gegen Gott, in der Vollendung, voll⸗ 
ſtaͤndige Harmonie des menſchlichen Lebens mit dem Goͤtt⸗ 
lichen iſt: ſo wird ſie in ihrem Beginnen und Fortſchrei⸗ 
ten weiter nichts anders ſeyn, als en Kampf wider 
die Disharmonie in und außer uns, eine Fehde wider 
alle Feinde der Harmonie. Unſer Leben iſt zwar kein 
Soldaten⸗Leben, in ſofern dieſe, des Soldes 
wegen, Thaten ausrichten, aber gewiß ein Streiter— 
Leben, und die Religion it in diejem Sinne felbft theils 
unfere Einweihung zum Streite, theild wirklicher Streit 
für die Heritellung der zerriffenen Harmonie, theild Sie 
—— und Vorgenuß des Triumphs. 


Was die Liebe gegen Gott ee 


Die Liebe gegen Gott kann im Gemüthe keine Stelle 
finden, wenn ihr nicht, der Glaube an Gott Platz ‚gemacht 
hatz der Glaube an Gott, von deſſen Schöpfung Alles, 
was ift und lebt, Seyn und Leben hat, durch deſſen 
‚ Wirkfamfeit Alles, ‚was Beſtand hat, beſteht, und unter 
deſſen Leitung Alles gefchieht, was gefchiehtz der Glaube - 
an den-Ur- und All» und Rein Bolltommenen,  defs 
fen Erfenntniß Alles durchfchaut, deffen Allmacht Alles 
vermag, defjen Liebe Alles umfaßt, deſſen Rathſchluß Tau: 
ter Seligfeit, deffen Führung lauter Weisheit, deſſen Ger 
bot lauter Heiligkeit, deſſen Vergeltung lauter Gerechtig- 
feit iſt. So ſprach Chriſtus, der göttliche Sprecher des 
Göttlihen (das Wort Gottes), das Unausfprechliche, 
Gott, feinen Vater, aus, Go umfaßt der Chrift das. 
Goͤttliche. Diefer Chriftenglaube macht jene Rich⸗ 
tung zum Göttlichen, und jene Harmonie mit dem Gött- 
lichen, die Liebe, erſt möglich. 


Sein Gott ſteht, als Sch oͤpfer und Erhalter 
des Univerſums, als Geſetzgeber in der Natur und 
im Reiche der Geiſter, als allſchauender Zeuge 
unſerer Handlungen und das heiligſte Vorbild alles 
Heiligen, ald der allgegenwärtige Regent aller 
Schickſale derer, die Ihn lieben, als der heiligſte Ver— 

gelter, in einer Verbindung mit dem Denfchengefchlechte, 


— da 


die fo nothwendig als ununterbrochen iſt, die 
alle Weſen und alle unſere Angelegenheiten umfaßt, 
die unſer hoͤchſtes Gut zum Einen Augenmerke hat. 
Dieſe nothwendige, immerwaͤhrende, alle Weſen und alle 
unſere Schickſale umfaſſende, nur unſer hoͤchſtes Gut be— 


zielende Verbindung — heißt nach dem Ausdrucke des 





Evangeliums die Vaterliebe Gottes gegen die Men— 
ſchen, in der Sprache Paulus die göttliche Philans - 
thropie, die ſich in Chriſtus am herrlichiten ‚offenbaret, 

und. die Reftauration unferd Geſchlechtes bewirkt. | 


Diefe heilige und allbelebende, im Licht wohs 
nende und Licht ausftrahlende, Diefe ewige Liebe 
muß vorerit geglaubt, im Glauben erfaßt, und durch 
den Glauben dem Innerſten des Menfchen nahe ges 
bracht, und: im Innerſten wirffam geworden feyn, 
ehe: das Innerſte des Menfchen zur Liebe — gegen. die 
Liebe‘ eingemweihet, und die Liebe gegen die Liebe — 
als ein heiliges Feuer angezindet werden faın. Wo 
dieſes Feuer. brennt — da iſt der Glaube felbjt Leben- 
dig und fein Leben fiegend geworden. Denn der 
Shriftenglaube hat Fein anderes Leben ald Liebe, und... 
was mit Liebe gegeben ift und gegeben wird. Wo dies 
ſes Feuer brennt, da it Gott — dem Menfchen . feine 
bloße Aufgabe des forfchenden Kopfes, fein Gegen— 
tand der Spefulation, fein todtes Poſtulatum 
der Sittlichkeit: Gott it ihm die lebendigſte 
Liebe, oder das Liebendfte Leben, von dem wir 
Seyn, Leben, Licht, — alles empfangen, was und er: 
feuchten, beffern, ftärfen, und im Gottes Bild verflären 
fan, „Wer zu Gott nahen will, muß vorerft 
glauben, daß er ift, und ein Belohner ift des 
nen, die ihn f uchen,“ jagt Paulus und jeber, der ihn 
gefunden hat. 


vv Womit die Liebe gegen Gott im Genötken des Menſchen | 
zufammenhänge, a 


ie Wie die Liebe im Gemüthe zunimmt, fo nimmt das 
ſitt liche Gefuͤhl an Zartheit, an Schärfe, an 


— 424 — 


Energie zu. Der Aufblick zu Gott, dem Heiligſten, 
hellet den Blid in das Innerſte; jeder Schatten des Boͤ—⸗ 
jen ‘tritt heller hervor, die dunkeln Grenzlinien zwiſchen 
Tugend und Suͤnde werden lichterz; Die geheimfte Tuͤcke 
der Eigenliebe fcheint nach und nach aus ihren Falten 
fennbarer dur, und kann ihr Luͤgenantlitz nicht mehr 
verbergen vor dem Auge des hineinbligenden Gewiſſens. 
Der Trieb nad) Gottähnlichfeit wird mit jeder be 
merften Unähnlichfeit reger, und ruhet nicht, bis 


der neubemerfte Flecken von der Seelengeftalt wegges 
wiſcht iſt. 


Wie die Liebe im Gemuͤthe zunimmt, ſo wurzelt mit 
der Liebe immer tiefer — der erklaͤrte, einſylbige "U br 
fheu vor allem, was als böfe einleuchtet. „Wie koͤnnt' 
ic dieß im Angefichte meines Gottes thun? Spricht Die 
Liebe mit dem Feufchen Juͤnglinge, und bleibt unbefledt. 
Diefe Scheu hält fiete Wache auf ihrem Poften, damit 
das Böfe den Unachtſamen nicht uͤberliſten, bleibt ſtets 
im Harniſch und in der ganzen Kampfruͤſtung, damit das 
Boͤſe den Unbereiteten nicht uͤberwinden, iſt ſtets mit dem 
Geiſtesflehen um Siegeskraft vergeſellſchaftet, damit das 
Boͤſe den Schwachen nicht ermuͤden kann. Dieſe Scheu 
geht nach und nach in einen fo lebendigen Widerwil— 
len des Geiſtes gegen alle Suͤnde uͤber, daß er gleich— 
kommt — dem Ekel des ſinnlichen Menſchen ob der von 
Spinnen umkrochenen Speiſe. 


Wie die Liebe im Gemuͤthe zunimmt, fo der Gei- 
ftesfriede, der-alle Begriffe überfteiget. Frei von dem 
Rügen der verdammenden Vergangenheit, frei von den 
Ahnungen: der jtrafenden Zukunft, frei von den Be 
täubungen der laftenden Gegenwart, blickt der Gott: 
liebende, Eins mit fich, voll Zuverficht, zu dem auf, der 
rveih an Erbarnung und Gaben die Seinen reiniget, 
ftärfet, haͤl 


Wie die Liebe im Gemuͤthe zunimmt, ſo die Orb: 
nung und das Maß in allen innern Bewegungen 
des Herzens. Denn die Liebe iſt ja ſelbſt nichts an 


\ 


= — 


derd, ald das Prinzip aller Ordnung, indem fie Einheit, 
in die Negungen des Herzend und in alle Gedanken bes 
Verftandes bringt, und zwar eine Einheit, die dem Ges 
fee der Unfterblichfeit entfpricht. Die Liebe unterordnet 
ſich alle andere Regungen des Herzens — ſich felber aber 
nur der höchften Wahrheit, Heiligkeit, Selig 
feit, Schönheit. Der Göttliebende weiß nichts um 
die wilden Kämpfe, die das Herz des Boͤſen theilen und 
martern; weiß nichts um die Zerrüttungen, bie 


die Begierden, die fich durchkreuzen und ——— an⸗ 
richten. 


Wie die Liebe im Gemuͤthe N fo. die Ruhe, 
die Modeftie, ‘die Grazie im Aeußern. Der innere 
Friede praͤget tiefe Ruhe in das Antlitz, die innere Ord⸗ 
nung und das innere Maß ſchaffet Modeftie im Aeus 
‚ern, und die Liebe, die innern Frieden, Ordnung und 
Maß fchaffer, und fchaffend durch den. Schleier des Körs 
pers durchfcheint, gießt den Zauber der Grazie in 


die Geberden, Mienen, Bewegungen bes an 
pers. \ N‘ 


Wie die Liebe gegen Gott im Gemüthe — fo 
die innige, reine, allumfaffende, unermüdliche 
Menfchen ⸗ Liebe. (1 oh, * 20.233; 


Bon der Liebe gegen die. Menfchen. 


Die Liebe gegen Andere iſt nach der Lehre Chrifti 
dreifach: gegen, Alles, was Menſch it; gegen alle Mens 
fchen, die Ehriften find; gegen den, der meiner Hülfe am 
meiſten bedarf, gegen den, den fein Huͤlfsbeduͤrfniß zu 

meinem Nächiten, den mein Huͤlfsvermoͤgen auch mich 
zu feinem Nächiten gemacht hatz jene heißt die Mens 
fhenliebe, diefe die Bruderliebe, die letztere die 
Naͤchſtenliebe. Diefe Trias von Liebe ift aber doch 
die Eine Menfchenliebe, allumfaffend in Hinficht auf 
das menfchliche Gefchlecht, brüäderlih in Hinſi cht auf 
die Glieder der chriſtlichen Kirche, thätig in. Hinſicht 


wir 46 


auf den Naͤchſten. Diefe dreieinige Menfchenliebe ift auch 
Eine und diefelbe Fiebe gegen Gott. Denn alle Men— 
fhen find ihr Glieder der Einen großen Familie, 
die Gott zum Vater hat, die Gute und Boͤſe in ſich faßt; 
alle Ehriften find ihr Glieder des Einen Rei 
bes, den Chrifti Geift befeeltz; jeder Nächte — ein [eis 
dendes Glied am Körper der Menfchheit, den Gott 
am den Nächftftehenden, der helfen. kann, anweifet.. Und, 
wenn die ſe Eine Liebe in Gott Ruhe und Seligfeit 
findet: ſo deut ihr das Menfchengefchlecht, der 
Brüderverein, bie leidende Menfchheit genug 
Stoff zur Arbeit, zur Aufopferung. dar. Und fo 
vereinet die heilige Liebe — Seligfeit mit Aufopfe 
rung, vereinet, wie Gott, Ruhe mit Thätigfeit. 
Johannes Sprach Auch hier die ganze Wahrheit aus: Wer 
den Menfchen, den er fieht, nicht liebet, wie 
wird der Öott lieben, den er nicht ſieht? Al 
fagte er: Gott hungert, duͤrſtet nicht, Gott bedarf deiner 
Dede, Lehre, Warnung, Führung nicht. Aber, dein Nach⸗ 
bar, o Menſch, ſieh! der hat Hunger, Durſt, Bloͤße, 
der bedarf deiner. Lehre, Warnung, Führung. 


Die Menfchenliebe ift alfo das Exercitium nobile 
der Liebe gegen Gott — in der fichtbaren Welt. Die 
heilige Liebe hat ihr Herz im Himmel, und ihre 
Hand auf Erden ; wohnet in Gott ımd fegnet iu 
der Welt; anbetet ım Baterlande ber Geiſter, und 

pfluͤget auf. dem muͤtterlichen Boden hierunten, in der 
Pens des Srdifchen; liebet mit den Cugeln,. und 
leidet mit den Menfchen; ſitzet mit Maria zu den 
Fuͤßen Chriſti, horchend auf Gottes Wort, ſchauend in's 
Pf Leben, und arbeitet mit Martha, 


Alles, Alles, was Die Sophiften der —— 
die luſtigen Bruͤder der ſinnlichen, oder die 
Nuͤtzlich keit s ap oſt el der oͤbonomiſchen, oder die glaͤm— 
zenden Sterne der großen Welt wider die heilige 
Liebe fagen, trifft fie, die heilige Liebe, nicht, trifft nur 
das. Geſpenſt der Liebe, das Unerkenntniß und feindfelige 
Gemuͤthsſtimmung erzeuget haben. Sie werfen ihr den 


= 27. — 


Miffiggang vor. - Aber da nur das Gemuͤth in Gott 
ruht und die Hand den Pflug des Erdenlebens willig 
zieht; da fie mit Paulus bei Naht handarbeitet, 
und bei Tag Gottes Wort ausfprichtr fo möchte 
wohl die thatenreiche Nuhe der Liebe die Vielgefchäftige 
feit der unruhigen Welt, an Umfang und Innigkeit der 
— weit aufwiegen. 


” Sie werfen ihr Kopfhängerei vor. Aber da fie 
mit demfelben 5 im Gefaͤngniſſe Danklieder fingen, 
im Sturme den Kopf oben behalten, im Schiffbruche noch 
Math und Ausweg fchaffen kann: fo iſt ihr Kopfoben- 
behalten im Gedränge, ihr Freundengefang in 
Leidensftunden, md ihre Gegenwart des Geis 
tes in Abweſenheit menſchlicher Hoffnungen 
rühmlicher, al8 das Sturmgeläuf der blinden Thaͤtig⸗ 
keit fuͤr Dinge, die keines Opfers werth ſind. 

Sie werfen ihr Schwaͤrmerei vor. Aber, da ſie 
Sinn und Einbildungskraft — nur der. Vernunft, und 
die Vernunft nur der hoͤchſten Wahrheit — Gott unter- 
wirft, fo it. fie vor Schwärmerei weit ficherer, als die 
falfche Weisheit, die ihren Glauben nicht über das Be 
greifliche, und ihr Wiffen nicht ber das Zeitliche 
zu erheben weiß, — keinen Gott anbetet, als den ſie ſich 
mit dem Meißel eigener Einſi cht bildhauen konnte. 


Sie werfen ihr gemeine Sitte, Mangel an 
feiner Xebensart, und das auffallende Ungefannt: 
und Unbedeutendfeyn im Rathe der Großen vor, 
Aber diefen Vorwurf theilt fie gerne, mit der Weisheit, 
welche auch Feines» Pallaftes zur Wohnung bedarf, weil 
fie. den fihönjten in- fih baut; welche aud) die Salbung, 
die von innen aus. ölet,. allem Glanze des‘ Hoflebeng, 
und die Geberde der Tugend; jeder: Gewandtheit ‚des feis 
nen Gefellfchafters vorzieht, uͤbrigens in Fenelon fubLim 
mit Boffuet, geiſt voll mit Guyon, kin dlich mit Kits 
dern, manıhaft mit Männern forechen kann, ohne die 
Sprache der Einen Wahrheit zu entweihen 


Sp göttlich alfo die Menfchenfiebe in‘ ihrem Mit: | 
telpunkte — Gott, in welchem fie mit der Liebe zu Gott 


— 420 — 


Eine Liebe iſt und heißt, ſo human iſt ſie in ihrem 
eigenen Gebiete, und hier zieht ſie auch jene Augen an 
ſich, Die das Göttliche. ihres Weſens und Urfprunges nicht 
ſchauen Fönnen. 

In ihrem eigenen Gebiete erfcheinet fie als Mits 
axbeiterin Gottes an den Zwecken Gotteg, die fie 
zu den ihren gemacht hat, und kann mit Chriftus ſpre—⸗ 
hen; Mein Bater wirfet unauf hoͤrlich, ih auch. 
Ihr Auge fi ſpaͤhet aus, was den Bruder, (und das iſt 
ihr Jeder, der ein Menſchenantlitz hat), heben und durch 
das Leben tragen, was ihn gut und weiſe machen kann; 
ihr Herz fuͤhlt ſich hinein in die Lage eines jeden Men— 
ſchen, und handelt fuͤr ihn, indem ſie mit ihm leidet; 
erhoͤhet ſeine Freude, indem ſie mit ihm ſich freuet, 
und ihr ganzes Vermoͤgen ſteht im Dienſte Anderer, 
fo wie fie ſelber, als Engel Gottes vor feinem 
Throne, nur auf ihm fchaut und ale Engel Gottes 
auf Erden nur feinen Willen ausrichtet. Kurz, fe iſt 
dem Wefen nad Engel, der Geftalt nah Menſch, 
dem Berufe nah Engel in Menfchengeftalt, d.h, 
arbeitfam für Gott — ar dem Heile der Menfchheit. 

In ihrem eigenen Gebiete verbindet fie Univerfas 
ität der Gefinnung mit der Individualität des Thuns. 
Indem fie Alles, was Menfch ift, umfaßt mit den weiten 
Armen der Ahtung und des Wohlwollens: fo hat 
fin im dieſer ehrwirdigen Stellung fein Vaterland, 
keine Familie, keine Freundſchaft, keine Religion. 
Denn, da fie Allem, was: Menſch iſt, das Beſte goͤnnet, 
und die Menſchheit als Menſchheit in ihren Armen haͤlt: 
ſo kann ſie die Menſchheit deßhalb nicht von ſich ſtoßen, 
weil die Einzelnen dürch Himmelſtriche, Staaten, Fami⸗ 
lien, Religion, Neigungen von einander geſchieden find. 
Sie, die Menfchheit als Menfchheit, Iebt in feinem Lande; 
die Menſchen leben, die Menfchen haben Familie, 
Baterland, Religion; die Menfchen haben, Ver: 
hältniffe, Berüefnigje; die Menſchen find Freunde, 
er u ſ. 1054) 

Nun, wie die Liebe in Hinſicht auf das Menſchen⸗ 
geſchlec nee, von ihrem Herzen ausſchließt, jo it fie. 


— 49 — 


jedem Einzelnen das, was fie ihm ſeyn kann, darf, ſoll: 
iſt landsmaͤnniſch dem Landsmanne, und weltbürgerlic) 
dem’ Weltbürger, ift verwandt dem Bermandten, und heis 
mathlich dem Fremden, ift Freund dem Freunde und Menſch 
dem Feinde, ijt Chrift dem Chriften, und vollherzig zum 
Erbarmen dem Nichtchriften, ift dankbar dem Wohlthäter, 
und wohlthätig dem Undankbaren. Es ift feine Kunſt, 
den ſchwarzen und "den braunen Brüdern, Die Dir ferne 
find, wohlwollen, und den Weißen, die dir nahe find, 
wehe thun. Aber Allen wohlwollen und jedem wohl- 
thun, dem man wohl thun kann und fol, das iſt das 
Regale der göttlichen Liebe, 

Sn ihrem eigenen Gebiete verbindet fie, fo wie mit 
der Univerfalität der Gefinnung die Individualität des 
Thuns, alfo auch mit der Pünktlichkeit in Forderun⸗ 
gen: des Rechtes ‚die Großmuth in Forderungen des 
Beduͤrfniſſes. Es ift keine Kunſt, Schulden unbezahlt laſ⸗ 
ſen, und dem Duͤrftigen einen Thaler, der nicht dein iſt, 
zuwerfen. Aber arithmetiſch ſeyn im ‚Geben, was 
das Recht fordert, und großmuͤthig im Geben, wo 
weder dag Recht ſpricht, noch die Natur ihre Roſſe vor⸗ 
ſpannt, das iſt das Regale der goͤttlichen Liebe. hr, 

Im eigenen Gebiete verbindet fie mit. edler Selbfts 
vergeſſenheit das Mit wirken mit allen Kindern Gottes 
‚zu einem Ziele; mit Selbft - Opferung. das Mit s Leiden 
mit allen Leidenden; mit Selbjt- Miffen des eigenen 
Wohlſeyns das Mit- Genießen an fremder Freude. 
Es iſt Feine Kunft, ſich felbft vergeffen, werfäumen, opfern 
— im Taumel finnlicher Luft, die "uns außer und 'hins 
answirft und und im mörderifchen Genuffe verzehrt. "Aber 
eigne Bedärfuiff e vergefjen, eigne Bortheile opfern, eigne 
Freuden miſſen, um fremde Bedurfniffe zu befriedigen, 
fremden Vortheil zu befördern, fremde Frenden anzubau⸗ 
en, das iſt das Regale der heiligen ra | 


4.02. 


N 4 


Die Liebe als Einheit. 


Der Menfc hat ein. Aeußeres, das fein Leib, cor- 
pus, feine Hülle; sein Inneres, das feine Seele, anima; 


— U — 


ein Innerſtes, das fein Geiſt, spiritus, heißen Kann, 
in ſofern es der hoͤhern Erfenutnif, und animus, 
Gemüth, im fofern e8 höherer Gefühle empfänglic 
ift. Der Leib, als ein Befeeltes, fteht unter den noth— 
wendigen Einflüffen des Befeelenden, Leib und Seele ge 
horchen in den freien Menfchen den Befehlen des Get- 
ftes, da, wo der Geift gebieten fann, und Leib und 
Seele in Unterwäürfigfeit gehalten werden. 


Das Innerſte aber hat ein Allerinnerftes, das die 
fateinifche Sprache mens nennt, — die Fähigkeit, ſich 
nad; Vereinigung mit dem Urjchönen auszuſtrecken, 
die Zuͤge deſſelben in ſich nachzubilden, und außer 
ſich darzuſtellen, und einſt in wirklicher DesFengung 
die vollendete Seligkeit zu ‚genießen. 


Diefe Fähigkeit, fich nach dem Urfchönen euere 
ſt recken, die Züge deſſelben im fich nachzubilden und 
außer ſich darzuftellen und einft die Wonne der Vereini⸗ 
gung zu genießen — ift das Heiligthum des Men- 
chen, und hier ift der Sitz der heiligen Liebe zu fuchen. 
Denn, was wäre die heilige Liebe anders, als ebeit das 
Allerinnerfte des Menfchen, ſich ausftrefend nach dem 
Urfchönen, um ſich mit ihm zu vereinigen;  nachbildend 
die Züge defjelben, in fich durch Geſinnung und außer 
ſich durch Thaten, und einſt genießend die vollendete —* 
ligkeit in ungehemmter Vereinigung mit Mar TUR 


Das ftimmt auch mit dem Weſen aller — 
und mit dem Weſen alles Schoͤnen uͤberein. Was will 
die Liebe anders als Bereinigung? Was wecket und 
reget das Schoͤne anders, als den Trieb nad) Vereini— 
gung? Da nun das Schoͤne als Schoͤn die Triebe zur 
Vereinigung rege macht, und die Liebe als Liebe Vereini— 
gung will, und da, wo die Hinderniſſe der Vereinigung 
wegfallen, ſie auch genießt: ſo wird das Urſchoͤne wohl 
auch den Vereinigungstrieb im Menſchen rege machen koͤn⸗ 
nen, und die Liebe des Urſchoͤnen in dem lebendigen 
Streben nach Vereinigung mit dem Urſchoͤnen, und in 
dem wirklichen Genuſſe der Vereinigung beſtehen? 


- Mie aber die heilige. Liebe nadı Vereinigung mit dem 
Urſchoͤnen ſtrebet, ſo wird ſie auch die Zuͤge des Urſchoͤ— 
nen in ſich und außer ſich nachzubilden, die zerriſſene 
Harmonie zwiſchen den Menſchen und Gott herzuſtellen, 
die Beduͤrfniſſe der Leidenden zu ſtillen, und in ihnen den 
ſchlafenden Trieb nach Vereinigung mit dem Urſchoͤnen 
zu wecken, zu ſtaͤrken, zu erhöhen — raſtlos arbeiten 


Das iſt die Liebe als Einheit: das Eine Allerinnerſte 
des Menſchen (das werth iſt, das Heilige zu heißen,) 
ſtrecket ſich aus nach dem Urſchoͤnen, ringet nach Verei⸗ 
nigung, reiniget und ſchmuͤcket ſich ſelbſt, um ein Bild 
des Urfchönen zu werden, wedet auch in andern, Men⸗ 
ſchen den Trieb nad; Vereinigung, und offenbaret ſich 
vornehmlich durch Mittheilung, wie das Urſchoͤne fel- 
ber — bis die Seligfeit, der Sen der- — 
Vereinigung eintritt. | | 


Meine Zeit hat alfo das — det Menfehheit 
ſelber entheiliget, da fies Menfchenliebe- ohne: Gottesliebe, 
da ſie Moral ohne Religion gruͤnden wollte. Sie mußte 
das Heilige im Menſchen verſchuͤtten, um ihr Unhe i⸗ 
liges einzuführen. Sie mußte. den Sitz der göttlichen 
Liebe gertrümmern, um fr ihr — von — eine 
Stätte zu bereiten.: re 


‚Ganz anders ſpricht das ft Sehnen. des Men 
ſchen: 


Es iſt in und ein BERER Streben nach au, 
und Ruhe findet das Heilige im Menfchen nur in Gott. 
Schöner hat dieß Sehnen feine Sprache —— 
als die des Auguſtinus in feinen Bekenntniſſen 


Du weckeſt und zur Freud’ an deinem bobe 
Denn du haſt uns fuͤr dich geſchaffen, und 
Unruhig bleibt das Menſchenherz, 

Bis es ausruhen kann — in ſeinem huhepunkt, 
Und der biſt du! Nor 


u R- "nee 


‘HD. 
Die ganze Tugendlehre — eine Lehre von der Liebe, 


+05 
Wer die heilige Liebe hat, pflegt, übt, hat alle 
Pflicht serfüllt, alle Tugend in Einer [ebendig darge— 
ſtellt: alfo muß auch, wer die heilige Liebe Iehrt, alle 
Pflicht, alle Tugend gelehrt haben. 


Dasß die Lehre von der heiligen Liebe die ganze Tu⸗ 
gendlehre ſey, laͤßt ſich erſtens: aus dem Urſprun— 
ge und der Entwidelung des Boͤſen anſchaulich 
machen. | 


Alles Böfe iſt —— in feinem uürfr REN 3 
in feiner. Eut wickelung. Egoismus in ſeinem Ur— 
ſprung; denn der Abfall der Menſchheit von. Gott iſt 
nur und kann nur ſeyn — ein Wegwenden des Blides 
Son dem Urlihte auf das Tichtempfangende und. ber 
Jeuchtete Ego — Egoismus; ein Wegwenden des frei⸗ 
thaͤtigen Wollend von dem Urguten auf das freithätige 
Ego— Egoismus; ein Wegwenden ber Liebe von dem 
Urſchoͤnen auf das Nachbild der Schoͤnheit, auf das 
Ego — Egoismus; ein Wegwenden des Seligkeitstrie— 
bes von dem Urſeligen auf die Seligkeit des Genießen— 
den, auf das Ego — Egoismus. Mer aus Gott 
geboren ift und in Gott bleibet, fager die Wahrheit 
durch Johannes, fündiget nicht. Wer iſt denn aber au 
Gott geboren, wenn ed der nicht ift, deſſen Blick am Urs 
Fichte, deſſen Wille am Urguten, beffen Liebe am Urſchoͤ— 
‚nen, deſſen Genuß am Urjeligen hängt? Und, wie kann 
der Menſch, aus Gott geboren, in Gott bleiben, wenn 
nicht fein Blick in dem Urlichte, ‚fein Wille in dem Ur- 
guten, feine ‚Liebe in dem Urfchönen, fein Durft nad 
Freude in dem Urfeligen — wenn nicht dag Innerſte 
des Menfchen in Gott, wie in: feinem Elemente: ruhet, 
ſchauend, liebend, genießend? Und wenn das 
Innerſte des Menſchen in Gott ruhet, ſchauend, liebend, 
genießend: wie ſollte er dem Scheine nacheilen, wie ſollte 

er 


er am Scheine mit Blick, Liebe, Genuß hängen bleiben, 
das heißt, fündigen können? Oder wie follte ber 
Blick von dem Urlichte, die Liebe von dem Urfchönen, 
der Genuß von den Urfeligen ſich wegwenden, wie follte 
der Menfch dem Scheine nacheilen, und am Scheine mit 
Blick, Liebe, Genuß a bleiben fönnen, En: 
zu fündigen? 


Sp gewiß alſo bie Richtung. der — zum Ur⸗ 
lichte, die Richtung des Willens, des Gemuͤthes zum Ur⸗ 
guten, zum Urſchoͤnen und Urſeligen die Beſtimmung 
und der Adel des Menſchen iſt: fo gewiß muß die Ab- 
weichung von diefer Richtung — Sünde feyn, 
und die Sünde Abweichung von biefer Richtung. 


Was ift aber. bie Abweichung von dieſer Richtung 
zu Gott anders, als Egoismus, als das von Gott 
ſich ifolirende, und im Ich concentrirende Ich 
— Egoismus? 


Die Geburt des Boͤfen iſt alſo EN anders, als 
die Geburt des Egoismus, und die Geburt des Egoig- 
mus it nichts anders als die. Geburt des Boͤſen. 


| Der Eine Egoismus if aber AR nur bad > Böfez 
er ift alles Böfe 


Der Menſch, in dem der Egoismus ——— iſt 
wird ſich ſelber der Eine Mittelpunkt, auf den er Alles 
bezieht; alle Welt hat nur Werth fuͤr ihn, in ſofern ſie 
Mittel iſt, den unendlichen Durſt des gebietenden Ego 
zu ſtillen. Nun ift diefer Eine Durft feinem Weſen nad 
dreifach, je nachdem er unmittelbar auf: die Heraushebung 
des Ichs, „oder. auf den nächiten Nachbar, den Leib, 
oder. auf Die zweite Nachbarin, die ihn umgebende Nas 
tur, gerichtet it; — ein Durſt nach Ehre, nach Luſt, 
nach Habe. Iſt der Durft nach Ehre im Negimente, fo 
fol alle Welt Ein Altar für, das Ich, die Menfchen 
Anbeter des Ichs, ihre Reden Huldigung für das 
Sch, ihre Handlungen Auraͤuch erung des Ichs — 
werden. Dieſe gebietende Ehre wird Ehr⸗Sucht, und 

J. M. v. Sailer's ſämmtl. Schriften, VIIL. Bd. 3te Aufl. 28 


ee 1.7 — 


in Ihrer Erweiterung Herrſch⸗Sucht, und An ihrer 
Bollendung Selbft > Verherrlihungs-Manie, 


Iſt der Durft nach Sinnenfuft im Regimente: fo tres 
ten entweder die Lajter der rohen, Sinnlichkeit, oder die 
der verfeinerten hervor. Die Animalität wird, mit 
oder ohne Schleier — die Göttin des. finnlichen Gefchlechz 
tes, die mit einer Hand Luft und Durſt — ausſpendet, 
mit der andern Luſt ſe uch e — und den Tod. | 


Sft der Durſt nad Habe im Regimente: fo ‚wird 
Habfudt das Grundlafter; die raubet, plündert, mor— 
det, — um „zu haben, oder ſtrickt feine Wege, um die 
fremde Habe zur eigenen:zu machen, die Lift, Raͤnke, 
KRabale, Intrigue heißen, oder das feinfte, die Form 
des Rechtes, in fofern das fiegende Unrecht nicht nur das 
Schild des Rechtes aushängt, um die häßliche Leibfarbe 
der Willkuͤhr zu deden, fondern fogar die Rechts Mege 
‚wandelt, um den Eroberungsplan burchzufeßen. 


Diefer Dreieittige Egoismus. ift in jeder feiner Rich⸗ 
tung nach Ehre, Luft, Habe feindfelig, tritt in Oppo⸗ 
ſition gegen Menf hen, die der Befriedigung des regie— 
‚renden Durftes im Wege ftehenz in Oppofition gegen jede 
Wahrheit, deren Blige die Thorheit der umerfättlichen 
Begierde aufdeden, und die Lajterhaftigfeit_ derfelben 
zuͤchtigen; in Oppofition gegen. Die Wahrheit — 
Gott felber,. deſſen Allgegenwart zwar vergefjem, nicht 
geachtet, geläugnet, aber in ihrer alldurchdringenden Birk 
famfeit nicht immer fern. gehalten ‚werden fan 


Diefer dreieinige Egoismus iſt im jeder feiner’ ichs 
tungen nach Ehre, Luft, Habe, f ertig, den Charafter 
des Lihgengeiftes anzunehmen, im ſofern die Rüge! 'ein 
Mittel’ wird, den Durſt nad Ehre, Luft, Habe zu bes 
friedigen Denn, obgleich der Egoismus als Ehrſucht, 
Kar eEoryv ein Bater der Luͤge iſt: fo nimmt 
doch auch der Egoismus’ des Genuſſes amd der Egoismus 
der Habe den Charakter der Luͤge an, wenn ſie den ver⸗ 
langten Genuß einbringt, oder eh * vermehrn J 


— 455 — 


Diefer breieinige Egoismus iſt in jeder feiner Nice 
tungen nach Ehre, Luft, Habe, ungerecht, indem er 
darauf ausgeht, jeden Beitrag bon Ehre, Luft, Habe, 
den fein umnerfättliches Herz begehrt, den ihm aber die 
Nachbarn nicht willig a mit Lift oder Gewalt eins 
zutreiben. 


Diefer dreieinige Egsismnd kann in jeber feiner Rich⸗ 
tung nach Ehre, Luſt, Habe die Stufe erreichen, daß er 
die hoͤchſte Ohnmacht, die Verzweiflung erzeugt, 
und den unnatuͤrlichſten aller Soͤhne — den Sel b ſt⸗ 
mord. 


Wenn nun der Egoismus das Bf, * ik, und, altes 
Böfe ift: fo muß wohl auch Die heilige Liebe, fo wie 
fie der Tod de —— iſt, das Öute, und 0 
Gute ſeyn. 


Dieß zeigt ſich — die anffalfendfte Weife in * 
großen Revolutionen des Innerſten, die uns Be⸗ 
kehrungen heißen, und in dem Leben aller ‚eblen 
Menfchen. = ! ——— 


Das Boͤſe muß die ——— et wenn vos 
Gute einziehen foll; ‚der Egoismus: muß getödtet werben, - 
wenn die — Liebe volles Leben und REN a | 
nen fol. —— | Kin 


Sich von ‚ganzem — von ganzer Sekte, von. 
ganzem Gemüthe und aus allen Kräften lieben — iſt das 
Böfe und alles Boͤſe; Gott von ganzem Herzen, und 
von ganzer Seele, und. son ganzem Gemüthe, und aus 
allen Kräften lieben — iſt dag Gute und alles Gute, 
Das Leben des. Einen muß. alfo, der Tod des, Andern, 
und der Tod des Einen das Leben des Andern ſeyn. 


Der Menſch muß einen König haben c(ein Hoͤchſtes, 
das ihm Durch und durch beherrſcht). Des Menſchen Koͤ⸗ 
nig iſt feine Liebe, Die Liebe muß einen Gegenftand has . 
ben, der ihre Alles’ iſt. Der Gegenftand der Kiebe ift — - 
entweder Gott — oder er, der Menſch, ſelber. Im erften 
Falle iſt die heilige Liebe, im zweiten iſt der Capiaaa 

28* 


— 436 — 


Koͤnig Wie der — ſo der ganze Menſch gut 
oder boͤſe. 


Deßhalb iſt aber nicht jede Selbſtliebe Egoismus. . 
Jene Selbftliebe, die in ihren Tendenzen und Bewegungen 
dem Gefeke der. Ordnung unterworfen — das Regiment 
der heiligen Liebe weder aufhebt, noch ſchwaͤcht, if - 
vernünftige, fittliche,; der, Ordnung gemäße Selbſtliebe. 


Aber, was fich ſelbſt zum Mittelpunfte macht, das ift 
Egoismus, das muß nicht bloß befämpft, das muß ge- 
tödtet werden, wenn Die Ei Liebe Seyn, "Leben und 
Beftand gewinnen foll.. 


Big wir nun dieſen Ehre getödtet haben; t fönnen 
und follen wir ung gegen ihn wenigjtend wehren... und 
das ift edel. | 


Der Tod des Egoismus iſt das Kennzeichen des Hei- 
figen, des Nein» und BVollftändig- Guten, des Guten 
ſchlecht weg; der Kampf wider den Egoismus, das 
. Wahrzeichen des Edeln, des Rittergeiftes, ber edel 
iſt und edel —— im aſen Sinne des Wortes 


adelt. 


Es giebt i im Tugend» Staate Freiherren nd Edel 
leute; jene haben den Egoismus fehon. getödtet; dieſe 
im Kampfe wider ihn herrliche GSieges » Palmen’ — 
ten — und ſtreiten noch. 


Wenn nun aber das Edle die Bekaͤmpfung des Egois⸗ 
mus, und das Gute die Ertoͤdtung des Egoismus zum 
Kennzeichen hat: fo kann das Gute und alles Gute 
nichts anders, als die heilige Liebe feyn, die in ihrer ers 
ſten Lebensbewegung den Egoismus angreift, in ihrer 

Volljährigkeit, in ihrem Mannesalter den Egoismus auch 
tödtet, — und ‚über feinem Grabe die Rerrae * 


Triumphes errichtet. 
Daß die Lehre von der Liebe die ganze — 


fe läßt fih zweitens: aus der Ordnung, die ſie 
in und außer dem — des sei — an⸗ 


ſchaulich erg 


— 437 — 


Die heilige Liebe — iſt das Prinzip der Ordnung 
im Gemuͤthe; denn ſie und ſie allein unterwirft den ſinn⸗ 
lichen Menfchen dem geiftigen, den — — u: dem 
Geiſte der Geifter. — 


Und, wie ſie das — den RN int ‚Gemtithe 
des Menfchei ift: fo ift ſie auch das Prinzip: der Ord⸗ 
nung in der Familie, ‚Die heilige Liebe, eben, weil fie 
das Sinnliche dem Geiftigen unterwirft, ordnet auch jenen 
finnlichen Trieb, der unter allen am ſchwerſten zu baͤn⸗ 
digen iſt, den Gefchlechtstrieb. Sie ordnet ihn, indem fie , 
ihn außer den Grenzen der Ehe bewahret; da, wo das 
Band der Ehe gefchloffen „werden foll, fixirt, und in 
der Ehe felber heiliget. ans — 


Sie bewahret den Trieb des Gefchlechtes durch hůlf⸗ 
der Schamhaftigkeit und Modeſtie, durch Beherr⸗ 
ſchung der ſinnlichen, angrenzenden Begierden, durch Ar⸗ 
beitfamkeit, dur Vor ſicht im Umgange, und durch 
himmliſchen Wandel, der die Sinnlichkeit zaͤhmt, 
und zu allen Opfern, die dem reinen, keuſchen Sinne ge⸗ 
bracht werden muͤſſen, Kraft, und fuͤr alle Opfer nahe 

ſchaffet. 

Sie fixirt den Geſchlechtstrieb, nach dem Geſetze 
Chriſti, das a) Einen Mann mit Einem Weibe ver⸗ 
bindet, b) der Verbindung den Charakter der Unauf 
loͤsbarkeit eindruͤckt, e) das Weib dem Manne unter: 

ordnet, und: d) die Einigung zwifchen Maun und Weib 
zum Sinnbilde der Einiaung; zwifchen Ehriye und ber Ä 
Kirche macht, 5 


Wie alfo die Liebe im Gemuͤthe das Simliche dem 
Geiſtigen, das Geiſtige Gott unterwirft: ſo unterordnet 
ſie in der Familie das Weib dem Dani, und den 
Mann — Ehrifto, 


Sie heiliget den Geſchlechtstrieb. Denn von nun 
an druͤcket er nicht mehr die Vernunft, ſondern dienet der 
Vernuuft, wie dieſe Gott. Die. Kinder werden durch 

den Reiz der mütterlichen und durch den Ernſt der. vÄter- 


1 — 


lichen Liebe — zur Einigung mit den Eltern erzogen, daß 
fih nun das ſchoͤnſte —— bildet, indem durch die 
Allgewalt der Liebdbde 


„die Kinder unter der Mutter, 
„die Mutter unter dem Manne,— 
„Alle — unter dem Haupte —— 


ſtehen, nach dem Worte Paulus· isend | 


Alles — euer, 


ihe — Chrifi,  _ 
Chriſtus — Gottes. 


Wer einmal nur die Idee diefes ſchoͤnen Gans 
zen erfaßt haͤtte, muͤßte unſere Fuͤnfſinnendichterlein be— 
dauern, die die griechiſche Kunſt obenan ſetzen, und den 
Zauber der thieriſchen Luft, den nur Liebe. veredeln, 
nur die heilige Siebe heiligen kann, mit ‚oder ohne 
Schleier zu. malen — Ei ben Gipfel der —— 
Kunſt halten. 


Und, wenn Sheifins nichts gethan hätte, als daß 
feine Lehre die Ehe auf ihre urfpringlihe Würde zuriick 
geführet, und fein reiner, heiliger Geift die Sittfams 
feit, die Keufchheit und Schönheit des. unbefled- 
ten Sinnes als die himmlifchen Grazien in die Welt eins 
geführt Hätte: fo wäre ſchon fein Verdienſt um das Men⸗ 
ſchengeſchlecht unermeßlich. 


Die Liebe beweiſet ſich als Prinziy der Ordnung nicht 
nur im Gemuͤthe des Liebenden, nicht nur in der Fa⸗ 
milie, jondern fie beweifet ſich auch als Prinzip der 
Ordnung in ber ganzen menfchlichen Geſellſchaft. Sie 
bringt, fo, weit, fie in die öffentlihen Verhälts 
niſſe des. Staates eindringt, aud, da, wo fonft 
nur durch den eifernen Arm des Geſetzes politifche Eins 
heit nothdürftig erzwungen und kaum erhalten werden 
fann, eine höhere Ordnung hervor, indem fie nicht nur Die 
Öffentliche Auftorität Durch. die Majeftät Gottes, yon der 
fie ein Ausflug ift, in den Herzen der Untertanen fichert, 
fondern auch Die Luͤcken der Geſetzgebung ausfüller, und 





— 459 — _ 
der Ohnmacht des Geſetzes — durch die Fuͤlle einer Ge⸗ 
muͤthsſtimmung, die ſich ſelbſt — eb iſt, zu Huͤlfe 
kommt. 


— 


Saͤße der Genius der  feifgen Riebe als ana auf 
dem Thron, oder als Rath in dem’ Kollegium, oder als 
Richter auf dem Schöppenftuhle, oder als Lehrer auf 
dem Katheder, — überall: würde er regieren, ra- 
then, vichten, lehren mit: dem Ernfte und mit der 
Milde — Gottes. Hätte der Genius der Liebe Si und 
Stimme in den Herzen ber Großen ımd Kleinen: über, 
al würde er Bürger mit Bürgern,’ die Bürger mit den 
nächften Magiftrats- Stellen, diefe mit der hoͤchſten, - die 
höchite mit Gott — ‚verbinden, und den ſchoͤnſten he 
bilden. helfen: 


Alle Bhrger— Glieder Eines Gelben, — 
alle Glieder unter Einem Haupte, | 
ar Haupt ded Staates unter Gott. 


Die Siebe ift Das Prinzip der Ordnung, un bringt, 
fo weit fie in die öffentlichen VBerhältniffe der Kirche ein- 
dringt und da follte ſie eigentlich nicht erſt eindringen, 
fondern ſollte in der Kirche das ſeyn, was: [uadı Mei: 
nung einiger. Forjcher] die Weltfeele in der. Welt, ſollte 
Kirhen-Seele feym. ...% Die: Liebe bringt in Die 
Berhältniffe der Kirche eine himmlifche Einheit, indem fie _ 
die Glieder der Kirche zu Gliedern Eines Leibes unter 
dem Haupte Chriftus macht, fo, daß, was eine chriftfiche 
Familie im Kleinen iſt, Die. chriftliche Kirche im — 
ßen werde: 
Alles iſt euer, 

Ihr Chriſti, 
Chriſtus Gottes. 


Dieſe himmliſche Einheit wird in dem Mage anzie ⸗ 
hender, in welchem die herrſchende Liebe ; 


„die ® iturgie von Mechanismus, 
„die Hierarchie von Egoismus, 


=> GB er 


„die Theologie von Pr ent rein hält ober 
macht.“ 


Dieſe himmliſche Einheit wird in dem Maße anzie- 
hender, in welchem die Liebe die Habe des Einen zur 
Kahrungsquelle für die Nothdurft des Andern, den Knecht 
zum Freien, den Freien zum Diener aus Liebe, den 
Starfen zur Stüße des Schwachen, und Einen für Alle, 
und Alle für Einen forgfam und: wirkſam madıt. 


Die Liebe wuͤrde ſogar das Prin zip der hoͤhern 
Weltordnung — die Mutter der Harmonie, werden, 
wenn fie allgemein herrfchend werden koͤnnte. Denn. nicht 
nur hat fie. ſchon überall, fo weit fie in den Rath der 
Großen Zutritt: fand, die Gefeßgebung gemildert, Mens 
fchenhandel, Deenfchenopfer ꝛc. abgefchaffet, fondern fie 
wirde auch die übrigen Reſte der entheiligten Auftorität 
oder des umnfeligen Freiheitsfchwindels allmälig, ohne Res 
volution, aufheben, und überall Ordnung. an die Stelle 
der Anarchie, ‚Gerechtigfeit an die Stelle der Willfür fes 
gen; — fie würde ein Öffentlihes Gewiffen in den 
Berhandlungen der Mächtigen etabliren; fie wiirde, bei 
aller Ungleichheit der Stände, des Bermögeng, 
der Ehre, wahre Gleichheit der Bürger einführen, indem 
fie Alle ald Glieder zu einem Zwecke verbände; fie wuͤrde 
einen Freundfchaftsbund zwifchen den Völkern ſtiften — 
kurz; ſie wuͤrde Gottes Himmelreich auf Erden zu Stande 
bringen, wenn ihr Einfluß auf die Weltgefchichte herr⸗ 
fchend, und ihre Herrfchaft allgemein werben Fünnte, ... 


94. 

Aber nicht nur iſt die Lehre von der Liebe Die ganze 
Tugendlehre; fie hat überdem an Verftändlichfeit 
und Wirffamfeit ausgezeichnete Vorzüge über jede an— 
dere Lehrweiſe, Es hat a) der Grundſatz der Liebe 
eine eigene, unerfeßliche Klarheit. Wir find Alle zur Liebe 
geboren. Bei der Abhängigkeit von Andern, die mit und 
geboren wird, und mit und aufwächst, bei den Wohlthas 
ten, die wir empfangen, bei dem Bedärfniffe, zu geben 


— A — 


und zu nehmen, erwächst das — der Liebe faſt * 
unſer Zuthun. 


Jeder, der in einer Familie erzogen kann zu 
ſich ſagen: „Ich habe Liebe zu meinem Vater empfun— 
den; und die Liebe gab mir ein, ihn zu ehren, ihm zu 
gehorchen, ihm zu danken, ihm nadhzuahmen, auf 
ihn zu trauen ꝛc. Wenn ich nun meinem zeitlichen Ba- 
ter Liebe fchuldig bin, und Liebe, die ihn ehrt, ihm ger 
horcht, ihm dankt, vertraut: fo weiß. ich wohl auch, was 
ich meinem ewigen Bater, dem Vater aller Menfchen, 
fchuldig bin — Liebe, die Ihn ehrt, Ihm gehorcht, Ihm 
danft, Ihm nachahmt, Ihm vertraut. Ich habe Kiebe 
gegen: meine Brüder, gegen meine Berwandten empfuns 
den, und die Liebe gab mir ein, fie zu ehren, mit ih— 
nen. meine Habe zu theilen, nicht. nur gerecht und 
billig, fondern auch gäütig, und gütig gegen fie als 
Kinder. Eines Haufes zu ſeyn. Wenn ich nun ald Brus 
der meinen Bruͤdern nicht nur Gerechtigkeit und Billigfeit, 
fondern Güte und brüderliche Güte fchuldig bin: fo werde 
ich allen Menfchen, die ald Kinder Eines Gottes zu der 
Einen großen Familie mit: mir gehören, nicht nur Gerech- 
tigkeit und Billigfeit, fondern auch Güte, brüderliche Güte 
fchuldig feyn. Sch weiß, mas ich meinen Eltern und 
Brüdern fchuldig bin: ich weiß alfo auch, was ich Gott 
und den Menfchen ſchuldig bin. Was ich gegen meinen 
Vater und meine Bruͤder empfunden habe, das iſt Pflicht 
gegen Gott und die Menſchen.“ 


Für dieß Selbftgefpräch hat jeder Menſch Sinn, den 
die Erziehung aus der erſten Rohheit gebracht, in dem 
die Liebe der Eltern und Verwandten gegen ihn den 
erſten Funken der Gegenliebe geſchlagen hat. 


Es beſteht b) das Weſen aller Tugend in der Auf⸗ 
opferung für die Pflicht. Nun gerade dieß Weſen al 
ler Zugend offenbart ſich nirgend deutlicher, kraͤftiger, 
ſchoͤner, als in der Liebe. 


Wie die Mutter ihr Leben opfert, um ihr Kind der 
Welt zu geben: fo opfert das dankbare Kind, wenn ed 


— 442 — 


une ift, ‚das Leben, um der Mutter das ihre zu ret⸗ 
ten. Juͤngſt rettete ein Sohn feine Mutter, die mit ihm 
auf einem Floße fuhr, und in die Ifar. fiel. Ale Zuns 
gen fprachen: das ift die Liebe. Hätte er fie aus Furcht 
vor Waſſergefahr ertrinken laſſen; ſo haͤtten ſich alle 
Herzen von ihm weggewendet. Niemand haͤtte es gewagt, 
dieſe Gerühlfofigkeit zu vertheidigen.. .. Jede gute Mut— 
ter in einer Familie, it ein Bild ber Tugend, weil ſie 
das Bild. ber Liebe .ift, und fie ift das Bild der Liebe, 
weil fie. das Bild der AMISAIERURN ohne Prunt 
und Zwang if. 


"Der Grundſatz der Liebe hat nicht nur in den erſten 
—— alles menſchlichen Lebens, in der Fam ilie, 
eine unerſetzliche Klarheit; nicht nur iſt die Uebung der 
Liebe eine: fortlaufende Verſinnlichung des Weſens aller 
Tugend, der Aufopferung: fondern. c) der Grundfaß 
der Liebe zeichnet fich auch durch das Leichtanwendbare 
und Schnellentfcheidende aus, indem er fih an das fitt 
liche Gefühl des Menfchen richtet, und durch. die Beſorgt⸗ 
heit, womit die Xiebe verfährt, es fchärft und erhöhet. 
Der Gpottliebende »wird nicht nur Alles thun, was ihm 
ala Gottes Wille einleuchtet, er wird in jedem zweideu⸗ 
tigen Falle lieber zu viel ald zu wenig thun, um nur dein 
Geiſt der Liebe nicht zu betrüben. Die Liebe ift ein Tu⸗ 
tiorift im beften Sinne des Wortes — denn fie 2 die 
zärtefte Gewiffenhaftigkeit. 


So ift auch die Liebe gegen Andere Anfniderifder 
Natur, : marftet nie mit Pflicht und Gewiſſen, ift Origis 
nal im Wohlthun, hilft großmuͤthig, pirRt mit Delifateffe, 
überrascht mit Freuden. 


+... Die Liebe gegen ‚Andere hat d) überbem. nicht — 
an dem ſittlichen Gefuͤhle, das ſie ſchaͤrft, einen treuen 
Beiſtaͤnder, ſondern ſogar in der Selbſtliebe einen Rich⸗ 
ter, der nie trügt, einen Sprecher, der nie fchweiget: 
„Was ihr wollet, das euch Andere thun,. das thut ihnen 
auch; was ihr nicht: — daß euch .. —*— das 
thut ihnen nicht.’ | 


— 40135 — 


Was miünfchterich, daß der Nachbar an mir thäte, 
nicht. thäte, wenn ich, in des Nachbars, und der Nachbar 
im meiner Lage waͤre? Dieſe Frage an fein Herz Tann 
Seder thun; Jeder hat alſo den beſten Ka fuiften,. die 
fchönfte Bibliothek in ſich ſelber, darin alle casus ‚du- 
bi am. ficherften gelöfet werden. _ e 


Bor der Kaſuiſtik der Liebe beſteht z 8 keine Ma⸗ 
xime des Geizes: „Ich muß. meinen Pfennig fuͤr 
das Alter hinterlegen.“ — Aber wenn du in der aͤußer— 
ſten Noth huͤlflos dalaͤgeſt, wuͤrdeſt du dieſe Maxime bil⸗ 
ligen koͤnnen ? Hilf mir jetzt, wuͤrdeſt du ſagen: in dei⸗ 
nem Alter wird ſich ſchon Huͤlfe finden. a, 


Zeh will den Armen nach meinem Tode mein gan⸗ 
zes Vermoͤgen vermachen.“ Aber wenn du ſelbſt in der 
aͤußerſten Noth huͤlflos dalaͤgeſt, w wuͤrdeſt du dieſe Maxime 
billigen koͤnnen? Hilf mir jetzt, wuͤrdeſt du fagen: thu 
Gutes, fo Tang du lebeſt; wenn du ‚wicht mehr lebeſt, 
werden ſchon Andere helfen. 


u 


Der Elende: hat: fich durch Benfihwenhäng fefßft. arm 
gemacht.‘ Aber, wenn du Dich durch Verſchwendung arm 
gemacht hätteft, wuͤrdeſt du dieſe Härte an Andern bil— 
ligen fünnen? Gey jest fein Prediger; jest ift helfen 
fhön, ein andermal mag die Moral an Drt und Stelle 
feyn. 


Bor der Kafuiftif der Liebe a 3. Feine Mir 
xime bes fpottenden Witzes. 


Es giebt Menſchen, die keinen witzigen Einfall unters 
druͤcken koͤnnen, fremde Fehler an das Licht hervorziehen, 
mit beißenden Anmerkungen begleiten, amd in ihrem Kreiſe 
umhertragen. Daraus machen fie ſich fein Gewiſſen, denn 

fagen fie: Es ift wahr, was ich ſage, und es iſt 
ſchon bekannt. 


Stelle dich aber, der du ſo — in die Lage des 
Andern, und frage dich: Wuͤnſchteſt du, daß dein Nach⸗ 
bar deine wahren, auch ſchon bekannten Fehler umher⸗ 


— 4 — 


trüge?— Die Delifateffe, die fremde Fehler zudeckt, ift 
fo ſchoͤn; möchte fie Jeder von der Delifateffe lernen, mit 
der Jeder feine eignen Fehler verbirgt, und winfcht, daß 
fie verborgen bleiben möchten! 


Vor der Kaſuiſtik der Liebe beſteht z. B. keine Mar 
xime des Luxus, Der gegen Andere hart wird, um 
gegen fich verſchwenderiſch ſeyn zu koͤnnen. 


- Wenn du felbft Frank, huͤlflos wäreft, und dein Nach— 
bar fagte: Ich kann Dir nicht helfen; "denn ic; muß mit 
ſechs Pferden fahren, die neueſten Parifer Moden in Klei— 
dungen nachmachen, große Fefte geben: wuͤrdeſt du fo be> 
handelt zu werden wünfchen ? | 


Bor der Kafuiftif der Liebe befteht z. ®. feine 
Marime der Ungerechtigkeit im Handel und 
Wandel. 


Wenn ich das geſtohlene Gut — ſo kauft 
es ein Anderer: alſo kaufe ich es.“ Wenn dir daſſelbe 
Gut geſtohlen worden waͤre, wuͤrdeſt du es billigen, daß 
es dein Nachbar kaufte, und alſo dir die Wiedetherſtel⸗ 
lung deines Gutes erſchweret wuͤrde? — 


So verſtaͤndlich, fo Leicht anwendbar der Grund: 
fat der Liebe fir den Verftand, fo wirkfam ift er für das 
Herz, vorausgefegt, daß er einmal den Willen ergriffen, 
und ſich zum Könige des Herzens Fonftituirt ‚hat, oder 
wenigſtens ſich zu Fonftituiren auf gutem Wege ift. 


Die Wirkſamkeit der heiligen Liebe ift die Wirkſam— 
keit der Liebe, und die Wirkfamkeit ‚der heiligen 
Liebe. Als Liebe wedet fie die fchlafenden 
Kräfte, als Liebe ftärfet fie die wachenden BR als 
Liebe erweitert fie die thätigen Kräfte, 


Das Auge des Liebenden ift ftetö wach, wie Gott; 
er fchläft und fchlummert nicht, ſpaͤhet aus — den Winf 
des Geliebten, und fpricht zu der großen Laſt: Du: bift 
feine für mich!: und hat fie, ehe man ſich's verſieht, auf 
der Schulter, und geht fingend unter ihr dahin. 


— 145 — 


Die Liebe ftärfet und weitet den Arm, daß er die 
fernften Dinge erreichen, daß er die ſchwerſten Laſten * 
ben kann. 


Wenn das jede Liebe kann, was wird die heilige kön— 
nen? Als Liebe Gottes verwandelt fie das ganze Le— 
ben in Einen Gottesdienft, und a den Einen Fuß ſtets 
im Lande der Unſterblichen. In diefem Standpunfte 
gewurzelt, holet fie Muth zur Duldung alles Wiprigen, 
und Sauterfeit zur Bollbringung alles Guten — aus dem 
Ewigen, wo Leben und Lauterfeit ihre Heimath haben. 


MS Liebe gegen Gott findet fie ihren Gott — über- 
al, in der Natur und Schrift, in der Weltgeſchichte, 
in der Geſchichte des eigenen Lebens, in den Be- 
gebenheiten ihres Allerinneriten; Alles it ihr ein Denk 
zettel ihres Gottes, und die Liebe, die feiner Erinnerung 
bebürfte, findet überall Erinnerungen genug au ben Uns 
ermeßlichen. „Sie ftrecket (mit Clerdon in Jakobi's All 
will V. Brief) am jedem Morgen ihre Arme ans nad) 
dem Liebenswirdigen, amd irrt ihm nach, findet ihn Schafe 
fend am Aufgange — und. des verweſenden Theils ent⸗ 
laden, fliegt ſie in ſeine Arme, und ſinkt in feinen Schooß, 
und iſt bei ihm, iſt im ihm, und koſtet Allmacht, Schoͤ⸗ 
pfung, ewiges Bleiben.“ 


Als Liebe gegen Gott gewinnt fie, . bei jedem unges 
wöhnlichen Creigniffe, aus dem Umgange mit Chriftug, 
der Alles, Welt, Tod, Hölle, überwand, jenes Gefühl 
ber Ueberlegenheit, das den Helden zum „even 
bildet — jenes Gefühl, das in David ſprach: „In mei⸗ 
nem Gott uͤberſpring ich Wal und Mauern;“ in Pau⸗ 
Ins: „Wenn Gott für mich, wer wider mich?“ und 
int, jenem Helden: „Er iß maͤchtiger als alle andere 
Macht. — 


Als Liebe gegen bie Menfchen macht fie den Lieben: 
dent offen und ſcharfſinnig, daß er alles Wahre, 
Gute, Schöne in Andern fehnell wahrnimmt, und daran 
fo große Freude hat, wie wenn ne fein: Wahres, Gare, 
Schönes wäre. - 





— 446 — 


Als Liebe gegen die Menfchen macht fie den Lieben⸗ 
den weichherzig, daß fich fein Wohlwollen außbreitet 
über Alles, was Menfch ift, macht: ihn fluͤgelkraͤftig, 
ine er fi ich. erfchwinget über die drei großen Sceidewände: 


Land, 
Stand, 
Meinung, 


und hoch erſchwungen — in dem Menſchen den ann 
—— Gott umfaſſet. 


Dem liebenden Menſchen iſt kein Menſch profan, 
und fuͤr die Liebe giebt es kein Privilegium der Nichtliebe. 
Selbſt der Feind iſt ihm kein Profaner, kein Ausgeſchloſ⸗ 
ſener aus dem Herzen, das die Menſchheit umfaßt. 


Als Liebe gegen die Menfchen hält fie den Liebenden 
in Mitte zwifchen Apathie und Weichheit, denn bie 
Apathie iſt halbe Lähmung, und die Meichheit ganze, 
Schwachheit; ſie macht den Menſchen bewegfam zum 
Mitgefuͤhle und ſtark zur Aufopferung, und ſelig in Auf⸗ 
opferung durch die Vorahnung des Himmels, der mit der 
Liebe und durch die Liebe im Keime ſchon gegeben dm 
und als volle Frucht gegeben werden muß. 8 

* * Ze | 

Die heilige Liebe — fo ſchoͤn im Bilde: wo finde 
ich fie ‚jelber ? Pie wird fie, die heilige, geboren, wie 
erzogen, wie allherrſchend? 


Ich darf nur wiederholen und —— um 
das Wichtigſte zur Loͤſung dieſer Fragen mit den ey 
fen Worten zu jagen: 


| I. Die heilige. Liebe wird nur da geboren, wo ber 

göttliche Umfchwung im Menfchen, die Umfchaffung aus 
dem Böfen zum Öuten, vorgeht. ; Ohne Umwandlung 
de8 innerſten Lebens im Menfchen Feine heilige Liebe. Dar⸗ 
um fiengen Chriftus und Die Apoftel ihre Predigt von der 
Buße (die der. eigentliche: Umfchwung, die rag 
die ú— — iſt) an. 


— 447 — 


II. Die heilige Liebe kann da, wo fie einmal geboren iſt, 
nicht erzogen, nicht erhalten, nicht geübt werden ohne den 
Geift der Innigkeit und der Selbftverläugnung. 
Denn bie. Liebe kann ſich nicht als Liebe Gottes erwei- 
fen ohne Umgang mit ihm, ohne. Junigkeit, nicht als 
Liebe der Menfchen * — er REN 
laugnung. 


Deßwegen — Chriſtus * die Apoſtel nichts 
ſo ſehr, als Gebet und Selbſtverlaͤugnung. Die 
Liebe ‚gegen Gott bedarf, eines erhebenden Flügels, des 
Gebetes; die Liebe gegen. die. Menſchen eined — Ar⸗ 
mes, der Selbſtverlaͤugnung. 


III. Die heilige Liebe kann auf Even weder all 
gemein. verbreitet, noch allgemein erhalten werben, 
als durch Liebende Menfchen, die ſich dem Gefchäfte 
opfern, Das Reich der Liebe auszubreiten und zu erhalten. 


Dephalb ‚gründete Chriſtus eine Kirche, id feßte 
das ewige Lehramt ein. - 


Wenn alfo die Welt in ihrem Haffe gegen die Kir, 
che Chrifti und ihre Diener noch weiter, fortrückte, fo 
würde fie noch deutlicher beweifen, daß fie in der Kunft, 
fi) ſelbſt zu haſſen, ſo original als perfektibel ſey. 


IV. Die heilige Liebe theils auszubreiten, wo ſie nicht 
iſt, theils zu erhalten, wo ſie iſt, theils zu ſtaͤrken und zu 
erhoͤhen, wo ſie noch ſchwach iſt, hat die Kirche Chriſti, 
von den erſten Zeiten bis auf die unſern, nicht ohne Grund 
auf die öffentliche Gottesverehrung das hoͤchſte 
Gewicht gelegt. Denn Alles, was unſer öffentlicher Got⸗ 
tesdienſt in ſich faßt? 


a) Offenbarung und Detesung de Heiligen 
durch Lehre, 

b) Offenbarung und Belebung de3 Heilis 
gen durd Gebete, Gefänge, | 


c) Offenbarung und Belebung des Heil 
gen burd das erneuerte Opfer Chrifii am 


— 485 — 


Kreuz und durch —— der —* 
gen Sakramente, 


d) Offenbarung und Belebung des Heiligen 
durch Ceremonien ꝛc., if, feinem Weſen nad, 
‚Dffenbarung, age der ich. Liebe. 





Schluß des zweiten Theiles. 


Die Lehre Jeſu iſt alfo nicht nur ald Glaubens 
Lehre göttlich, fondern auc ald Tugendlehre... gött 
fich, wir. mögen ihre Abfunft, oder ihren Snhalt, oder 
ihre Berftändlichkeit und Wirkſamkeit betrachten. 





Letzte 


— 4149 — 


Legte Borlefung 





Dritter ZBHeIE | \ 
Die Lehre von der Hoffnung, oder. die Seligkeitslehre. 


u 95. 


) Eine Frage, die auch denfende Köpfe, befonders 
in den Tagen, die das kranke Menfchengefchlecht durch 
den Imperativ: Du follfi gejund feyn! heilen woll⸗ 
ten, felten einer gründlichen Unterfuchung wirdigten, Die 
fih aber dem Denfenden, wie dem Undenfenden von ſelbſt 
und oft genug anfdringen muß, iſt die: 


Mit der Bergangenheit begegnet dem Menfchen 
das Bild von mancherlei Sünden, deren er ſich ſchuldig 
gemacht hat. Die Gegenwart bringt ihm Freuden, die 
er fich verfagen, Leiden, die er fragen, Arbeiten, Die er 
verrichten fol, Mit der Zufunft fohweben ihm vor — 
die Ungewißheit der Dinge, drohende Leiden, die Schres 
den des Todes, und fein Loos in der Ewigkeit. | 


Nun wenn ed dem Menfchen möglich, ſeyn J 
ſeiner Lebensbahn mit frohem getroſtem Sinne weiter zu 
wallen, und bis an das Ende auszuharren: m nimmt 
er her 

a) volle Beruhigung des Gewiſſens in n Hinſt icht auf 
ſeine begangenen Suͤnden; 

b) uͤberlegenen Muth der Seele in Hinficht auf die 
Gegenwart zum Entbehren, Dulden, Thun 
alles deſſen, was fie. ihm zu entbehren, zu dulden, 
zu thun auferlegt; 

c) Heiterfeit des Geiftes in Hinficht auf die Un⸗ 
gewißheit der Zukunft, auf noch bevorftehende Pro: 
ben, denen er fich nicht entziehen kann, auf. den ‚ges 


wiffen Tod, auf fein 2008 in der Ewigfeit? 
IM, v. Sailer’s fämmtr, Schriften. VIIL, Bd, 3te Yufl. 29 


EG — 


2) Die eine rihtige Antwort auf Diefe 
Frage im Spyfteme bes —— läßt a 
fo ausdruͤcken; 


Das, was volle Beruhtgung fn Hinficht auf die 
Vergangenheit, überlegenen Muth in Hinficht auf die 
Gegenwart, und Heiterkeit in Hinfiht auf die Zus 
funft und Ewigkeit in ſich fafjet, ift die Hoffnung des 
Ehriften. Daraus ‚entfteht dann. die weitere Frage: 


3) Was ift denn alfo diefe Hoffnung des 
Chriften? * 
Sice iſt, antwortet unfer. Evangelium, dem Ehriften bie 
gründliche Ueberzeugung, daß Gott, der die Liebe ſelbſt 
ift, ihn wie feinen Freund anfjehe, ald wenn er nie eine 
Suͤnde begangen hätte, und die unerfhütterte Er 
wartung, daß er ihm Kraft zum-Entbehren, Duk 
den, Arbeiten darreichen, alle Dinge, die vergangenen, 
gegenwärtigen und ‚fommenden, ihm zum Beten lem 
fen, die täglichen Fehltritte verzeihen, die Folgen als 
ler feiner Sünden aufheben und vergüten, Leiden 
und Tod ertragfam machen, und ihn in die felige Ewig- 
feit hinüber, und die gute Sache des ganzen menfchlichen 
Gefchlechtes herrlich hinausführen werde durch Den, der 
ſich für unfer Gefchlecht geopfert hat, und die Heiligung 
und Befeligung deffelben mit brüderlicher Treue beforget. 

4) Was hat die Hoffnung des Chriſten fuͤr Kenn⸗ 
zeichen? 

Sie hat drei Merkmale, die ſie unverkennbar machen. 
Sie geht I. aus dem Gewiſſen und der Gewifs 
fenhaftigfeit hervon h 

Sie hält fi II. an Gott, ald die Liebe 

Sie umfaßt III. Zeit und Ewigfeit, bie fremts 
den, wie bie eigenen Schidfale, und dad 006 
unfers ganzen Geſchlechtes. 

Sie geht er ſten s aus dem Gemifjen und der Se 
wiffenhaftigfeit hervor; denn jene gründliche Uebers 
zeugung: Gott fieht mich als feinen Freund, an, Gott be⸗ 


3 


— 451 — 


handelt mich, als wenn ich nicht geſuͤndiget haͤtte, kann 


nur da Platz haben, wo wahre Bekehrung des Menſchen 
vom Böfen zum Guten, jene himmlifche Umwandlung des 
thieriſchen in einen Geiſt menſchen, wie ſich Paus 
lus ausdrückt, vorgegangen ift, Nun diefe Befehrung feßt 
das Gewiffen in die freiefte Thätigfeit, und ftellt 


die zärtefte Gewiffenhaftigfeit wieder her. Alfo 


geht die Hoffnung des Chriften aus feinem Gewiſſen und 
feiner Gemwiffenhaftigkeit hervor. Sie ift alfo nicht Taͤu⸗ 


ſchung, fie it Wahrheit. 


Da nun nach der Lehre Chriſti die Bekehrung des 
Menſchen, oder der Uebergang zur herrſchenden Gottes⸗ 
und Menſchenliebe nicht ohne den Geiſt Gottes, ohne die 
neufchaffende Kraft Gottes werden kann: jo kann 


a) ber wahre Grund, warum. die Hoffnung des 
Shriften (Rom. V, 59 nicht täufche, nur in der. 
Liebe Gottes, die durch den heiligen Geift 
gegeben ift, gefunden werden; „die Hoffnung macht 
nicht zu Schanden, weil die Liebe Gottes ansgegofs 
fen it in unfern Herzen durch den heiligen Geift, der 
und gegeben iſt.“ Eben deßwegen wird 


b) die Hoffnung überhaupt unter die Gaben des Gei- 
‚ftes (1 Kor. XU, 31. XIII, 13.) gerechnet:‘ „Sns 
deß für jeßt (bis wir zu jener Stufe fommen, wo 
wir die Wahrheit felber ſchauen, und das Stuͤckwerk 
aufhört, 9.12.) bleiben diefe drei, Glaube, Liebe, 
Hoffnung, darunter jedoch die Liebe das Vornehm⸗ 
ſte iſt.“ Eben deßwegen wird 


c) die Hoffnung ausdruͤcklich von dem Zeugnif fe des 
Geiftes abgeleitet: ',„Derfelbe. Geift giebt Zeugniß 
unferm Geifte, daß wir Gottes Kinder find, Sind 
wir aber Kinder, fo find wir auch Erben, Erben Got: 
tes, Miterben Chrifti.” (Roͤm. VII, 14. 17.) 


* Nicht umfonf find die gegründete Neberzeugung und 
die unerfchütterte Erwartung als die zwei mwefent: 
lichen Beftandtheile der Chriftenhoffuung angegeben worden. 
Denn num ift es klar, daß fowohl der Grumd jener Hebers 
zeugung, ale ber Grund diefer Erwartung ‚Fein menſch⸗ 
29* 


— Aße — 


licher, ſondern ein goͤttlicher ſey, gegeben in und mit der 
Liebe gegen Gott, die der Geiſt Gottes in dem em⸗ 
pfänglichen Herzen ausgießt, und mit dem Zeugniſſe 
deffelben Geiſtes. Deßwegen heißt auch die Hoffnung in 
der Schul s. und Kirchenfprache Virtus divinitus infusa. 

”* Die Hoffnung des Ehriften, als eines zum: heiligen Leben 

neugebornen Menfchen, muß alfo von der Hoffnung des 

Suͤnders, der erſt gebeffert werden fol, gefchieden werden. 

Bon jener allein kann hier die Rede ſeyn. Der. Menfch ift 
zur Hoffnung geboren, und Fein Sünder hört auf, Menfch . 
zu ſeyn. Aber ein anders ift die Erwartung deffen, der 
noch als Sklave in Banden liegt, ein anders die Zuverficht 
deffen, der die Freiheit eines Sohnes genieft. 

*** Daß Zuverficht nur durch Feſtigkeit und Sicherheit 
der Veberzeugung, und durch Weberlegenheit und Energie 
des Muthes fih von Hoffnung unterfcheide, ift en dem 
flachen Sprachkenner einleuchtend, 


Die Hoffnung hält fih zweitens an Gott, als 
die Liebe, Denn, obgleich das fortdauernde Zeugniß 
des guten Gewiſſens vorausgefegt werden muß, daß Hoff 
nung Wahrheit jeyn und Wahrheit bleiben kann: fo ift 
doch nicht das gute Gewiffen des Menfchen der Gegen: 
ftand und Grund der Hoffnung, fondern Gott allein, 
und Gott nicht ald der Allmäckhtige, fondern Gott 
als die Liebe, die alle Verheißungen, die fie durch Chris 
fing gegeben hat, durch Chriftus auch erfüllen wird. Diefe 
Liebe Gottes wird im ſchoͤn⸗ menfchlichen Ausdrud als 
Treue vorgeftellt. 

Das Zengniß unfers Gewiſſens iſt allerdings eine 
Bedingniß, ohne welche die Hoffnung nie Hoffnung, und 
nie furchtloſe Hoffnung werden kann, ſo wie die Liebe 
ſelber. „Ihr Lieben! wenn und unſer Herz nicht ver— 
dammt: ſo haben wir eine Freudigkeit zu Gott.“ 
cı Joh. III, 21.) Furcht iſt nicht in der Liebe, die voll⸗ 
fommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht 
hat Pein, wer ſich aber fuͤrchtet, iſt Acht volfommen in 
der Liebe, (1 Joh. IV, 18.) Aber das, was den Gegen- 
ftand und den Grund der Hoffnung — it Gott 
als die Liebe 


/ 


— 455 — 


Die Hoffnung macht freudig: wie Fönnte fie aber 
freudig machen, wenn nicht Gott, als die Kiebe, für den 
Hoffenden eine nie verfiegende Freudenquelle würde? 

Es ift eine der gemeinſten Täufchungen,: daß man die 
Ruhe des Gewiſſens, die nur: eine Bedingung ‚der 
Hoffnung if; zum Objekt und zum Grunde der Hoff: 
nung macht, Allein dieſe Täufchung) halt ‚die Hitze des 
Leidenskampfes nicht aus. Denn, wer einmal, ohne ſich 
eined Vergehens bewußt zu feyn, von einer heißen Stunde 
mitgenommen ward, das heißt, wer weder von der Welt, 
noch von. feinen Freunden Hülfe erwarten konnte, 
wer zu gleicher Zeit an der Gefundheit des Leibes, 
an der Ehre feines Namens, an den zärteften Stel 
len feines. Herzens verwundet, » nichts in fich. und, ‚außer, 
fich erblicken konnte, als Schmerz, Schmach, Unge— 
wißheit: dem wird allerdings das ſtille Gewiſſen, Das 
ihm die Schuld feines Leidens. nicht beimeffen konnte, den 
negativen!’ Dienft gethan haben, daß es ſich nicht mit 
Krankheit, Schmach, Undank der. Welt vereinigte — daß 
ed nicht die Qual des Körpers,- das unangenehme Gefühl 
der :gefränften Ehre, die Pein der ungewiſſen Zukunft, 
und Die, noch heißere Pein des Verkaffenfeyns mit dem 
Berdammungsurtheile, mit feinem. Fluche ver 
mehrte. Ja, das ſchweigende Gewiffen wird dem Leidens 
den auch den. pofitiven Dienſt gethan haben,, daß es 
der Hoffnung ihr Pläschen in: dem Gemuͤthe offen 
hielt.» Aber Objekt und, Grund der Hoffnung: kann das 
Gewiſſen nicht fegn, nicht werden. -- Denn die reinſte Tu: 
gend; Fann, ohne den  allmächtigen Arın der Providenz, 
das Loos des, guten Menfchen ‚in, Zeit und, Ewigkeit - 
der Stufe des Guten nicht anpaſſen. Die Tugend kann 
nicht mehr als der Tugendheld, und der Tugendheld kann 
nur ſich bezwingen, aber nicht die ganze Natur. Er kann 
zwar, wenn er Held iſt, auch die Natur bezwingen, Daß 
ſie ſeinen Tugendplan nicht durchſtreiche, aber daß 
fie feinen Seligkeitsplan (geſetzt auch, daß: der 
Menfch einen, Seligfeitsplan- machen koͤnnte) realiſire, 
dazu kann er fie nicht ‚zwingenz die Natur mag ‚feine. 
Vorſaͤtze nicht meiftern, ‚aber. er kann die Natur ⸗die 





— 454 — 


den Tod feines Geliebten und die Berfeerungen feines zeit 
lichen Gutes mitbringt, und feinen eigenen Tod im Hinters - 
halte zeigt, auch nicht meiſtern. Kämpfen wider die Nas 
tur, das ift das Amt des Tugendhaften, damit fein Wille 
obenanftehen. bleibe; die Natur in Harmonie bringen mit 
dem Geligfeitötriebe des Heiligen, das ift die Sache Gots 
tes. Seligmachen kann nur Gott. Seligmachen kann 
nur der Allein⸗ und Urſelige. Nur Gott, der die 
Liebe, der die Treue felber ift, der dem Tode, der 
der ganzen Natur 'gebeut, deffen Macht — for groß ift, 
als Er felber, der die Urquelle der Seligfeit, wie der Tu⸗ 
gend, der die Urquelle des ewigen Lebens und alles Les 
beng if, — nur Gott, den und der Glaube nahe bringt, 
mit dem und die Liebe yereint, nur Gott kann Objekt, 
nur Gott! kann Grund der Hoffnung werden. Selig⸗ 
machen kann nur Gott. Anden Seligen anmeifen mag 
dad Gewiſſen aud noch: aber felbft Objeft, Grund 
der Hoffnung werden, kann es nicht, Und dieß gilt von 
dem reinften Gewiſſen: aud das veinfte Gewiſſen kann 
nie Grund und Objekt der Hoffnung ſeyn. 

Wie aber, wern das Gemwiffen (und dieß ift immer 
oder menigitens faft immer der Fall) nicht durchaus rein 
it? Wie, wenn die Fleden, die fid in den Tagen 
des Gluͤckes dem Auge der Vernunft entzogen haben, in 
den Tagen des Leidens erſt an's Licht hervorgezogen wer⸗ 
den: wo fol dann der Menſch Objekt und’ Grund zur 
Hoffnung hernehmen? Dann muß er ſich ja, von einem 
neuen Bedirfniffe gedrumgen, vorerft in den Schooß der 
| Erbarmungen werfen, muß vorerſt von Suͤnden rein ge⸗ 

waſchen, von der Uebermacht des Boͤſen erloͤſet werden, 
damit das Gewiſſen ſein Strafamt niederlegen, damit 
Gott, als Die Liebe, im Glauben mit Liebe angefaſſet, 
damit Gott, als: die Treue, ‚Hleichfam mit den beiden Ars 
men der Zuverficht umſchlungen, damit die ‚Hoffnung fels 
ber erſt geboren und zur Zuverficht erzogen-werden könne, 

- Und hier befomme die falfche Weisheit meiner Zeit, 
die ‚hierin beinahe mit jener: der Stoa zufammentrifft, den 
zweiten’ ‚und "legten Scheidebrief. Nicht nur taͤuſcht fie 
darin, daß fie den Menfchen Gott tugendhaft 


— 15 — 


machen will; fle täufchet Ihn auch barin, daß fie den 
Lohn der Tugend in der Tugend felber finden laſſen will, 

Unabhängigkeit von Gott — iſt unire Sünde 
und unfere Hölle, 

Die Religion macht und gut und felig, indem fie ung 
von Gott abhängig macht; macht und gut durch die Lies 
be, macht und — felig durch die Hoffnung. 

Und, wie Gott das Objekt der Liebe, fo ift Er, und 
Er allein, dag Dbjeft der ‚Shriftenhoffnung. 


Die Hoffnung des Chriften umfaßt drittens Zeit 


und Emwigfeit, eigne und fremde Schickſale, und 


das 2008 unfers ganzen Geſchlechtes. Denn 
wäre fie. minder umfafjend, dehnte fie fich 3. B. nur auf 
die Zeit und nicht auf die Ewigkeit aus, oder ſtellte ſie 
uns zwar ein Bild des Seligen hinter der Schwelle der 
Ewigkeit auf, aber in der Zeit ließe ſie uns ohne alle 
vernünftige Erwartung; oder umfaßte fie nur unfere-eiges 
nen Schickſale heriben und drüben, ohne uns über die 
fremden in Sicherheit zu feßen; oder endlich ließe fie und 
zwar einen Stern aufgehen tiber einige fremde Schickſale, 
aber keinen uͤber das Loos des ganzen Geſchlechtes: wie 
koͤnnte ſie uns dann die vollſtaͤndige Beruhigung, den 


uͤberlegenen Muth, die unbeſiegbare Heiterfeit, die 


das Weſen der Chriſtenhoffnung ausmachen, verſchaffen? 
Den Gottliebenden dienen alle Dinge zum Beſten: 
das iſt das Motto des Hoffenden. 


Zeit und Ewigkeit liegt in der Hand Mare Gottes, 


und unfer Gott ift die Liebe, fpricht der Hoffende. " 

Gott tft nicht nur ein Gott) den Juden, er iſt auch 
ein Gott der’ Heiden, er ift ein Gott aller Menfchen, ein 
Gott des ganzen Gefchlechtes, imd diefer Eine Gott ab 


ler Menfchen it die Liebe für Alle, * jubeln be 


Hoffnung des Chriften. 

So wie alſo der Chriftenglaube alles Wahre, das 
das Urwahre durch Chriſtus offenbaret, umfaßt, wie die 
Liebe des Chriſten alles Heilige, alles Schöne, ums 
faßt, das das Urheilige, das Urfihöne durch Chriſtus ge- 


— 


— 456 — 


boten: fo umfaßt die Chriftenhoffnung alles Selige, das 
dag Urfelige durch Chriſtus verheißen hat. 


* Die ganze Hoffnung, und fomit aller Troſt und alle wahre 
Sreude des Chriften ruht auf den göttlichen Verheißungen, 
die durch Ehriftus ihm zugefichert find. Es verfteht fich 
demnach von felbit, daß die Hoffnung jedes Ehriften durch 
die göttlichen Verheißungen bedingt werde, und daß fomit 
nicht unbedingt erwartet werden dürfe, was nur unter bes 
flimmten und ausdrücklichen Bedingungen verheigen if. Es 
würde z. B. auf nichtchriftliche Weiſe Nachlaffung. feiner 
Sünden erwarten, wer ſich dem zur Entfündigung des nach 
der Taufe Gefallenen in der Kirche von Chriftus eingeſetz⸗ 
ten. Bußfaframente entziehen, und fo auch ohne Grund die 
nöthige Gnade und den Beiftand Gottes hoffen, wer die 
von Chriſtus in der Kirche eingeſetzten Gnadenmittel vers 
fhmähen wollte. Die ganze Hoffnung und die auf ihr rus 
hende vollfommene GSeligfeit des Chriften iſt ein integris 
vender Theil der ganzen chriftlichen Religion, und hat, ge: 
trennt von ihren Lehren und Juſtitutionen, Eeinen zuvers 

aͤſſigen Grund. Die falfche Sicherheit des ganz unthätiz, 

gen Quietismus, oder was immer für eines ſchwaͤrmeriſchen 

Moftieismus, ift himmelweit von der Ruhe und den feligen 
Leben des Chriften verfchieden. 


Nichts ift in Zeit und Ewigfeit; das nicht in den 
Umkreis der Chriftenhoffnung gehört, und Alles — was 
in ihren Kreis eintritt, sit oder wird Seligkeit. 


Und das macht die Hoffnung des Chriften zur Selig: 
feit im Lande, das Feiner vollendeten fähig ift: wie ich 
ſogleich ausführlich zeigert werde, weil mir die Gelbft- 
verläugnung, von dem, einzigen: Seligkeits⸗Analogon, def 
fen diefes Leben fähig iſt, zu ſchweigen, von Feiner 
Weisheit geboten werden kann, und die Gebote der Thorz 
heit gu verſchmaͤhen — — mich die ing geleht 
= 89 


* Dem Verfaſſer ſchwebte, da er dieß ſchrieb, noch jene ſo kaite 

als grundloſe Denkweiſe vor, nach der Seligſeyn und Gut⸗ 

ſeyn, als Feuer und Waffer, als zwei feindliche, unverſoͤhn⸗ 
liche Heere, gegeneinander ſtanden. 


— 457 — 


5) Ic) behaupte: Wer Die Gemuͤthsfaſſung in ſich 
hat, die mir die Hoffnung des Chriſten heißt, eine Hof? 
nung, Die 

1. aus dem Gewiffen wu der Gewiffenhaftigfeit her: 
vorgeht, ( 
II. ſich an Gott, ald die Liebe, anhält, 


III. Zeit und Ewigfeit, eigne und fremde Schickſale, 
und das Loos unſers Gefchlechtes umfaffet, 


der ift, fraft diefer feiner Gemuͤthsſtimmung, fo selig, als 
es der Menſch hienieden ſeyn kann. 


Denn, ſo ſelig hienieden, wie möglich — — iſt der, und 
nur der, welcher 


A. die wahren, die beiten, bie uitfterblichen Fehlben 
fih. bereitet hat; _ | 


B. die unfchuldigen Freuden, die ihm werben, unſchul⸗ 
dig genießt, und: den. Genuß ſelber zur neuen, Freu 
denquelle macht; 


C. ſich die peinlichften Leiden —— 


Du die Leiden, die ihn treffen, am leichteſten trägt, und 
auch diefe in Freudenquellen zu verwandeln weiß. 


Nun gerade da, wo jene Gemuͤthsfaſſung herrſchet, 
die wir die Hoffnung des Chriſten nennen, gerade da, und 
nur da find die beften Freuden bereitet, werden die un— 
fchuldigen Freuden. unfchnldig genoſſen, die peinlichiten Lei: 
den ‚erfpart, Die unvermeidlichen am leichteſten ertragen, 
und am ſi cherſten in Freudenquellen verwandelt. 


*96. * 

A. Wo die Gemäthisfaffung, die wir * Hoff⸗ 
nung des Chriſten nennen, herrſchet, da ſind die wah— 
ren, die beſten, die unſterblichen Freuden berei— 
tet, find ein Erbgut, das im innerften Kabinette des Mens 
ſchen hinterlegt if, und dazu er ſtets freien Zugang hat. 


Der Grundirrthum unſers Geſchlechtes, das zpWToV 
Peödos alles. Freudefuchens befteht darin: wir. wollen 
Freude haben, und ‚befimmern: ‚ung nicht Darum, wie 


— 41586, — 


der Freude ein Boden bereitet werden koͤnne; wir wollen 
Freude haben, und fuchen fie an einem Orte, wo fie mes 
der. wurzeln, noch gedeihen kann. 


Nun diefer Grundirrthum kann in der Gemäthsfaffung 
des Chriften unmöglich Eingang finden. “Denn, da feine 
Hoffnung aus dem guten Gewiffen und der Gewifjenhafs 
tigkeit hervorgeht, diefe aber den. Menfchen der wahren, 
beften, unfterblihen Freuden empfänglich und werth macht: 
ſo iſt durch den Grund der Hoffnung zugleich der Grund 
zu den wahren, beiten, unſterblichen Freuden gelegt. 


Die wahren, bie beften, bie unfterblichen Breuden des 
Menſchen ſind: 

1) Die zuͤcht ige Freude, recht gethan zu — die 
von innen aus oͤlet, — und dann noch oͤlet, wenn, 
wie Claudius ſagt, die Knochen frieren — eine 
Freude, die Ruhe dem Auge, Sicherheit der 

Geberde, Herzanfaſſungskraft dem Worte, und 
Zutrauenswuͤrdigkeit dem ganzen eg Mens 
fchen verleiht. eh 

2) Die reinfte Öeiftesfreude, namlich die — 
Freude an Gott, an der Liebe, die das Eine 

u... and alles Gute ſelber iſt, eine ‚Freude, die in ih— 
vem Weſen Liebe, in ihrem tiefen Seyn Innige 
Leit, in ihrer Regung nad oben Andacht, in. ihe 
rem vollen Genuſſe Gottfeligfeit, in ihrem Ges 

fuͤhle der. völligen Ausfühnung, ‚des, Menfchen mit 

Gott Friede Gottes heißt, und das Wort: Mein 
Gott, mein MALEN zu ihrem. liebften Texte ge⸗ 
waͤhlt hat. 

Derſelbe Geiſt, der die Hoffnung in die Seele legt, 
gießt die Liebe aus — im Herzen, und mit der Liebe 
die heilige Freude an Gott, * ** die Liebe die 

Hoffnung. | 

» Die Freude des —— ens gegen alle Men 
ſchen, der Harmonie mit allen guten Weſen im 
Himmel und auf Erden, der Freundſchaft, als 

‚ber vollen Harmonie mit beit Auserwählten — 


wodurch das, was Hölle ift und Hölle Schafft, Haß, 
Keid, Rache ꝛc., in ihrem Keime und. in ihrem 
Wuchſe — von der heiligen Stätte in dem Mens 
ſchen fern gehalten wird. 


4) Die Freude der Zuverficht felber, daß ung nicht 
nur ewige Freude hinterlegt fey, fondern alle Schick⸗ 
ſale aller Menſchen fuͤr Zeit und Ewigkeit in der 
Hand der Liebe liegen. 


Dieſe Freude ſtreift, bei dem eintretenden Genuſſe des 
ewigen Lebens, den Rock der Hoffnung ab, und behaͤlt 
nur den allein-unfterblichen Charakter ber Liebe, der 
ſchauenden, der ſeligen. 


5) Die heilige Freude an der Natux, und an 

allem, was die Kunft Schönes, Großes, Erhabes 

nes darſtellt. Ueberall, wo du ſtehſt, iſt Gottes 
Staͤtte. 

Die Wonne, die ſich im Auge des Ehriſten ſpiehelt = 
wenn er hinausſchauet in die Herrlichkeiten der Natur, 
beim Auf⸗ und Untergang der Sonne, füllt das Herz mit 
Ahnung der Unfterblichfeit,. des Lichts ohne Wechfel. 


Füge Die Welt fchäßet - und preifet eine, heitere und ers 
heiternde Laune, Laune iſt eigentlich eine Ge⸗ 
muͤthsfaſſung, deren wir und nicht; helle bewußt find, 
und ‚die uns, ohne: helles Bewußtſeyn, zum Handeln 

beſtimmt, die ans bald graͤmlich, mürrifch, widerlich, 
ſchnell reizbar zur Ungeduld — zuruͤckſtoßend, „bald 
offen, freundlich, milde, bevorfommend, - munter — 

‚anziehend macht. Deßhalb je beſſet der Menſch wird, 

deſto weniger Laune hat er. Er we was ihn 
treibt, und ihn treibt das Gate. 

"Mas man heitere und erheiternde Laune nei 
iſt eigentlich die mu ſika liſche Stimmung unfers 
Inſtruments, iſt theils Nahhall der genofienen Freu⸗ 
de, theils Vorfpiel kommender Freuden, guͤnſtiger Aus 
ſichten. Dieſe heitere und erheiternde Laune koͤnnen wir, 

a) durch Arzneien, 


b) durch Luftveränderungen, Reifen, 


— 460 — 


ec) durch muntere Gefellfchaften, 
dh durch Lektüre, Verftandes- Kultur, 
e) durch Muſik, Scaufpiele ıc., 
f) durch regelmäßige Thätigfeit in einem beftimmten 
Freie, 

g) durd) den Traum der beiten Staatöverfaffung ꝛc. 
herzuſtellen oder zu fixiren ſuchen; wir werden ſie 
aber weder herſtellen, noch fixiren durch alle dieſe 
Mittel, die zum Theil in fremden Händen Tiegen, 
wenn ung nicht das gute, Gewiſſen und die mit be⸗ 
ſtehende Gewiſſenhaftigkeit einer feſten, ſich ſtets 
gleichen Stimmung ar. Freude a 

gemacht haben. 


| lub, went diefe fefte,, fi ich, fletg gleiche Stimmung für 
Freude — im Menſchen iſt, ſo hat er den wahren Fond 
der Geſellſchaftlichkeit in ſi ch; — die Eigenliebe liegt in 
Banden; innig froh, kann er erfreuen, und wo nicht zur 
Freude uere ren doch allmaͤlig zur Freude imma 


— 

'B. ange dieſe DER AA —* — * — 
ſten) herrſchet, da wird die unfchuldige Freude des Le— 
bens unfchuldig genoffen, und der Genuß felber eine 
Freudenquelle Den, da die Hoffnung Gott 
als Liebe anhängt, fo nimmt der Menfch, der diefe 
Gemüthsfaffung hät, jede Freude wie aus der Hand ber 
Liebe, genießt fie als Gefchenf der Liebe, mit dem Ger 
fühle der heiligen Dankbarkeit, ‚die. eine Schweſter der 
— und eine Mutter des Wohlwollens 
iſt; ſaͤet alſo im Genuſſe der Freude durch Andacht, 
Selbſtbeherrſchung, Wohlthaͤtigkeit — die den Genuß nicht 
nur ſchuldlos bewahren, ſondern auch heiligen, neue Freu⸗— 
den aus, die fuͤr ihn unfehlbar reifen werden. 


Dea nun die Freude den meiſten Menſchen den Mi 

gen verberbt, d. i. den Gefchmad an reiner Freude zer⸗ 
ftört: fo wird dieſer Freudengefchmad durch den uünſchul⸗ 
digen Genuß des Chriſten vielmehr erhöht. „Der Ge 


— 401 — 


nuß veredelt ben Shriften Dis fo wie er den Ge 
nuß. 4 


*98. 


C. Wo dbieſe Gemuͤthsfaſſung (die Hoffnung des 
Shriften) herrfchet, da find und werden Die peinlichen, 
und am gewiſſeſten die peinlichſten Leiden erſpa— 
ret. 


Quelle peinlicher Leiden wird a) das Angenehme, 
indem es die Leidenfchaft wecket, fteigert, allgebies 
tend macht. Wie viele Seelen-Nöthen, Leibes⸗Schmer⸗ 
zen, Todes » Aengfte, welche Heere von Ditterfeit und 
Sammer kommen nicht durch die drei höllifchen 
Mächte,”) duch Hab⸗, Genuß» und Herrfchfucht in 
die Welt? Und gerade diefe ift die wuͤthendſte Trias 
aller Leidenfchaften, und gerade diefe Trias von Leiden- 
fchaften wird. durd; das Angenehme des Haben, Genies 
fens, Herrfchens geweckt, ‚gefteigert und mit neing⸗ 
barer Wuth bewaffnet. 


Nun gerade dieſe Trias wird von dem Geiſte des 
Chriſtenthumes, der ſich durch die Hoffnung als Seligkeit, 





*) Lieber Leſer! Der Ausdruck, die drei hoͤlliſchen Maͤch— 
te, iſt kein Druckfehler. Denn alles, was die Hoͤlle in 
dem Menfchen und Durch den Menfchen vermag, das ver 
mag fie sur dadurch, daß fie den Menſchen durch die Bes 
gierde nach Habe, Luft, Ehre beherrfchet. Sie Eönnte 
aber den Menfchen nicht durch die Begierde beberrfchen, 
wenn fich der Menfch mit göttlichem Ernfte wider die Bes 

gierde wehrete. Alſo: die Begierde ift dag Element, in 

dem die Hölle zu wirken vermag — wenn der Menfch 


fih in dieß Element mit feinem Gemäthe hinein bes 
giebt. 


So lange alfo das Göttliche dein Element bleibt, ſo 
lange Fann ‚dir das Element der — ſo wenig RN 
ben, als die Macht der Hölle. 


- 2 — 


durch ‚die Liebe als Heiligkeit, durch den Glauben "als 
Weisheit ausfpricht, nicht etwa in Bande gelegt — daß 
fie nicht ausbredhen und Jammer und Tod anrichten kann; 
fondern der Geift des Chrijtenthums zügelt den ganzen 
finnlihen Menfchen, indem er ihn dem Geiftigen unters 
wirft, und halt ihn fo unter dem Zügel, daß feine Bes 
gierde Leidenfchaft, wenigſtens Feine Leidenfchaft gebietend 
werden kann. Er bewachet, beherrfchet, lenket die Neis 
gungen, daß fie weber ftürmifch, und im Sturme verwis 
ftend, noch in fich Toncentrirt, und in diefer Koncentration 
tödtend werden koͤnnen. 


Wenn num der Geift des Chriſtenthums den ganzen 
fi nnlichen Menſchen zaͤhmt und regiert: ſo erſpart er uns 
ja alle die peinlichen Leiden, die aus unbezaͤhmten Nei— 
gungen, und beſonders aus jener Trias der Leidenſchaf— 
ten (dieſem eigentlichen Höllengefüße der Pandora) her 
vorgehen. 


Quelle der peinlichiten Leiden ift b) das Boͤſe. Das 
peinlichfte Leiden ift jenes Gewühl von Angf, Scham, 
Furcht, Unruhe, womit und. dad Bewußtfeyn des Bo- 
fen. (das Gewiffen) züchtiget. Die Vergangenheit Flaget 
an, Die Gegenwart drohet, die Zufunft ftrafet, die 
Ewigkeit vergilt. 


Diefes Anklagen, Drohen, Strafen, Vergelten verei- 
niget fi in dem Donner, der. über dem Haupte des 
-Böfen brült, und die. brütende. Atmosphäre ſtets mit 
neuem Unheile fuͤllet — das jeden — am den 
Nichtswuͤrdigen loszubrechen droht. — 


Da nun die Hoffnung des Chriſten nur aus dem 
guten Gewiſſen, das iſt, theils aus dem Bewußtſeyn, 
daß das Boͤſe der Vorzeit vergeben iſt, theils aus dem 
Entſchluſſe, die Ausſpruͤche des Gewiſſens mit hoͤchſter Treue 
zu vollbringen, hervorgehen kann: ſo ſind und werden da, 
wo die Hoffnung des Chriſten —* die peinlichſten 
Leiden erſpart. | 


— 165 — 


+ 99. 


D) Wo diefe Gemäthsfaffung herrfchet, da wer⸗ 
den bie unvermeidlichen Leiden aufs leichteſte 
getragen, und IeLOI in eine Freudenquelle vers 
wandelt. 


Denn, da bie Soffrüng Gott als Liebe anfängt 
fo iſt ihr 1) alles Leiden weiter nichts, als. ein Erzies 
hungsmittel für Zeit und Ewigfeit. Das Leiden bildet 
den Gottgeweiheten zum tauglihen Manne für die 
Zeit, zum reifen Manne für die Ewigkeit. * 


Da die Hoffnung Gott als Liebe anhängt, fo 
trägt fie 2) die Gewißheit in fich, daß ihr Feine untrag- 
baren Laften auferlegt werden, daß der Gott, der 
die Birde aufladet, auch Kräfte zum Tragen der Buͤrde 
darreiche, daß alle Leiden weiter nichtd feyen, als Geburts⸗ 
wehen höherer, ewiger Geligfeiten, 


Alſo nimmt fie alle Bürden getroft auf fi mit dem 
Blicke zu Gott, der fie auflegt, der fie tragen Du, | der 
und dadurch zu unferer Beſtimmung erzieht. 


Die Hoffnung ſtaͤhlt alſo zur Geduld. Geduld iſt 
aber Tugend, und jede Tugend macht uns des goͤttlichen 
Wohlgefallens werth. Die Hoffnung verwandelt * * 
das Leiden in eine Segensquelle. 


| Die ſchwerſten Gewichte, mit denen —— Leiden 

druͤcken, haͤngt theils das ſtrafende Gewiſſen, theils das 
unerfättliche Herz daran. Da nun die Gewiſſenhaftigkeit 
das Herz genuͤgſam macht, und flatt der Gewiſſensruͤgen 
Gewiffendg-Ruhe herbeiführt: fo werben 3) dadurch 
dem Chriſten alle Laſten leichter. 


Selbſt der Schreckenkoͤnig, der Tod, verliert m in 
dem Auge des Chriſten fein Schredliches, und erſcheint 
ihm als Bote und freundlicher Heim⸗Geleiter in die 
vollendete Freude. 


IR. 


— 464 — ; 
Das eigenfte Verfüßungsmittel der bitter 
ften Leiden ift dem Chriften 5) dag Gebet, indem es 
feine Zuverficht belebt, und die belebte Zuverficht ſelbſt 
die Bittertropfen der Zeit genießbar nacht. Das Gebet 
verfüßet die Leiden noch auf eine andere Weife, Denn 
wie ed zum Throne der Erbarmung hinaufjteigt, ſo ſteigt 
‚ein Engel des Thrones herunter, 


Sinnvoll iſt alfo im Munde des Apoſtels und 
jedes Chriſten das Wort der Zuverſicht: Spe gau- 
dentes, „Hoffnung — — Seligleit.⸗ | Ä 





3 100, 
Soqluß der Vorleſungen. 


Das 8 Ehriſtenhum kann als Religion und als Re⸗ 
ligionslehre betrachtet werden, und faßt auch bei 
Des in fi, und kann in jeder einzelnen Anficht nur — 
gewinnen. Das VBornehmfte, was es in jeder Anficht 
oben anfeßt, verdient zum Behufe der Ueberficht, am Ende 
der Borlefungen zuſammen, und in neuem Lichte dar ⸗ ger 
ſtellt zu werden. 


Is Das Chriſtenthum iſt, als Religion, in * 
Weſen, vollkommen; denn die chriſtliche Religion iſt, 
ihrem Weſen nach, eine Vereinigung des Menſchen 
mit Gott, die den hoͤhern Beduͤrfniſſen des Menſchen voll⸗ 
kommen entſpricht; eine Vereinigung, die hienieden ange⸗ 
fangen, fortgeſetzt, und drüben vollendet wird. Der Chri⸗ 
ſtenglaube vereint die Vernunft mit dem Urwahren; Die 
Chriſtenliebe Willen und Gemüth mit dem Urheiligen, mit 
dem Urfchönen; die Chriftenhoffnung Willen und Gemuͤth 
mit dem Urſeligen. 


II. Das Chriſtenthum iſt, als Religion, in. ihrer 
Thaͤtigkeit, die hoͤchſte Weisheit des Menjchen, die ſich 
durch "den Ölauben an dad Urwahre, die hödhfte 


da des Menfchen, die ſich durch die ur 
de 


1 


— 465 — 


des Urguten, des Urfchönen,; die höchfte Seligfeit des 
Menfchen, die fich durch die Hoffnung auf das Urs 
felige und durdy den Borgenuß des a dars 
- Stellt. 


III. Das Shriftenthum, ale Religionslehre, if 
göttlich, — göttlich ald Glaubendz Lehre, göttlich ale 
Sittenz Lehre, göttlich ald Seligkeits-Lehre; und 
göttlich nach Abkunft, Inhalt, Wirkſamkeit. 


IV. Das Ehriftenthum, als Glaubendlehre, verdient 
nicht bloß den Reſpekt der Völker, die es zur An be— 
tung des Einen Gottes, zum Vertrauen auf den 
Einen Mittler, und zur Anerfennung der Einen 
Kirche einweihet, fondern auch die tiefite Verehrung der 
denfenden Menfchen. Hier das Belenntniß eines. den- 
fenden Katholiken: ar Ä 


„Ich unterfcheide- 
1) die Religion Chrift, die Ehriſtus als Menſch 
hatte: 
2) die chriſtliche — die ihn CEhriſtus ſel⸗ 
ber) zum Objekte der Verehrung hat; 
3) die chriſtlich -katholiſche Religion, die beſtimmt 
ift, alle Bölfer aller fommenden Zeiten —J aller 
Gegenden zu umfaſſen. 


Nach dieſer vorlaͤufigen Unterfcheidung fage ihr %- 
Mer die Religion Chrifti mit Chriftus, Rn 


Wer die hriftliche Religion mit FOREN und 
Paulus, 


Mer die chriſtlich— eatholifche Religion — Ju⸗ — 


ſtinus und Cyprianus, mit Auguſtinus und 


Fenelon gemein hat, kann getroſt leben nnd ges ° 


troſt ſterben — und wird, lebend und fterbend, nie 
Urfache haben, vor der Vernunft zu erroͤthen.“ 


Ich fehe noch dieſe Stunde nichts, was der tiefite _ 
Denker an diefem Bekenntniſſe tadeln koͤnnte. 
IM. v. Saiter’s fänumtl. Schriften. VII. Bd. Zte Auft. 30 


\ 


8. A 1 
| — 
a 


/ 


— 466 — 


V. Das Ehriftenthum, als Sittenlehre, ift nicht bloß 


‚eine öffentliche Stüße aller bürgerlihen Gefeg- 


gebung, nicht bloß die Eine Bermittlerin der wah- 
ven Freiheit und Gleichheit des Sinnes, bei 
aller Ungleichheit des Standes, des Anfehens, des Ber: 
mögend, ded Talents: fondern, abgefehen von ihren Ein- 
flüffen auf die öffentliche Dronung und Wohlfahrt, in 
ihren Nefultaten fo fiher, daß fie feine Spekulation um- 


foßen, in ihren Örundlehren fo unvergleihbar, daß 


feine neue Theorie etwas beſſeres erfinden kann. 


VI. Das Chriſtenthum ift, als Seligfeitslehre, durch⸗ 
and original und einzig; es bahnt fich zwifchen dem 
Eyifureismus und dem Stoicismus, “Deren jener in ber 
Luft, Diefer in der Unabhängigfeit von Luft das 
höchite Gut fuchet, den Weg hindurch, und ſtellt einen 
Mittelpunkt der Seligkeit auf, in dem Tugend und 
Freude, Weisheit und Genuß, hödjfte Mader und 
hoͤchſte Wonne Eines ſind. 


VII. Das Chriſtenthum iſt, als Religionslehre, —— 
ſetzlich; unerſetzlich durch die Politik, die. weder mit 
dem eiſernen Zaume, noch mit dem mildern Leitbande 
die Voͤlker fuͤhren kann, wenn nicht die Religionslehre die 
Herzen bindet; unerſetzlich durch die Vernunft, die, 
- (wen ihr das Beſte gelänge, was. ihr noch nicht gelun- 
gen iſt, und die nächften n Drei Tage oder Jahrhunderte 
oder Jahrtauſende wohl ſchwerlich ‘gelingen wird) viel⸗ 
leicht einige Data der Difenbarung in Bernumftanfchauungen 
verwandeln, aber den Vernunftanfchauungen, ohne Huͤlfe 
der Auftorität, und ingbefondere ohne Hülfe des Glau- 
bens an die höhere Offenbarung, nie allgemeineit Eingang 
in die Gemüther der Nationen, oder wenigftend nie blei- 
bende Herberge in denfelben würde verfchaffen: können; 
unerſetzlich felbft durch jede andere Religionslehre, 
indem Feine andere allen hoͤhern Beduͤrfniſſen des menſch⸗ 
lichen Geſchlechtes ſo genau entſprechen, keine andere — 
Wahrheit, Tugend, Seligkeit ſo richtig in der Religion 
zuſammenfaſſen, und keine andere — Wahrheit, Tugend, 
Seligkeit ſo ſchoͤn darſtellen wuͤrde, als Wahrheit, Tu⸗ 





ner 
a. 
Be 
3 — 
ne 
Wr: 
u * 
Ri 


= Ar - 


gend, Seligfeit — in dem Einen Abglanze ber unzugaͤng⸗ 
lichen Gottheit, in dem Einen Chriſtus wirklich dargeſtellt 


We * * — 
Endlich: iſt das Chriſtenthum in ſich ſelber ſo feſt 
gegruͤndet, daß es, nachdem ed die Zeit der Verfol— 
gung überlebet, nachdem es die Zeit des Aberglau- 
beng, und die Zeit der Erhebung über die Staa 
ten und über menfhlidhe Hoheit überjtanden 
hat, wohl auch die Zeit des Unglaubens und der 

Verachtung überleben wird, 


As, j , F 





AUT Dee 
nach volkendeter Durdlefung diefer Schrift. 


Auch der Geift des Menfchen ſucht einen Nuhepunft, 
wie jein Herz. Diefer Ruhepunkt Fam mir freundlich ent⸗ 
gegen in jenem Drei: 


Ein Gott, 
Ein Mittler Chriſtus, 
Eine Kirche, 
* Die umerfchütterlihe Ruhe des Chriſten gründet fich 


a) auf den lebendigen Glauben an einen lebendigen Gott mit 
Baterfinn und Vaterherz; (Hebr. 11, rn) 


b) auf den Iebendigen Glauben an den Menfügetoorbenen 
Gott, an den Gnttmenfchen, in welchem bie Güte 
und die Menfchenfreundlichkeit Gottes des Vaters erſchie⸗ 
nen iſt; (Tit. 2, 11 - 15. 3, — 


e) auf den lebendigen Glauben an eine Kirche, die, vom. hei⸗ 
ligen Geifte regiert, die Grundfänle der Wahrheit * 
(1 Tim. 3, 15.) Denn dieſer dreifache, lebendige Glaube, 
faßt Alles in fich, was der Menfch im jeder Lage und in 
allen Umftänden des Lebens bedarf, um in Hinficht auf 
Zeit und Ewigkeit vollkommen beruhiget, ein zufriedenes 
und feliges Leben hienieden ſchon zu führen. 





— 18 — 


Diefen Ruhepunft wollte ich befeftigen in jedem nuͤch⸗ 
ternen Geifte, in jedem Wahrbheitliebenden Herzen. Wohl 
Dir, wenn diefer Ruhepunkt fi auch Dir freundlich an- 
bot, auch in Dir Keftigfeit gewann! Dann find die drei 
Grumdlehren der Religion wahre Grundlehren gewor: 
den, weil fie wirklich gegründet haben — die Ruhe Dei- 
ned Geifted und Deines Herzens.